187 24 3MB
German Pages 782 [780] Year 2011
Marcel van Ackeren Die Philosophie Marc Aurels Band 1
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 103/1
De Gruyter
Die Philosophie Marc Aurels von
Marcel van Ackeren Band 1 Textform − Stilmerkmale − Selbstdialog
De Gruyter
Der Druck wurde gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln.
ISBN 978-3-11-025542-3 e-ISBN 978-3-11-025556-0 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Ackeren, Marcel van. Die Philosophie Marc Aurels / von Marcel van Ackeren. p. cm. − (Quellen und Studien zur Philosophie, ISSN 0344-8142 ; Bd. 103) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-025542-3 (hardcover : alk. paper) 1. Marcus Aurelius, Emperor of Rome, 121−180. Meditations. 2. Stoics. I. Title. B583.A35 2011 188−dc22 2011015984
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Fr Bettina
Vorwort Im Frhjahr 2010 wurde eine frhere Version dieser zwei Bnde an der Philosophischen Fakultt der Universitt zu Kçln als Habilitationsschrift akzeptiert. Viele haben mir die letzten Jahre geholfen, einigen davon sei hier gedankt. Der erste Dank gebhrt Jan Opsomer, weil er mich in jeder Hinsicht wissenschaftlich untersttzt hat. Er war mir auch ein seltenes und unerreichtes Beispiel dafr, dass wissenschaftliche Exzellenz nicht auf Kosten der Ethik und insbesondere der Mitmenschen gehen muss. Der Fritz-Thyssen-Stiftung – insbesondere Henrikje Grçpler – danke ich fr die Fçrderung eines Forschungsprojektes zu Marc Aurel, das half, die Arbeit in existentieller Sicherheit zu schreiben. Auch fr einen Druckkostenzuschuss bin ich dankbar. Den Gutachtern der Habilitationsschrift, Jan Opsomer, Geert Roskam, Jrgen Hammerstaedt, Andreas Speer und Claudia Bickmann danke ich fr eine genaue Lektre und zahlreiche wertvolle Hinweise. Auch Gretchen Reydams-Schils hat die Arbeit vorab gelesen und mit Ratschlgen geholfen. Zu verschiedenen Gelegenheiten konnte ich Thesen zu Marc Aurel vorstellen. Ich danke den Teilnehmern meiner Tagungen zur Geschichte der philosophischen Meditationen (Cambridge 2007) und zu Marc Aurel (Kçln 2009) und ferner David Sedley, Christopher Gill, Michael Erler, Teun Tieleman, Brad Inwood, Michael Frede, Philip van der Eijk, Joachim Dalfen, Jean-Baptiste Gourinat, Han Baltussen und Christoph Horn. Dass ich am Philosophischen Seminar in Kçln nicht nur gute Arbeitsbedingungen hatte, sondern auch ein anregendes und weiterfhrendes Umfeld hatte, verdanke ich allen Kollegen dort. Stellvertretend erwhne ich die Diskussion mit Thomas Grundmann und Michael Quante, weil beide darber hinaus dafr Sorge trugen, dass ich whrend der Arbeit zur Antike auf dem systematischen Auge nicht blind wurde. Ganz besonders danke ich auch Christopher Gill und Michael Erler, denn beide haben meine Arbeit zu Marc Aurel seit langem vielfltig und entscheidend untersttzt und mit mir viel diskutiert. Christopher Gill hat mich zudem ermutigt, internationaler zu agieren. Erste Ergebnisse liegen
VIII
Vorwort
demnchst in Form des von mir herausgegebenen Blackwell Companion to Marcus Aurelius (Oxford 2011) und dann in Form einer englischen Monographie (wahrscheinlich Oxford University Press) vor. Die Beitrge des Companion konnten in den vorliegenden zwei Bnden aber leider keine Bercksichtigung mehr finden. Martin Meyer hat – wie immer – oft, geduldig und freundschaftlich kritisch mit mir diskutiert. Den Herausgebern der Buchreihe Jens Halfwassen, Michael Quante und Dominik Perler sei fr die Aufnahme in die Reihe gedankt, sowie dem Verlag de Gruyter und vor allem Frau Gertrud Grnkorn, Christoph Schirmer und Jens Lindenhain fr die angenehme und effektive Zusammenarbeit. Fr eine Durchsicht des Typoskripts danke ich Mareike Hauer und Reinhard von Fransecky. Kçln/Freiburg im Breisgau Juli 2011
Marcel van Ackeren
Inhalt Band I Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung . . . . . . 2. Thema, Thesen und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . 3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil I
1 1 14 25
Textform – Stilmerkmale – Selbstdialog . . . . . . . . . . 39
1. Allgemeine formale Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Sprachwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Aufbau der Selbstbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Datum und Sequenz der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das erste Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Tugendliste des ersten Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zur Bedeutung des ersten Buches fr die Selbstbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Aspekte des ersten Buches im Lichte vorheriger Literatur 3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen . . . . . . . 3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie? . . . . . . . . . . . 3.1.1 Marc Aurel ber sein Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Die Selbstbetrachtungen und die Frage nach der Persçnlichkeit Marc Aurels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Selbstsorge: Erzhlung oder Argument? . . . . . . . . . 3.1.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Ermahnung und Verwandtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Vorbemerkung zur „Parnese“ . . . . . . . . . . . . . . . .
42 42 49 51 56 59 62 69 74 80 87 87 94 101 105 111 114 114
X
Inhalt
3.2.2 Mahnendes im ersten Buch und in damit verbundenen Kapiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Parnetisches in den Bchern II-XII . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Verwandte Formen der Mahnung . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Konsolatorisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Vorbemerkungen zur „Trostschrift“ . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Selbstbetrachtungen als konsolatorische Schrift 3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die Frage nach der literarische Gattung der sog. „Diatribe“ und Epiktet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Dialogizitt und Adressierung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Das Frage-Antwort-Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Weitere Stilmittel der sog. „Diatribe“ . . . . . . . . . . . 4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die Begrifflichkeiten: Monolog, Selbstgesprch und Selbstdialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Erste Selbstdialoge bei Homer . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Selbstdialoge bei Seneca und Epiktet? . . . . . . . . . . 4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Formen des Selbstdialoges . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Funktionen des Selbstdialoges . . . . . . . . . . . . . 5. Rhetorisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Bestimmung der guten Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung . . . . . . . . . . 5.3 Die stilistische Qualitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Schreiben, Notizen und Aphorismen im Corpus Hippocraticum – eine Vorgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Funktionen des Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Der schriftlich gefhrte Selbstdialog . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 126 135 146 146 154 180 181 188 199 204 206 208 208 212 231 260 262 266 287 288 293 308 316 319 327 339 345
Inhalt
XI
Band II Teil II
Themen – Begriffe – Argumente . . . . . . . . . . . . . . . 351
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete . . . . . . . . . 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zentrale Begrifflichkeiten und Instanzen . . . . . . . . . . . . . 2.2 Prinzipien und Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Kosmos als Ursachengeflecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Verbindung der Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Vorsehung und Schicksal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Nebenfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Vorsehung oder Atome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen: Gemeinschaftsorientierung von Vernunft und Handeln . . 3.2.1 Die Vernunft des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Vernunft und Polis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die politische Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Politik in menschlichen Gemeinschaften und soziale Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Die Gemeinschaftsausrichtung bei Marc Aurel und die Oikeiosis-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Logik – Vernunftgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir . . . . . . . . . 4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung 4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit . . . 4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur) 5.2 Gter, Nutzen und Gutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^) . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Marc Aurels Vorstellung von der bql^ im Lichte der Oikeiosis-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Leidenschaften und positive Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Marc Aurel ber p\hg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353 361 369 377 392 396 412 420 428 444 474 479 502 502 505 512 528 550 553 557 568 580 597 610 613 626 642 652 655 660
XII
Inhalt
5.4.2 Positive Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Missverstndnisse, Kritik und Bewertung . . . . . . . . 5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen . . 5.5.1 Die angemessenen Handlungen (jah^jomta) . . . . . 5.5.2 Handeln unter Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
664 669 679 680 687
Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 1. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 2. Marc Aurel und die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkrzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textausgaben und bersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
714 714 714 715
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753
Men have died from time to time and worms have eaten them. But not for love. W. Shakespeare Ich bin ein Opfer meiner Vernunft. Th. Bernard
Einleitung 1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung Marcus Annius Verus wurde am 26. April 121 n. Chr. in Rom geboren; bekannt geworden ist er aber als Kaiser unter dem Namen Marcus Aurelius Antoninus Augustus,1 als Marc Aurel. Bereits antike Quellen berichten ber philosophische Ambitionen des rçmischen Kaisers.2 Bezeugt ist die philosophische Praxis des Kaisers durch einen Text, den er wohl in seinem letzten Jahrzehnt geschrieben hat, genauer: whrend er gegen verschiedene Aufstnde zu Felde zog.3 Die in diesem Text, den Selbstbetrachtungen, 4 zum 1
2
3
ber die biographischen Hintergrnde dieser Namensentwicklung informiert jede Biographie. Die Verwandtschaftsverhltnisse, Abfolge der Caesaren und vor allem die Namensgebungen sind nicht einfach zu berblicken (siehe fr einen groben berblick Kienast, D.: Rçmische Kaisertabelle, 2. Aufl., Darmstadt 1966). Besonders wertvoll ist der Briefwechsel zwischen Marc Aurel und seinem Rhetoriklehrer Marcus Cornelius Fronto: In einem Brief aus dem Jahre 146 berichtet Marc Aurel von neuen philosophischen Ambitionen: Statt die ihm aufgetragenen rhetorischen Schriften anzufertigen, habe er sich in die Texte des Stoikers Ariston vertieft (siehe The Correspondance of Marcus Cornelius Fronto, ed. by C. R. Haines, Cambridge (Mass.) 1919, I. 214 (alle weiteren Angaben zu diesem Briefwechsel beziehen sich auf diese Ausgabe); siehe dazu Gçrgemanns, H.: Der Bekehrungsbrief Marc Aurels, in: Rheinisches Museum 134 (1991), S. 96 – 109). Fast fnfzehn Jahre spter schreibt Fronto seinem ehemaligen, nun kaiserlichen Schler: „An diesem Punkt scheint es mir, hast Du nach Jnglingsart und der Mhe berdrssig, das Studium der Beredsamkeit verlassen und bist zur Philosophie bergegangen.“ (II. 74; bersetzung: W. Theiler, in: Kaiser Marc Aurel: Wege zu sich selbst, hg. und bertr. von W. Theiler, Zrich 1951, S. 10 f.). Weitere Quellen sind Cassius Dios Historia Romana, die Vita Marci der Historia Augusta und Ab excessu Divi Marci. Zu den (spt-)antiken Biographen Marc Aurels siehe die konzisen Ausfhrungen bei Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, in: Grazer Beitrge 23 (2000), S. 187 – 211, hier: S. 192 ff. Siehe die Angabe zwischen Buch I und II (T± 1m Jou²doir pq¹r t` Cqamo¼ô) und Buch II und III (T± 1m Jaqmo¼mt\). Zur Debatte bezglich des Abfassungsorts und der Zeit siehe Haines, C. R.: The Composition and Chronology of the Thoughts of Marcus Aurelius, in: Journal of the History of Philology 11 (1914), S. 278 – 95; Farquharson, A. S. L.: Introduction, in: Marcus Antoninus Autokrates: Ta Eis Heauton. The Meditations of the Emperor Marcus Antoninus, ed. with transl. and comm. by A. S. L. Farquharson, vol. I-II, Oxford 1968 (reprint from 1944), S. ixlxxxiii, hier: lviii-lxxiv; Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den
2
Einleitung
Ausdruck kommende Philosophie ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Marc Aurel war rçmischer Kaiser und stoischer, d. h. griechischer Philosoph. Dass einem rçmischen Kaiser durch die gegenwrtige Forschung viel Aufmerksamkeit zu Teil wird, berrascht nicht. Die Serie an Verçffentlichungen reißt nicht ab.5 Der Fokus dieser Forschungsarbeiten, die auch die Selbstbetrachtungen behandeln, liegt jedoch v. a. auf historischen Aspekten, whrend philosophische Perspektiven kaum eigens thematisiert werden. Die vorrangig historisch orientierte Forschung lsst sich, vielleicht nicht immer ganz trennscharf, aber doch hinreichend deutlich, in folgende Gruppen unterteilen:
4
5
Selbstbetrachtungen Marc Aurels, Diss., Mnchen 1967, S. 217 f.; Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, in: Journal of Roman Studies 64 (1974), S. 1 – 20, hier: S. 18 – 19; Birley, A. R.: Die Außen- und Grenzpolitik unter der Regierung Marc Aurels, in: Klein, R. (Hg.): Marc Aurel, Darmstadt 1979, S. 473 – 502; Schindler-Horstkotte, G.: Der Markomannenkrieg Marc Aurels und die kaiserliche Reichsprgung, Diss., Kçln 1985; Langmann, G.: Die Markomannenkriege 166/7 bis 180, Wien 1991; Stroh, W.: Marc Aurel in Carnuntum, in: Nachrichten der Gesellschaft der Freunde Carnuntums 2 (1998), S. 2 – 11. Zur Entstehung und Geschichte des Textes siehe ausfhrlich Kap. I 1. Im Folgenden wird vornehmlich der Titel Selbstbetrachtungen verwandt, dies geschieht nur aus rein sprachlichen Grnden und prjudiziert keine Einschtzungen ber Form und Inhalt des Werkes oder einen Entscheid darber, ob Marc Aurel selbst berhaupt einen oder gar einen entsprechenden Titel gewhlt hat. (siehe dazu Kap. I 1.2). Fr den griechischen Text wird zugrunde gelegt: Thesaurus Linguae Graecae (siehe dazu Thesaurus Linguae Graecae. Canon of Greek Authors and Works, third edition, by Luci Berkowitz and Karl A. Squitier, New York/Oxford:, 1990), es handelt sich um den Text von Farquharson, A. S. L.: Introduction, in: Marcus Antoninus Autokrates: Ta Eis Heauton. The Meditations of the Emperor Marcus Antoninus, a.a.O. Er wird gelegentlich durch den Text der Ausgabe von Dalfen korrigiert werden (siehe Marcus Aurelius: Ad se ipsum Libri XII (ed. J. Dalfen), 2. Aufl., Leipzig 1987). Die deutsche bersetzung folgt in der Regel der von R. Nickel (siehe Marc Aurel: Wege zu sich selbst (griech.-deut.; hg. und bers. von R. Nickel), 2. Aufl., Dsseldorf/Zrich 2001), weicht aber gelegentlich ab, was kenntlich gemacht wird. Die Zitation erfolgt vereinfacht: Buch, Kapitel. So steht z. B. „M. Aur. Med. 3, 4“ fr: Marc Aurels Selbstbetrachtungen, drittes Buch, viertes Kapitel. Siehe jngst die etwas populr gehaltene Biographie von McLynn, F.: Marcus Aurelius. Warrior, Philosopher, Emperor, London 2009 und Kovcs, P.: Marcus Aurelius’ Rain Miracle and the Marcomannic Wars, Leiden 2009.
1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung
3
(i) Allgemein biographische Arbeiten,6 (ii) Biographische Arbeiten, die die Wechselwirkung von Philosophie und Regentschaft bei Marc Aurel in den Vordergrund stellen, aber keine eigenstndige philosophische Untersuchung der Selbstbetrachtungen prsentieren,7 (iii) Arbeiten, die die Selbstbetrachtungen als Quelle fr die Politik Marc Aurels lesen,8 6
7
8
Wilamowitz-Moellendorff, U. v.: Kaiser Marcus, Berlin 1931; Farquharson, A. S. L.: Marcus Aurelius. His Life and his World, 2. Aufl., Oxford 1952; Hammond, M.: The Antonine Monarchy, Rome 1959; ders.: The Antonine Monarchy, in: Haase, W. (Hg.): Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, Teil III: Principat, Band 36: Philosophie, Wissenschaften, Technik, 3. Teilband: Philosophie (Stoizismus), Berlin/New York 1975, 1959 – 1971, S. 329 – 353; Monti, E.: Marc Aurel. Kaiser aus Pflicht, Regensburg 2000; Birley, A. R.: Marcus Aurelius: A Biography, London 2000. Gçrlitz, W.: Marc Aurel. Kaiser und Philosoph, Stuttgart 1954; Oliver, J. H.: Marcus Aurelius. Aspects of Civic and Cultural Policy in the East, Princeton 1970; Hendrickx, B.: Once again: Marcus Aurelius, Emperor and Philosopher, in: Historia 23 (1974), S. 254 – 256; Stanton, G. R.: Marcus Aurelius, Lucius Verus, and Commodus, in: Haase, W. (Hg.): Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (ANRW), III, 36, 3, 1975, a.a.O., S. 478 – 549; Klein, R. (Hg.): Marc Aurel, Darmstadt 1979; Maier, B.: Philosophie und rçmisches Kaisertum. Studien zu den wechselseitigen Beziehungen in der Zeit von Caesar bis Marc Aurel, Wien 1985, S. 285 – 309; Dalfen, J.: Marc Aurel. Sozialphilosophie und Sozialpolitik, in: Gigon, O./Fischer, M. W. (Hg.): Antike Rechts- und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 129 – 137; Schall, U.: Marc Aurel. Der Philosoph auf dem Caesarenthron, Mnchen 1991; Rosen, K.: Die angebliche Samtherrschaft von Marc Aurel und Lucius Verus, in: Bonamente, G./Duval, N.: Historiae Augustae Colloquium Parisinum, Macerata 1991, S. 271 – 285. Die genannten Forschungen sind zu begrßen, denn in lteren, aber heute immer noch wieder abgedruckten Darstellungen findet sich noch immer ein hagiographischer Tonfall. Capelle rhmt den Humanismus der Selbstbetrachtungen, um dann zu folgern: „Es kann daher auch keine Rede davon sein, dass Marc Aurel die Christen irgendwie verfolgt oder gar grausam behandelt htte.“ Capelle, W.: Einleitung, in: Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, bertr. und mit Einl. vers. von W. Capelle, 12. Aufl., Stuttgart 1973, S. ix-lx, hier: S. xxxviii. Mirgeler, J.: Die Stellung des Menschen in der Gesellschaft der ausgehenden Antike entwickelt aus den Selbstgesprchen Marc Aurels, Diss., Kçln 1948; Stanton, G. R.: Marcus Aurelius, Emperor and Philosopher, in: Historia 18 (1969), S. 570 – 587; Jkel, S.: Das politische und gesellschaftliche Weltbild im Denken Marc-Aurels, in: Eos 80 (1992), S. 245 – 263; Rosen, K.: Herrschaftstheorie und Herrschaftspraxis bei Marc Aurel. Eine antike Kontroverse, in: Neukam, P. (Hg.): Motiv und Motivation, Mnchen 1993, S. 94 – 105; ders.: Marc Aurel und das Ideal des civilis princeps, in: Schçllgen, G./Scholten, C. (Hg.):
4
Einleitung
(iv) Arbeiten, die allein den historischen Hintergrund der Textentstehung, besonders die Feldzge, beleuchten.9 Anders als der Kaiser, hatte es der Philosoph Marc Aurel viel schwerer, wahrgenommen und gewrdigt zu werden. Aus der Zeit Marc Aurels und den ersten beiden Jahrhunderten nach seinem Tod ist uns keine einzige Erwhnung seiner Selbstbetrachtungen berliefert. Bis weit in das ausgehende Mittelalter zeigen die sehr wenigen und kargen Referenzen, dass zwar die Existenz des Textes bekannt war, dass es jedoch dabei keinen einzigen zuverlssigen Bericht ber den Inhalt gibt. Seit der ersten Ausgabe 1558 – 9 wurde der Text indes dann genauso schnell verbreitet wie beliebt. Es ist erstaunlich, dass bis heute kaum ein anderes Dokument der antiken Philosophie hufiger publiziert und auch gelesen wird als die Selbstbetrachtungen. Ein Teil dieser Attraktivitt mag durch die Doppelrolle Marc Aurels als Kaiser und Philosoph erklrbar sein. In Folge haben sich Staatsmnner, wie Friedrich II., Helmut Schmidt oder Bill Clinton, mit dem Bekenntnis geschmckt, es handele sich bei Marc Aurel um ihren Lieblingsphilosophen und um ein politisches Vorbild. Was immer das bedeuten und fr politische Folgen gehabt haben mag, es hat sicher zur Popularitt des Textes beigetragen. Dennoch kann Marc Aurels Rolle als Kaiser und die Vorliebe, die ihm hochrangige Politiker erweisen, nicht alleine die weite Leserschaft erklren. Die massenhafte Verbreitung von Textausgaben, bersetzungen, Kompilationen und allgemeinen Bezugnahmen scheint etwas mit dem Text selbst zu tun zu haben. Sowohl die Form des Textes als auch sein Inhalt scheinen fr viele Leser attraktiv zu sein. Gerade im Vergleich zu diesem breiten Interesse ist auffllig, dass die Selbstbetrachtungen als philosophischer Text durch die akademische Forschung sehr wenig Interesse oder positive Bewertung erfahren haben.
9
Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift fr Ernst Dassmann, Mnster 1996, S. 154 – 160. Kovacs, P.: Marcus Aurelius’ Rain Miracle and the Marcomanic Wars, a.a.O.; Haines, C. R.: The Composition and Chronology of the Thoughts of Marcus Aurelius, a.a.O.; Farquharson, A. S. L.: Introduction, in: Marcus Antoninus Autokrates, a.a.O., S. lviii-lxxiv; Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 18 – 19; Birley, A. R.: Die Außen- und Grenzpolitik unter der Regierung Marc Aurels, a.a.O.; Schindler-Horstkotte, G.: Der Markomannenkrieg Marc Aurels und die kaiserliche Reichsprgung, a.a.O.; Langmann, G.: Die Markomannenkriege 166/7 bis 180, a.a.O.; Stroh, W.: Marc Aurel in Carnuntum, a.a.O.
1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung
5
Die Flle an Literatur zum Kaiser Marc Aurel reflektiert das große historische Forschungsinteresse. Aber wirkt die Forschung zum Philosophen Marc Aurel nur deswegen so bescheiden? Sammelt man Aussagen in der Forschungsliteratur zu den Selbstbetrachtungen, so fallen oft Stellungnahmen gegen den Philosophen Marc Aurel auf. Vor diesem Hintergrund erscheint der Umstand, dass es so wenige Auseinandersetzungen mit der Philosophie Marc Aurels gibt, interessant, weil von bestimmten, meist nicht explizierten Voraussetzungen getragen. Die Stoa war eine der originellsten und mchtigsten Philosophiestrçmungen in der Antike, die gerade auch in der frhen Neuzeit und jetzt wieder, im Kontext des vermehrten Interesses an praktischer Philosophie, einen großen Einfluss hat. Aber aus der langen antiken stoischen Tradition gibt es sehr wenige vollstndig erhaltene und selbstverfasste Texte. Warum wurde davon einer so lange von vielen Menschen gelesen, von der philosophischen Fachwelt aber ignoriert? Wie genau steht es nun um die Erforschung der Selbstbetrachtungen? Eine ltere Einschtzung lautet: … der Wissenschaft ist ein allgemeines Interesse an Marc Aurel nicht nachzusagen. Sie steht unter dem Zeichen der Quellenforschung, der sie ohne Zweifel die grçßten Erfolge verdankt. Aber in dem Bestreben, die treibenden Gedanken der Kultur- und Literaturgeschichte auf ihren Ausgangspunkt zurckzufhren, wird sie leicht gegen die Epigonen ungerecht; sie verkennt oft, dass es auch in der Verknpfung und Reproduktion des schon Gedachten eine Originalitt gibt, und so kçnnen wir erleben, dass, zerpflckt von der Hand des Quellenforschers, die kraftvollste Persçnlichkeit wie ein kmmerlicher Kompilator dasteht.10
Diese Einschtzung von Ivo Bruns aus dem Jahre 1894 ist interessant, denn sie liefert Hinweise auf zwei Aspekte, die auch noch die heutige Forschungslage kennzeichnen:
10 Bruns, I.: Marc Aurel. Vortrag in Elberfeld, November 1894, abgedruckt in: Maurach, G. (Hg.): Rçmische Philosophie, Darmstadt 1976, S. 223 – 246, hier: S. 223. Bruns Kritik selbst ist nicht ganz neu. Sie wird bereits in der rçmischen Stoa, also jener Tradition, zu der auch Marc Aurel gehçrt, formuliert: „So ist es denn dahin gekommen, dass das, was Philosophie war, Philologie geworden ist.“ Sen. Ep.108, 23 (zitiert nach Lucius A. Seneca: Philosophische Schriften, Band 4: Dialoge, Brief an Lucilius, Zweiter Teil: Brief 82 – 124, bers. mit Einl. und Anm. versehen von O. Apelt, Hamburg 1993). Und auch Marc Aurel wendet sich gegen die Bchersucht, das gebildete Reden usw. (siehe z. B. M. Aur. Med. 1, 7 und 3, 8).
6
Einleitung
(i) Die Selbstbetrachtungen sind vorrangig aus philologischer Perspektive untersucht worden. Hier hat es den meisten Einsatz, die grçßten Erfolge und auch positive Bewertungen gegeben. (ii) Gerade die Philosophie Marc Aurels gilt den Kommentatoren als kritikwrdig, sie sei keine oder schlechte Philosophie. Schon Ivo Bruns deutet damit eine Trennung von philologischen und philosophischen Perspektiven und Bewertungen an, die so wirkmchtig war und ist, dass sie auch heute noch geeignet erscheint, die Forschungsliteratur zu gruppieren. Ad (i) Die Philologische Forschung. Seitens einer philologischen Perspektive, ist in vielen – namentlich lteren – Stellungnahmen die These vertreten worden, Form und Stil der Selbstbetrachtungen seien entweder unwichtig oder schlecht.11 Dann aber hat sich die These von der Originalitt der Form durchgesetzt, die dabei erstaunlich oft mit einer bestimmten Ansicht ber den Inhalt gekoppelt ist: Die Selbstbetrachtungen seien „traditional in content, but original in form“.12 Was die Beurteilung der Form angeht sind zwei Varianten zu unterscheiden: (a) die einfache These von der Originalitt der Form,13
11 Arnold, M.: Marcus Aurelius, (Essays in Criticism: First Series), London 1862, S. 279; Jackson, J.: Introduction, in: The Thoughts of Marcus Aurelius, Oxford 1906, S. xxi; Breithaupt, G.: De M. Aurelii Antonini commentariis quaestiones selectae, Diss., Gçttingen 1913, S. 7; Dove, C. C.: Marcus Aurelius Antoninus: His Life and Times, London 1930, S. 254 und allgemeiner: Wright, F. A.: A History of Later Greek Literature, London 1932, S. 251. 12 Zuntz, G.: Notes on Antoninus, in: Classical Quarterly 40 (1946), S. 47 – 55, hier: S. 54. 13 Siehe Misch, G.: Geschichte der Autobiographie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1955, S. 449; Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O.; ders.: Marc Aurel. „Werde wie die Philosophie dich haben will.“, in: Erler, M./Graeser, A. (Hg.): Die Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Sptantike, Darmstadt 2000, S. 128 – 144; ders.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, a.a.O.; Gill, Ch.: Introduction, in: Marcus Aurelius: Meditations, transl. by R. Hard, Intr. and notes by Ch. Gill, Ware 1997, S. vi-xxii, hier: S. vi.; Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius. A Study, Oxford 1989.
1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung
7
(b) die umfassendere und weitaus strkere These, Marc Aurel habe mit der Absicht geschrieben, „eine neue Art von Literatur“, ein neues „Grundmodell“ zu generieren.14 Es ist diese ltere Forschung, die die Unterscheidung von Form und Inhalt zementiert hat. In der Tat sind dabei nicht nur Aspekte unterschieden worden, vielmehr wendet sich bis heute nahezu jede Forschungsarbeit zu den Selbstbetrachtungen entweder rein philologischen Themen zu, oder sie ist eben philosophisch orientiert und vernachlssigt dabei formale Gesichtspunkte fast vçllig. Auf die sachlichen Probleme der Distinktion bzw. Nicht-Bercksichtigung wird gleich noch einzugehen sein. Von den fnf Monographien, die in den letzten einhundert Jahren zu Marc Aurel erschienen sind, sind die folgenden drei vorrangig philologischer Natur: Von nicht zu berschtzendem Wert ist die (leider nicht verlegte und daher viel zu wenig rezipierte) Dissertation von J. Dalfen: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels (Diss. Mnchen 1967). Die Arbeit will sich „nicht mit dem Inhalt, sondern mit der Form der Selbstbetrachtungen beschftigen“.15 Mit der These, die Form sei originell, wird oft behauptet, die Form sei unvergleichbar. Dagegen gelingt Dalfen mittels einer „Analyse der Formelemente, der Ausdrucksmittel, der Struktur einzelner Kapitel“16 eine „literarhistorische Einordnung“ der Selbstbetrachtungen in die drei Gattungen: parnetische Schrift, Diatribe sowie Konsolationsliteratur und deren Formelemente (Sentenz, Wort- und Klangfiguren, Dialog, Zitat, Beispiel, Vergleich, Metapher). Ergnzend und weiterfhrend ist eine spter erfolgte Zuordnung zur Gattung der Autobiographie.17 Dem Ansatz und den vielen Ergebnissen von J. Dalfen folgt R. B. Rutherford in The Meditations of Marcus Aurelius (Oxford 1989). Die 14 Farquharson, A. S .L.: Introduction, a.a.O., S. lxvi; Puech, A.: Prface, in: Marc Aurle, Penses, ed. A. I. Trannoy, 2. Aufl., Paris 1962; Pascal, R.: Die Autobiographie, Stuttgart 1965, S. 34; Misch scheint auch in diese Gruppe zu gehçren (siehe die vorherige Anm.). Diese und weitere Angaben finden sich bei Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 1 – 3. 15 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 1. 16 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 1. 17 Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, a.a.O., S. 198 – 211.
8
Einleitung
Arbeit untersucht „style and literary aspects of the Meditations“18 und bilanziert: [Marc Aurel] draws upon more established literary traditions, his style and thought are more enriched by a wide reading, and the intensity and severity of his writings are modified by quotation and allusion, satirical with, rhetorical virtuosity – in general, the skills of a self-conscious literary artist.19
Rutherford gibt aber erste wertvolle Hinweise darauf, dass die literarischen Aspekte mit den philosophischen in einem engen Verhltnis stehen. Jedoch werden dabei von Rutherford nur sehr selektiv Inhalte angesprochen, z. B. die Religiositt und die Auseinandersetzung mit der Todesfurcht. Jngst hat Angelo Giavatto eine besonders detailgenaue Untersuchung vorgelegt: Interlocutore di se stesso. La dialettica di Marco Aurelio (Hildesheim 2008). Um Marc Aurels Dialektik mçglichst przise beschreiben zu kçnnen, untersucht der Autor in den Selbstbetrachtungen unter Einbeziehung textkritischer Verfahren vor allem das epistemische Vokabular und die Rhetorik Marc Aurels. Durch die Methode der Wortfelduntersuchung ist es Giavatto vor allem daran gelegen, Kapitel zu gruppieren und so Eigenheiten im Stil Marc Aurels herauszuarbeiten. Vorgehensweise und Ergebnisse sind berzeugend. Die Arbeit ermçglicht einen Brckenschlag zur philosophischen Forschung, ohne ihn selbst immer vollziehen zu kçnnen oder zu mssen. Das Thema der Arbeit beschrnkt dies auf stoische Logik, also Dialektik und Rhetorik. Ad (ii) Die Philosophische Forschung. Um die philosophische Erforschung der kaiserzeitlichen Stoa steht es seit einigen Jahren wieder etwas besser, dennoch bestehen nach wie vor hartnckige Widerstnde, Marc Aurel berhaupt als untersuchungswrdigen Philosophen einzuschtzen. Zunchst gibt es das Vorurteil, philosophiegeschichtlich sei die kaiserzeitliche Stoa eine Zeit des Niederganges. Diese Periode sei ohne Neuerungen, weil sie sich nur auf praktische Philosophie und den Rckzug auf das „Selbst“ konzentriere und dabei in eklektischer Manier die theoretischen Errungenschaften der großen klassischen und hellenistischen Denker bestenfalls tradiere.20 18 Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. viii. 19 Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. vii. 20 Siehe die Einleitung und Kap. 1 von Dillon, J./Long, A. A. (Hg.): The Question of Eclecticism, Berkley 1988. Dazu schon tendenziell kritisch: Gill, Ch.: The School in Roman Imperial Period, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 33 – 58, hier: S. 33 f. Siehe hierzu Kap. I.
1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung
9
Auffllig ist aber zunchst, dass Marc Aurel viele der geistigen Strçmungen seiner Zeit gar nicht amalgamiert hat. So fehlen, wie W. Theiler gut beobachtet hat, die Lehren christlicher Prgung, die des Markion und Numenios, die Gnosis und Hermetik, die chaldische Orakelphilosophie und eine „plumpe Anbiederung“ an das Sternenschicksal wie bei Vettius Valens; auch von den Vorboten des Neuplatonismus ist bei ihm nichts zu finden.21 Allerdings erwhnt er als stoischer Philosoph22 eine beachtliche Reihe von anderweitigen Denkern. Einflsse von Heraklit, Sokrates, Platon und den Kynikern sind deutlich.23 Aber gerade diese Einflsse finden sich auch bei anderen Stoikern.24 Ganz anders Lindsay, J.: The Ethical Philosophy of Marcus Aurelius, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 16 (1903), S. 252 – 299, hier: S. 301: Marc Aurel gilt hier als derjenige „in whom pagan ethical philosophy reached its greatest depth, and finest flowering.“ 21 Siehe Theiler, W.: Einfhrung, in: Kaiser Marc Aurel, Wege zu sich selbst, a.a.O., S. 7 – 22, hier: S. 14 – 21. 22 Die Stoa erwhnt Marc Aurel aber nur ein einziges Mal: „Die Dinge sind gewissermaßen so verhllt, dass sie nicht wenigen – und zwar nicht den unbedeutendsten – vçllig unbegreifbar erschienen, wenn man von den Stoikern selbst einmal absieht, denen sie nur schwer begreifbar erscheinen.“ (Siehe M. Aur. Med. 5, 10). Von einer begeisterten Nennung der Stoiker oder gar einer Erklrung der Zugehçrigkeit kann keine Rede sein. Dennoch wird nicht bezweifelt, dass er zur stoischen Tradition gehçrt, wenngleich die Verschiedenheit seiner Einflsse natrlich bemerkt und diskutiert wurde (siehe die Erçrterungen bei Rist, J. M.: Are you a Stoic? The Case of Marcus Aurelius, in: Meyer, B. F./Sanders, E. P. (Hg.): Jewish and Christian Self-Definition. Vol. III: Self-Definition in the Greco-Roman World, Philadelphia 1983, S. 23 – 45; Asmis, E.: The Stoicism of Marcus Aurelius, in: Haase, W. (Hg.): Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (ANRW), III, 36, 3, a.a.O., S. 2228 – 2252; Newman, R. J.: Cotidie meditare. Theory and Practice of the Meditation in Imperial Stoicism, in: Haase, W. (Hg.), Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (ANRW), III, 36, 3, a.a.O., S. 1473 – 1517; zuvor weniger elaboriert: Rist, J. M.: Stoic Philosophy, Cambridge 1969, S. 283. Wie die Arbeiten von Rist zeigen, prjudiziert die Zuordnung zur Stoa noch nichts darber, ob Marc Aurel fr einen Philosophen gehalten werden muss oder kann. 23 Er erwhnt Pythagoras (M. Aur. Med. 6, 47), Pythagoreer (M. Aur. Med. 11, 27), Heraklit (M. Aur. Med. 3, 3; 4, 46, 47; 8, 3), Empedokles (M. Aur. Med. 8, 41; 12, 3), Demokrit (M. Aur. Med. 3, 3; 4, 24; 7, 31), Sokrates (M. Aur. Med. 3, 3, 62; 6, 47; 7, 19, 35, 44, 45, 63, 66; 8, 3; 11, 23, 25, 28, 39), Platon (M. Aur. Med. 7, 35; 10, 28, zitiert: 7, 35, 44 – 46, 63), die Kyniker Antisthenes (M. Aur. Med. 7, 36), Diogenes (M. Aur. Med. 8, 3; 11, 36), Monimus (M. Aur. Med. 2, 15) und Krates
10
Einleitung
In diesem Zusammenhang ist die verdienstvolle vierte Monographie zu nennen: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius von R. Neuenschwander (Bern 1951). Neuenschwander baut auf Reinhardts Arbeiten zu Poseidonius25 auf und verfolgt Hinweise, die bereits bei Theiler vorliegen.26 Dabei ist jedoch nicht vollends klar, ob das Hauptinteresse der Arbeit nicht doch mehr Poseidonius als Marc Aurel gilt. Neuenschwander konzentriert sich methodisch ganz auf die Quellenkritik. Eine große Anzahl von Autoren hat die Persçnlichkeit Marc Aurels mit der angeblich minderwertigen Philosophie in den Selbstbetrachtungen in Verbindung gebracht und genauer mit seinen mutmaßlichen Krankheiten erklrt.27 Von Vorbehalten gegenber der rçmischen Stoa ist Marc Aurel, wie angedeutet, in besonderer Weise betroffen. Einige Einschtzungen betreffen generell die Kategorisierung Marc Aurels als Philosophen. In der Regel verbirgt sich hinter den wertenden Zuschreibungen, ob ein Autor ein guter Philosoph oder philosophiegeschichtlich „rckstndig“ oder „langweilig“ ist, eine komplizierte Mischung von Betrachtungsweisen zu bzw. Urteilen ber ganze(n) Epochen. Hinzu kommen dann leider nur sehr selten explizit gemachte und oft davon unabhngige systematische Annahmen und Wertungen darber, was berhaupt Philosophie sei oder was
24
25 26 27
(M. Aur. Med. 6, 13), dann Xenokrates (M. Aur. Med. 6, 13), Theophrast (M. Aur. Med. 2, 10), Epikur (M. Aur. Med. 7, 33, 64; 9, 41) und vor allem die Stoiker Chrysipp (M. Aur. Med. 6, 42; 7, 19), Euphrast (M. Aur. Med. 10, 31) und Epiktet (M. Aur. Med. 4, 41; 5, 29; 7, 19; 9, 24; 11, 33 – 8). Diese Liste ist nur bedingt aussagekrftig, denn zum einen werden einige Namen von Marc Aurel nur erwhnt und zum anderen finden sich bei ihm viele Zitate oder Paraphrasen ohne Nennung eines Namens. Eine Reihe von Arbeiten hat sich der Bestimmung der verschiedenen Quellen seines Denkens gewidmet. Siehe Stanton, G. R.: The Cosmopolitan Ideas of Epictetus and Marcus Aurelius, in: Phronesis 13 (1968), S. 183 – 195; Rist, J. M.: Are You a Stoic? The Case of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 23 – 45; Asmis, E.: The Stoicism of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 2228 – 2252; Newman, R. J.: Cotidie meditare. Theory and Practice of the Meditation in Imperial Stoicism, a.a.O., S. 1473 – 1517; Alfonsi, L.: Contributo allo studio delle fonti del pensiero di Marco Aurelio, in: Aevum 28 (1954), S. 101 – 117. Reinhardt, K.: Poseidonius, Mnchen 1921; ders.: Kosmos und Sympathie, Mnchen 1926; ders.: Poseidonius ber Ursprung und Entartung, Orient und Antike VI, Heidelberg 1926. Theiler, W.: Die Vorbereitung des Neuplatonismus, Problemata I, Berlin 1930, S. 113, 279, 282, 339 (siehe dazu Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, Bern 1951, S. 3). Siehe dazu ausfhrlicher Kap. I 3.1.2.
1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung
11
gute bzw. weiterentwickelte Philosophie ausmache. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Marc Aurel als Philosoph neu zu bewerten ist, kann allenfalls nach Abschluss der vorliegenden Untersuchung angegangen werden. In einer exemplarischen und sehr einflussreichen Darstellung der stoischen Philosophie findet sich ber ihn allein der folgende Satz: Dass seine eher langweiligen aphoristischen 12 Bcher ,An sich selbst‘ auf uns gekommen sind, whrend von den zahlreichen Werken der alten Stoiker keines berlebt hat, verdanken sie wohl in erster Linie der politischen Stellung ihres Verfassers.28
Darber hinaus werden folgende Positionen vertreten: Marc Aurel sei zwar Stoiker, aber kein untersuchungswrdiger Philosoph.29 Und: Sein Werk enthalte „nur Weisheitslehre“, keine Begriffsanalysen und sei daher von einer philosophischen Warte aus „nicht untersuchungswrdig“.30 Doch neben diesen dunklen Ansichten, die leider reprsentativ fr die deutsche Forschung sind, fllt von internationaler Seite gegenwrtig auf die kaiserzeitliche Stoa wieder etwas mehr Licht.31 Nach den Studien von Bonhçffer hat es ber 100 Jahre gedauert, bis wieder eine Arbeit erschienen ist, die sich ausschließlich der Philosophie Epiktets widmet,32 der auch jngst weitere Untersuchungen zur rçmischen Stoa gefolgt sind.33 28 Hossenfelder, M.: Stoa, Epikureismus und Skepsis (Geschichte der Philosophie, hg. von W. Rçd, Band III, Die Philosophie der Antike 3), Mnchen 1985, S. 99. hnlich Long, A. A.: Hellenistic Philosophy, Cambridge 1974, S. 114 und 239. 29 So Rist, J. M.: Are You a Stoic? The Case of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 23 – 45. 30 So ein DFG-Gutachten aus anonymer Quelle, das dem Autor vorliegt. 31 Bnatou l, Th.: Les Sto ciens. Musonius, pictte, Marc Aurle. Paris 2009. 32 Bonhçffer, A.: Epictet und die Stoa: Untersuchungen zur stoischen Philosophie, Stuttgart 1890 und ders.: Die Ethik des Epictet, Stuttgart 1894 (Nachdruck Stuttgart 1968). Dann Xenakis, I.: Epictetus. Philosopher-Therapist, The Hague 1969; Hijmans, B. L.: Askesis. Notes on Epictetus’ Educational System, Assen 1959; schließlich Long, A. A.: Epictetus: a Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford 2002 (dazu die Rezension von L. Willms in Gnomon 77 (2005), S. 304 – 307). Einen berblick ber die Epiktet-Forschung findet sich bei Hershbell, J. P.: The Stoicism of Epictetus, in: Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (ANRW). Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, II. 36. 3, S. 2148 – 2163 und dann bei Puech, B./Gonzales, P. P. G.: pictte, in: Dictionnaire des philosophes antiques (hg. von R. Goulet), Paris 2000, S. 106 – 151. 33 Siehe z. B. Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, Chicago 2005 und Gill, Ch.: The Structered Self in Hellenistic and Roman Thought, Oxford 2005, sowie eine ganze Reihe der Beitrge in folgenden Bnden: Sharples, R. W./Sorabji, R. (Hg.): Greek and Roman Philosophy 100 BC – 200 AD, Vol. I und II, London 2007.
12
Einleitung
Derzeit wird Marc Aurel zunehmend und von namhaften Forschern aus dem angloamerikanischen Raum in Aufstzen diskutiert.34 Dabei stehen Fragen nach dem Verhltnis von Ethik und Physik und einem mutmaßlichen Platonismus in der Seelenauffassung im Zentrum. Hier wird Marc Aurel als Philosoph ernst genommen und es wird dabei bereits mehrheitlich die These vertreten, er sei kein Eklektiker. Dabei ist aber zu bercksichtigen, dass diese Ergebnisse auf Untersuchungen basieren, die immer nur ein stark begrenztes Themenfeld in den Blick nehmen. Das fr die Philosophie der Selbstbetrachtungen wichtigste Buch und die fnfte der zu nennenden Monographien ist P. Hadots Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektre Marc Aurels (Frankfurt 1997). Und dies nicht nur, weil es nach Neuenschwanders Quellenforschung die einzige Monographie zum philosophischen Inhalt ist.35 Entscheidend ist, dass Hadot Marc Aurel als Philosophen schon insofern anerkennt, als er den vom Kaiser in erster Linie angesprochenen Fragen der Lebensfhrung bei der Interpretation entsprechendes Gewicht verleiht. Hadots Arbeit trgt damit dem im letzten Jahrzehnt hervorgehobenen Umstand Rechnung, dass viele antike Autoren Philosophie als eine Lebensform oder Lebenskunst verstehen, worauf er und andere zuvor aufmerksam gemacht haben.36 Diese Entwicklung weckte das Interesse der modernen zeitgençssischen Philo34 Siehe z. B. Annas, J.: Ethics in Stoic Philosophy, in: Phronesis 52 (2007), S. 58 – 87; dies.: Marcus Aurelius. Ethics and its Background, in: Rhizai 2 (2004), S. 103 – 119; Cooper, J.: Moral Theory and Moral Improvement, in: ders.: Knowledge, Nature and the Good, Princeton 2004, S. 335 – 368; Gill, Ch.: Marcus Aurelius, in: Sharples, R. W./Sorabji, R. (Hg.): Greek and Roman Philosophy 100 BC – 200 AD, Vol. II, a.a.O., S. 175 – 189; ders.: Marcus Aurelius’ Meditations: How Stoic and How Platonic?, in: Bonazzi, M./Helmig, Ch. (Hg.): Platonic Stoicism – Stoic Platonism, Leuven 2007, S. 189 – 208. 35 Erwhnenswert ist hier auch noch einmal die oben bereits vermerkte, kurze, aber gute Einfhrung von Dalfen, J.: Marc Aurel. „Werde wie die Philosophie dich haben will.“, a.a.O. 36 Vorreiter, aber wenig rezipiert ist Rabbow, P.: Seelenfhrung. Methode der Exerzitien in der Antike, Mnchen 1954; dann Nussbaum, M.: The Fragility of Goodness, Luck and Ethics in Greek and Latin Literature, Cambridge 1986; dies.: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994; Annas, J.: The Morality of Happiness, New York/Oxford 1993; Hadot, P.: Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike, Berlin 1987; ders.: Wege zur Weisheit – oder was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt a. M. 1999; Horn, Ch.: Antike Lebenskunst. Glck und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, Mnchen 1998; Sellars, J.: The Art of Living. The Stoics on the Nature and Function of Philosophy, Aldershot 2003.
1. Die Selbstbetrachtungen als Gegenstand der Forschung
13
sophie37 und gab modernen Theorien der Ethik wesentliche Anstçße.38 Neben einer Wiederbelebung der Virtue Ethics39 im Unterschied zu der bis dahin doch prominenteren Theory of Action sind die Arbeiten von Foucault,40 Krmer,41 MacIntyre,42 Nussbaum43 und Williams44 zu nennen. 37 Seel, M.: Philosophie. Eine Kolumne. Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens, in: Merkur 45 (1991), S. 37 – 49; Bçhme, G.: Weltweisheit, Lebenskunst, Wissenschaft. Eine Einfhrung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1994; Kessler, H.: Philosophie als Lebenskunst, Sankt Augustin 1998; Wolf, U.: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Hamburg 1999; Schmid, W.: Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2000. 38 Fr Vergleiche von antiker und moderner Ethik siehe Annas, J.: Ancient Ethics and Modern Morality, in: Philosophical Perspectives 6 (1992), S. 119 – 136; Hossenfelder, M.: Philosophie als Lehre vom glcklichen Leben. Antiker und neuzeitlicher Glcksbegriff, in: Bellebaum, A. (Hg.): Glck und Zufriedenheit. Ein Symposion, Opladen 1992, S. 13 – 21; Schmid, W.: Selbstsorge. Zur Biographie eines Begriffes, in: Endreß, M. (Hg.): Zur Grundlegung einer integrativen Ethik. Fr Hans Krmer, Frankfurt 1995, S. 98 – 129; grundlegend ist Williams, B.: Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985. 39 Siehe z. B. Crisp, R./Slote, M. (Hg.): Virtue Ethics, Oxford 1997. 40 M. Foucault macht besonders bei der kaiserzeitlichen Stoa Anleihen. Siehe Foucault, M.: Sexualitt und Wahrheit, Bd. 1 – 3, Frankfurt a. M. 1986; ders.: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2003; dazu Hadot, P.: Philosophie als Lebensform, a.a.O., S. 177 – 181. 41 Siehe Krmer, H.: Pldoyer fr eine Rehabilitierung der Individualethik, Amsterdam 1983; ders.: Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1992. Krmer hat keine Wiederbelebung der antiken Ethik im Auge, sondern konzentriert sich auf das antike Motiv des Selbstinteresses, wobei er die in der Antike damit verbundenen kosmologischen, metaphysischen und theologischen Annahmen fr berkommen hlt (dazu Horn, Ch.: Antike Lebenskunst, a.a.O., S. 248 f.). 42 Siehe MacIntyre, A.: Der Verlust der Tugend, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1985; ders.: Whose Justice? Which Rationality?, London 1988. Im Gegensatz zu Foucault sttzt sich MacIntyre auf Aristoteles, um eine Einbettung des Individuums in eine Gemeinschaft und durch eine gemeinsame teleologische Vorstellung vom guten Leben zu restaurieren. 43 Siehe Nussbaum, M.: Non-Relative Virtues: An Aristotelian Approach, in: Nussbaum, M./Sen, A. (Hg.): The Quality of Life, Oxford 1992, S. 242 – 276; dies.: Human Functioning and Social Justice: In Defense of Aristotelian Essentialism, in: Political Theory 20 (1992), S. 202 – 247. Nussbaums Verstndnis orientiert sich an dem aristotelischen Grundgedanken, dass dem Menschen qua seiner Natur gewisse Dinge und Mçglichkeiten als Gut vorgegeben seien. Sie vertritt damit eine universalistische Interpretation der aristotelischen Ethik. MacIntyre hingegen betont die Relativitt zur Polis, zur community. Nussbaum integriert ferner verschiedene Elemente der hellenistischen Ethik (siehe Nussbaum, M.: The Fragility of Goodness, Luck and Ethics in Greek and Latin Literature,
14
Einleitung
Fr Hadot dokumentiert der Text die geistigen bungen45 des Kaisers. Anders als Neuenschwander, der Marc Aurels Philosophie vornehmlich auf Poseidonius zurckfhrt, ist sie fr Hadot mit der Epiktets nicht nur identisch,46 sondern auch ußerst systematisch47 und wird dabei vçllig strukturiert dargelegt.48 Hadots Buch wird als das bisher umfassendste Werk zur Philosophie Marc Aurels, trotz einiger Kritik,49 ein stndiger Referenzpunkt bleiben. Soweit die bisherige Literatur.
2. Thema, Thesen und Aufbau der Untersuchung Welche Fragen lsst die Forschungslage offen, welche Probleme mssen erneut bzw. in neuem Lichte diskutiert werden? Zunchst ist gleichermaßen offensichtlich wie verwunderlich, dass die These von den traditionellen Inhalten in origineller Form nicht das Ergebnis einer Studie ist, sondern weitgehend ungeprft perpetuiert wird. In der Tat fehlt eine Arbeit, die sich Form und Inhalt bzw. der Beziehung beider Aspekte annimmt. Form und Inhalt werden grundstzlich getrennt untersucht, eben so, als ob sie sich auch trennen ließen. Diese berlegungen decken sich mit den Einstellungen, die viele antike Autoren selber zum Ausdruck bringen. Das Verhltnis von Literatur oder Rhetorik und
44
45 46
47 48 49
a.a.O.; dies.: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics, a.a.O.). Siehe Williams, B.: Ethics and the Limits of Philosophy, a.a.O. Auch Williams rekurriert auf Aristoteles, um sich – hnlich wie Krmer – gegen den modernen, vornehmlich christlich-kantianisch geprgten Moral-Begriff zu wenden. Stattdessen pldiert er fr ein am Selbst-Interesse orientiertes berlegen, das ußeren und somit auch politischen Umstnden Rechnung zu tragen vermag. Zum Terminus siehe Hadot, P.: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, a.a.O. und vorher: Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O. „Durch Vermittlung des Epiktet hat Marc Aurel aus den reinsten Quellen des Stoizismus geschçpft, und unsere Darstellung des Stoizismus des Epiktet wird gleichzeitig eine erste Darstellung des Stoizismus Marc Aurels sein.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 126. Eine zweite Darstellung der Philosophie, die auch Eigenheiten in den Blick nimmt, liefert Hadot dann aber nicht. „Letztlich wird man gewahr, dass sich hinter der anscheinenden Unordnung der Ermahnungen an sich selbst ein ußerst strenges Begriffssystem entdecken lsst.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 78. „Wie die Darlegung der Dogmen ist auch die der Lebensregeln bei Marc Aurel stark gegliedert.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 73. Siehe Kap. II 1.
2. Thema, Thesen und Aufbau der Untersuchung
15
Philosophie kann ein positives sein, und zwar dann, wenn das Literarische der Philosophie ntzlich ist.50 Seitens der philologischen Forschung, d. h. von den genannten Monographien zur Form, wird der philosophische Gehalt entweder gar nicht, marginal odersehr selektiv untersucht. Die Arbeiten zu den philosophischen Quellen von Marc Aurel bercksichtigen die Form gar nicht. Auch die Arbeit von Hadot rekurriert nur unzureichend auf die Form: Hadot verwendet die Ergebnisse von Dalfen und Rutherford nicht. Seine formale Einordnung beschrnkt sich darauf, die Selbstbetrachtungen der Textgattung der persçnlichen Notizen (Hypomnemata) zuzuweisen,51 die im Unterschied zu anderen Notizen ferner als geistige bung fungiert haben.52 Entsprechend kurz (und unzureichend) behandelt Hadot auch die Rolle des Schreibens: Das Abfassen des Textes diene nur als geistige bung, nicht aber dem Anliegen, fr die sptere Verwendung einen Text zu haben.53 Dalfen hat mehrfach die Gegenthese vertreten: Die Selbstbetrachtungen seien nur Lesefrchte, die der Kaiser zur spteren Verwendung niedergeschrieben habe.54 Der Zusammenhang von Form und Inhalt ist also nicht gut erforscht, gleichwohl ist er, so eine These dieser Arbeit, wesentlich fr das Verstndnis der Selbstbetrachtungen als der Quelle der Philosophie Marc Aurels.55 Die Form eines Textes ist nicht etwas rein ußerliches. Sie ist nicht nur das „Kleid des Inhaltes“.56 Dass der Text eine einzigartige Form hat, wurde, wie oben angedeutet, schon mehrfach festgestellt, und eine ganze Reihe der formalen Elemente 50 Eine exemplarische Analyse dieses Verhltnisses findet sich bei Erler, M.: Interpretatio medicans. Zur epikureischen Rckgewinnung der Literatur im philosophischen Kontext, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 243 – 256. 51 Siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 47 – 61. 52 Siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 62 – 79. 53 Siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 80 – 84. 54 Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., Kap. V und ders.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, a.a.O., S. 187 – 211. 55 Einen solchen Versuch hat es fr Epiktet gegeben: Wehner, B.: Die Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, (Diss. Freiburg), Stuttgart 2002. Die Arbeit leistet zwar nicht die nçtige Synopse von Form und Inhalt, ist aber ußerst wertvoll, insofern die Bedeutung der dialogischen Momente vielschichtig untersucht wird. Siehe weiter die Rezension von Willms, L. in Gymnasium 110 (2003), S. 396 f. 56 Siehe Quint. Inst. viii, praef.
16
Einleitung
sind bereits gut beschrieben. In Bezug auf die Gestalt der Selbstbetrachtungen stellen sich aber noch eine ganze Reihe interessanter Fragen: (i) In welchem Verhltnis zum Inhalt stehen die einzelnen formalen Aspekte des Textes? (ii) Ergeben die einzelnen formalen Elemente so etwas wie eine Einheit? (iii) Wenn ja, in welchem Verhltnis zu Inhalt und Absicht der Philosophie Marc Aurels steht diese formale Einheit? Gerade die Frage nach der formalen Einheit der Selbstbetrachtungen und dem Verhltnis der darin zum Ausdruck kommenden Philosophie ist unzureichend behandelt worden. Die Frage nach der Einheit des Textes ist gerade wegen seines Formenreichtums schwer zu beantworten. Umso berraschender ist es, dass zwei grundlegende Momente kaum Bercksichtigung gefunden haben. (iv) Die Selbstbetrachtungen enthalten viele Aspekte, die sich besser verstehen lassen, wenn man sie als Elemente eines Selbstdialoges versteht. (v) Marc Aurel hat einen Selbstdialog nicht thematisiert, sondern zum Teil auch gefhrt, indem er die Selbstbetrachtungen formuliert hat. Der Text ist vielleicht nicht ausschließlich, aber doch vorrangig selbstadressiert. Ob Marc Aurel eine sptere Verçffentlichung in Betracht gezogen hat, ob er sie erlaubt htte oder ob er diesbezglich indifferent war, ist nicht entscheidend. Genauso wenig scheint ausschlaggebend zu sein, ob er den Text tatschlich mit seiner eigenen Hand geschrieben hat, oder ob er diktiert hat, denn entscheidend ist, dass er formuliert, also verbalisiert hat. Die selbstdialogischen Elemente sind jedoch nicht nur dann interessant, wenn der Text ausschließlich ein privater Selbstdialog ist. berraschend ist, dass in der Forschung zwar hufig davon die Rede ist, es handele sich um einen selbstadressierten Text, aber die Selbstadressierung selbst ist nicht eingehend untersucht worden, und zwar weder mit Blick auf ihre sprachliche Gestalt noch den philosophischen Implikationen. Wenn Marc Aurel sich im Text selber ermahnt, jeden Morgen mit sich zu reden, und sich davon zu berzeugen sucht, wie ntzlich das ist,57 wird deutlich, dass er sich schriftlich selber in einem Selbstdialog auffordert, Selbstdialoge zu fhren. Der Selbstdialog wird so auch schriftlich praktiziert, reflektiert, aber auch darber hinausgehend eingefordert. Dass er sich auffordert, morgens mit sich selbst zu reden, zeigt zudem, dass sich fr Marc Aurel die Philosophie nicht ganz im Schreiben erschçpft. 57 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 1.
2. Thema, Thesen und Aufbau der Untersuchung
17
Der Selbstdialog, den Marc Aurel mitsamt seinen formalen Elementen (Stilmitteln und Gattungsmerkmalen) fhrt, ist dabei nicht nur eine kontingente Form. Er ist gleichsam das wichtigste Medium seiner Philosophie. Eine Untersuchung des Verhltnisses von Form und Inhalt wirkt schnell wie ein sehr alter Hut, zumindest wenn man sich, beispielsweise, einmal mit der platonischen Dialogtheorie beschftigt hat. Es soll hier aber keine irgendwie vorhandene Korrespondenz von Form und Inhalt postuliert werden. Die These lautet vielmehr: Fr die Philosophie Marc Aurels, die Selbstbetrachtungen, ist eine in der Antike einzigartige Verbindung von Form und Inhalt wesentlich. Denn Marc Aurel praktiziert stoische Philosophie auch, indem er einen Selbstdialog, die Selbstbetrachtungen, schreibt. Anders formuliert: Der bei einigen Textausgaben gewhlte Titel „Wege zum Selbst“ oder „Wege zu sich selbst“ kçnnte also nicht nur wiedergeben, worber Marc Aurel schreibt, sondern auch, dass er diese Wege beschreitet, indem er einen Selbstdialog schreibt.58 Mit Blick auf die uns erhaltenen Texte, scheint Marc Aurel der erste Autor zu sein, der einen Selbstdialog thematisiert, formuliert und fhrt. Bercksichtigt man, dass evtl. viele andere Quellen verloren gegangen sind oder andere selbstdialogische Texte wegen ihrer privaten Natur nicht berliefert sind, ist es umso bedeutsamer, dass wir einen solchen Text haben, und zwar von jemandem, der gut ausgebildet und Kaiser wurde. Zwar fhren in vorheriger Literatur, z. B. schon bei Homer, Figuren vereinzelt Selbstgesprche, aber es sind immer nur die literarischen Figuren, nicht der Autor selbst, der einen Selbstdialog fhrt; oder ein Autor schreibt einen Text, der gelegentlich solche selbstdialogischen Elemente enthlt. 58 Fr Newman sind Senecas Briefe und Epiktets Diatriben irgendwie („in some way“) Teil der Meditation. Die Praxis des Selbstdialoges und der literarische Ausdruck dieser Praxis sei eine Einheit (siehe Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O., S. 1478 f.). Auch fr Rabbow ist es „undenkbar, dass die Autoren – bereinstimmend – ihre Praxis in einer literarischen Form dargestellt haben, hinter der die praktische Form verschwunden wre.“ Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 308. Zugleich (ebenfalls S. 308) gibt Rabbow zu, dass die fraglichen Passagen etwas anderes als wiedergegebene Selbstdialoge seien, nmlich „eine unvollstndige Wiedergabe, Zusammenziehung, Skizzierung, Unterbrechung, Erweiterung durch literarische Fllsel; und besonders Versandungen des Selbstgesprchs zu rein literarischer, theoretisierender Erçrterung“. Beide Hinweise sind ußerst vage, unterscheiden zudem nicht zwischen den rçmischen Stoikern und wurden nicht weiter verfolgt, aber die Grundidee ist wegweisend.
18
Einleitung
Von allen erhaltenen Texten der Antike prsentieren die Selbstbetrachtungen vielleicht erstmalig als Ganzes einen Selbstdialog eines Autors. Noch eine letzte Anmerkung zu dieser These ber das Verhltnis von Form und Inhalt: Die Forschungslage lsst die Frage nach dem Verhltnis von Form und Inhalt nicht einfach offen. Sie wird gerade durch die Forschungsarbeiten zu Lebensform und Lebenskunst in der Antike besonders dringlich. Denn wenn Marc Aurel Philosophie als Selbstsorge praktiziert, ist fraglich, wie dies geschieht. Welche Kunst verwendet Marc Aurel? Auffllig ist, dass niemand den Selbstdialog und die Textualitt bei Marc Aurel als solches Verfahren verstanden und untersucht hat. Bis dato bestand, wenn berhaupt, Interesse an dem, was in Marc Aurels Text ber Lebenskunst gesagt wird und nicht am Text und seinen formalen Aspekten als Aktualisierung einer philosophischen, praktischen Technik. Zwar hat Hadot Marc Aurels Selbstbetrachtungen als geistige bungen verstanden, aber er hat die Form der bung dabei bestenfalls am Rande untersucht. Wenn die Selbstbetrachtungen selber Teil der bung sind und manifestieren, erlaubt die Analyse der Form Rckschlsse auf Marc Aurels Konzeption der Lebenskunst selbst. Die Trennung von Form und Inhalt wird damit vom Literaten und Philosophen Marc Aurel selber unterminiert bzw. geschieht gegen seine eigene Auffassung. Wie steht es um die Inhalte, die Themen und Argumente der Selbstbetrachtungen? Die These, durch das Schreiben eines Selbstdialoges komme eine philosophische Praxis zum Ausdruck, impliziert keineswegs die weitere These, dass der Text keine interessanten Theoreme beinhaltet. Im Gegenteil. Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist es, gerade auch die erstaunliche Bandbreite an Themen und Argumenten, die sich in den Selbstbetrachtungen finden, darzustellen. Hierauf wird der Fokus der Arbeit liegen, nicht auf einer erweiterten oder intensivierten Quellenkritik. Auch steht die Einordnung Marc Aurels in die Philosophiegeschichte der Stoa nicht im Vordergrund dieser Untersuchung. Das wre ein weiterer Schritt, der schon aus Zeit- und Platzmangel hier nicht erfolgen kann. Es gibt gute Grnde zu versuchen, die Inhalte der Philosophie Marc Aurels mçglichst unabhngig und breit zu prsentieren. Denn genau eine solche Darstellung fehlt. Anders als bei der Untersuchung der Bedeutung der formalen Aspekte, die den ersten Teil dieser Arbeit ausmachen wird, gibt es hier keinen Fokus
2. Thema, Thesen und Aufbau der Untersuchung
19
auf bestimmte Aspekte. Statt einer Auswahl soll der Versuch unternommen werden, ein mçglichst vielseitiges und reprsentatives Bild zu liefern. Marc Aurel hat zwar vorrangig in selbstadressierter und praktischer Absicht geschrieben, zeigt dabei aber eine erstaunliche Reihe von Themen und Argumenten, die ihn darber hinaus als stoischen Philosophen ausweisen. Der einzige bisherige Versuch einer umfassenden Darstellung stammt, wie bereits vermerkt, von P. Hadot. Problematisch an Hadots Buch ist, dass er die Philosophie Marc Aurels erstens mit der Epiktets identifiziert und zweitens fr vollstndig systematisch erklrt.59 Hier wird ein anderer Ansatz gewhlt, denn es ist fraglich, ob bereits Epiktet so systematisch und dabei eingeschrnkt war und ferner ob Marc Aurel und Epiktet wirklich identische Philosophien vertreten haben. Hadot prsentiert nicht nur einen systematischen Denker, sondern er reduziert die Philosophie Marc Aurels auch unnçtig. Fr ihn liefert das „Dreierschema Epiktets“ eine Erklrung fr Form und Inhalt des Textes. Das ist aber in beiden Hinsichten unzureichend. Erstaunlich ist z. B., dass Hadot wenig Interesse an den politischen Aspekten zeigt, die fr Marc Aurel aber zentral sind. Auch deswegen empfiehlt sich der Versuch, Marc Aurels Themen und Argumente unabhngig von Prmissen ber seine Nhe zur Einteilung von bungsthemen bei Epiktet oder dergleichen zu schildern. Trotz Hadots Arbeit bleibt also eine Darstellung, die versucht, einen mçglichst umfassenden berblick ber die Philosophie Marc Aurels zu geben, ein Desiderat. Diese Synopse der Themen und Argumente versucht auch zu zeigen, dass Marc Aurel zwar nicht zu allen klassischen Themen der stoischen Philosophie geschrieben hat, aber doch zu berraschend vielen und dabei nicht immer nur kompilierte, sondern zumindest auch einige eigene Akzente setzen konnte.60 59 „Letztlich wird man gewahr, dass sich hinter der anscheinenden Unordnung der Ermahnungen an sich selbst ein ußerst strenges Begriffssystem entdecken lsst.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 78. „Wie die Darlegung der Dogmen ist auch die der Lebensregeln bei Marc Aurel stark gegliedert.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 73 (Hervorheb. M.v.A.; siehe ferner die Tabellen S. 74). 60 Der alten Forschung zufolge sind die Selbstbetrachtungen eine ganz wenig originelle Kompilation: „Wer ihn [Marc Aurel] kennt, weiß auch, dass er der alten Lehre Eigenes so gut wie gar nicht hinzugefgt hat.“ Norden, E.: Agnostos Theos. Untersuchung zur Formgeschichte religiçser Rede, Berlin 1913, S. 242, Anm. 4. Demgegenber haben grndliche Studien gezeigt: „Auch bei Marc Aurel ist mit weitgehenden Umformungen der Quellen zu rechnen.“ Neuenschwander, R.:
20
Einleitung
Die Darstellung der Themen und Argumente verfolgt noch ein weitergehendes Ziel. Sie ist ganz auf Marc Aurel konzentriert, und verzichtet weitgehend auf Vergleiche, wie Hadot sie bereits voraussetzt. Das hat nicht nur çkonomische Grnde, denn die hier vorgelegte Darstellung mçchte solche Vergleiche zunchst ermçglichen. Fr einen Vergleich, z. B. von Epiktet und Marc Aurel, bedarf es aber jeweils eines angemessenen, und das heißt hier, unabhngigen Verstndnisses vom dem, was miteinander verglichen werden soll. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit nur als Vorarbeit. Zwar wird gelegentlich auf die Texte anderer Philosophen rekurriert, doch dies geschieht immer nur, um eine Interpretation Marc Aurels zu verdeutlichen, nicht um einen vollumfnglichen Vergleich anzustellen. Welcher Weg soll hier beschritten werden? Der Gang der Untersuchung stellt sich – im Groben – wie folgt dar: Auf den ersten Blick wird auch in dieser Darstellung eine strenge Trennung von formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten vorgenommen und damit perpetuiert, denn in einem ersten Teil wird es um die Form der Selbstbetrachtungen gehen, im zweiten Hauptteil um die Themen und Argumente. Doch die Hauptaufgabe des ersten Teiles wird sein, die formalen Elemente nicht nur zu beschreiben sondern vor allem ihre Bedeutung im Hinblick auf die Inhalte darzustellen. Statt einer reinen Bestandsaufnahme des Formenbestandes, der dann erst die Darstellung der Inhalte folgt, um schließlich der Verbindung nachzugehen, wird in diesem Teil direkt versucht, zu ermitteln, was der Philosoph Marc Aurel mit der Wahl bestimmter formaler Elemente ausdrcken wollte. Schon die vielleicht einzigartige Gestalt der Selbstbetrachtungen lsst eine sequentiell trennende Abhandlung von Form, Inhalt und deren Verbindung nicht sonderlich zweckmßig erscheinen. So wird im ersten Teil der Untersuchung das erste Buch komplett, also auch auf Themen und Argumente hin untersucht. Denn es hat als einziges eine geschlossene Form und unterscheidet sich auch hinsichtlich der Inhalte von den anderen Bchern (Kap. I 2). Ein weiteres Argument, das fr die Darstellung der formalen Argumente zusammen mit der Untersuchung ihrer philosophischen Bedeutung spricht, ist der Umstand, dass Marc Aurel sehr hufig ber formale Aspekte reflektiert, und diese Reflexionen sind philosophischer Natur, nmlich Teil Marc Aurels Beziehung zu Seneca und Poseidonios, a.a.O., S. 9 (siehe auch Reinhardt, K.: Kosmos und Sympathie, a.a.O., S. 178).
2. Thema, Thesen und Aufbau der Untersuchung
21
seiner Behandlung sonstiger Themen. Somit wird mit einer solchen Darstellung auch versucht zu zeigen, dass Marc Aurel bestimmte Formen in philosophischer Absicht verwendet. So etwas wie reine Form ohne philosophische Bedeutung gibt es fr Marc Aurel nicht. Zur Untersuchung der Bedeutung formaler Aspekte gehçren zunchst einige grundlegende Umstnde (Kap. I 1), wie die Sprachwahl, die Frage nach dem Titel, der Aufbau des Werkes sowie Datum und Sequenz der Abfassung. Im dann folgenden Teil wird den zentralen formalen Aspekten der Selbstbetrachtungen nachgegangen, die sich als Gattungselemente frher antiker Textformen ausmachen lassen (Kap. I 3). Obschon gerade hier Vorarbeiten geleistet wurden, werden neue Ergebnisse erzielt, zumal einige der bisherigen Analysen zur Form von neueren Forschungsergebnissen berholt sein drften. Es geht darum, die formale Einzigartigkeit der Selbstbetrachtungen zu analysieren und hinsichtlich erkennbarer, bekannter Elemente zu unterscheiden. Dieses Verfahren soll zeigen, dass Marc Aurel ber literarische Kenntnisse und Fhigkeiten verfgte und ein selbstbewusster Autor war (siehe auch das Kap. I 5 ber die Rhetorik). Die Analyse dieser Gattungselemente in den Selbstbetrachtungen verfolgt aber auch das Ziel, das Werk als Ganzes durch die Beziehung von Form und Inhalt verstndlich zu machen. Wenn hier von Gattungselementen die Rede ist, verbindet sich damit nicht notwendig die berzeugung oder der Anspruch zu zeigen, dass diese Gattungen als solche in der Antike bereits bekannt und akzeptiert wurden. Es geht vielmehr nur um den Nachweis, dass Marc Aurel nicht vollkommen willkrlich geschrieben hat, sondern verschiedene literarische Aspekte und Techniken kannte und verwandte, die man von einem spteren Standpunkt aus evtl. als Gattungselemente zum Zwecke der Beschreibung bezeichnen kann. Eine Sonderstellung nimmt die Frage nach dem autobiographischen Charakter der Selbstbetrachtungen ein, denn die Autobiographie darf nur sehr bedingt als antike literarische Gattung gelten (Kap. I 3.1). Da Marc Aurel in praktischer Absicht schreibt und mit dem Text seine Lebensfhrung reflektiert und vor allem beeinflussen will, wundert es nicht, dass die Selbstbetrachtungen in vielerlei Hinsicht in der reichen Tradition der Ermahnung, verwandter Formen und auch der Konsolationsliteratur stehen (Kap. I 3.2 – 3). Marc Aurel kannte die Aufzeichnungen der Lehrgesprche Epiktets offenbar gut. Mit bestimmten dialogischen Formen und dem Frage-Antwort-Schema bernimmt er nicht nur
22
Einleitung
eine zentrale philosophische Technik, sondern auch bestimmte Inhalte Epiktets (Kap. I 3.4 und I 4.1.3). Die Bercksichtigung der dialogischen Strukturen bei Epiktet schrft den Blick fr Besonderheiten der Selbstbetrachtungen. Dabei handelt es sich um Aspekte, die nicht mehr ganz als Aufnahme und Verwendung von Gattungselementen aus vorheriger Literatur erklrt werden kçnnen. Anders als Seneca und Epiktet fhrt und empfiehlt Marc Aurel uneingeschrnkt den Selbstdialog. Da weder der Begriff noch seine Bedeutung fr die Interpretationen der Selbstbetrachtungen gut erforscht ist, widmet sich diesem ein umfangreiches und fr die gesamte Untersuchung zentrales Kapitel (I 4). Zum Nachweis der Besonderheit der Selbstbetrachtungen wird zunchst der Begriff Selbstdialog untersucht und vor allem vom Monolog unterschieden. Daraufhin werden Vorlufer von Selbstdialogen in fiktionaler Literatur (Homer) und erste philosophische Reflexionen des Selbstdialoges bei Seneca und Epiktet behandelt. Was den Selbstdialog angeht, unterscheidet sich Marc Aurel von den anderen rçmischen Stoikern sowohl in Theorie als auch in Praxis. Es folgt eine Untersuchung der rhetorischen Elemente, ihrer Bedeutung und den dazugehçrigen Reflexionen (Kap. I 5), um schließlich die Frage zu erçrtern, welche Bedeutung die Ttigkeit des Schreibens fr Marc Aurel gehabt haben mag, die grundlegend dafr ist, dass es berhaupt einen Text mit formalen Eigenschaften gibt (Kap. I 6). Da es sehr wenig Referenz-Texte in der Antike gibt, die das Schreiben behandeln, wird auf das Corpus Hippocraticum als einer der diesbezglich wenigen aber ergiebigen Textsammlungen zurckgegriffen, denn dort finden sich zahlreiche Passagen, in denen ber die Formen und Funktionen des Schreibens reflektiert wird. In einem weiteren Schritt wird ein Vergleich, der das Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca und Epiktet untersucht, den Blick fr die verschiedenen Funktionen des Verbalisierens, Formulierens bzw. Schreibens bei Marc Aurel schrfen. Der zweite Hauptteil, die Untersuchung der Themen und Argumente, wird mit methodischen berlegungen eingeleitet (Kap. II 1). Da Marc Aurel keinen Traktat verfasst hat und die Selbstbetrachtungen keine erkennbare Struktur bei der Abhandlung von Themenfeldern und der Prsentation der Argumente zeigen, wegen der vielen Wiederholungen ein fortlaufender Kommentar jedoch ungeeignet erscheint, muss die Einteilung vom Interpreten stammen. Es bietet sich eine grobe Orientierung an der stoischen Dreiteilung der Philosophie in Physik, Logik und Ethik an, wobei aber den Besonderheiten des Textes Rechnung getragen werden muss. Marc Aurel behandelt die klassischen Themen der stoischen Phi-
2. Thema, Thesen und Aufbau der Untersuchung
23
losophie, wie sie etwa der Ordnung der Texte bei Long und Sedley zugrunde gelegt wird, nicht alle gleich intensiv. Hier sind Gewichtungen durch den Text selbst vorgegeben. Dennoch erscheint die Vorgabe durch die stoische Tradition sinnvoll, kann so doch gezeigt werden, dass Marc Aurel zu mehr stoischen Themen etwas zu sagen hat oder sie als Grundlage fr seine Zwecke verwendet, als bis dato angenommen wurde und wird. Dabei ist aber zu bercksichtigen, dass Marc Aurel keines dieser Themen um seiner selbst willen oder getrennt diskutiert. Whrend die zentrale These des ersten Hauptteils die philosophische Bedeutung der Form betrifft, geht es im zweiten Hauptteil um folgende These: Marc Aurel lsst Physik und Logik als traditionelle Teile der Philosophie nicht wegfallen, aber seine Behandlung ist hçchst selektiv, weil sie vollstndig an praktischen Zielen orientiert ist. Schon die Darstellung seiner Auffassung vom Kosmos, der allgemeinen Natur (Kap. II 2) zeigt, dass Marc Aurel die zentralen stoischen technischen Ausdrcke verwendet und dass sich bei ihm deutliche Spuren der Prinzipienlehre, der stoischen Auffassung von der Vorsehung, dem Kosmos als Ursachengeflecht und den so genannten Nebenfolgen finden. Aber bereits auf dem Gebiet der Physik hat Marc Aurel auch Eigenes zu prsentieren. Er rezipiert Heraklits Lehre vom Wandel vielleicht strker als andere Stoiker vor ihm, betont aber schon bei der Lehre von der Ursachenverflechtung (Kap. II 2.3) den Gemeinschaftsgedanken, der in allen Themenbereichen eine signifikante Rolle spielt. Seine Diskussion zweier physikalischer Modelle (dem stoischen und epikureischen) und den daraus resultierenden praktischen Folgen ist herausragend und in der stoischen Tradition zwar nicht ganz ohne Vorprgung, aber in dieser Art einmalig (Kap. II 2.7). Besondere Aufmerksamkeit gebhrt Marc Aurels Auffassung von der speziellen, der menschlichen Natur (Kap. II 3). Er schreibt eingehend ber Seele und Kçrper und verwendet dabei gelegentlich eine platonisierende Sprache, die ebenfalls Anlass zu Forschungen ber den angeblichen Eklektizismus gegeben hat (Kap. II 3.1). Von berragender Bedeutung ist Marc Aurels Bestimmung der vernnftigen und politischen Natur des Menschen. Sowohl der Bestimmung der Vernunft selbst, der Begrndung des Verhltnisses von Vernunft und politisch-sozialer Natur, als auch den damit verbundenen politischen Aspekten wird daher detailliert nachzugehen sein (Kap. II 3.2). Fr die Stoiker hat die Logik zunchst ganz allgemein mit dem Vernunftgebrauch zu tun. Auch wenn Marc Aurel nichts ber das schreibt, was heute in Logik-Seminaren gelehrt wird, ußert er sich sehr wohl zu logischen Themen im stoischen Sinne (Kap. II 4). Insbesondere epistemolo-
24
Einleitung
gischen Fragen ist hier nachzugehen. Dabei sind der Umgang des fhrenden Seelenteils mit den Vorstellungen und eine analytische Methode zentral. Letztere, die Marc Aurel in vielen Kapiteln beschreibt, soll dazu dienen, nur natrlichen Vorstellungen die Zustimmung zu erteilen. Damit werden philosophische Positionen behandelt, denen auf der formalen Seite der Selbstdialog entspricht. Denn die dialektisch-analytische Kontrolle der Vorstellungen vollzieht sich bei Marc Aurel in einem Selbstdialog. Schließlich gehçrt die Rhetorik fr die Stoiker zur Logik und auch Marc Aurel behandelt solche Aspekte. Wie aufgrund der praktischen Ausrichtung der rçmischen Stoa und besonders bei Marc Aurel nicht anders zu erwarten, spielen ethische Themen eine besonders große Rolle (Kap. II 5). Fr den aufmerksamen Leser hat Marc Aurel auch hier gelegentlich berraschungen parat, die man nicht nur als Idiosynkrasien oder als der Textform geschuldet abtun kann. Neben einer erklrungsbedrftigen Zurckhaltung bei der Verwendung der stoischen Telos-Formeln (Kap. II 5.1) kehrt Marc Aurel offenbar zur Gterlehre des als Hretiker bezeichneten, frhen Stoikers Ariston von Chios zurck (Kap. II 5.2). Demgegenber scheint Marc Aurels Auffassung von einer Handlung und den zugrunde liegenden Antrieben Vertrautheit und bereinstimmung mit der stoischen Orthodoxie zu zeigen (Kap. II 5.3). Wie seine Annahmen ber die soziale Natur des Menschen ist seine Auffassung von Leidenschaften und positiven Affekten insbesondere von M. Nussbaum heftig kritisiert worden. Hier ist Marc Aurels Position nicht nur zu schildern, sondern auch von Missverstndnissen zu befreien (Kap. II 5.4). Die abschließende Untersuchung von zwei relevanten Aspekten einer Handlung wird noch einmal deutlich machen, dass Marc Aurel ein stoischer Philosoph ist: Sowohl seine Behandlung der jah^jomta als auch der sog. Vorbehaltsklausel zeigen nicht nur, dass er stoische Theoreme kennt, sondern sie auch fr seine Belange zu nutzen weiß. Nach der Erluterung der Struktur der Untersuchung soll noch ein Hinweis zur Prsentationsform erfolgen. Um die Argumentation mçglichst transparent und nachvollziehbar zu gestalten, werden Kapitel aus den Selbstbetrachtungen hufig, ausfhrlich und zum Teil wiederholt zitiert. Aus verschiedenen Grnden erscheint dies sinnvoll: (i) Die Untersuchung geht davon aus, dass zwischen Form und Inhalt der Selbstbetrachtungen ein enger Zusammenhang besteht. Wenn nicht nur die Argumente, sondern auch die Art, wie sie von Marc Aurel
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie
25
aufgeschrieben werden, philosophisch bedeutsam ist, ist es generell wichtig, dem Leser einen Eindruck davon zu geben. (ii) Marc Aurel spricht die meisten Themen wiederholt an. Auch Argumente werden wiederholt und dabei einmal mehr, einmal weniger variiert. (iii) Mit dem Umstand, dass die Selbstbetrachtungen auf der Makroebene kein thematisch strukturierter Traktat sind oder sein wollen, korrespondiert auf der Mikroebene der einzelnen Eintrge der Umstand, dass innerhalb eines Kapitels verschiedene Themen oder Argumente aus zum Teil unterschiedlichen Bereichen erwhnt werden. Nicht immer, aber oft werden also in einem Kapitel z. B. Aussagen zur Physik, der Beschaffenheit des Kosmos und dann zu konkreten ethischen Belangen gemacht und aufeinander bezogen. Da in einem einzelnen Kapitel sonach in mehrerlei Hinsicht und zu verschiedenen Themen Interessantes behandelt wird, wird es im Rahmen der hiesigen Untersuchung, die einer thematischen Ordnung folgt, erforderlich sein, ein entsprechendes Kapitel mehrfach zu zitieren. Damit eng verbunden ist der nchste Punkt. (iv) Die vorliegende Analyse ist nicht nur umfangreich, so dass ein einmal zitiertes Kapitel dem Leser nach mehreren hundert Seiten nicht mehr im Wortlaut im Gedchtnis sein muss. Sie ist absichtlich so aufgebaut, dass die beiden Hauptteile fr sich stehen kçnnen, um die Lektre nur einzelner Kapitel dieser Arbeit zu ermçglichen. Auch um dies zu gewhrleisten und zu erleichtern, werden bestimmte Kapitel der Selbstbetrachtungen wiederholt wiedergegeben.
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie Was fr eine Art von Philosoph ist Marc Aurel? Was fr eine Art Text hat er mit den Selbstbetrachtungen verfasst? Die folgenden Ausfhrungen wollen in knapper Form eine erste Charakterisierung geben. Dabei soll die Hauptthese der Untersuchung etwas nher erlutert werden. Marc Aurel ist ein stoischer Philosoph. Die Selbstbetrachtungen dokumentieren jedoch auch innerhalb der antiken eudaimonistischen Strçmungen sowie innerhalb der stoischen Tradition, eine besondere Philo-
26
Einleitung
sophie- und Textform, denn sie sind Theorie und Aktualisierung einer antiken Lebenskunst zugleich. Whrend der antike Eudaimonismus, die dort behandelten Lebensformen und Lebensknste61 und auch die stoischen Varianten mittlerweile62 besser erforscht sind, steht eine Einordnung und Einschtzung Marc Aurels in diesem Gesamtbild noch aus. Wegen dieser verbesserten Forschungslage im Hinblick auf die antiken Strçmungen soll nur dasjenige zusammengefasst werden, das hilft, die Besonderheit der Selbstbetrachtungen besser einzuschtzen. Zunchst erschçpft sich fr Marc Aurel wie fr die gesamte stoische Tradition Philosophie nicht in einer Lehre. Die stoische Formel drckt dies bereits deutlich aus: blokocoul´myr (t0 v¼sei) f/m (in bereinstimmung mit dem Logos – der Natur – leben oder konsistent leben).63 Mit der genannten Ausrichtung der Philosophie an der Art und Weise, wie gelebt wird, korrespondiert auch die stoische Einteilung in Logik, Physik und Ethik.64 Laut Diogenes Laertius haben Zenon, Chrysipp, Archedemos und Eudromos fr diese Reihenfolge pldiert.65 Abweichende Berichte mit anderen Reihungen, die sich bei Sextus Empiricus66 oder Plutarch67 finden, legen nur scheinbar eine andere Finalisierung nahe. Die dort angezeigten Sequenzen erklren sich aber durch eine ganz andere Intention. Dies zeigt sich daran, dass die dort verwendeten Bilder eher allein den Gedanken der organischen Einheit der Teile der Philosophie und keine Teleologie charakterisieren wollen. Oder sie bringen etwas Didaktisches zum Ausdruck, nmlich in welcher Abfolge die Lehrinhalte vermittelt werden sollen. Chrysipp dagegen erklrt explizit, dass die Ethik einerseits auf die Physik und andererseits auf die Logik aufbauen solle.68 61 Hadot, I.: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969; Annas, J.: The Morality of Happiness, New York/Oxford 1993; Hadot, P.: Philosophie als Lebensform, a.a.O.; Nussbaum, M.: Therapy of Desire, a.a.O. 62 Sellars, J.: The Art of Living. The Stoics on the Nature and Function of Philosophy, a.a.O.; Horn, Ch.: Antike Lebenskunst, a.a.O. 63 Siehe Kap. II 5.1. 64 Die Dreiteilung selber geht vielleicht eher auf Xenokrates als auf Zenon zurck (siehe Frede, M.: Die stoische Logik, Gçttingen 1974, S. 24 und Graeser, A.: Zenon von Kition, Berlin 1975, S. 10). 65 Siehe Diog. Laert. 7, 39 – 41. Zu diesem Ergebnis kommen auch Long, A. A./ Sedley, D. N.: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, bers. von Karlheinz Hlser, Stuttgart/Weimar 2000, S. 186 f. 66 Siehe Sext. Emp. Math. 7, 19. 67 Plut. De stoic. Rep. 9 1035a-b. 68 Siehe zur Physik SVF 3, 68 und zur Ethik SVF 1, 65 und Diog. Laert. 7, 60 – 61.
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie
27
Eine andere berhmte stoische Bestimmung der Philosophie bringt die praktische Ausrichtung besonders gut zum Ausdruck: Die Stoiker sagen, die Weisheit sei das wissenschaftliche Wissen um Gçttliches und Menschliches und die Philosophie sei die Ausbung von Kunst im Bereich des Ntzlichen. Ntzlich aber sei [an der Spitze einer Einteilung] als einziges und zuhçchst die Tugend…69
Neben der Bestimmung der Philosophie ist die Unterscheidung von der Weisheit hier interessant. Diese spiegelt sich auch bei Marc Aurel wieder. Denn bemerkenswerterweise taucht der Begriff „Weisheit“ (sov¸a) nicht auf 70, whrend er in verschiedenen Kapiteln „Philosophie“ ganz praktisch bestimmt.71 Nur die Philosophie hilft uns, das Leben zu meistern.72 Von den jeweils eigenen therapeutischen Zwecken soll die Wahl der philosophischen Themen und Gesprchspartner abhngig gemacht werden.73 Die Philosophie zielt auf Heilung ab und damit generell auf dasjenige, wonach auch die eigene Natur strebt.74 Die Philosophie macht das Leben und auch die eigene Person fr andere ertrglich.75 Zudem ist sie die entscheidende Hilfe, um in jeder Situation tugendhaft zu sein,76 sie ist persçnlichkeitsbildend77 und dient zur Ausrichtung der Lebensfhrung.78 Daher braucht die Philosophie nicht einen bestimmten praktischen Kontext, etwa die Rahmenbedingungen einer Akademie, vielmehr brauchen wir in jeder Lebenssituation Philosophie.79 Philosophie mçchte nur bewirken, dass wir in Entsprechung mit der Natur leben.80 Dieses Kriterium des guten, weil natur- und logosgemßen, Lebens fungiert ganz konsequent als Ziel.81 69 SVF 2, 35. 70 Nur einmal erwhnt er ganz hypothetisch einen Weisen (siehe M. Aur. Med. 10, 36). 71 Die weiteren Kapitel, in denen „Philosophie“ vorkommt, widersprechen dieser praktischen Konzeption keineswegs (siehe M. Aur. Med. 1, 6 u. 14, 16 u. 17; 4, 48; 6, 46). 72 Siehe M. Aur. Med. 2, 17. 73 Siehe M. Aur. Med. 9, 41. 74 Siehe M. Aur. Med. 5, 9. 75 Siehe M. Aur. Med. 6, 12. 76 Siehe M. Aur. Med. 12, 27. 77 Siehe M. Aur. Med. 6, 30. 78 Siehe M. Aur. Med. 8, 1. 79 Siehe M. Aur. Med. 6, 7. 80 Siehe M. Aur. Med. 3, 2; 3, 4; 9, 29. 81 „Wenn du etwas Besseres im menschlichen Leben findest als Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit und – kurz gesagt – Zufriedenheit
28
Einleitung
Theoreme kannte auch die Stoa.82 Fr die praktischen Belange der Lehre sind sie notwendig, wobei die Teile jedoch eine Einheit bilden: Kein Teil kann fr sich stehen. Hier kommt der Gedanke der organischen Einheit zum Tragen: Ein solcher Organismus wird als zweckhaft gedacht und hat eine Bestimmung. Diese liegt, wie oben bereits angesprochen, im guten Leben.83 Entgegen unserer (durch den heutigen akademischen Betrieb gerechtfertigten) Redeweise wrden die Stoiker jemanden nicht als Philosophen bezeichnen, der sich nur mit den Inhalten eines Teiles der Philosophie auskennt. Erst die Aktualisierung aller drei Teile konstituiert fr sie die Philosophie. Theoreme kennt und befrwortet auch Marc Aurel, aber die Philosophie und ihre Stze und Regeln (dºclata,84 jev²kaia,85 heyq¶lata,86 paqast¶lata87 und paqap¶clata88) sollen hilfreich sein, sie werden als Heilmittel verstanden.89 Eine solche Auffassung steht ganz allgemein zunchst in der Tradition der antiken praktischen Philosophie,90 genauer, einer therapeutischen Konzeption der Philosophie.91 Seit ihren Anfngen hat sich die Philosophie in Analogie zur Medizin verstanden.92 Plato zufolge leistet der Philosoph
82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92
deines Denkens mit sich selbst, … , wenn du, so sage ich, etwas Besseres siehst, dann wende dich jenem mit ganzer Seele zu und genieße das, was sich dir als das Beste erweist. … ,Besser ist das Ntzliche.‘ Wenn es das fr dich als vernunftbegabtes Wesen Ntzliche ist, dann bewahre es dir. Wenn es aber nur das fr dich als einfaches Lebewesen Ntzliche ist, dann bekenne dich dazu und halte schlicht und einfach an deinem Urteil fest.“ M. Aur. Med. 3, 6. Chrysipp spricht von den heyq¶lata der Philosophie (siehe SVF 2, 38). Zu diesen Fragen siehe Hadot, P.: Die Einteilung der Philosophie im Altertum, in: Zeitschrift fr Philosophische Forschung 36 (1982), S. 422 – 444. Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 3; 3, 13; 3, 16; 4, 16; 7, 2; 8, 2 u. 14; 9, 3; 10, 9 und 10; 11, 23. Siehe z. B. M. Aur. Med. 11, 18. Siehe z. B. M. Aur. Med. 1, 7; 1, 8; 4, 2; 11, 5. Siehe M. Aur. Med. 3, 11. Siehe M. Aur. Med. 9, 3. Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 17; 5, 9; 6, 12. Siehe Long, A. A./Sedley, D. N.: Die hellenistischen Philosophen, a.a.O., Kap. 66. Siehe Nussbaum, M.: The Therapy of Desire, a.a.O. Eine Sammlung der wichtigsten Fundstellen bis zu Aristoteles findet sich bei Entralgo, P. L.: The Therapy of the World in Classical Antiquity, Yale 1970. Zu Aristoteles siehe bereits Jaeger, W.: Aristotle’s Use of Medicine as a Model of Method in his Ethics, in: Journal for the History of Science 77 (1957), S. 54 – 61.
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie
29
fr die Seele, was der Arzt fr den Kçrper leistet.93 Die Verwendung medizinischer Metaphorik fr die Belange der Philosophie ist außerordentlich verbreitet94 und spielt im Rahmen der Sorge um die Seele bei der spten Stoa eine besonders große Rolle.95 In den letzten Jahrzehnten wurde vermehrt diskutiert, ob die gesamte antike Philosophie durch eine solche unmittelbar praktische Absicht bestimmt ist und als Lebenskunst angelegt ist, wie P. Hadot meint. Die Beantwortung dieser Frage bedarf einer eigenstndigen und breit angelegten Untersuchung.96 Zwei Hinweise sollen hier gengen. Erstens: Fr Hadots These spricht, dass die Belegstellen fr eine große Anzahl von Denkern aus verschiedenen Epochen der Antike eine klare Sprache sprechen. Zweitens: Wenn die These auf viele antike Autoren zutrifft, impliziert ihre umfassende Gltigkeit auch ihre große Schwche: Vertreten fast alle 93 Siehe Pl. Grg. 463aff. Fr eine Analyse der sehr vielen Platonstellen siehe Rues, H.: Gesundheit, Krankheit, Arzt bei Plato, Diss., Tbingen 1957. 94 Plut. De garr. 502b; De tranq. anim. 465b, 476c (siehe Ingenkamp, H. G.: Plutarchs Schriften ber die Heilung der Seele, Gçttingen 1971); Cleanthes SVF III 467, 474; Cic. Tusc. 3,1 – 6; Tert. De anim. 2, 6; Arr. Epict. Diss. 3, 22, 73 und 3, 23, 30.; Sen. Ep. 50. 9, 72. 6, 94. 24, 117. 33 (siehe Hadot, I.: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung, a.a.O.). Hilfreich ist auch die Sammlung von Pçschl, V. (Hg.): Bibliographie zur antiken Bildersprache, Heidelberg 1964, S. 521. 95 In der Tat gibt es daher heute Anleihen moderner kognitiver Psychotherapien bei der antiken und vor allem stoischen praktischen Philosophie. Insbesondere kognitive Verhaltenstherapien rekurrieren zum Teil explizit auf die rçmischen Stoiker (vornehmlich Epiktet). Diese bereinstimmungen wurden sowohl von philosophiehistorischer Seite, als auch von modernen Psychotherapeuten festgestellt (siehe Sorabji, R.: Emotions and the Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation, Oxford 2002, S. 1 – 13, 159 – 288 und Hoellen, B.: Stoizismus und rational-emotive Therapie (RET), Kaiserslautern 1986. 96 Wichtige Anstze bei Horn, Ch.: Antike Lebenskunst, a.a.O., S. 15 ff. Horn konzentriert sich auf die antiken Texte, die offenkundig unter das LebenskunstModell subsumierbar sind. Es fehlt (a) eine Analyse der Vorsokratiker (Horn argumentiert etwa, dass bei Heraklit ethische Fragen nicht zentral seien (siehe S. 20; dagegen siehe van Ackeren, M.: Heraklit. Einheit und Vielfalt seiner Philosophie, Bern 2005, Kap. 5). Entscheidend aber wre eine Untersuchung der Texte der antiken Philosophie, die prima facie diese These von der Ausrichtung auf die Lebensdienlichkeit nicht hergeben. Hier wre es nçtig, Hinweisen von M. Hossenfelder nachzugehen, dass sich ein Primat der praktischen Vernunft oftmals hinter einem vermeintlichen Primat theoretischer Vernunft verbirgt (siehe Hossenfelder, M.: Die Philosophie der Antike 3, Stoa, Epikureismus und Skepsis, a.a.O., S. 17).
30
Einleitung
antiken Denker eine Philosophie, die sie als Lebensform konzipieren, so ist mit dieser These nicht mehr als eine allgemeine Charakterisierung geleistet, die hilfreich ist, andere Epochen oder Philosophiekonzepte zu unterscheiden. Fr die Erforschung der antiken Philosophie aber kommt es dann auf Binnendifferenzierungen an: Wie explizit vertritt ein antiker Philosoph diese These von der Philosophie als Lebensform? Welche Lebensform empfiehlt er? Und mit welchen Argumenten tut er dies? Neben der Charakterisierung der antiken Philosophie als Lebensform oder Lebenskunst wurde auch – mit etwas engerem Bezug auf die hellenistischen Strçmungen – von einem „Primat der praktischen Vernunft“ gesprochen.97 Diese Ausdrucksweise, die Kant entlehnt ist, sollte aber nicht glauben machen, dass die praktische Philosophie der Antike notwendig mit den Formen der praktischen Philosophie in der Neuzeit identisch sei.98 Auffllig ist aber, dass gerade die antike Ethik in den letzten zwanzig Jahren die ethische Debatte sehr vielfltig geprgt hat.
97 So Hossenfelder, M.: Die Philosophie der Antike 3, a.a.O., S. 14 – 22. 98 Man kçnnte argumentieren, dass die Themen der neueren praktischen Philosophie andere seien: So wird im Rahmen der Metaethik der Gebrauch von ethischem Vokabular wie „gut/schlecht“ untersucht und generell wird in der modernen Literatur der Frage nach der Fundierung von und der Kritik an Begrndungen fr Urteile ber moralisches Werten viel Platz eingerumt. Wie weitgehend oder konstitutiv fr die moderne praktische Philosophie diese thematische Verschiebung ist, kann hier nicht ausgelotet werden. Zum „principle of utility“ schreibt Bentham: „To this denomination has of late been added, or substituted, the greatest happiness or greatest felicity principle: this for shortness, instead of saying at length that principle which states the greatest happiness of all those whose interest is in question, as being the right and proper, and only right and proper and universally desirable, end of human action: of human action in every situation, an in particular in that of a functionary or set of functionaries exercising the powers of Government.“ Bentham, J.: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, I 1., in: Mill, J. St.: Utilitarianism, Glasgow 1985, S. 33 – 77, hier: S. 33. Auch fr Mill ist das Grundprinzip aller Moral aufs Engste mit dem Glck verbunden: „The creed which accepts as the foundation of morals, Utility, or the Greatest Happines Principle, holds that actions are right in proportion as they tend to promote happiness, wrong as they tend to produce the reverse.“ Mill, J. St.: Utilitarianism, a.a.O., S. 257. Die genannte These stammt von Horn, Ch.: Antike Lebenskunst. Glck und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. a.a.O., S. 14. Sehr empfehlenswert fr einen Vergleich von antiker und moderner praktischer Philosophie sind die Kapitel 5 und 6.
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie
31
Generell ist der Ausdruck „praktische Philosophie“ nicht eindeutig, er kann – mindestens – folgende drei sich nicht immer ausschließende Bedeutungen haben: (i) Philosophie, die Praktisches zum Gegenstand hat, aber ganz im Medium der Theorie verbleibt. (ii) Philosophie, die eine bestimmte Praxis beeinflussen will und zum weiteren Ziel hat. (iii) Philosophie, die selber eine Praxis ist. Diese Bedeutungsebenen fallen vielleicht in der Antike strker zusammen als in der gegenwrtigen Philosophie. Dennoch ist es hilfreich, auch fr die Antike diese Aspekte zu unterscheiden. Vielleicht ist es so auch eher mçglich, die verschiedenen antiken Entwrfe eines gelingenden Lebens trennschrfer zu bestimmen und letztlich auch die Eigenart der Selbstbetrachtungen besser zu erfassen. Wie schon anhand der Bemerkung ber die Bedeutung der Theoreme angedeutet, impliziert die praktische Ausrichtung der Philosophie bei vielen antiken Autoren nun keineswegs, dass die Philosophie dadurch weniger sachhaltig oder gar a-theoretisch wrde. Und zwar aus zwei Grnden nicht: (i) Zunchst werden praktische Fragen, auch die der Lebensform, in der antiken philosophischen Literatur in Form von Theorien abgehandelt, eben ethischen Theorien. Dieser Umstand ist weitaus weniger trivial und unbedeutsam als angenommen, denn damit wird klar, dass die praktische Ausrichtung nicht zu einer Theoriefeindlichkeit fhren muss, whrend umgekehrt eine theoretische Ausrichtung der Philosophie noch heute gerne mit einer Abwertung der Praxis einhergeht. (ii) Auch theoretisches Wissen kann explizit als lebensdienlich gedacht werden. Dies gilt (a) fr das theoretische Wissen von praktischen Belangen (ethische Theorien), aber auch (b) fr das Wissen von theoretischen Dingen. Beide Aspekte werden bei Aristoteles besonders deutlich, und dies bereits in seinen Lehrschriften: Ad (i). Jeder Leser der aristotelischen Ethik merkt schnell, dass es sich hier um eine Theorie oder gar ein Bndel von Theorien handelt, und so beschftigt sich der der Ethik zugewandte Teil der Aristoteles-Forschung mit Fragen, die eindeutig darauf dringen, zu klren, welche Theorie Aristoteles hier entwickelt, weswegen auch von der Mesotes-, Hexis- oder Ethos-Lehre die Rede ist.
32
Einleitung
Ad (ii). Aristoteles will mit seiner Ethik einen Umriss geben, der uns helfen soll, unser Streben nach dem Guten und Besten, dem obersten Ziel, zu verwirklichen. Seine Ethik geht von der Frage nach dem von allen angestrebten Glck aus (a).99 Im Verlaufe der theoretischen Untersuchung werden aber nicht nur praktische Dinge behandelt. Die Theorie selbst (inkl. ihrer Gegenstnde)100 wird Teil der Untersuchung, weil Aristoteles der Ansicht ist, die Theorie sei konstitutiv fr die glcklichste Lebensform.101 Auch in diesem Sinn (b) ist Theorie praktisch relevant. Dass hier gerade Aristoteles angefhrt wird, mag berraschen. Bei ihm manifestiert sich aber besonders deutlich, was cum grano salis auch fr die Ethik der Stoa zhlt: Die Texte sind zumindest im Sinne von (i) und (iia) theoretische Texte und fr bestimmte Elemente der stoischen Logik oder Physik drfte auch (iib) in Anschlag zu bringen sein. Um den Unterschied zwischen der stoischen Ausrichtung der Philosophie und der aristotelischen Theorie der Ethik deutlicher zu machen, wird im angloamerikanischen Sprachraum gerne von „Stoic Practical Ethics“ gesprochen. Obschon wir vieles ber die Stoiker nur aus schulphilosophisch, also ganz theoretisch orientierten Texten wissen, problematisieren die dort niedergelegten Ansichten bereits etwas, das als eine Kritik an der Schulphilosophie verstanden werden kann. Gerade in der kaiserzeitlichen Stoa nimmt die Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu. Das Verhltnis von
99 „Wird nun das Erkennen jenes Zieles nicht auch fr das Leben ein großes Gewicht haben, und werden wir nicht wie Bogenschtzen, wenn wir unser Ziel vor Augen haben, das Gehçrige besser treffen kçnnen?“ Arist. Eth. Nic. 1094a 20 – 25. 100 Nach Arist. Metaph. 6, 1 gibt es fr Aristoteles drei Bereiche der theoretischen Philosophie: Mathematik, Naturwissenschaft und Theologie. Im Protreptikos wirbt Aristoteles genau damit fr die Philosophie: „Denn er allein [der Philosoph] lebt mit dauerndem Blick auf die Natur und das Gçttliche. … Das Wissen ist nun an sich theoretisch, aber es bietet uns die Mçglichkeit, all unsere Handlungen danach einzurichten. Wie nmlich die Sehkraft nichts schafft oder hervorbringt, denn ihre Aufgabe ist allein, jedes einzelne der sichtbaren Dinge zu unterscheiden und deutlich zu machen, uns aber ermçglicht, mit ihrer Hilfe etwas zu tun und uns beim Handeln die grçßte Hilfe zu leisten (…), so ist auch klar, dass wir durch dieses Wissen unzhlige Handlungen vollbringen … berhaupt erwerben wir durch dieses Wissen alles, was gut ist.“ Arist. Protreptikos B 50 – 1. 101 Siehe Arist. Eth. Nic X. Zum Zusammenhang der Glcksbestimmungen in Buch I und X siehe van Ackeren, M.: Theoretisch glcklich. Bedeutung und Zusammenhang der Glcksbestimmungen in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch 8 (2003), S. 43 – 62.
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie
33
Lehren und Vorschriften wird diskutiert102 und es finden sich insbesondere bei Epiktet Bemerkungen, die die Umsetzung der Theoreme in der Praxis anmahnen. Zunchst geht es ihm darum zu zeigen, dass die Anwendung der Philosophie zur Philosophie selbst gehçrt: Der erste und notwendigste Bereich der Philosophie ist der von der Anwendung ihrer Lehren, wie zum Beispiel, nicht zu lgen. Der zweite handelt von den Beweisen, zum Beispiel, aus welchen Grnden man nicht lgen darf. Der dritte begrndet und zergliedert diese Beweise, zum Beispiel: Woraus ergibt sich, dass dies ein Beweis ist? Was ist berhaupt ein Beweis? Was ist eine logische Folgerung? Was ist ein Widerspruch? Was ist wahr? Was ist falsch? Der dritte Bereich ist also notwendig wegen des zweiten und der zweite wegen des ersten. Der notwendigste aber, bei dem man verweilen soll, ist der erste. Wir hingegen machen es genau umgekehrt. Denn wir verbringen unsere Zeit mit dem dritten Bereich, und ihm gilt unser ganzer Einsatz. Den ersten aber lassen wir vçllig außer Acht. Deshalb lgen wir zwar, wie man aber beweist, dass man nicht lgen darf, ist uns gelufig.103
Die kaiserzeitliche Stoa betont gerade, dass, der Schulmeinung der Stoa zufolge, sich die Philosophie nicht in Theorie erschçpfen darf. ber die reine Exegese von Chrysipp schreibt Epiktet: … ich verstehe seine Schriften nicht. Also suche ich jemand, der sie mir erklrt, dann bleibt noch die Aufgabe, die Vorschriften auch anzuwenden. Allein darauf darf man stolz sein. Wenn ich aber nur das Auslegen selbst bewundere, 102 Siehe Sen. Ep. 95. Besonders durch das Werk von Seneca zieht sich der Topos der praktischen Ntzlichkeit des Wissen (oder Kritik an dessen Mangel) wie ein roter Faden, weswegen seine Schriften sich wie das von ihm selber geforderte Regelwerk zum ntzlichen Lernen lesen (siehe Sen. Ep. 4, 8 – 11; 108, 1 – 4 und Tranq. 9). Philosophie und ihre Hilfswissenschaften machen fr Seneca nur dann Sinn, wenn sie sich nicht in Worten erschçpfen, sondern auf die Handlungen wirken (siehe Sen. Ep.14, 10 – 13; 20, 1 – 2; 24, 15 – 17; 66, 6 – 8; 82, 6 – 10; 84; 90, 32 – 34; 92; 95, 15 – 18; 100, 2 – 5). Demzufolge kritisiert Seneca verschiedene Wissensgebiete nicht aufgrund der Wahrheiten, die sie gewhren, sondern dann, wenn dieses Wissen nicht gebraucht, also nicht in Handlungen umgesetzt wird (siehe Sen. Ep. 64, 8 – 10), oder aber wenn es der Konzentration der Seele auf sich, ihre Ruhe, hinderlich ist (siehe Sen. Ira 36; Marc. 11; Tranq. 2 – 3; Vita 8 – 9; Otio 1; Ep. 8, 1 – 2; 10, 1 – 2; 110, 6 – 9). Das heißt eben auch, dass das fr das gute Leben fçrderliche Wissen sehr umfangreich ist (siehe Sen. Marc. 21): Sogar die Betrachtung, die Theorie, die aus der Neugier erwchst, ist ntzlich, wenn sie um der Praxis willen betrieben wird und in sie mndet (siehe Sen. Brev. 2 – 3, 12 – 13; Helv. 20; Ep. 4, 1 – 4). Auch Wissensbestnde, wie ontologische und metaphysische Spekulationen, die keinen Beitrag zur Erlangung der Tugend leisten kçnnen, lehnt Seneca nicht ab, wenn sie der Erholung und damit dem guten Leben dienen (Sen. Ep. 65, 16 – 24; 78, 26 – 29; 121, 2 – 4). 103 Arr. Epict. ench. 52.
34
Einleitung
was bin ich da zuletzt anderes als ein Philologe, aber kein Philosoph, nur dass ich statt Homer den Chrysipp erklre? Ich errçte daher noch mehr, sobald jemand zu mir sagt: ,Lies mir aus Chrysipp vor‘, wenn ich nicht imstande bin, die Taten aufzuweisen, die seinen Worten entsprechen und mit ihnen bereinzustimmen.104
Dieser Kritik an reiner Theorie schließt sich auch Marc Aurel an. Er hat keinerlei Ambitionen, als professioneller Philosoph zu schreiben. Schon die Form der Selbstbetrachtungen, die stndigen Wiederholungen, die stereotypen Formulierungen, die Verwendung von kurzen, schlagwortartigen Wendungen, das Verhltnis von Ermahnungen und Begrndungen, also die gesamte formale und inhaltliche Struktur der Selbstbetrachtungen verdeutlichen dies. Darber hinaus wendet er sich gegen bestimmte Aspekte, die u. a. fr die Schulphilosophie charakteristisch sind: Von Diognetos erlernte er nach eigenem Bekunden ein „enges Verhltnis zur Philosophie“. Und das heißt, „ein niedriges Bettgestell und ein Fell zu verlangen und was sonst noch mit der Lebensweise griechischer Philosophen zu tun hat.“105. Von Rusticus lernte er „nicht auf die Nacheiferung der Sophisten zu verfallen und nicht ber die Knste und Wissenschaften zu schreiben (t¹ lμ 1jtqap/mai eQr f/kom sovistijºm, lgd³ t¹ succq²veim peq· t_m heyqgl²tym)“, auf „gebildetes Sprechen (!steiokoc¸ar) zu verzichten“ und „einfach zu formulieren !vek_r cq²veim)“.106 Sextus dankt er fr die erworbene „Toleranz gegenber den Einfaltspinseln und solchen, die Vermutungen anstellen ber das Unerforschliche“,107 und sein Adoptivvater war ihm Vorbild darin, kein swokastijºr zu sein. An Gçtter gerichtet ist: Dank auch dafr, dass ich, als ich mich mit der Philosophie beschftigen wollte, nicht an irgendeinen Sophisten geriet und mich nicht dazu herabließ, Gemeinpltze zu verfassen, Syllogismen aufzulçsen oder meteorologische Fragen zu klren.108
104 105 106 107
Arr. Epict. ench. 49. M. Aur. Med. 1, 6. M. Aur. Med. 1, 7. M. Aur. Med. 1, 9. Das ist wohl im Zusammenhang mit einer spteren Passage zu verstehen: „Die Dinge sind gewissermaßen so verhllt, dass sie nicht wenigen Philosophen – und zwar nicht den unbedeutendsten – vçllig unbegreifbar erschienen, wenn man von den Stoikern einmal absieht, denen sie nur schwer begreifbar erscheinen.“ (M. Aur. Med. 5, 19). 108 M. Aur. Med. 1, 17.
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie
35
Entsprechend wenig Sachwissen ist ausreichend: Diese Einsichten sollen dir gengen, wenn sie deine Grundberzeugungen sind. Befreie dich von deinem Hunger auf Bcher, damit du dein Leben nicht in Gram beschließt, sondern wahrhaft heiter und den Gçttern von Herzen dankbar.109
Marc Aurel mçchte nicht unter einem nicht zu stillenden, weil bermßigen, Durst nach Bchern und Wissen leiden. Daher ermahnt er sich, daran zu denken, dass das glckliche Leben ganz wenige Voraussetzungen hat. Und es ist nicht zu befrchten, dass du deswegen, weil du die Hoffnung aufgeben musstest, ein Dialektiker oder Physiker zu werden, darauf verzichten brauchst, ein innerlich unabhngiger, rcksichtsvoller, solidarisch handelnder und gottesfrchtiger Mensch zu werden.110
Damit wird dem Gedanken Ausdruck gegeben, dass Teile oder Aspekte der Schulphilosophie oder ihrer Ausdrucksweise fr die Erreichung des guten Lebens berflssig sind. Das Denken komme ohne „Spitzfindigkeiten (jolxe¸a)“ aus.111 Gerade diese Entwicklungen in der rçmischen Stoa mag man von einem rein schulphilosophischen Standpunkt aus, dem es um argumentative Neuerungen oder Ausdifferenzierungen geht und der mit einigem Recht der moderne Standpunkt genannt wird, bedauern und folgern, dass die rçmische Stoa und besonders Marc Aurel einen philosophischen Niedergang darstellen. Nimmt man die Lehrmeinung der Stoiker ernst und legt das Kriterium der Anwendung der Lehren als wichtigsten Teil der Philosophie an, kommt die Besonderheit der Selbstbetrachtungen zum Vorschein. Die Selbstbetrachtungen sind ein wichtiges Dokument, weil sie die geforderte Anwendung auch praktizieren. Damit unterscheiden sie sich von den Texten Epiktets und Senecas, die diese Anwendung reflektieren, aber nicht zugleich weitgehend selbst durch schriftliche Reflexion praktizieren. Die eigentliche Besonderheit der Selbstbetrachtungen erschließt sich mit Blick auf die oben genannten Merkmale der Gruppe der Texte, die eine Lebensform thematisieren.
109 M. Aur. Med. 2, 3 (siehe auch 4, 31). 110 M. Aur. Med. 7, 67. 111 M. Aur. Med. 3, 5.
36
Einleitung
Marc Aurel prsentiert in seinen Selbstbetrachtungen eine Lehre und die Konzeption einer Lebensform, so dass auch hier von einer Theorie der Praxis die Rede sein muss. Sein Anliegen ist jedoch nicht nur die theoretische Orientierung und Etablierung eines lebenspraktischen Philosophieverstndnisses, sondern darber hinaus ist sein Text auch ein praktischer Ausdruck dieser Auffassung oder eine (Aus-)bung dieser so verstandenen Philosophie. Distinktes Merkmal der Selbstbetrachtungen ist daher der Umstand, dass dort zwar Erçrterungen ber Philosophie und Ethik vorzufinden sind, dass sie aber als Ganzes zugleich eine praktische Aktualisierung der dort erçrterten Philosophie darstellen. Gleichwohl ist die Praxis theoretisch reflektiert. Die Konzentration auf die Ausbung der Philosophie geht nicht vollstndig zu Lasten einer Behandlung oder zumindest Erwhnung der Theoreme. Marc Aurel ist Epiktets Empfehlungen gefolgt,112 bei ihm findet sich gewissermaßen die praktische Umsetzung der Theorie ber „praktische Ethik“, kurz: Die Selbstbetrachtungen sind praktizierte (stoische) Philosophie. Dieser leitenden These zufolge gewhrt uns Marc Aurel mit den Selbstbetrachtungen einen seltenen, wenn nicht gar einzigartigen Einblick in die Ein- oder Ausbung der stoischen Philosophie. Zum ben gehçrt das Wiederholen. Genau das reprsentiert die Form der Selbstbetrachtungen. Diese Wiederholungen im Text sind nicht Ausdruck einer philosophischen Ideen- oder Argumentlosigkeit, sondern vielmehr ein wohlberlegtes Mittel um die praktischen Zwecke zu erreichen. Denn Marc Aurel reflektiert explizit ber die Wichtigkeit der Wiederholungen, indem er auch hier Epiktet113 folgt und sich ermahnt, sich bestimmte Kernstze immer wieder zu vergegenwrtigen: Die Wiederholungen sind nçtig, damit sich die wenigen Grundstze einprgen,114 um so jeder Zeit zur Hand zu sein.115
112 Siehe Epict. 1, 1, 25. 113 Siehe Arr. Epict. ench. 53: „Bei allem was geschieht, sollen uns folgende Kernstze stets abrufbar sein…“. 114 !e· lelm/shai (M. Aur. Med. 2, 14), l´lmgso (M. Aur. Med. 2, 4). 115 „Wie die rzte stets die Instrumente und Messer fr eine plçtzlich notwendige Behandlung zur Hand haben, so sollst du deine berzeugungen bereithalten“. M. Aur. Med. 3, 13 (siehe ferner 2, 1; 4, 3; 4, 49). Negativ, von den Folgen des Vergessens handelt z. B. M. Aur. Med. 12, 26.
3. Zur Einfhrung: Die Selbstbetrachtungen als praktizierte stoische Philosophie
37
Mit anderen Worten, da die wichtigen Lehren die Lebensqualitt bestimmen sollen, mssen sie in jeder Situation des Lebens ihre Anwendung finden.116 Doch bis es dazu kommt, mssen die Grundberzeugungen bestndig wiederholt werden. Fr diese Memotechnik whlt Marc Aurel ein einschlgiges Bild, nmlich das des Frbens von Wolle.117 Die Wiederholungen werden von Marc Aurel als notwendiges Mittel der Lebenskunst verstanden, fr das er auch theoretisch argumentiert. Mit dieser Bedeutung der Wiederholungen ist noch ein anderer Aspekt verknpft, der die Selbstbetrachtungen aus schulphilosophischer Perspektive weniger interessant macht, nmlich die Krze und Einfachheit des Ausdrucks. So gilt es, nicht viele Worte zu machen,118 sondern die wichtigen Grundstze knapp zu formulieren,119 wobei Marc Aurel vor allem die Offenheit und Direktheit der Sprache hervorhebt, die er insbesondere in der Alten Komçdie und bei den Kynikern lobt.120 Ein Beispiel fr diese noch ausfhrlich zu erçrternden sprachlichen Aspekte ist die ungeschminkte Ausdrucksweise.121
116 „Bei der Anwendung der Grundberzeugungen muss man einem Boxer, nicht einem Gladiator gleichen. Denn dieser legt das Schwert, das er fhrt, beiseite und wird getçtet. Jener aber hat seine Faust immer zur Verfgung und braucht nichts anderes zu tun, als sie zu ballen.“ M. Aur. Med. 12, 9. 117 „Wie du dir gewçhnlich deine Vorstellungen bildest, so wird dein Denken sein. Die Seele wird von den Vorstellungen gefrbt. Frbe sie also durch die ununterbrochene Aneinanderreihung beispielsweise folgender Vorstellungen: …“. M. Aur. Med. 5, 16. Siehe Sen. Ep. 71, 31: „Wie Wolle manche Farben auf einmal aufnimmt, manche, wird sie nicht çfter gewalkt und gekocht, nicht aufsaugen wird, so leistet der Geist die einen Fhigkeiten, wenn er sie aufgenommen hat, sofort: die sittliche Vollkommenheit, wenn sie nicht tief eingedrungen ist, lange sich festgesetzt hat und die Seele nicht angefrbt, sondern durchtrnkt hat, leistet nichts von dem, was sie versprochen hatte.“ 118 Siehe M. Aur. Med. 3, 5. 119 Siehe M. Aur. Med. 4, 3 und 5, 1. 120 „Nach der Tragçdie wurde die Alte Komçdie eingefhrt, die eine erzieherisch wirkungsvolle Offenheit zeigte und in ihrer sprachlichen Direktheit die Tugend der Bescheidenheit auf geschickte Weise zum Bewusstsein brachte. Deshalb eignete sich auch Diogenes die Sprache der Komçdie an.“ M. Aur. Med. 11, 6. 121 „(Stell dir vor), wie sie sind, wenn sie essen, schlafen, sich bespringen und bespringen lassen, sich entleeren usw.“ (M. Aur. Med. 10, 19), whrend die Krze des Ausdrucks beispielsweise verdeutlicht wird von: „Gar nicht mehr ber das Wesen des guten Menschen diskutieren, sondern ein solcher sein.“ (M. Aur. Med. 10, 16).
38
Einleitung
Damit kehrt die Argumentation zum Ausgangspunkt zurck: der Form des Textes bzw. dem Verhltnis von Form, Inhalt und Absicht des Schreibens. Beinhaltet der Text Reflexionen ber das gelingende Leben und dokumentiert zugleich diese philosophische Praxis, so ist die Form des Textes als Form der (Aus-)bung von Wichtigkeit fr die Philosophie selbst. Damit ist also nicht nur behauptet, dass sich die Philosophie Marc Aurels erst durch den Zusammenhang von Form und Inhalt der Selbstbetrachtungen erschließt, sondern auch, dass Inhalt und Form fr sich jeweils nur unzureichend erklrt werden kçnnen, wenn die grundlegende Kongruenz des Inhaltes mit dem Verbalisieren, Formulieren bzw. Akt des Schreibens, der fr die Form maßgeblich ist, unbercksichtigt bleibt.
Teil I Textform – Stilmerkmale – Selbstdialog
Textform – Stilmerkmale – Selbstdialog
41
Die Form der Selbstbetrachtungen unterscheidet sich schon prima facie von der anderer philosophischer Texte, die uns aus der Antike erhalten geblieben sind. Dieser Umstand wird in der Forschung allgemein anerkannt, hat zugleich aber zu sehr unterschiedlichen Einschtzungen gefhrt. Das betrifft sowohl Einzelheiten des Befundes als auch die Bewertung. Zunchst ist die formale Besonderheit der Selbstbetrachtungen als Originalitt der Textgattung aufgefasst worden, wobei sogar angenommen wurde, dass die Selbstbetrachtungen Vergleichen nicht zugnglich seien. Bemerkenswerterweise wird die These von der Originalitt der Form seitens der philologisch orientierten Forschung nicht selten mit der Behauptung verknpft, die Selbstbetrachtungen seien, was die Themen und Argumente angeht, ganz traditionell.1 Neben der Frage, was fr eine Art Text Marc Aurel geschrieben hat, wurde ferner erçrtert, ob er stilistisch gut verfasst sei. Die Urteile ber die literarische Qualitt der Selbstbetrachtungen waren berwiegend negativ. Obschon dem Text bescheinigt wurde, dass er beim Leser einen (ethischen) Eindruck hinterlasse,2 sei er in stilistischer Hinsicht schlecht geschrieben.3 Ferner wurde zwar gelegentlich bemerkt, dass der Text vorranig selbstadressiert ist, aber dieser Umstand wurde nicht als besonders erkrunsbedrftig oder aussagekrftig einstgestuft.
1 2 3
Klassisch geworden ist die Aussage, die Selbstbetrachtungen seien „traditional in content, but original in form“ (Zuntz, G.: Notes on Antoninus, a.a.O., S. 54. So auch Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, a.a.O.). „The sentences of Seneca are stimulating to the intellect; the sentences of Epictetus are fortifying to the character; the sentences of Marcus Aurelius find their way to the soul.“ Arnold, M.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 367. „For not only are the contents incomparably more valuable than the external form … crabbed Greek without any great charm of distinct physiognomy“, „jotted down … without the slightest attempt at style, with no care, even for correct writing.“ Arnold, M.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 279 und 364; „Marcus makes no pretentions to elegance of style … if he had, his book would have lost half its reality.“ Wright, F. A.: A History of Later Greek Literature, a.a.O., S. 253; „This book … is a soldier’s book … the rhetoric lessons of that old pompous old tutor have been forgotten“ Farquharson, A. S. L.: Marcus Aurelius: His Life and His World, a.a.O. (siehe auch seinen Kommentar, in: Marcus Antoninus Autokrates: Ta Eis Heauton, a.a.O., Vol. I, S. lxvi); „But he was not trying to achieve ’fine writing’“ Birley, A. R.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 222; „his accession in literary exercise showed no trace of their effect.“ Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 4, Anm. 22.
42
1. Allgemeine formale Charakteristika
1. Allgemeine formale Charakteristika 1.1 Die Sprachwahl Was die formalen Aspekte angeht, so ist besonders offensichtlich: Die Selbstbetrachtungen sind in griechischer Sprache verfasst. Dieser Umstand erstaunt zunchst, da es sich bei dem Autor Marc Aurel um einen spanischstmmigen Rçmer handelt. Lsst sich die Sprachwahl einfach mit dem Hinweis erklren, dass Griechisch die Sprache der Philosophie sei? Damit wrde erstens vorausgesetzt, dass Marc Aurel ein rein philosophisches Werk verfasst hat. Und von dieser Annahme ausgehend wird dann die Entscheidung des Autors erklrt, die griechische Sprache zu verwenden. Zweitens hatte das Griechische zu Zeiten Marc Aurels im literarischen Leben Roms zweifellos eine große Bedeutung als sprachliches Medium der Philosophie. Doch dies gilt in gleichem Umfang auch fr Grammatik, Sophistik oder Rhetorik. Marc Aurels Entschluss, sich der griechischen Sprache zu bedienen, verweist demnach einerseits auf einen bestimmten kulturellen Hintergrund und andererseits auf persçnliche Entscheidungen in diesem Kontext. Auf diesen Zusammenhang ist kurz einzugehen. Die Rezeption der griechischen Kultur durch die rçmische ist ein historisch ausgedehntes und sozial komplexes Phnomen, so dass hier nicht einmal ein Versuch gemacht werden kann, es angemessen zusammenzufassen. Der Philhellenismus ist nicht auf die Zeit Hadrians beschrnkt, verbindet sich jedoch in besonderer Weise mit seinem Namen. Die gewaltige Rezeption alles Griechischen in dieser Periode prgt das geistige Umfeld, in dem Marc Aurel erzogen wurde, ohne dass er sich ganz daran angepasst htte. Wie Seneca und Marc Aurels Vater, stammt Hadrian aus Spanien (Baetica), wo er auch erzogen wird, und zwar von griechischen Lehrern. Seine fast ausschließliche Hinwendung zu den griechischen Studien brachte ihm schon als Junge die Bezeichnung „kleiner Grieche“ ein.4 Als er mit 41 Jahren Kaiser wurde, fçrderte er die Fcher seiner Ausbildung (griechische Sprache, Arithmetik, Musik und Malerei) und griechisch
4
Siehe HA Hadr. 1, 5. In der Tat begann er sein Latein erst zu perfektionieren, als er im Anschluss an einen Vortrag wegen seines Akzentes ausgelacht wurde (siehe HA Hadr. 3, 1).
1.1 Die Sprachwahl
43
inspirierte Architektur. Seine Kulturpolitik richtete sich nicht weniger auf Athen als auf Rom5 oder andere Zentren griechischer Kultur.6 Hadrian setzte die Bildungspolitik Trajans fort, indem er im ganzen Reich Rhetoriker, rzte, Grammatiker und Philosophen von der Pflicht zu Steuern und Dienstleistungen befreite und eine Reihe çffentlicher Professuren in Rom einrichtete, die die griechische Sprache, Rhetorik und Grammatik besonders auf den unteren Stufen des Bildungswesens fçrdern sollten.7 Einflussreich und symboltrchtig war die Grndung des Athenaeums,8 fr das Hadrian eine ganze Reihe Lehrer aus Griechenland nach Rom kommen ließ.9 Im Rahmen seiner Hochschulpolitik wurden gezielt griechische Studien gefçrdert.10 5 Fr die Architektur siehe HA Hadr. 7 und 19. Zu Hadrians Bauprogramm in Rom siehe neben der Quelle Cass. Dio (69, 7) die umfassende Studie von Boatwright, M. T.: Hadrian and the City of Rome, Princeton 1987. Zu Athen siehe Travlos, J.: Pictorial Dictionary of Ancient Athens, London 1971, S. 161, 244 – 257, 403; Geagan, D. J.: Roman Athens: Some Aspects of Life and Culture, Vol. I, 86 B. C. – A. D. 267, in: ANRW II 7. 1, Berlin 1979, S. 389 – 399. Bezge zwischen Forum Romanum und Athen behandelt Boatwright, M. T.: Further Thoughts on Hadrians Athens, in: Hesperia 52 (1983), S. 173 – 176. 6 So z. B. das Museion in Alexandria (siehe HA Hadr. 20, 3; 16, 10). 7 Siehe HA Hadr. 16, 8. Siehe auch einen Brief des Antoninus, den Modestinus zitiert (Dig. 27. 1. 6. 8, Corpus Iuris Civilis, Bd. I: Institutiones, hg. von P. Krger; Digesta, hg. von Th. Mommsen, bearb. von P. Krger, 17. Aufl., Berlin 1963, Neudruck: Hildesheim 1993; bersetzung: Corpus Iuris Civilis, hg. von O. Behrends u. a., 2. Aufl., Heidelberg 1997). Zu den genannten Zusammenhngen siehe Fantham, E.: Literarisches Leben im antiken Rom. Sozialgeschichte der rçmischen Literatur von Cicero bis Apuleius, Stuttgart/Weimar 1998, Kap. VII 1. 8 Die rumliche Grçße des Athenaeums, in dem griechische Literatur und Rhetorik gelehrt wurde, war – gemessen an seiner Wirkung – bescheiden. Die Lokalisierung ist ußerst umstritten, auch sowohl die antiken Quellen und in Folge die moderne Forschung prsentieren kein einheitliches Bild (siehe die Angaben bei Braunert, H.: Das Athenaeum zu Rom bei den Scriptores Historiae Augustae, in: Straub, J./ Alfçldi, A. (Hg.): Historia Augusta Colloqium 1963, Bonn 1964, S. 9 – 42. Zur den historischen Hintergrnden siehe Griffin, M.: Philosophy, Politics and Politicians at Rome, in: Griffin, M./Barnes, J. (Hg.): Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, Oxford 1989, S. 1 – 37). 9 Siehe den Bericht bei Aur. Vic. Caes. 14, 2 – 4. Zum Athenaeum siehe Boatwright, M. T.: Hadrian, a.a.O., S. 202 – 212. 10 Besonders aufschlussreich ist ein Briefwechsel der Kaiserin Plotina (siehe die Textsammlung in Wilhelm, A.: Ein Brief der Kaiserin Plotina, in: Jahreshefte des sterreichischen Archologischen Instituts in Wien 2 (1899), S. 269 – 279). Plotina verkehrte mit Epikureern (siehe schon Nestle, W.: Griechische Geistesgeschichte, Stuttgart 1944, S. 485 f.). Vom Einfluss der Epikureer zeugt auch die große Inschrift des Diogenes von Oinoanda.
44
1. Allgemeine formale Charakteristika
Eine solche Kulturpolitik ist durch Hadrian nicht nur veranlasst worden. Er selber hat griechische Prosa,11 Kompositionsgedichte12 und Epigramme verfasst.13 Wenn man den antiken Quellen Glauben schenken will, war Epiktet sein Lehrer.14 Er hat ber die Besetzung vieler Stellen mit griechischen Lehrern selber entschieden und einige Pensionierungen oder Entlassungen verfgt. Seine Gunst und Missgunst entschieden so ber Ehre und gut bezahlte Positionen.15 Unter Hadrian und seinen beiden Nachfolgern Pius und Marc Aurel scheint eine regelrechte Begeisterung fr alles Griechische in Rom um sich gegriffen zu haben.16 Zu diesem Kontext gehçrt auch eine Bewegung, die Zweite Sophistik genannt wird.17 Der Begriff geht auf Philostratos zurck18 und ist ursprnglich auf jene Redner gemnzt, die sich (wie zuerst Aischines) im 11 Sie werden zitiert bei Cass. Dio 66, 17. 12 Dazu siehe Fronto Ep. 2, 11. 13 Hadrian will deutlich machen, wie er seine Rolle und die des rçmischen Reiches sieht: Fr einen Siegeszug, der doppelte Beute bringt, also die Rezeption der rçmischen und griechischen Kultur, wird ausschließlich Zeus gedankt (siehe Fantham, E.: Literarisches Leben im antiken Rom, a.a.O., S. 214 ff.; allgemein zu Hadrians Literatur siehe Bardon, H.: Les empereurs et les lettres latines d’Auguste Hadrien, Paris 1940, Kap. 12). 14 Siehe Daly, L. W./Suchier, W.: The „Altercatio Hadriani Augusti et Epicteti philosophi“ and the Question and Answer Dialogue, in: Illinois Studies in Language and Literature 24 (1939/1), S. 104 – 107. Siehe zum Hintergrund Griffin, M./Barnes, J. (Hg.): Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, a.a.O. 15 Exemplarisch fr seine zum Teil als launisch bezeichneten Beziehungen zu diversen Rhetorikern und Philosophen sei auf die fragliche Figur des Secundus hingewiesen (siehe Perry, E.: Secundus the Silent Philosopher, New York 1964 und Forte, B.: Rome and Romans as the Greeks saw them, Rom 1972, S. 520). Auch Favorinus hatte zunchst ein enges Verhltnis zu Hadrian, schlug dann aber ein (mit Kosten verbundenes) Priesteramt aus, was den Kaiser çffentlich dpierte. Siehe zum Hintergrund Rawson, E.: Roman Rulers and the Philosophical Adviser, in: Griffin, M./Barnes, J. (Hg.): Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, a.a.O., S. 233 – 258. 16 Typisch fr diese Zeit ist auch eine entsprechende Literatur: Arrian widmete Hadrian seine Umsegelung des Schwarzen Meeres (Peq¸pkour Eqne¸mou Pºmtou). Von Dionysios von Alexandria stammt ein Fhrer der bewohnten Welt (Peqi¶cgsir t/r oQjoul´mgr). Der etwas spter verfasste Griechenland-Fhrer (:kk²dor peqi¶cgsir) von Pausanias ist ein Reflex auf das ungeheure Interesse an Griechenland. Siehe dazu Habicht, Ch.: Pausanias‘ Guide to Ancient Greece, Berkeley 1985. 17 Siehe Bowersock, G. W.: Greek Sophists in the Roman Empire, a.a.O.; Anderson, G.: The Second Sophistic, London 1993. 18 Siehe Philostr. V S 1, 18, 507.
1.1 Die Sprachwahl
45
Deklamieren bten. Erst 1876 wurde durch E. Rohde daraus ein Epochenbegriff,19 der sich vornehmlich auf die Redner und Rhetoriklehrer des Zeitraums von 60 bis 230 n. Chr. bezieht. Es ist umstritten, was die gemeinschaftsbildenden Charakteristika dieser Gruppe sind.20 Sicher ist, dass ihr Medium der Vortrag war. Damit ist vielleicht auch erklrt, warum nur wenige Texte erhalten sind. Philostratos’ Lebensbeschreibungen sind unsere Hauptquelle.21 Einige der Sophisten bezeichneten sich als Philosophen und haben Reden verfasst,22 die ber eine reine Zurschaustellung verbaler Fhigkeiten hinausreichen.23 Dabei wird die exzessive sprachliche Ausarbeitung zum Teil anhand von unwirklichen oder unwichtigen Themen24 19 Siehe Rohde, E.: Der griechische Roman und seine Entstehung, Leipzig 1876, bes. S. 360. 20 Siehe Bowersock, G. W.: Greek Sophists in the Roman Empire, a.a.O., Kap. 1; Anderson, G.: Philostratus, London/Sydney/Dover 1986; Moles, J. L.: The Career and Conversions of Dio Chrysostom, in: Journal of Hellenic Studies 98 (1978), S. 79 – 100, hier: S. 88 – 91. 21 Besonders umfangreich erhalten sind Reden von Dion Chrysostomos (geb. um 40 in Prusa) und dem Rhetor P. Aelius Aristides (117 – 180). Von Favorinus von Arelate sind uns nur noch drei Reden bekannt. Siehe zu den Genannten: Dion Chrysostomos, Smtliche Reden. Eingeleitet, bersetzt und erlutert von W. Elliger, Zrich/Stuttgart 1967; Behr, Ch. A.: P. Aelius Aristides, The Complete Works, 2 vol., Leiden 1986; Lakmann, M.-L.: Favorinus von Arelate. Aulus Gellius ber seinen Lehrer, in: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift fr A. Weische zum 65. Geburtstag (Hg. von B. Czapla/T. Lehmann/S. Liell), Wiesbaden 1997, S. 233 – 243. 22 Zum Hintergrund siehe Stanton, G. R.: Sophists and Philosophers: Problems of Classification, in: American Journal for Philosophy 94 (1963), S. 350 – 364. 23 Siehe z. B. die in stoischem Geist verfasste (sehr kurze) Rede von Favorinus ber das Glck (peqi t¼wgr). Dort tadelt er die Redekunst als nutzlos, wenn sie nicht von Menschen durchgefhrt wird, die selber wissen, was das Gute ist. Trotz zum Teil heftiger Kontroversen und Attacken zwischen Philosophen und Rhetorikern hat es auch Phnomene der berschneidung gegeben (siehe dazu u. a. Hadot, I.: Der philosophische Unterrichtsbetrieb in der rçmischen Kaiserzeit, in: Rheinisches Museum 146 (2003) S. 49 – 71. Erst Hermogenes von Tarsus verfasste – nach seiner Zeit als aktiver und berhmter Redner – theoretische Arbeiten. In diesen betont er den Wert der politischen Rede. Dabei soll das Politische ausdrcklich im Rahmen der Logik abgehandelt werden (siehe Hermogenes Opera, ed. H. Rabe, Rhetores Graeci vol. VI, Leipzig 1913; Heath, M.: Hermogenes on Issues. Strategies of Argument in Later Greek Rhetoric, Oxford 1995; Kennedy, G. A.: Greek Rhetoric under Christian Emperors, Princeton 1983, S. 75 – 95). 24 Hier sollen nur bestimmte Aspekte der sog. Zweiten Sophistik hervorgehoben werden. Neuere Arbeiten untersuchen die disziplinre Bandbreite (siehe Borg, B. (Hg.): Paideia: Die Welt der Zweiten Sophistik, Berlin 2004).
46
1. Allgemeine formale Charakteristika
zur Schau gestellt.25 Wie sehr diese Fhigkeit, ber alles eine prchtige Lobrede zu halten, im Vordergrund stand, wird z. B. daran deutlich, dass Dion ein Lob des Haares verfasste und Marc Aurels Rhetoriklehrer Marcus Fronto ein Lob von Rauch und Staub (Laudes fumi et pulveris) sowie ein Lob der Nachlssigkeit (Laudes neglegentiae) schrieb.26 Dennoch kann nicht einfach von zweckfreier Rhetorik gesprochen werden, denn die Vertreter der Zweiten Sophistik waren hçchst angesehene, wohlhabende und einflussreiche Mitglieder der Oberschicht.27 Das Selbstbewusstsein der Sophisten muss außerordentlich gewesen sein:28 Sie wurden so Gegenstand ganzer satirischer Darstellungen29 und ihre Eitelkeiten sind durch Bemerkungen in der Historia Augusta legendr geworden.30 Ein weiteres Charakteristikum war der, sptestens seit Dion Chrysostomos deutliche, nostalgische Trend. Im Verlaufe des 2. Jahrhunderts wurden archaische Themen und eine entsprechende Diktion fr die Reden fast verpflichtend.31 Marc Aurel ist wie seine Amtsvorgnger Hadrian und Pius fr einen Philhellenen und Bewunderer der Zweiten Sophistik gehalten worden.32 Fr diese Einschtzung spricht, dass er neben Cornelius Fronto von Herodes Atticus, einer der herausragenden Figuren der Zweiten Sophistik, unterrichtet wurde. Als Marc Aurel im Jahr 176 in Athen Lehrsthle fr Rhe25 Dem Urteil von Bowersock, G. W.: Greek Sophists, a.a.O. folgt Fantham, E.: Literarisches Leben im antiken Rom, a.a.O., S. 218. 26 Siehe dazu Kennedy, G. A.: Greek Rhetoric under Christian Emperors, a.a.O., S. 595 – 597. 27 Siehe dazu zahlreiche Beitrge in Borg, B. (Hg.): Paideia: Die Welt der Zweiten Sophistik, a.a.O. 28 Siehe Philostr. V S 2, 2, 566 f.; 2, 2; 1, 25, 535; 2, 1, 554 f.; 2, 2, 583. 29 Siehe Lucians Rhetorum Praeceptor (siehe Jones, Ch. P.: Culture and Society in Lucian, Cambridge 1986, S. 101 – 106; Hall, J.: Lucian Satire, New York 1981, Anm. 130; zum Hintergrund: Baldwin, B.: Studies in Lucian, Toronto 1973). 30 Z. B. HA Ant. Pius 10, 4. 31 Siehe Bowie, E. L.: Greeks and their Past in the Second Sophistic, in: Past and Present 46 (1970), S. 3 – 41; ders.: Greek Sophists and Greek Poetry in the Second Sophistics, in: ANRW II 33. 1, Berlin 1994, S. 209 – 258; Anderson, G.: The Second Sophistic: Some problems of perspective, in: Russell, D. A. (Hg.): Antonine Literature, Oxford 1990, S. 91 – 110; ders.: The pepaideumenos in Action: Greek Sophists and Their Outlook in the Early Roman Empire, in: ANRW II 33, 1, Berlin 1994, S. 79 – 208. 32 So Duff, J. W.: A Literary History of Rome in the Silver Age, London 1927, S. 503; Bowersock, G. W.: Greek Sophists, a.a.O., S. 15 – 16; Liebeschtz, J. H. G. W.: Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979, S. 203 – 4; Birley, A. R.: Marcus Aurelius, London 1966 (1988), S. 52.
1.1 Die Sprachwahl
47
torik und Philosophie stiftete, berließ er seinem ehemaligen Lehrer Herodes Atticus die Auswahl dieser außerordentlich prestigetrchtigen Positionen.33 Ferner ist bezeugt, dass Marc Aurel in Rom oft epideiktische Vortrge besuchte. Doch bei diesen Tatsachen handelt es sich nur um die Oberflche. Seine sehr kritische Einstellung den Rhetorikern und Sophisten gegenber ist gut belegt und nicht ohne Vorbild. Bereits Pius hielt viele der damals hoch geachteten griechischen Redner, Sophisten oder Philosophen fr eitle Selbstdarsteller.34 Eine solche Einstellung wird auch Marc Aurel zugeschrieben.35 Dass er offiziell viel mehr Wohlwollen zeigte, als es seiner privaten Meinung entsprach, wird anhand seines Verhltnisses zu seinem alten Lehrer Herodes Atticus deutlich. Whrend eines Prozesses gab es einen Eklat, da Herodes den vorsitzenden Kaiser beleidigte. Selbst nach diesem Vorfall war Marc Aurel darauf bedacht, in der ffentlichkeit kein Zerwrfnis deutlich werden zu lassen.36 Was Marc Aurel von den angesehenen Rednern seiner Tage hielt, macht er in den Selbstbetrachtungen deutlich. Darber hinaus ist es interessant zu beobachten, wen er in seine Liste an Vorbildern aufnimmt. Von seinen vier Rhetoriklehrern (Aninius Macer, Caninius Celer, Herodes Atticus und Cornelius Fronto),37 haben ihn die ersten drei in griechischer Grammatik unterrichtet, aber er dankt nur Fronto. Doch dabei bezieht sich sein Dank nicht auf sprachliche Kompetenzen, sondern moralische Eigenschaften.38 Von allen Aufgelisteten dankt Marc Aurel seinem Adoptivvater Pius am ausfhrlichsten. Vor dem kurz umrissenen kulturellen Hintergrund wird deutlich, warum Marc Aurel es fr bemerkenswert hlt, dass ihm [Pius] nicht ein einziger Mensch nachsagte, er sei ein Sophist, ein Spaßvogel oder ein weltfremder Gelehrter gewesen. … Außerdem gehçrte es auch zu seinen Eigenschaften, die wahren Philosophen zu ehren, die brigen aber nicht zu schmhen, sich von ihnen aber nicht an der Nase herumfhren zu lassen.39
33 Siehe Philostr. V S 2, 2, 566 – 7; Oliver, J. H.: The Civic Tradition and Roman Athens, Baltimore 1983, S. 85 – 96. 34 Siehe Philostr. V S 1, 25, 535; 2, 5; 2, 1, 554 – 5; HA Ant. Pius 10, 4. 35 Siehe Philostr. V S 2, 9, 583. 36 Siehe Philostr. V S 3, 1, 561. 37 Die vollstndige Liste all seiner Lehrer findet sich in HA Aur. 2, 3. Siehe dazu auch Champlin, E. H.: Fronto and the Antonine Rome, Cambridge 1980, S. 118 – 120. 38 Siehe M. Aur. Med. 1, 11. 39 M. Aur. Med. 1, 16.
48
1. Allgemeine formale Charakteristika
Mit dem letzten Satz bestrkt Marc Aurel sich darin, seinem Vorbild Pius40 (und Epiktet41) zu folgen und sich nicht in der ffentlichkeit gegen die Redner und Sophisten zu stellen. Dies erklrt seinen Besuch çffentlicher Vortrge und sein Verhalten nach dem Eklat um Herodes. In dem berhmten sog. „Konversions“-Brief berichtet Marc Aurel seinem Lehrer, dass er seine Hausaufgaben nicht gemacht habe. (Durch die Krankheit Frontos bedingt handelt es sich bei dem Briefwechsel – gerade in seiner jngeren Phase – praktisch um eine Art Fernkurs in Rhetorik.) Marc Aurel schreibt seinem Lehrer, er habe, statt lateinische Schreibbungen anzufertigen, die griechischen Schriften des Stoikers Ariston von Chios gelesen.42 Dass Marc Aurel mit dem Griechischen auf die Philosophie abstellte, geht noch aus weiteren Briefen hervor: Fronto hat den Umstand, dass Marc Aurel Philosophie der Rhetorik vorzog, nie vergessen oder verwunden. Selbst als Marc Aurel schon Imperator ist, weist er etwas bitter darauf hin.43 Anderenorts verteidigt Marc Aurel sich gegen die herbe Kritik seines lateinischen Rhetoriklehrers, er habe Griechisch geschrieben.44 Besonders aufschlussreich ist der Umstand, dass Fronto seine Kritik an der Griechisch-Begeisterung Marc Aurels mit der Annahme verbindet, sie erklre sich durch dessen philosophische Ambitionen.45 Die jngst vertretene These, dass Marc Aurel und Fronto als exponierte Figuren des 2. Jahrhunderts die seit Platon vertretene Opposition von Rhetorik und Philosophie berwunden htten, weil der Kaiser der Rhe40 Siehe HA Ant. Pius 10, 4. 41 Siehe Arr. Epict. diss. 3, 21, 16 : „Sind denn bloße Worte an fr sich heilig?“. 42 Siehe Fronto Ep. 1, 214. Im Brief ist nur von Ariston die Rede. Es hat einen Versuch gegeben, aus Marc Aurels hier erstmals geußertem Bekenntnis fr die Philosophie eines fr die Rechtswissenschaft zu machen. Champlin wollte zeigen, dass mit dem Erwhnten nicht der stoische Philosoph, sondern der Rechtswissenschaftler Titius Aristo gemeint sei (siehe Champlin, E. H.: The Chronology of Fronto, a.a.O.). Im Brief bringt Marc Aurel die Lektre mit einer Klage in Verbindung: Er habe bislang noch keine heilsamen Dogmen und reine Gedankengnge kennen gelernt, so dass er zwischen seiner inneren Verfassung und dem Ideal in den erwhnten Texten noch eine große Diskrepanz sieht. Thema und Formulierung dieser Stze sind eindeutig philosophischer und nicht juristischer Natur. Gegen Champlin und fr die Identifikation mit dem Stoiker Ariston siehe die weiteren Grnde bei Gçrgemanns, H.: Der Bekehrungsbrief Marc Aurels, a.a.O.; Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 106, Anm. 41; Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 29 – 34. 43 Siehe Fronto Ep. 2, 34; 2, 64. 44 Siehe Fronto Ep. 1, 19. 45 Siehe Fronto Ep. 2, 78; 2, 82.
1.2 Der Titel
49
torik immer treu geblieben sei,46 steht jedoch nicht im Einklang mit dem Selbstverstndnis und den Aussagen der beiden Genannten. Wie noch zu zeigen ist, folgt aus Marc Aurels Kritik an Rednern nicht, dass die Selbstbetrachtungen als Text ohne jeglichen Stil und Rhetorik sind oder er bewusst ohne diese auskommen wollte. 1.2 Der Titel47 Weder der Text selber, noch seine berlieferungsgeschichte oder irgendein anderes Dokument belegen, dass Marc Aurel seinem Werk einen Titel gegeben hat. Die Zeugnisse, die wir haben, plausibilisieren eher die These, dass Marc Aurel keinen Titel gewhlt hat. Denn die spt einsetzende antike Berichterstattung und auch die Manuskripte erwhnen keinen Titel. Der Text von Marc Aurel scheint nach seiner Entstehung sofort und vçllig unbekannt geblieben zu sein. Eine erste Erwhnung, aber nicht mehr, findet sich erst bei Themistius aus dem Jahre 364, der von den Ermahnungen des Marcus spricht.48 Aber selbst bei dieser Referenz ist nicht ganz sicher, ob sie dem Text gilt, den wir als Selbstbetrachtungen kennen, oder ob damit auf den bereits von Cassius Dio und Aurelius Victor tradierten Status von Marc Aurel als Philosoph angespielt wird. Hinweise, dass Cassius Dio fr seine Historia Romana oder Julian Apostata49 den Text von Marc Aurel fr ihre Texte verwandt haben, ließen sich nicht erhrten. Etwa 500 Jahre spter schreibt Arethas (ca. 850 – 935), der damalige Bischof von Patras, in einem (wohl vor 907 zu datierenden) Brief an den Erzbischof Demetrius, dass er ihm eine Kopie des hçchst ntzlichen Buches 46 Siehe Kasulke, Ch. T.: Marc Aurel und sein Konflikt zwischen Philosophie und Rhetorik im 2. Jh. nach Christus, Mnchen 2005. 47 Im Folgenden werden einige bekannte Umstnde gemß der Literatur zusammengefasst, weil dies fr eine Gesamteinschtzung wichtig ist. Der neuste Forschungstand in dieser Angelegenheit findet sich gut und zum Teil mit eigenen guten Argumenten zusammengefasst bei Ceporina, M.: The Meditations, in: van Ackeren, M. (Hg.): The Blackwell Companion to Marcus Aurelius, Oxford 2011 (in Vorbereitung). Dies betrifft auch die Ausfhrungen ber die Abfassungszeit. 48 paqacc´klata Them. Or. 6, 81 c. Zu diesem Punkt (wie den brigen hier gemachten Angaben und Zitaten) siehe die Informationen bei Farquharson, A. S. L.: Introduction, in: Marcus Antoninus Autokrates: Ta Eis Heauton, a.a.O., S. xx-xxii und seinen Testomonia-Apparat. 49 Siehe Julians Brief an Themistius, 253a; Ammianus Marcellinus, XVI. 1. 4.
50
1. Allgemeine formale Charakteristika
des Kaisers Marcus 50 sendet und selber eine Kopie behlt. Anderenorts bezeichnet er das Buch als ethische Schriften an sich selbst. 51 In diesem Zeitraum scheint Marc Aurels Buch geringfgig bekannter zu werden:52 Das Suda-Lexikon erwhnt ein vom Kaiser geschriebenes Buch ber die eigene Lebensfhrung,53 das in zwçlf Bchern, so wie wir es heute kennen, verfasst sei. Auch bei dieser Angabe kçnnte das Lexikon auf Hesych von Milet basieren, so dass etwas gesicherte Angaben bereits im 6. Jahrhundert vorliegen wrden. Zum anderen ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass Marc Aurel erst bei der Abfassung des Lexikons bekannt wurde, weil er in Schriften der Autoren, die der Abfassung voraus gehen noch nicht erwhnt wird.54 Auch der Patriarch Photius (ca. 820 – 891) erwhnt Marc Aurel zwar als Philosophen unter den Herrschern, doch kennt er ihn nur als Autor von Briefen in griechischer Sprache. Bis zur editio princeps scheint zwar die Existenz des Buches bekannt zu sein, aber dessen Inhalt bestenfalls ungenau.55 Diese erste Edition wird durch Conrad Gesner besorgt und dann von seinem Neffen Andreas Gesner zusammen mit einer bersetzung von Xylander 1558 – 9 in Zrich gedruckt. Sie greift die Bezeichnung von Arethas auf und titelt erstmalig und unabhngig von den Manuskripten: t± eQr 2autºm. Laut Diogenes Laertius56 hatte bereits Solon Ermahnungen an sich selbst (eQr 2aut¹m rpoh/jai) verfasst. Dies ist vielleicht Spekulation, ebenso wie die Ergnzung durch rpolm¶lata (Notizen), was sich aber gut mit Marc Aurels Erwhnung von eigenen „Notizen(chen)“ zusammenbringen lies.57
50 lecakyvek´statom bibk¸om Cod. Mosc. 315 f.; 115r.; ed. Sonny, Philol., liv., 182 (siehe allgemein Kougeas, S.: Arethas of Caesarea, Athen 1913). 51 ox L÷qjor 1m to?r Ihijo?r aqtoO l´lmgtai Testimonia M. Ant.,7, 25 (siehe auch 8, 37). 52 Siehe Cortassa, G.: La missione del bibliofilo: Areta e la ‘riscoperta‘ dell’„A se stesso“ di Marco Aurelio, in: Orpheus 18 (1997), S. 112 – 140. 53 L÷qjor, b ja· )mtym?mor … oxtor 5mcqaxe toO Qd¸ou b¸ou !cycμm 1m bibk¸oir ib. Suda l÷qjor. 54 Schironi, F.: Il testo di M. A. conservato dalla Suda, in: Studi classici e orientali 47 (1999 – 2000), S. 209 – 233. Einige Forscher argumentieren, dass den Autoren der Suda nur eine Anthologie des Textes von Marc Aurel bekannt war (siehe Hadot, P./ Luna, C. (Hg.): Marc Aurle, crits pour lui-mÞme. Tome I, Introduction Gnrale, Livre I, Paris 1998, S. CLXXXVII). 55 Siehe insgesamt Farquharson, A. S. L.: Introduction, in: Marcus Antoninus Autokrates: Ta Eis Heauton, a.a.O., S. xx-xxii. 56 Siehe Diog. Laert. 1, 61. 57 Siehe M. Aur. Med. 3, 14.
1.3 Der Aufbau der Selbstbetrachtungen
51
Es folgen zahlreiche Wiederabdrucke und weitere Editionen unter neuen Titeln, von denen sich Meditations im Englischen und Wege zu sich selbst sowie Selbstbetrachtungen oder Selbstermahnungen im Deutschen durchgesetzt haben.58 Obschon der Titel der editio princeps also wohl nicht auf Marc Aurel zurckgeht, unterstreicht er genau wie die Gegebenheiten der gesamten Textgeschichte, dass es sich um eine private Schrift des Kaisers gehandelt hat. Wre es wirklich denkbar, dass der Kaiser Marc Aurel einen Text verçffentlichen wollte, der dann aber sofort und gegen seinen Willen fr sehr lange Zeit vçllig unbekannt geblieben ist? Dieser mutmaßliche private Charakter der Schrift schließt nun nicht aus, dass Marc Aurel den Text unbedingt vor anderen Lesern verborgen halten wollte. Nur von einem Publikum gelesen zu werden, war wohl kein tragendes Motiv fr die Abfassung. (Es gibt hinreichend Belege dafr, dass es solches privates Schrifttum in der Antike gegeben hat. Und die meisten Indizien sprechen dafr, dass gerade die Selbstbetrachtungen zu dieser Gruppe von Schriften gehçren.59) 1.3 Der Aufbau der Selbstbetrachtungen Die Selbstbetrachtungen bestehen in der uns bekannten Fassung aus 12 Bchern mit insgesamt 490 Kapiteln. Obschon eine solche Einteilung der antiken Praxis entspricht, ist sie erst im Suda-Lexikon erwhnt.60 Ob diese Einteilung wie anderes im Lexikon auf Hesych von Milet zurckgefhrt werden kann ist fraglich.61 Was die Bcher angeht, ist nur eine Unterscheidung sicher: Das erste Buch hat einen eigenstndigen und – wie wir vermuten drfen – abge58 Eine Auflistung weiterer Ausgaben findet sich bei Dalfen (S. xxvii-xxxi, xl), aber auch seitdem sind unzhlige neue Ausgaben, Neu-Auflagen und bersetzungen erschienen. 59 Siehe z. B. Galens „Autobibliographie“ ber meine eigenen Bcher: Dort sagt er, dass er einiges nur fr sich selbst geschrieben hat, whrend andere Schriften fr eine Verbreitung bestimmt waren (siehe von Staden, H.: Gattung und Gedchtnis. Galen ber Wahrheit und Lehrdichtung, in: W. Kullmann/J. Althoff/M. Asper (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1998, S. 65 – 94). Ich danke Philip van der Eijk fr diesen Hinweis. 60 Siehe Suda l÷qjor. 61 Siehe Schironi, F.: Il testo di M. A. conservato dalla Suda, a.a.O.
52
1. Allgemeine formale Charakteristika
schlossenen Charakter. Es handelt sich um 17 Eintrge, die formal gleichartig sind und in einer bestimmen Reihenfolge stehen. Die anderen 11 Bcher mit ihren 473 Kapiteln haben einen einheitlichen Charakter, auch wenn sie sich durch Ungeordnetheit auszeichnen.62 Die Einteilung der Bcher scheint keinerlei thematisch-argumentativem Maß zu folgen.63 Ebenso fehlen Anhaltspunkte, nach welchem Muster die Kapitel unterschieden und gereiht sind. Die Unterteilung in Bcher kann nicht auf Marc Aurel zurckgefhrt werden. Zwar gibt es zwischen dem ersten und zweiten Buch den Eintrag t± 1m Jou²doir pq¹r t` Cqamo¼ô. Und zwischen dem zweiten und dritten Buch findet sich die Zeile t± 1m Jaqmo¼mt\. Aber wenn das erste Buch nachtrglich geschrieben und vorangestellt wurde, kçnnte die ersten Angabe dem zweiten Buch vorangehen und mit der zweiten nur ein Wechsel des Abfassungsortes gemeint sein und keine Einteilung von Bcher. Dafr spricht, dass es nach dieser zweiten Angabe keine Indizien mehr fr eine Einteilung durch Marc Aurel gibt. Trotz dieses Gesamtbildes kann die Zusammengehçrigkeit der Bcher nicht ohne Weiteres bestritten werden.64 Verbunden ist das erste Buch mit den anderen erstens durch den Umstand, dass wir im sechsten Buch eine Beschreibung der vorbildhaften Eigenschaften von Pius finden,65 die der aus dem ersten Buch66 sehr hnlich ist.67 62 Farquharson konnte seine These, dass auch die Bcher II und III je eine abgeschlossene Einheit bilden, nicht umfassend begrnden, zumal er annimmt, einzelne Kapitel (z. B. I 10) wrden die Einheit stçren (siehe Farquharson, A. S. L: Introduction, a.a.O., S. lxvii). Die These hat keine weiteren Vertreter gefunden. 63 Die von Farquharson (ebd., S. lxviii) festgestellten thematischen Einschnitte zu Beginn des neunten, zehnten und elften Buches gehen nicht ber jene Themenwechsel hinaus, die wir innerhalb anderer Bcher finden. Folglich ist damit keine Unterteilung in Bcher als thematische Einheiten zu rechtfertigen. 64 Farquharson argumentiert, dass das erste Buch ursprnglich von den Selbstbetrachtungen getrennt war. Auf die Anzahl von 12 Bchern kommt er dann durch die Annahme, das siebte Buch habe vormals aus zwei Bchern bestanden. Nur ein Manuskript scheint hierfr (dnne) Hinweise zu liefern: Mit Xylander weist Farquharson darauf hin, dass im siebten Buch eine Zitat-Reihe (7, 35 – 51) die bliche Art von Eintrgen unterbricht (siehe ebd., S. lxixf ). Ferner seien die Eintrge 11, 22 – 39 eine Unterbrechung des argumentativen Ganges (siehe ebd., S. lxxi). Siehe auch die vorherige Anmerkung. 65 Siehe M. Aur. Med. 6, 30. 66 Siehe M. Aur. Med. 1, 16. 67 Dass diese Dopplung fr die Existenz von getrennten Schriften spricht, ist nicht besonders plausibel, da keine Quelle davon berichtet.
1.3 Der Aufbau der Selbstbetrachtungen
53
Das erste Buch ist demnach nicht von ganz anderer Art als die restlichen Bcher. Die bestehenden Unterschiede fhren nicht notwendig zum Schluss, es handele sich um ursprnglich getrennte Schriften. Die Zusammengehçrigkeit ergibt sich zweitens dadurch, dass Marc Aurel ber die ethische Bedeutung der Darstellung von vorbildhaften Eigenschaften der Mitmenschen reflektiert: Wenn Du dich freuen willst, dann denk an die Vorzge deiner Mitmenschen. Das ist z. B. bei dem einen die Tatkraft, bei dem anderen die Zurckhaltung, bei dem nchsten die Freigebigkeit, bei einem anderen noch etwas anderes. Denn nichts macht soviel Freude, wie die Erscheinungsformen der Tugenden, die in den Charakteren unserer Mitmenschen sichtbar werden und – soweit mçglich – in großer Zahl zusammentreffen. Deshalb muss man sie auch immer zur Hand haben.68
Damit liefert Marc Aurel einen programmatischen Entwurf des ersten Buches, der das ethische Anliegen der Danksagungen deutlich macht. Die Danksagungen zielen auf die Verbesserung desjenigen ab, der dankt. Das erste Buch verfolgt demnach im Kern keinen anderen Zweck als die anderen Bcher. Die dankende Erwhnung der vorbildhaften Eigenschaften der Mitmenschen liegt hier in gebndelter Form vor. Vor diesem Hintergrund lçsen sich die Unterschiede zwischen dem Eingangsbuch und den weiteren Bchern weiter auf. Drittens bietet das erste Buch nur eine formal besonders gestaltete Aneinanderreihung von Exempla und Nennungen von Vorfahren. Dergleichen findet sich ebenso ber die anderen Bcher verstreut.69 Es handelt sich um eine der vielen Techniken, die Marc Aurel verwendet, um auf sich einzuwirken. Im ersten Buch handelt es sich – mit der wichtigen Ausnahme eines Dankes an die Gçtter70 – um Danksagungen an Personen, mit denen er 68 M. Aur. Med. 6, 48. 69 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 3; 4, 48; 6, 47. Dalfen stellt zu Recht formale Entsprechungen fest. Denn wegen der Aufzhlung in stereotypen Formulierungen hnelt der Aufbau von M. Aur. Med. 12, 26 dem ersten Buch (siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 235 f.). Diese bung ist u. a. bei Seneca vorgezeichnet: „Und nicht lange braucht man Beispiele, an denen du Festigkeit gewinnen kannst, zu sammeln: jedes Zeitalter hat sie aufzuweisen. Welchen Abschnitt auch immer der rçmischen oder der auswrtigen Geschichte du dir in das Gedchtnis rufst, berall begegnen dir Persçnlichkeiten von bemerkenswerter Reife oder großer Willenskraft.“ Sen. Ep. 24. 3. 70 Siehe M. Aur. Med. 1, 17.
54
1. Allgemeine formale Charakteristika
selber in Kontakt stand. Jedoch stehen nicht der Dank und damit die Adressierung an die Genannten im Vordergrund. Die entscheidende Gemeinsamkeit des erstens Buches mit den folgenden besteht in der praktischen Zielsetzung. Es gibt somit gute Grnde, die dafr sprechen, das noch genauer zu untersuchende erste Buch und die anderen Bcher als die Einheit zu betrachten, als die sie uns berliefert wurden.71 Neben der nicht gut gesttzten Annahme, das erste Buch sei ursprnglich als ein von den Selbstbetrachtungen separater Text entstanden, gibt es eine Reihe weiterer Spekulationen, die sich um die Frage ranken, wie die Selbstbetrachtungen im Originalzustand aussahen. Es gibt drei Varianten der These, dass der uns erhaltene Text nicht mit dem Original identisch sei. (i) Das Original sei im Rahmen der berlieferung lckenhaft geworden oder in Unordnung geraten.72 (ii) Marc Aurel habe eine ganz andere Art von Text schreiben wollen, nmlich eine moralphilosophische Abhandlung. Was wir davon haben, seien entweder (iia) nur vorbereitende Notizen oder (iib) ungeordnete Bruchstcke.73 (iii) Die Selbstbetrachtungen seien eine Zusammenstellung aus verschiedenen Textfragmenten unterschiedlicher Schriftstcke, die der Kaiser zu verschiedenen Anlssen oder Zwecken niedergeschrieben hat. Dies erklre auch die Disparitt der verwendeten Stile.74 71 Die Verbindung des ersten Buches zu den restlichen Bchern wird im nchsten Kapitel ausfhrlicher behandelt. 72 Mit Nennung weiterer Vertreter argumentiert so: Farquharson, A. S. L.: Introduction, a.a.O., S. lx-lxv. 73 Diese These schreibt Casaubon in der Einfhrung seiner englischen bersetzung verschiedenen Autoren zu, deren Namen er jedoch nicht nennt. Sie wird auch mit Xylander in Verbindung gebracht. Gesichert ist jedoch nur, dass sie von Casper Barthius (Adversaria, 1624, Lib. I, S. 22 – 4; 2412 – 8) vertreten wurde. Dann Joly, J.-P.: Rflexions de l’Empereur Marc-Aurle Antonin, Drsde 1754; Rousseau, L. C. T.: Morale de Marc-Aurle, Empereur Romain, Paris 1798; Loisel, G.: A moimÞme, Paris 1926. M. Trannoy pldiert fr eine Mischung aus (a) und (b). Eine Reihe von Eintrgen (z. B. M. Aur. Med. 2, 10; 7, 66; 11, 6) seien ein Hinweis darauf, dass der heutige Text diverse Elemente verschiedener berarbeitungsphasen vereinige und daher ein derart gebrochenes Bild abgebe (siehe die Einfhrung von M. Trannoy: Marc Aurle, Penses, 2. Aufl., Paris 1962 (Bud Ausgabe), S. vii). 74 Auch dies wird von Farquharson erwogen (Farquharson, A. S. L.: Introduction, a.a.O., S. lxvff ): Abgesehen (i) vom ersten Buch, erkennt er in dem zweiten und dritten Buch (ii) eine abgeschlossene Abhandlung, ferner (iii) Aphorismen (z. B. M.
1.3 Der Aufbau der Selbstbetrachtungen
55
Im Rahmen seiner langjhrigen und nicht gut gesicherten berlieferungsgeschichte kçnnte der Text in der Tat durcheinander geraten sein. Dass diese Mçglichkeit besteht, beweist jedoch nicht, dass eine Stçrung tatschlich vorliegt. Wir haben dafr keine konkreten Belege.75 Alle drei Thesen haben eine Gemeinsamkeit: Sie gehen davon aus, dass der uns berlieferte Text so nicht von Marc Aurel geschrieben wurde, weil der Kaiser intendierte, der Gattung, dem Aufbau oder der Ausarbeitung nach anderes zu schreiben oder tatschlich etwas, das andersartig ist, geschrieben hat. Schwcher ist die These der folgenden Argumentation: „Not necessarily demanding from the author the precision and method of a regular treatise, but assuming a general order in the parts of his book…“76 Obschon die Intention einer moralphilosophischen Abhandlung hier nicht im Spiel ist, wird vorausgesetzt, dass Marc Aurel ein Werk schreiben wollte, das einen Zusammenhang und eine Ordnung aufweist. Diese Annahme fhrt notwendig zur berzeugung, der Text sei nur schwer beschdigt erhalten. Wre es demgegenber nicht denkbar, dass der Zusammenhang nur durch die praktische Absicht gewhrleistet ist und diese keinen ordentlich gefgten Aufbau erfordert? Die Vertreter der oben genannten Thesen haben Versuche unternommen, die angeblich originale Ordnung des Textes wieder zu rekonstruieren. Problematisch ist dies nicht nur wegen der unterstellten, aber nicht zu belegenden Absicht, ein Traktat sei intendiert. Keine Neuordnung der vorhandenen Kapitel kann ferner darber hinwegtuschen, dass sich viele Kapitel fast bis aufs Wort gleichen. Auch eine rekonstruierte Fassung ist daher kein Text mit klaren Ordnungsprinzipien. Die uns erhaltenen Eintrge bieten darber hinaus keine Hinweise auf den mçglichen Aufbau. Jngste Versuche in diese Richtung sind oft nicht mehr als bloße Zusammenstellungen der Eintrge unter berschriften, wobei kein Versuch mehr gemacht wird, die Gruppierung auf Marc Aurel zurck zufhren.77 Deskription und Evaluation des formalen Aufbaus geschehen demnach in Abhngigkeit von einer grundstzlicheren Annahme bezglich der Aur. Med. 6, 54; 7, 6; 9, 4) und (iv) kleine „essays in little“ (z. B. M. Aur. Med. 4, 3; 6, 33; 5, 8; 11, 8). 75 Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 224 ff.: Weder M. Aur. Med. 2, 10 noch die Exzerptenreihe im siebten Buch sind unpassende Fragmente, vielmehr werden sie sehr wohl in den gedanklichen Zusammenhngen verstndlich. 76 Farquharson, A. S. L.: Introduction, a.a.O., S. lxviii. 77 Siehe z. B. Forstater, M.: The Spiritual Teachings of Marc Aurel, New York 2001.
56
1. Allgemeine formale Charakteristika
Autorenintention. Und diese ist nicht unmittelbarer Teil des rein formalen Befundes. Die Absicht, die Marc Aurel mit der Abfassung des Textes verknpft haben mag, wird noch gesondert und eingehend zu behandeln sein.78 In den Selbstbetrachtungen finden wir ferner eine Reihe von Hinweisen und Reflexionen zur Frage, warum Marc Aurel wie geschrieben hat. Fr die hiesigen Belange ist aber, wie bereits angefhrt, zunchst nur der formale Befund interessant. Diese Bestandsaufnahme wird dann mit der Erçrterung der Schreibabsicht verbunden werden. 1.4 Datum und Sequenz der Abfassung Auf die Fragen, (i) wann und (ii) in welcher Reihenfolge Marc Aurel die Eintrge der Selbstbetrachtungen verfasst hat, gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Antworten.79 Der Nukleus sicherer Annahmen ist jedoch sehr berschaubar. Ad (i) Datierung. Marc Aurel erwhnt fr uns wenige datierbare Geschehnisse, und zwar zunchst den Tod von Domitia Lucilla um 156.80 Der sptere terminus post quem ist der Tod von Marc Aurels Mitregenten, Lucius Verus, im Jahre 169, auf den rckblickend hingewiesen wird.81 Daraus lsst sich die These ableiten, dass Marc Aurel die Selbstbetrachtungen whrend seines letzten Jahrzehntes, also bis zu seinem Tode 180, geschrieben hat. Diese Plausibilitt ließe sich nur durch die Annahme erschttern, einige Teile seien bereits vorher geschrieben worden. Viele Indizien sprechen jedoch dagegen: Marc Aurel spricht von sich als Imperator.82 Die Lobreden auf Pius scheinen einem Toten zu gelten.83 Mehrfach erwhnt Marc Aurel sein hohes Alter oder den nahen Tod. 78 Siehe Kap. I 6. 79 Siehe Haines, C. R.: The Composition and Chronology of the Thoughts of Marcus Aurelius, a.a.O.; Farquharson, A. S. L.: Introduction, a.a.O., S. lviii-lxxiv; Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 217 f.; Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 18 – 19; Birley, A. R.: Die Außen- und Grenzpolitik unter der Regierung Marc Aurels, a.a.O., S. 473 – 502; Schindler-Horstkotte, G.: Der Markomannenkrieg Marc Aurels und die kaiserliche Reichsprgung, a.a.O.; Langmann, G.: Die Markomannenkriege 166/7 bis 180, a.a.O.; Rutherford, R. B.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 45 – 47; Stroh, W.: Marc Aurel in Carnuntum, a.a.O., S. 2 – 11. 80 Siehe M. Aur. Med. 1, 17. 81 Siehe M. Aur. Med. 8, 25 und 37. 82 Siehe M. Aur. Med. 6, 30.
1.4 Datum und Sequenz der Abfassung
57
Zwischen dem ersten und zweiten Buch findet sich der Eintrag t± 1m Jou²doir pq¹r t` Cqamo¼ô. Und zwischen dem zweiten und dritten Buch die Zeile t± 1m Jaqmo¼mt\. 168 griffen die Markomannen das rçmische Imperium an. Daraufhin verbrachte Marc Aurel die Jahre 170 – 3 in Karnutum, in dessen Nhe auch der Fluss Gran liegt. Von dort aus leitete er militrische Operationen gegen die Markomannen und Quaden. Sptere Teile der Selbstbetrachtungen sind aber wahrscheinlich bis 178 verfasst worden, in denen Marc Aurel sehr viel auf Reisen war. Das ersten Buch kçnnte auch rckblickend in der Zeit von 176 – 180 verfasst worden sein, die Marc Aurel in Rom verbrachte, auf Feldzgen im Osten (in Folge der Revolte von Avidius Cassidus) oder wieder auf Feldzgen auf dem Gebiet der Germanen. Etwas unsicherer sind folgende Hinweise: Er erwhnt die Pest,84 womit vielleicht der Krankheitsausbruch nach der Rckkehr der Truppen von L. Verus im Jahre 168 – 9 gemeint ist.85 Sehr unspezifisch ist ferner von einem Menschen die Rede, der stolz ist, Sarmaten gefangen zu haben.86 Im Jahre 175 endete ein Feldzug gegen die Sarmaten und Marc Aurel nahm den Titel Sarmaticus an.87 Wie eng der Eintrag damit in Verbindung steht und ob er nach dem Feldzug, whrend dessen oder im Vorfeld geschrieben wurde, bleibt wegen der sehr allgemeinen Formulierung unklar. Die erwhnten datierbaren Ereignisse lassen nicht zu, jedem Textteil eine bestimmte Abfassungszeit zuzuordnen, daher sind Aussagen zur relativen Chronologie sehr problematisch. Ad (ii) Relative Chronologie. Was die Frage der relativen Chronologie betrifft, lsst sich lediglich sagen, dass wir darber nichts wissen und dass das Fehlen der Antwort interpretatorisch zu verschmerzen ist. Dies betrifft zunchst das Verhltnis der Abfassungszeiten des ersten Buches einerseits und der anderen Bcher andererseits, aber ferner auch die Frage, wie sich die Abfassung der restlichen Bcher zeitlich vollzogen hat. Das erste Buch ist formal geschlossen und drfte daher innerhalb eines berschaubaren Zeitrahmens entstanden sein. Oder aber Marc Aurel hat sptere Eintrge der Form nach angepasst. Wie oben erwhnt, gibt das 83 Siehe M. Aur. Med. 1, 16 und 6, 30. 84 Siehe M. Aur. Med. 9, 2. 85 Ob sich hinter der Bezeichnung koilºr genau und vor allem ausschließlich das Krankheitsbild verbirgt, das wir als „Pest“ klassifizieren, ist (medizin-)historisch nicht ganz zu klren. 86 Siehe M. Aur. Med. 10, 10. 87 Siehe HA M. Ant. 24 – 5.
58
1. Allgemeine formale Charakteristika
Kapitel 4, 48 so etwas wie eine Konzeptbeschreibung des gesamten ersten Buches wieder, und Kapitel 6, 30 ist eine Lobrede auf Pius, die verkrzt das bietet, was sich im Kapitel 1, 16 findet. Bedeutet dies, dass das erste Buch eine sptere oder frhere Elaboration des tragenden Gedankens im Kapitel 4, 48 ist? Auch dass die Lobrede auf Pius im ersten Buch lnger ist, gibt keinen Hinweis. Die Eintrge in den weiteren Bchern weisen darauf hin, dass Marc Aurel zum jeweiligen Zeitpunkt das schrieb, was ihm wichtig war. Dabei nahm er Wiederholungen erstens in Kauf und zweitens hatte er seine vorherigen Eintrge (oder nur das erste Buch) dabei vielleicht gar nicht zur Hand oder hat nicht darin gelesen. Was wre gewonnen, wenn wir auf all diese Fragen gesicherte Antworten htten? Eine Einschtzung lautet: The order of composition would be significant if (and only if ) we could trace or suspected a change in Marcus’ philosophical convictions. But conversely, since we do not know the chronology of the work in any more detail, it becomes less likely that we can establish any such change even if we think it probable. In fact no such change of view needs to be postulated.88
Selbst wenn wir annehmen, Marc Aurel habe einen moralphilosophischen Traktat verfassen wollen, scheint es die einzige Abhandlung zu sein, die er schreiben wollte. Entwicklungshypothesen sind aber nur dann interessant, wenn von einem Autor, wie im Falle Platons oder Aristoteles’, verschiedene Werke mit verschiedenen Positionen vorliegen.89
88 Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 47. So schon Zuntz, G.: Notes on Antoninus, a.a.O., S. 55 – 8 und Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 4. 89 Zu Aristoteles siehe jngst Rapp, Ch.: Der Erklrungswert von Entwicklungshypothesen. Das Beispiel der Aristoteles-Interpretation, in: van Ackeren, M./ Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy, a.a.O., S. 178 – 195. Zu Platon siehe van Ackeren, M.: Entwicklungshypothesen ber Platon – Die Entwicklung vom Politikos zu den Nomoi als Fallbeispiel, in: Politisches Denken, Jahrbuch 2008; Zehnpfennig, B. (Hg.): Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen – Platons „Nomoi“, Berlin 2008, S. 303 – 328. Die Frage nach der relativen Chronologie der Dialoge Platons ist hufig und heftig diskutiert worden (siehe etwa Kahn, Ch.: Plato and the Socratic Dialogue. The philosophical use of a literary form, Cambridge 1996, Kap. II 3).
2. Das erste Buch
59
2. Das erste Buch Die Selbstbetrachtungen vereinen auf sehr spezielle und vielleicht einmalige Weise verschiedene literarische Gattungen bzw. deren Elemente. Gleichzeitig bndeln sie diverse Themen und Argumente und verknpfen beides in praktischer Absicht. Diese Beschreibung trifft auf das erste Buch und die ihm folgenden Bcher gleichermaßen zu. Von allen Bchern der Selbstbetrachtungen hat das erste jedoch einen formal und inhaltlich distinkten Charakter. Daher wird es im Folgenden als einziges Buch gesondert untersucht, whrend die brigen Bcher bei der formalen und inhaltlichen Analyse gemeinschaftlich behandelt werden. Aus diesem Grunde wird Buch I in diesem und zum Großteil auch im folgenden Kapitel sowohl auf die Form als auch auf den Gehalt hin untersucht. Das erste ist das mit Abstand krzeste Buch der Selbstbetrachtungen. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Auflistung von Menschen (nur das 17. Kapitel nennt die Gçtter), denen Merkmale zugesprochen werden, die Marc Aurel mit ihnen verbindet. Von Interesse ist, wen oder was Marc Aurel hier auflistet und beschreibt, wie er es tut, welcher Art die Verbindung von Personen und Tugenden ist und was er damit bezweckt. Lsst sich das erste Buch der Selbstbetrachtungen mit anderen Texten vor Marc Aurel vergleichen und einer Gattung zuordnen? Was genau bietet das erste Buch? Hierzu erscheint es hilfreich, die Kapitel, die je eine Person90 und die entsprechenden Eigenschaften nennen, verkrzt wiederzugeben. Marc Aurel beginnt mit den direkten Vorfahren: 1, 1) Großvater: Ausgeglichenheit; Gelassenheit 1, 2) Vater: Bescheidenheit; mnnliches Wesen 1, 3) Mutter: Frçmmigkeit; Freigebigkeit; Abneigung gegen bçse Taten und Gedanken; Schlichtheit der Lebensfhrung; Abneigung gegen aufwendigen Lebensstil 1, 4) Urgroßvater: Dank fr Hauslehrer (statt Besuch çffentlicher Schulen); Kosten der guten Bildung Damit ist zur Serie der Kapitel bergeleitet, die Erzieher und Lehrer erwhnen:
90 Zu den Hintergrnden, vor allem zu den genannten Personen, siehe Farquharson, A. S. L.: The Meditations, Vol. I, a.a.O., S. 269 – 278.
60 1, 5) Erzieher: 1, 6) Diognetes:
1, 7) Rusticus:
1, 8) Apollonius:
1, 9) Sextus:
1, 10) Alexandros: 1, 11) Fronto:
2. Das erste Buch
Unparteilichkeit bei Spielen; Belastbarkeit; Gengsamkeit; Eigenstndiges Arbeiten; Nicht-Einmischung; Nichtbeachtung von bler Nachrede Kein sinnloses Streben; kein Volks- oder Aberglaube; keine Wachtelhaltung oder vergleichbare Leidenschaften; offene Aussprachen ertragen zu kçnnen; ein enges Verhltnis zur Philosophie; Bekanntschaft mit Bakchios, Tandasias, Markin; das Schreiben von Dialogen; die selbstgengsame Lebensweise griechischer Philosophen Einsicht in die Notwendigkeit der Sorge um die Seele; Ablehnung von Sophisten, Knsten, Wissenschaften, Epideiktik, falschem, eitlem, professionellem und gebildetem Reden; einfache Kleidung im Hause; einfache Formulierungen in Briefen; etwas genau lesen, etwas grndlich erfassen; eine versçhnliche Haltung gegenber Fehlenden und die Bekanntschaft mit den Schriften Epiktets. Innere Unabhngigkeit; Entschlossenheit; nicht auf den Zufall, sondern auf die Vernunft bauen, auch bei Schicksalsschlgen; zugleich tatkrftig, gelçst und frçhlich sein; Disziplin bei der Textauslegung; die Vermittlung von Lehrinhalten nicht als die beste Eigenschaft ansehen; richtiger Umgang mit den Wohltaten der Freunde Freundlichkeit; Gte; Leben in bereinstimmung mit der Natur; Gutsein ohne Knstlichkeit; harmonischer Umgang mit der Familie, mit Freunden und allen Menschen; Toleranz gegenber Sophisten; fr das Leben notwendige Leitideen brauchbar formulieren; Apathie; gebildet, jedoch nicht eitel sein Freundlicher, geschickter Umgang mit Worten; ber die Sache selbst reden Tyrannische Verleumdung; Verstellung und Grausamkeit der Adeligen als solche erkennen
2. Das erste Buch
1, 12) Alexandros:91 1, 13) Catulus: 1, 14) Severus:
1, 15) Maximus:
61
Pflichtgemße Erfllung der Beziehungen zu anderen und keine Ausreden geben Das Vertrauensverhltnis zu den Freunden pflegen; die Lehrer immer loben; die Kinder lieben Familienliebe; Bekanntschaft mit Thrasea, Helvidius, Cato, Dion und Brutus; die Vorstellung eines Staates, in dem alle gleiche Rechte und Pflichten haben (inkl. Redefreiheit), und von einer Monarchie, die die Freiheit der Brger achtet; die Philosophie ausdauernd und einfach verfolgen; gute Taten, Harmonie und Offenheit gegenber Freunden als auch Fehlenden zeigen Selbstbeherrschung; Standhaftigkeit; Ausgeglichenheit; Motivation; frei von bçser Absicht sein; nicht staunen; immer aufrichtig und frohen Mutes sein; Bereitschaft zu Kompromissen und Verzeihung; Festigkeit im Verfolgen der guten Absicht; sich nie berlegen fhlen
Schließlich folgen die Eintrge zum Adoptivvater Pius und den Gçttern: 1, 16) Pius: Nachgiebigkeit; Festhalten am Erkannten; nicht an Ruhm orientiert sein; Arbeitsfreude; Beharrlichkeit; Orientierung am Gemeinwohl; Verteilungsgerechtigkeit; Strenge und Nachgiebigkeit vereinen; Abschaffung der Knabenliebe; Gemeinsinn; Freundlichkeit; bei Entscheidung grndlich abwgen und untersuchen; leidenschaftslos; selbststndig, frçhlich; Weitblick, planerisches Geschick; uneitel; sorgfltiges Regieren; nicht zu fromm; gengsamer Gebrauch der Gter; kein weltfremder Gelehrter oder Sophist sein; wahre Philosophie; maßvolle Sorge um den Kçrper; jeden Einzelnen achtsam und gerecht behandeln; traditionsbewusst, aber nicht traditionsglubig; Besonnenheit, Liebenswrdigkeit; ausgewogen gegenstzliche Eigenschaften vereinen
91 Whrend im Kapitel 1, 10 der Sprachlehrer gemeint ist, dankt Marc Aurel hier dem Platoniker Alexandros.
62
2. Das erste Buch
1, 17) Gçtter:
Dank fr Familie, Erzieher, Lehrer und Mitmenschen; der Wut nicht nachgeben und dadurch entlarvt werden; Keuschheit in der Jugend; auch am Hofe bescheiden (als Privatmann) leben; keine Fortschritte in Dichtkunst, Rhetorik, Sophistik usw., stattdessen Philosophie; Mçglichkeit zum Leben im Einklang mit der Natur; Gesundheit; (finanzielle) Ressourcen fr gute Taten
Selbst diese Liste ist noch verkrzend, weil sie viele der genannten Tugenden oder Eigenschaften zusammenfasst. Da das erste Buch durch die Nennung einer Vielzahl von positiven Eigenschaften charakterisiert ist, wird die Untersuchung an diesem Punkt ansetzen. 2.1 Die Tugendliste des ersten Buches Hervorstechendes formales Charakteristikum des gesamten ersten Buches ist die strukturelle Gleichartigkeit aller Eintrge. Joachim Dalfen schildert dies wie folgt: Jeder der 17 Abschnitte beginnt mit einem paq± toO (bzw. t/r) … tº und folgendem Neutrum eines Adjektivs bzw. tº mit folgendem Infinitiv. Adjektiv und Infinitiv enthalten jeweils den Inhalt der vermittelnden Lehre. Die Verben fehlen, wir mssen uns ein ,wurde mir vermittelt‘ oder etwas hnliches ergnzen. Verbunden werden die zahlreichen Glieder dieser Aufzhlung vorwiegend mit ja· tº, an dessen Stelle manchmal 5ti d³ t¹, einmal l²kista d³ tº … steht. Vereinzelt ist der Inhalt dessen, was Marcus gelernt hat, nicht durch einen Infinitiv oder ein Adjektiv ausgedrckt, sondern durch einen mit fti eingeleiteten Satz.92
Dieses formale Gerst wird von Marc Aurel erstaunlich stringent angewandt.93 Die formal gleichartig aufgebauten Eintrge, die die Eigenschaften, Lehren oder Tugenden nennen, sind wiederum nach drei Ordnungsprinzipien strukturiert: Alle Eigenschaften werden Personen zugeordnet, was den Aufbau des ganzen Buches bestimmt. Diese Personen sind ihrer Stellung Marc Aurel gegenber geordnet, so dass das erste Buch in drei (oder vier) Gruppen von Eintrgen zerfllt, und 92 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 7. 93 Es gibt nur eine Abweichung, und zwar spt im Kapitel M. Aur. Med. 1, 16 (siehe Dalfen: ebd., S. 7).
2.1 Die Tugendliste des ersten Buches
63
zwar: Erstens Vorfahren,94 zweitens Erzieher und Lehrer,95 drittens die Eintrge zu Pius96 und viertens zu den Gçttern.97 Zu dieser Ordnung wird gleich zurckzukehren sein, da auch Pius und die Gçtter etwas gelehrt haben. Schließlich ist die Sequenz der Kapitel chronologisch.98 Was die Eigenschaften angeht, ist zunchst bemerkenswert, dass Marc Aurel die Personen nahezu ausschließlich mit Tugenden in Verbindung bringt. Dies indiziert eine bestimmte Grundabsicht, die dem ersten Buch zugrunde liegt und gibt Aufschluss ber die Textgattung(en). Dieser Punkt wird gleich weiter verfolgt werden. Die von Marc Aurel aufgelisteten Eigenschaften lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Die ethischen Tugenden oder charakterlichen Eigenschaften nehmen einen großen Raum ein: Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Apathie, Frçmmigkeit, Umgang mit Freunden und denen, die falsch handeln usw. Bei den Kommentatoren hat es nicht immer gengend Beachtung gefunden, dass Marc Aurel ferner eine Reihe von geistigen Eigenschaften 94 95 96 97
Siehe M. Aur. Med. 1, 1 – 4. Siehe M. Aur. Med. 2, 5 – 15. Siehe M. Aur. Med. 1, 16. Siehe M. Aur. Med. 1, 17. Trotz der großen Differenz zwischen Menschen und Gçttern, bilden die letzten beiden Eintrge (M. Aur. Med. 1, 16 und 17) formal eine Gruppe. In diesen Eintrgen wird das Satz-Schema so weit ausgedehnt, dass es zum kaum erkennbaren Rahmen herabsinkt; auch inhaltlich entfernen sich diese Eintrge gelegentlich sehr weit von einer Tugendliste, weil sie, im Unterschied zu den vorherigen Kapiteln, beschreibende Passagen haben. Da kein nennenswerter Unterschied zwischen leiblichen und adoptierten Kindern gemacht wurde, kehrt Marc Aurel mit dem Kapitel zu Pius noch einmal zur Gruppe der Vorfahren zurck. Dennoch unterscheiden sich gerade die Eintrge M. Aur. Med. 1, 1 – 5 und 1, 16 besonders stark. 98 Die Chronologie ist im ersten Buch nicht mit absoluter Strenge eingehalten. Der Eintrag M. Aur. Med. 9, 21 schildert diese strengere Sequenzierung: „Wende dich jetzt deinem eigenen Lebenslauf zu: deiner Kindheit, der Zeit, als du ein Junge warst, deiner Jugend, dem hçheren Alter. … Geh nun ber zu deinem Leben unter deinem Großvater, unter deiner Mutter und unter deinem Vater.“ Der Kontakt mit Fronto erstreckte sich ber den mit Pius hinaus. Vor allem die Erwhnung von Rusticus (M. Aur. Med. 1, 7) wurde von Marc Aurel vielleicht vorgezogen, weil die Bedeutung der Philosophie in diesem Eintrag an die Betonung der philosophischen Lebensweise in M. Aur. Med. 1, 6 (Diognetes) anknpfen soll. Gerade der letztgenannte Umstand zeigt, wie sehr die Abfassung im ersten Buch von philosophischen Kriterien bestimmt wird und dass Marc Aurel zwar eine grobe Vorstellung davon hatte, was er wie schreiben wollte, aber beim Schreiben durchaus flexibel vorgegangen ist. Gelegentlich drngt sich der Eindruck auf, das Schreiben eines Kapitels habe erst die Idee fr das nchste geliefert.
64
2. Das erste Buch
oder Einstellungen erwhnt: Dazu gehçrt zunchst die Ausrichtung auf die Philosophie und eine entsprechende Ablehnung von Dichtkunst, Sophistik, Syllogistik, Rhetorik usw., dann die Bevorzugung von Textformen und stilistischen Empfehlungen (Dialoge schreiben, einfache und klare Ausdrucksweise), schließlich philosophische Techniken im weitesten Sinne (z. B. Textinterpretation und Nachdenken, die Formulierung und Memorierung der lebenswichtigen Dogmen, die Orientierung an der Sache selbst). Auffllig ist, dass die Auflistung erstens teilweise einfache Nennungen von bekannten und allgemeinen Tugenden (etwa Besonnenheit, Gerechtigkeit) enthlt, was der Liste dann einen sehr allgemeinen Zug verleiht. Zweitens schreibt Marc Aurel den genannten Personen Handlungen zu, wobei er in der Regel nicht auf die Beschreibung einzelner konkreter und erfolgter Handlungen abzielt. Vielmehr berichtet er von habituellen Verhaltensweisen, was typologisierende Zge hat. So stellt Marc Aurel fest, dass Maximus es schaffte, nie ber etwas zu staunen …, nie ohne eine Lçsung oder niedergeschlagen zu sein, nie ein freundliches Lcheln vorzutuschen oder wieder wtend oder misstrauisch zu sein. Er war wohlttig, immer bereit zu verzeihen und unbedingt zuverlssig und aufrichtig.99
Die im ersten Buch beschriebenen Handlungen versieht Marc Aurel sehr hufig mit Qualifikationen wie „immer“, „nie“, „in jeder Hinsicht“ oder „zu allen Menschen“. Zum Ausdruck kommen so die Umfassendheit und in Folge die Strenge des Tugendideals. Schließlich und drittens werden einzelne und sehr konkrete und spezifische Verhaltensweisen genannt. Das passt auf den ersten Blick nicht ganz zur Allgemeinheit und Bekanntheit der anderen genannten Tugenden: „Von meinem Erzieher (lernte ich), weder fr die Grnen, noch fr die Blauen, die Rundschilde oder Langschilde Partei zu ergreifen“100, „keine Wachteln zu halten … ein niedriges Bettgestell“ zu haben,101 „nicht zu unpassender Zeit“ zu baden.102 Es handelt sich hier weniger um Schilderungen, die den genannten Personen ein persçnliches Antlitz verleihen sollen. Vielmehr wird deutlich, dass die Tugend sich dem Geltungsbereich nach auf jedes Detail aller alltglichen Handlungen bezieht. 99 100 101 102
M. Aur. Med. 1, 15. M. Aur. Med. 1, 5. M. Aur. Med. 1, 6. M. Aur. Med. 1, 16.
2.1 Die Tugendliste des ersten Buches
65
Marc Aurel erwhnt hier103 nur seine Neutralitt bei Zirkusspielen,104 spter wird er deutlicher: Wie dir alles, was sich im Amphitheater und an hnlichen Orten abspielt, zuwider ist, da man immer dasselbe sieht, und die Eintçnigkeit das Zuschauen unertrglich werden lsst…105
Seine Abneigung war mitunter Gegenstand des Briefwechsels mit Fronto106 und çffentlich bekannt. Obschon seine Teilnahme an den Spielen sozial verpflichtend war, ntzte er die Zeit zur Erledigung seiner umfangreichen Korrespondenz, was ihm – wie schon zuvor Caesar – von den Zuschauern bel genommen wurde.107 Diese ablehnende Haltung Marc Aurels ist nicht ohne Vorbilder. Sein Vorgnger Pius hatte ihm dies vorgelebt,108 und bei Seneca und Epiktet findet sich eine Kritik an den Zirkusspielen.109 Gerade bei letzterem wird deutlich, dass Marc Aurels Aversionen nicht idiosynkratisch waren, sondern von einer allgemeinen philosophischen Lehre getragen wurden, die sich gegen die Teilnahme an den Vergngungen der Menge,110 Massenveranstaltungen111 und dem entsprechend vielgeschftigem Treiben (Polypragmosyne) wendete.112
103 104 105 106 107 108 109
110 111 112
Siehe M. Aur. Med. 1, 5. Zum Hintergrund siehe z. B.: Cameron, A.: Circus Factions, Oxford 1976. Siehe M. Aur. Med. 6, 46. Siehe Fronto Ep. 1, 208. Siehe HA M. Ant. 5, 1; Caesars Desinteresse mag ganz anders motiviert gewesen sein als die Ablehnung von Marc Aurel (siehe Suet. Aug. 45, 1 – 2). ber Pius schreibt er: „Bemerkenswert waren auch seine Besonnenheit und seine Zurckhaltung bei der Veranstaltung von Festen“ (M. Aur. Med. 1, 16). „Morgens wirft man Lçwen und Bren Menschen vor, mittags ihren Zuschauern. Mçrder werden auf deren Befehl knftigen Mçrdern vorgeworfen, und den Sieger heben sie fr einen weiteren Mord auf. … ‘Tçte, schlag zu, brenne ihn! Warum luft er so zimperlich ins Schwert? Warum tçtet er nicht tollkhn genug? Warum stirbt er ohne Begeisterung!‘ Mit Peitschenhieben treibt man sie ins Blutbad. … Unterbrochen ist die Vorstellung. Unterdessen sollen erwrgt werden Menschen, damit wenigstens etwas passiert…“ Sen. Ep. 7, 4 – 5. Epiktet (Arr. Epict. ench. 33) sagt: „…. rede doch nicht ber die landlufigen Themen, nicht ber Gladiatorenkmpfe, Pferderennen oder Athleten … Es ist nicht nçtig, hufig zu den çffentlichen Spielen zu gehen. Kommt es aber doch einmal dazu, dann zeige dich auf nichts besonders konzentriert, außer auf dich selbst …“. Siehe z. B. Sen. Vita, 10. Siehe z. B. Sen. Otio, 1; Ep. 83, 6 f. Siehe z. B. Sen. Tranq., 12.
66
2. Das erste Buch
Marc Aurel steht in einer philosophischen Tradition, die Empfehlungen fr jeden Lebensbereich ausspricht.113 Die kçrperlichen Erscheinungen der Personen, denen er dankt, bleiben vçllig unbercksichtigt, zugleich spielt der Umgang mit dem Kçrper eine große Rolle: „ein niedriges Bettgestell und ein Fell zu verlangen“,114 „nicht in vornehmer Kleidung im Haus herumzulaufen“,115 die „Haltung bei schweren Schmerzen … whrend einer langen Krankheit“,116 Aufwand fr die Dinge, die zur Bequemlichkeit des Lebens beitragen … wohlabgewogene Frsorge fr seinen eigenen Kçrper …. kaum rztliche Hilfe, Medikamente und Mittel ußerer Anwendung … Er [Pius] badete nicht zu unpassender Zeit,
113 Siehe den Geltungsbereich fr das t¹ pq´pom (decorum) bei Cic. Off. 1, 93 ff., 126ff und 146. Epiktets Werk bietet eine Flle von entsprechenden Passagen und Beispielen (zusammenfassend siehe Arr. Epict. ench. 33). Er erlutert auch, warum es einen Bereich von philosophisch irrelevanten Handlungsfeldern nicht gibt. Denn jede Handlung kann vernunftgemß oder nicht vernunftgemß sein: „Es mag einem Sklaven vernnftig dnken, seinem Herrn das Nachtgeschirr zu halten, wenn er nur darauf sieht, dass er Schlge kriegt und nichts zu essen bekommt, wenn er sich diesem Dienste verweigert; dass ihm dagegen kein Leid widerfhrt, wenn er es hlt. Einem anderen hingegen erscheint es unertrglich, nicht nur jemandem das Nachtgeschirr zu halten, sondern eben so sehr sich dasselbe von jemandem halten zu lassen. Wenn du also mich fragst: Soll ich mich dazu gebrauchen lassen oder nicht, das Nachtgeschirr zu halten?, so werde ich die Antwort geben: Es ist eine Sache von grçßerem Wert, dass man zu essen bekomme, als dass man nichts bekomme. … Wenn du also nur das zum Maßstab nimmst und hiernach bestimmen willst, was du tun oder nicht tun sollst, so geh immer und halte das Geschirr.“ Arr. Epict. diss. 1, 2, 9 – 10. Da wo wir frei sind, etwas, das in unserer Macht steht, zu tun oder nicht zu tun, kçnnen wir vernnftig oder unvernnftig (selbstschdigend) handeln. Der Handlungsbereich, womit wir es gerade zu tun haben, spielt dabei keine Rolle. Und so thematisiert Epiktet denkbar alltgliche Probleme: Schnupfen (Arr. Epict. diss. 1, 6, 30), div. Krankheiten (Arr. Epict. diss. 3, 22, 40), Nahrungsbeschaffung (Epiktet 1, 9, 8), Furcht vor Dieben, Rubern und Gerichtshçfen (Arr. Epict. diss. 1, 9, 15), schlechtes Wetter (Arr. Epict. diss. 1, 1, 16), Reisen (Arr. Epict. diss. 1, 4, 2), Kunstgenuss (Arr. Epict. diss. 1, 6, 23) usw. Mit Hinweis auf Diog. Laert. (7, 104), also der berlieferung zu Zenon, hat Rutherford argumentiert, diese Bedeutung der Ethik fr alle Nischen des Lebens sei nicht urstoisch (siehe Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 97, Anm. 17). Der Eindruck mag aufgrund der Quellenlage zur frhen Stoa entstehen, aber der Sache nach wird auch Zenon fr vernunftgemßes Agieren in jedem menschlichen Bereich pldiert haben, wo die gleichgltigen Dinge in wnschenswerte und verwerfliche zu unterscheiden sind (siehe Diog. Laert. 7, 105). 114 M. Aur. Med. 1, 6. 115 M. Aur. Med. 1, 7. 116 M. Aur. Med. 1, 8.
2.1 Die Tugendliste des ersten Buches
67
war nicht besonders baulustig und legte keinen Wert auf erlesene Speisen, auf Gewebe und Farben von Kleidern.117
Schließlich dankt Marc Aurel den Gçttern fr die durch Pius vermittelte Einsicht, „dass es mçglich ist, am Hofe zu leben, ohne Leibwchter zu bençtigen oder auffallende Kleider, Kronleuchter, Standbilder …“.118 Die Erwhnung dieser Belange ist keine Digression von der Tugendliste, sondern etwas, „was sonst noch mit der Lebensweise griechischer Philosophen zu tun hat.“119 Eine eingehende Erçrterung der erwhnten Tugenden ist hier nicht nçtig, denn alle diese Charakteristika und Tugenden tauchen im weiteren Verlauf der Selbstbetrachtungen erneut auf. Vielmehr noch: Das Bemhen um diese Tugenden kann als eine Absicht verstanden werden, die hilft, die Selbstbetrachtungen besser zu verstehen. Gibt das erste Buch dafr Hinweise? Bevor dies weiter erlutert werden kann, ist der formale Befund noch zu vervollstndigen, denn die Kapitel des ersten Buches lassen sich nicht zur Gnze als Tugendkatalog beschreiben. Die stereotype Katalogform hlt Marc Aurel nicht durch. Die ersten Eintrge halten das Satzschema ein und beschrnken sich ganz auf die Nennung je einer Person mit sehr wenigen Eigenschaften. Der Eindruck, hier werden abstrakt Tugenden aufgelistet, wird dabei durch den Umstand verstrkt, dass die Personen mit den Tugenden nicht verbunden sind, da die Satzkonstruktion es dem Leser berlsst, ein entsprechendes Verb zu ergnzen. Vor dem Hintergrund der These, dass Marc Aurel vorrangig fr 117 M. Aur. Med. 1, 6. 118 M. Aur. Med. 1, 17. Einschrnkend ist zu erwhnen, dass es Marc Aurel als Stoiker um die Gleichgltigkeit gegenber kçrperlichen Belangen geht, nicht um Mortifikation der Kçrperlichkeit. Denn er dankt Pius dafr, ihm gezeigt zu haben, wie man Luxusdinge gebraucht, „ohne zu bertreiben, aber auch ohne Bedenken, so dass er sie, solange sie vorhanden waren, ohne besonderen Aufwand benutzte, wenn sie aber nicht zur Verfgung standen, nicht entbehrte.“ (M. Aur. Med. 1, 16). Im 17. Kapitel dankt Marc Aurel den Gçttern, dass er sich seine „jugendliche Unschuld bewahrte und nicht vorzeitig zum Mann wurde“ und dass er „trotz der Verstrickung in die Leidenschaft der Liebe wieder gesund wurde …“ Dies verleitet dazu, ihm Prderie zu unterstellen (siehe Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 118). Obschon er sicher kein Freund sexueller Ausschweifung war (siehe auch die Erwhnung (1, 16), dass Pius die Knabenliebe abschaffte), so ist festzuhalten, dass er seine Frau wegen der immer hufiger werdenden Feldzge sehr selten sah, jedoch ber zehn Kinder mit ihr zeugte. 119 M. Aur. Med. 1, 6.
68
2. Das erste Buch
sich geschrieben hat und nur evtl. an weitere Leser gedacht hat, ist dieser grammatikalische Befund besonders interessant. Ihm reicht eine Liste. Darber hinaus sind folgende Beobachtungen wichtig: Erstens werden die Eintrge zunehmend lnger.120 Zweitens fhren sie dabei immer mehr Eigenschaften auf. Drittens variieren diese Eigenschaften immer mehr und immer strker. Whrend die ersten Eintrge klassische und bekannte Tugenden, wie Bescheidenheit oder Frçmmigkeit, nennen, so erwhnen die spteren Eintrge zunehmend speziellere positive Eigenschaften, etwa „wie man die scheinbaren Wohltaten von Freunden annehmen muss, indem man sich dadurch weder demtigen lsst, noch achtlos daran vorbeigeht.“121 Die Beschreibung der Tugenden wird detailreicher und konkreter. Viertens werden die Personen vor der Tugendauflistung nicht nur genannt, sondern die Eigenschaften dienen nun auch ihrer Beschreibung. Fnftens verbinden sich fr Marc Aurel damit einzelne Handlungen und Situationen.122 Dies ist auffllig, da sonst immer habituelle Handlungsformen erwhnt werden („immer etwas tun“). Sechstens erwhnt Marc Aurel sich selbst mehrfach und beschreibt zuweilen intime Details.123 Auch das letzte Kapitel fgt sich noch in das Satzschema, geht jedoch ber den Inhalt der vorherigen Kapitel weit hinaus, insofern hier ein paradigmatisches Gebet an die Gçtter vorliegt.124 Dieses behandelt zugleich die anderen Eintrge auf hçherer Ebene, weil Marc Aurel den Gçttern fr die Personen dankt, denen er zuvor dankte. All dies lsst vermuten, dass Marc Aurel das erste Buch zwar mit der Intention begonnen hat, eine knapp und stereotyp formulierte Tugendliste 120 Bei Rutherford finden sich viele Beobachtungen zum Wandel der Eintrge im ersten Buch, die eine dringend notwendige Ergnzung oder Korrektur des Befundes von Dalfen darstellen. Der Satzbau weicht immer strker vom Schema ab und wird eigenartiger (siehe Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 90 ff.). 121 M. Aur. Med. 1, 8. 122 Marc Aurel erinnert sich an einen Brief, den er seiner Mutter aus Sinuessa schrieb und dass Rusticus ihm die Schriften Epiktets aus seiner Bibliothek berließ (siehe M. Aur. Med. 1, 7). Severus machte ihn mit Thrases, Helvidius, Cato, Dion und Brutus bekannt (siehe M. Aur. Med. 1, 14). Pius schaffte die Knabenliebe ab und hatte Kopfschmerzanflle. Ein besonderer Vorfall mit einem Zollwrter in Tusculum wird erwhnt (siehe M. Aur. Med. 1, 16). 123 Siehe nochmals M. Aur. Med. 1, 17. 124 Dank und Gebet an die Gçtter tauchen in den Selbstbetrachtungen mehrfach auf (siehe M. Aur. Med. 9, 40; 4, 23; 8, 45; 10, 14; eine detaillierte Analyse von 9, 40 findet sich bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., Kap. V 6).
2.2 Vorbilder
69
anzulegen, wobei er dann jedoch zunehmend thematisch und stilistisch variiert hat. Doch welche bergeordnete Absicht verfolgt Marc Aurel mit dem ersten Buch? Lassen sich im Rekurs auf diese Absicht auch die gerade festgestellten Variationen erklren? 2.2 Vorbilder Im ersten Buch findet sich keine eindeutige Aussage bezglich einer grundlegenden Absicht. Sicher ist zunchst nur, dass er Personen und viele positive Eigenschaften in Verbindung bringt. Aber schon die Art der Verbindung bleibt whrend des ersten Drittels der Eintrge ganz unklar, da diese Kapitel dem eingangs erwhnten Satzschema entsprechen und somit die entscheidenden Verben fehlen. Im weiteren Verlauf wird klar, dass Marc Aurel in chronologischer Ordnung Vorfahren und Lehrern fr wichtige (moralische und intellektuelle) Lehren dankt. ber den rein formalen Befund hinaus ist besonders auffllig, wie selektiv die ganze Auflistung wirkt. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, anhand der Auswahl und den ihnen zugrunde liegenden Kriterien auf die Absicht und dann die Bedeutung des ersten Buches zu schließen. Die Selektivitt wird besonders anhand der ersten Kapitel deutlich, in denen Marc Aurel nur Personen- und Tugendbezeichnungen nennt. Eine reine Beschreibung der fr ihn wichtigen Personen hat er demnach nicht intendiert. Vielmehr sind sie ihm Vorbild (paq²deicla).125 Diese Bedeutung steht ebenfalls in den spteren, lnger werdenden Kapiteln, in denen die Eigenschaften facettenreicher und konkreter beschrieben werden, im Vordergrund. Weder geht Marc Aurel auf die kçrperliche Erscheinung der Personen ein noch gibt er irgendwelche anderen Hintergrundinformationen zu den Personen. Die Eintrge konzentrieren sich demnach so sehr auf positive, nachahmenswerte Eigenschaften und nicht auf die Personen selbst, dass eine Identifikation der erwhnten Personen oft nur mit Hilfe anderer Quellen gelingt. Wie lsst sich das erklren? Vorstellbar wre, dass es sich um Danksagungen handelt, in denen Marc Aurel fr eine Vorbildfunktion dankt, die ihren Zweck erfllt hat, also retrospektiv ist. Doch seine Vorfahren und Lehrer verkçrpern nicht Tugenden, von denen er annimmt, dass er sie bereits zur Genge erworben 125 Siehe M. Aur. Med. 1, 9 und 1, 8: paqade¸clator f_mtor.
70
2. Das erste Buch
hat. In diesem Sinne prsentiert er mit dem ersten Buch keine Bildungsgeschichte126 oder etwas Testamentarisches.127 Dass Marc Aurel in seinem letzten Lebensabschnitt schreibt und dabei chronologisch wie bei einer Bildungsgeschichte vorgeht, erklrt, warum es wie ein Rckblick auf bereits Verstorbene wirkt. Doch sollte dies nicht darber hinweg tuschen, dass sich mit dem ersten Buch auch das Motiv verbindet, die erwhnten Tugenden weiter einzuben, also in Zukunft tugendhafter zu sein. Seneca sagt, wenn auch in einem anderen Kontext, dass die Aufforderung, eine Tugend anzustreben, schon in Form einer Beschreibung dieser Tugend vorliegen kann.128 Marc Aurel redet im ersten Buch ber sich und seine Vorbilder, als bestnde noch eine große Spannung zwischen ihm und den Vorbildern. Negative Selbstbewertungen sind besonders im abschließenden Kapitel hufig.129 Die Gçtter werden als Lehrende aufgefasst,130 deren Lektionen im Hinblick auf das naturgemße Leben noch zu lernen sind. Auch Pius wird als Lehrer dargestellt, wobei bemerkenswert ist, dass Marc Aurel sich noch immer als seinen Schler begreift, oder sich vielmehr ermahnt, dies zu sein: „Erweise Dich in allem als ein Schler des Antoninus (p²mta ¢r )mtym¸mou lahgt¶r)“.131 Dass der Adoptivvater als Lehrer bezeichnet wird, berrascht nicht, da mit der Bezeichnung „Vater“ oft die als „Erzieher“ mitgedacht wird.132 Nimmt man die Bemerkung ber die lehrende Funktion der Gçtter hinzu, erscheint die Sequenz der Kapitel in einem neuen Licht: Nach den Eintrgen ber die Vorfahren folgen immer lnger werdende Kapitel zu 126 Siehe Misch, G.: Geschichte der Autobiographie, a.a.O., S. 482, 488. 127 Siehe die Diskussion um und im Anschluss an Martinazzoli, F.: La „Successio“ di Marco Aurelio, Bari 1951. Fr Martinazzoli ist das erste Buch ein ganz retrospektiver Dank fr die vergangenen und absolvierten Lehren. Dazu siehe die Rezensionen von D. A. Rees (in: Gnomon 24 (1952), S. 274 – 277) und J. Ferguson (in: Journal of Hellenic Studies 73 (1953), S. 198 – 199). 128 Siehe Sen. Ep. 95, 65. 129 „… soweit es an den Gçttern, den von dort kommenden Gaben, Hilfen und Anregungen lag, eigentlich nichts daran hinderte, sofort ein Leben im Einklang mit der Natur zu fhren, ich es aber aus eigener Schuld und aufgrund mangelhafter Beachtung der von den Gçttern kommenden Hinweise, die fast Belehrungen waren, dazu nicht kommen ließ.“ M. Aur. Med. 1, 17. 130 Der gerade zitierte Satz endet mit didasjak¸ar. 131 M. Aur. Med. 6, 30. 132 Siehe dazu die vielen Stellenangaben bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 93.
2.2 Vorbilder
71
immer wichtigeren Lehrern. Es gibt demnach keinen Bruch zwischen den Kapiteln 1 – 15 einerseits und 16 – 17 andererseits. Zu den Hinweisen und Lehren der Gçtter gehçrt die Gabe von Vorbildern in Gestalt der Vorfahren und Lehrer. Der Dank an die Gçtter beginnt mit einer Bemerkung ber die erziehenden Mitmenschen und die eigene schlechte Disposition.133 Fr die Annahme, das erste Buch werde von einem autodidaktischethischen Grundanliegen bestimmt, ist ein spterer Eintrag heranzuziehen: Wenn du dich freuen willst, dann denke an die Vorzge deiner Mitmenschen. Das ist z. B. bei dem einen die Tatkraft, bei dem anderen die Zurckhaltung, bei dem nchsten die Freigebigkeit, bei einem anderen noch etwas anderes. Denn nichts macht so viel Freude, wie die Erscheinungsformen der Tugenden, die in den Charakteren unserer Mitmenschen sichtbar werden und – soweit mçglich – in großer Zahl zusammentreffen. Deshalb muss man sie auch immer zur Hand haben.134
Dieses Kapitel beschreibt die wesentlichen Zusammenhnge, die dem ersten Buch zugrunde liegen: (i) Sich die Tugend der Mitmenschen ins Gedchtnis zu rufen, dient aktuellen und eigenen praktischen Zwecken. (ii) Die „Erscheinungsformen der Tugend“ werden durch die Mitmenschen exemplifiziert. Die Exempel sind ein geeignetes Mittel, um auf sich einzuwirken: Tugenderwerb basiert nicht nur auf – eventuell definitorischem – Wissen von und ber die Tugend, sondern ebenfalls auf Nachahmung. (iii) Dies gilt besonders fr die Mitmenschen, die eine Vielzahl von Tugenden verkçrpern. Die zunehmende Flle von positiven Eigenschaften, die Marc Aurel im Verlaufe des ersten Buches den Personen zuschreibt und die mit der langen Liste von Pius’ Tugenden ihren Gipfel erreicht, entspricht dieser Auffassung. Am Minimalismus der ersten Eintrge hlt Marc Aurel zwar nicht fest, doch mit der Ausweitung in den spteren Kapiteln bleibt er seinem Anliegen treu. 133 „Den Gçttern (verdanke ich es), tchtige Großvter, gute Eltern, eine gute Schwester, gute Lehrer, gute Angehçrige, Verwandte, Freunde zu besitzen und fast nur gute Menschen um mich zu haben, und dass ich nicht darauf verfiel, einem von ihnen etwas Bçses anzutun, obwohl ich durchaus dazu veranlagt war und so gehandelt htte, wenn es sich ergeben htte. Nur die Gte der Gçtter verhinderte das Zustandekommen einer Gelegenheit, die mich htte entlarven kçnnen.“ M. Aur. Med. 1, 17. 134 M. Aur. Med. 6, 48.
72
2. Das erste Buch
(iv) Die Erscheinungsformen der Tugenden soll man immer zur Hand (pqºweiqor) haben. Die schnelle Verfgbarkeit der richtigen Vorstellung an jedem Ort und in jeder Situation ist ein wichtiges stoisches Konzept, das gerade fr die Selbstbetrachtungen von nicht zu unterschtzender Bedeutung ist und bereits im ersten Buch Anwendung findet: Je mehr positive Charaktereigenschaften eine Person verkçrpert, desto mehr von ihnen sind mit der Erinnerung an eine einzige Person zur Hand. Im ersten Buch werden Pius nahezu 100 positive Eigenschaften zugeschrieben. Da sie alle von Marc Aurel mit der Vorstellung von Pius verbunden werden, kann er im Kapitel 6, 30 eine Verdichtung zu der handlichen Lebensmaxime vornehmen: „Erweise dich in allem als ein Schler des Antoninus …“.135 Im ersten Buch verbindet die Exempel-Funktion die in einem Kapitel genannten Personen und deren Tugenden. Die Verbindung von Tugenden und Personen besteht nur fr Marc Aurel und wird durch seine Erinnerung und Vorstellung erzeugt. Dies erklrt auch die Selektivitt der Eintrge: Was den Kreis der Menschen angeht, denen Marc Aurel dankt, ist zunchst die Liste der Lehrer von Interesse. Offensichtlich geht es ihm nicht um Vollstndigkeit.136 Seinen bekanntesten Lehrer, Herodes Atticus, erwhnt er erstaunlicherweise nicht. War er fr ihn kein Vorbild? 135 M. Aur. Med. 6, 30 (im Original, wie oft, viel krzer: p²mta ¢r )mtym¸mou lahgt¶r). 136 Insgesamt drften ihn unterrichtet haben: (i) Elementarunterricht: Lesen (Euphorion), Sprechtechnik (Geminos), Musik/ Geometrie (Andron), Malen (Diognetes); (ii) Grammtik: Griechische (Alexandros von Kotiation), Lateinische (Trosius Aper von Pola und Tuticius Proculus von Sicca); (iii) Rhetorik: Griechische (Aninius Macer, Caninius Celer, Herodes Atticus), Lateinische (Cornelius Fronto); (iv) Philosophie: Iunius Rusticus, Apollonios von Chalkedon, Sextus von Chaironeia, Claudius Maximus, Cinna Catulus, Claudius Severus; (v) Jurisprudenz: L. Volusius Maecianus. Die Liste entspricht den Angaben des ersten Buches und den HA Aur. 2 – 3 zusammengenommen. Die Validitt der Angaben in der Historia Augusta ist zum Teil mit dem Argument bezweifelt worden, nur die Liste in den Selbstbetrachtungen sei korrekt (siehe Birley, E.: Some Teachers of Marcus Aurelius, in: Historia Augusta Colloquium 1966/67 (1968), S. 39 – 42; dazu siehe Syme, R.: Ammianus and the Historia Augusta, Oxford 1968, S. 170). Dies setzt aber einerseits voraus, dass Marc Aurel hier eine korrekte und vollstndige Bildungsgeschichte verfasst und andererseits, dass die Autoren der Historia Augusta dies nicht getan haben. In beiden Fllen scheint das Gegenteil richtig zu sein. Fr die Historia Augusta siehe allgemein Schwendemann, J.: Der historische
2.2 Vorbilder
73
Die Auswahl der Eigenschaften weist ebenfalls in diese Richtung. Der Dank an den langjhrigen Lehrer in lateinischer Rhetorik Marcus Cornelius Fronto betrifft tyrannische Verleumdung, Verschlagenheit, Verstellung und Lieblosigkeit.137 Obschon der Briefwechsel mit Fronto dies besttigt,138 berrascht dieser Eintrag. Zumindest dann, wenn man erwartet, dass Marcus mit den Eintrgen ein reprsentatives Bild des jeweiligen Unterrichts gibt. Im Zentrum der Rhetorik-Schulung durch Fronto, einem der Hauptvertreter des archaischen Stils, stand viel eher die sorgfltige Wortwahl. Der Dank, den Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen ausspricht, betrifft keine zentrale rhetorische Fhigkeit.139 Der zeitlich und der Sache nach ber den Unterricht hinausgehende Kontakt bildet die Grundlage fr das Kapitel in den Selbstbetrachtungen. So schließt Marc Aurel einen Brief an seinen Lehrer mit der Formulierung: „Vale mi magister optime, vikºstoqce %mhqype.“140 Die Forderung, mit allen Menschen stets liebevollen Umgang zu pflegen, ist ein zentrales und hufig wiederkehrendes Moment in den folgenden Bchern. Schließlich berichtet Marc Aurel in einigen Fllen von einzelnen Handlungen. In die Exempel-Liste mischen sich Erinnerungen. Genauso wie die Tugenden sich in jeder konkreten Lebenslage bewhren mssen, kann die Erinnerung an einzelne Geschehnisse auf die Tugend und das sie verkçrpernde Vorbild verweisen: „(Man erinnere sich auch daran), wie er [Pius] mit dem Zollpchter umging, der ihn in Tusculum um Verzeihung bat“.141 Dieses Stichwort ist Marc Aurel genug, denn er schildert nicht
137 138 139
140 141
Wert der vita Marci bei den Scriptores Historiae Augustae, Heidelberg 1923 und Champlin, E. H.: Fronto and the Antonine Rome, a.a.O., S. 118 – 120; zur genannten Passage siehe Pflaum, K. B.: La valeur de la source inspiratrice de la vita Hadriani et la vita Marci Antonini la lumire des personnalits contemporaines nommment cites, in: Historia Augusta Colloquium 1968/69 (1970), S. 199 – 232, hier: bes. S. 201 ff. Zum selben Ergebnis kommen auch Fantham, E.: Literarisches Leben im antiken Rom, a.a.O., S. 228 und zuvor Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 91, Anm. 3. Siehe nochmals M. Aur. Med. 1. Siehe Fronto Ep. 2, 154. Fr Marc Aurel ist Rhetorik ethisch bedeutsam, denn mit Worten kann Unrecht begangen werden. Siehe M. Aur. Med. 1, 10: „Von Alexandros, dem Sprachlehrer (lernte ich), darauf zu verzichten, mit Worten um mich zu schlagen und auf beleidigende Weise auf diejenigen loszugehen, die fremdartige, fehlerhafte oder hsslich klingende Worte gebrauchten“. Fronto Ep. 2, 19. Siehe zuvor Fronto Ep. 1, 280. M. Aur. Med. 1, 16.
74
2. Das erste Buch
mehr, was Pius denn nun sagte oder tat. Da Marc Aurel nur fr sich schreibt, ist das Anekdotische ganz reduziert, doch muss Pius’ Reaktion auf ihn nachhaltigen Eindruck gemacht haben und etwas Wesentliches ber seinen Charakter aussagen. Mit der Schilderung ist weder auf etwas ußerliches noch Minderwertiges verwiesen,142 sondern in einer einzelnen Handlung verdichtet sich fr Marc Aurel ein Vorbild, das seine zentrale philosophische Frage nach der Lebensfhrung betrifft. Das Anekdotische ist hier eine untersttzende literarische Technik. Im ersten Buch schreibt Marc Aurel ber Vergangenes. Die extreme Selektivitt der Eintrge erklrt sich nicht durch fragmentarische Erinnerung. Sie ist durch ein philosophisches Anliegen bestimmt, das zukunftsweisend sein will. Zum Zeitpunkt der Abfassung scheint ihm bereits klar gewesen zu sein, welche Prferenzen er hat. Die philosophisch vermittelten Tugenden fungieren als Kriterium fr die Auswahl bzw. Gestaltung der Kapitel. Jedoch sind seine philosophischen Ambitionen selbst Ergebnis der Erziehung. Sein Bericht erklrt so, wie es dazu kam, dass er sich der Philosophie zuwandte, aber zugleich werden Form und Inhalt der Philosophie wiedergegeben. Dies gilt umso mehr, als hier nicht nur ein Bericht gegeben wird, sondern das Schreiben der Kapitel zum Teil selbst schon als ein Instrument der Philosophie verstanden werden kann. 2.3 Zur Bedeutung des ersten Buches fr die Selbstbetrachtungen Das erste Buch nennt Menschen, denen exemplifiziert Tugenden zugeordnet werden. Diese Tugenden werden dann im Verlaufe der weiteren Bcher angemahnt.143 Diese These besagt weiter, dass die Tugenden aus
142 So Hegels Vorwurf gegenber dem Anekdoten-Erzhler Diogenes Laertius: „Er treibt sich mit ußerlichen schlechten Anekdoten herum. Frs Leben der Philosophen, hier und da fr die Philosopheme, ist er wichtig.“ (Hegel, G. W. F.: Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, Leipzig 1971, S. 284). Gegen neuzeitliche Angriffe auf die Anekdoten als Form sowie die mit ihr verbundenen Gehalte verteidigt sie Niehues-Prçbsting, H.: Antike Philosophie im Medium der Anekdote, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Antike Philosophie Verstehen, a.a.O., S. 316 – 331. 143 Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 11: „… auch hier der aus parnetischen Schriften bekannte Brauch, den Ermahnungen eine Schilderung der Vorzge, die den Menschen, mit denen wir zusammenleben, eignen, vorauszuschicken, an denen sich das Handeln ausrichten kann!“
2.3 Zur Bedeutung des ersten Buches fr die Selbstbetrachtungen
75
dem ersten Buch in den weiteren Bchern im Rahmen von Argumenten thematisiert werden und dabei zugleich eingebt werden sollen. Wenn angenommen wird, dass Marc Aurel mit dem Schreiben des ersten Buches bereits die Absicht verknpft, die fr ihn durch bestimmte Menschen verkçrperten Tugenden zu erwerben, hat dies weitreichende Konsequenzen fr die Beurteilung der Verbindung des ersten zu den restlichen Bchern. Denn dann verfolgt das erste Buch gemeinsam mit den restlichen Bchern ein praktisches Anliegen144 und will nicht in erster Linie eine rckblickende Bildungsgeschichte erzhlen. Trotz der deutlichen formalen Unterschiede bestehen viele sachliche Zusammenhnge: Sowohl die im ersten Buch erwhnten charakterlichen wie auch geistigen Tugenden spielen in allen anderen Bchern eine große Rolle.145 Fr jede im ersten Buch erwhnte Eigenschaft lsst sich mindestens ein Kapitel der folgenden Bcher anfhren, das den Aspekt noch einmal aufnimmt. Umgekehrt findet sich zu fast jedem Thema der restlichen Bcher ein Stichwort im ersten Buch. Darber hinaus – und das ist entscheidend – kçnnen die gesamten Selbstbetrachtungen als Anwendung der im ersten Buch genannten Tugenden verstanden werden. Dies gilt erstens fr das erste Buch selbst und zweitens auch fr die weiteren Bcher. Demzufolge erwhnt Marc Aurel im ersten Buch nicht nur Eigenschaften und Tugenden, die er sich noch aneignen will, sondern die Selbstbetrachtungen dokumentieren, dass er einige bereits besitzt und einige Lehren seiner Vorfahren und Erzieher bereits verinnerlicht hat. Gemeint ist, dass das Schreiben der Selbstbetrachtungen 144 Z. B.: die „Lebensweise griechischer Philosophen“ (M. Aur. Med. 1, 6), „Verbesserung und Pflege“ des Charakters (M. Aur. Med. 1, 7), „Leben im Einklang mit der Natur“ (M. Aur. Med. 1, 17). 145 Fr die hiesigen Belange reichen wenige Beispiele: (i) der wohlwollende und freundliche Umgang mit den Mitmenschen (siehe M. Aur. Med. 1, 9; 13; 15; 16, dann z. B. 2, 1; 7, 22; 26; 63; 10, 30; 11,18), (ii) das pflichtgemße, am Gemeinwohl orientierte Handeln (siehe M. Aur. Med. 1, 5; 16; 5, 44; 4, 24; 6, 7; 9, 6; 12, 20; 37 usw.), (iii) Konzentration auf wenige Lehren und ihre konzise Formulierung (siehe M. Aur. Med. 1, 9, dann z. B. 2, 3; 3, 13; 4, 16; 5, 9; 7, 2; 8, 1 und 14; 9, 29; 10, 9 und 34; 11, 18; 12, 9). Exemplarisch sei hier auf das Kapitel M. Aur. Med. 2, 5 hingewiesen, denn die dort genannten Eigenschaften tauchen im ersten Buch auf: das mnnliche Wesen (M. Aur. Med. 1, 2), die ungeknstelte Wrde (M. Aur. Med. 1, 9), liebvolle Zuneigung (M. Aur. Med. 1, 9), die freie Haltung (M. Aur. Med. 1, 8), die Gerechtigkeit (M. Aur. Med. 1, 14), die Orientierung am Logos (M. Aur. Med. 1, 8 und 11). Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 11.
76
2. Das erste Buch
Ausdruck bestimmter Einstellungen ist, die im ersten Buch thematisiert werden. Insofern erhalten die Wiederholungen ihren Sinn und bezeugen keine Schwche des Autors. Marc Aurel dankt den Gçttern dafr,146 dass sie ihm die Vorfahren und Lehrer als Vorbilder gegeben haben. Und Catulus habe ihn gelehrt, „die Lehrer wahrhaftig und aufrichtig zu loben“.147 Genau dies tut Marc Aurel, indem er das erste Buch schreibt.148 Die Erwhnung der Vorfahren und Lehrer im ersten Buch ist formal besonders gestaltet und wirkt daher im Gesamtkontext der Selbstbetrachtungen disparat. Aber die Technik, ber das Vorstellen von paradigmatischen Personen auf sich einzuwirken, ist weder auf das erste Buch beschrnkt noch von den philosophischen Argumenten der spteren Bcher zu trennen. Abgesehen von den bereits zitierten Kapiteln, findet sich etwa folgender Eintrag: „In den Schriften der Ephesier stand die Mahnung, sich fortwhrend an einen ihrer Vorfahren zu erinnern, die sich als tugendhaft erwiesen hatten.“149 Dieses Kapitel steht in einer Reihe von Zitaten am Ende des elften Buches.150 Marc Aurel scheint an dieser Stelle auf einen Seneca-Brief zu rekurrieren, der seinerseits wohl auf Epikur verweist.151 Letzteres zeigt, dass die Vorstellung von Vorbildern bei Marc Aurel selber wieder durch Vorbilder vermittelt ist. Er folgt damit einem Exempel, hier dem von Seneca und durch ihn vermittelt Epikur, indem er eine Lehre bernimmt und die entsprechende Praxis ausbt. Sowohl das, wofr die Vorbilder stehen, wie die Quellen, aus denen Marc Aurel fr diese Technik der Selbstbeeinflussung schçpft, sind philosophischer Natur. Damit besttigt sich, dass das erste Buch aus einer solchen philosophischen Perspektive geschrieben ist. Es konzentriert sich auf philosophisch relevante 146 147 148 149 150 151
Siehe M. Aur. Med. 1, 17. M. Aur. Med. 1, 13. Auch Seneca berichtet dankbar ber seine Lehrer (siehe Sen. Ep. 108). M. Aur. Med. 11, 26 (siehe zuvor 6, 30; 6, 48). Siehe M. Aur. Med. 11, 22 – 39. „Schon verlangt seinen Schluss der Brief. Vernimm einen …. allerdings ntzlichen und heilsamen, den du einprgen sollst, deinem Herzen wnsche ich: ‘Einen Mann von Wert mssen wir hoch achten und uns stets vor Augen halten, damit wir so, als schaue er uns zu, leben und alles, als she er es, tun.’“ Sen. Ep. 11, 8. Siehe auch Sen. Ep. 73, 4. Bereits fr Platon gehçrte es zur Selbsterkenntnis, stets zu wissen und zu erinnern, dass man Lehrer braucht (siehe Platon Theait. 150e, dazu: van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuitt des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam 2003, S. 230 ff.).
2.3 Zur Bedeutung des ersten Buches fr die Selbstbetrachtungen
77
Tugenden bzw. Lehren. Zugleich aktualisiert Marc Aurel diese Lehren praktisch, indem er seinen Text abfasst. Der Tugenderwerb durch die Vorstellung von Exempla gehçrt u. a. zu einer philosophischen Lehre, weshalb sie im Rahmen einer Sequenz von ntzlichen Worten und Lehrzitaten angemahnt wird.152 Fr viele Philosophen ist Sokrates Vorbild und Lehrer zugleich.153 Marc Aurel dankt Rusticus fr die Schriften Epiktets,154 bei dem Sokrates eine große Rolle spielt: Auch jetzt, wo Sokrates tot ist, bringt ja das Gedchtnis an alles das, was er im Leben geredet und getan hat, den Menschen nicht weniger, nein grçßeren Nutzen. Solche Sachen studiere; solche Anschauungen prge dir ein; in dergleichen Muster spiegele dich…155
So berrascht es nicht, dass Marc Aurel nicht nur eine Reihe von SokratesPlaton-Zitaten prsentiert, sondern Sokrates direkt als Vorbild beschreibt.156 Der Dank an die Lehrer, das besonders einschlgige philosophische Vorbild Sokrates und die Erinnerung an die eigenen Vorfahren kommen fr Marc Aurel in der Person seines Adoptivvaters und Lehrers Pius zusammen, denn es „drfte auf ihn zutreffen, was man von Sokrates erzhlt“.157 Sein Dank an die Vorfahren und Lehrer zeigt, dass er auch in Bezug auf die geistigen Tugenden bereits ein „enges Verhltnis zur Philosophie“ entwickelt hat. Die Kapitel des ersten Buches befolgen die Lehren, nicht sophistisch-manieriert zu schreiben,158 sich auf „die fr das Leben notwendigen Leitideen“ zu konzentrieren159 und damit der Einfachheit der Philosophie Ausdruck zu verleihen.160 Insofern ist das erste Buch mehr als nur die Nennung von Tugenden, die dann in den folgenden Bchern thematisiert und angemahnt werden. Mit der Form, dem stereotypen 152 Auf die ntzlichen Worte (wqe?ai) und Lehrstze (cm_lai) wird noch gesondert einzugehen sein. 153 Siehe hierzu die wichtige Arbeit: Dçring, K.: Exemplum Socratis, Wiesbaden 1979. 154 Siehe M. Aur. Med. 1, 7. 155 Arr. Epict. diss. 4, 1, 169. Ob Sokrates fr Epiktet wichtiger war als fr andere Stoiker ist nicht leicht zu entscheiden, da die Quellenlage oft kein sicheres Urteil zulsst. In den Studien von Bonhçffer wurde dies jedoch vernachlssigt, daher siehe jngst: Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., Kap. 3. 156 Siehe M. Aur. Med. 11, 25 und 28. 157 M. Aur. Med. 1, 16. 158 Siehe M. Aur. Med. 1, 7. 159 Siehe M. Aur. Med. 1, 9. 160 Siehe M. Aur. Med. 1, 14.
78
2. Das erste Buch
Satzbau, und dem Inhalt, den Vorbildern fr den Tugenderwerb, des ersten Buches wird bereits deutlich, wie sehr Marc Aurel seinen Vorbildern gefolgt ist. Und zwar so weit und so konsequent, dass sein Text ohne Vorbild in der Literatur vor ihm ist. Die im ersten Buch genannten Tugenden stellen einerseits Ideale dar, die Marc Aurel noch in seinem Leben erreichen mçchte. Als solches weisen sie ber den Text hinaus, weil er fordert, sie im Leben, z. B. im Umgang mit den Freunden, zu realisieren. Andererseits erwhnt das erste Buch eine Reihe von Eigenschaften oder Vorzgen, die Marc Aurel offensichtlich versuchte zu verwirklichen, indem er die Selbstbetrachtungen schrieb. Es sind vor allem die erwhnten geistigen Tugenden des ersten Buches, die helfen, den Text der weiteren Bcher zu verstehen. Die sprachliche Gestaltung entspricht im Großen und Ganzen den im ersten Buch geforderten Kriterien, wie dem Verzicht auf Belehrungen, Beachtung der Einfachheit des Stils, wobei es aber gilt, wie Alexandros, Wçrter geschickt ins Gesprch zu bringen – in Form einer Antwort, Besttigung oder einer gemeinsamen berlegung ber die Sache selbst, nicht ber die Formulierung, oder mit Hilfe einer anderen beilufigen, aber angemessen Bemerkung dieser Art.161
Die Selbstbetrachtungen sind Marc Aurels Versuch, die wenigen Grundgedanken, die bereits in Form der Tugendauflistung im ersten Buch anklingen, immer wieder durch verschiedene „ntzliche Worte“ hilfreich einzusetzen. Dies erklrt, warum die Selbstbetrachtungen Themenfelder und Argumente wiederholen, weil sie auf dieselben Tugenden des Autors abzielen. Dafr werden viele und z. T. rhetorisch verschiedene Anlufe unternommen. Dabei ist bemerkenswert, wie sehr sich Marc Aurel auf die Sache selbst, die Selbstsorge, konzentriert.162 Dies entspricht ferner seiner noch zu behandelnden physikalisch-analytischen Methode, die darauf abzielt zu erkennen, was ein Ding ohne unsere nicht naturgemßen Vorstellungen von Natur ist.163 Manche kurze Formulierung, deren weitere Bedeutung im ersten Buch schwer verstndlich ist, erklrt sich durch die Elaborierung in den folgenden Bchern. So bewundert Marc Aurel Maximus dafr, „dass er es 161 M. Aur. Med. 1, 10. Zum Stil der Bcher 2 – 12 siehe Kap. I 5. 162 Dies entspricht auch seiner analytischen Methode (siehe Kapitel II 4.3 dieser Untersuchung), die darauf abzielt zu erkennen, was ein Ding seiner Natur nach ist, ohne unsere nicht naturgemßen Vorstellungen. 163 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 11; 9, 38; 5, 48; 6, 13; 8, 24; 9, 19; 11, 2. Siehe dazu ausfhrlich Kap. II 5.3.
2.3 Zur Bedeutung des ersten Buches fr die Selbstbetrachtungen
79
schaffte, nie ber etwas zu staunen und zu erschrecken“.164 Spter wird deutlich, dass fr Marc Aurel alle Vorgnge im Kosmos immer gleich(artig) sind, sich wiederholen und vorherbestimmt sind: Alles, was geschieht, ist so vertraut und bekannt, wie die Rose im Sommer und das Obst im Herbst. Dasselbe gilt auch fr Krankheit, Tod, Verleumdung, Intrige und was sonst noch die Toren erfreut oder schmerzt.165
Bereits im ersten Buch legt Marc Aurel in verschiedenen Formulierungen auf die Ausgeglichenheit des Charakters Wert.166 Dazu gehçrt es, kontrre Eigenschaften zu vereinen.167 Das Motiv, Bestndigkeit und Ausgewogenheit in den Regungen und Handlungen zu erzielen, scheint den gesamten Selbstbetrachtungen zugrunde zu liegen. Dass Marc Aurel anstrebt, die Einheit seiner Person und seiner geistigen wie praktischen Ttigkeiten sicherzustellen, wird nicht nur explizit gemacht.168 Viele Kapitel lassen sich danach gruppieren, welche Gemtsregung in ihnen – auch in einem therapeutischen Sinne – behandelt wird. Auffllig ist, dass Marc Aurel versucht, mit gegenstzlichen Gefhlen umzugehen: Einerseits scheint er einen großen berdruss gegenber dem Leben zu spren, das er als gleichfçrmig und beraus wertlos empfindet.169 Andererseits betont er die 164 M. Aur. Med. 1, 15. 165 M. Aur. Med. 4, 44 (ebenso z. B. 2, 3 und 14; 4, 25; 5, 8). 166 t¹ jakºgher ja· !ºqcgtom (M. Aur. Med. 1, 1), t¹ !e· floiom (M. Aur. Med. 1, 8), t¹ blak³r ja· eutomom 1m t0 til0 t/r vikosov¸ar (M. Aur. Med. 1, 14), t¹ eujqatom toO Ehour (M. Aur. Med. 1, 15). 167 „sowohl ußerst tatkrftig, als auch frçhlich und gelçst“ (M. Aur. Med. 1, 8), „einerseits zwar vçllig frei von Leidenschaft, andererseits aber ein ußerst liebevoller Mensch zu sein“ (M. Aur. Med. 1, 9), Strenge und Nachsicht, dass Pius „gleichermaßen zum Verzicht wie zum Genuss der Dinge fhig war, auf die zu verzichten viele Menschen zu schwach sind und bei deren Genuss sie keine Hemmungen kennen. Doch in beidem stark zu sein, … ist Kennzeichen eines Mannes, der einen aufrechten und unbezwingbaren Charakter bewhrt.“ (M. Aur. Med. 1, 16). 168 „’Wer nicht immer ein und dasselbe Lebensziel hat, der kann auch nicht whrend seines ganzen Lebens ein und derselbe sein.’…. Wer nmlich sein ganzes Sinnen und Trachten darauf richtet, der wird alle seine Taten mit der gleichen Zielsetzung verrichten und in diesem Sinne stets derselbe sein.“ (M. Aur. Med. 11, 21). 169 „Wie dir das Baden, das l, der Schweiß, der Schmutz, das fettige Wasser und alles sonst ekelhaft erscheint, so auch jeder Teil des Lebens und jeder Gegenstand.“ (M. Aur. Med. 8, 24), „Wie dir alles, was sich im Amphitheater und an hnlichen Orten abspielt, zuwider ist, da man immer dasselbe sieht und die Eintçnigkeit das Zuschauen unertrglich werden lsst, so musst du auch sonst im Leben empfinden. Denn alles ist in seinem Auf und Ab dasselbe aus demselben. Bis wann denn?“ M. Aur. Med. 6, 46 (siehe ferner 4, 48; 8, 24; 9, 36; 10, 10 und 19).
80
2. Das erste Buch
Mçglichkeit, in einem schçnen Leben170 heiter171 und glcklich172 sein zu kçnnen. Sein Bestreben nach Ausgeglichenheit173 und Konsistenz des Charakters spiegelt die Einheit der drei stoischen Philosophieteile als Einheit der Lebensfhrung wider. Zusammenfassend lsst sich sagen: Das erste Buch kann als eine Einfhrung in die Themen und Tugenden gelesen werden, die den Inhalt der kommenden Bcher bestimmen. Das erste Buch wird durch das Bemhen, sich die moralischen und geistigen Merkmale seiner Vorbilder zu eigen zu machen, bestimmt. Es ist nicht zuletzt deshalb ein einmaliges Textstck, weil Marc Aurel fr all dies eine eigene Form findet. 2.4 Aspekte des ersten Buches im Lichte vorheriger Literatur Dass Marc Aurel sich bei der Verwendung von Vorbildern an bereits fr ihn lterer Literatur orientiert, ist ebenfalls ein zeitgençssisches Phnomen. Zur sog. Zweiten Sophistik oder dem Philhellenismus gehçrt nicht nur ein archaischer Stil, sondern auch der Rekurs auf Vergangenes, um die gegenwrtige Lebensfhrung zu kritisieren. Inhaltlich verbindet sich damit oft eine Kritik am Luxusleben. Marc Aurel wird in einem Umfeld erzogen, das eine große Vorliebe fr exemplarische Figuren hat. Dies beginnt bei den zahlreichen Statuen und Bildern, die Rom nicht nur schmcken, sondern seine Brger beeindrucken und erziehen soll. In Grabreden wird ein Bild des Verstorbenen gezeichnet, das ihn als Vorbild charakterisiert, so dass eine erziehende Funktion beabsichtigt ist.174 Redner und Literaten verknpfen mit der Personenbeschreibung eine moralische Erziehung.175 Die Literatur und Geschichtsschreibung wird durch diese Absicht teilweise bis hin zur Stereotypbildung geprgt.176 170 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 2; 6, 36. 171 Siehe M. Aur. Med. 2, 3; 2, 17; 3, 16; 6, 37; 6, 48; 5, 33; 8, 45; 8, 47; 10, 36; 12, 3; 12, 36. 172 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 9; 6, 7; 7, 13; 7, 74; 8, 26; 11, 4; 10, 33; 12, 29. 173 Siehe das Kap. II 5.4. 174 Siehe Polyb. 6, 53 f. 175 Siehe Cic. Brut. 322; Tac. Ann. 3, 65. Siehe Williams, G.: Tradition and Originality in Roman Poetry, Oxford 1968, S. 616 – 633. 176 Siehe Wiseman, T. P.: Clio’s Cosmetic, Leicester 1979, Kap. 1 – 4; Fornara, C. W.: The Nature of History in Ancient Greece and Rome, Berkeley/Los Angeles 1983, S. 106 – 120; Walker, B.: The Annals of Tacitus, Manchester 1952, Kap. 10 – 12.
2.4 Aspekte des ersten Buches im Lichte vorheriger Literatur
81
Obschon in der Zeit Marc Aurels eine Vorliebe fr solche paradigmatischen Erzhlungen mit erziehender Absicht vielleicht besonders verbreitet ist, sind solche Exempel so alt wie die antike Kultur selbst. Bereits Homer gibt Gesnge wieder, die von einer mythischen Vergangenheit berichten. Homer war nicht nur der Lehrtext fr die Spracherziehung, sondern er wurde auch normativ gelesen: Hinter dem ew k´ceim der Dichtung verbirgt sich der Anspruch auf ein ew vqome?m, so dass hier formale und inhaltliche Aspekte zusammenfallen.177 Der Vortrag der Snger dient nicht nur dem sthetischen Genuss, sondern auch der Erziehung. Platons Dichterkritik setzt genau hier an:178 Die Figuren Homers sind fr ihn nicht mehr von exemplarischem Wert. Der Umstand, dass Marc Aurel im ersten Buch vornehmlich und gehuft Eigenschaften auflistet, hat einen Vergleich mit Theophrasts Charakteren stimuliert.179 Sicher kannte Marc Aurel Theophrasts Schriften, da er sie andernorts zusammenfasst. Gegen diesen nur groben Vergleich ist eingewandt worden, Theophrast schildere Typen und Verhaltensweisen, whrend es Marc Aurel um individuell geprgte Menschen und deren Lehren gehe.180 Dieser Kritik an dem Vergleich ist grundstzlich zuzustimmen, obschon Marc Aurel in einigen Kapiteln die Menschen gar nicht individuell zeichnet oder gar keine Lehren erwhnt, sondern, wie oben gezeigt, geradezu typologische Handlungsweisen erwhnt. Entscheidend fr die Differenz zu Theophrast drfte sein, dass Marc Aurel die Exempelfunktion betont und sich dabei ganz auf bestimmte, durch seine Philosophie vorgegebene Eigenschaften und Tugenden konzentriert. Im Unterschied zu den fiktiven Typen Theophrasts sind die Exempel des ersten Buches
177 178
179 180
Diese und weitere Angaben bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 52 und 54. Siehe Kube, J.: TEXNH und APETH, Sophistisches und platonisches Tugendwissen, Berlin 1969, S. 127. Siehe zum Anspruch der Snger, handlungslenkend zu sein, etwa Platons Ion. Der Rhapsode wird nach seinem spezifischen Wissen gefragt und antwortet: „Was einem Manne zu sprechen ziemt (û pq´pei), glaube ich, und was einer Frau, was einem Knechte und was einem Freien, was einem Gehorchenden und was einem Gebietenden.“ Pl. Ion 540a-b. Mit dem pq´pom ist eben nicht nur der formale Aspekt der Rede gemeint, sondern auch ein allgemeiner Verhaltensaspekt (siehe Diller, H.: Probleme des platonischen Ion, in: Hermes 83 (1955), S. 171 – 193, hier: S. 185; van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., S. 39 f.). Siehe Drr, K.: Das erste Buch der Selbstbetrachtungen des Kaisers Marcus Aurelius Antoninus, in: Gymnasium 49 (1938), S. 64 – 82. Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 5.
82
2. Das erste Buch
dennoch reale Individuen, die zu Marc Aurel in einer konkreten Relation stehen, weshalb er sich an sie erinnern kann. Durch das Schreiben wird diese erinnerte Verbindung erneuert, so dass sich ebenfalls die Mahnung, die genannten Eigenschaften zu realisieren, wiederholt. Besteht fr den Autor oder den Leser der Charaktere Theophrasts eine solche Verbindung? Die Erinnerung an die Lehren konkreter Vorbilder findet sich auch bei Hesiod181 und dann bei Isokrates, z. B. in der Lobschrift auf Euagoras und der Rede an Demonikos. Obschon Isokrates stellenweise allgemein zur Nachahmung von guten Vorbildern aufruft,182 konzentriert er sich auf eine bestimmte Gruppe von Exempeln: die Vorfahren.183 Marc Aurel erwhnt die Vorfahren jedoch nur ganz kurz. Selbst wenn Marc Aurel sich die Schriften von Hesiod und Isokrates nicht zum Vorbild gemacht hat, zeigt dies, dass die Charakterisierung von Vorfahren und Lehrern durch ein aktuelles, erziehenden Motiv begrndet werden kann und dass somit auch keine rckblickende Lebensoder Bildungsgeschichte vorliegt. Es geht Marc Aurel im ersten Buch nicht darum, etwas zu erzhlen. Isokrates’ Euagoras liefert noch weitere Hinweise: Einer Lobrede (1cj¾liom) im Sinne eines Portrts kommt im ersten Buch nur der lange Eintrag zu Pius nahe.184 Damit wird zugleich ein guter Herrscher gelobt (basikij¹r kºcor)185 oder sein Gegenstck, der Tyrann, kritisiert.186 Schon 181 Siehe Hes. Op. 631 ff. 182 Siehe Isoc. 2, 38; 3, 61. 183 Siehe Isoc. 1, 20; 9, 73 – 79. Weitere Stellen bei Dalfen, der die Bezge erstmalig genannt hat (siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 9), z. B.: Theognis 27 f., bei dem der Personenkreis wieder ber die Vorfahren hinausgeht. 184 Siehe M. Aur. Med. 1, 16. Xenophons‘ Agesilaos zeigt ebenfalls einige Aspekte einer solchen Lobrede. 185 Siehe Hom. Od. 19, 109 f. und Hes. Op. 225 ff. Zum Kçnigslob und den entsprechenden Redeformen siehe Burgess, T. C.: Epideictic Literature, Chicago 1902, S. 113 ff.; Murry, O.: Peri Basileias, Oxford 1970. Weitere zahlreiche Literaturangaben, die den Hintergrund fr entsprechende Passagen des ersten Buches der Selbstbetrachtungen bilden, liefert Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 54 f. 186 Bereits im Kapitel zu Fronto (1, 11) klang mit der Kritik an tyrannischer Verleumdung, Verschlagenheit und der Lieblosigkeit der rçmischen Adeligen Politisches an. Das Proçmium zu Senecas De Clementia nennt in der ersten Zeile Kaiser Nero und zeigt somit die politische Relevanz des Charakters, besonders wenn es sich um Regierende handelt. Siehe dazu Griffin, M. T.: Seneca: A Philosopher in Politics, Oxford 1976, Kap. 3, 4 und 6.
2.4 Aspekte des ersten Buches im Lichte vorheriger Literatur
83
vor dem Eintrag zu Pius erwhnt Marc Aurel sein politisches Ideal, denn, durch Severus vermittelt, bekam er eine Vorstellung von einem Staat, in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben und der im Sinne der Gleichheit und allgemeinen Redefreiheit verwaltet wird, und von einer Monarchie, die vor allem die Freiheit der Brger achtet.187
Eine Reihe von Pius’ Eigenschaften ist politischer Natur. Pius war, so Marc Aurel, am Gemeinwohl interessiert, schaffte die Knabenliebe ab, nahm sich Zeit fr grndliche Beratungen, orientierte sich weder an den Schmeicheleien am Hofe, noch der Begeisterung der Massen, er war traditionsbewusst, hielt sich dabei jedoch nicht sklavisch an die berlieferungen und bertrieb weder Bauttigkeit noch das Ausrichten von Festen. Die politischen Implikationen dieser und anderer genannter Eigenschaften sind nicht in allen Fllen offenbar. Marc Aurel scheint Pius so zu beschreiben, dass positive Unterschiede zu den Vorgngern deutlich werden. Fr solche impliziten Vergleiche spricht, dass Fronto in einem Brief an Marc Aurel Hadrian so offen kritisiert, indem er ihn mit Pius vergleicht, dass der Schluss erlaubt ist, auch der Empfnger teile diese Ansicht.188 Ferner fordert Marc Aurel sich auf, Vergleiche anzustellen: „wenn du auf dich selbst blickst, stell dir irgendeinen der Kaiser vor und bei jedem entsprechendes“.189 Hadrians Name wird in den Selbstbetrachtungen jedoch nur erwhnt, um die Vergnglichkeit von Leben und Ruhm zu verdeutlichen. Nero wird als wildes Tier und Schwchling kritisiert.190 Herrschende werden von Marc Aurel mit Philosophen verglichen, um sie als unfrei zu charakterisieren.191 Es kann hier kein umfangreicher Vergleich auf die epikureische Tradition erfolgen. Eine kurze Bemerkung, dass es dort eine Reihe von Texten gibt, in denen der Autor ber seine Freunde und ihre Eigenschaften Auskunft gibt, muss hier leider gengen.192 Epikur hat solche Texte ber 187 188 189 190 191
M. Aur. Med. 1, 14. Siehe Fronto Ep. 1, 110. M. Aur. Med. 10, 31. Siehe M. Aur. Med. 3, 16. „Was sind aber Alexander, Gaius und Pompeius im Vergleich mit Diogenes, Heraklit und Sokrates? Denn diese Mnner haben die Dinge, wie sie wirklich sind, ihre Ursachen und Voraussetzungen gesehen, und das leitende Prinzip ihrer Seele war vçllig unabhngig. In wie vielen Dingen zeigte sich bei jenen aber Unwissenheit und Abhngigkeit?“ M. Aur. Med. 8, 3. 192 Ich danke Geert Roskam fr diesen Hinweis.
84
2. Das erste Buch
seinen Freund Metrodorus und ber seine Brder Aristobulus und Chaeredemus verfasst. Auch aus spterer Zeit sind solche Texte aus der epikureischen Tradition bekannt.193 Nun aber zu den in Frage stehenden Eigenschaften im 16. Kapitel des ersten Buches:194 Die Abschaffung der Knabenliebe durch Pius kontrastiert mit den Berichten ber sexuelle Praktiken einiger seiner Vorgnger.195 Pius war in Maßen traditionsbewusst, wohingegen ber Caligula, Nero und Hadrian Gegenteiliges berichtet wird.196 Anders als Hadrian ehrte Pius die Freundschaft.197 Seine Badezeiten waren normal, whrend Caligula und Nero diesbezglich exzentrisch waren.198 Die bescheidene Bauttigkeit mag eine Anspielung auf Nero199 und Hadrian200 sein und die Fhigkeit zur Beschrnkung der kçrperlichen Lste auf die notorisch ppigen Gelage der Vorgnger201 (Marc Aurel selber hat wohl ußerst selten und wenn dann karge Nahrung zu sich genommen.)202 Insgesamt nimmt sich Marc Aurel Pius zum Vorbild, eine weniger prunkvolle Lebensfhrung als die vorherigen Kaiser anzustreben. Selbst unter Bercksichtigung der sich unmittelbar auf Politisches beziehenden Aussagen ist zu konstatieren, dass Marc Aurel nahezu keine konkreten Vorstellungen ber die machtpolitische, juristische oder strategische Ausgestaltung seines Prinzipats entwickelt. Dennoch schreibt er hier nicht als Privatmann.203 Zum einem ist die Nennung von vermeintlich rein moralischen Eigenschaften gerade im Falle eines rçmischen Kaisers wichtig. Denn sein 193 Z. B. von Philodemus oder Carneiscus (Philistas). 194 Auf die folgenden Zusammenhnge hat Farquharson in seinem Kommentar aufmerksam gemacht, die beste Sammlung an Belegstellen findet sich jedoch bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 107 ff. 195 Siehe HA Hadr. 4, 5 und 14, 5 f. 196 Cass. Dio 69, 5 – 6 und 23. (Siehe dazu Millar, F.: A Study of Cassius Dio, Oxford 1967, S. 60 ff.). 197 Siehe HA Ant. P. 15, 1 ff.; 16, 8 ff. 198 Philo Leg. 14; Suet. Nero 27. 199 Suet. Nero 31. 200 Siehe HA Hadr. 7 und 19. Zu Hadrians Bauprogramm in Rom siehe neben der weiteren Quelle Cass. Dio (69, 7) die umfassende Studie von Boatwright, M. T.: Hadrian and the City of Rome, a.a.O. 201 Siehe Suet. Vit. 13, 16. 202 Siehe Fronto Ep. 1, 180 – 2; 2, 18. 203 Die These wurde bereits mit anderen Grnden kritisiert (siehe Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 169 ber Fears, J. R.: Princeps a diis electus, Rom 1977, S. 190).
2.4 Aspekte des ersten Buches im Lichte vorheriger Literatur
85
Charakter (oder wenn man will: seine Launen) konnte(n) sowohl fr diejenigen Beherrschten, die direkten Umgang mit ihm hatten, als auch solche in entfernten Provinzen gravierende Folgen haben. Zum anderen ist das Politische selbst ohne explizite Nennung bei Marc Aurel immer mitgedacht: Generell ist jeder Mensch qua seiner Natur zweifach politisch, und zwar als Brger des Kosmos und Brger einer menschlichen Gemeinschaft.204 Etwas spezifischer politisch ist Marc Aurels Ethik, der zufolge eine Handlung gut ist, wenn sie dem Gemeinwohl dient. Die entsprechende Pflichterfllung wird im ersten Buch betont und gerade Pius wird als jemand beschrieben, der sehr sorgfltig politische Entscheidungen traf, und zwar unabhngig davon, ob jemand von hohem Ansehen davon betroffen war oder nicht. Auch eine solche Beschreibung zeugt davon, dass Marc Aurel hier bereits aus stoischer Perspektive schreibt. Indem er sich Pius mit den genannten Charaktereigenschaften zum Vorbild nimmt, bestrkt er sich, seine in einem engeren Sinne politischen Aufgaben als Herrscher sehr ernst zu nehmen. In vielen weiteren Kapiteln der folgenden Bcher treibt Marc Aurel sich an, seine Pflicht zu tun und das heißt fr ihn, seine enorme Arbeitsleistung als Kaiser bei gleichzeitiger Freundlichkeit aufrecht zu erhalten. Die Tugenden eines Herrschers spielen in einem anderen Werk, das Marc Aurel als regelrechte Vorlage gedient haben soll, eine berragende Rolle:205 Obschon er Xenophons Kyrupaideia und besonders das erste Buch nicht erwhnt, drfte er den Text gekannt haben. Dafr gibt es Indizien: die Verwendung einiger Wçrter und eine Passage im Briefwechsel mit Fronto, die als Anspielung auf Xenophons Text verstanden werden kann. Was den Aufbau der Bcher angeht, lassen sich einige hnlichkeiten feststellen, so etwa die Reihenfolge derjenigen, denen fr Lehren gedankt wird.206 Xenophon verwendet in zwei kurzen Passagen eine Reihung ste204 Siehe Kap. II 3.2.2. 205 So die ausfhrlich begrndete These von Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 12 – 32, die hier wiedergegeben wird. 206 Die vielen Differenzen in der Abfolge der Themen und Danksagungen werden von J. Dalfen bemerkt und alle durch die besondere Situation Marc Aurels erklrt. Deshalb aber bestehen sie nicht minder. Fr die Reihenfolge der Danksagungen im ersten Buch der Selbstbetrachtungen kçnnte auch Platons Menon Vorbild gewesen sein. Thematisch kreist der Dialog ebenfalls um die Frage nach dem Tugenderwerb. Zunchst wird die Abstammung in Form der Vorfahren fr den Besitz der Tugend verantwortlich gemacht (siehe Pl. Mn. 70a-71a). Die Lehrer der Tugend werden anhand der Frage, ob sie lehrbar sei,
86
2. Das erste Buch
reotyper Satzkonstruktionen. Thematisch kreisen beide Bcher um die Erziehung eines Regenten, indem fr Erziehung wesentliche Einflsse anderer Personen geschildert werden. Neben diesen Parallelen gibt es aber Differenzen: Xenophons Anliegen ist politisch in einem engeren Sinne, wie das erste Kapitel des ersten Buches zeigt. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach der Herrschaft. Die wesentlichen Stationen der Erziehung eines Herrschers zu schildern, ist Mittel zum Zweck, weil Xenophon der Ansicht ist, der Wechsel und die Qualitt von Herrschern und Verfassungsformen erklre sich aus den persçnlichen Eigenschaften des Herrschers. Fr Marc Aurel ist die Frage nach dem Tugenderwerb eigenstndig und initial. Whrend Xenophon von der Frage nach der Herrschaft zur Frage nach den Tugenden kommt, ist der Weg fr Marc Aurel genau anders herum. Die Frage nach der Tugend hat politische Implikationen, die nicht immer expliziert werden.207 Ferner gibt Marc Aurel in keinem einfhrenden Kapitel den Zweck des gesamten Werkes an. Sein Stil ist nicht detailreich erzhlend, er verzichtet auf allgemeine Ausfhrungen zur Erziehung, wie Xenophon sie im zweiten Kapitel des ersten Buches macht. All dies lsst sich nicht alleine durch den Umstand erklren, dass Marc Aurel fr sich allein schreibt. Es hat bereits viel mit seinem Stoizismus zu tun, den er bereits im ersten Buch umsetzt, indem er die entscheidenden Tugenden nicht nur auflistet, um sie sich vor Augen zu fhren, sondern auch, um sie bereits beim Schreiben anzuwenden. Daraus ist nicht zu schließen, dass Marc Aurel Xenophons Schrift nicht kannte und diese Kenntnis nicht einige wesentliche Aspekte seines ersten Buches erklrt. Dem Leser beider Schriften wird jedoch deutlich, dass Marc Aurel nicht so etwas wie Xenophons erstes Buch der Kyrupaideia schreiben wollte, sondern etwas philosophisch, d. h. praktisch Bedeutsames. Dies erklrt auch die formalen Unterschiede. Zusammenfassend lsst sich Folgendes sagen: Marc Aurel schreibt mit dem ersten Buch einen philosophisch motivierten Text. Dessen thematische und formale Aspekte sind nicht ohne Parallelen in der vorherigen Literatur. Vergleiche kçnnen aber immer nur sehr beschrnkt Vorlufer und dem Sklaven-Exempel thematisiert (siehe Pl. Mn. 80dff.), um dann – genau wie im Falle des Kapitels ber Pius – wieder zur Erziehung durch die Eltern mit politischen Implikationen zurckzukehren (vgl. Pl. Mn. 92e-94c). Und wie bei Marc Aurel findet sich zum Schluss eine Danksagung an die helfenden Gçtter, ohne die Tugend nicht mçglich sei (siehe Pl. Mn. 99e-100c). 207 Pflichterfllung ist zwar immer politisch, weil sie am Gemeinwohl orientiert, jedoch nicht notwendig mit politischen mtern, wie dem des Kaisers, verknpft ist.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
87
einzelner Elemente oder Perspektiven aufzeigen. Im Ganzen bleibt der Eindruck, dass es sich um einen hçchst originellen Text handelt. Da Marc Aurel im ersten Buch eine Reihe von Informationen ber seine Erziehung und Bildung in chronologischer Reihenfolge niederschreibt, ist gerade das erste Buch als Anhaltspunkt fr die These genommen worden, Marc Aurel schreibe der Gattung nach eine Autobiographie. Dies ist nun in einem gesonderten Kapitel zu untersuchen. Denn erstens beginnt damit derjenige Abschnitt der formalen Untersuchung, in dem die verschiedenen Gattungen, denen die Selbstbetrachtungen zuzuordnen sind, behandelt werden. Und zweitens bezieht sich bereits die These vom autobiographischen Charakter auf alle zwçlf Bcher. Daher soll die Untersuchung des ersten Buches hier abgeschlossen werden. Da es nicht nur ein bildungsgeschichtlicher Epilog ist, der die entscheidenden Themen bereits nennt, wird immer wieder darauf zu verweisen sein.
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen Die Aspekte frherer Literatur werden in den folgenden Kapiteln bewusst ungleich intensiv und ausfhrlich behandelt. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass viele formale Aspekte der Selbstbetrachtungen – im Vergleich zu den Inhalten – gut untersucht sind. Dennoch scheint eine erneute Betrachtung der formalen Aspekte insofern nçtig, als die Formalia oft nicht im Zusammenhang mit Inhalt und Absicht der Selbstbetrachtungen erçrtert wurden. Wnschenswert ist dies auch dort, wo bestehende Analysen des Formenbestandes nicht gengend gewrdigt wurden.208 3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie? Autobiographische Texte sind Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlicher und historischer Studien.209 Der lteren Forschung gilt Au208 Die Dissertation von J. Dalfen ist nicht verlegt und vielleicht daher unzureichend bercksichtigt worden. Hadot etwa gibt nur einen Hinweis auf die Arbeiten von Dalfen (und Rutherford), ohne davon viel Gebrauch zu machen. 209 Einen guten berblick ber die weitverzweigte Forschung geben die Beitrge und die geordnete Bibliographie in Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998.
88
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
gustinus als Verfasser der ersten Autobiographie im modernen Sinne.210 Schon aus diesem Grunde ist es nicht erstaunlich, dass den philosophischen Aspekten Aufmerksamkeit zu Teil wurde.211 Die Selbstbetrachtungen sind unter autobiographischer Perspektive zweimal eingehender untersucht worden.212 Was ist eine Autobiographie? Die definitorischen Schwierigkeiten, die sich um die Autobiographie ranken, sind bekannt und werden als solche anerkannt. Hier kann es nicht vorrangig darum gehen, sie umfassend darzustellen oder gar zu lçsen, um die Selbstbetrachtungen zufriedenstellend zu kategorisieren. Fr die hiesigen Belange ist es wichtiger zu fragen, ob ein solcher Versuch interessante Ergebnisse bezglich Abfassung, Anliegen oder Argumentation der Selbstbetrachtungen liefert. Die Untersuchung antiker Texte unter dem autobiographischen Gesichtspunkt hat große Fortschritte gemacht.213 Das gewachsene Bewusstsein, dass es sich bei der Autobiographie als Gattung um ein Konstrukt des
210 Nach den Confessiones von Augustinus werden die Confessions von Rousseau und Goethes Dichtung und Wahrheit als klassische Autobiographien angefhrt. So Zeller, E.: Die Autobiographie. Selbsterkenntnis und Selbstentblçßung, Mainz 1995; Gusdorf, G.: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, a.a.O., S. 121 – 147. 211 Grundlegend ist die Arbeit von W. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. VII (hg. von B. Groethuysen), Leipzig 1927. Siehe dazu Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 178 – 203 und Flach, W.: Die wissenschaftstheoretische Einschtzung der Selbstbiographie bei Dilthey, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 52 (1970), S. 172 – 186. Einschlgig ist neuerdings Thom, D.: Erzhle Dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Mnchen 1998. 212 Siehe Misch, G.: Die Geschichte der Autobiographie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1949 – 1969. In seiner Dissertation erwhnt, aber verwirft Dalfen 1967 Mischs Annahme, die Selbstbetrachtungen seien keine Autobiographie, weil das narrative Moment fehle: „Von eigenen Taten und Schicksalen Marc Aurels – fr eine Biographie doch eminent interessante Fakten – wird nicht gesprochen.“ (Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen, a.a.O., S. 5). Schließlich vertritt er – mit guten Grnden – die These, das Erzhlen sei nicht essentiell und Marc Aurel habe eine Autobiographie verfasst (siehe Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, a.a.O.). Wichtige Bemerkungen bei: Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 49 f. und in Baslez, M.-F./Hoffmann, P./Pernot, L. (Hg.): L’invention de l’autobiographie, d’Hesiode St. Augustin, Paris 1993. 213 Siehe jngst Reichel, M. (Hg.): Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Kçln/Weimar/Wien 2005.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
89
ausgehenden 18. Jahrhunderts handelt,214 ermçglichte einen unbefangeneren Blick auf antike Texte. Statt nach der antiken Autobiographie zu suchen, wurde rege diskutiert, wie viel Autobiographisches in einer großen Vielfalt von antiken Textformen und Autoren ausgemacht werden kann, so etwa in der frhen griechischen Dichtung, bei Xenophon, in den Briefen von Platon, Cicero oder Plinius, bei einem Vorgnger Marc Aurels, bei Hadrian.215 Dennoch ist festzuhalten, dass Autobiographisches in der Antike nicht besonders populr war. Aussagen ber sich selbst werden sowohl bei Aristoteles als auch Plutarch verurteilt.216 Unklar ist bereits, welchen Erfordernissen eine Definition der Gattung der Autobiographie gengen soll: Muss ein Text vom Standpunkt des heutigen Lesers als solche gelten217 oder fr das vom Autor intendierte Publikum?218 Mit der Entscheidung fr die zweite Variante lassen sich die Selbstbetrachtungen kaum noch als Autobiographie einordnen, denn Marc Aurel hat nicht in erster Linie fr ein Publikum geschrieben noch kannte er die literarische Gattung der Autobiographie oder wollte sie „erfinden“. Dies gilt unabhngig von der Frage, ob er sich als eigener innerer Adressat und somit als eigenes Publikum ansah. Gerade fr den Fall der Selbstbetrachtungen bleibt demnach nur der Weg, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was als Autobiographie gelten kann, um dann zu sehen, ob der Text entsprechende Charakteristika aufweist.219 Folgende Definition von Ph. Lejeune eignet sich als Aus-
214 Niggl, G.: Zur Theorie der Autobiographie, in: Reichel, M. (Hg.): Antike Autobiographien, a.a.O., S. 1 – 14. 215 Siehe das Spektrum der Beitrge in den gerade genannten neueren Sammelbnden von Reichel, M. (Hg.): Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, a.a.O. und Erler, M./Schorn, St. (Hg.): Griechische Biographie in hellenistischer Zeit, Berlin 2007. 216 Siehe Arist. Eth. Nic 1125a5 ff. und Plutarchs De laude ipsius 539a, 541a. Siehe dazu Erler, M.: Philosophische Autobiographie am Beispiel des 7. Briefes Platons, in: Reichel, M. (Hg.): Antike Autobiographien, a.a.O., S. 75 – 92. 217 So Lejeune, Ph.: Der autobiographische Pakt, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie, a.a.O., S. 214 – 257. 218 So die These von Bruss, E. W.: Die Autobiographie als literarischer Akt, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie, a.a.O., S. 258 – 283. 219 Die Definition der Gattung „Autobiographie“ von der Bestimmung des Autors in Bezug auf sein Publikum abhngig zu machen, heißt anzunehmen, dass es keine allgemeine Bestimmung gibt. Eine solche brauchen wir jedoch, um Unterschiede zwischen Texten innerhalb einer Gattung festzustellen. Andernfalls wrde die Besonderheit einer bestimmten Autobiographie unerkannt bleiben.
90
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
gangspunkt, weil sie eine der ganz selten kompakten Formulierungsversuche ist und zugleich die wesentlichen Elemente nennt: Rckblickender Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person ber ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persçnlichkeit legt.220
Weit ber Lejeune hinausgehend, kann seine Definition zum Ausgangspunkt fr die verschiedenen kategorialen Aspekte gemacht werden: (i) Form Die Autobiographie ist keine Literaturgattung wie viele andere, weil keine formalen Charakteristika fr sie spezifisch sind.221 Daraus folgt erstens, dass die folgenden Kriterien umso wichtiger sind. Zweitens folgt daraus nicht, dass formale und stilistische Fragen unbedeutend wren. Im Gegenteil: Je freier ein Autor bei der Wahl der stilistischen Mittel ist, desto mehr sagt seine Wahl etwas ber sein Verhltnis zu seinem Stoff aus, im Falle der Autobiographie demnach, wie er sich selber sieht, sehen mçchte oder sprachlich „behandelt“. (ii) Relation von Autor und Erzhler (a) Der Autor muss auch der Erzhler sein. (b) Der Erzhler muss mit der Hauptfigur identisch sein.222
220 Lejeune, Ph.: Der autobiographische Pakt, a.a.O., S. 215. 221 „Gebet, Selbstgesprch und Tatenbericht, fingierte Gerichtsrede oder rhetorische Deklamation, wissenschaftlich oder knstlerisch beschreibende Charakteristik, Lyrik und Beichte und literarisches Portrt, Familienchronik und hçfische Memoiren, Geschichtserzhlung rein stofflich, pragmatisch, entwicklungsgeschichtlich oder romanhaft, Roman und Biographie in ihren verschiedenen Arten, Epos und selbst Drama – in all ihren Formen hat die Autobiographie sich bewegt“. Misch, G.: Geschichte der Autobiographie, a.a.O., S. 6. Obschon im Rekurs auf die folgenden Kriterien vieles in Mischs Auflistung von der Autobiographie unterschieden wurde, gibt es noch immer keine Definition, die bestimmte formale Charakteristika fr spezifisch erklrt. Auf die Versuche, die Autobiographie von nahe stehenden Gattungen oder autobiographischem Schreiben abzusetzen (siehe Aichinger, I.: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie, a.a.O., S. 170 – 199 und Lejeune, Ph.: Der autobiographische Pakt, a.a.O.), ist zurckzukommen. 222 Siehe Follet, S.: la dcouverte de l’autobiographie, in: Baslez, M.-F./Hoffmann, P./Pernot, L. (Hg.): L’invention de l’autobiographie, d’Hesiode St. Augustin, a.a.O., S. 325 – 328, hier: S. 327 und Lejeune, Ph.: Der autobiographische Pakt, a.a.O., S. 217 ff.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
91
(c) Die Erzhlung muss eine rckblickende Perspektive einnehmen.223 (iii) Behandelter Gegenstand Der Autor schreibt ber sich,224 sein Dasein, sein individuelles Leben,225die Geschichte der Persçnlichkeit, sein gesamtes Leben und insbesondere dessen Verlauf.226 (iv) Absicht Die Autobiographie zielt nicht nur auf eine reine Berichterstattung des eigenen Lebens ab,227 sondern ist Teil der „bung des Lebens“.228 Durch die Autobiographie versucht der Autor, sich zu erinnern, sich
223 Mit dem Rckblick verbindet sich oft eine Bewertung (siehe Follet, S.: la dcouverte de l’autobiographie, a.a.O., S. 327). 224 Siehe Reardon, B. R.: L’autobiographie l’poque de la seconde sophistique: quelques conclusions, in: Baslez, M.-F./Hoffmann, P./Pernot, L. (Hg.): L’invention de l’autobiographie, a.a.O., S. 279 – 284, hier: S. 280. 225 Zur Konzentration auf die eigene Individualitt siehe Gusdorf, G.: Voraussetzungen und Grenzen der Biographie, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie, a.a.O., S. 121 – 147, hier: S. 123. 226 Dass die Autobiographie auf den Lebensverlauf abzielt, der erst durch das Erleben und Erinnern zu einer Einheit wird, hat Dilthey betont (siehe Dilthey, W.: Das Erleben und die Selbstbiographie, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie, a.a.O., S. 21 – 32); dann Starobinski, J.: Der Stil der Autobiographie, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie, a.a.O., S. 200 – 213, hier: S. 201 f. Dass die Gesamtheit des Lebens Gegenstand der Biographie ist und nicht nur Ausschnitte, wie im Falle des Portrts, betont Goulet, R.: Histoire et mystre. Les vies des philosophes de l’antiquit tardive, in: Ehlers, W.-W. (Hg.): La biographie antique: huit exposs suivis de discussions, Genf 1998, S. 217 – 266, hier: S. 220. Da die Autobiographie nicht auf die Zeit unmittelbar vor und nach dem Tod selbst eingehen kann, was fr die Biographie essentiell sei, ergebe sich ein Unterschied zwischen den beiden Literaturarten (siehe Dihle, A.: Zur antiken Biographie, in: Ehlers, W.-W. (Hg.): La biographie antique, a.a.O., S. 119 – 146, hier: S. 135). 227 Zur Schilderung ußerer Vorgnge kommt die der inneren Beweggrnde und Empfindungen hinzu. 228 Selbst der Versuch, sich ganz auf die Schilderung von Tatsachen zu konzentrieren, luft im Falle einer Autobiographie immer auf eine Selbstinterpretation und Wertung hinaus. Dies auch schon deshalb, weil Erlebnisse ausgewhlt und so gewichtet werden. Im Rekurs auf Dilthey wurde gesagt, dass der Autobiograph sich durch den Rckblick einen Ausblick verschaffen wolle, genauer, eine Anschauung, die sein zuknftiges Leben leiten kçnne (siehe Cacciatore, G.: Biografia e autobiografia in W. Dilthey e G. Misch, in: Gallo, I. (Hg.): Biografia e autobiografia degli antichi e dei moderni, Neapel 1995, S. 243 – 296, hier: S. 272 f.).
92
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
selber besser zu erkennen.229 Die Autobiographie ist, so verstanden, ebenfalls Ort und Mittel der Konstitution von Identitt.230 (v) Erzhlform Die Erzhlung in Prosa-Form ist das Medium der Autobiographie.231 Die Art und Anzahl der Kriterien macht es erforderlich, abzuwgen, wann ein Text einem Kriterium entspricht und ob alle erfllt sein mssen, damit er als Autobiographie gelten kann.232 229 „Die Besinnung eines Menschen ber sich selbst bleibt Richtpunkt und Grundlage.“ So das Fazit von Dilthey, W.: Das Erleben und die Selbstbiographie, a.a.O., S. 32. In Folge Gusdorf, G.: Voraussetzungen und Grenzen der Biographie, a.a.O., S. 133. 230 Die Annahme (siehe Gusdorf, G.: Voraussetzungen und Grenzen der Biographie, a.a.O., S. 130), das Interesse des Autobiographen an sich selbst setze eine christliche Anthropologie voraus, mag den Umstand erklren, dass Augustinus‘ Confessiones gemeinhin fr das erste Exemplar der Gattung gehalten wird. Siehe dazu Neuman, B.: Identitt und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970 und die gesammelten Aussagen verschiedener Philosophen in: Identitt und Autobiographie, in: Marquard, O./Stierle, K. (Hg.): Identitt, Mnchen 1979, S. 685 – 717. „Im Mittelpunkt der Autobiographie-Forschung der spten achtziger und neunziger Jahre stehen … Fragen der Ich-Identitt, der Konstitution und Konstruktion des Subjekts und Probleme des autobiographischen Erzhlens.“ Niggl, G.: Nachwort zur Neuausgabe, in: ders. (Hg.): Die Autobiographie, a.a.O., S. 593 – 602, hier: S. 593. Dem Thema der Selbsterkenntnis und Lebensfhrung im Kontext der Autobiographie widmet sich die Arbeit von Thom, D.: Erzhle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, a.a.O. 231 Vielleicht bildet Misch mit seiner weit gespannten Definition eine Ausnahme. Sptere und gngige Bestimmungen setzen dies mehr voraus als es expressis verbis zu begrnden. Vor dem Hintergrund von (iii) ist dies verstndlich. Denn wenn der Gegenstand der Autobiographie der Verlauf großer Abschnitte (oder die Gesamtheit) des Lebens ist, muss dies, in welcher stilistischen Form auch immer, erzhlt werden. 232 So hat z. B. Lejeune dafr pldiert, nur die Identitt des Autors mit dem Erzhler bzw. der Hauptfigur (ii a-b) als eine notwendige Bedingung anzusehen. Die anderen Kriterien mssten „in erster Linie“ erfllt sein (siehe Lejeune, Ph.: Der autobiographische Pakt, a.a.O., S. 215 f.). Die Kriterienliste verwendet er zur Abgrenzung benachbarter Gattungen, die autobiographische Momente aufweisen: Memoiren (iii), Biographie (ii b), persçnlicher Roman (ii a), autobiographisches Gedicht (v), Tagebuch (ii c), Selbstportrt (ii b). Fr weitere Unterscheidungen siehe Aichinger, I.: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk, a.a.O., S. 175 ff.; zum Unterschied von Biographie und Autobiographie mit jeweils anderen Vorschlgen: Goulet, R.: Histoire et mystre. Les vies des philosophes de l’antiquit tardive, a.a.O., S. 220 und Dihle, A.: Zur antiken Biographie, a.a.O., S. 135.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
93
Die Selbstbetrachtungen erfllen eine Reihe der genannten Bedingungen ganz offensichtlich: Ad (ii) Relation von Autor und Erzhler. Marc Aurel ist Autor (ii a) und Hauptfigur (ii b). Diese bereinstimmungen werden sogar, wie von Lejeune gefordert, in der „Erneuerung des autobiographischen Pakts“233 besttigt: „Die staatliche Gemeinschaft und das Vaterland ist fr mich als Antoninus Rom, fr mich als Menschen der Kosmos.“234 Marc Aurel verwendet jedoch nicht nur die klassische autodiegetische (Ich-)Form. Der Wechsel zwischen der grammatikalischen ersten und zweiten Person erklrt sich u. a. durch die vielen Ermahnungen und dialogischen Momente. Marc Aurel fhrt Selbstgesprche, in denen auf eine Rede eine Gegenrede folgt, und in einigen dieser Selbstdialoge wechselt er zur Du-Form.235 Auf Form und Funktion dieser Selbstdialoge ist noch ausfhrlich einzugehen. Ad (iii) Behandelter Gegenstand. Marc Aurel schreibt ber sich selbst, macht seine Lebensfhrung zum Thema. Ad (iv) Absicht. Ganz sicher schreibt Marc Aurel nicht, um sich oder anderen einen reinen Tatsachenbericht zu erstatten. Das Bemhen, sich ber seine Gedanken, Gefhle und Handlungen Klarheit zu verschaffen, um sie zu kontrollieren, steht fr ihn im Vordergrund. Dabei geht er, ganz stoisch, davon aus, dass jeder Mensch die Ursache seines eigenen Glckes ist: „Grabe in deinem Inneren. In dir ist die Quelle des Guten, und sie kann immer wieder sprudeln, wenn du grbst.“236 Ad (v) Erzhlform. Marc Aurel schreibt in Prosa-Form, aber er erzhlt nicht. Darauf wird noch ausfhrlicher einzugehen sein.237 Große Schwierigkeiten machen jedoch andere Kriterien. Da sind zunchst Fragen, die den Gegenstand der Selbstbetrachtungen betreffen: Berichtet Marc Aurel ber einzelne Ereignisse, schildert er vornehmlich sein
233 Siehe Lejeune, Ph.: Der autobiographische Pakt, a.a.O. 234 M. Aur. Med. 6, 44. 235 Siehe z. B. M. Aur. Med. 9, 39; 10, 13; 11, 19. Bei Epiktet finden sich ausschließlich Selbstgesprche in Ich-Form. 236 M. Aur. Med. 7, 59. 237 Siehe Kap. I 3.1.1.
94
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
individuelles Leben, dessen Verlauf ? Welche Rckschlsse ber seine Persçnlichkeit sind zulssig? Es handelt sich um zwei ganz unterschiedliche Bestimmungsversuche. Denn es ist eine Sache, wenn Marc Aurel etwas Konkretes ber sich schreibt. Und eine andere, wenn er etwas schreibt, das nur qua Rckschluss Informationen ber sein Leben oder seine Persçnlichkeit gibt.238 Grundstzlich ist zu klren, ob Marc Aurel mit den Selbstbetrachtungen etwas Erzhlendes verfasst hat und welche Bedeutung der Erinnerung zukommt. Schließlich ist, wie oben angedeutet, nicht nur zu entscheiden, ob Marc Aurel eine Autobiographie geschrieben hat, sondern viel wichtiger ist, ob diese Frage hilft, die Selbstbetrachtungen zu analysieren. 3.1.1 Marc Aurel ber sein Leben Zunchst ist auf die von ihm selbst erwhnten Tatsachen, Erinnerungen oder konkreten Beschreibungen einzugehen. Bemerkenswert selten berichtet Marc Aurel Konkretes ber sein Leben. ber vieles von dem, was wir in einer Autobiographie erwarten, verliert er kein Wort. Marc Aurel erwhnt nur wenige Ereignisse, die sich datieren lassen.239 Die Allgemeinheit der Argumente, Dogmen und Ermahnungen erfordert keine historische Verortung, denn fr Marc Aurel sind alle Zeiten und alle Ereignisse gleich (gut). Beispielhaft sind: „Denn alles ist in seinem Auf und Ab dasselbe und aus demselben.“240 und „Wo es mçglich ist zu leben, da kann man auch gut leben.“241 Dazu passt das Fehlen jeglicher Ortsbeschreibungen.242 Sowohl die Schreibsituation als auch die Inhalte des Textes sind ohne zeitliche und topographische Bezge. Es handelt sich um ein Spezifikum der Selbstbetrachtungen, denn bei Seneca243 und in Marc Aurels Briefen an
238 Der Unterschied ist nicht immer beachtet worden. Siehe den klassischen Aufsatz von Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O. Kritisch ist Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., Kap. 10. 239 Siehe Kap. I 1, den Abschnitt Datum und Sequenz der Abfassung. 240 M. Aur. Med. 6, 46. 241 M. Aur. Med. 5, 16. 242 In nur einem Kapitel (M. Aur. Med. 4, 48) nennt Marc Aurel verschwundene Stdte. Es handelt sich aber nicht um einen Bericht oder eine Erinnerung, sondern eine Vorstellungsbung, um sich die Vergnglichkeit von allem Menschlichen klar zu machen (siehe z. B. Sen. Ep. 91, 9). 243 Siehe z. B. Sen. Ep. 55; 77; 86.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
95
Fronto finden wir dergleichen.244 Im Vergleich zur Seele, so Marc Aurel, sind alle Orte gleich unbedeutend.245 Desgleichen fehlen Verweise auf kulturelle Begebenheiten, wie Architektur oder Literatur. Besonders bemerkenswert ist, dass die kriegerischen Aufstnde, die Marc Aurel rund zehn Jahre seines Lebens gekostet und ihn immer wieder von Rom fort gebracht haben, weder geschildert noch anders Gegenstand der Reflektionen oder Ermahnungen werden.246 Immerhin spricht Marc Aurel von seinem hohen Alter247 und sagt, dass er Rçmer248 und Kaiser ist.249 Die im ersten Buch erwhnten Personen sind zum Zeitpunkt der Abfassung sehr wahrscheinlich bereits alle tot.250 Das erste Buch enthlt die meisten autobiographisch relevanten Informationen. Denn hier verwendet Marc Aurel fr den Zweck der Selbsterziehung Exempel aus seinem eigenen Leben, so dass notwendig mehr Konkretes und Persçnliches zur Sprache kommt. Er nennt, wie gesehen, Lehrer und Erzieher, zumindest eine Auswahl. Wie im vorherigen Kapitel schon bemerkt wurde, sind jedoch auch hier die konkreten Informationen sprlich, weil Marc Aurel den Personen vornehmlich allgemeine geistige und charakterliche Eigenschaften zuspricht.251 Er erwhnt, dass er von guten Hauslehrern und in çffentlichen Schulen unterrichtet wurde, was teuer, aber erforderlich gewesen sei.252 Von seiner Mutter, Diognetes und Rusticus lernte er eine asketisch-philosophische Lebensweise und damit einhergehend auch eine Schlichtheit im Denken 244 Siehe z. B. Fronto Ep. 2, 1 ff. 245 Siehe M. Aur. Med. 4, 3. 246 Siehe M. Aur. Med. 4, 4. Der Krieg taucht vornehmlich als Metapher auf (siehe M. Aur. Med. 2, 17) oder als allgemeines menschliches Tun (siehe M. Aur. Med. 4, 32; 9, 9; 10, 9). In einer hçchst allgemeinen Reihung erwhnt Marc Aurel einen Mann, der stolz ist, Sarmaten gefangen zu haben (siehe M. Aur. Med. 10, 10). Selbst wenn dies selbstreferentiell auf den Feldzug gegen die Sarmaten anspielt, so kann der Eintrag dennoch schwerlich als Erzhlung von eigenen Erlebnissen bezeichnet werden. 247 Siehe M. Aur. Med. 2, 11. 248 Siehe M. Aur. Med. 2, 5; 6, 44. 249 Siehe M. Aur. Med. 6, 30; 11, 18. 250 Fr einen detaillierten Nachweis im Rahmen der Quellenlage siehe Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 123 f. 251 Die engeren Familienangehçrigen werden besonders kurz und allgemein charakterisiert. 252 Siehe M. Aur. Med. 1, 4. Zum Hintergrund siehe Bonner, S. F.: Education in Ancient Rome, London 1977, S. 104 – 110.
96
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
und Sprechen.253 Marc Aurel erwhnt jedoch nur den Umstand, dass es so war. Abgesehen von dem Brief, den Rusticus an seine Mutter schrieb, fehlt hier jegliche Erinnerung an konkrete Beispiele. Die Bescheidenheit der Lebensfhrung taucht in den weiteren Bchern wieder auf, jedoch nur in Form allgemeiner Kritik an luxuriçsem Essen oder aufwendiger Kleidung.254 All dies ist gngige kynische oder stoische Lehre, wenngleich in der Erwhnung des Purpurs255 eine Anspielung auf seine Amtskleidung liegen mag. Dazu passen ebenfalls sehr allgemeine ußerungen, die einen Unwillen gegenber dem Leben am Hofe bekunden.256 Erst die spteren Biographen berichten Konkretes, das jedoch nicht immer frei von Stilisierungen, also letztlich Fiktionen, sein mag. Der Eintrag zu Rusticus listet auf, was Marc Aurel von ihm lernte. Dazu gehçrte es, bestimmte Dinge nicht zu tun: den Sophisten nachzueifern, sich den Knsten oder Wissenschaften zu widmen, professionell (Mahn-)Reden zu halten, den Asketen oder Wohltter nur zu spielen, oberflchliches Lesen, Schwtzern zuzustimmen. In Bezug auf andere Handlungen oder Handlungsformen war Rusticus vorbildhaft: Briefe einfach zu formulieren, versçhnlich gegenber denen zu sein, die falsch gehandelt haben, wenn sie zur Umkehr bereit sind, und genau zu lesen. Schließlich dankt Marc Aurel dafr, dass ihm die Schriften Epiktets berlassen wurden. Von einem Bericht ber eine „Konversion“ von der Rhetorik zur Philosophie kann hier schon deshalb keine Rede sein, weil dem Kapitel die fr Konversionsberichte typische erzhlerische Dynamik fehlt. Außerdem fehlt ein zweites Charakteristikum von Konversionen, nmlich das schlagartig eine Wendung eintritt. Allenfalls ließe sich feststellen, dass Marc Aurel vor dem Unterricht bei Rusticus noch nicht die Einsicht hatte, dass sein Charakter der Verbesserung und Pflege bedarf.257 Gerade ein Konversionsbericht beschreibt eine Entwicklung, auch wenn die Konversion in der Regel als etwas Plçtzliches beschrieben wird.258 Marc Aurel schreibt jedoch vorrangig eine Liste auf.
253 254 255 256 257
Siehe M. Aur. Med. 1, 3; 1, 6; 1, 7. Siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 13. Siehe M. Aur. Med. 9, 36. Siehe M. Aur. Med. 5, 16; 6, 12; 8, 9. Das Kapitel beginnt: Paq± Uoust¸jou t¹ kabe?m vamtas¸am toO wq-feim dioqh¾seyr ja· heqape¸ar toO Ehour. 258 Siehe Sen. Ep. 6, 2; Plut. De porf. virt. 75d. Zur philosophischen Konversion siehe ferner Diog. Laert. 4, 16. Ausfhrliche Informationen und Stellen zur Konversion bei Nock, A. D.: Conversion, Oxford 1933; ders.: Essays on Religion and The
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
97
Es ist neuerdings bezweifelt worden, dass sich Marc Aurel vom Standpunkt der Philosophie aus gegen die Rhetorik wende: „Die RusticusPassage aus dem ersten Buch der Selbstbetrachtungen enthlt also kein Selbstzeugnis Marc Aurels ber eine grundstzliche Abwendung von Rhetorik.“259 Aber schon die Elemente dieser Liste plausibilisieren die gegenteilige Annahme, nmlich dass Marc Aurel eine Rhetorik ablehnte, zumindest dann, wenn sie sich als Selbstzweck versteht. Marc Aurel hat auch, nachdem er bei Rusticus der Philosophie nher gekommen ist, Rhetorik-Unterricht gehabt. Seine zum Teil stilistisch ausgearbeiteten Kapitel zeugen von diesem Unterricht. Jedoch hat er die Philosophie vorgezogen und eine autonome Rhetorik abgelehnt. Weiter berichtet Marc Aurel von einer Handlung seines Adoptivvaters Pius, die wohl auf ihn Eindruck gemacht hat, nmlich wie dieser mit einem Zollbeamten in Tusculum umgegangen sei, der Pius um Verzeihung bat.260 Was genau passierte, schildert er nicht. Zirkusspiele werden gelegentlich thematisiert. Marc Aurel lernte von einem Erzieher Unparteilichkeit.261 Schließlich kommen ihm die Geschehnisse im Amphitheater widerlich und eintçnig vor.262 Doch er erzhlt nicht davon, wie es etwa Seneca tut.263
259
260 261 262
263
Ancient World, Oxford 1972; Kasulke, Ch.: Fronto, Marc Aurel, a.a.O., S. 79 – 142. Kasulke, Ch.: Fronto, Marc Aurel, a.a.O., S. 248. Kasulke betreibt feinsinnigen Aufwand, um zu zeigen, dass Marc Aurel hier im ersten Buch und an jeder weiteren Stelle, an der er die Rhetorik kritisiert, sie nicht als solches ablehnt. Kasulke kommt so zu einem hnlichen Ergebnis wie Champlin (siehe Champlin, E. H.: The Chronology of Fronto, a.a.O., S. 144 und ders.: Fronto and Antonine Rome, a.a.O.). Zu Champlins Thesen siehe bereits Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 103 – 107 und Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 25 – 34. Siehe M. Aur. Med. 1, 17. Siehe M. Aur. Med. 1, 5. Siehe M. Aur. Med. 6, 64. Einen Gladiator als nicht wertende Metapher verwendet das Kapitel M. Aur. Med. 12, 7. Ebenfalls ein Vergleich, aber sehr viel konkreter formuliert ist: „Denn weiterhin so zu sein, wie du bis jetzt gewesen bist, und in einem derartigen Leben dich zu verzehren und zu besudeln, entspricht dem Verhalten eines außerordentlich empfindungslosen, feigen und den halbzerfleischten Tierkmpfern vergleichbaren Menschen, die, obwohl von Wunden und Schmerz bedeckt, trotzdem noch verlangen, dass man sie bis zum nchsten Tage aufhebe, um in diesem Zustand den Zhnen und Klauen nochmals ausgesetzt zu werden.“ (M. Aur. Med. 10, 8). Zum Hintergrund siehe HA M. Ant. 15, 1 und Fronto Ep. 1, 206 und 308. Es wird klar, dass Marc Aurel die Spiele ablehnte. Siehe Sen. Ep. 7.
98
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Sehr intim ist folgender Bericht: Den Gçttern verdanke ich auch, dass ich nicht lnger bei der Geliebten meines Großvaters lebte, meine jugendliche Unschuld bewahrte und nicht vorzeitig zum Mann wurde … dass ich weder Benedikte noch Theodotos anrhrte, sondern auch spter trotz der Verstrickung in die Leidenschaft der Liebe wieder gesund wurde…264
Marc Aurel erwhnt, dass seine Mutter jung gestorben ist, aber zuvor noch einige Jahre bei ihm leben konnte, und weiter, dass er gute Erzieher fr seine Kinder fand. Er beschreibt seine Frau als „so hingebungsvoll, so zrtlich, so unkompliziert“.265 Im Unterschied zum Briefwechsel mit Fronto,266 in dem seine Gesundheit oft thematisiert wird, spielt sie in den Selbstbetrachtungen fast keine Rolle. Im ersten Buch dankt er den Gçttern fr einen gesunden Kçrper in der Jugend,267 dann jedoch dafr, dass er in „Trumen Ratschlge erhielt, unter anderem gegen das Blutspucken und die Schwindelanflle.“268 Vielleicht sind noch zwei sehr allgemeine Bemerkungen ber Pro-
264 M. Aur. Med. 1, 17. Marc Aurel ist mit Hinweis auf ein weiteres Kapitel (M. Aur. Med. 6, 13) bertriebene Askese und Prderie vorgeworfen worden, die weit ber das hinausgehen, was andere Stoiker empfehlen (siehe Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 119). Die Beschreibung (M. Aur. Med. 6, 13) „dass bei der geschlechtlichen Vereinigung nur ein Reiben des Gliedes und eine Absonderung von Schleim verbunden mit gewissen Zuckungen stattfindet“ ist jedoch eine Anwendung der physikalischen Methode. Diese soll helfen zu erkennen, was etwas von Natur aus, also ohne Wertung, ist. So werden in dem Kapitel Speisen als Kadaver von Fischen oder Vogelleichen bezeichnet. Marc Aurel geht nicht ber Epiktet hinaus, sondern hat dessen Forderungen wohl entsprochen: „Verzichte vor der Ehe mçglichst auf geschlechtliche Beziehungen; wenn du dich darauf einlsst, so tue es im Rahmen des gesetzlich Erlaubten.“ Arr. Epict. ench. 33; „Hat dich die Vorstellung einer sinnlichen Lust erfasst, dann hte dich wie bei allen Vorstellungen, dass du von ihr hingerissen wirst. Lass vielmehr die Sache auf dich warten und ring dir eine gewisse Atempause ab.“ Arr. Epict. ench. 34. Siehe zum Vergleich auch Sen. Ep. 116, 5 und Arr. Epict. ench. 33. 265 M. Aur. Med. 1, 17. Gerchte, seine Frau Faustina, die er 145 heiratete, habe mit dem Verschwçrer Avidius Cassius gemeinsame Sache oder mehr gemacht, sind weder in der Antike noch von modernen Kommentatoren belegt worden (siehe Farquharson, A. S. L.: The Meditations, a.a.O., S. 262 f.; Birley, A. R.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 182). Dennoch findet sich die These etwa bei Gibbon, E.: The Decline and Fall of the Roman Empire, London 1896, S. 83 f. und Kap. 5. 266 Siehe auch Cass. Dio (72, 6, 3) ber den schwachen Zustand des alten Kaisers. 267 Das besttigt Cass. Dio 72, 36, 2. 268 M. Aur. Med. 1, 17.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
99
bleme, morgens aufzustehen, um ttig zu werden269 und eine Skepsis gegenber rzten270 erwhnenswert. Eigene Irrtmer und Verfehlungen nehmen einen etwas grçßeren Raum ein: Es sei Marc Aurel nicht gelungen, als Philosoph gemß der Natur zu leben.271 Er habe eine begrenzte intellektuelle Fhigkeit272 und eine Neigung, Fehler zu begehen.273 Fehler-Mçglichkeiten sollten immer bedacht sein.274 Umgekehrt kçnnten bei der Fehlerdiagnose selber wieder Fehler gemacht werden. Diese Serie von Bemerkungen ist wichtig, weil Marc Aurel sich damit auch gegen totale und falsche Selbstanklagen ausspricht, d. h. es ist ein Fehler, dort Versagen zu vermuten, wo keines vorliegt.275 Und folgerichtig ußert er Dank dafr, tchtig gewesen zu sein und vieles ertragen zu haben. Er habe freundlich auf Unfreundlichkeiten reagiert.276 Schließlich sagt er sogar, dass er niemals jemand anderen absichtlich geschdigt habe.277 Zwar ist der Umgang mit den Mitmenschen, das freudige Einfinden in eine Gemeinschaft, ein zentrales Thema der gesamten Selbstbetrachtungen, aber zwischen dem ersten und den restlichen Bchern besteht diesbezglich eine große Differenz. Bemerkenswert ist erstens, dass Marc Aurel, abgesehen vom Kurzportrt des Pius,278 nach dem ersten Buch kaum noch konkrete Menschen nennt, mit denen er selber in Kontakt stand.279 Wenn er dies tut, geht es ihm gar nicht um die Erinnerung an diese. Zweitens kommt im ersten Buch die Zuneigung zu den Personen noch ganz deutlich zum Ausdruck. Mit einer Ausnahme280 ndert sich dies, und zwar in dreifacher Hinsicht: (i) Spricht Marc Aurel von Liebe, Freundschaft und dergleichen in Bezug auf sich selbst, so sind oft nicht konkrete Mitmenschen gemeint. Stattdessen verwendet Marc Aurel Ausdrcke wie vik¸a, v¸kor oder vike?m, um sich zur Pflicht zur ermahnen, seinen Nachbarn oder die 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280
Siehe M. Aur. Med. 5, 1; 8, 12. Siehe M. Aur. Med. 6, 48. Siehe M. Aur. Med. 8, 1; 1, 17. Siehe M. Aur. Med. 5, 5. Siehe M. Aur. Med. 1, 17; 11, 18. Siehe M. Aur. Med. 6, 21; 8, 16. Siehe M. Aur. Med. 7, 5; 7, 7. Siehe M. Aur. Med. 5, 31. Siehe M. Aur. Med. 8, 42. Siehe M. Aur. Med. 6, 30. Typisch ist die Nennung von Phalaris und Nero (siehe M. Aur. Med. 3, 16). Siehe M. Aur. Med. 6, 48.
100
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Gesamtheit der Menschen zu lieben.281 Zwar fordert Marc Aurel, dass diese Zuneigung keine kalte oder zhneknirschende Pflichterfllung sein soll, sondern „von Herzen“ geschehen soll.282 Dennoch finden sich keine Stellen, in denen er von solchen Kontakten berichtet. Aufforderungen, zu lieben, betreffen oft das, was die (All-)Natur bereithlt.283 (ii) Der Kontakt zu Mitmenschen wird oft nur allgemein und negativ beschrieben: „Dann denk an den Charakter deiner Mitmenschen. Man kann sogar den liebenswrdigsten von ihnen kaum ertragen“.284 Oft urteilt Marc Aurel ber seine soziale Umgebung abschtzig.285 Ausnahmen gibt es nur zwei.286 Die schlechten Eigenschaften der Mitmenschen sind ihm natrlich: „Alles, was geschieht, ist so vertraut und bekannt wie die Rose im Sommer und das Obst im Herbst. Dasselbe gilt auch fr … Verleumdung, Intrige und was sonst noch die Toren erfreut oder schmerzt.“287 Trotz dieser vielen und ausschließlich negativen Attribute, die er bei der Beschreibung von Mitmenschen verwendet, ist damit noch nicht entschieden, ob Marc Aurel Pessimist, Misanthrop oder depressiv ist. Hier geht es zunchst um den Textbefund. (iii) Marc Aurel ußert eine Sehnsucht nach Mitmenschen, die seine Ansichten teilen.288 Seine Grundberzeugungen sind ihm Erholung und Rckzugsmçglichkeit. Das soziale Miteinander scheint er nicht oft zu genießen,289 auch wenn er sich oft dazu auffordert.
281 282 283 284 285 286 287 288
289
Siehe M. Aur. Med. 6, 39; 7, 13; 7, 31; 11, 1. Siehe M. Aur. Med. 7, 13. Siehe M. Aur. Med. 10, 11. M. Aur. Med. 5, 10. Siehe M. Aur. Med. 3, 4; 4, 18 und 28; 5, 5 und 33; 6, 16; 7, 3; 8, 8; 9, 24 und 42; 11, 18. Siehe M. Aur. Med. 6, 30 und 48. M. Aur. Med. 4, 44. Denkbar eindeutig ist: „Denn nur dies allein, wenn berhaupt etwas, wrde dich zurckhalten und im Leben festhalten, wenn es mçglich wre, mit Menschen zusammenzuleben, die dieselben berzeugungen htten. Jetzt aber siehst du, wie sehr du dich im Missklang des Zusammenlebens zermrbst.“ (M. Aur. Med. 9, 3). Siehe auch: „Gemeinsam wachsen, aber nicht dieselben Grundberzeugungen haben. jlohalme?m l´m, lμ blodoclate?m d´.“ (M. Aur. Med. 11, 8). Siehe M. Aur. Med. 4, 3.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
101
Soweit Marc Aurels direkte Aussagen ber sich selber. Erlauben die Selbstbetrachtungen darber hinaus Schlsse auf die Persçnlichkeit des Autors? 3.1.2 Die Selbstbetrachtungen und die Frage nach der Persçnlichkeit Marc Aurels Haben die Selbstbetrachtungen einen autobiographischen Wert, weil sie Aufschluss ber seine Charakterstruktur geben? Mit der Bejahung der Frage verbindet sich oft die interpretatorische Erwartung oder vielmehr Grundannahme, dass auch dasjenige, was ein Autobiograph nicht direkt ber sich selbst schreibt, etwas ber seine Persçnlichkeit aussagt. Dass Marc Aurel, im Verhltnis zum gesamten Text, nicht viel Konkretes ber sein Leben berichtet, ist nicht unbeobachtet geblieben: … overt personal allusions are rare. Yet it would be strange if his reflections were not on closer inspection to reveal traces of his own personal experience … the very frequency with which he recurs to certain topics indicates the preoccupations of the ruler.290
Auf den ersten Blick berzeugt diese Annahme Brunts. Doch die Versuche, vom Text der Selbstbetrachtungen auf die Persçnlichkeit Marc Aurels zu schließen, haben wenig interessante oder valide Ergebnisse zu Tage gefçrdert. Inhaltlich betrachtet wird Marc Aurel gerne pathologisiert, und zwar physisch wie psychisch.291 Von einem methodischen Standpunkt scheint es (a) einerseits darum zu gehen, vom Text auf die Persçnlichkeit zu schließen. Und andererseits mit dem Hinweis, hier schreibe ein Kranker, die angebliche minderwertige Qualitt des Textes, genauer: seiner Philosophie, zu erklren.292 Dabei wird (b) anscheinend vorausgesetzt, dass sich die Persçnlichkeit eines Autors ganz in seinem Text spiegelt, so dass vom Text aus die Persçnlichkeit erfasst werden kçnne. Doch diese Krankschreibungen Marc Aurels finden keinen Rckhalt in den Quellen. Dies gilt vor allem fr die Selbstbetrachtungen, aber ebenfalls den Briefwechsel mit Fronto und die anderen Quellen (Biographien).293
290 291 292 293
Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 1. Siehe dazu die Angaben in der Einleitung. Siehe in der Einleitung den Abschnitt ber den Stand der Forschung. Zu den Punkten (ii) (a)-(b) siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., Kap. X 2.
102
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Statt pathologisiserenden Ferndiagnosen aus der Gegenwart in die Vergangenheit, ist einem zutreffenden Hinweis von Brunt nachzugehen: In den Selbstbetrachtungen kehrt Marc Aurel immer wieder zu bestimmten Themen zurck. Es findet sich jeweils eine Vielzahl an Kapiteln zu Themen wie Zorn.294 Ist dies ein sicheres Indiz fr eine Neigung zum Zorn? Da Marc Aurel praktisch motiviert schreibt und das Schreiben fr ihn eine therapeutische Funktion hat, kann zur Untersttzung von Brunts These Epiktet herangezogen werden, der fordert, man solle ben, was einem besondere Probleme bereite. Also „dies vornehmlich in solchen Fllen tun, die dem Menschen am schwersten ankommen. Hierzu muss der eine mehr dies, der andere mehr ein anderes bungsmittel ergreifen.“295 Dennoch kann nur sehr bedingt, wie Brunt es vorschlgt, ber Marc Aurels Persçnlichkeit geurteilt werden. Problematisch ist ein solcher Schluss von den Themen und Argumenten auf die Persçnlichkeit besonders dann, wenn ber die Hufung der Argumente hinaus keine direkten Aussagen des Autors ber sich selbst vorliegen. Diese direkten autobiographischen Informationen wren aber als Besttigung notwendig. Im Falle des Zorns haben wir nur einen einzigen sicheren Hinweis, denn Marc Aurel dankt den Gçttern, „dass ich Rusticus, obwohl ich mich ber ihn oft genug rgerte, nichts weiter antat, was ich htte bereuen mssen“.296 Und diese Bemerkung kann eine rckblickende Erinnerung sein, die nicht viel ber die Persçnlichkeit des alten Marc Aurel sagt, der sich gerade erinnert. Allgemein steht der Zorn bei Marc Aurel in enger Verbindung mit den schlechten Eigenschaften, die er seinen Mitmenschen zuspricht. Im Sinne einer praemeditatio futurorum malorum beginnt bereits das zweite Buch mit einem Kapitel, dass der Zornprvention gewidmet ist: 294 Die Gesamtheit der Stellen listet Brunt in seinem Appenix II auf (siehe Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 19 f. 295 Arr. Epict. diss. 3, 17, 7. Epiktet gibt in diesem Kapitel ausfhrlich Hinweise dafr, dass man sich an seinen aktuellen Problemen abarbeiten solle. Ein Echo dieser Aufforderung bei Marc Aurel ist vielleicht: „Gewçhne dich also auch an die Dinge, die du nicht anerkennen kannst. Denn auch die linke Hand, die aus Mangel an bung fr die brigen Ttigkeiten nicht ganz so brauchbar ist, hlt den Zgel besser fest als die rechte. Denn darin ist sie gebt.“ (M. Aur. Med. 12, 6). 296 M. Aur. Med. 1, 17. Mit dem Zorn steht vielleicht auch der Dank an die Gçtter in Verbindung, „dass ich nicht darauf verfiel, einem von ihnen etwas Bçses anzutun, obwohl ich durchaus dazu veranlagt war und so gehandelt htte, wenn es sich ergeben htte. Nur die Gte der Gçtter verhinderte das Zustandekommen einer Gelegenheit, die mich htte entlarven kçnnen.“ (M. Aur. Med. 1, 17).
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
103
Am Morgen sollte man sich sagen: Ich werde mit einem beschrnkten, undankbaren, unverschmten, falschen, missgnstigen, und unvertrglichen Kerl zusammentreffen.297
Vielleicht geht Marc Aurel bei der Forderung, den rger zu eliminieren und durch liebevolle Zuneigung zu ersetzen, weiter als andere Stoiker.298 Fr die juristischen Aspekte und die damit zusammenhngende Theorie des Strafens von Unrecht interessiert er sich nicht. Dies wre zu erwarten, weil dies zum einen bei anderen Stoikern thematisiert wird,299 und zum anderen, weil er als oberster Richter mit den kriminalistischen Aspekten des falschen Verhaltens anderer persçnlich und nahezu tglich zu tun hatte. Was lsst sich daraus ableiten? Dass Marc Aurel habituell jhzornig agierte? Wohl kaum, denn erstens sprechen alle Beschreibungen, die wir haben, dagegen. Zweitens spricht er ebenfalls sehr hufig davon, den Mitmenschen, und besonders denen, die fehlen, freundlich entgegen zu treten. Aus seiner Themenwahl lsst sich demnach nicht ableiten, wie Marc Aurel handelte oder ob er mehr diesen oder jenen Charakterzug hatte, sondern nur welche Themen ihn immer wieder beschftigt haben. Die Konzentration auf wenige Themen und die Rekapitulierung entsprechender Thesen sagt mehr ber seine Verbundenheit zur Stoa als ber die psychische Disposition seiner Person.300 Wie problematisch der Schluss von der Wiederholung bestimmter Themen auf die Persçnlichkeit ist, zeigt die hufige Thematisierung von !k¶heia und !kgh¶r. Wie bei Platon301 spielt bei Marc Aurel die Wahrhaftigkeit eine große Rolle.302 Welchen Schluss erlaubt dies? It may still seem strange, if Marcus was a naturally truthful man yet insists most in the Meditations on duties he found hardest, that he should have so much to say about truthfulness.303 297 298 299 300
M. Aur. Med. 2, 1. Siehe dazu Kap. II 2.2.4 – 5 und II 5.4. Siehe z. B. Sen. De ira 1, 6, 15 f., 19 und 2, 31. Dass in den Selbstbetrachtungen eine nach allgemein (stoisch-)philosophischen Gesichtspunkten getroffene Auswahl vorliegt, wurde bereits anhand des besonders persçnlichen ersten Buches klar. 301 Siehe Szaif, J.: Die Aletheia in Platons Tugendlehre, in: van Ackeren, M. (Hg.): Platon verstehen, Darmstadt 2004, S. 183 – 209. 302 Stellen, die um dieses Thema kreisen, sind M. Aur. Med. 3, 16; 4, 33; 9, 1; 6, 47; 2, 3; 7, 13; 11, 15; 12, 3. Siehe dazu das weitere Material bei Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 8 ff. Marc Aurel, der als M. Annius Verus geboren wurde, bekam als kleiner Junge von Hadrian den Namen „Verissimus“ (siehe Cass. Dio 69, 21, 2). 303 Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 10.
104
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
So urteilt Brunt. Warum ist seine These besser begrndet als die Gegenthese, Marc Aurel war ein wahrhaftiger Mensch, der als Philosoph eben viel ber das Wissen schrieb? Aufgrund der vielen Erwhnungen von Wahrheit oder Wahrhaftigkeit sollte nicht entschieden werden, ob Marc Aurel nun ein wahrhaftiger Mensch war oder jemand, der solche Mahnungen besonders nçtig hatte. Auch andere Themen lassen nur bedingt einen Schluss auf die Persçnlichkeit Marc Aurels zu. So findet sich eine kritische Bemerkung ber die Jagd, die nichts als Raub sei.304 Aber im Briefwechsel mit Fronto beschreibt Marc Aurel die Jagd durchaus als vergnglich.305 Was den Umgang mit Kindern, die Angst vor ihrem Tod, angeht, findet sich in den Selbstbetrachtungen die stoische Position: „Epiktet sagte, wenn man ein Kind ksse, msse man sich im Stillen sagen: ,Morgen bist Du vielleicht schon tot.‘“306 Im Briefwechsel zeigt sich Marc Aurel jedoch sehr wohl um das Wohl seiner Angehçrigen besorgt.307 Es wre mçglich, dass sich seine Persçnlichkeit gendert hat. Oder zeigt der frhe Briefwechsel Charakterzge, die in den spteren Selbstbetrachtungen nur nicht mehr zum Vorschein kommen, aber noch vorhanden sind? Die Beantwortung dieser Fragen setzt voraus, dass wir wissen, welche Persçnlichkeit sich in den Selbstbetrachtungen manifestiert. Genau das steht jedoch in Frage. Die Aussagen in den Selbstbetrachtungen sind nur sehr begrenzt fr die Erstellung eines Persçnlichkeitsprofils geeignet. Wollen wir eine Entwicklung oder eine Kontinuitt seiner Persçnlichkeit postulieren, brauchen wir mindestens zwei unabhngige autobiographisch wertvolle Quellen. Die Selbstbetrachtungen sind jedoch in Bezug auf diese Aspekte nur sehr bedingt eine eigenstndige autobiographische Quelle. Zumindest dann nicht, wenn man von einer solchen erwartet, dass sie den Lebensverlauf und dafr wichtige Erlebnisse erzhlt. Daher wird hier der nicht besonders weit fhrende, jedoch sichere Weg der interpretatorischen Zurckhaltung gewhlt. ber Marc Aurels Per304 Siehe M. Aur. Med. 10, 10. 305 Siehe Fronto Ep. 1, 179. Der Brief stammt wahrscheinlich aus den Jahren 140 – 149. 306 M. Aur. Med. 11, 34 (siehe ferner: 8, 49; 9, 40; 10, 35). Fr Epiktet ber persçnliche Verluste siehe Arr. Epict. diss. 3, 24, 88 f. und Arr. Epict. ench. 3, 11 und 26. Die Historia Augusta berichtet, Marc Aurel habe sich nur vier Tage fr die Trauer um seinen Sohn gegçnnt (HA Marcus 21, 3 f.). Ob es sich um eine stoische Stilisierung des Kaisers handelt, ist unklar, aber nicht unmçglich. 307 Siehe z. B. Fronto Ep. 1, 182, 192, 244, 250; 2, 118.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
105
sçnlichkeit und seine psychische Disposition sollte lieber weniger als vorschnell geurteilt werden. Die Konzentration auf bestimmte Themen und Argumente zeigt vor allem: Marc Aurel hat sich beim Schreiben der Selbstbetrachtungen auf eine geringe Anzahl von Themen konzentriert und daher beschrnkt und vieles, vielleicht bewusst, ausgespart.308 Aber genau diese Fokussierung kann durch philosophische Einstellungen erklrt werden. Um die genannten Gegebenheiten des Textes zu erklren, muss der Charakter und die Gesundheit des Autors nicht heran- oder in Zweifel gezogen werden. Fr die Interpretation eines Textes ist es viel entscheidender, auf die Absicht zu verweisen, die der Autor damit verbindet.309 Und im Falle Marc Aurels haben wir darber explizite Aussagen: Ihm geht es darum, durch die Konzentration auf allgemeine Dogmata, den rettenden und erholenden Rckzug in die eigene Seele zu ermçglichen.310 Ein Verstndnis der Selbstbetrachtungen als diesen „Gang in die innere Burg“,311 hat Folgen, die nun anzusprechen sind. 3.1.3 Selbstsorge: Erzhlung oder Argument? Der Autobiographie-Forschung zufolge trifft jeder Selbstbiograph notwendig eine Auswahl bei der Darstellung ußerer Geschehnisse. Diese verbindet er mit einem Bericht seiner inneren Erfahrungen zu einer Erzhlung seines Lebensverlaufes. Somit ist jede Autobiographie durch einen „Mangel an solcher Einzelwirklichkeit“312 gekennzeichnet. Doch selbst wenn konzediert wird, jede Selbstbiographie berichte nur selektiv, ist festzuhalten:
308 „This rigorous asceticism, which amounts practically to cutting out whole areas of experience, helps explain the intensity, the claustrophobic concentration, of his writing. Once again the form reinforces the effect: bitter epigram and morose reflection exist in a vacuum, lacking a context to define and qualify them, through generalisation and iteration acquires the status of absolute truths.“ Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 120 f. Ebenfalls mit Rekurs auf die Verbindung von Form und Inhalt urteilt Hadot, dass die Selbstbetrachtungen vor allem zeigen, wie sthetisch empfindsam und vom Streben nach Vollkommenheit Marc Aurel geprgt war (siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 351 – 356). 309 Siehe zur Missachtung dieser Interpretationsmaxime bei der Deutung der Selbstbetrachtungen Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 332 ff. 310 Siehe M. Aur. Med. 4, 3. 311 Siehe M. Aur. Med. 8, 48. 312 Misch, G.: Die Geschichte der Autobiographie, a.a.O., S. 14.
106
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Marc Aurel ußert extrem wenig Konkretes ber sein Leben. Autobiographische Informationen, die im ersten Abschnitt dieses Kapitels zusammengetragen wurden, finden sich nur in einem ganz geringen Teil des gesamten Textes. Die Selbstbetrachtungen thematisieren den Verlauf seines Lebens niemals konkret und detailliert. Erstens, blitzen seine konkreten Erinnerungen immer nur vereinzelt, ber die Selbstbetrachtungen verstreut, auf und werden nicht durch eine Erzhlung zu einem Verlauf verbunden. Zweitens haben die Berichte nie einen Ablauf von konkreten Geschehnissen oder Handlungen zum Inhalt, sondern nur isolierte Vorkommnisse zum Gegenstand. Drittens wird dass Ganze seines Lebensverlaufes nirgends erzhlt. 313 Es gibt ein Kapitel, in dem er auf seinen Lebenslauf zu sprechen kommt. Da der Kontext, in dem dies geschieht, wichtig ist, sei das ganze Kapitel zitiert: Das Aufhçren einer Ttigkeit, eines Wunsches, das Ende und der Tod sozusagen einer Vorstellung, das ist nichts Schlimmes. Wende Dich jetzt deinem Lebenslauf zu: deiner Kindheit, der Zeit als du ein Junge warst, deiner Jugend, dem hçheren Alter. Denn auch jede Vernderung auf diesen Altersstufen ist ein Tod. Ist das etwa furchtbar? Geh nun ber zu deinem Leben unter deinem Großvater, unter deiner Mutter und unter deinem Vater. Aber auch wenn du viele andere Verluste, Vernderungen und Formen des Aufhçrens findest, so frag dich doch: ,War das etwa schlimm?‘ So ist dann auch das Aufhçren, das Ende und die Verwandlung deines ganzen Lebens nichts Schreckliches.314
Die erste Erwhnung seines Lebenslaufes ist jedoch so allgemein gehalten, dass sie auf jeden lteren Menschen zutrifft, und auch ein Leben mit Großvater, Mutter und Vater haben viele erlebt. Marc Aurel berichtet demnach nichts fr ihn Spezifisches, er schreibt hier eher ber das Leben im Allgemeinen als ber sein eigenes Leben. Dies berhrt bereits den nchsten Punkt. Marc Aurel schreibt nicht im Modus der Erzhlung. Wie das Zitat zeigt, ist die Erwhnung von Lebensabschnitten Teil eines Argumentes, das der Angsttherapie dienen soll. Die Selbstbetrachtungen bestehen aus 313 Ausnahme ist: „Erinnere dich aber auch daran, was du durchgemacht hast und was du zu ertragen imstande warst und dass die Geschichte deines Lebens schon erfllt und dein Dienst beendet ist, wie viel Schçnes du gesehen und ber wie viele Freuden und Schmerzen du hinweggesehen hast, wie viele Gelegenheiten, dich auszeichnen, du nicht wahrnahmst und wie vielen lieblosen Menschen du begegnet bist.“ (M. Aur. Med. 5, 31). 314 M. Aur. Med. 9, 21.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
107
Selbstermahnungen und Argumenten. Die ganz wenigen Erzhlungen sind darin eingebettet, um die philosophische und praktische Wirkung zu verstrken. Was bedeutet dieser Befund fr die Beantwortung der Frage, ob Marc Aurel eine Autobiographie geschrieben hat? Verstehen wir unter einer Autobiographie eine Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (autos), so ist es in Bezug auf Marc Aurels Selbstbetrachtungen problematisch, weil er erstens ber sein eigenes einzelnes Leben wenig schreibt und zweitens, weil sein Schreiben fast nie eine Erzhlung ist. Da der Terminus Autobiographie eine knstliche Wortschçpfung der Neuzeit ist, soll das Problem nicht von einer allgemeinen Definition angegangen werden, sondern von der im Text zu erfassenden Absicht Marc Aurels her. Wie oben bereits gesagt, ist es fr diesen Weg unerheblich, ob Marc Aurel sich oder andere als mçgliche Leser einer Autobiographie verstanden hat. Dabei ist zu klren, in welchem Verhltnis Inhalt, Art und Zweck des Schreibens zum Leben des Schreibenden stehen. Marc Aurel hat geschrieben, um Klarheit ber sich und sein Leben zu erzielen. Das entspricht natrlich den Anforderungen an eine Autobiographie. Dilthey urteilte: „Die Selbstbiographie ist die hçchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.“315 Die Selbsterkenntnis ist eingebunden in die umfassendere Frage nach der gelungenen Lebensfhrung.316 Den Zusammenhang von Autobiographie, Selbstsorge und Selbsterkenntnis hat D. Thom in einer bemerkenswerten Arbeit untersucht.317 Darin vertritt er die These, ein Autobiograph verwirkliche die Sokratische Selbstsorge und ihre zentrale Maxime („Erkenne Dich selbst!“), indem er sie als folgende Aufforderung versteht: „Erzhle Dich selbst!“. Thom erwhnt Marc Aurel jedoch nicht. Jngst hat J. Dalfen sich jedoch – leider nur mit einigen kurzen Hinweisen – auf dessen Arbeit bezogen, um die Selbstbetrachtungen als Autobiographie aufzufassen. Doch 315 Dilthey, W.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1911), Plan der Fortsetzung der Abhandlung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Gçttingen 1927, S. 199. Von „Selbst-Bewusstsein“, um das es dem Autobiographen gehe, spricht auch Misch mehrfach. 316 Siehe M. Aur. Med. 8, 1; 2, 17; 5, 14; 4, 17 und 20; 11, 5; 10, 16. 317 Siehe Thom, D.: Erzhle Dich selbst, a.a.O.; hnlich: Haker, H.: Moralische Identitt. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion, Tbingen 1998.
108
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
eine (einfache) bertragung der Ergebnisse von Thom auf Marc Aurel ist nicht mçglich, da das Erzhlen als Mittel der Selbsterkenntnis und -sorge von Marc Aurel, wie gezeigt, kaum verwandt wird. Dalfen argumentiert: die Aufzeichnungen Marc Aurels enthalten sehr viel an autobiographischem Material. Das Autobiographische wird nicht erzhlt, sondern nur evoziert: Marcus schreibt nicht fr andere.318
Laut Thom geht es dem erzhlenden Autobiographen um zwei mit einander verwobene Aspekte: „zu erfahren, wie ich bin, und zu entwerfen, worauf es mir bei mir ankommt.“319 Beide Zielsetzungen sind fr Marc Aurel bestimmend, jedoch whlt er nicht das Mittel der Erzhlung. Die erzhlend-erinnernden Passagen machen nur einen winzigen Bruchteil der gesamten Textmenge aus. Dass sich Marc Aurel so wenig der Erzhlung bedient, ist nicht nur eine stilistische Beobachtung. Damit gehen eine Reihe anderer Aspekte einher, die die Selbstbetrachtungen von einer gewçhnlichen autobiographischen Erzhlung unterscheiden, vielleicht von allen anderen. Den modernen Theoretikern der Autobiographie zufolge ist die Erzhlung ein Ausdruck des Erinnerns, durch das der Autor seinen Lebenslauf und sein Selbst geradezu erst konstituiert. Obschon das Erinnern fr Marc Aurel sehr wichtig ist, spielt das Erinnern an konkrete Begebenheiten eine ganz untergeordnete Rolle. Nur zwei Kapitel sind rckblickend.320 Gusdorf unterscheidet eine aktuelle Gewissenprfung, die auf das Jetzt bezogen ist, und das autobiographische Erzhlen der Geschichte, durch die das Selbst sich und sein Leben konstituiert.321 Letzteres kommt in den Selbstbetrachtungen nicht zum Tragen, weil Marc Aurel nicht erzhlt und kein Selbst kennt. Marc Aurel praktiziert vorrangig ersteres. Dies tut er, indem er sich hufig ermahnt, allgemeine Grundstze, Dogmen oder Kephalaia zu realisieren oder zu erinnern: Wer von den richtigen Grundberzeugungen gebissen worden ist, dem gengt auch das krzeste, beilufig aufgelesene Wort zur Erinnerung an die Freiheit
318 Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, in: Grazer Beitrge 23 (2000), S. 187 – 211, hier: S. 189. 319 Thom, D.: Erzhle Dich selbst, a.a.O., S. 15. 320 Siehe M. Aur. Med. 5, 31 und 37. 321 Siehe Gusdorf, G.: Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie, a.a.O., S. 137 ff.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
109
von Schmerz und Furcht, wie z. B.: ,Bltter, die der Wind auf der Erde verstreut, so ist das Menschengeschlecht.‘322
Bei den Mahnungen und den Argumenten spielt die Selbstanalyse fr Marc Aurel eine tragende Rolle. Das erste Buch ist, wie gezeigt, eher ein Akt der Selbstzergliederung als der rckblickenden Erzhlung, insofern er dort fr ihn paradigmatische und gerade fr die Gegenwart noch anzustrebende Eigenschaften auflistet. In den weiteren Bchern geht es Marc Aurel darum zu klren, was seine Natur ist,323 woraus er besteht,324 was er denkt,325 fhlt326 und wie er handelt.327 All dies wird von Marc Aurel vorrangig mit Gegenwarts- oder Zukunftsbezug und vor allem großer Allgemeinheit erçrtert. Die gilt auch fr die „inneren Erfahrungen“, da sie in „Vernunftform dargestellt sind“:328 Dann ist die Form von Denkspruch oder Mahnung, in der er die innere Erfahrung scheinbar wie etwas khl von außen Aufgenommenes zu Papier bringt, nur eine berkommene Stilform, die er selber nuanciert, indem er sich in ihr zu einer objektiven Haltung erhebt.329
Marc Aurel fordert von sich, nicht von seinem persçnlichem Standpunkt aus erzhlend zu beschreiben, sondern aufgrund einer strengen Beschrnkung auf Vernunft und Methode an jedes Ding, d. h. auch an sich selbst und jede seine Vorstellungen heran zu gehen:
322 M. Aur. Med. 10, 34 (siehe ferner: 4, 24; 5, 28; 11, 6; 7, 27; 9, 42; siehe dazu bereits Misch, G.: Geschichte der Autobiographie, a.a.O., S. 459 und Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 3 f.). 323 Z. B.: „Dessen muss man sich immer bewusst sein, was die Natur des Ganzen und was meine eigene Natur ist und wie sich diese zu jener verhlt und welcher Teil welches Ganzen sie ist.“ (M. Aur. Med. 2, 9). 324 Z. B.: „Was ich eigentlich bin, ist ein bisschen Fleisch, ein wenig Atem und das leitende Prinzip meiner Seele.“ (M. Aur. Med. 2, 2). 325 Z. B.: „Bei jeder Gelegenheit muss man sich dies fragen und prfen: Was geschieht bei mir in dem Teil der Seele, den man den fhrenden Teil nennt …?“ (M. Aur. Med. 5, 11). 326 Z. B.: „Wenn du in ein anderes Leben hinbergehst, dann ist auch dort alles von Gçttlichem erfllt. Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhçren, Schmerzen und Freuden zu haben und dem Gefß dienen, das so viel weniger wert ist als das, dem es dient. Dieses nmlich ist Geist und gçttliche Kraft, jenes aber nur Erde und Blut.“ (M. Aur. Med. 3, 3). 327 Z. B.: „Bei jeder Ttigkeit frage dich: Was bedeutet sie fr mich? Ist zu befrchten, dass ich sie bereuen muss?“ (M. Aur. Med. 8, 2). 328 Misch, G.: Geschichte der Autobiographie, a.a.O., S. 461. 329 Ebd., S. 462.
110
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Nichts trgt nmlich so sehr dazu bei, innere berlegenheit zu erzeugen, wie die Fhigkeit, methodisch konsequent und wirklichkeitsgerecht jeden im Leben vorkommenden Sachverhalt zu durchleuchten und zu klren…330
Die Selbstbetrachtungen sind als Ganzes ein Versuch, diese methodisch nach strengen Vernunftregeln erzeugte innere berlegenheit zu erzielen. Genau das aber ist als „Erbsnde der Autobiographie“ bezeichnet worden.331 Mit dem Erzhlen geht ferner ein bestimmter epistemischer Anspruch einher, und zwar ein ußerst bescheidener: In der Ttigkeit des Erzhlens ist aber, anders als im Erkennen nicht schon ein Anspruch impliziert, ,die Wahrheit zu sagen‘. Fiktiv zu sein schadet der Erzhlung als solcher berhaupt nicht. Der Bezug auf das Leben wird der Erzhlung erst zustzlich aufgebrdet durch die Aufforderung, von ,mir selbst‘ zu handeln; gefordert wird, dass sie ,stimmt‘. Aber wann stimmt sie? Man ist geneigt zu sagen: nie.332
Und weiter: Kennzeichnend fr die Erzhlung ist die Offenheit ihrer sprachlichen Folge; ein Satz erlaubt eine Vielzahl von Anschlssen. Die Erzhlung ist insofern unterschieden sowohl von einer logisch verknpften Folge von Stzen wie auch von zusammenhanglosen aufgereihten sprachlichen Einheiten.333
Demgegenber versucht Marc Aurel mit Anspruch auf Wahrheit zu argumentieren. Gelegentlich finden sich sogar Syllogismen: „Wo es mçglich ist zu leben, da kann man auch gut leben. Am Kaiserhof kann man leben. Also kann man am Kaiserhof auch gut leben.“334 Bei seiner These, das autobiographische Erzhlen diene der Selbsterkenntnis und Sorge um die Seele, beruft sich Thom auf Sokrates bzw. leitet seine Thesen von dessen Aufforderung zur Selbsterkenntnis ab.
330 M. Aur. Med. 3, 11. 331 „Die Erbsnde der Autobiographie ist also in erster Linie die logische Kohrenz und die Vernunftmßigkeit.“ Gusdorf, G.: Voraussetzungen und Grenzen der Biographie, a.a.O., S. 138. 332 Thom, D.: Erzhle Dich selbst, a.a.O., S. 13. 333 Ebd., S. 25. 334 M. Aur. Med. 5, 16. Eine ausfhrliche Analyse vor dem Hintergrund moderner Kritiken gibt Dalfen, J.: „Wo man leben kann, kann man gut leben“. Ableitung und Begrndung ethischer Stze bei Marc Aurel und die Problematik von „Sein“ und „Sollen“, in: Dalfen, J. (Hg.): Symmicta philologica salisburgensia, Rom 1980, S. 21 – 41.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
111
Sokrates war dafr bekannt, seine Gesprchsteilnehmer dazu zu bringen, ber sich selber zu reden.335 Sokrates fordert von seinen Gesprchspartnern einen Logos, aber sicher keine freie autobiographische Erzhlung ber das, was sie getan haben, sondern Argumente, die Rechenschaft geben und so die Selbstsorge sicherstellen. Und nur Wissen gewhrt Glck und dessen Sicherheit. Damit soll nicht generell bestritten werden, dass – wie Thom meint – autobiographisches Erzhlen ein Weg ist, um die ethische Absicht der Selbsterkenntnis und Selbstsorge zu verwirklichen. Doch Marc Aurel folgt eher Sokrates’ Empfehlung, dazu Argumente oder allgemeine (meist stoische) und mit Wahrheitsanspruch versehene Stze, an die er sich bestndig mahnt, zu verwenden. Referenzpunkt ist fr ihn die Natur im Allgemeinen und weniger die Individualitt: Ich gehe meinen Weg auf der Bahn des Naturgemßen, bis ich mich ausruhen kann, nachdem ich mein Leben dorthin ausgehaucht habe, woraus ich Tag fr Tag Luft hole, und auf den Boden gestrzt bin, aus dem mein Vater den Samen erhielt….336
Nur die Allgemeinheit der sich in der Natur manifestierenden Vernunft ist entscheidend: „halte nichts fr bedeutend, außer diesem: So zu handeln, wie deine eigene Natur dich leitet, und alles so zu ertragen, wie die gemeinsame Natur es mit sich bringt.“337 Seine philosophischen Auffassungen kçnnten so vielleicht erklren, warum er weder ber sich oder andere(s) viel Konkretes erzhlt oder erinnern mçchte. Die autobiographische Erzhlung wre demnach ein seiner Philosophie nicht adquates Schreiben. 3.1.4 Zusammenfassung und Ausblick Misch und vor ihm Dilthey haben die Autobiographie vor allem von der Absicht her verstanden: „Die Besinnung eines Menschen auf sich selbst bleibt Richtpunkt und Grundlage.“338 Dieses Kriterium erfllt Marc Aurel 335 „Du scheinst gar nicht zu wissen, dass, wer der Rede des Sokrates nahe genug kommt und sich mit ihm einlsst ins Gesprch, unvermeidlich, wenn er auch von etwas ganz anderem zuerst angefangen hat zu reden, von diesem so lange ohne Ruhe herumgefhrt wird, bis er ihn da hat, dass er Rede stehen muss ber sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche Weise er das vorige Leben gelebt hat.“ Pl. La. 187e-188a. 336 M. Aur. Med. 5, 4. 337 M. Aur. Med. 12, 37. 338 Dilthey, W.: Das Erleben und die Selbstbiographie, a.a.O., S. 32.
112
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
wie wenig andere Autoren vor oder nach ihm. Im Unterschied dazu gilt der modernen Autobiographie-Forschung die Erzhlung als notwendiges Kriterium, das erfllt sein muss, damit ein Text als Autobiographie eingestuft werden kann.339 Das nicht-christliche selbstbiographische Material gehçrt verschiedenen Literaturgattungen an, die sich gar nicht nach einem bestimmten Prinzip einteilen lassen. Entsprechende Zusammenstellungen kçnnen sich nicht auf antike Theoretiker der Literaturgattungen beziehen und ihre Kriterien heranziehen, sondern orientieren sich an modernen Autoren wie Jacoby, Wilamowitz und Misch.340 Auch ein Vergleich mit dem, was wir an (auto-)biographischem Material aus Marc Aurels zeitlichem Umfeld haben, unterstreicht eher die Besonderheit der Selbstbetrachtungen. Rçmische Herrscher oder Regierende haben oft und gerne ber ihr Leben geschrieben oder schreiben lassen. Es ist bekannt, dass C. Gracchus ber das Leben seines Bruders schrieb, um dort auch eigene Zielsetzungen mitzuteilen, Augustus soll 13 Bcher verfasst haben (Commentarii de vita sua), Claudius immerhin acht. Neben weiteren Kaisern (Caesar, Tiberius, Hadrian) haben viele weitere Persçnlichkeiten, wie Sulla, Cicero oder der jngere Agrippina, entsprechende Berichte verfasst.341 Doch die Selbstbetrachtungen unterscheiden sich von dieser Literaturgruppe in zwei grundstzlichen Hinsichten: Dem Inhalt nach waren diese Schriften durch Berichte ber die Taten auf der politischen Bhne oder auf dem Schlachtfeld geprgt.342 Der Absicht nach ging es den Herrscher-Biographien oder -Autobiographien darum, die Leistungen des Beschriebenen in ein besonders gutes 339 Dagegen hat Dalfen argumentiert: „Es ist aber fraglich, ob narration / Erzhlung in diesem Sinne wirklich das dominante Definitionsmerkmal der Autobiographie ist. Es sei nur erinnert, dass in der Antike auch der Rechenschaftsbericht zur Autobiographie gerechnet wird.“ (Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, a.a.O., S. 197 Anm. 30). 340 Zum autobiographischen Material der nicht-christlichen Antike werden gerechnet: Grabinschriften, Selbstzeugnisse, Apologien, Memoiren, Berichte ber innere Erfahrungen, Bekehrungsgeschichten und religiçse Seelengeschichten (siehe den Eintrag „Autobiographie“ , in: RAC, S. 1050 – 1053). 341 Siehe allgemein Momigliano, A.: The Development of Greek Biography, Cambridge (Mass.) 1971 und quasi fortsetzend: Cox, P.: Biography in Late Antiquity, Berkeley/Los Angeles 1983. Fr die Zeit Marc Aurels siehe bes.: Lewis, R. G.: Imperial Autobiography, in: ANRW 34/1, S. 629 – 706. 342 Siehe Momigliano, A.: The Development of Greek Biography, a.a.O., S. 94 und Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 49 ff.
3.1 Die Selbstbetrachtungen als Autobiographie?
113
Licht zu rcken, um so zu Lebzeiten das Ansehen bei den Brgern sicherzustellen und vor allem bei der Nachwelt fr ein ungetrbtes Andenken zu sorgen.343 Marc Aurels Selbstbetrachtungen kreisen zum einen thematisch nicht um die eigenen politischen oder militrischen Taten. Und zum anderen kann wohl keine Rede davon sein, dass Marc Aurel sich selbst Ruhm und Ansehen sichern wollte. Dies gilt nicht nur, weil er den Text nicht verçffentlichen wollte, sondern zugleich trotz der Tatsache, dass ihm das gelang. Die Selbstbetrachtungen entsprechen weder ganz den modernen Bestimmungen der Autobiographie noch gleichen sie antiken Texten, die zum autobiographischen Schrifttum gerechnet werden kçnnen. Wenn eine Spezies der Gattung Autobiographie fr die Selbstbetrachtungen eingerichtet werden soll, dann handelt es sich um eine argumentative statt erzhlende und daher eher philosophische statt literarische Autobiographie. Die Frage, inwiefern Marc Aurel autobiographisch geschrieben hat, erweist sich fr eine Analyse der Selbstbetrachtungen von großem Wert. Sie verweist ebenfalls auf die Besonderheit der Selbstbetrachtungen und wird ferner zu Aspekten fhren, die fr die weitere Untersuchung wegweisend sind. Hier eine Zusammenfassung der Punkte: (i) Marc Aurel schreibt ber sein Leben, sein Denken, Fhlen und Handeln. (ii) Er schreibt im Interesse seiner Lebensfhrung. Misch nannte dies „bung des Lebens“. (iii) Sein Schreiben macht sich die Mittel der psychagogischen Philosophie zunutze und ist nicht erzhlend. Inhalte und Formulierung sind von einer großen Allgemeinheit geprgt und zielen damit auf allgemeine Gltigkeit und Wahrheit ab. (iv) Beim gewçhnlichen autobiographischen Schreiben wie auch im Falle der Selbstbetrachtungen ist der „Schreibakt“ von Bedeutung. Dieser Vollzugscharakter ist gerade im Hinblick auf die Abfassungsweise und Selbstadressierung der Selbstbetrachtungen eingehend zu untersuchen. (v) Die Gattung der Autobiographie erlaubt dem Autor eine freie Wahl der stilistischen Mittel. Nun hat sich Marc Aurel ganz sicher nicht an die Gattungsunterscheidungen antiker (oder moderner) Literatur343 Siehe dazu Bowersock, G. W.: Vita Caesarum. Remembering and Forgetting the Past, in: Ehlers, W./Maul, St. (Hg.): La biographie antique, huit exposs suivis de discussions, Vandoeuvres, Genve 25 – 29 aot 1997, Genve 1998, S. 193 – 216. So auch Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, a.a.O., S. 188.
114
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
wissenschaftler gehalten. Fast genauso unwahrscheinlich ist, dass er ganz bewusst einen Text geschrieben hat, um einen bestimmten Typus von Literatur zu verfassen. Aber der Sache nach verweist der Zusammenhang von literarischem Stil und der Beschftigung des Autors mit sich selbst auf etwas fr die Selbstbetrachtungen Relevantes. Von einer besonders freien stilistischen Mittelwahl kçnnen wir bei Marc Aurel ganz sicher reden. Die Frage nach dem autobiographischen Charakter der Selbstbetrachtungen fhrt zu der nach den dort verwandten Stilmitteln und ihrer Beziehung zum Inhalt und der Absicht. (vi) Der Vollzugsaspekt betrifft nicht nur die sprachlichen Mittel. Denn bei Marc Aurel findet die Auseinandersetzung mit sich selbst in Form eines Selbstgesprches statt. Welche Formen der Dialogizitt lassen sich bei Marc Aurel ausmachen?344 3.2 Die Ermahnung und Verwandtes 3.2.1 Vorbemerkung zur „Parnese“ „Parnese“ ist ein mit Vorsicht zu gebrauchender Begriff.345 Dies aus verschiedenen Grnden. Die Wortbedeutungen des zugrunde liegenden Verbs paqaim´y reichen von Rat erteilen,346 anraten und abraten,347 Mut zu344 Siehe Kap. I 3.4.2 und I 4. 345 Die Vielzahl der Definitionen ist beeindruckend (eine Zusammenstellung prsentiert Burlington, T. S.: Toward a Definition of Paraenesis, in: Restoration Quarterly 38/3 (1996), S. 1 – 7). Einige Forscher begngen sich erst gar nicht mit einem Bestimmungsversuch (so etwa Gammie, J. G.: Paraenetic Literature: Toward a Morphology of a Secondary Genre, in: Semeia 50 (1990), S. 41 – 81). Siehe daher die Warnung vor Anwendungen des Begriffes, „die sich sicherer geben, als sie sein drften“ (Popkens, W.: Parnese und Neues Testament, Stuttgart 1996, S. 9). Der Großteil der Literatur zur Parnese konzentriert sich auf religiçse Formen. Daher werden besonders die parnetischen Elemente der Paulus-Briefe bei entsprechenden Definitionsversuchen bercksichtigt. Fast alle Definitionen, die Sensing diskutiert, entstammen Arbeiten, die sich auf christliche Mahnungen in Briefen konzentrieren (siehe Dibelius, M.: A Commentary on the Epistle of James, Philadelphia 1976; Malherbe, A. J.: Paul: Hellenistic Philosopher or Christian Pastor?, in: American Theological Library Association Proceedings 39 (1985), S. 86 – 98). Zu den jdischen Formen der Parnese siehe Niebuhr, K.-W.: Gesetz und Parnese: katechismusartige Weisungsreihen in der frhjdischen Literatur, Tbingen 1987; zu den christlichen Formen: Cruz, H.: Christological motives and motivated actions in Pauline paraenesis, Frankfurt a. M. 1990 und jngst Starr, J./ Engberg-Pedersen, T. (Hg.): Early Christian paraenesis in context, Berlin 2005. 346 Siehe Herodot 1, 59; Thuc. 1, 92.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
115
sprechen,348 Zuspruch zu erteilen,349 unterweisen,350 ber mahnen351 bis zu trçsten.352 „Parnese“ ist kein antiker terminus technicus. Kaum ein antikes Lehrbuch der Rhetorik fhrt sie auf. Nur zwei Ausnahmen scheint es zu geben:353 Quintilian erwhnt die Parnese als eine Redefigur des Gorgias354 und die antike Fabeltheorie meint mit Parnese „den Vorgang der Entschlsselung des hinter der vordergrndigen Texthandlung liegenden eigentlichen Sinngehalts“.355 Mahnungen werden in vielen verschiedenen Texten verwandt, ohne das man auch rckblickend eine Gattung konstruieren kçnnte. Das, was als „Parnese“ bezeichnet wird, firmiert ebenfalls unter anderen Bezeichnungen oder hat eine große Nhe zu artverwandten Formen. Der Rat (sulbo¼keusir) ist eine Parnese, die eine Handlungsweise zum Inhalt hat.356 Wie die Parnese ist die Adhortatio (bzw. Exhortatio) eine Aufforderung, Ermahnung oder Ermutigung und kann in einem engeren Sinne als direkte und auffordernde Anrede auftauchen.357 Sie findet sich ebenfalls in den sog. Feldherrenreden oder als Vorwurf,358 oder im antreibenden Gesprch von Soldaten untereinander.359 Die Adhortatio ist allgemeiner Teil
347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357
358 359
Siehe Pl. Phdr. 234b; Xen. Cyr. 3, 50. Siehe Thuc. 7, 69. Siehe Thuc. 7, 69. Siehe Pindar Pythien 6, 23. Siehe Thuc. 5, 49. Siehe Eur. Fragm. 1079. Siehe hierzu den Eintrag „Parnese“ von A. Grçzinger im Historischen Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tbingen 2005, S. 552 – 555. Siehe Quint. Inst. 9, 2, 103. Grçzinger, A.: „Parnese“, a.a.O., S. 555. Er sttzt sich dabei auf Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Mnchen 1960, S. 1109. So definieren in der spten Antike Pseudo-Platon, Pseudo-Libanios und Demetrios. Eine umfassende Stellensammlung prsentiert Popkens, W.: Parnese und Neues Testament, a.a.O., S. 18 f. Siehe Julius Rufiniamus De figuris sententiarum et eluctionis liber 35. Siehe dazu Ernesti, J. C. T.: Lexicon technologiae latinorum rhetoricae, Hildesheim 1972 (ND von 1797), S. 10. Eine weitere Erçrterung mit entsprechenden Stellenangaben findet sich bei Vallozza, M.: „Adhortatio“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tbingen 1992, S. 100 – 4. Siehe Livius Ab urbe condita 7, 33, 4; 2, 43, 8. Siehe Ebd., 6, 24, 7; 30, 33, 8; 41, 3, 8.
116
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
der Geschichtsschreibung.360 Der auffordernde Charakter der Adhortatio ist ferner noch in Briefen361 oder Leseranreden erhalten.362 Sowohl Parnese als auch Adhortatio stehen in sehr engem Verhltnis zur Protreptik, denn auch pqotq´peim meint ein Ermuntern und Antreiben. Anders als die beiden erst genannten Formen ist Protreptik eine viel eigenstndigere und besser bestimmte Gattung in der antiken Literatur. Das Zu- oder Abraten (pqotq´peim, !potq´peim) spielte in (politischen) Reden (c´mor dglgcoqijºm oder sulboukeutijºm) eine große Rolle.363 Allgemein ist Protreptik ein Aufruf (paq²jkgsir) fr eine Entscheidung, ein Reden oder Handeln.364 In einem speziellen Sinne kann eine Werbeschrift (pqotqeptij¹r kºcor) gemeint sein. Die Sophisten warben schriftlich und mndlich fr ihren (rhetorischen) Unterricht. Hier bezieht sich die Aufforderung auf ein bestimmtes Kçnnen desjenigen, der auffordert. Als direkte Antwort auf das sophistische Werben fr ihre Lehrttigkeit verwendet Platon, vor allem in den Frhdialogen, eine „Rhetorik des gegenrhetorischen Arguments“,365 um das Werben nun fr die Tugend und die Philosophie in Anspruch zu nehmen.366 Im Euthydemos inszeniert Platon einen regelrechten Wettstreit: 360 Siehe Cic. Or. 66 und Tusc. Dis. 2, 26 (ad Spartiatas). 361 Siehe Livius Ab urbe condita 31, 15, 4; 42, 13, 1. Zu Exhortatio mit den genannten Bedeutungen siehe exemplarisch: Tac. Hist. 1, 36, 3; 2, 21, 4. 362 Siehe Cic. Or. 2, 11. Siehe dazu (mit weiteren Angaben) Steinbrink, B./Ueding, G.: Grundriss der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, 5. Aufl., Stuttgart 2005, S. 297 ff. 363 Siehe Arist. Rh. 1, 3, 1358b, 8 ff. Nach drei Arten von Zuschauern unterscheidet Aristoteles eine deliberative, judiziale und epideiktische Redegattung. Jenseits gewisser Streitigkeiten in der Forschung ist die Unterscheidung von Zu- und Abraten fr Aristoteles hier zentral (Arist. Rh. 1, 5, 1360b10; 1, 7, 1365b20; 4, 14, 1415a6). 364 Die lateinische bersetzung fr pqotqop¶ ist jedoch nicht „adhortatio“, sondern „suasio“. Anders Quint. Inst. 5, 10, 83 und 3, 6, 47. 365 Blumenberg, H.: Die Verfhrbarkeit des Philosophen, Frankfurt a. M. 2000, S. 92. 366 Bereits in der Apologie fingiert Sokrates einen Dialog, in dem er mit bestechenden Worten auffordert: „Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhçren, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden; ‘Wie, bester Mann, als ein Athener aus der grçßten und fr Weisheit und Macht berhmtesten Stadt, schmst du dich nicht, fr Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und fr Ruhm und Ehre; – fr Einsicht aber und Wahrheit und fr deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken?’“ (Pl. Ap. 29c-e).
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
117
Kleinias, dem die Rolle des Herakles am Scheideweg zukommt, muss sich entscheiden, ob er bei den Sophisten Unterricht nehmen will.367 Sokrates sagt: Sie [die Sophisten] sagten nmlich, sie wollten uns etwas zeigen von ihrer Kunst, das Gemt anzutreiben; nun aber, dnkt mich, haben sie eben geglaubt, erst mit dir scherzen zu mssen … Nun aber nach diesem, zeigt uns auch wirklich eure Kunst, in dem ihr den jungen Menschen aufmuntert, wie man auf Weisheit und Tugend Fleiß verwenden muss. Zuvor aber will ich euch zeigen, wie ich es mir denke und in welcher Art ich es von euch zu hçren wnsche.368
Mahnungen kçnnen somit auch speziell auf Philosophie gerichtet sein, indem sie auffordern, sich ihr zu widmen. Besonders in den frhen Dialogen Platons wird dies deutlich.369 Auf das Werben der Philosophie reagiert wiederum Isokrates. Dessen Antidosis bestreitet die motivationale Kraft der Philosophie, indem das spezifisch philosophische Wissen als nutzlos bestimmt wird. Whrend Platon die Nutzenorientierung der Sophisten bei seiner Aufforderung zur Philosophie aufgreift, antwortet Aristoteles mit seinem Protreptikos auf Isokrates, indem er die Philosophie als nicht am Nutzen orientiert bestimmt.370 Whrend Isokrates meint, Philosophie gewhre Eudaimonie obwohl sie nicht am Nutzen orientiert sei, meint Aristoteles, Philosophie mache glckselig, gerade weil sie nicht am Nutzen orientiert sei.371 Das auffordernde Werben fr Philosophie war in Folge weit verbreitet. Epiktet unterscheidet eine protreptische, elenktische und didaktische Form der sog. „Diatribe“.372 Im Kapitel zur sog. „Diatribe“ wird darauf nher eingegangen.373 Fr Seneca sind Mahnungen von decreta unterschieden: Die praecepta („quam Gaeci paraneticen vocant“), sind ein besonders wichtiger Teil der 367 Diese Gesprchssituation entspricht der Eingangspassage des Protagoras. 368 Pl. Euthyd. 278c-d. Zum nachfolgenden Protreptikos des Sokrates siehe van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., Kap. I 5. Insgesamt zu Platon siehe Gaiser, K.: Protreptik und Parnese bei Platon, Stuttgart 1959. 369 Siehe Gaiser, K.: Protreptik und Parnese bei Platon, a.a.O. 370 Siehe die Rekonstruktion von Dring, I.: Aristoteles: Protreptikos, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993. 371 Zum Zusammenhang von Theorie und Glck siehe van Ackeren, M.: Theoretisch glcklich. Bedeutung und Zusammenhang der Glcksbestimmungen in Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik, a.a.O. 372 Siehe Arr. Epict. diss. 3, 23, 33. 373 Siehe Kap. I 3.4.
118
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Philosophie,374 weil die Beweise, Lehren, ber das, was zu tun gut ist,375 nicht ausreichen. Sie mssen wiederholt angemahnt werden.376 Die decreta, die Lehren, bleiben jedoch notwendig, weil sie den Mahnungen ein Fundament geben.377 Mahnungen betreffen das dem Menschen Mçgliche. Zu- oder Abraten appelliert an die Entscheidungsfhigkeit des Beratenen und macht nur dort Sinn, wo der Beratene auf etwas Einfluss hat. Mahnungen beziehen sich demnach auf bestehende Handlungsoptionen des Beratenen. Zweitens ist der Rat immer ethischer Natur, insofern der Beratende mit einem Rat eine Wertung abgibt. Dasjenige, zudem er rt, ist als gut qualifiziert, dasjenige, von dem er abrt, als schlecht.378 Wegen dieser inhaltlichen Ausrichtung auf das Handeln, aber auch wegen formaler hnlichkeiten (etwa der Krze) lassen sich Gemeinsamkeiten von „Parnese“ und Gnome (Sentenz) feststellen. Eine Gnome ist ein behauptender Satz ber allgemeine Sachverhalte und behandelt nur das, womit Handlungen es zu tun haben und was zu tun oder zu vermeiden ist.379 Der Terminus cm¾lg meint zunchst allgemein Wissen,380 gewinnt dann aber wohl gegen Ende des fnften vorchristlichen Jahrhunderts seine spezifische Bedeutung. Bereits Isokrates und Aristophanes erwhnen Gnomen wie ein bekanntes Phnomen.381 Isokrates empfiehlt das Exzerpieren von formal abgeschlossenen und fr das Leben lehrreichen Sprchen aus den Werken von Hesiod, Theognis und Phokylides. Anfnglich handelte es sich vorwiegend um Dichterzitate, die auch im Schulbetrieb verwandt wurden. Dann kam mit den Sprchen der Sieben Weisen und denen der Spartaner auch Prosa in den zunehmenden philosophischen Erçrterungen vor, wie bei Platon und Xenophon belegt ist.382 Wegen der kurzen 374 375 376 377 378 379
Siehe Sen. Ep. 95, 1. Siehe Sen. Ep. 95, 10 und 64; 94, 7 – 11. Siehe Sen. Ep. 94, 25. Siehe Sen. Ep. 95, 59. Beide Aspekte erwhnt Arist. Rh. 1359a-b. Siehe Arist. Rh. 1394a26 – 29; dazu Rapp, Ch.: Aristoteles, Rhetorik, bers. und erl. von Ch. Rapp, 2. Halbband, Berlin 2003. Zur Wirkung von Aristoteles (einschl. der seiner Sprche) siehe Searby, D. M.: Aristotle in the Greek Gnomological Tradition, Uppsala 1998. 380 Siehe Snell, B.: Die Ausdrcke fr den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1924. 381 Siehe Isoc. Or. 2, 44 und Ar. Eq. 1379, Eccl. 952. 382 Siehe Pl. Prt. 342e-343b zu den Sprchen der Sieben Weisen (dazu Snell, B.: Leben und Meinung der Sieben Weisen, Berlin 1938), Lys. 212e, 214a, Phdr. 267c, Leg. 811a; siehe auch Xen. Mem. 1, 6, 14; 4, 2, 9; rckblickend Diog. Laert. 6, 31.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
119
und abgeschlossenen Form wurde die Gnome nicht nur innerhalb anderer Textformen wieder gegeben, sondern in einem Gnomo-logium eigens gesammelt. Die Gattung ist weit gestreut. Overwien gibt folgende Zusammenfassung: Darunter fallen z. B. die j¼qiai dºnai Epikurs, die Sextus-Sentenzen, die cm_lai (wqusa? ) des Demokrates, die Monostichoi Menanders oder die „Goldenen Worte (wqus÷ 5pg)“ des Pythagoras, die in Vers- oder Prosaform der philosophischen Anleitung, der Didaktik oder auch nur der Unterhaltung dienen konnten.383
Welche Aspekte sind nun fr Mahnungen charakteristisch? Vielleicht lassen sich zunchst drei Varianten der Mahnung unterscheiden: (i) die Auflistung von Tugenden und deren Gegenteil, (ii) die Reihung von Aufforderungen und (iii) die seltenere, etwas lnger ausformulierte Mahnung in Bezug auf ein Thema.384 Fr die Selbstbetrachtungen kann folgende Charakterisierung der Mahnung als Anhaltspunkt dienen: Formal ist die Mahnung oft eine abgeschlossene Einheit.385 Die Mahnung ist oft auch kurz. Mahnungen zeichnen sich durch eine mangelnde Kohrenz aus. Dies betrifft erstens die Stze einer Mahnung oder zweitens die Verbindung einzelner Mahnungen in einer Sequenz. Und drittens ist fraglich, wie eng das Verhltnis zum nicht mahnenden Teil eines Textes stehen muss. Solche Verbindungen von Textteilen bestehen oft nur in Form von Stichwçrtern.386 Mahnungen wiederholen bzw. variieren oft ein Motiv oder werden in einer bestimmten Formulierung selber wie383 So (im Rekurs auf Thom, J.: The Pythagorean Golden Verses, Leiden u. a. 1995, S. 69 ff.) Overwien, O.: Das Gnomologium, das Gnomologium Vaticanum und die Tradition, in: Gçttinger Forum fr Altertumswissenschaft 4 (2001), S. 99 – 131, hier: S. 102 f. Streng genommen, so lautet eine These von Overwien, darf ein Gnomo-logium nur Gnomen vereinen. Bei Aristoteles (Rh. 1349a19 ff.) meint cmylokoc¸a ein Reden in Gnomen oder deren Gebrauch. Zum Gattungsbegriff wurde es allenfalls sehr spt in der Antike. Nach heutiger Verwendung sind auch die Sammlungen von Chrien, Apophthegmata und Apomnemoneumata, zu bercksichtigen. 384 So Sensing, T.: Toward a Definition of Paraenesis, a.a.O., S. 2. 385 Siehe McDonald, J. I. H.: Kerygma und Didache: The Articulation and the Structure of the Earliest Christian Message, Cambridge 1980, S. 70. 386 Siehe zu diesen Fragen die Bestimmungsversuche, die sich aber nahezu ausschließlich an christlicher parnetischer Literatur orientieren (siehe Dibelius, M.: A Commentary on the Epistle of James, a.a.O., S. 19 – 23).
120
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
derholt.387 Mahnungen sind auf allgemeine Anwendbarkeit hin angelegt.388 Fraglich ist, ob sie mit der Schilderung einer bestimmten Situation oder eines Situationstypus verknpft sind.389 Eine Mahnung mçchte eher zum Handeln als zur Wissenssuche motivieren.390 Die Mahnung behandelt dann oft keine fr den Adressaten neuen Inhalte. Sie mahnt vielmehr den Vollzug einer bereits bekannten Handlungsweise oder die Umsetzung einer als bekannt vorausgesetzten Kenntnis an.391 Mahnungen verwenden Exempel.392 3.2.2 Mahnendes im ersten Buch und in damit verbundenen Kapiteln Obschon das erste Buch fr sich genommen ein in der Antike einzigartiger Text ist, steht es wegen einiger Aspekte in der parnetischen Tradition: Marc Aurel listet dort Tugenden und ihr Gegenteil auf. Er legt ein Musterverzeichnis an. Eine solche auflistende Beschreibung gehçrt in der Stoa zum mahnenden Teil der Philosophie. Seneca beruft sich auf Poseidonius und erlutert: Poseidonius erklrt nicht nur das Erlassen von Vorschriften – nichts nmlich hindert uns diesen Begriff zu gebrauchen –, sondern auch die Beratung, Trçstung und Ermahnung fr notwendig. … Er erklrt, ntzlich werde sein auch die Beschreibung einer jeden Erscheinungsform der sittlichen Vollkommenheit: sie nennt Poseidonius Ethologie, Sittenlehre, andere sprechen von Charakterismos (Charakteristik), da sie die Merkmale einer jeden Erscheinungsform der sittlichen Vollkommenheit und Fehlhaltung sowie Kennzeichen benennt, mit denen man untereinander hnliches unterscheiden kann. Dieses Verfahren hat dieselbe Wirkung wie Vorschriften zu machen, 387 Siehe Perdue, L. G.: The Social Character of Paraenesis, in: ders./Gammie, J. G. (Hg.): Paraenesis: Act and Form, a.a.O., S. 5 – 40, hier: S. 19 und Gammie, J. G.: Paraenetic Literature: Toward the Morphology of a Secondary Genre, in: Perdue, L. G./Gammie, J. G. (Hg.): Paraenesis: Act and Form, a.a.O., S. 41 – 81, hier: S. 55. 388 Siehe Malherbe, A.: Moral Exhortation, Philadelphia 1986, S. 124 – 5. 389 Siehe die Diskussion bei Sensing, T.: Towards a Definition of Paraenesis, a.a.O., S. 2 f. 390 Gammie, J. G.: Paraenetic Literature: Toward the Morphology of a Secondary Genre, a.a.O., S. 58 – 61. 391 Siehe Wilson, W. T.: Love without Pretense: Romans 12, 9 – 21 and HellenisticJewish Wisdom Literature, Tbingen 1991, S. 3 und Malherbe, A.: Moral Exhortation, a.a.O., S. 124 – 5. 392 Siehe Gammie, J. G.: Paraenetic Literature: Toward the Morphology of a Secondary Genre, a.a.O., S. 55; Wilson, W. T.: Love without Pretense: Romans 12, 9 – 21 and Hellenistic-Jewish Wisdom Literature, a.a.O., S. 9 und Malherbe, A.: Moral Exhortation, a.a.O., S. 124 – 5.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
121
denn wer Vorschriften macht, sagt: ,Das wirst du tun, wenn du mßig sein willst‘, wer beschreibt, sagt: ,Mßig ist, wer dieses tut, jenes lsst.‘ Du fragst, was der Unterschied ist? Der eine gibt Vorschriften fr die sittliche Vollkommenheit, der andere ein Beispiel. Diese Beschreibungen und, um einen Begriff der Steuerpchter zu gebrauchen, Ikonismen, Musterverzeichnisse sind von Nutzen, gestehe ich ein: setzen wir lobenswerte Ziele, so wird sich ein Nachahmer finden.393
Senecas Unterscheidung von Vorschriften und Beschreibungen, die eine vorschreibende Wirkung haben und daher ntzlich sind, ist besonders gut fr die Erfassung des ersten Buches der Selbstbetrachtungen geeignet. Im ersten Buch findet sich keine einzige direkte Handlungsaufforderung und kein Imperativ. Die Auflistung der Eigenschaften soll jedoch genau diese adhortative Wirkung haben. Dies besttigen weitere Passagen aus den nachfolgenden Bchern, die mit dem parnetischen Anliegen des ersten Buches in Verbindung stehen. Doch zuvor ist noch das zweite parnetische Merkmal des ersten Buches zu erwhnen. Die Auflistung der Tugenden im ersten Buch ist nicht thematisch geordnet. Der Erwerb der Eigenschaften soll in Form einer Nachahmung von Personen geschehen, die diese Tugenden vorbildhaft verkçrpern. Bei der Nennung von Vorbildern beschrnkt sich Marc Aurel im ersten Buch auf Erzieher oder Lehrer oder Familienangehçrige. Die Erwhnung paradigmatischer und nachzuahmender Vorbilder ist nicht spezifisch parnetisch. Doch gilt dies fr die Wahl von Exempeln aus dem eigenen und engsten Kreise. Wie J. Dalfen gezeigt hat,394 geht es hier nicht um die Verwendung eines oQje?om paq²deicla in einem weiten Sinne, d. h. der Wahl des Beispiels aus dem Bereich der Geschichte des eigenen Volkes.395 Vielmehr werden gerade in der parnetischen Tradition die Vorbilder aus dem engsten Familienkreis und besonders gerne der Vater gewhlt,396 wobei gelegentlich sogar Beispiele aus der nationalen Tradition ausdrcklich ausgeschlossen werden.397 Damit ergeben sich bereits zwei Unterschiede zur ebenfalls mahnenden und antreibenden Form der sog. „Diatribe“, denn dort finden sich zwar 393 Sen. Ep. 95, 55 – 6. 394 Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 61 – 3. 395 So aber Volkmann, R.: Die Rhetorik der Griechen und Rçmer in systematischer bersicht, 2. Aufl., Leipzig 1855, S. 236. 396 So etwa im Euagoras und der Nikoklesrede des Isokrates oder der Rede an Demonikes, die aber wohl von einem Schler des Isokrates stammt. 397 Dalfen erwhnt ein Gedicht (Silvae) an Crispinus von Statius.
122
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
viele Exempel, aber kein oQje?om paq²deicla in diesem engeren Sinne.398 Begrndet ist dies in einer weiteren Differenz: Oben wurde das Wissen des Beratenden ber den Adressaten und seine Vertrautheit mit ihm als charakteristischer Aspekt der Parnese erwhnt. Schon weil die sog. „Diatribe“ gerne im philosophischen Schulbetrieb verwandt wurde, sind familienbezogene Exempel nicht zu erwarten. Denn erstens kennt der Lehrer die Familie des Schlers nicht gut genug, und zweitens setzt die Situation in der Schule eine gewisse Distanz voraus. Im Lehrbetrieb soll der Rat drittens fr den Adressaten und die anderen anwesenden Schler hilfreich sein. Gerade um letztgenannte mit einzubeziehen, ist es effektiver, auf allgemein bekannte Exempel aus der Geschichte oder Dichtung zurckzugreifen. Ein Beispiel ist nach Quintilian dann besonders lehrreich, wenn es dem Hçrer vertraut ist, „denn es muss, was zu Erklrung einer Erscheinung dienen soll, selbst klarer sein als das, was es erklrt.“399 Da Marc Aurel fr sich selber schreibt, ist es nahe liegend, dass er hierzu auf (nur) ihm bestens bekannte Exempel zurckgreift und das sind die Familienmitglieder und besonders sein Adoptivvater Pius. Noch eine kurze Anmerkung zur Verwendung von (oQje?om) paq²deicla : Mit Kant lsst sich folgende Unterscheidung anbringen: Woran ein Exempel nehmen und zur Verstndlichkeit eines Ausdruckes ein Beispiel anfhren, sind ganz verschiedene Begriffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von praktischer Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorstellt, und blos theoretische Dartstellung eines Begriffes 400
Der Hiat zwischen einem erluternden Einzelfall und einer Handlungsanweisung besteht fr Marc Aurel im ersten Buch nicht: Eine einzelne Handlung, wie er sie etwa von Pius erinnert, ist fr ihn nicht nur Beispiel, sondern auch Exempel im Sinne Kants. Dieses Zusammenfallen erklrt sich durch den Gegenstandsbereich der Parnese, die es immer mit Handlungsempfehlungen oder Tugenden zu tun hat. Selbst wenn ein Beispiel zunchst nur der Erluterung dient, wie das letzte Seneca-Zitat 398 Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 63. 399 Quint. Inst. 8, 3, 72 (zitiert nach Klein, J.: „Beispiel“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tbingen 1992, S. 1430 – 1435, hier: S. 1433. Anzumerken ist, dass diese Bestimmung des Beispiels und seiner didaktischen Bedeutung wohl erstmals von Platon theoretisch gefasst wurde (siehe Pl. Politikos 277e-279a). 400 Kant, I.: Metaphysik der Sitten (Akademie Ausgabe Abt. 1, Bd. 6), Berlin 1969, S. 479 f.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
123
zeigte, impliziert eine Tugendbeschreibung fr die Stoiker eine Aufforderung, wie beschrieben zu handeln. Schon die Beschreibung und ein Beispiel im Sinne Kants sind parnetisch. Dies gilt in einem besonderen Maße fr den vorliegenden Fall, dass die Exempel vertraute Menschen sind. Es werden demnach nicht nur Tugenden durch das Beispiel verdeutlicht und so angemahnt. Anders als bei einer Fabel wird die motivierende Kraft durch den Umstand verstrkt, dass hier dem gut bekannten Vorbild eines Menschen gefolgt werden soll. Damit ist ein Phnomen angesprochen, das bereits anklang: die Kombination oder Verdichtung verschiedener parnetischer Elemente im ersten Buch der Selbstbetrachtungen. Auf diese Weise erreicht Marc Aurel eine Krze und Konzentration, die der Effektivittssteigerung dient. Im zusammenfassenden berblick sind zu nennen: (i) Eine Tugendliste, die fr sich mahnend ist. (ii) Eine Exempelliste. (iii) Exempel, die besonders vertraut sind, und daher nur kurz skizziert zu werden brauchen. (iv) Zur Parnese gehçrt (anders als zur Werbeschrift) auch eine Krze, die hier stilistisch durch das rhetorische Mittel Asyndeton erreicht wird.401 Innerhalb der Selbstbetrachtungen weist das erste Buch zwar einen distinkten Charakter auf, doch es ist mit dem Rest verbunden. Fr diese Behauptung wurden besonders zwei Kapitel herangezogen.402 Auf diese Eintrge ist hier nochmals kurz einzugehen. Besttigen sie den parnetischen Charakter des ersten Buches, weil sie selber entsprechende Aspekte aufweisen? Das Kapitel 6, 48 liest sich wie eine Konzeptbeschreibung des ersten Buches: Wenn du dich freuen willst, dann denk an die Vorzge deiner Mitmenschen. Das ist z. B. bei dem einen die Tatkraft, bei dem anderen die Zurckhaltung, bei dem nchsten die Freigebigkeit, bei einem anderen noch etwas anderes. Denn nichts macht soviel Freude, wie die Erscheinungsformen der Tugenden, die in den Charakteren unserer Mitmenschen sichtbar werden und – soweit mçglich – in großer Zahl zusammentreffen. Deshalb muss man sie auch immer zur Hand haben.
401 Dazu mehr im Rahmen des nchsten Kapitels I 5. 402 Siehe M. Aur. Med. 6, 30 und 48. Siehe die Kap. I 3.1.3 und 3.2.3.
124
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Im Vergleich zu der bereits herangezogenen Argumentation von Seneca, dass schon die auflistende Beschreibung von Tugenden eine auffordernde Wirkung habe, ist bemerkenswert, dass Marc Aurel von einer besonderen Beschreibung der Erscheinungsformen der Tugend spricht. Er fordert sich auf, an Tugenden zu denken, die durch Menschen exemplifiziert werden. Mit der Verschmelzung von Tugend- und Exempelliste im ersten Buch realisiert er dies. Auch die Hufung von vorbildhaften Eigenschaften wird hier angesprochen. Die abschließende Bemerkung, dass die Liste immer zur Hand sein soll (pqºweiqor), ist ein Hinweis darauf, dass die Verdichtung und Verbindung von Tugend- und Exempelliste der Krze dient. Den Ausdruck pqºweiqor verwendet Marc Aurel gerne in diesem Zusammenhang.403 Die Krze, die durch die reine Nennung der Eigenschaften erreicht wird, und die Verdichtung mçglichst vieler Tugenden durch Exemplifizierung durch eine Person dienen der besseren Memorierung. Nur wenn das vorgestellte Ideal gut und einfach vorzustellen ist, kann es jederzeit wirken. Als praktischen Zweck nennt das Kapitel nur ganz allgemein das Freuen (eqvqa¸my). Das Kapitel erklrt die Verschmelzung von Tugend- und Exempelliste in mçglichst kurzer Form fr einen praktischen Zweck. Genau wie im ersten Buch fehlen jedoch hier eindeutig mahnende Formulierungen. Die aber finden sich im Kapitel 6, 30, das bereits mit einer Mahnung beginnt: Achte darauf, dass du dich nicht zum Csar machen und entsprechend frben lsst. Denn dass kann geschehen. Sorge also dafr, dass du ein einfacher, guter, ehrlicher, ernsthafter, schlichter Mensch bist, ein Freund der Gerechtigkeit, gottesfrchtig, gtig, liebevoll und stark fr die Leistungen, die du zu erbringen hast. Kmpfe darum, dass du so bleibst, wie dich die Philosophie haben wollte. Achte die Gçtter, rette die Menschen. Das Leben ist kurz. … Erweise dich in allem als ein Schler des Antoninus: Seine Ausdauer bei der Durchsetzung vernnftiger Maßnahmen, seine vollkommene Ausgeglichenheit, seine Frçmmigkeit, sein heiterer Ausdruck … (Halte dir dies vor Augen), damit du in deiner letzten Stunde ein ebenso gutes Gewissen hast wie er.404
Das Kapitel beginnt mit einer ganzen Reihe von Mahnungen, die von einer Gnome („Das Leben ist kurz.“) unterbrochen werden. Hçhepunkt der Mahnungen ist die allgemeingltige Forderung, sich in allen Belangen wie ein Schler des Antoninus Pius zu verhalten. In dieser Mahnung wird die
403 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 13. Siehe dazu mit weiteren Stellen Kap. I 5. 404 M. Aur. Med. 6, 30.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
125
Vorbildfunktion prgnant formuliert, die dann zur Auflistung der nachzuahmenden Eigenschaften berleitet.405 Zwei weitere Kapitel stehen mit dem ersten Buch dann noch in lockerer Verbindung. Da ist zum einem die Auflistung von negativen Eigenschaften und Charakteren, die wohl als abschreckende Beispiele fungieren sollen: Schlechter und schwarzer Charakter: ein weibischer Charakter, ein halsstarriger Charakter, ein tierischer, viehischer, kindischer, dummer, falscher, verschlagener, krmerischer, tyrannischer Charakter.406
Bemerkenswert ist auch der folgende Eintrag, der in diesem Zusammenhang m. W. bersehen wurde: Einen scharfen Verstand kçnnen sie an dir nicht bewundern. Gut. Aber vieles andere, wobei du nicht sagen kannst: ,Ich bin unbegabt.‘ Zeig das, was ganz in deiner Gewalt ist: Ehrlichkeit, Wrde, Ausdauer, Verachtung sinnlicher Lust, Zufriedenheit mit dem Schicksal, Bedrfnislosigkeit, Freundlichkeit, innere Unabhngigkeit, Schlichtheit, Fehlen von Geschwtzigkeit, innere Grçße. Merkst du nicht, wie viel du schon zu bieten hast, bei dem es dir nicht mçglich ist, fehlende Begabung und Unfhigkeit vorzugeben, und dennoch bleibst du freiwillig unten? Oder wirst du etwa gezwungen zu murren, kleinlich zu sein, zu schmeicheln, deinem erbrmlichen Kçrper die Schuld zu geben, selbstgefllig zu sein, zu prahlen und deiner Seele soviel Unruhe zu bereiten … Du httest dich vielmehr davon schon lngst befreien … kçnnen.407
Eine Ausnahme ist das Kapitel schon allein dadurch, dass es mit der Feststellung beginnt, dass andere etwas an ihm bewundern kçnnen. Fast scheint es so, als wenn Marc Aurel sich, d. h. seine bisherigen Leistungen, zum Exempel fr seine eigenen zuknftigen Taten macht, indem er, wie im ersten Buch, eine Liste seiner positiven Eigenschaften anlegt. Der Blick auf die vielen eigenen positiven Eigenschaften und die Leistung, sie zu realisieren, motivieren dazu, die noch vorhandenen schlechten zu beseitigen, denn das Kapitel schließt: „Aber auch das muss man ben, ohne es an Aufmerksamkeit mangeln zu lassen und sich bei der Trgheit wohl zu fhlen.“ Dieser Eindruck whrt jedoch nicht lange, denn die Selbstanalyse bringt ihn nicht nur dazu festzustellen, was er alles bereits zu bieten hat, sondern auch, dass es keinen Grund gibt, die dann aufgezhlten negativen 405 All das finden wir, gerade mit dem Vater-Exempel verbunden, in der Demonikosrede des Pseudo-Isokrates (siehe dazu Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 45 – 8). 406 M. Aur. Med. 4, 28. 407 M. Aur. Med. 5, 5.
126
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Eigenschaften aufzugeben, was auch heißt, dass er sich kritisiert, genau des getan zu haben. 3.2.3 Parnetisches in den Bchern II-XII Auch die folgenden Bcher der Selbstbetrachtungen bieten Ermahnungen, wobei das ganze Spektrum der fr diese Form(en) charakteristischen Aspekte vertreten ist. Ganz auf Mahnungen beschrnkt ist folgende Serie von Kapiteln:408 Wisch die (falsche) Vorstellung fort. Beseitige die Unruhe. Teile die dir verfgbare Zeit genau ein. Erkenne, was dir oder einem anderen passiert. Unterscheide und unterteile das Gegebene in das Verursachende und das Stoffliche. Denk an die letzte Stunde. Was jener falsch gemacht hat, lass dort, wo der Fehler entstand. Das Denken mit den Worten vergleichen. Den Geist eintauchen lassen in das, was geschieht und wirkt. Schmcke dich mit Einfachheit, Zurckhaltung und Gleichgltigkeit gegenber allem, was zwischen Tugend und Schlechtigkeit ist. Liebe das menschliche Geschlecht. Folge Gott.
In asyndetischer Form spricht Marc Aurel hier dreizehn Aufforderungen aus. Diese drei Kapitel vereinigen bereits viele Aspekte, die typisch fr die parnetische Tradition sind. (i) Dies gilt einerseits fr die formale Anordnung: (a) Jede Mahnung ist fr sich gltig und sprachlich abgeschlossen. (b) Jede Mahnung ist kurz. (c) Die Mahnungen werden gereiht. (d) Die Elemente der Reihung folgen keiner bestimmten Sequenz, sie sind nicht logisch verknpft. (ii) Ebenso entsprechen die Inhalte der parnetischen Tradition: (a) Die Mahnungen sind auf praktische Belange beschrnkt. (b) Eine Mahnung ist allgemein formuliert und der Anwendungsbereich entsprechend groß. Durch die allgemeine Formulierung ist die Mahnung nahezu universell applizierbar (z. B. „Folge dem Gott.“). Hier gibt es eine Einschrnkung, denn einige Aufforderungen beziehen sich zwar nicht auf einen konkreten, d. h. detailreich bestimmten Kontext, jedoch auf einen Situationstypus, etwa der 408 M. Aur. Med. 7, 29 – 31.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
127
Reaktion auf das ungerechte Handeln anderer409 oder auf morgendliche Schwierigkeiten aufzustehen.410 (c) Die Aufforderung bezieht sich nicht auf einen Kontext, in dem sie ausgesprochen wird. Anhand dieser Punkte lassen sich den im vorherigen Kapitel erwhnten beiden Unterscheidungsmerkmalen von Parnese und sog. „Diatribe“ weitere hinzufgen. In den fr die sog. „Diatribe“ typischen Mahnungen werden der Kontext des Gesprchs und ein bestimmter Fall bercksichtigt. Schließlich gibt es auch innerhalb der sog. „Diatribe“ oft Reihungen von Mahnungen, die jedoch seltener ganz unverbunden sind.411 Dass Mahnungen weniger zur Wissenssuche auffordern, als vielmehr die praktische Umsetzung von Lehren einklagen, deren Bekanntheit vorausgesetzt ist, zeigt sich in Kapiteln der Selbstbetrachtungen sehr deutlich. Dies gilt zunchst fr Mahnungen, die ohne Vorwissen gar nicht verstndlich sind oder so unspezifisch formuliert sind, dass sie ohne eine Vertrautheit mit den dahinter liegenden Theoremen gar nicht als Handlungsaufforderung ausgelegt werden kçnnen, z. B. die gerade erwhnte Aufforderung: „Folge Gott“.412 Seneca argumentiert, dass Mahnungen ohne Wissen nichts bewirken: Nichts nmlich werden Vorschriften ntzen, solange den Verstand Irrtum umgibt: wenn er entfernt wird, zeigt sich deutlich, was man jeder Pflicht
409 Da Marc Aurel sich sehr hufig mit diesem Problem auseinandersetzt, handelt es sich um einen sehr großen, aber zugleich sehr bestimmten Bereich von Mahnungen. Das zweite Buch beginnt mit einer solchen situationsspezifischen Aufforderung: „Am Morgen sollte man sich sagen: Ich werde mit einem beschrnkten, undankbaren, unverschmten, falschen, missgnstigen und unvertrglichen Kerl zusammentreffen. … Da ich aber das Wesen des Guten erkannt habe, …. , kann ich weder von einem dieser Leute geschdigt werden … noch kann ich meinem Verwandten zrnen oder sein Feind sein.“ (M. Aur. Med. 2, 1; siehe 7, 22 und 26; 10, 30; 11, 18 usw.). 410 „Wenn du ungern aus dem Schlaf aufgeweckt wirst, erinnere dich daran, dass es deinem Wesen und der menschlichen Natur entspricht, Taten der mitmenschlichen Solidaritt zu vollbringen, und dass du den Schlaf auch mit den vernunftlosen Tieren gemeinsam hast.“ M. Aur. Med. 8, 12. 411 Siehe etwa Epict. 3, 9, 12 oder Sen. Ep. 2, 4 (viele weitere Stellen bei Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 50 f.). 412 M. Aur. Med. 6, 31.
128
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
schuldet. Sonst lehrst du ihn, was der Gesunde tun muss, machst ihn aber nicht gesund.413
Dem entsprechend betont Marc Aurel, dass es darum geht, wenig Sachwissen,414 das kompakt in Dogmen oder Kephalaia formuliert werden kann, umzusetzen.415 Nicht die Ausformulierung der theoretischen Grundlagen der Mahnungen steht in diesen Abschnitten im Vordergrund. Die praktische Befolgung scheint jedoch schwierig zu sein: „Deine Grundstze sind lebendig … Es liegt bei dir, sie ununterbrochen wieder anzufachen … Wenn ich es also kann, warum lasse ich mich dann aus der Ruhe bringen?“416 Der Stil vieler Kapitel macht deutlich: Die angemahnte Anwendung ist fr Marc Aurel ein drngendes Anliegen: „Gar nicht mehr ber das Wesen des guten Menschen diskutieren, sondern ein solcher sein.“417 Wie erklrt Marc Aurel die Schwierigkeiten bei der Anwendung der Grundstze? Erstens bieten die Wirren des Lebens hinreichend Widerstand oder lassen die Grundstze immer wieder in Vergessenheit geraten: Theater, Krieg, Leidenschaft, Erstarrung, Knechtschaft werden dir tglich jene heiligen Grundstze verdrngen, die du dir, ohne naturphilosophisch gebildet zu sein, vor Augen stellst und wieder fahren lsst. Es ist nun aber notwendig, alles so zu sehen, dass einerseits das, was durch die Umstnde bedingt ist, vollzogen und andererseits die philosophische Reflexion praktiziert wird…418
413 Sen. Ep. 94, 5. 414 Theoretische Ausdifferenzierungen lehnt er als irrelevant ab, z. B.: „… Daran denke immer und auch noch daran, dass das glckliche Leben ganz wenige Voraussetzungen hat. Und es ist nicht zu befrchten, dass du deswegen, weil du die Hoffnung aufgeben musstest, ein Dialektiker oder Physiker zu werden, nicht darauf zu verzichten brauchst, ein innerlich unabhngiger, rcksichtsvoller, solidarisch handelnder und gottesfrchtiger Mensch zu werden.“ (M. Aur. Med. 7, 67). 415 „Liebe das bisschen Sachwissen, das Du erworben hast.“ M. Aur. Med. 4, 31 (siehe auch in elaborierter Form 8, 1). 416 M. Aur. Med. 7, 2. In diesem Zusammenhang betont er, dass eine evtl. unzureichende Umsetzung nur sein eigener Fehler ist: „Niemand hindert dich daran, nach der Bestimmung der Natur zu leben.“ (M. Aur. Med. 6, 58). 417 M. Aur. Med. 10, 16 (ebenso 11, 18: „An diese neun Grundstze musst du denken, als ob du sie von den Musen geschenkt bekommen httest, und endlich anfangen, ein Mensch zu sein, solange du lebst.“). 418 M. Aur. Med. 10, 9.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
129
Zweitens sind die Mahnungen ußerst anspruchsvoll, und zwar zunchst temporal, d. h. ihre Umsetzung verlangt viel zeitlichen Aufwand. Es werden regelmßige bungen gefordert.419 In einer großen Anzahl von Kapiteln fordert Marc Aurel dann eine permanente Kontrolle und Achtsamkeit seinen Gedanken gegenber, so dass er auch entsprechend handeln kann: „Zu jeder Stunde denke …“,420 „Immer also an diese beiden Dinge denken …“,421 „Zu zwei Dingen … immer bereit sein …“,422 „Ohne Pause daran denken …“,423 „Bei jeder Gelegenheit … sich … fragen …“,424 „Die Seele durch ununterbrochene … Vorstellungen frben …“.425 Die Mahnungen fordern damit eine nie abreißende Aufmerksamkeit, Bereitschaft und Anstrengung. Ferner sind die Mahnungen in Bezug auf ihre Inhalte nicht minder anspruchsvoll. Und dies, weil sie alle Bereiche des Lebens betreffen und dabei jeweils viel fordern. Bei Hesiod werden die angemahnten Pflichten erstens danach unterschieden, wen die Ttigkeiten betreffen, z. B. die Gçtter, die Eltern, die Freunde.426 Er differenziert sie zweitens danach, welcher gesellschaftliche Stand oder – allgemeiner – soziale Kreis zu etwas Bestimmten aufgefordert wird. Letzteres ist jedoch nicht bei Marc Aurel auszumachen.427 419 „Am Morgen sollte man sich sagen: Ich werde mit einem beschrnkten, undankbaren … Kerl zusammentreffen. Da ich aber das Wesen des Guten erkannt habe … kann ich weder von einem dieser Leute geschdigt werden … noch kann ich meinem Verwandten zrnen.“ M. Aur. Med. 2, 1. Eine andere morgens zu wiederholende Forderung, tatenkrftig den Tag zu beginnen, bietet das Kap. 5, 1. 420 M. Aur. Med. 2, 5. 421 M. Aur. Med. 2, 14. 422 M. Aur. Med. 4, 12. 423 M. Aur. Med. 10, 27. 424 M. Aur. Med. 5, 11. 425 M. Aur. Med. 5, 16. 426 Siehe Hes. Op. 336 ff. und 706 ff. Weitere Stellenangaben in der parnetischen Literatur gibt Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 38, Anm. 3. 427 Und auch nicht bei Seneca, zumindest nicht an den Stellen, an denen J. Dalfen dies findet (siehe ders.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 38, Anm. 3). Die Stelle Sen. Ep. 95, 45 erwhnt weder Stnde noch verschiedene soziale Gruppen: „Marcus Brutus gibt in dem Buch, das er ‘Die Pflichtenlehre‘ nannte, viele Vorschriften fr Eltern, Kinder und Brder … „. Ebenfalls nur Familien- und Haushaltsangehçrige (Sklaven) erwhnt Ep. 94, 1. Auch bei Marc Aurel sind keine nach sozialen Schichten differenzierten Mahnungen zu finden. Dies ist nicht berraschend, denn erstens ermahnt er nur sich
130
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Eine Zusammenstellung, die nach den Adressaten der Pflicht gruppiert ist, gibt auch Marc Aurel: Wie bist du jetzt mit den Gçttern, deinen Eltern, deinen Geschwistern, deiner Frau, deinen Kindern, deinen Lehrern, deinen Erziehern, deinen Freunden, deinen Verwandten und deinen Sklaven umgegangen?428
Zu den Elementen dieser Reihung gibt es auch zahlreiche Einzelmahnungen: Gçtter,429 Gattung Mensch,430 konkrete Menschen,431 Gemeinschaft.432 Auch bei der Forderung nach einem einfachen Wesen433 handelt es sich um eine traditionelle parnetische Forderung.434 Daneben gibt es zahlreiche Mahnungen, deren Inhalte einen spezifisch stoischen Hintergrund haben. So etwa die Mahnungen, die Urteil, Zustimmung oder Vorstellung betreffen.435 Das Wissen von der Natur der Dinge soll zur Gleichgltigkeit gegenber den ethisch indifferenten Dingen fhren.436 Schließlich gibt es Mahnungen, die Ethisches betreffen.437 All dies berrascht nicht. Die Hufigkeit und die Inhalte der Mahnungen reflektieren die Strenge des stoischen Ideals. Insgesamt gibt es in den Selbstbetrachtungen wohl keinen von Marc Aurel thematisierten Punkt, der nicht auch Gegenstand einer Mahnung ist. Wie die Selbstbetrachtungen insgesamt folgen auch die Mahnungen dabei keinem erkennbaren Strukturprinzip.438 Die Dringlichkeit und Hufigkeit der Mahnungen erklrt sich erstens durch die Bedeutung des Angemahnten und die Schwierigkeit der Um-
428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438
selbst. Was die Pflichten angeht, formuliert er zweitens vor allem allgemein, dass jeder Mensch so zu handeln habe, dass der menschlichen Gemeinschaft gedient ist. Ausdifferenzierungen gibt es anhand der „Rollen“, die Marc Aurel einnimmt: Als Mensch, Brger, Kaiser, Freund usw. (siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 5: „Zu jeder Stunde denke als Rçmer und als Mann daran …“ oder 6, 30 und 44). M. Aur. Med. 5, 31. Siehe M. Aur. Med. 4, 31. Siehe M. Aur. Med. 3, 5. Siehe M. Aur. Med. 7, 31. Siehe M. Aur. Med. 6, 39. Siehe M. Aur. Med. 3, 5. Fr Einzelnachweise, die Marc Aurels Mahnungen mit denen der vorherigen parnetischen Literatur vergleichen, siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 53 – 60. Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 3 – 4; 4, 18; 4, 29; 4, 40; 4, 49. Siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 55; 6, 32; 8, 36; 11, 2. Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 24; 4, 27; 12, 20; 12, 32. Hadot erkennt in den ganzen Selbstbetrachtungen die Struktur der drei Lebensregeln nach Epiktet und ordnet auch die Mahnungen diesen zu.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
131
setzung durch den hohen Anspruch, derart strenge und umfassende Anforderungen zu jedem Zeitpunkt zu erfllen. Zweitens ist der Mahnende auch derjenige, der der Mahnung bedarf. Dies ist eine Besonderheit der Selbstbetrachtungen. Die Aufforderungen bei Seneca und Epiktet sind distanzierter und ruhiger, schon weil das Verhltnis asymmetrisch ist und niemals so vertraut und intim im Tonfall sein kann wie bei einer Selbstansprache. Vor diesem Hintergrund sind weitere formale Aspekte der Mahnungen besser verstndlich. Zunchst sind die Varianten der direkten Mahnungen, der Imperativ bemerkenswert. Wie bereits festgestellt wurde,439 verwendet Marc Aurel recht hufig eine Konstruktion, die es ihm erlaubt, bei der Mahnung das Verb wegfallen zu lassen, z. B.: p²mta ¢r )mtym¸mou lahgt¶r „In allen Dingen wie ein Schler des Antoninus (sein, handeln)“.440 Drei Erklrungen sind denkbar: Erstens zeugt das fehlende Verb von der mangelnden stilistischen Ausarbeitung der Selbstbetrachtungen. Was wiederum den Schluss erlaubt, es handele sich um eine noch unausgearbeitete frhe Version einer Schrift, eine Materialsammlung oder allgemein um eine privaten Zwecken vorbehaltene Schrift. Zweitens kann diese verkrzte Art der Mahnung als stilistisches Mittel interpretiert werden. Drittens kçnnen diese Imperative als mehr oder minder bewusste Anleihe bei der parnetischen Literatur verstanden werden. J. Dalfen hat die ersten beiden Erklrungen zugunsten der dritten nicht weiter verfolgt. In der Tat behandeln einige Imperative ohne Verbum bei Marc Aurel Themen, die denen der parnetischen Literatur nahe sind.441 Eine solche Rckfhrung gelingt jedoch nicht immer und – das ist entscheidend – ist nicht erforderlich. Die Erklrungen sind nicht notwendig exklusiv. Marc Aurel ist kein ganz sklavisch traditioneller Autor, dem der eigenstndige und effektive Einsatz eines solchen Mittels nicht zuzutrauen wre. Das Fehlen des Verbs macht gerade dort Sinn, wo die Mahnung durch absolute 439 Zum formalen Bestand siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 63 – 73. 440 M. Aur. Med. 6, 30 (siehe ferner 4, 17; 4, 50; 7, 12; 9, 28; 9, 37; 12, 20). 441 Mehr wird man aber nicht sagen drfen. J. Dalfen verfolgt die Bedeutung der klassischen Mahnung lgd³ %cam und seiner Varianten in der parnetischen Literatur bei Theognis und anderen und findet auch bei Marc Aurel Anklnge: lμ eQj0 (M. Aur. Med. 2, 17; 4, 2; 8, 17; 12, 20).
132
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Minimierung auf das sprachlich Notwendige zum einen (a) besonders eindringlich und zum anderen (b) gut memorierbar ist; so besteht z. B. das ganze Kapitel 7, 12 aus nur drei Worten: iqhºr, lμ aqho¼lemor. Anhand dieser Wendung und der oben zitierten Aufforderung, in allem ein Schler des Antoninus zu sein, wird schließlich (c) klar, dass Marc Aurel den verkrzten Imperativ einsetzt, um den besonders weiten Geltungsbereich einer Aufforderung auszudrcken. Mit dem Verb fehlt eine Spezifizierung der Aufforderung. Imperative drckt Marc Aurel hufig durch einen Infinitiv aus. Nach dem ersten Buch, das ohne Mahnung auskam, beginnt das zweite Buch: „Am Morgen sich sagen (þyhem pqok´ceim 2aut`·) …“.442 So formulierte Mahnungen sind seit Homer in der Literatur bei Hesiod, Theognis, Demokrit, Pythagoras, Xenophon, Arrian usw. zahlreich vertreten. Da ein Modalverb wie „mssen“ oder „sollen“ nicht nçtig ist, dient auch diese Formulierung der Krze des Stils und ist schon deshalb fr Marc Aurel und seine Zwecke ntzlich. Whrend der Imperativ ohne Verbum einen besonders weiten, weil durch kein Verb spezifizierten, Anwendungs- und Adressatenkreis hat, ist der Imperativ mit Infinitiv eine persçnlichere Aufforderung. Der Infinitiv ersetzt den Imperativ in der 2. Person, die Aufforderung richtet sich damit an eine Person. Die bei einer Mahnung oft vorausgesetzte Vertrautheit von Aufforderndem und Angemahntem wird durch diese Form gut zum Ausdruck gebracht und eignet sich besonders fr Selbstermahnungen, wie sie ausschließlich bei Marc Aurel vorkommen. Diese beiden Mahnungen sind, so Dalfen, ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von der Parnese und der sog. „Diatribe“.443 Die Aufforderungen in den Selbstbetrachtungen zeichnen sich ferner durch verschiedene iterative Momente aus: Zur Verstrkung des mahnenden Effekts kçnnen verschiedene Mahnungen wie in der Sequenz der Kapitel 7, 29 – 31 gereiht werden. Die Wirkung wird hier einerseits durch die Wiederholung von Mahnungen verstrkt. Andererseits wird sie gesteigert, indem die Mahnungen ohne
442 M. Aur. Med. 2, 1 (siehe ferner: 2, 11; 4, 18; 4, 49; 4, 51; 7, 43; 7, 57; 8, 13, 30, 33, 51, 54, 61; 10, 4; 10, 16; 11, 7 – 8; 12, 29). 443 Die Mahnung ohne Verb, so Dalfen, komme in Diatriben nicht vor, der Infinitiv als Imperativ tauche in Arrians Diatriben von Epiktet nur dreimal auf (siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 63 – 73 und 89).
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
133
berleitung und Verknpfung gereiht werden. Es fehlen „argumentative“ Passagen, die das Appellative unterbrechen. In einer Reihung von auffordernden ußerungen, die jeweils durch lngere Formulierungen ausgedrckt sind (oder durch betrachtende oder begrndete Satzteile unterbrochen sind), kçnnen die Mahnungen wirkungsvoll akzentuiert werden, indem sie jeweils mit der gleichen Wortgruppe beginnen: Wirst Du irgendwann einmal (=s, pot³ üqa), meine Seele, gut und einfach …? Wirst Du irgendwann einmal (5s, pot³ üqa) den Zustand der Liebesfhigkeit und Liebesbereitschaft genießen? … Wirst du irgendwann einmal (5s, pot³ üqa) die Qualitt haben, dass du mit Gçttern und Menschen in einer staatlichen Gemeinschaft so zusammenleben kannst…?444
Dieselbe Mahnung kann wiederholt werden, indem ein Verhalten, das einer bestimmten Lehre entspricht, mehrfach exemplifiziert und gefordert wird: „Eine bittere Gurke. Wirf sie weg. Dornen auf dem Weg. Weiche ihnen aus.“445 In den Selbstbetrachtungen tauchen – mit den recht wenigen Themen, die behandelt werden – entsprechende Mahnungen wiederholt auf. Gemeint ist nicht die Wiederholung einer Mahnung innerhalb eines Kapitels, sondern der Umstand, dass wir z. B. im zweiten Buch Mahnungen finden, die etwa denen aus dem zehnten hneln oder gleichen. Wie ist dieser Umstand einzuschtzen? In welchem Sinn kann hier berhaupt von „Wiederholung“ gesprochen werden? Die Zusammenfassung der Kapitel zu einem einzigen Text, den wir als Buch und damit als Einheit betrachten, muss nicht die Intention Marc Aurels widerspiegeln. Und nur vor dem Hintergrund der angenommenen Einheit der Selbstbetrachtungen kann von Wiederholungen innerhalb dieses einen Textes gesprochen werden. Ferner ist die Abfassungszeit und -sequenz ein Faktor, ber den wir allerdings nichts wissen. Hat Marc Aurel die Kapitel in einem engen zeitlichen Fenster, also mehr oder minder geschlossen geschrieben? Wenn er ber einen langen Zeitraum mit vielen Unterbrechungen geschrieben hat, kann dies erklren, warum er Mahnungen wiederholt? Solche Spekulationen verbieten sich nicht, aber bleiben Spekulation. Drei bereits notierte Beobachtungen kçnnen hier vielleicht hilfreich verknpft werden: 444 M. Aur. Med. 10, 1. 445 M. Aur. Med. 8, 50. Den zwei Mahnungen folgen dann die Erklrung und das Argument.
134
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
(i)
Bestimmte Mahnungen tauchen in den Selbstbetrachtungen wiederholt auf. (ii) In einer besonderen Gruppe von Mahnungen fordert er sich auf, etwas wiederholt zu tun. (iii) Es wird begrndet, dass Mahnungen selbst der Wiederholung bedrfen, weil ihre Inhalte vergessen werden. Zunchst ist der Unterschied von (i) und (ii) zu betonen, denn eine praktische Anweisung, etwas wiederholt zu tun, kann einmalig erfolgen.446 Und eine Aufforderung zu einer einmaligen Handlung kann wiederholt werden.447 Mit (iii), genauer, der Ansicht, dass die Hrten des Lebens Ratschlge vergessen oder immer wieder erforderlich machen, lassen sich die unter (i) und (ii) auftauchenden Wiederholungen erklren. Es gibt jedoch eine weitere Korrespondenz zwischen (i) und (ii): Marc Aurel fordert sich (wiederholt) auf, an bestimmte Dinge zu denken. Das wiederholte Schreiben derselben Mahnungen ist eine Aktualisierung der Forderung, immer an bestimmte Dinge zu denken. Hier liegt ein erstes Indiz vor,448 dass Marc Aurel mit dem Formulieren der Selbstbetrachtungen einigen bestimmten Mahnungen nachkommt. Die in den Selbstbetrachtungen thematisierte und geforderte Lebenskunst schließt eine bestimmte Form von Verbalisierung ein. Die Textabfassung aktualisiert damit praktisch, was im Text thematisiert wird. Oder: Die Inhalte des Textes reflektieren das praktische Anliegen, das seiner Abfassung zugrunde liegt. Das gilt natrlich nicht fr jede Zeile oder jedes Kapitel. Einige Kapitel formulieren das, was bei Seneca decreta heißt. Ein Großteil der Selbstbetrachtungen macht diese decreta aus, oder kann als bung im Sinne einer Vorbereitung angesehen werden. So wird in den vielen Abschnitten, die den Umgang mit anderen Menschen betreffen, dieser Umgang durch das Schreiben vorbereitet. Dort werden die Dogmen, die das Handeln leiten sollen, angemahnt, aber nicht ausgebt. Kapitel, die hingegen durch den Vollzugscharakter bestimmt sind, weisen demnach die Besonderheit auf, dass ihre Abfassung fr Marc Aurel denselben Zweck erfllt, den er andernorts fr von der Schreibsituation 446 Z. B. in einem Koch-Rezept, das einmalig dazu auffordert, den Braten immer wieder mit Saft zu bergießen. 447 Eltern berichten, dass sie ihre Kinder mehrmals auffordern mssen, ihr Zimmer aufzurumen oder die Schularbeiten zu erledigen, bis sie es dann einmal (und auch nur fr kurze Zeit) tun. 448 Siehe insgesamt dazu Kap. I 6.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
135
unterschiedene Kontexte im Leben anmahnt. Dies gilt besonders fr die Aufforderung, bestndig an etwas zu denken, sich etwas immer wieder bewusst zu machen. Auch oder gerade wenn es nicht gelingt, naturgemß zu leben, ist die Besinnung auf Grundstze wichtig: Keinen Ekel empfinden, nicht den Mut verlieren, nicht aufgeben, wenn dir die Absicht, alles unter Bercksichtigung der richtigen Grundstze zu tun, nicht immer gelingt; sondern wenn du dich aus dem Konzept hast bringen lassen, dann besinne dich wieder auf deine Grundstze …449
Genau das tut Marc Aurel, indem er die Kapitel der Selbstbetrachtungen schreibt. 3.2.4 Verwandte Formen der Mahnung Eine spezielle Form der Parnese ist m. W. weder ausfhrlich allgemein diskutiert noch bei der Interpretation von Marc Aurels Selbstbetrachtungen bercksichtigt worden. Es handelt sich um eine Variante des Exempels, insofern hier eine Mahnung und Aufforderung aus dem Sterben der beispielhaften Person erwchst. Die Grundidee, dass aus den Todesumstnden einer Person Handlungsvorschriften fr die Lebenden erwachsen, findet sich bereits in gyptischen und alt- sowie neutestamentarischen Texten. In der jdischen Tradition hat besonders das letzte Wort eines sterbenden Rabbiners eine verpflichtende Bedeutung.450 Die griechisch-rçmische parnetische Tradition setzt dies fort. Einige Hinweise mssen hier gengen: Die Mahnrede an Demonikos ist in ein fiktives Szenario eingebettet, das darum vom Autor (wohl einem Schler von Isokrates) frei gewhlt wurde. Der Tod des Vaters Hipponikos wird dort nicht nur zum Anlass der Mahnrede genommen, sondern er beeinflusst deren Inhalte. Der Tod des Sokrates wurde ein wichtiger Teil des lange und weit tradierten Sokrates-Exemplums.451 Im Phaidon lsst Platon Sokrates vor dessen Tod eine Konzeption der Philosophie als Einbung in das Sterben entfalten. Am Ende des Dialoges stehen jedoch zwei weniger oft bercksichtigte Aufforderungen an seine Gesprchsteilnehmer, die den Tod des 449 M. Aur. Med. 5, 9. 450 Siehe hierzu Perdue, L. G.: The Death of the Sage and Moral Exhortation: From Ancient Near Eastern Instructions to Graeco-Roman Paraenesis, in: Semeia 50 (1990), S. 81 – 110, hier: S. 81 – 93. 451 Siehe Dçring, K.: Exemplum Socratis, a.a.O.
136
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Sokrates beklagten als mssten sie „gleichsam des Vaters beraubt als Waisen das brige Leben hinbringen“.452 Erst fordert Sokrates seine letzten Gesprchsteilnehmer auf, ihm und seinen Reden im Leben zu folgen.453 Seine letzten Worte sind ebenfalls eine Aufforderung, eine praktische Anweisung, nmlich dem Asklepios noch den schuldigen Hahn zu opfern.454 Seneca schrieb seine Briefe an Lucilius wahrscheinlich whrend seiner letzten Jahre und im Bewusstsein dieses Umstandes. Die Unvermeidbarkeit des Todes455 bedarf einer praemeditatio, zu der die Vorstellung von Exempeln gehçrt.456 Neben Cato und natrlich Sokrates457 will Seneca aber sich selbst als Beispiel fr Lucilius empfehlen, wie man angstfrei dem Tod entgegengeht. Senecas eigener Tod wird dann bei Tacitus zu einem exemplarischen Tod, der sich mit entsprechenden Mahnungen verbindet.458 Wie verbreitet oder doch zumindest einschlgig die Verbindung zwischen dem Sterben eines Weisen und entsprechenden Mahnungen ist, zeigt, dass dergleichen bei Lucianus satirisch berzeichnet wird. Er lsst den Kyniker Peregrinus einen theatralisch inszenierten Selbstmord begehen, und zwar in der Absicht, wie Sokrates durch seinen Tod zu lehren,459 also paqaim´seir und mºlour zu vermitteln.460 In den Selbstbetrachtungen erwhnt auch Marc Aurel den Tod von Philosophen und entwickelt daraus eine Mahnung. Doch handelt es sich hierbei um eine besondere Variante der erwhnten Mahnung, weil hier nicht die Art, wie ein Weiser dem Tod entgegentritt, exemplarisch ist, sondern der Umstand, dass auch Weise sterben. Zunchst sind die Philosophen wegen ihrer auf Wissen gegrndeten Lebensfhrung, ihrer Autarkie, von Marc Aurel viel geschtzter als andere berhmte Menschen: Was sind aber Alexander, Gaius und Pompeius im Vergleich mit Diogenes, Heraklit und Sokrates? Denn diese Mnner haben die Dinge, wie sie wirklich sind, ihre Ursachen und Voraussetzungen gesehen, und das leitende Prinzip
452 453 454 455 456 457 458 459 460
Pl. Phd. 116a. Siehe Pl. Phd. 115b. Siehe Pl. Phd. 118a. Siehe Sen. Ep. 13 und Q. Nat. 6, 32, 1 – 12. Siehe Trillitzsch, W.: Senecas Beweisfhrung, Berlin 1961, S. 95 – 112. Siehe z. B. Sen. Ep. 71, 4 ff. Siehe Tac. Ann. 15, 62 f. Siehe Luc. De mort. Peregr. 12, 37. Siehe Luc. De mort. Peregr. 1.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
137
ihrer Seele war vçllig unabhngig. In wie vielen Dingen zeigte sich bei jenen aber Unwissenheit und Abhngigkeit?461
Mehrfach erwhnt Marc Aurel, dass Philosophen sterben mssen wie alle anderen Menschen.462 Sich immer wieder bewusst zu machen, wer gestorben ist und wie viele bereits gestorben sind, ist generell eine Aufforderung, der Krze des Lebens entsprechend zu denken und zu handeln.463 Diese Form der Mahnung berschneidet sich mit einem zentralen Topos der Konsolationsschriften, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird. Whrend sich Marc Aurel angesichts des Todes von Berhmtheiten vorrangig die Nutzlosigkeit und Leere des Strebens nach Ruhm vor Augen fhrt, scheint sich mit der Vergegenwrtigung des Todes von weisen Menschen noch eine besondere Mahnung zu verbinden, die sich bereits abgezeichnet hat: Die Philosophie macht nicht unsterblich: Hippokrates heilte viele Krankheiten, wurde dann selbst krank und starb. … Heraklit stellte so bedeutende Theorien ber die Vernichtung der Welt durch Feuer auf und starb dann kotbeschmiert an Wassersucht. Demokrit tçteten die Luse…464
Das Wissen der Philosophen gibt ihnen nicht immer Macht ber die Gegenstnde ihres Wissens. Dies gilt besonders fr das Wissen vom kosmischen Fluss des Werdens und Vergehens: „Wie viele Mnner wie Chrysipp, wie Sokrates, wie Epiktet hat die Ewigkeit schon in sich aufgesogen?“465 Da Marc Aurel nur fr sich selber schreibt, ist in den Selbstbetrachtungen eine Werbeschrift fr die Philosophie, die andere zur Beschftigung damit ermuntern soll, nicht zu erwarten. Dennoch findet sich ein Kapitel, das so etwas prsentiert: Die Dauer des menschlichen Lebens ist nur ein Augenblick, seine Existenz in dauerndem Fluss; die Wahrnehmungsfhigkeit des Menschen ist schwach, das Gebilde seines Kçrpers ganz der Fulnis ausgesetzt, seine Seele unbestndig und orientierungslos, sein Schicksal unberechenbar, sein Reden unbestimmt und verworren. Kurz: Alles Kçrperliche – ein Fluss, alles Seelische – Schall und Rauch, das Leben – Krieg und kurzer Aufenthalt eines Fremden, der Nachruhm – Vergessen. Was kann uns da noch sttzen und helfen? Einzig und allein die Philosophie. Ihre Hilfe besteht darin, den gçttlichen Geist in unserem Inneren vor Schaden und Verletzung zu bewahren, auf dass er Lsten und 461 462 463 464 465
M. Aur. Med. 8, 3. Siehe M. Aur. Med. 6, 47; 7, 19 und 8, 25. So allgemein z. B. M. Aur. Med. 10, 31. M. Aur. Med. 3, 3. M. Aur. Med. 7, 19.
138
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Schmerzen berlegen sei, nichts planlos tue, ohne Lug und Trug unabhngig sei vom Tun oder Lassen eines anderen, außerdem das, was geschieht und zugeteilt wird, hinnehme, als ob es irgendwie von dort komme, woher er selbst gekommen ist, schließlich den Tod mit heiterer Gelassenheit erwarte, als ob er nichts anderes sei als die Trennung der Grundbestandteile, aus denen jedes Lebewesen besteht.466
Der Eintrag schildert knapp die Not der conditio humana, um dann die Philosophie als Rettung darzustellen. Im Unterschied zu den anderen Eintrgen, die ebenfalls die therapeutischen Leistungen der Philosophie thematisieren,467 wird hier die Philosophie viel allgemeiner empfohlen: Es fehlt die personenbezogene Ansprache. Es handelt sich demnach nicht um eine Mahnung in der Tradition der Parnese, die ja eine Vertrautheit mit der aufgeforderten Person voraussetzt. Auch wird kein Ratschlag fr eine bestimmte Situation gegeben.468 Ferner wird kein Wissen vorausgesetzt, dessen praktische Aktualisierung angemahnt wird. Die Grundbedingungen des menschlichen Lebens werden allgemein und ausfhrlich, die Philosophie ohne Fachvokabular beschrieben. Schließlich ist der gesamte Stil ein anderer; der Eintrag insgesamt und seine Stze sind lnger, zusammenhngender und beschreibender, statt durch Krze die Dringlichkeit der Mahnung zu untersttzen. Es handelt sich hier um eine Werbeschrift fr die Philosophie im Miniatur-Format. Die Gnome taucht in den Selbstbetrachtungen in vielfltiger Form auf. (i) Laut Sextus Empircus hat die Philosophie ihre Wurzeln in den Gnomen der Dichter.469 Der Gebrauch der Gnomen wird von Plutarch besonders Hesiod zugeschrieben,470 dann explizit von Isokrates thematisiert und gefordert.471 Den Gebrauch von Dichtergnomen empfiehlt auch Seneca.472 Die Annahme, Marc Aurel folge direkt dem Ratschlag von 466 M. Aur. Med. 2, 17. 467 Siehe z. B.: „ … wenn du dich aus dem Konzept hast bringen lassen, dann besinne dich wieder auf deine Grundstze … kehre nicht so zur Philosophie zurck, als ob du zu einem Schulmeister gingest, sondern tu es so, wie die Augenkranken zum Schwmmchen und zum Eiweiß greifen … Denk aber daran, dass die Philosophie nur das will, was deine Natur will; du aber wolltest etwas anderes.“ (M. Aur. Med. 5, 9; siehe 6, 12). 468 Siehe M. Aur. Med. 5, 9 oder 6, 16. 469 Siehe Sext. Emp Math. 1, 271 und 277. 470 Siehe Plut. Thes. 3, 2. 471 Z. B. in der Rede an Nikokles (2, 42 – 44), dann bei Pseudo-Isokrates in der Rede an Demonikos (1, 5 und 44). 472 Siehe Sen. Ep. 8, 8 f.; 9, 21 f.; 94, 27 ff. und 43.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
139
Isokrates, ist unnçtig.473 Es handelt sich um eine weit verbreitete und bekannte literarische Form. Der praktische Nutzen anderer Autoren wird von Marc Aurel allgemein thematisiert,474 vor allem jedoch in Bezug auf lebensdienliche Wirkung von Dichtung und Theaterauffhrungen: Die Tragçdien wurden ursprnglich aufgefhrt, um menschliche Grundsituationen bewusst zu machen und (um zu veranschaulichen,) dass sich diese mit natrlicher Konsequenz so abspielen und dass ihr euch ber die Vorgnge, an denen ihr auf der Bhne euer Vergngen habt, nicht rgert, wenn sie sich auf der grçßeren Bhne (des Lebens) wirklich ereignen. Denn man sieht, dass diese so ablaufen mssen und dass auch diejenigen, die ,Ach, Kithairon‘ rufen, sie ertragen. Die Tragçdiendichter treffen aber auch einige ntzliche Aussagen, so z. B. vor allem folgendes: ,Wenn ich und meine Kinder von den Gçttern verlassen wurden, so hat auch das seinen Sinn.‘ Ferner: ,ber das Gegebene darf man sich nmlich nicht aufregen.‘ Und: ,Das Leben ernten wie eine reife hre.‘ usw. Nach der Tragçdie wurde die Alte Komçdie eingefhrt, die eine erzieherisch wirkungsvolle Offenheit zeigte und in ihrer sprachlichen Direktheit die Tugend der Bescheidenheit auf geschickte Weise zum Bewusstsein brachte. Deshalb eignete sich auch Diogenes die Sprache der Komçdie an. Wozu nach der Alten die Mittlere und spter die Neue Komçdie eingefhrt wurde, die infolge ihrer Nachahmung (des Lebens) allmhlich zur Knstelei verkam, darber muss man nachdenken. Dass aber auch von ihren Autoren einiges ntzliche gesagt wurde, weiß man. Aber welches Ziel hatte die ganze Konzeption einer poetischen und dramatischen Kunst dieser Art?475
Dieses Kapitel ist bemerkenswert. Es besteht aus drei Abschnitten, die je den praktischen Nutzen einer Dramengattung erçrtern. Marc Aurel betrachtet dramatische Dichtung ganz unter einem ethischen Gesichtspunkt. Die alte Tragçdie verdeutlicht und untersttzt fr Marc Aurel die stoische Lehre: Sie spiegelt und akzentuiert die conditio humana. Die Geschehnisse und Notwendigkeiten, mit der in der Handlung die dramatischen Personen konfrontiert sind, zeigen konzentriert, was den Zu473 Dazu (mit vielen Isokrates-Referenzen) siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 42 – 44. 474 „Was soll der Argwohn, wo es doch mçglich ist zu sehen, was getan werden muss, und wenn du es siehst, in Heiterkeit und, ohne dich umzusehen, darauf loszugehen, wenn du es aber nicht siehst, anzuhalten und die besten Ratgeber zu fragen.“ M. Aur. Med. 10, 12. Dalfens These, dass „die besten Ratgeber“ als einmalige Formulierung auf Isokrates (siehe Nikokles 2, 43 und 53) hinweist, scheint plausibel (siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 42 – 44). 475 M. Aur. Med. 11, 6.
140
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
schauern im Leben geschehen kann. Der Theaterbesuch, das Mitfhlen mit den Protagonisten, dient der Vorbereitung, um weniger empfindlich zu sein. „Ntzliche Worte“ sind kleine Versatzstcke, Zitate, die helfen, diese Lehre im Gedchtnis zu behalten. Marc Aurel gibt dann drei Beispiele. Die Alte Komçdie sei vorbildhaft, weil sie die fr die Stoa wichtige Tugend der paqqgs¸a zum Ausdruck bringe.476 Die Neue Komçdie biete zwar noch das eine oder andere ntzliche Zitat, aber die grundlegende ethische Ausrichtung fehle ihr, weil sie um die Dinge kreise, „die der Masse als Werte vorschweben“.477 Die Neue Komçdie spiegele nicht mehr die Grundsituation des menschlichen Lebens wider, sondern eine von falschen Werten korrodierte Gesellschaft. Zitate sind gut zu erinnernde Stichwçrter fr Grundstze, die hinter ihnen stehen: Wer von den richtigen Grundstzen gebissen worden ist, dem gengt auch das krzeste, beilufig aufgelesene Wort zur Erinnerung an die Freiheit von Schmerz und Furcht, wie z. B.: ,Bltter, die der Wind auf der Erde verstreut, so ist das Menschengeschlecht.‘478
(ii) In den Selbstbetrachtungen finden sich viele Eintrge, die nur eine Gnome nennen oder sogar ganz daraus bestehen. Diese kurze Form reicht Marc Aurel aus, um sich die dahinter stehende Lehre wieder bewusst zu machen. Ferner dient das Schreiben oder Formulieren dazu, sich den gerade erwhnten „Biss“ zu verpassen, denn gelegentlich nennt er erst eine Gnome, die auch von Philosophen stammen kann, und dann die damit durch Erinnerung zu verknpfende Lehre. Hier ist das Schreiben eine Mnemotechnik. Ein exemplarischer Eintrag beginnt mit einer Gnome: „Beschftige dich nur mit wenigem, wenn du heiter sein willst, sagt der Philosoph.“479 Das entspricht Demokrit.480 Dann folgt die Exploration: „Ist es nicht besser, dass man an sich nur mit dem Notwendigem beschftigt … Denn das erzeugt die Heiterkeit des Herzens …“
476 Inwieweit Marc Aurel sich diese sprachlichen Charakteristika in den Selbstbetrachtungen zu eigen machte, wird in Kap. I 5 und 6 untersucht. 477 M. Aur. Med. 5, 12. 478 M. Aur. Med. 10, 34. 479 M. Aur. Med. 4, 24. 480 Siehe DK 60 B 3.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
141
Der Eintrag schließt mit einer stoischen Ausweitung von Demokrits Forderung: Man muss aber nicht nur die nicht notwendigen Handlungen unterlassen, sondern auch entsprechende Vorstellungen und Gedanken unterdrcken. Denn auf diese Weise folgen darauf auch keine ablenkenden Taten.
Die Gnome wird nicht nur begrndet und memoriert, sondern ferner mit Lehren in Verbindung gebracht, die wahrscheinlich nicht Bestandteil der vom ursprnglichen Autor intendierten Bedeutung waren. (iii) Eine Gnome, auch wenn sie die Form eines behauptenden Satzes hat, kann die Mahnungen untersttzen. Im Zusammenhang mit der Mahnung, in allem wie Antoninus zu sein, ist eine solche Gnome in einer Reihe von Imperativen eingebettet: „Das Leben ist kurz.“481 Gnomische Formulierungen finden sich auf fast jeder Seite. Sie werden von Marc Aurel wegen ihre Form geschtzt: Sie sind kurz, gut zu merken, sprechen praktische Belange direkt und offen an, weswegen sie sich so gut fr Mahnungen eignen. Sie sind ein Element des rhetorischen Stils von Marc Aurel, auf den noch ausfhrlich einzugehen ist.482 Wie die Mahnungen wiederholen die Gnomen in geringfgigen Variationen die Themen, um die das Denken Marc Aurels kreist. Fr Argumente eignet sich die gnomische Form weniger, daher sind es Formulierungen der Dogmen und Kephalaia, die gnomisch sind: Was von den Gçttern kommt, ist von der Vorsehung bestimmt; … Fr jeden Teil der Natur aber ist alles gut, was die Natur des Ganzen mit sich bringt und was ihrer Erhaltung dient. … Diese Einsichten sollen dir gengen, wenn sie deine Grundberzeugungen sind.483
Da zu jedem Thema entsprechende Gnomen in den Selbstbetrachtungen auffindbar sind, sollen hier einige Beispiele gengen: (a) Fr die Akzeptanz der Dinge, die von der All-Natur bestimmt werden, siehe z. B.: „Alles, was geschieht, geschieht zu Recht.“484 (b) Fr die Autarkie, den Rckzug in die „innere Burg“, siehe z. B.: „Die Dinge berhren die Seele nicht.“485
481 482 483 484 485
M. Aur. Med. 6, 30. Siehe Kap. I 5. M. Aur. Med. 2, 3. M. Aur. Med. 4, 10. M. Aur. Med. 4, 3.
142
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
(c) Fr die Kosmologie siehe z. B.: „,entweder Vorsehung oder Atome‘ … Die Welt ist Wandlung.“486 (d) Fr die Teil-Ganzes-Beziehung in seiner politischen Variante siehe z. B.: „Denn nichts ist dem Teil schdlich, was dem Ganzen ntzt.“487 (e) Fr die Bedeutung des Aufnehmens oder Urteilens siehe mit Bezug zur Form z. B.: „Alles ist zunchst nur ein Aufnehmen/(Wert-)urteil (rpºkgxir). Denn es ist doch klar, was von dem Kyniker Monimus gesagt wurde. Eindeutig ist aber auch die Ntzlichkeit dieser Aussage, wann man ihren wahren Kern erfasst.“488 (iv) Eine Gnome kann fr sich stehen. Sptestens bei Isokrates tauchen Gnomen nicht nur in anderen Textformen auf, sondern werden eigens gesammelt. Eine solche Zusammenstellung489 wurde erst spt mit dem Gattungsbegriff Gnomo-logium bezeichnet. Bei Aristoteles meint cmylokoc¸a lediglich ein Reden in Gnomen oder deren Gebrauch.490 Marc Aurel hat Gnomen, Zitate, gesammelt und sie in den Selbstbetrachtungen in Reihen niedergeschrieben. Drei Kapitelfolgen sind deutlich auszumachen. Der Umstand, dass die Gnomen ber verschiedene Kapitel verteilt sind und die drei Sequenzen auch im gesamten Text zufllig an486 487 488 489
Beide M. Aur. Med. 4, 3. M. Aur. Med. 10, 6. M. Aur. Med. 2, 15. Es ist wichtig, noch einmal daran zu erinnern: In einem Gnomo-logium drften, streng genommen, nur Gnomen gesammelt werden. Es finden sich aber in den spter als Gnomologium bezeichneten Sammlungen auch Chrien und Apophthegmata. 490 Siehe Arist. Rh. 1349a19 ff. „Lediglich zwei spte Titelangaben kçnnten darauf hindeuten, dass cmylokoc¸a tatschlich auch ‘Gnomologium‘ bedeutet hat. So ist das Carmen Morale 1, 2, 33 Gregors v. Nazianz mit cmylokoc¸a tetq²stiwor berschrieben, und im Sudalexikon finden wir unter den Werktiteln des Theognis cmylokoc¸am di’ 1kece¸ym (an Kyrnos), womit in beiden Fllen mehrzeilige Kurzgedichte gemeint sind. Inwiefern sich diese Bedeutung etabliert hat, muss offen bleiben, da die vorhergehenden Gedichtsammlungen Gregors wiederum mit ‘cmylij²‘ und ‘cm_lai‘ berschrieben sind, whrend das Werk des Theognis im selben Abschnitt auch noch als cm_lai di’ 1kece¸ar tituliert wird. Nach den gerade gewonnenen Ergebnissen drfte es weiterhin nicht berraschen, dass Plutarch (De liberis educandis 16C) die cmylokoc¸ai Heºcmidor noch als ‘Sprche‘ (= Gnomen) auffasst (kºcoi eQs¸). Daraus lsst sich folgern, dass das Gnomologium in der Antike als Gattungsbegriff, wenn berhaupt, nicht nur sehr spt belegt ist, sondern wohl auch lediglich Sammlungen von Versgnomen beinhaltet hat. Eine Diskrepanz zwischen unserer modernen Auffassung von Gnomologium (s. o.) und der antiken Verwendungsweise ist also durchaus gegeben.“ Overwien, O.: Das Gnomologium, das Gnomologium Vaticanum und die Tradition, a.a.O., S. 101.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
143
geordnet wirken, kann weder als Indiz dafr gewertet werden, dass uns der Text schlecht und ungeordnet berliefert ist, noch dafr, dass es sich bei den Selbstbetrachtungen um eine Skizze fr einen anderen noch zu schreibenden Typus von Text handelte. Es zeigt vielmehr, wie frei und diversifiziert die Wahl der Mittel bei Marc Aurel ist. Ein grundlegender Umstand zeigt sich auch hier: Er hat eben keineswegs beabsichtigt, einen Text einer bestimmten Gattung zu schreiben, sondern hat verschiedene formale wie inhaltliche Wege ge- und versucht, um sein Anliegen zu verwirklichen. Die erste Gnomenreihung491 ist keine Exzerptenreihe, sondern eine kurze Abfolge von offensichtlich selbstverfassten Gnomen. Sie sind alle kurz und – mit wenigen Ausnahmen – allgemein und kontextlos.492 Von der Erwhnung dieser zwei Exzerpten-Sammlungen ist es vermeintlich nur ein Schritt zur These: „wir htten in den Selbstbetrachtungen im wesentlichen Nachschriften von Vortrgen und Ermahnungen, die der Kaiser einst selber gehçrt hat, zu sehen.“493 Diese These von Dalfen, die gesamten Selbstbetrachtungen seien ein Florilegium, verbindet sich mit einer Annahme zum Aufbau des Werkes: Die dem ersten Buch folgenden Bcher dokumentieren die Lehren, fr die Marc Aurel seinen Lehrern im ersten Buch dankt. Die These ist in mehrerlei Hinsicht problematisch: Der Unterschied zwischen den zwei Exzerptenreihen und den anderen Kapiteln wird zu einem Unterschied von Zitaten und Paraphrasen nivelliert. Dass Marc Aurel im ersten Buch Lehrern dankt, deren Lehren er in den folgenden Bchern ohne eigene Zutat wiedergibt, ist unwahrscheinlich. Schon fr das erste Buch ist diese Beschreibung unzutreffend, denn Marc Aurel dankt im ersten Buch nur ausgewhlten Lehrern und dann zum Teil fr etwas, das gar nicht Hauptbestandteil deren Unterrichts war. Wie bereits ausgefhrt, spricht viel mehr dafr, dass Marc Aurel bei der Abfassung des Buches bereits dezidierte philosophische Ambitionen hatte, die in den restlichen Bchern expliziert werden. Die im ersten Buch erwhnten paradigmatischen Eigenschaften sind eine philosophisch bedingte Aus491 Siehe M. Aur. Med. 6, 51 – 59. 492 Daneben finden sich reine Zitatensammlungen (siehe M. Aur. Med. 7, 32 – 52; 11, 22 – 39). Viele Hinweise darber, ob Marc Aurel die entsprechenden Zitate aus den zusammenhngenden Texten selber gesammelt oder auf bereits bestehende Textbcher zurckgegriffen hat, finden sich im Kommentar zum griechischen Text in der Ausgabe von Farquharson. 493 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 219.
144
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
wahl. Die bereits im ersten Buch deutliche Selektivitt lsst sich nicht damit erklren, dass Marc Aurel – hnlich wie Arrian – stenographierte, was ihm die Lehrer sagten. Die These, alle Inhalte der Selbstbetrachtungen seien als Paraphrase eines Lehrers zu erklren, muss, wie auch J. Dalfen selbst eingesteht, ohne Einzelnachweis bleiben. Die These, Marc Aurel schreibe in den Selbstbetrachtungen etwas nieder, das philosophiehistorisch nicht originell sei, wird hier zur weitaus gewichtigeren These, die Inhalte seien gar nicht die seinigen. Marc Aurel ist demzufolge kein langweiliger Philosoph, sondern gar kein Philosoph, weil er nur der Protokollant der Philosophie von anderen ist. Widersprechen sich nicht die beiden Thesen, dass die Selbstbetrachtungen einerseits ein Text sind, der nur die Lehren anderer wiedergibt und andererseits autobiographischen Charakter hat, weil in ihm viel Persçnliches, also Autorenspezifisches zur Sprache kommt? J. Dalfen erklrt die Vereinbarkeit wie folgt: Die an sich selbst gerichteten oder persçnlichen Notizen „verstehen wir als Worte, die seine Lehrer an ihn gerichtet haben, die er sich vergegenwrtigt und niederschreibt.“494 Wenn Marc Aurel sich oder seinen Namen nennt,495 gebe er Seneca oder Epiktet wieder und setze nur wie diese den Namen des Adressaten ein. Viele persçnliche Selbstreferenzen kçnnen jedoch gar keine erinnerten Lehrerworte sein, da sich viele auf sein hohes Alter beziehen. Die Lehrer waren bereits tot bzw. kannten Marc Aurel nicht alt und als Kaiser, der einerseits seine Pflicht tun wollte, aber zugleich unter den Umstnden litt. Ferner ist die Auswahl und Konzentration der Themen fr Marc Aurel spezifisch und kann nicht auf die Lehrer zurckgefhrt werden. Selbst wenn man nicht von eigener Leistung sprechen will, so muss man die Selbstbetrachtungen doch fr etwas Eigenes halten. Dies berhrt bereits die nchsten beiden Punkte. Es ist fraglich, ob Marc Aurel in der Tat keine eigenen Ideen hatte. Das allerdings kann erst nach einer Untersuchung der Themen und Argumente entschieden werden. Marc Aurels von der stoischen Tradition abweichende Seelenlehre, seine besonders starke Heraklit-Rezeption, die Betonung des Gemeinschaftsgedankens inklusive der damit einhergehenden Wortschçpfungen legen zumindest etwas anderes nahe. Selbst wenn Marc Aurel aus einer Vielzahl von Quellen nur paraphrasierend Bruchstcke entlehnt hat, ist damit noch nicht entschieden, ob das sich daraus ergebende Gesamtbild ebenfalls ganz traditionell ist. 494 Ebd., S. 221. 495 Siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 44.
3.2 Die Ermahnung und Verwandtes
145
Der gleiche Gedanke gilt fr die Form der Selbstbetrachtungen: Fr jeden einzelnen formalen Aspekt sind Vorlufer benennbar. Doch kçnnen diese Reduktionen wiederum den Umstand hinreichend erklren, warum die Selbstbetrachtungen ihrer Form nach einzigartig sind? Diese Tatsache hat Gewicht. Aussagen ber die Herkunft und Tradition von Elementen eines Werkes sind keine Erklrung, warum diese so und nicht anders zusammengefgt wurden. Sie kçnnen nur helfen, die Bedeutung von Teilaspekten zu klren, aber nicht die des gesamten Werkes. Der These von der Traditionalitt der Selbstbetrachtungen steht die Tatsache gegenber, dass sie in der Antike einzigartig sind. Es gibt in der Antike wohl keinen vergleichbaren Text. Entscheidend ist ferner nicht, ob einzelne Kapitel in den Selbstbetrachtungen als Paraphrasen vorheriger Denker ausgemacht werden kçnnen, sondern ob der Text die vom Autor erhoffte Wirkung zeigt. Epiktet und Seneca haben dieses Kriterium fr das maßgebende gehalten. Seneca schreibt: Ich verehre daher die Erfindungen der Weisheit und die Erfinder: sich zu nhern dem gleichsam Erbe vieler macht Freude … aber auch, wenn alles von den Alten gefunden worden ist, wird dies stets neu sein, Gebrauch und Kenntnis des von anderen Gefundenen sowie seine Anordnung. Denke dir, hinterlassen seien uns Heilmittel, mit denen behandelt werden die Augen: nicht ist es nçtig, mir andere zu suchen, sondern diese sind dennoch den Krankheiten und Umstnden anzupassen … du musst das Mittel richtig anpassen und abpassen den Zeitpunkt, anwenden fr jeden einzelnen Fall das [richtige] Maß.496
Bei der Anwendung und Zusammenstellung spielt, sofern diese schriftlich geschieht, der Stil eine Rolle. Die Selbstbetrachtungen sind also schon deswegen originell, weil diese drei Momente (Anwendung, Zusammenstellung und Stil) gar nicht bernommen sein kçnnen. Die Verbindung von Form und Inhalt zeigt sich auch hier. Zusammenfassend ist zu sagen, dass eine Untersuchung der Selbstbetrachtungen aus parnetischer und artverwandter Perspektive fruchtbare Ergebnisse liefert: Die Mahnungen und hnliches bestimmen der Form und den Inhalten nach viele Kapitel des Werkes. Spezifische Aspekte prgen auch dessen Gesamtstruktur und helfen so zu verstehen, warum das Buch durchaus so geschrieben worden sein kann, wie wir es kennen. Die Allgemeinheit von Mahnungen, ihre Abgeschlossenheit kann die lose Kapitelstruktur erklren. Die vorausgesetzte Vertrautheit des Mahnenden 496 Sen. Ep. 64, 7 – 8.
146
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
mit demjenigen, der zur praktischen Umsetzung eines ebenfalls vorausgesetzten Wissens aufgefordert wird, erklrt Inhalte und Form vieler Eintrge. Auch das fr Mahnungen wesentliche Moment der Iteration wird in nahezu all seinen Varianten durch den Gesamtaufbau des Buches widergespiegelt. Ferner lieferte die Untersuchung erste Indizien dafr, dass Marc Aurel nicht nur selbstbewusster Artist, sondern auch ein selbstreflektierter Schreiber ist. Er treibt sich dazu an, einen bestimmten Stil zu pflegen. Und diese Reflexionen sind Teil seines Textes. Die Bedeutung von Aufforderungen fr Marc Aurel wird dann deutlich, wenn er sich im Text einerseits direkt auffordert, dann ber die Art und Weise, dies richtig zu tun, reflektiert und sich schließlich auffordert, sich bestndig zu ermahnen. Die Mahnungen spielen auf verschiedenen Ebenen eine Rolle, wobei dies sowohl eigens thematisiert als auch durch die Form zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Phnomen wird noch ausgeprgter anhand der verschiedenen Formen und Ebenen der Dialogizitt zu beobachten sein. Schließlich gab es erste Hinweise darauf, dass Marc Aurel teilweise mit dem Schreiben die Lebensform, die er thematisiert, bereits praktisch aktualisiert. 3.3 Konsolatorisches 3.3.1 Vorbemerkungen zur „Trostschrift“ Die Trauer- oder Trostschrift (kºcor paqaluhgtjºr oder consolatio) ist in der Antike ußerst weit verbreitet.497 Obschon sie als Gattung gut bestimmt ist, vor allem weil sie sich durch eine besonders feste Topik-Tradition auszeichnet,498 bestehen innerhalb der Gattungsgrenzen formale und funktionale Diversifikationen. Die Trostschrift kann in poetischer, prosaischer, dialogischer oder in Briefform vorkommen. Sie kann eine Vielzahl von Inhalten und Aufgaben zum Ausdruck bringen, die sich zum
497 Siehe Buresch, C.: Consolationum a Graecis Romanisque scriptarum historia critica, in: Leipziger Studien zur classischen Philologie 9 (1887), S. 1 – 170; Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, Mnchen 1958. 498 „An dieser Gattung lsst sich zeigen, was Topik ist.“ Curtius, E. R.: Europische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 88. Eine Zusammenstellung der Topik findet sich bei Johann, H.-Th.: Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften ber den Tod, Mnchen 1968, S. 36 – 126.
3.3 Konsolatorisches
147
Teil betrchtlich vom thematischen und intentionalen Ursprung und Kern entfernt haben. Die Gattung lsst sich, wie fast jede in der Antike, auf Homer zurckfhren. In der Ilias trçstet Dione nach dem Tod von Aineas ihre Tochter Aphrodite in einer lngeren Rede.499 Dass Menschen sterben, scheint eine gleichermaßen triviale wie unspezifische Beobachtung zu sein. Der Sterblichkeit des Menschen kommt bei Homer jedoch eine besondere Bedeutung zu. Sie ist nicht nur etwas, mit dem die Menschen sich auseinandersetzen mssen, sondern das Menschliche schlechthin,500 denn die Sterblichkeit ist die wichtigste Eigenschaft des Menschen.501 „Sterblicher“ (hmgtºr) wird zum Synonym fr „Mensch“. Ein allgemeiner Begriff fr „Tiere“ wird noch nicht verwandt. Sterblich zu sein, heißt, nicht unsterblich zu sein. Mensch zu sein, bedeutet, kein Gott zu sein.502 In der antiken Trostliteratur wird mit dem Umstand gerungen, der den Menschen zu dem macht, was er ist, und der zugleich sein grçßtes Problem darstellt. Vielleicht begrndet dies auch die auffllige Tatsache, dass die Trostschriften aus verschiedenen Schulen sich doch bemerkenswert hnlich sind. Der Trost und die Minimierung der Trauer einer konkreten Person angesichts eines aktuellen Todesfalls bilden das thematische Zentrum der Gattung und definieren sie in einem engeren Sinne. R. Kassel hat in seiner Gesamtdarstellung folgende These plausibilisiert: „jq²tistom pq¹r !kup¸am v²qlajom b kºcor (Ps.-Plut. Cons. ad 499 Siehe Hom. Il. 5, 381 ff. (siehe ferner Il. 1, 361 und 6, 485). Die These, bei Homer sei der Anfang der consolatio zu finden, vertrat bereits Quintilian (siehe Inst. 10, 1, 47). 500 Es handelt sich hier freilich um eine implizite Anthropologie, um Beschreibungen des menschlichen Handelns und Denkens, der menschlichen Sprache, des spezifisch menschlichen Verhltnisses zu Zeit und Raum, zu Recht und Gerechtigkeit. Zur Unterscheidung von expliziter und impliziter Anthropologie siehe Landmann, M.: De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, Freiburg im Br. 1962, Einleitung, S. xiff. Erst Platon stelle die Frage nach dem Menschen in expliziter Form. 501 „hnlich hufig wie %mhqypor benutzt Homer den feineren poetischen Ausdruck bqotºr, der (siehe lat. mortuus) die Sterblichkeit des Menschen eigens akzentuiert. In Homers Werk steht %mhqypor mehr als 70mal in Verbindung mit dem Ausdruck hmgtºr – sterblich/Sterblicher.“ Meyer, M. F.: Der Mensch als Lebewesen. Zur Stellung des Menschen in der biologischen Wissenschaft des Aristoteles, unverçffentlichte Habilitationsschrift, Koblenz 2006, S. 3. 502 „In etwa einem Drittel aller Flle gebraucht Homer die Ausdrcke %mhqypor, !m¶q und bqotºr, um den Kontrast zu den unsterblichen Gçttern hervorzuheben.“ Meyer, M. F.: Der Mensch als Lebewesen, a.a.O., S. 3.
148
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Apoll.) kçnnte als Leitspruch ber die gesamte Konsolationsliteratur gesetzt werden.“503 Obschon oft beteuert wird, das Wort „Trost“ gebe einen Ton wieder, der weder dem griechischen paqaluhgtijºr (kºcor) oder dem lateinischen consolatio entspreche,504 macht es zumindest deutlich, dass die Konsolationsschriften Teil der psychagogisch-therapeutischen Tradition sind. Die Rede oder Schrift wird als Heilmittel (v²qlajom) angesehen. Spezifisch konsolatorisch ist demnach die Verwendung eines Logos gegen den Kummer. Zu bestimmen ist, was jeweils mit „Logos“ und „Kummer“ gemeint ist. Gegen die durch den Todesfall verursachte Betrbnis wird bei Homer die Macht der Worte im Sinne eines prosaisch angelegten Umstimmungsversuches eingesetzt. Entsprechend des Anlasses ist Trçstung zunchst eine Sache innerhalb der Familie oder der Freunde oder Vertrauten.505 Whrend die Pythagorer auf die Kraft der lousij¶ bauen, betonen die Sophisten die Mçglichkeit, mit dem Logos auf die Affekte einzuwirken.506 Antiphon wird eine t´wmg !kup¸ar zugeschrieben.507 Mit der rhetorischen Tradition bleibt die Fertigkeit, durch Worte auf den Kummer gnstig Einfluss zu nehmen, auf das Engste verbunden. Sie ist Signum des guten Redners.508 Die consolatio ist fester Bestandteil des Systems der rhetorischen Gattungen, auch wenn es verschiedene und nicht ganz kongruierende Einteilungen besonders bei Menander und Pseudo-
503 Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, Mnchen 1958, S. 5. 504 So Kassel (ebd. S. 3). Fast wçrtlich wiederholt bei Kurth, Th.: Senecas Trostschrift an Polybius. Ein Kommentar, Stuttgart/Leipzig 1994, S. 9. 505 Siehe etwa das Euripides-Zitat (fr. 962 N) und Arist. Eth. Nic. 9, 11 (1171b2): „denn der Freund trçstet durch seinen Anblick und durch sein Wort, wenn er gewandt ist, denn er kennt den Charakter des anderen und woran jener Schmerz und Freude empfindet.“ Weitere Stellen bei Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O., S. 5 ff. 506 „Die Rede ist eine große Bewirkerin, die mit dem kleinsten und unscheinbarsten Kçrper die gçttlichsten Werke vollbringt. Denn sie vermag sowohl Furcht zu beenden, Trauer zu nehmen, Freude zu bereiten und Mitleid zu vergrçßern.“ Gorgias Helena 8; siehe auch 14 fr das therapeutische Redemodell. 507 Siehe DK 87 A 6. 508 Siehe Cic. De or. 2, 35 und Quint. Inst. 10, 1, 47.
3.3 Konsolatorisches
149
Dionysios gibt.509 Das Schreiben von Kondolenzbriefen gehçrte zur routinisierten bung in den Rhetorikschulen. Bei den Sophisten treten das poetische Wort und seine Funktion, durch Katharsis zu trçsten, zugunsten einer rationalen Auffassung, wie der Logos das Fhlen beeinflussen kann, zurck. Das Trçsten ist hier allerdings Teil einer Redefhigkeit, die sich ohne festen Wahrheitsbezug im Sinne der geltenden Normen unbegrenzt mchtig whnt. Sie kann verhexen510 und das Große zum Kleinen wie das Unrecht zu Recht und umgekehrt machen.511 Mit Sokrates, Platon, den Kynikern und den hellenistischen Strçmungen gewinnen die entsprechenden Schriften einen viel strengeren intellektualistischen Zug und weiten sich thematisch ber die Trçstung nach einem Todesfall aus. Bemerkenswerterweise werden Platon und Aristoteles in vielen Untersuchungen zur Gattung nicht bercksichtigt.512 Die Lcke im Hinblick auf Platon und Aristoteles lsst sich im Rahmen dieser Untersuchung nicht schließen. Einige kurze Hinweise zu Platon kçnnen nicht zeigen, auf welchen Pfaden der Tradierung vor allem die Phaidon-Lektre in spterer Zeit der Gelassenheit gegenber dem nahenden Tod dient,513 oder, wie im Falle Catos, einer Ruhe, die auch den 509 Dazu Kessel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O., S. 40 – 48. 510 Siehe Gorg. Hel. 14. 511 Dies ist ein Kritikpunkt von Cicero am Gorgias-Schler Alkidamas: Seinem Trost fehle das philosophische Fundament (siehe Cic. Tusc. 1, 116). 512 Auch in diesem Punkt war die Studie von Kassel einflussreich. Er schreibt: „berhaupt aber ist das konsolatorische Anliegen mit dem Geiste des platonischen Philosophierens im tiefsten Grunde unvereinbar.“ (Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O., S. 33). Mit Rekurs auf Seneca (z. B. Ep. 64, 8) und die Hochzeit der consolatio in der rçmischen Kaiserzeit erklrt Kassel, dass die literarische Trçstung einen festen Bestand an rhetorischen Figuren, Sentenzen, Exempla und argumentativen Versatzstcken voraussetze, der dann, nur neu zusammengestellt, auf einen bestimmten Fall angewandt werde. In Platons Dialogen hingegen bestimme das offene Ringen um das neue und bessere Argument alles. Der Umstand, dass Platons Phaidon zu einem der prominentesten Textstcke in der spteren konsolatorischen Tradition werden konnte, sei damit vertrglich. Fr Konsolationsschriften sei demnach das formale Kriterium der Topiktradition entscheidend und nicht das Anliegen. Das Argument von Kassel ist problematisch, nicht nur weil der Phaidon schon in der Antike anders aufgefasst wurde. 513 Siehe Plut. Cat. Min. 792e und 793d.
150
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Weg des Selbstmordes gangbar macht. Aber ein kurzer Passus aus Platons Apologie kann hier als Anknpfungspunkt dienen. Sokrates sagt: Denn den Tod frchten, ihr Mnner, das ist nichts anderes als sich dnken, man wre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist ein Dnkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal ob er fr den Menschen das grçßte ist unter allen Gtern. Sie frchten ihn aber, als wssten sie gewiss, dass er das grçßte bel ist. Und wie wre dies nicht eben derselbe verrufene Unverstand, die Einbildung, etwas zu wissen, was man nicht weiß.514
Folgende Aspekte, die fr Platons Behandlung der Todesproblematik spezifisch und fr die Entwicklung der Konsolatorik wichtig sind, sind zu notieren, denn sie helfen, die Selbstbetrachtungen besser einzuschtzen: (i) Es geht nicht mehr darum, das Leid, das ein bereits eingetretener Todesfall verursacht hat, zu beeinflussen, sondern um die Furcht vor dem zuknftigen eigenen Tod. Die Consolatio ist hier Affekt-, genauer Furchttherapie. (ii) Die zu bekmpfende Furcht entsteht erstens durch falsche Urteile und zweitens durch Nichtwissen. (iii) Das fehlende/falsche Wissen bezieht sich auf das, was der Tod ist. (iv) Furchtauslçsend werden die Urteile ber die Natur des Todes, wenn sie mit dem Zusatz-Urteil verknpft werden, der Tod sei ein bel. (v) Wissen, was der Tod ist und ob er ein bel ist, beseitigt die Furcht.515 Die thematische Erweiterung und Intellektualisierung wird von den Kynikern, den Epikureern und Stoikern vorangetrieben. Die Auseinandersetzung der Kyniker mit dem Tod ist durch die sog. Umprgung der Mnze (paqawaq²tteim t¹ mºlisla),516 die ihrerseits so514 Pl. Ap. 29a-b. 515 Die Apologie (und zu einem guten Teil auch der Kriton) spricht gegen die These, dass es ohne die Theorie der Seelenteilung, also vor der Politeia, bereits eine Affekttherapie gibt. Die in der Politeia explizierte Dreiteilung wird (zumindest in einer Vorstufe, als Zweiteilung) im Gorgias vorausgesetzt und gebraucht. Zu den Neuerungen der Politeia siehe Gerson, L. P.: Knowing Persons. A study in Plato, Oxford 2003, S. 99 f., 265. Zur implizierten Seelenteilung im Gorgias siehe van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., S. 96 ff. Wertvolle Hinweise fr die Bekmpfung der Furcht im Gorgias und Phaidon liefert Erler, M.: „Sokrates in der Hçhle“. Argumente als Affekttherapie im Gorgias und im Phaidon, in: van Ackeren, M. (Hg.): Platon Verstehen, a.a.O., S. 57 – 68. Die Todesfurcht muss wie ein Kind (siehe Phaid. 77d-e) besprochen werden. Die Argumente dienen nicht nur der Beweisfhrung, sondern auch der Aufmunterung (paqaluh¸a), was mehrfach betont wird. 516 Siehe Diog. Laert. 6, 21.
3.3 Konsolatorisches
151
phistischen Ursprungs ist,517 bestimmt. Auffllig ist zunchst die Kritik an den gngigen Formen der Begrbnisse und Totenklagen.518 Diese grndet in der Auffassung, der Tod sei durch Empfindungslosigkeit gekennzeichnet, und findet ihren Ausdruck in den literarisch viel und divers tradierten Anekdoten, die von den Begrbniswnschen des Kynikers schlechthin handeln: Diogenes wollte einfach auf ein Feld oder in einen Fluss geworfen werden.519 Bereits Sokrates erwog die Alternative, den Tod kçnne entweder Empfindungslosigkeit oder das Fortleben in einem anderen (besseren) Zustand ausmachen.520 Whrend sich Platon die zweite Mçglichkeit zu Eigen macht, vertritt der Kynismus die erste. „Wie bei Epikur beruht im Kynismus die Lçsung des Todesproblems auf seiner Verleugnung; daraus bezieht der Kyniker den Mut der Todesverachtung.“521 Doch der Tod als Verlust eines nahe stehenden Menschen oder der befrchtete eigene ist als klassisches, zentrales konsolatorisches Thema nur eines, auf das sich die „Umprgung der geltenden Mnze“ im Sinne eines Umsturzes der Wertordnung manifestiert. Armut, Verbannung und Krankheit unterliegen indes nicht nur der Neuordnung der Werte, sondern werden zu Themen der sog. Trostschriften.522 Die fr den Kynismus signifikante Rauheit des Ausdrucks ist fr die Stoa nur bedingt kennzeichnend. Die Stoa entwickelt, gerade in ihrer frhen Phase, darber hinausgehende theoretische Grundlagen. Details der stoischen Affektenlehre und ihrer Entwicklung bei verschiedenen Schulvertretern sind uns wegen der Quellenlage nicht vollumfnglich bekannt. ber die Umrisse jedoch wissen wir etwas. Fr hiesige Belange ist kurz zu notieren, dass die Traurigkeit (k¼pg)523 neben Furcht (vºbor),524 Begierde 517 Siehe dazu Niehues-Prçbsting, H.: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, Mnchen 1979, Kap. 2, 1. 518 Siehe dazu Praechter, K.: Zur kynischen Polemik gegen die Bruche bei Totenbestattung und Totenklage, in: Philologus 57 (1989), S. 504 – 7. 519 Siehe Diog. Laert. 6, 76 – 9. Siehe dazu Niehues-Prçbsting, H.: Der Kynismus des Diogenes, a.a.O., S. 140 ff. ber den wirklichen Tod des Protokynikers Diogenes gibt schon Diogenes Laertius verschiedene Berichte wieder (siehe Diog. Laert. 6, 76 f.). 520 Siehe Pl. Ap. 40c-42a. 521 Niehues-Prçbsting, H.: Der Kynismus des Diogenes, a.a.O., S. 144. 522 Eine Stellensammlung, die die Existenz entsprechender, aber leider verlorener Schriften belegt, findet sich bei Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O., S. 15 f. 523 Die Unterarten sind: 1. vhºmor (Neid), 2. f/kor (Mißgunst), 3. fgkotup¸a (Eifersucht), 4. 5keor (Mitleid), 5. p´mhor (Trauer), 6. %whor (Kummer), 7. %wor (rger), 8. !m¸a (Plagen), 9. ad¼mg (Schmerz), 10. %sg (Ekel).
152
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
(1pihul¸a)525 und Lust (Bdom¶)526 zu den ersten Affekten (pq_ta p²hg) gezhlt wird.527 Sie unterscheiden sich danach, ob ihnen eine (falsche) Vorstellung bezglich eines vergangenen oder zuknftigen bels oder Gutes zugrunde liegt. Alle Affekte eint, dass sie widernatrliche, exzessive und der Vernunft nicht folgende Bestrebungen sind.528 Mit der Forderung nach !p²heia treten die frhen Stoiker (Zenon, Kleanthes, Chrysipp) auch fr eine entschiedene Bekmpfung der k¼pg ein.529 Trost ist hier ein Kampf, der mit den Mitteln des Logos die Trauer ganz beseitigen soll, weil es vernnftige Trauer nicht geben kann. Dies zu bewirken, ist einzige Pflicht des Trçstenden.530 Panainitios hat eine Trostschrift verfasst. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die frhe Stoa nur an der theoretischen Exploration der Affekte interessiert war. Vielmehr spricht einiges dafr, dass die Schriften Informationen fr einen Trostspender liefern wollten. Die entsprechende Praxis fand dann, so darf vermutet werden, mndlich statt. Ferner hat Panaitios die Maximalforderung nach vçlliger Apathie aufgegeben.531 Poseidonius erklrte nach Seneca532 Trçstungen fr notwendig. Erhalten geblieben ist jedoch nichts dergleichen. Seneca selbst hat neben drei Briefen533 drei Konsolationsschriften verfasst. Sie bilden den Hçhepunkt der antiken Konsolationsliteratur, die
524 Die Unterarten sind: 1. ejmor (Zaudern), 2. !cym_a (Angst), 3. 5jpkgnir (Bestrzung), 4. aQsw}mg (Scham), 5. h|qubor (Verwirrung), 6. deisidailom_a (Besessenheit), 7. d´or (Gram) und de¸lata (Entsetzen). 525 Die Unterarten sind: 1.aqcμ (Zorn) bzw. Unterarten: hul¹r, wºkor, l/mir, jºtor, pijq¸ai, 2. 5qyter svodqo· (heftige sexuelle Liebe), 3. pºhoi j. Vleqoi (Liebessehnsucht), 4. vikgdom¸ai (Vergngungssucht), 5. vikopkout¸ai (Sucht n. Reichtum), 6. vikodon¸ai (Ruhmsucht) u. . 526 Die Unterarten sind: 1. 1piwaiqejaj¸ai (Schadenfreude), 2. !slemislo· (Zufriedenheit) und 3. cogte?ai (Gaukelei). 527 Siehe dazu insgesamt Diog. Laert. 7, 110 ff. 528 B %kocor ja· paq± v¼sim xuw/r j¸mgsir (SVF I 205). 529 Siehe SVF 1, 370. 530 Siehe Cic. Tusc. 3, 76. Die Traurigkeit nimmt besonders bei Cicero einen großen und prominenten Platz in der Behandlung der Affekte ein. Dazu Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O., S. 17 f. 531 Dazu Cic. Fin. 4, 23. 532 Siehe Sen. Ep. 96, 65. 533 Siehe Sen. Ep. 63, 93 und 99. Siehe dazu gesondert Studnik, H.-H.: Die Consolatio Mortis in Senecas Briefen, Diss., Kçln 1958.
3.3 Konsolatorisches
153
in der Kaiserzeit eine Blte erlebte.534 Seneca verzichtet dabei weitgehend auf die Explikation der theoretischen Fundamente.535 Er schreibt – im Unterschied zu den frhen Stoikern – weniger ber das Trçsten als es selber zu praktizieren. Allerdings ist nur seine Trostschrift „ad Marciam“ eine reine Trostschrift im engeren Sinne, weil sie der Tochter des Historikers Cremutius Cordus nach dem Verlust ihres Sohnes helfen soll.536 Bei der an Helvia und Polybius gerichteten Schrift handelt es sich um Suasorien.537 Die Schrift an seine Mutter Helvia soll der Mutter zum Trost angesichts der bevorstehenden Verbannung ihres Sohnes dienen.538 Die Schrift an Polybius gibt sich als Trostschrift. Doch selbst innerhalb des engen Bestandes an Topoi, den die Gattung bietet, konnte Seneca eine Bittschrift verfassen. Wobei er, um seinem Wunsch nach Begnadigung den passenden Ausdruck zu verleihen, auf die der Trostschrift nicht gerade nahe liegenden Elemente des Herrscherlobs zurck greift.539 Bereits anhand der Konsolationsschriften Senecas zeigt sich eine Entwicklung, die in seiner Zeit immer deutlicher wird, nmlich eine Aufspreizung der Gattung in ganz verschiedene Adressatenorientierungen und Funktionen.540 Dementsprechend groß ist auch die formale Diversifikation. Die philosophischen Konsolationsschriften haben, insofern sie praktisch wirken wollen, adhortative Absichten541 und sind daher ein Spezialfall 534 Wichtige Vorlufer waren Ciceros Konsolationsschrift, die er nach dem Tod seiner Tochter Tullia an sich selber richtete. Sie ist aus zwei Grnden interessant: Erstens ist sie eingestandenermaßen nicht originell, sondern nach dem Vorbild Krantors gearbeitet. Siehe Cic. Tusc. 3, 76 und Plin. HN praef. 22 (auch in M. Tulli Ciceronis Consolationis Fragmenta, rec. C. Vitelli, Florenz 1979). Zweitens zeigt diese Schrift deutlich die Verwendung historischer Exempla (siehe Mnzer, F.: Rçmische Adelsparteien und Adelsfamilien, Stuttgart 1920, darin siehe den Anhang S. 376 – 408). 535 Eine entsprechende Forderung findet sich bei Cic. Tusc. 3, 79. 536 Siehe Manning, C. E.: On Seneca’s Ad Marciam, Leiden 1981. 537 Siehe Grimal, S.: Macht und Ohnmacht des Geistes, Darmstadt 1978, S. 222. 538 Das Moment der Selbsttrçstung ist nur angedeutet (siehe 1, 1), aber, wie in den Schreiben an Lucilius (siehe Sen. Ep. 27, 1), darf es als weitere Absicht des Textes gelten. In der Trostschrift an die Mutter ist dies jedoch schon wegen der Verçffentlichung zurckgehalten. 539 So die mit vielen Referenzen versehene Zusammenfassung bei Kurth, Th.: Senecas Trostschrift an Polybius, a.a.O., S. 19 – 21. 540 Fr Seneca siehe ebd., S. 13 – 23 und Meinel, P.: Seneca ber seine Verbannung, Bonn 1972, S. 17 f. 541 Dazu auch Kurth, Th.: Senecas Trostschrift an Polybius, a.a.O., S. 9.
154
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
der parnetischen Schriften. Sie mssten als solche dem genus deliberativum zugeschrieben werden. Die tatschliche Zuordnung zum genus demonstrativum, also den Lobreden (c´mor 1pideijtijºm), wird jedoch verstndlich, wenn die Vielzahl der anderen zur Gattung gehçrigen Formen bercksichtigt wird. Neben den alten poetischen Formen542 und der Grabinschrift543 gewann die Grabrede im Rom der Kaiserzeit zunehmend an Bedeutung. Gerade in ihrer çffentlichen Variante544 wollte sie nicht die Apathie der Adressaten bewirken, sondern das Andenken des Geehrten durch Bewunderung fr sein Leben und seine Taten sicherstellen. Im Unterschied zu den philosophischen Trostschriften geht es insbesondere der Rhetorik der Kaiserzeit zunehmend545 um die Suggestivwirkung ohne jeglichen Bezug zu verbindlichen Gedanken oder gar Argumenten.546 Der im Rahmen der Zweiten Sophistik grassierende sprachliche Manierismus ist auch hier zu beobachten. An die zunehmende Schematisierung und starrer werdende Topik in der Sptantike wird das Mittelalter anknpfen.547 3.3.2 Die Selbstbetrachtungen als konsolatorische Schrift Inwiefern Marc Aurel seinen Text als Trostschriften verfasst oder verstanden hat, ist nicht einfach zu ermitteln. Denn zum einen gibt es zwar einen Bestand an fr die Trostschrift kennzeichnenden Themen (Tod und Verbannung), aber zum anderen bestimmt die stoische Schule, in deren Tradition Marc Aurel schreibt, die Trauer als ein falsches Werturteil ber etwas, das eigentlich weder gut noch schlecht war. Und da nur die Tugend gut und ihr Gegenteil schlecht ist und nach stoischer Auffassung nur der 542 Siehe Esteve Forriol, J.: Die Trauer- und Trostgedichte in der rçmischen Literatur, untersucht nach ihrer Topik und ihrem Motivschatz, Mnchen 1962. 543 Siehe Ecker, U.: Grabmal und Epigramm, Studien zur frhgriechischen Sepulchraldichtung, Stuttgart 1990. 544 Die Ars rhetorica des Pseudodionysios unterscheidet zwischen einer privaten und einer çffentlichen Grabrede. Menander tut dies nicht. Dazu siehe Soffel, J.: Die Regel Menanders ber die Leichenrede, in ihrer Tradition dargestellt, hg., bers. und komm., Meisenheim am Glan 1974 und Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O., S. 40 ff., bes. S. 44 – 5. 545 Die Entwicklung untersucht Hultin, N. C.: The Rhetoric of Consolation: Studies in the Development of the consolatio mortis, Diss., Baltimore 1965. 546 Siehe Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O., S. 47. 547 Dazu Moos, P.: Consolatio, Studien zur mittelalterlichen Trostliteratur ber den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, 4 Bd., Mnchen 1971 – 2.
3.3 Konsolatorisches
155
Weise darber richtig urteilt, ist der Bereich der konsolatorischen Bemhungen sehr groß und konsolatorische Bemhungen sind so hufig nçtig wie Todesflle und die davon betroffenen Nichtweisen. Wo zwischen dieser formalen Enge und inhaltlichen Weite der konsolatorischen Tradition sind die Selbstbetrachtungen einzuordnen? Um einen Ansatzpunkt zu whlen, der das Spezifische der Selbstbetrachtungen deutlich werden lsst, seien zunchst klassische Topoi genannt. Die Trauer wird bekmpft durch:548 (i) Geduld und Bestndigkeit (ii) Vorbilder (iii) Ehrenvolles Gedenken (iv) Eine feierliche Bestattung (v) Den Hinweis, die Zeit heile den Schmerz. (vi) Die Warnung vor bermßiger Trauer. (vii) Die Empfehlung, der Macht des Schicksals zu folgen, um die Trauer aufzuheben. (viii) Den Hinweis, die Trauer sei ein Zeichen von Ungerechtigkeit oder Undankbarkeit. (ix) Die Frage, ob der Trauernde mehr an sich als an die tote Person denke. (x) Den Hinweis auf die Unsterblichkeit. (xi) Den Hinweis, der Tod sei die Erlçsung von der Mhsal des Lebens. (xii) Den Hinweis, der Tod sei ein Zustand der Nichtexistenz. (xiii) Den Hinweis, der Tod sei ein Glckszustand. Vor der Untersuchung, welche dieser Momente von Marc Aurel aufgegriffen und wie sie verwandt werden, ist es hilfreich festzuhalten, dass die Selbstbetrachtungen keines der klassischen Themen ansprechen: Einen Trauerfall hat Marc Aurel nicht zu beklagen. Den Personen, denen er im ersten Buch dankt, trauert er nicht hinterher. Er erwhnt seine Frau in der Vergangenheitsform549 und den Tod von Verus.550 Whrend er an seine Frau, die zum Zeitpunkt der Abfassung der Selbstbetrachtungen schon fast 15 Jahre tot sein drfte, sehr freundlich und ohne sprbaren Schmerz denkt, ist das Kapitel, das den Tod von Verus erwhnt, eindeutig konsolatorisch: 548 Die Topoi sind gngiger Literatur zu Konsolationsschriften entnommen, etwa Johann, H.-T.: Trauer und Trost, a.a.O., S. 36 – 126 und dem Artikel „Consolatio“ von A. Grçzinger im Historischen Wçrterbuch der Rhetorik, a.a.O., S. 369. 549 Siehe M. Aur. Med. 1, 17. Sie starb circa 156. 550 Siehe M. Aur. Med. 8, 37. Er starb 169.
156
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Sitzt etwa Pantheia oder Pergamos jetzt noch am Sarg des Verus? Wie? Chabrias oder Diotimos an Hadrians Sarg? Lcherlich. Wie? Wenn sie da sßen, wrden die Toten es merken? Wie? Wenn sie es merkten, wrden sie sich freuen? Wie? Wenn sie sich freuten, wren diese dann unsterblich? War es nicht so vom Schicksal bestimmt, dass auch diese zuerst alte Frauen und alte Mnner werden und dann sterben? Was also sollten jene spter tun, nachdem diese gestorben sind? Das alles ist Gestank und schmutziges Blut in einem Sack.551
Hier werden komprimiert die oben erwhnten Aspekte ehrvoller Bestattung, Dauer und Art des Gedenkens sowie die Frage nach der angemessenen emotionalen Reaktion auf den Tod. Der Tod von Verus oder vielmehr die darauf bezogene Trauer ist jedoch nicht das hinter der Abfassung des Kapitels stehende Motiv. Die Nennung Hadrians erfolgt wie in einer der Reihungen, die Marc Aurel hufig macht, wenn er ber den Tod schreibt.552 Hier ist sie nur kurz, aber danach spricht Marc Aurel nur noch von den Toten. Es geht ihm hier nicht um den Verlust eines bestimmten Menschen. So erwhnt er den Tod von Kindern nur in einem Eintrag: Epiktet sagte, wenn man ein Kind ksse, msse man sich im Stillen sagen: ,Morgen bist du vielleicht schon tot.‘ – ,Das bringt Unglck.‘ – ,Das bringt kein Unglck,‘ sagte er, ,sondern ist Zeichen eines natrlichen Vorgangs. Oder bringt es auch Unglck, wenn man sagt, dass die hren abgemht werden.‘553
Nur mit dem aus anderen Quellen stammenden Wissen,554 dass Marc Aurel den Tod von sechs seiner Kinder erlebte, lsst sich hier evtl. eine Anspielung auf deren Tod erkennen. Einerseits wird ber Marc Aurel berichtet, er habe sich nur vier Tage Trauer nach dem Tod eines Kindes zugebilligt,555 wobei es sich eventuell um eine sptere stoische Idealisierung handelt. Zum anderen finden wir im Briefwechsel mit Fronto, der unter dem Verlust vieler Kinder nicht nur sehr zu leiden schien, sondern sich 551 M. Aur. Med. 8, 37. 552 Siehe M. Aur. Med. 3, 3; 4, 48; 6, 47. 553 M. Aur. Med. 11, 34. Siehe als mçgliche Referenzstelle Arr. Epict. diss. 3, 24, 88 – 9. Ferner siehe Arr. Epict. ench. 3; 11 und 26. Mit gleichem Metapherntyp argumentiert Marc Aurel zuvor (M. Aur. Med. 11, 33): „Es ist ein Zeichen von Wahnsinn, im Winter eine Feige zu suchen. Das tut der Mann, der sein Kind vermisst, wenn es nicht gelassen wird.“ (In der bersetzung von Nickel fehlt der zweite Satz, obschon er den griechischen Text angibt). 554 Zusammengetragen in: Prosopographia Imperii Romani, 2. Aufl., Berlin 1933, A 697, S. 122 – 4, dann angehngt bei Birley, A. R.: Marcus Aurelius, 2. Aufl., a.a.O., S. 241, 247 – 8. 555 Siehe HA M. Ant. 21, 3 f.
3.3 Konsolatorisches
157
dabei auch ber die konsolatorischen Absichten der Philosophie beklagt, einen Marc Aurel, der seinem Lehrer ganz ohne stoische Hrte schreibt.556 In den Selbstbetrachtungen jedenfalls trauert Marc Aurel nicht um den Verlust von eigenen Kindern. Die weiteren im Text erwhnten Toten sind historische Figuren. Ferner geht es in den Selbstbetrachtungen nicht um Verbannung. Sie kommt gar nicht zur Sprache, so dass die zentralen Themen der Konsolationsschriften bei Marc Aurel nicht vorliegen. Anders formuliert: Marc Aurel schreibt aus keiner typisch konsolationsbedrftigen Situation heraus. Mit diesem Befund kann die Untersuchung jedoch keineswegs abgeschlossen werden, denn es ist auffllig, in wie vielen Kapiteln Marc Aurel den Tod thematisiert und dieser ist immerhin ein, wenn nicht der zentrale Referenzpunkt der klassischen Konsolationsliteratur. Mehrfach erwhnt er sein hohes Alter oder den nahen Tod.557 Nahe liegend ist daher die Vermutung, er wolle sich auf seinen eigenen Tod vorbereiten. Ob er jedoch unter einer besonders ausgeprgten Todesfurcht litt,558 die ein – wie auch immer bestimmbares – normales Maß berragte, muss Spekulation bleiben. Whrend die Vielzahl der Kapitel zum Thema dafr spricht, legen vier andere Beobachtungen interpretatorische Zurckhaltung nahe: (i) Die Eintrge, in denen er die Angst des Kindes erwhnt,559 die besonders seit Platons Phaidon fr die Todesfurcht steht, sind allgemein gehalten. Das heißt, dort spricht er sich selber nicht unmittelbar die Angst des Kindes zu oder betont, darunter zu leiden. (ii) Marc Aurel ist, wie bereits in den Arbeiten von J. Dalfen und P. Hadot gezeigt wurde, ganz zu unrecht depressive Verstimmung oder Pessimismus zugeschrieben worden. Dies ist ganz sicher so, doch zeigen einige Kapitel deutlich, dass es ebenso bertrieben wre, zu behaupten, Marc Aurel wrde sich ngstlich an seiner irdischen Existenz festklammern.560 556 Siehe Fronto Ep. 1, 221 – 9. 557 Siehe M. Aur. Med. 2, 2; 2, 6; 5, 31; 10, 15; 12, 1. 558 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 166 ist sich sicher, „dass der Tod fr ihn ein schweres Problem darstellte“. 559 Siehe nochmals: „Wie dir alles, was sich im Amphitheater und an hnlichen Orten abspielt zuwider ist, da man immer dasselbe sieht, und die Eintçnigkeit das Zuschauen unertrglich werden lsst, so musst du auch sonst im Leben empfinden. Denn alles ist in seinem Auf und Ab dasselbe und aus demselben. Bis wann denn?“ M. Aur. Med. 6, 46 (siehe auch 5, 11). 560 Siehe M. Aur. Med. 6, 46.
158
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
(iii) Andere Kapitel wiederum zeugen von einem heiter-gelassenen Marc Aurel: „Du wartest mit heiterer Resignation auf das Verlçschen oder den bergang.“561 (iv) Die Varianz der Eintrge zum Tod lsst weniger einen Schluss auf Marc Aurels psychologische Disposition zu als auf die Natur und Abfolge der Abfassung der Selbstbetrachtungen. Sie zeigt, dass die Selbstbetrachtungen nicht aus einem Guss sind. ber den Zeitraum und die Frequenz, in der Marc Aurel die Kapitel geschrieben hat, wissen wir nichts. Neben dem Umstand, dass viele Themen und Argumente wiederholt werden, ist die relative Verschiedenheit der Behandlungen des Todes ein weiteres Indiz dafr, dass Marc Aurel die Kapitel zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Bedrfnissen oder Motivationen geschrieben hat. In einigen scheint er dem Tod heiter entgegen zublicken. In anderen ringt er um die Furchtlosigkeit. (v) Untersttzt wird diese Einschtzung durch den Umstand, dass viele Kapitel, in denen Marc Aurel versucht sich klar zu machen, dass der Tod kein bel ist, zu den Eintrgen gehçren, die die noch zu beschreibende „analytische Methode“ verwenden.562 Auch wenn sie konsolatorisch motiviert sind, zeigen sie, dass Marc Aurel gelernt hat, seine eigene Todesfurcht rational anzugehen. Im Folgenden kann es nicht darum gehen, die Gesamtheit seiner Argumente zum besonders in der stoischen Tradition thematisch weiten Feld der Konsolatorik zu schildern. Viele Argumente, die zu diesem Kreis zu rechnen sind, betreffen ebenso Fragen der Ethik und Begrenzung von Begierden. Hier ist zunchst zu zeigen, welche Aspekte der Selbstbetrachtungen in konsolatorischer Tradition stehen oder sich sogar bewusst damit auseinandersetzen. Der letzte Aspekt soll vorangestellt werden, denn er ist krzer abzuhandeln, berraschender und weniger bercksichtigt worden. Gemeint ist der Umstand, dass Marc Aurel in nicht wenigen Kapiteln eine fr ihn falsche Konsolatorik behandelt. Er wendet sich gegen Versuche, die Todesproblematik zu leugnen: Kein noch so großer Ruhm kann den Tod ndern und der (Nach-)Ruhm selber ist nicht dauerhaft. Dies gilt auch fr 561 M. Aur. Med. 5, 33. Und das letzte Kapitel der Selbstbetrachtungen endet hnlich: „Denn das Ende bestimmt jener, der damals fr die Verbindung (deiner Bestandteile) und jetzt fr die Auflçsung verantwortlich ist. Du aber bist fr beides nicht verantwortlich. Geh jetzt mit heiterem Herzen. Denn auch er, der dich entlsst, ist heiter und freundlich.“ (M. Aur. Med. 12, 36). 562 Siehe Kap. II 5.3.
3.3 Konsolatorisches
159
das Wissen. Diese beiden Punkte verdeutlicht Marc Aurel anhand der bereits erwhnten Listen von Toten. (Darber hinaus haben diese Listen noch eine dritte Funktion auf die gleich – im Anschluss an (i) und (ii) – einzugehen sein wird.) Tod und Ruhm. Camillus, Caeso, Volesus, Leonnatus, in Krze aber auch Scipio und Cato, dann sogar Augustus, Hadrian und Antoninus. Denn alles ist vergnglich und wird bald zum Gegenstand der Sage. Bald aber ist es auch vollstndig vergessen. Und das sage ich ber die Menschen, die sich auf erstaunliche Weise vor anderen hervortaten. Denn die brigen sind mit ihrem letzten Atemzug verschwunden, verschollen. Was ist auch berhaupt das ,ewige Andenken‘? Vçllig nichtig.563
Dies schreibt Marc Aurel in einer Zeit, in der gerade die çffentliche Grabrede eine Blte erlebt. Reiche Rçmer beauftragten schon zu Lebzeiten Rhetoriker damit, Grabreden fr sie zu schreiben. Offensichtlich war die Vorstellung, nach dem eigenen Tode werde in ehrenvoller Weise an einen selbst gedacht, trçstlich, und zwar so sehr, dass man dies bereits zu Lebzeiten mit kuflichen Mitteln sicherstellen wollte.564 Marc Aurel erwhnt eine ganze Reihe ruhmreicher Herrscher vor ihm. Neben Nero,565 Tiberius,566 Augustus567 und ferner Pompeius,568 ist es vor allem Alexander der Große, der als besonders ruhmreicher Herrscher gilt. Zum Philhellenismus der Epoche gehçrte ein ausgeprgter historisierender Zug. Auf den Umstand, dass Alexander der Große sowohl in der Geschichtsschreibung als auch der Rhetorik seiner Zeit ein beliebter Ge563 M. Aur. Med. 4, 33. 564 Die Bedeutung der Grabreden von politischen Fhrern wird bei Polybius (6, 53 – 4) und Cic. (De or. 2, 341) thematisiert. Das Anliegen, schon zu Lebzeiten das sptere Andenken sichern zu wollen, motiviert ebenfalls die Res Gestae von Augustus. Dazu siehe Suet. (Aug. 28, 2). Die ber den Tod hinaus gehende Ruhmessucht der Herrscher, die sich auch in den Grabsttten Hadrians und Augustus‘ manifestiert, wird Gegenstand von Satiren bei Lukian: Cataplus (9) und Menippus (17). Zum Hintergrund siehe Dorey, T. A.: Empire and Aftermath, London 1975 und Cumont, F.: After-Life in Roman Paganism, Yale 1922. Marc Aurel selber hat zusammen mit L. Verus eine Grabrede nach dem Tod von Pius gehalten (siehe HA M. Ant. 7, 11). 565 Siehe M. Aur. Med. 3, 16. 566 Siehe M. Aur. Med. 12, 27. 567 Siehe M. Aur. Med. 8, 31. 568 Siehe M. Aur. Med. 4, 48.
160
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
genstand war,569 reagiert Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen, indem er feststellt, dass die ruhmreichen Taten nicht verhindern konnten, dass auch Alexander starb, und zwar wie alle anderen Menschen auch.570 Das Streben nach Ruhm im Leben und ein entsprechendes Andenken ndert, so Marc Aurel, nichts am Tod selbst und der Einstellung, die Menschen ihm gegenber haben sollten. Die Passagen, die tote Berhmtheiten erwhnen, argumentieren nicht mit dem grundstzlichen Argument der Stoa, dass weder der Tod ein bel, noch der Ruhm etwas Gutes ist, sondern er verwendet fr dieses spezielle Anliegen zwei andere berlegungen. Erstens sind Ruhm und besonders das ehrenvolle Andenken nach dem Tod vom Urteil anderer Menschen abhngig. Und die Ansichten anderer sind fr das eigene Glck und hier die Bewltigung der eigenen Sterblichkeit grundstzlich irrelevant.571 Im Falle der Herrscher gibt Marc Aurel ferner zu bedenken, dass es auch einem „anstndigen Menschen“ passieren kann, dass sein Tod mit Erleichterung aufgenommen wird.572 Augustus etwa wurde nach seinem Tod kritisiert,573 whrend Nero bereits zu Lebzeiten vom Senat zum Tode verurteilt wurde.574 Zweitens und noch entscheidender fr Marc Aurel ist der Gedanke, dass auch der Ruhm sehr schnell verblasst. Die Hoffnung, Trost zu finden, weil man im Andenken der anderen berlebt, vergisst, dass auch die Erinnernden bald tot sind. In einer Vielzahl von Kapiteln macht Marc Aurel darauf aufmerksam: „Kurzlebig ist der Lobende und der Gelobte, der Erwhnende und der Erwhnte.“575 Deutlich auf den Tod bezogen ist: „Der eine hat den anderen beerdigt und war dann selbst an der Reihe, und so weiter.“576
569 Siehe dazu Wippert, O.: Alexander-Imitatio und rçmische Politik, Diss., Wrzburg 1972. 570 Siehe M. Aur. Med. 3, 3; 6, 24; 8, 3; 9, 29; 10, 27. 571 Siehe M. Aur. Med. 3, 4; 8, 53; 9, 12, 18, 27. 572 Siehe M. Aur. Med. 10, 36. 573 Tac. Ann. 1, 9 – 10. Ebenso interessant die Gegenberstellung von Suet. Calig. 60 und Cass. Dio 73, 17. 574 Suet. Nero 49. Auch die Meinungen ber Commodus nderten sich (siehe HA Com. 20). Weitere Quellenangaben zu diesem Thema finden sich bei Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 164 f. 575 M. Aur. Med. 8, 21 (fast identisch ist 4, 35). 576 M. Aur. Med. 4, 48.
3.3 Konsolatorisches
161
Der Wechsel von der Rolle als Bestatter, Trauernder und Erinnernder zu der als Bestatteter, Betrauerter und Erinnerter ist so schnell wie das Leben selbst.577 Formal interessant sind die dabei auftauchenden verbalen Echos.578 Ein Satz wiederholt oft ein Wort und drckt so den schnellen Fluss der immer gleichen Dinge aus. Der schnelle Wechsel der gegenstzlichen Zustnde Trauender – Betrauerter ist ein erster Hinweis auf die Heraklit-Rezeption von Marc Aurel, hier spielt er auf den steten Wandel aller Dinge in ihr Gegenteil an: So bezeichnet Marc Aurel den Wandel der Dinge in ihr Gegenteil als einen bestndigen und natrlichen Prozess im Kosmos:579 Bestndig ist nur die Wiederkehr von Entstehen und Vergehen, nicht der Ruhm. Daher kann er nicht unsterblich sein oder machen. Und in Folge ist das Streben nach Ruhm eine auf falsche Annahmen gegrndete Konsolatorik. Tod und Wissen. Neben den Kapiteln, die berhmte Leute und deren Tod zur Sprache bringen, gibt es einige, in denen das Sterben von Wissenden thematisch wird: „Wie viele Mnner wie Chrysipp, wie Sokrates, wie Epiktet hat die Ewigkeit schon in sich aufgesogen?“580 Die Verwendung des generischen Plurals zeigt, dass hier nicht die historischen Individuen gemeint sind, sondern die Gruppe der philosophisch Gebildeten.581 Zwar waren prototypische Philosophen den Mchtigen und Ruhmreichen berlegen, denn „das leitende Prinzip ihrer Seele war vçllig unabhngig“.582 Doch Marc Aurel zufolge hilft die Philosophie – oder allgemeiner: Wissen – nur fr das Leben oder im Leben.583 Kein Wissen kann sonach den Tod besiegen oder ndern.
577 578 579 580
Siehe M. Aur. Med. 4, 19; 4, 35; 4, 38; 4, 50; 7, 21; 8, 21; 8, 25; 9, 33. Siehe z. B. Kap. I 5. Siehe dazu ausfhrlicher Kap. I 2. pºsour Edg b aQ½m Wqus¸ppour, pºsour Syjq²teir, pºsour 9pijt¶tour jatap´pyjem. M. Aur. Med. 7, 19. 581 Der generische Plural soll Chrysipp, Sokrates und Epiktet nicht die Einzigartigkeit im Sinne der Individualitt absprechen (siehe Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 167). 582 M. Aur. Med. 8, 3. 583 Siehe nochmals: „Hippokrates heilte viele Krankheiten, wurde dann selbst krank und starb. … Heraklit stellte so bedeutende Theorien ber die Vernichtung der Welt durch Feuer auf und starb dann kotbeschmiert an Wassersucht. Demokrit tçteten die Luse …“ M. Aur. Med. 3, 3.
162
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
In diesem Zusammenhang ist auf einen Brief hinzuweisen, den Fronto seinem ehemaligen Schler nach dem Verlust eines (Enkel)-Kindes584 schreibt. In den Selbstbetrachtungen wendet sich Marc Aurel allgemein gegen einige der darin entfalteten berlegungen, z. B. Frontos Zweifel, ob alle Schicksalsfgungen vom betroffenen Menschen notwendig als gut angesehen werden mssen. Aber Frontos Einwand, dass philosophische Unsterblichkeitslehren den Tod nicht berwinden, wrde Marc Aurel nicht per se ablehnen. Marc Aurel bezweifelt – im Unterschied zu Fronto – nicht die konsolatorischen Fhigkeiten der Philosophie im Leben, aber ganz entschieden, dass die Philosophie das Problem des Todes aus der Welt schaffen kann, indem sie eine wie auch immer geartete Unsterblichkeit annimmt oder beweist.585 Rutherford fasst ganz zu Recht und konzise zusammen: „The greatest power in the hierarchy of Marcus’ thought is not Zeus, or the cosmos, or virtue, but the all-encompassing force of death.“586 Obschon auch Epiktet (wie auch Epikur587) den Tod fr kein bel hlt, beschftigt er sich damit viel seltener als Marc Aurel. Letzterer widmet sich in ber 60 Kapiteln der Todesthematik.588 Kein Lehrgesprch Epiktets erwhnt den Tod im Titel. In den Gesprchen wird der Tod kaum als Sonderthema behandelt, sondern in einer Reihe mit dem Exil589, mit Krankheit oder Armut genannt.590 Entscheidend fr die im Rahmen derselben konsolatorischen Absicht bestehenden Unterschiede ist nicht nur die Hufigkeit, mit der ein Thema auftaucht. Die wenigen ausfhrlicheren Behandlungen,591 die sich bei Epiktet finden, argumentieren anders. Auf die einzelnen unterscheidenden Momente wird im Verlaufe der Darstellungen einzugehen sein. Bevor die konsolatorischen Aspekte der Todesvorstellung von Marc Aurel weiter beschrieben werden, ist noch auf die dritte Funktion der Kapitel einzugehen, in denen die Namen von Toten aufgelistet werden.
584 Wer genau starb, geht weder aus dem Brief noch aus anderen Quellen mit letztlicher Sicherheit hervor. 585 Siehe Fronto 1, 223 – 232. 586 Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 167. 587 Siehe z. B. Epikur Kyriai Doxai 2. 588 Siehe die Liste bei Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 20. 589 Siehe Arr. Epict. diss. 3, 22, 19 – 22. 590 Siehe Arr. Epict. ench. 2. 591 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 1, 17 f.; 2, 6, 12 ff.; 3, 24, 84 – 94; 3, 26, 3 ff.; 4, 1, 103 – 10.
3.3 Konsolatorisches
163
Die Allgemeinheit des Todes. Whrend einige Kapitel nur Berhmte oder Mchtige nennen und andere nur Wissende, um je zu zeigen, dass weder Ruhm noch Wissen unsterblich machen, gibt es eine dritte Art von Kapiteln, die in denen Marc Aurel Menschen nennt, die durch ihre Lebensfhrung eine besondere Beziehung zum Tod hatten: Ununterbrochen daran denken, wie viele rzte schon gestorben sind, die oft ber ihre Kranken die Augenbrauen hochgezogen haben, wie viele Sterndeuter, die den Tod anderer Menschen als ein großes Ereignis vorausgesagt haben, wie viele Philosophen, die ber Tod und Unsterblichkeit unzhlige Reden gehalten haben, wie viele Helden, die zahlreiche Gegner erschlugen, wie viele Tyrannen, die ihre Gewalt ber Leben und Tod, als ob sie selbst unsterblich wren, mit schrecklicher berheblichkeit ausgebt haben.592
Obschon die ersten beiden Funktionen hier noch einmal zusammengefasst werden, kommt durch die gemeinsame Nennung die dritte Funktion zum tragen. So sterben Philosophen, obgleich den Tyrannen in allem berlegen, gleichermaßen. Der Tod ist allgemein. Dass er alle Menschen gleich trifft, machen weitere Kapitel deutlich.593 Besonders eindringlich ist folgendes: Der Hof des Augustus, seine Frau, seine Tochter, seine Nachkommen und Vorfahren, seine Schwester, Agrippa, seine Verwandten, seine Angehçrigen und Freunde, Arius, Mcenas, rzte, Priester, Tod eines ganzen Kaiserhofes. Dann denk an die anderen Hçfe und deren Tod, dann an den Tod ganzer Familien – doch nicht an den, der jeden einzelnen trifft…594
Damit ist lediglich ein erster Aspekt der Allgemeinheit des Todes beschrieben, nmlich, dass er alle Menschen trifft. Ferner ist der Tod fr alle Menschen der gleiche: „Alexander und sein Maultierpfleger fanden nach ihrem Tod dieselbe Situation vor.“595 Auch wenn eine Tendenz auszumachen ist, welche Vorstellung Marc Aurel ber den Tod hat, legt er sich hier – wie anderenorts – nicht fest. Alle Ungleichheiten zwischen den Menschen sind im Tod aufgehoben. Marc Aurel schildert keine individuellen Schicksale nach dem Tod. So nimmt er ebenfalls nicht an, dass die Lebensfhrung Einzelner ihren Todeszustand im Sinne einer Bestrafung in Folge eines Seelengerichtes beeinflusst, denn dazu braucht es den Glauben an das Fortbestehen der einzelnen Seele nach dem Tod. Der Gedanke hat konsolatorische Kraft, insofern niemand durch seinen Tod oder im Tod benachteiligt wird. 592 593 594 595
M. Aur. Med. 4, 48. Siehe M. Aur. Med. 3, 3; 4, 50; 6, 47; 10, 27. M. Aur. Med. 8, 31. M. Aur. Med. 6, 24.
164
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Mit seinen Totenlisten steht Marc Aurel in der konsolatorischen Tradition. Die Form der Selbstbetrachtungen aber ist freier als es etwa Seneca fordert. Ihm zufolge muss eine Trçstung zwei Bestandteile haben, nmlich praecepta und exempla, und zwar in dieser Reihenfolge.596 In diesem Zusammenhang expliziert J. Dalfen seine allgemeine These, die Selbstbetrachtungen seien nur eine Zusammenschrift, hier sei es wahrscheinlich, dass einer der Philosophen aus der Umgebung des Kaisers, im Hinblick auf die Position und die Interessen seines Schlers, sei es mndlich, sei es in einer Schrift, solche Beispielreihen fr Marcus zusammengestellt hat.597
Auch das einzige Argument in Form eines Hinweises, Seneca spreche von solchen „Hofphilosophen“, plausibilisiert die genannte These nicht. Marc Aurel war aufgrund seiner Bildung hinreichend mit den genannten Figuren vertraut, um sie selber auszuwhlen. Nun zurck zur Allgemeinheit und Gleichheit des Todes. Sie erstreckt sich auch auf das Leben, das durch den Tod seine Lnge erhlt. Marc Aurels weitere Behandlung dieses Problems kann in vier Schritten nachvollzogen werden, die die These von der Allgemeinheit des Todes weiter entfalten: (i) Das Leben ist generell kurz. (ii) Relative Unterschiede zwischen den Lebensspannen verschiedener Menschen sind unbedeutend. (iii) Die Lnge des Lebens ist vorherbestimmt. (iv) Der Tod ist kein bel. Ad (i) Das Leben ist kurz. Das Leben der Menschen whrt nur eine sehr kurze Zeitspanne.598 Marc Aurel fordert sich auf: „Stets das Menschliche betrachten als eine Erscheinung, die nur einen Tag (¢r 1v¶leqa) dauert und belanglos ist, gestern noch ein Tropfen Schleim, morgen Mumie oder Asche.“599 Eine andere lange Totenliste fasst zusammen: „Alles nur Eintagswesen, schon lange tot (p²mta 1v¶leqa, tehmgjºta p²kai). „600
596 Siehe Sen. Marc. 2, 1. 597 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 194. 598 Siehe M. Aur. Med. 4, 48; 10, 31; 11, 18. 599 M. Aur. Med. 4, 48. 600 M. Aur. Med. 8, 25.
3.3 Konsolatorisches
165
Aussagen, das Leben der Menschen sei ephemer, finden sich seit den Anfngen der griechischen Literatur und Philosophie.601 Das Wort 1v¶leqor heißt dabei (i) „tglich“ oder „fr den tglichen Bedarf“, (ii) „dem Tag unterworfen“ im Sinne von „unsicher“ oder „labil“ und (iii) „einen Tag dauernd“.602 Hufig wird nur die dritte Bedeutung bercksichtigt. Auch in der Literatur zu Marc Aurel findet sich oftmals nur ein Hinweis darauf. Dabei besteht schon in der frhen Literatur ein Zusammenhang der letzten beiden Bedeutungen: Unser Leben ist labil und unbestndig. Gemeint ist aber nicht der bestndige Wandel, den es erfhrt, sondern dass es prekr ist. Es kann sich plçtzlich radikal ndern, einen Umsturz erfahren, der ein Absturz in den Tod sein kann. Der Mensch ist nicht in erster Linie 1v¶leqor, weil sein Leben zu kurz ist, sondern es ist zu fragil als dass es vor einem plçtzlichen Tod sicher wre.603 Marc Aurel beschreibt die conditio humana als prekre Situation.604 Die Schwche des menschlichen Kçrpers und Geistes ist so ausgeprgt, dass das Schicksal genauso unberechenbar wie einschneidend wirkt.605 Die Philosophie ist die einzige Hilfe. Doch auch ihr Wissen kann keinen Tod verhindern, ndern oder vorhersagen. Die Fragilitt gegenber radikalen Einflussnahmen wird deutlich, wenn Marc Aurel die Menschen mit Blttern oder Kçrnchen vergleicht, die plçtzlich und leichthin (in den Tod) fallen kçnnen.606 Die Vorstellung, dass der Tod ein plçtzliches Ereignis ist, das mit dem Fortschreiten eines labilen Lebens sogar immer wahrscheinlicher wird, ist eng verwandt mit der Vorstellung, dass das Leben leidvoll ist. In Folge wird der Tod nicht als zu frchtendes bel beschrieben, sondern vielmehr als der gute Zustand, der beln des Lebens vorausgeht und sie wieder beendet.607 601 Z. B. Aesch. PV 547 – 49; Ar. Av. 685 – 87; Eur. Heracl. 851, 865 ff.; Hom. Od. 4, 223 und 21, 85; Pind. Isthm. 7, 40 ff.; Nem. 6, 1 – 40; Pyth. 8, 88 – 97; Thgn. 485 f., 685 f, 963 – 70. 602 So die lexigraphische Studie von Frnkel, H.: EVGLEQOS als Kennwort fr die menschliche Natur, in: ders.: Wege und Formen frhgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, 3. Aufl., Mnchen 1968, die ber die gerade genannten Stellen hinaus noch weitere Belege angibt. 603 Ferner wrde es mit fortschreitendem Alter immer wahrscheinlicher, dass der Tod eintritt. Siehe Herodot 1, 32; Eur. Or. 976 (siehe Frnkel, H.: EVGLEQOS als Kennwort fr die menschliche Natur, a.a.O., S. 27). 604 Siehe nochmals M. Aur. Med. 2, 17. 605 Siehe M. Aur. Med. 3, 1. 606 Siehe M. Aur. Med. 4, 15; 10, 34. 607 Siehe Eur. Heracl. 851.
166
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Auch dieses Argument ist Marc Aurel nicht fremd, jedoch nur selten in den Selbstbetrachtungen zu finden.608 Der Tod wird als Rckkehr zur nhrenden oder ursprnglichen Allvernunft und -natur beschrieben.609 Von dort aus wird es nur ein kleiner Schritt zur Mçglichkeit sein, den Tod als Zustand der Empfindungslosigkeit zu denken. Die Menschen als ephemer zu charakterisieren heißt darber hinaus erstens, das Leben als sehr kurz zu bestimmen, wie die Kennzeichnung „Eintagswesen“ nahe legt. Zweitens geht mit dieser Vorstellung oft die Annahme einher, dass die dem Menschen zur Verfgung stehende wenige Zeit von hçherer Warte aus vorherbestimmt ist. All dies ist Teil der Bestimmung des Todes, der alle Menschen gleichermaßen trifft. Die Krze des Lebens wird traditionell mit einem winzigen Punkt verglichen.610 Allgemein wird sie in den Selbstbetrachtungen hufig angesprochen611 und auch die Beschreibung der Lebensspanne als Winzigkeit oder Punkt findet sich.612 Die Lebensspanne steht in keiner Proportion zur unendlichen Zeit des Nicht-Lebens vor der Geburt und nach dem Tod. Auch hier knpft Marc Aurel an eine gut bekannte613 Tradition614 an: „… wie kurz die Zeit von der Entstehung bis zur Auflçsung ist, aber unendlich der Zeitraum vor der Entstehung und ebenso grenzenlos die Zeit nach der Auflçsung.“615 Konsolatorisch wirksam ist der Gedanke, weil dem Leben mit seiner vermeintlichen Grçße die Bedeutung genommen wird. Dem Lebenden erscheint sein Leben alles zu sein, was er hat, aber aus einer Perspektive heraus, die die Gesamtheit der Zeit berblickt und die sich der Mensch 608 Anklnge bietet vielleicht der folgende, schon zitierte Passus: „Wie dir alles, was sich im Amphitheater und an hnlichen Orten abspielt, zuwider ist, da man immer dasselbe sieht, und die Eintçnigkeit das Zuschauen unertrglich werden lsst, so musst du auch sonst im Leben empfinden. Denn alles ist in seinem Auf und Ab dasselbe und aus demselben. Bis wann denn?“ (M. Aur. Med. 6, 46). 609 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 14. 610 Siehe z. B. Sen. Ep. 49, 3 und 77, 12. 611 Siehe exemplarisch M. Aur. Med. 4, 48; 8, 25; 10, 31; 11, 18. 612 Siehe M. Aur. Med. 2, 17; 6, 36. 613 Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 167 ff. und Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O. (Dort finden sich auch mehr als die hier genannten Stellen.). 614 Siehe Sen. Ep. 99, 10 und 31; Cic. Tusc. 1, 94. 615 M. Aur. Med. 9, 32.
3.3 Konsolatorisches
167
aneignen kann, wird das Leben zu einem verschwindend kleinen Punkt reduziert und so entwertet. Dies fhrt zum nchsten Punkt. Denn der Vergleich zwischen Ewigkeit und Lebenszeit wird ferner verwandt, um die tatschlich bestehenden Unterschiede zwischen den Lebensspannen verschiedener Menschen zu nivellieren. Ad (ii) Die Irrelevanz der Lebensdauer. Der Tod eines jungen Menschen wird – durch den Vergleich mit einer lngeren Lebensspanne – als besonders schmerzlich empfunden. Daher berrascht es nicht, dass diesem Problem auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Entsprechend verwendet Marc Aurel hier verschiedene Argumente. Das erste Argument verwendet den synoptischen Blick auf die Gesamtheit der Zeit: Der Klage, ein Leben sei zu kurz, kann so entgegengehalten werden, dass es nur im Vergleich zu einem anderen Menschenleben als kurz gelten kann. Nimmt man die Ewigkeit als Vergleichsmaß, werden nicht nur beide Leben zu einem winzigem Punkt, sondern auch ihr relativer Unterschied wird unbedeutend: Jung und alt Gestorbene sind gleich lange tot: Blick doch zurck in die Unendlichkeit der verflossenen Zeit und nach vorne in die Grenzenlosigkeit der Zukunft. Wie unterscheidet sich darin das Leben eines nur drei Tage alt gewordenen Kindes vom Leben eines ,dreifachen‘ Nestors?616
Das zweite Argument zielt ebenfalls auf die Reduktion und Entwertung der Lebenspanne zu Winzigkeit ab. Die Vorstellung, der Tod beende einen sich ber Jahre erstreckenden Zeitraum oder verhindere die Ausdehnung des Lebenszeitraums in die Zukunft, wird dabei als falsch abgetan. Dazu dient der Hinweis, dass wir nicht eine Lebensspanne leben, sondern immer nur in einer punktgroßen Gegenwart: Auch wenn du dreitausend Jahre und zehnmal so lange leben solltest, denk doch daran, dass niemand ein anderes Leben verlieren kann als das, was er lebt, und auch kein anderes lebt als das, welches er verliert. Die lngste Zeit hat also dieselbe Grenze wie die krzeste. Denn das Gegenwrtige ist fr alle gleich, und was vorbergeht, ist demnach ebenso gleich, und was verloren geht, ist offensichtlich so winzig und unbedeutend. Denn niemand kann die Vergangenheit oder die Zukunft verlieren … Denn nur das Gegenwrtige wird einem weggenommen…617 616 M. Aur. Med. 4, 50. Siehe auch Sen. Ep. 77, 20. 617 M. Aur. Med. 2, 14.
168
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Das dritte Argument will zeigen, dass die konsequente Anwendung der Gterlehre618 dazu fhrt, Unterschiede zwischen den Lebensaltern fr irrelevant zu erklren.619 Denn das Leben als solches gehçrt schon zu den wertlosen Dingen, so dass auch ein noch so großer Unterschied in der Lebenszeit unbedeutend sein muss. Neben direkten Vorlufern620 ist hier nicht nur die stoische Auffassung von den Adiaphora grundlegend, sondern bereits das sokratisch-platonische Diktum, „dass man nmlich nicht das Leben am hçchsten achten muss, sondern das gute Leben“.621 Das vierte Argument dient dem Nachweis, dass ein langes Leben keinerlei Vorzge gewhrt, weil im Leben immer alles gleich ist und sich wiederholt: Wer die jetzige Welt gesehen hat, hat alles gesehen, was seit Urzeiten geschah und was in der unendlichen Zukunft sein wird. Denn alles ist miteinander verwandt und gleichartig.“622
Daraus folgt: dass diejenigen, die nach uns kommen, nicht Neues erblicken werden und diejenigen, die vor uns waren, nichts Außerordentliches erblickt haben, sondern dass der Vierzigjhrige, wenn er nur ein bisschen Verstand hat, gewissermaßen schon alles, was gewesen ist und was sein wird, aufgrund seiner Gleichartigkeit, gesehen hat.623
Begrndet ist diese Vorstellung im Glauben, auch das menschliche Leben wiederhole sich mit den kosmischen Zyklen. Dabei geht es offensichtlich, wie im erwhnten Kapitel,624 nicht nur um die Bekmpfung von Todesfurcht: „Ich habe genug von dem elenden Leben, dem Widerwillen und dem affenartigen Gebaren. Warum regst du dich auf ? Was ist denn neu daran?“625 Vor diesem Hintergrund erscheint nach der konsolatorischen Tradition der Tod nicht als bel, sondern als Befreiung vom Elend des Lebens.626 618 Siehe Kap. II 5.2. 619 Zu einer kompakten Metapher verdichtet ist M. Aur. Med. 4, 15: „Viele Weihrauchkçrner liegen auf demselben Altar. Das eine fiel frher, das andere spter dorthin. Das macht doch keinen Unterschied.“ 620 Siehe Sen. Ep. 93, 7 und etwas modifiziert Cic. Tusc. 1, 87. 621 Pl. Cri. 48b. 622 M. Aur. Med. 6, 37 (siehe auch 6, 46; 11, 1; 7, 49). 623 M. Aur. Med. 11, 1 (siehe auch 10, 27; 12, 24; dazu bereits Sen. Ep. 93, 9). 624 Siehe M. Aur. Med. 6, 46 (siehe auch 4, 23 und bereits Sen. Ep. 24, 26 und 77, 6). 625 M. Aur. Med. 9, 37. 626 Siehe Cic. Tusc. 1, 83; Sen. Marc. 19, 5; Ep. 99, 12.
3.3 Konsolatorisches
169
Entsprechendes findet sich auch in den Selbstbetrachtungen. 627 Der Tod erlçst: Jetzt aber siehst du, wie sehr du dich im Missklang des Zusammenlebens zermrbst. Deshalb sage dir: ’Komm schneller, Tod, damit ich mich nicht auch noch selbst vergesse.‘628
Ad (iii) Der Tod ist vorherbestimmt. Zur Allgemeinheit und Gleichheit des Todes gehçrt es schließlich, dass der Todeszeitpunkt und damit die Lnge des Lebens fr jeden Menschen erstens festgelegt ist: Denn das Ende bestimmt jener, der damals fr die Verbindung (deiner Bestandteile) und jetzt fr die Auflçsung verantwortlich ist. Du aber bist fr beides nicht verantwortlich.629
Ferner kommt der Tod immer zu einem richtigen Zeitpunkt: Wenn nur das ein Gut ist, was zu seiner Zeit geschieht, und wenn es gleich ist, ob es mehr oder weniger viele Taten sind, die man auf vernnftige Weise erbracht hat, und wenn es keinen Unterschied bedeutet, den Kosmos fr lngere oder krzere Zeit zu betrachten, dann ist auch der Tod nicht furchtbar.630
Die Vorstellung ein Leben sei durch den (frhen) Tod unvollendet, ist unbegrndet: Eine beliebige Ttigkeit, die zur rechten Zeit aufhçrt, nimmt keinen Schaden, insofern sie aufgehçrt hat. Und ebenso wenig hat derjenige, der diese Handlung vollzog, dadurch, dass sie beendet wurde, irgendwie Schaden genommen. Ebenso wird auch der aus allen Ttigkeiten bestehenden Einheit, dem Leben, wenn es zur rechten Zeit aufhçrt, nichts Schlimmes zuteil – nur dadurch, dass es zu Ende ist.631
Zur Verdeutlichung dieses Gedankens verwendet Marc Aurel gerne den Vergleich des Lebens mit einem (Bhnen)-Spiel.632 Es geht ihm darum zu
627 628 629 630 631 632
Siehe M. Aur. Med. 10, 4 (siehe auch 3, 3; 6, 28; 9, 3 und 10, 36). M. Aur. Med. 9, 3. M. Aur. Med. 12, 36. M. Aur. Med. 12, 35. M. Aur. Med. 12, 23. Siehe dazu Bushnell, C. C.: Comparisons and Illustrations in the t± pq¹r 2autºm of Marcus Aurelius Antoninus, in: Transactions of the American Philological Association 36 (1905), S. xxix-xxx und ders.: A Classification according to the Subjectmatter of the Comparisons and Illustrations in the Meditations of Marcus Aurelius, in: Transactions of the American Philological Association 39 (1908), S. xix-xxi. Bushnells Sammlung ist ußerst wertvoll, aber in jedem Fall zu berprfen, so gibt
170
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
zeigen, dass sich das Leben in jedem Moment vollendet und somit – anders als ein Stck – nicht unbedingt 5 Akte dafr braucht.633 Deutlich wird hier, dass Marc Aurel bemht ist, das Grundanliegen der Konsolatorik, den Tod nicht mehr als bel erscheinen zu lassen, zu erreichen, indem er den Tod nicht als Phnomen sui generis begreift. Vielmehr ist er ein Element einer Klasse von Dingen oder Prozessen, die belanglos oder sogar gut sind.634 Mit der Singularitt soll dem Tod sein Schrecken genommen werden.635 Dieses Verfahren findet nicht nur bei dem vermeintlichen bel des Todes Anwendung, sondern bei dem gesamten weiten Spektrum der Affektzustnde, die durch die Angst vor einem erwarteten bel oder der Trauer beim Verlust eines vermeintlichen Guten ausgelçst werden kçnnen: Verlust ist nichts anderes als Vernderung. Daran hat die Natur des Weltganzen ihre Freude, in deren Sinne alles geschieht. Seit Ewigkeit geschah es in gleicher Weise, und es wird ebenso fr alle Ewigkeit in immer wieder anderer Form so sein. Warum behauptest du also, dass alles auf schlimme Weise geschah und immer in einem schlimmen Zustand bleiben wird …?636
Dass das Leben als solches und jedes damit verbundene Geschehnis inklusive seines Anfanges und besonders dessen Ende nach Marc Aurel nur vermeintlich ein Gut oder bel ist, verdeutlichen zwei Vergleiche: Die Natur eines jeden Dinges ist nicht weniger auf sein Ende als auf seinen Anfang und seinen Weg ausgerichtet, wie der Mensch, der einen Ball in die Hçhe wirft. Was hat ein Ball davon, wenn er in die Hçhe geworfen wird, oder was passiert ihm Schlimmes, wenn er wieder herunterkommt und auf die Erde fllt? Was hat die Wasserblase davon, wenn sie entsteht, oder was passiert ihr
633 634 635
636
er als weiteres Kapitel 7, 3 an, das aber keinen solchen vollumfnglichen Vergleich enthlt. Siehe M. Aur. Med. 3, 8; 7, 3; 11, 6; 12, 36. Vergleiche M. Aur. Med. 12, 23 mit 4, 23 und 11, 13. Siehe auch hier: „Das Aufhçren einer Ttigkeit, eines Wunsches, das Ende und der Tod sozusagen einer Vorstellung, das ist nichts Schlimmes. Wende dich jetzt deinem Lebenslauf zu: deiner Kindheit, der Zeit, als du ein Junge warst, deiner Jugend, dem hçheren Alter. Denn auch jede Vernderung auf diesen Altersstufen ist ein Tod. Ist das etwa furchtbar? Geh nun ber zu deinem Leben unter deinem Großvater, unter deiner Mutter und unter deinem Vater. Aber auch wenn du viele andere Verluste, Vernderungen und Formen des Aufhçrens findest, so frag dich doch: ‘War das etwa schlimm?‘ So ist dann auch das Aufhçren, das Ende und die Verwandlung deines ganzen Lebens nichts Schreckliches.“ (M. Aur. Med. 9, 21). M. Aur. Med. 9, 35 (siehe auch 7, 18).
3.3 Konsolatorisches
171
Schlimmes, wenn sie sich wieder auflçst? Entsprechendes gilt auch fr ein Licht.637
Ad (iv) Der Tod ist kein bel. Bei der Darstellung von Marc Aurels Todesvorstellung(en) wird diese Strategie der Konsolation durch Verallgemeinerung bzw. Subsumption eine wichtige Rolle spielen. Die Ausfhrlichkeit, mit der Marc Aurel darber schreibt, was der Tod ist, wie er sich vollzieht und was er bewirkt, unterscheidet ihn von Epiktet. Dieser hat dafr kaum Interesse, weil es ihm um das Leben bzw. die dort ansssige Todesfurcht geht: Sollte mich der Tod ber solcher Beschftigung betreten, so bin ich zufrieden, wenn ich meine Hnde zu Gott aufheben kann und sagen kann: ,Ich habe die Krfte und Gelegenheiten, die du mir gegeben hast, deine Regierung zu erkennen und ihr gehorsam zu sein, nicht verabsumt. … Ich bin zufrieden. Empfange es nun wieder und stelle es dahin, wo es dir beliebt. Denn es war alles dein; du hast es mir gegeben.‘ Ist es dir nicht genug, in solcher Gesinnung abzuscheiden?638
Epiktet betont, dass der Tod uns im Leben nichts angehe, weil er nichts Schreckliches sei. Wir sollten im Leben und im Sterben Gott folgen und da alles, was von ihm kommt, gut ist, braucht nicht weiter untersucht zu werden, was der Tod genau ist.639 Wie bestimmt Marc Aurel den Tod? Einer Konsolationsschrift geht es jedoch nicht vorrangig um eine sichere Begriffsbestimmung, sondern um die Therapie von Trauer oder Todesfurcht durch den Hinweis, dass der Tod kein bel ist. Festzuhalten ist daher, dass Marc Aurel sich nicht fr eine einzige Auffassung, was der Tod sei, entscheidet, sondern verschiedene Alternativen erwgt. Trotz deutlicher Tendenzen oder Sympathien legt er sich nicht fest. Dennoch werden die von ihm erwogenen Alternativen durch eine grundstzliche und ebenfalls traditionelle Bestimmung geeint, nmlich die Auffassung, der Tod sei etwas Natrliches und als solches kein bel.640 Die Hilfe der Philosophie bestehe darin, dass der gçttliche Geist in uns
637 638 639 640
M. Aur. Med. 8, 20. Arr. Epict. diss. 4, 10, 14. Siehe Arr. Epict. ench. 5 und Arr. Epict. diss. 2, 5, 9. Siehe z. B. Cic. Tusc. 1, 100 und Sen. Ep. 77, 19 und 102, 23. Weitere Referenzen wieder bei Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 175 ff. und Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, a.a.O.
172
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
den Tod mit heiterer Gelassenheit erwarte, als ob er nichts anderes sei als die Trennung der Grundbestandteile, aus denen jedes Lebewesen besteht. … Das ist doch natrlich. Nichts aber ist schlecht, was natrlich ist.641
Fr das Leben sind mindestens zwei Vorgnge natrlich und notwendig: Geburt und Tod.642 Besonders der Tod ist etwas durch die Natur bestimmtes und insofern es rechtzeitig kommt, sogar etwas Gutes, weil Ntzliches: Den rechten Zeitpunkt und die Grenze setzt die Natur, bisweilen auch die individuelle Natur, wenn es um das Ende im Alter geht, grundstzlich aber die Natur des Weltganzen … Demnach ist das Aufhçren des Lebens fr niemanden etwas Schlimmes, weil es nichts Hssliches oder Schndliches ist … Es ist vielmehr etwas Gutes, wenn es zu rechten Zeit kommt, fr das Ganze geschieht, ihm ntzlich ist und in bereinstimmung mit ihm erfolgt.643
Auch hier wird der Tod positiv gewertet. Doch die Begrndung ist eine andere. Zu dem erwhnten Argument, dass der Tod den Einzelnen vom bel des Lebens befreit, tritt hier die Vorstellung, dass der Tod des Einzelnen dem Ganzen diene. Beide Begrndungen fr die Gutheit des Todes fallen zusammen, wenn angenommen wird, der Sinn der Existenz des Einzelnen bestehe darin, dem Ganzen zu dienen, um so selber gut zu leben. Fr den Tod gilt insgesamt: Er „steht nicht im Widerspruch zur Bestimmung eines mit Denkvermçgen begabten Lebewesens und widerspricht auch nicht der Sinnhaftigkeit seiner physischen Existenz.“644 Die Natrlichkeit des Todes wird durch die Metaphorik unterstrichen.645 Marc Aurel verwendet gerne Vergleiche mit elementarer Natur, der Pflanzen- oder Tierwelt.646 Auch fr den Tod whlt er entsprechende Ausdrcke und Analogien647, von denen ein Homerzitat besonders berhmt ist: „,Bltter, die der Wind auf der Erde verstreut, so ist das Menschengeschlecht.‘“648 641 642 643 644 645 646
M. Aur. Med. 2, 17. Siehe M. Aur. Med. 4, 5; 6, 2; 8, 20; 9, 3. M. Aur. Med. 12, 23. M. Aur. Med. 4, 5. Zur Metaphorik insgesamt siehe Kap. I 5. Siehe dazu Bushnell, C. C.: Comparisons and Illustrations in the t± pq¹r 2autºm of Marcus Aurelius Antoninus, a.a.O. und ders.: A Classification according to the Subject-matter of the Comparisons and Illustrations in the Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O. 647 Siehe M. Aur. Med. 4, 36, 44 und 48; 8, 20. 648 M. Aur. Med. 10, 34. Siehe Hom. Il. 6, 146 – 9: „Gleich wie Bltter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen; / Siehe, die einen verweht der Wind, und
3.3 Konsolatorisches
173
Seit Platons Apologie 649 verwendet die konsolatorische Literatur zur Bekmpfung der Trauer oder Todesfurcht das Verfahren, den Tod entweder als Zustand der Empfindungslosigkeit oder als Transformation bzw. Reise zu einem anderen Daseins-Modus bzw. Ort zu verstehen. In beiden Fllen ist der Tod kein bel.650 Diese Alternative beherrschte die Konsolationsliteratur. Auf den ersten Blick argumentiert Marc Aurel im Rahmen dieser traditionellen Figur: Wer den Tod frchtet, frchtet entweder die Empfindungslosigkeit oder eine andere Empfindung. Aber wenn es keine Empfindung mehr gibt, dann kann man auch nichts Schlimmes empfinden. Wenn man aber eine andersartige Empfindung bekommen wird, dann wird man auch ein andersartiges Lebewesen sein und nicht aufhçren zu leben.651
Die weitere Ausgestaltung bzw. inhaltliche Bestimmung, die Marc Aurel wiederholt und so ausfhrlich wie kaum ein anderes Thema anspricht, ist jedoch eine originelle Erweiterung.652 Die platonische Bestimmung des Todes als Lçsung oder Trennung der Seele vom Kçrper greift Marc Aurel auf: Was fr ein Gebilde ist die Seele, die bereit ist, sich vom Kçrper loszulçsen und entweder zu verlçschen oder sich zu zerstreuen oder weiter zu existieren, wenn es sein muss.653
Das Fortbestehen der individuellen Seele thematisiert folgender Eintrag, der auch die fr das Weitere wichtigen Aspekte nennt:
649 650 651 652
653
andere wieder / Treibt das knospende Holz hervor zur Stunde des Frhlings: / So der Menschen Geschlecht, dies wchst, und jenes verschwindet.“ Siehe Pl. Ap. 40c. Siehe z. B. Cic. Tusc. 1, 25 und 97; Sen. Ep. 24, 18; 65, 24 usw. M. Aur. Med. 8, 58 (siehe M. Aur. Med. 3, 3 mit der Verwendung der ReiseMetapher fr das Weiter-Bestehen oder das andere Empfinden). Nicht von „Reise“, sondern von „Weggehen“ sprechen Sen. Ep. 99, 12 und Cic. Tusc. 1, 118. Das besttigt J. Dalfen, der die Selbstbetrachtungen sonst generell fr eine Paraphrase von empfangenen Lehren hlt, indem er schreibt (Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 178): „Dies war die in der Konsolationsliteratur gebruchliche Alternative, mit deren Hilfe die Furcht vor dem Tode beseitigt werden sollte. Aber Marcus gab sich mit dieser Alternative nicht zufrieden, er wollte auch auf anderem Wege Gewissheit und Ruhe gewinnen.“ M. Aur. Med. 11, 3. Marc Aurel verwendet gerne eine platonisierende Sprache, wenn er ber die Seele spricht (siehe Kap. II 2.1).
174
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Wenn die Seelen weiterbestehen – wie finden sie seit Ewigkeiten Platz in der Luft? Wie kçnnen die Kçrper der Menschen, die seit ewigen Zeiten begraben werden, Platz in der Erde finden? Wie nmlich hier ihre Umwandlung und Auflçsung nach einer bestimmten Zeit anderen Leichen Platz schafft, so bleiben auch die in die Luft bergehenden Seelen nur einige Zeit dort. Dann verwandeln sie sich, gehen in Feuer auf, werden wieder in die zeugende Vernunft des Kosmos aufgenommen und schaffen auf diese Weise Platz fr die neu hinzukommenden Seelen. So kçnnte man antworten, wenn man an die Fortexistenz der Seelen glaubt.654
Der Eintrag ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er thematisiert vorrangig die Mçglichkeit des Fortbestehens (dialom¶) der Seele. Dabei werden die anderen Alternativen, Umwandlung (letabok¶) und Auflçsung (di²kusir) ebenfalls erwhnt, und zwar nicht nur am Rande. Dies geschieht anhand der Frage, wo und wie genug Platz fr das Fortbestehen der vielen Seelen der Toten ist. Die Sicherheit der Annahme einer Fortexistenz der Seelen ist zweifach abgeschwcht, und zwar durch die einleitende konditionale Klausel (eQ) und vor allem durch den letzten Satz des Zitats. Was die Inhalte angeht, wird deutlich, dass mit der Fortexistenz der Seele erstens kein ewiges Weiterleben der individuellen Seele gemeint ist, sondern zunchst nur der Umstand, dass sie nicht direkt mit dem Tod aufhçrt zu existieren. Nicht nur der Unterschied zu christlichen Vorstellungen ist also betrchtlich. In einigen platonischen Dialogen (z. B. Gorgias oder Politeia) schildern Mythen, wie die Seele eines Menschen nach dem Tod als diese individuelle Seele einer Gerichtsbarkeit unterworfen ist oder sie entsprechend ihrer vorherigen Lebensfhrung bestimmte Wahlmçglichkeiten erhlt. Auch diese Vorstellungen setzen das Fortbestehen einer Seele mit individuellen Eigenschaften und einer eigenen Geschichte voraus. Bei Marc Aurel hingegen findet sich nichts dergleichen. Die Fortexistenz ist ferner keine eigenstndige Alternative, im dem Sinne, dass sie den Wandel ausschließt. Im Gegenteil, das Fortbestehen vollzieht sich fr Marc Aurel in einem Wandel. Wenn die Fortexistenz der Seele auf eine Umwandlung derselben hinausluft, bleiben von den ursprnglichen drei Alternativen655 nur zwei brig. Besttigt wird dies durch den Umstand, dass die Fortexistenz der Seele in den Selbstbetrachtungen als eigenstndige Mçglichkeit ansonsten nicht weiter thematisiert oder gar vertreten wird, whrend die nun vorzustellende konsolatorische Relevanz der kosmologischen Prinzipien Auflçsung und Verwandlung einen breiten Raum einnimmt. 654 M. Aur. Med. 4, 21. 655 Siehe M. Aur. Med. 11, 3.
3.3 Konsolatorisches
175
Dass es sich um allgemeine Prinzipien handelt, wird durch die Fortfhrung des Zitats deutlich: Man muss aber nicht nur an die Menge der so begrabenen Kçrper denken, sondern auch an die jeden Tag von uns und den anderen Lebewesen verzehrten Tiere. Denn wie viele werden verzehrt und auf diese Weise gleichsam begraben in den Kçrpern derer, die sich von ihnen ernhren. Und trotzdem finden sie alle Platz, weil sie in Blut umgesetzt werden und sich in luftartige oder feurige Substanz verwandeln.656
Obschon Marc Aurel mit der Metapher des „Begrabens“ fr das Verzehren die Verbindung zur Frage nach der Existenz der menschlichen Seele nach der Bestattung findet, weitet er das Prinzip des Wandels hier nicht nur auf Tiere und Kçrper aus. Er beschreibt allgemeine biologische Prozesse. Die alternativen Todesbestimmungen werden von Marc Aurel insgesamt vor dem Hintergrund einer anderen kosmologischen Alternative verstanden.657 Zur Therapie von unangemessenen Emotionen wird auf kosmische Prinzipien verwiesen. Die Alternative taucht hufig auf.658 Die Vorsehung ist fr Marc Aurel Gott, die den Kosmos leitende Vernunft,659 oder aber er bezeichnet sie einfach als Natur660 und Ordnung.661 Die „Atome“ stehen fr Unordnung, Zufall,662 ein „zufllig zustande gekommenes, aber ungeordnetes Gemisch“.663 Marc Aurel favorisiert die (stoische) Vorstellung, der Kosmos sei durch das Walten einer Allvernunft etwas Geordnetes, hierfr gibt es ihm zufolge einfach mehr Anzeichen.664 Die Alternative, den Tod als Auflçsung oder Wandel zu denken, wird durch diese kosmische Alternative bestimmt. Die erste Alternative kann als konsolatorische Spezifikation der zweiten verstanden werden. Denn der Variante zufolge, die mit dem Kosmos argumentiert, ist entweder alles durch Vorsehung bzw. Vernunft bestimmte Ordnung oder ein durch Zufall 656 M. Aur. Med. 4, 21. 657 „Aber rgerst du dich auch ber das, was dir aus dem Weltganzen zugeteilt wurde? Besinne dich wieder auf die Alternative ‘entweder Vorsehung oder Atome (Etoi pqºmoia C %toloi)‘ und denk daran, an wie vielen Zeichen erkennbar wurde, dass der Kosmos einem geordneten Gemeinwesen gleicht.“ M. Aur. Med. 4, 3. Zu dieser Alternative siehe Kap. II 2.7. 658 Siehe M. Aur. Med. 4, 27; 6, 10; 9, 39. 659 Siehe M. Aur. Med. 6, 24. 660 Siehe M. Aur. Med. 11, 18. 661 Siehe M. Aur. Med. 4, 27. 662 Siehe M. Aur. Med. 11, 28. 663 M. Aur. Med. 4, 27. 664 Siehe dazu genauer Kap. II 2.7.
176
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
bestimmtes atomares Gemisch zu denken. Das gilt dann notwendigerweise auch fr den Tod.665 Wenn der Tod eine Auflçsung in Atome ist,666 dann ist er kein bel. Denn fr kein Ding sind seine Zusammensetzung oder Auflçsung und alle Stadien dazwischen gut oder schlecht. Marc Aurel vergleicht das Leben mit natrlichen Vorgngen, etwa dem Auf- und Abstieg eines Balles, der Entstehung und Zerstçrung einer Wasserblase oder einer Kiste.667 Fr diese konsolatorische Wirkung greift Marc Aurel auf die Atomlehre in der Tradition Demokrits bzw. Epikurs zurck – etwas, was wir bei Epiktet nicht finden, wohl aber in hnlicher, wenn auch weniger ausgeprgter Form bei Seneca. Gerade der Unterschied zu Epiktet ist bemerkenswert. Nur einmal erwhnt Epiktet den Tod kurz als Transformation zurck zu den Elementen.668 Doch er beschreibt ihn nirgendwo als ein grundlegendes kosmologisches Prinzip. Anders als Marc Aurel interessiert er sich auch nicht fr die genauen Mechanismen des Wandels oder der Auflçsung. Die naturwissenschaftlichen Formulierungen fehlen bei ihm weitgehend. Auch der Tonfall, mit dem er die Todesproblematik angeht, ist ein anderer: „Was ist der Tod? Ein Schreckbild.“669 Marc Aurel behandelt den Tod, wie gesehen, nicht nur als Schreckbild, das man einfach nicht beachten solle. Der Unterschied zwischen beiden Autoren wird durch einen mçglichen direkten Vergleich deutlich. Das gerade zitierte Kapitel670 hat einen direkten Vorlufer bei Epiktet. Fr Marc Aurel ist die Frage, wo nach dem Tode, also der Trennung vom Kçrper, die Seelen Raum finden, ein ernstes Problem, das er zum Anlass nimmt, die These vom Wandel zu explizieren. Fr Epiktet hingegen ist diese Frage nur ein ironischer Einwurf: Allein die Feierlichkeit ist nun zu Ende. Geh jetzt deines Weges, scheide mit Dank und guter Art! Mache anderen Platz! Es mssen auch andere in die Welt kommen, wie du hinein gekommen bist, und mssen, wenn sie Platz und Wohnungen und Nahrung haben. Wenn die ersteren nicht abtreten, was ist die 665 „Alexander und sein Maultierpfleger finden nach ihrem Tod dieselbe Situation vor, denn entweder sind sie in derselben zeugenden Vernunft des Kosmos aufgegangen oder sie wurden gleichermaßen in die kleinsten unteilbaren Teilchen aufgelçst.“ M. Aur. Med. 6, 24. 666 Siehe M. Aur. Med. 2, 17; 9, 3; 10, 36; 12, 24 und 36. 667 Siehe M. Aur. Med. 8, 20; 7, 23. hnlich bereits Seneca (Ep. 30, 2), der von der Auflçsung anderer Artefakte spricht. 668 Siehe Arr. Epict. diss. 4, 7, 15. 669 Arr. Epict. diss. 2, 1, 17 – 19. 670 Siehe M. Aur. Med. 4, 21.
3.3 Konsolatorisches
177
Folge? Warum bist du unersttlich? Warum hast du nie genug? Warum machst du die Welt enge?671
Marc Aurel diskutiert anhand der Raumfrage, wie es berhaupt mçglich ist, dass die Toten und deren Seelen, die die Stoiker ja auch als kçrperlich denken,672 Platz finden. Er sucht, wie oben gezeigt, eine ernste Erklrung, die er kosmologisch-naturwissenschaftlich gibt. Fr Epiktet ist die Raumfrage indes Teil einer adhortativen Rede. Dabei berhrt er die Frage nach dem Fortbestehen der Seele nach der Trennung vom Kçrper gar nicht. Whrend einige Stoiker glaubten, alle Seelen berstnden die Trennung bis zum Ende eines kosmischen Zyklus,673 vertrat Chrysipp die Auffassung, dies sei nur den Seelen der Weisen mçglich.674 hnlich wie Panaitios675 enthlt sich Epiktet eines Urteils. Anders Marc Aurel. Sicher glaubte er nicht, dass die Seele bis an das Ende eines kosmischen Zyklus weiter besteht.676 Die Seele besteht nur kurz. Diese Position wird von Cicero kritisiert.677 Sie gebe dem Menschen das belste aus beiden Welten.678 Dass Marc Aurel die Todesproblematik auf alternativem Weg bekmpft und dabei grundlegend unterschiedliche kosmologische Modelle erwgt, unterscheidet ihn von Epiktet. Bei Epiktet findet sich nahezu ausschließlich die Singular-Form „Gott.“ Die Existenz und Gutheit Gottes ist fr ihn keine Diskussion wert.679 Eine entsprechende Annahme ist unhinterfragte Voraussetzung fr die stoische Affekttherapie. Das atomistische Modell wird bei ihm ebenfalls nicht in Erwgung gezogen. Es gibt sichere Anzeichen dafr, dass Marc Aurel die Vorstellung, der Tod habe etwas mit der Vorsehung und einem Wandel der Seele hin zu einer Wiederaufnahme in die urschliche Vernunft zu tun, fr die wahrscheinlichere Gegebenheit hlt. Denn er fhrt auch die Auflçsung der elementaren Verbindungen auf „Zeichen“ zurck, die aus einer Sphre jenseits der Atome stammen, nmlich dem Weltganzen.680 671 672 673 674 675 676 677 678
Arr. Epict. diss. 4, 1, 106. Siehe SVF 2, 809 ff. So Kleanthes nach Diog. Laert. 7, 157. Siehe SVF 2, 809 ff. Siehe Cic. Tusc. 1, 79. Siehe M. Aur. Med. 4, 21; 5, 23. Siehe Cic. Tusc. 1, 78. Zu diesen Zusammenhngen siehe die Ausfhrungen bei Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 244 ff., hier besonders: S. 246. 679 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 14, 11. 680 Siehe M. Aur. Med. 11, 20.
178
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Die Vorstellung, dass der Tod Wandlung sei,681 fhrt ebenfalls zum Schluss, dass er kein bel ist, das man beklagen oder frchten darf. Auch in einem weiteren konsolatorischen Sinne ist dies von Bedeutung, denn jede Art von Verlust ist Verwandlung682 und als solche kein bel.683 Im Gegenteil, denn Wandlung ist fr das Gesamte des Kosmos notwendig und daher auch gut.684 Fr den Nachweis, dass der Tod kein bel ist, braucht Marc Aurel sich nicht auf eine Alternative festzulegen. In beiden Fllen ist der Tod nur eine Manifestation eines allgemeinen kosmischen Geschehens, das weder als Ganzes noch in irgendeinem speziellen Fall ein bel ist. Die Verwendung des Begriffes letabok¶ zu konsolatorischen Zwecken ist bei Marc Aurel bemerkenswert. Bei ihm verbirgt sich hinter der Auffassung des Todes als Wandel mehr als nur der Gedanke bei Seneca, der Tod sei eine Vernderung, weil mit jedem Tag das Leben krzer werde.685 Diese Vorstellung kennt Marc Aurel zwar auch,686 aber den Gedanken des Wandels (letabok¶) bernimmt er vollumfnglich von Heraklit:687 Immer an die Worte des Heraklit denken: Es ist der Tod der Erde, Wasser zu werden, und der Tod des Wassers, Luft zu werden, und der Tod der Luft, Feuer zu werden und umgekehrt.688
Auf den Begriff des Wandels sttzen sich bereits Argumente in der vorherigen konsolatorischen Tradition,689 doch im Sinne Heraklits verwendet ihn Marc Aurel besonders ausgiebig.690 Denn der stndige Wandel, den Marc Aurel annimmt,691 ist nicht der fortschreitende Wandel von der Geburt zum Tod, sondern eine bestndige Instabilitt der Dinge. Jegliche Vernderung ist Tod und zugleich Same fr etwas Neues692 oder Ver681 682 683 684 685 686 687 688 689 690 691 692
Siehe M. Aur. Med. 4, 46; 7, 23; 4, 36; 8, 16; 9, 19. Siehe M. Aur. Med. 9, 35. Siehe M. Aur. Med. 4, 42; 9, 28; 11, 17. Siehe M. Aur. Med. 2, 3. Siehe Sen. Ep. 49, 3; 24, 20. Siehe M. Aur. Med. 3, 1; 9, 3 und 21. Hier sei nur kurz auf einige Kapitel verwiesen, in denen diese Rezeption unmittelbar deutlich wird: 4, 36 und 46; 6, 15; 7, 19; 9, 3 und 29; 12, 21. M. Aur. Med. 4, 46. Siehe etwa Cic. Tusc. 1, 27 und 117. Zu diesen Zusammenhngen siehe mit diesen und weiteren Belegen Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 184 f. Siehe M. Aur. Med. 7, 23. Siehe M. Aur. Med. 4, 36.
3.3 Konsolatorisches
179
wandlung zu etwas anderem.693 Dieser Wandel ist nicht nur aus der „naturwissenschaftlichen Welterklrung“ entlehnt,694 sondern wie schon bei Heraklit selbst ein kosmologisch-metaphysisches Prinzip, das aufs Engste mit der Vernunft (dem Logos) verknpft ist.695 Zudem verwendet Marc Aurel letabok¶ ber die Erklrung der Vernderung einzelner natrlicher Objekte hinaus, erstens um das Sein des Weltganzen darzustellen,696 und zweitens, um den bergang der Seele nach dem Tod, die Rckkehr zur urschlichen Vernunft, zu beschreiben.697 Ob Marc Aurels Heraklit-Rezeption nur konsolatorisch motiviert ist, wie J. Dalfen meint, bleibt fraglich. Denn seine zum Teil stark herakliteisch geprgte Auffassung von Natur und Kosmos ist ebenfalls fr andere Bereiche seiner Philosophie entscheidend. Dies gilt gleichermaßen fr die Ethik, inklusive der politischen Vorstellungen, wie fr seine Lehre vom Verzicht auf Begehren und Klage. Ebenso erscheint es wahrscheinlich, dass Marc Aurel nicht von der Beobachtung der diesseitigen Verhltnisse im Kosmos auf den Zustand nach dem Tode schließt oder dies nur in konsolatorischer Absicht tut. Vielmehr verwendet er allgemeine – natrlich zu einem großen Teil stoische – Vorstellungen ber den Aufbau des Kosmos und die grundlegenden natrlichen Prozesse, die er dann auch fr die Affekttherapie einsetzt. Diese Heraklit-Rezeption ist ein weiteres Merkmal, das Marc Aurel von Epiktet unterscheidet. Letzterer erwhnt Heraklit nur ein einziges Mal, wenn auch lobend,698 aber die Lehre vom Wandel und Fluss der Dinge wird von ihm weder adaptiert noch eingehend diskutiert. Seneca hatte empfohlen, die Lehren vorheriger Denker als Heilmittel zu gebrauchen, wobei es nicht auf die Originalitt des doktrinren Inhalts
693 Siehe M. Aur. Med. 11, 35. 694 So Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 185. 695 Heraklit DK 22 B 62: „Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich, – lebend einander ihren Tod, ihr Leben einander sterbend.“ Ebenso (DK 22 B 88): „Ein und dasselbe ist Lebendiges und Totes und Wachendes und Schlafendes und Junges und Altes; denn dieses schlgt um und ist jenes, und jenes wiederum schlgt um und ist dieses.“ Siehe dazu van Ackeren, M.: Heraklit, a.a.O., S. 108. 696 Siehe die gut zusammen passenden Kapitel (M. Aur. Med. 7, 18 – 19). 697 Siehe M. Aur. Med. 4, 21. 698 Siehe Arr. Epict. ench. 15.
180
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
ankommt, sondern auf die richtige Anpassung der Mittel bzw. die Auswahl des Zeitpunktes.699 Genau das tut Marc Aurel wenn er zu konsolatorischen Zwecken auf die Atomlehre und Heraklits Lehre vom bestndigen Wandel aller Dinge rekurriert. Seneca hat gefordert, die Mittel dem Bedarf und besonders der Situation angemessen einzusetzen, um so den therapeutischen Nutzen zu maximieren. In den Selbstbetrachtungen kommt Marc Aurel, wie gezeigt, sehr hufig auf den Tod zu sprechen, aber auf verschiedene Weise. Whrend einige Kapitel beide Alternativen („Auflçsung oder Wandel“) behandeln, gibt es zahlreiche Eintrge, die nur eine erwhnen. Offenbar hat Marc Aurel in den verschiedenen Schreibsituationen, die zeitlich weit auseinander gelegen haben kçnnten, unterschiedliche Lehren fr denselben Zweck herangezogen.700 Diese Einschtzung wird von stilistischer Seite besttigt. Marc Aurel verwendet nicht nur unterschiedliche decreta, sondern schreibt in verschiedenen Kapiteln in unterschiedlicher Weise ber den Tod. Neben fast euphemistischen Beschreibungen des Todes als „Reise“701 finden sich naturwissenschaftlich-analytische Formulierungen, die den Tod als „Auflçsung in die Grundstoffe“ bezeichnen. Schließlich wird der Tod mit kynischer Rauheit702 als „Gestank und schmutziges Blut in einem Sack“ bezeichnet. Allen inhaltlichen und stilistischen Varianten ist gemeinsam, dass sie gegen die Vorstellung angehen, der Tod sei ein bel. Je nach Situation und Bedrfnis hat Marc Aurel wohl diejenige Argumentation und Sprache gewhlt, die er gerade fr wirkungsvoll hielt. Es ist Aufgabe des Trostspenders, die fr den jeweiligen Konsolationsbedrftigen wirkungsvollsten Argumente zu finden und den passenden Tonfall zu treffen. Da im Falle der Selbstbetrachtungen Trostspender und -empfnger identisch sind, mag dies hier besonders wirkungsvoll sein. Mehr kann eine Konsolationsschrift nicht leisten. 3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt Die Selbstbetrachtungen wurden der literarischen Gattung der sog. „Diatribe“ zugerechnet, weil angenommen wurde, dass „sich die Formelemente 699 700 701 702
Siehe nochmals Sen. Ep. 64, 7 – 8. Siehe dazu ausfhrlicher Kap. II 2.7. Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 3. Siehe M. Aur. Med. 8, 37.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
181
der Diatribe in den Bchern II-XII nachweisen lassen“.703 Ferner wurde der Text als Dialog, genauer als Selbstdialog, verstanden.704 Die Bezeichnungen „Diatribe“ und „Dialog“ werden als Gattungsbegriffe verwandt. Die Form der sog. „Diatribe“ geht auf den Dialog zurck, denn dialogische Momente sind fr die sog. „Diatriben“ charakteristisch. Da die Forschung der letzten Jahre immer mehr in Frage stellt, ob und inwiefern es eine literarische Gattung „Diatribe“ in der Antike gab, kann nicht mehr leichthin von den Formelementen der „Diatribe“ in den Selbstbetrachtungen gesprochen werden. Epiktet ist jedoch der entscheidende Referenzpunkt. Die Selbstbetrachtungen greifen viele Elemente seiner Lehrvortrge auf. Die Untersuchung wird sich auf zwei wesentliche Aspekte der Dialogizitt bei Marc Aurel konzentrieren, nmlich der Adressierung verschiedener Personen im Text und dem Frage-Antwort-Schema. Dabei wird deutlich werden, dass die Selbstbetrachtungen zwar viele Elemente Epiktets aufgreifen, jedoch gibt die besondere Schreibabsicht Marc Aurels diesen dialogischen Momenten eine neue und andere Bedeutung, indem nur im Fall der Selbstbetrachtungen von Selbstdialog gesprochen werden muss. 3.4.1 Die Frage nach der literarische Gattung der sog. „Diatribe“ und Epiktet Die Selbstbetrachtungen, so lautet eine prominente Einschtzung, vereinigen viele Aspekte, die zur Gattung der „Diatribe“ gehçren.705 Im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte ist die Verwendung des Terminus diatqib¶ zur Titulierung einer antiken literarischen Gattung jedoch genauso fragwrdig geworden wie die Einheit der so gruppierten Texte selbst. Die Einschtzung, welche Aspekte der Selbstbetrachtungen fr die Gattung der „Diatribe“ spezifisch sind, hngt entscheidend von deren Bestimmung ab. Das Fehlen einer neuen – aber dringlichen – Untersuchung kann hier nur konstatiert werden. In Krze lsst sich jedoch das Folgende sagen: Der Ausdruck diatqib¶ (siehe auch diatq¸beim) meint zunchst allgemein das „Verbringen von Zeit“,706 wobei ber eine allgemeine neutrale 703 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 74. 704 So bereits Hirzel, R.: Der Dialog, Bd. 2, Leipzig 1895, S. 264 ff. 705 Siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 156. ber ein Drittel der Studie Dalfens widmet sich der Bestimmung der Formelemente der Diatribe. 706 Siehe z. B. Sophokles Fr. 380, 1; Herodot 1, 189; Lys. 97, 26; Pl. Phd. 59d.
182
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Verwendung hinaus sowohl „Vergngungen“ als auch „ernsthafte Beschftigung“ oder „Arbeit“ und „Studium“707 schließlich abwertend die „Verschwendung von Zeit“ gemeint sein kann.708 Die Verwendung des Begriffes in einem philosophischen Kontext beginnt mit Platon. Dort wird der Ausdruck fr die gemeinsame Beschftigung mit bzw. ber etwas709 oder eine (gemeinsame) Diskussion verwandt.710 Platon knpft auch hier mçglicherweise an die sophistische Redekunst an, in der dialogische Momente bereits eine Rolle spielen.711 Als terminus technicus auf philosophischem Gebiet712 ist der Ausdruck erstens ein Vorlufer fr die Bezeichnung einer philosophischen Gemeinschaft oder „Schule“ (swok¶).713 Zweitens wird damit die Zeit beschrieben, die die Lehrer und Schler gemeinsam bei Vortrgen oder Diskussionen, also der Lehrttigkeit verbringen. Drittens werden einige Schriften in der Antike als diatqib¶ tituliert. Neben Werken von Aristipp und Antisthenes714 ist vor allem der in Handschriften und bei Simplikios berlieferte Titel von Epiktets Lehrgesprchen zu nennen.715 Der Zusammenhang dieser Wort-Bedeutungen ist offensichtlich. Hinzu kommt, dass die erwhnten Schriften alle nicht als solche konzipiert worden sind, sondern nachtrglich in Schriftform fixierte Lehrgesprche
707 708 709 710 711 712
713 714 715
Siehe z. B. Lys. 145, 35. Siehe Thuc. 5, 82. Siehe Pl. Phd. 59d mit 90b. Siehe Pl. Ap. 37d oder Grg. 484e. So die Vermutung ber die Ursprnge der Diatribe bei den Sophisten von Tsekourakis, D.: TO STOWEIO TOU DIAKOCOU STGM JUMIKOSTYIJG „DIATQIBG“, in: Hellenica 32 (1980), S. 61 – 78. Zur Identifizierung von diatqib¶ mit „Beschftigung mit Philosophie“ siehe Halbauer, O.: De diatribis epicteti, Diss., Leipzig 1911, S. 1 – 18, dann, in Folge, Jocelyn, H. D.: Diatribes and Sermons, in: LCM 7, 1 (1982), S. 3 – 7. Contra: Gottschalk, H. B.: Diatribe again, in: LCM 7, 6 (1982), S. 91 – 2. Besttigung erfahren Halbauer und Jocelyn bei Stowers, S. K.: „Diatribe“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. X, Heidelberg 2000, S. 627 – 633, hier: S. 627. Siehe dazu Glucker, J.: Antiochus and the Late Academy, Gçttingen 1978, S. 162 – 166. Siehe: FGrHist (Fragmente der Griechischen Historiker), B 115, T 48 (= Athen, 11, 508c-d). Siehe Simpl. in Epict. 9 ff. (= test. 3 Schenkl) und Phot. (Bibl. Cod. 58 = test. 6 Schenkl).
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
183
oder -vortrge waren.716 In vielen und prominenten Fllen ist dies nicht durch die Lehrenden selber geschehen, sondern durch Schler.717 Viertens und von diesem Bedeutungskomplex abweichend wird mit dem Ausdruck diatqib¶ bei Hermogenes ein Stilelement eines Vortrages bezeichnet: Der Redner exploriert eine ethologische berlegung, damit sein Charakter fr das Auditorium deutlich und erinnerbar wird.718 Gerade diese rhetorische Bedeutung ist sorgsam von der vermeintlichen Gattung der sog. „Diatribe“ zu unterscheiden.719 Bemerkenswert ist, dass der Ausdruck „Diatribe“ als Gattungsbezeichnung eine auf H. Usener zurckgehende Erfindung des 19. Jahrhunderts ist.720 Die nachtrgliche Konstruktion einer solchen Gattung gelang durch die Betonung von Gemeinsamkeiten sehr unterschiedlicher Texte und Autoren.721 Die verschiedenen Kritiken, die folgten, kçnnen hier nicht detailliert geschildert werden. Es wurde einerseits darauf hingewiesen, dass diatqib¶ als Ausdruck – wie gerade geschildert – in der Antike nicht fr die Beschreibung einer Gattung verwandt wurde. Es wurde ebenfalls bemerkt, dass die so gruppierten Texte zu disparat seien.722 Trotz dieser Einwnde haben viele andere Kommentatoren dafr pldiert, es sei „ntzlich“ die Bezeichnung „Diatribe“ (etwa in Anfhrungszeichen) zu verwenden, um einen Sammelbegriff fr populres und predigendes Mo716 So die vielrezipierte These von Halbauer, O.: De diatribis epicteti, a.a.O., S. 3 – 14. 717 Von der Forschung wird angenommen, dass Dion von Prusa eine in den Manuskripten als Diatribe titulierte Rede (Nr. 27) selbst aufgeschrieben hat. 718 Siehe Hermog. Inv. 418, 3 – 5. 719 Siehe Wallach, B. P.: Lucretius and the Diatribe against the Fear of Death. De rerum natura III 830 – 1094, Leiden 1976, S. 30 und Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., § 830. Zu diesen genannten vier Bedeutungen siehe die hier entlehnten Angaben im Eintrag „Diatribe“ von Stowers, S. K.: „Diatribe“, a.a.O., S. 627. 720 Siehe Epicurea, ed. H. Usener, Leipzig 1887, S. lxix. 721 So etwa in Folge Useners bei Bultmann, R.: Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Gçttingen 1910. Weitere Angaben zur lteren Literatur bei Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 15, Anm. 48. 722 Ausfhrlichere Erçrterungen der Gattungsfrage finden sich bei Wallach, B. P.: A History of the Diatribe from its Origins up to the First Century B.C. and a Study of the Influence of the Genre upon Lucretius, III 830 – 1094, Diss., Illinois 1974, S. 3 – 18 und dies.: Lucretius and the Diatribe against the Fear of Death. De rerum natura III 830 – 1094, a.a.O., S. 6 ff.; Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, Chico 1981, S. 7 – 78 und Schmeller, Th.: Paulus und die „Diatribe“. Eine vergleichende Stilinterpretation, Mnster 1987, S. 1 – 54.
184
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
ralisieren im weiten Kontext der hellenistischen und rçmischen populrphilosophischen Strçmungen zu haben.723 Doch auch dieser vermittelnde Versuch, von „Diatribe“ bewusst anachronistisch, aber fr die Forschung funktional zu sprechen, ist nicht unproblematisch. Man kçnnte einwenden, dass der Ausdruck „populrphilosophisch“, oft in pejorativer Absicht, kaschiere, dass hier zwar vorrangig praktische Fragen im Zusammenhang mit der Lebensfhrung behandelt werden (wie es etwa auch fr die Gnome typisch ist), aber dass dies nicht notwendig „populr“ ist. Denn die uns erhaltenen Texte dokumentieren oftmals Schulunterricht. Als solches ist ein bestimmter Adressatenkreis vorauszusetzen: Schler, die ber eine bestimmte Vorbildung verfgen, von denen das Fortsetzen von Studien erwartet wird und die so eine langfristig angelegte ethische Entwicklung anstreben.724 Im eigentlichen Sinne „populr“ sind nur die „Diatriben“, die çffentlich waren, entweder, weil der Schulunterricht auf einem frei zugnglichen Platz und in keinem geschlossen Schulareal stattfand oder, weil es sich um isolierte einzelne, dialogisch angelegte çffentliche Vortrge handelte, die umher wandernden kynischen Gelehrten, etwa dem spten Dion Chrysostomos nach seiner Verbannung, zugeschrieben werden. Die Erwhnung dieses ehemaligen Vertreters der Zweiten Sophistik offenbart schließlich eine andere Schwche der Verwendung des Sammelbegriffes „Diatribe“. Zu Recht ist konstatiert worden: „Das vorhandene Material reicht nicht aus, um eine Geschichte der „Diatribe“ zu schreiben“.725 Die berlieferung ist ußerst fragmentarisch, denn zur „Diatribe“ im direkten historischen Anschluss an Sokrates gibt es nur Hinweise.726 Auch die ersten berlieferungen zum Ursprung bei Bion von Borysthenes und 723 So zuletzt Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 15 f. Siehe zuvor Capelle, W./Marrou, H. I.: „Diatribe“, in: RAC, Stuttgart 1957, S. 990 – 1009; Schmidt, E. G.: Diatribe und Satire, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universitt Rostock, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 15 (1966), S. 507 – 519; ders.: „Diatribai“, in: Der Kleine Pauly, Nachtrge z. Bd. 2, Stuttgart 1967, S. 1577 – 8, hier: 1578; Russel, D. A.: Plutarch, London 1973, S. 29, Anm. 25. 724 So berzeugend Stowers, S. K.: „Diatribe“, a.a.O., S. 629. Anzumerken ist, dass die Schler bei Epiktet sich ausfhrlicher mit Logik beschftigen mussten als Philosophie-Studenten heute. 725 Ebd., S. 629. 726 Siehe mit den nçtigen Referenzen Wallach, B. P.: A History of the Diatribe from its Origins up to the First Century B.C. and a Study of the Influence of the Genre upon Lucretius, III 830 – 1094, a.a.O., S. 20 – 36.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
185
Teles sind eher bruchstckhaft.727 Schließlich ist es vor allem die Zeit der rçmischen Stoa, aus der uns viele entsprechende ganze Texte komplett berliefert sind, etwa von Musionius Rufus (durch Lucius) und Senecas Briefe an Lucilius und Epiktet (durch Arrian). Davon zu unterscheiden sind einige der spteren Vortrge von Dion Chrysostomos,728 Texte von Plutarch729 und dann Maximus von Tyros.730 Ebenfalls zu den „Diatriben“ werden gewisse Abhandlungen von Favorinus und Themistius,731 Briefe von Appollonius von Tyana und schließlich Paulus732 gezhlt. Nur durch die starke Betonung einiger Gemeinsamkeiten dieser erhaltenen Texte lsst sich die Verwendung des Sammelbegriffs „Diatribe“ rechtfertigen.733 Einer wnschenswerten Differenzierung der verschiedenen Textarten im Kontext der antiken Psychagogik ist dies jedoch nur begrenzt dienlich. Entscheidend aber ist die Beurteilung Epiktets, denn er gilt nicht als ein, sondern geradezu als der prototypische Verfasser von Diatriben.734 A. 727 Zu Bion, Teles und ihrem Verhltnis siehe Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, a.a.O., S. 51 – 53; Kindstrand, J. F.: Bion of Borysthenes, Uppsala 1976. 728 Siehe Stowers, S. K.: The Diatribe, in: Aune, D. (Hg.): Greco-Roman Literature and the New Testament, Atlanta 1984, S. 74 – 81 und ders.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, a.a.O., S. 53 – 80. 729 Dazu Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, a.a.O., S. 62 – 7. 730 Dazu ebd., S. 67 f. 731 So bei Wendland, P.: Philo und die kynisch-stoische Diatribe, in: Wendland, P./ Kern, O.: Beitrge zur Griechischen Philosophie und Religion, a.a.O., S. 1 – 8. 732 Besonders eindeutig ist dies bei den Briefen an die Rçmer (ferner an die Galater, bei den ersten beiden an die Korinther und beim Brief an Jakobus; siehe Bultmann, R.: Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Gçttingen 1910; Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, a.a.O.; ders.: Social Status, Public and Private Teaching: The Circumstances of Paul’s Preaching Activity, in: Novum Testamentum 26 (1984), S. 59 – 82; Malherbe, A. J.: Paul and the Popular Philosophers, Philadelphia 1989 und Schmeller, T.: Paulus und die „Diatribe“, a.a.O.). 733 Kritik am Gattungsberiff „Diatribe“ auch bei Dihle, A.: Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Justinian, Mnchen 1989, S. 95 ff. und Schublin, Ch.: Zum paganen Umfeld der christlichen Predigt, in: Mhlenberg, E./Oort, J. v. (Hg.): Predigt in der Alten Kirche, Kampen 1994, S. 25 – 49, hier: S. 26. 734 Dies gilt fr die Forschung seit Usener, also seit „Einfhrung“ der Gattung. Siehe z. B. Wendland, P.: Philo und kynisch-stoische Diatribe, in: Wendland, P./Kern, O.: Beitrge zur Griechischen Philosophie und Religion, a.a.O., S. 6; Colardeau, Th.: tude sur pictte, Thse, Paris 1903; Bultmann, R.: Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Gçttingen 1910; Oltramare, A.:
186
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
A. Long hat dafr pldiert, „that the term „diatribe“ is best withheld from Epictetus as a generic description of his teaching style.“735 Long geht es nicht darum, die thematische und formale bereinstimmung mit den genannten Texten zu leugnen, sondern die Unterschiede, die gerade im Falle Epiktets bestehen, herauszustellen.736 Longs bedenkenswerte und z. T. neue Argumente seien wie folgt zusammengefasst:737 (i) Trotz berschneidungen unterscheidet sich Epiktet von den anderen der „Diatribe“ zugerechneten Texten thematisch in zweifacher Hinsicht. Erstens behandelt er die sonst nahezu immer vorkommenden Themen Tod und Exil in keiner einzigen eigenstndigen Diatribe.738 Zweitens findet sich dafr bei ihm eine ganze Reihe von Kapiteln, die Themen behandeln, die ber das thematische Repertoire der so genannten „Diatriben“ hinausgeht.739 (ii) Epiktets Vortrge sind nicht populr. Sie richten sich an eine bestimmte, von der ffentlichkeit unterschiedene Gruppe, nmlich eine klar definierte Schlerschaft, und sie sind ganz direkt an sie oder Einzelne gerichtet.740 Von diesen Schlern wird intellektuell und charakterlich einiges abverlangt. (iii) Epiktet verwendet zwar teilweise die der „Diatribe“ zugerechneten rhetorischen Mittel (z. B. Gnome, Exempla), aber darber hinausgehend verfhrt er erstens systematisch und sttzt sich zweitens auf
735 736
737 738 739
740
Les Origines de la Diatribe Romaine, Thse, Genve 1926, S. 23 f.; Thyen, H.: Der Stil der Jdisch-Hellenistischen Homilie, Gçttingen 1955; Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 74 ff.; Tsekourakis, D.: TO STOWEIO TOU DIAKOCOU STGM JUMIJOSTYIJG „DIATQIBG“, a.a.O. Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., S. 49. Daher auch sein Pldoyer: „It would be better, though, to redescribe that tradition (die „Diatribe“ M.v.A.), and to call it a practice, both oral and written, of ethical training to which professional teachers and didactic writers contributed in ways that were both generic and individual. While there is much common ground in the themes, the manner of their treatment varied greatly.“ Ebd., S. 49. Siehe ebd., S. 49 f. Siehe zu diesem Unterschied bereits die entsprechenden Ausfhrungen im hiesigen Kapitel zur Konsolation. Besonders auffllig ist dies bei den theoretischen Diatriben Epiktets (z. B. Arr. Epict. diss. 1, 1; 1, 6; 1, 22; 2, 8) oder den methodologischen (z. B. Arr. Epict. diss. 1, 7; 2, 11), dann fr die, in denen er sich mit anderen Philosophenschulen auseinandersetzt (z. B. der Akademischen Skepsis in Arr. Epict. diss. 1, 5 oder der Epikurs in Arr. Epict. diss. 1, 23). Z. B. M. Aur. Med. 2, 15; 2, 16; 3, 21; 4, 8.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
187
Argumente, deren breitere Basis Gegenstand seines brigen Unterrichts war. (iv) Einige Autoren, die der „Diatribe“ zugerechnet werden, z. B. Favorinus oder Dion Chrysostomos, werden von Epiktet explizit kritisiert. Dies betrifft einerseits die extensive Verwendung von rhetorischen Mitteln ohne Orientierung an einem ethischen und damit philosophischen Ziel.741 Obschon Epiktet gelegentlich selber vom kynischen Tonfall Gebrauch macht,742 wendet er sich oft gegen den kynischen Habitus, der auch fr die kynischen Wanderprediger, die der Tradition der „Diatribe“ zugerechnet werden, typisch war.743 Was bedeutet nun dieser Befund fr die hier anvisierte Beurteilung der Selbstbetrachtungen? Wenn von einer antiken Gattung „Diatribe“ nur noch schwerlich gesprochen werden kann und die Zugehçrigkeit des wichtigsten Textes in Zweifel gezogen wird, kann nicht leichthin von den Elementen der „Diatribe“ in den Selbstbetrachtungen die Rede sein.744 Folglich msste die Beziehung jedes Textes, der zur fraglich gewordenen Gattung gehçrt, zu den Selbstbetrachtungen gesondert untersucht werden. Das kann und braucht hier nicht geleistet zu werden, da vor allem die von Arrian aufgezeichneten Lehrgesprche Epiktets relevant sind. Nicht nur was die Textauswahl angeht, kann hier eine starke Einschrnkung gemacht werden, sondern auch von den zu untersuchenden Aspekten her kann eine Konzentration erfolgen: Dass Marc Aurel, wie die Autoren der genannten, zur Diatribe gezhlten Texte, praktische Themen und Absichten verfolgt, bedarf kaum eines weiteren Belegs. Es bleibt das fr sog. „Diatriben“ wesentliche Moment der Dialogizitt. Dieses soll in drei Schritten untersucht werden: Zuerst die Dialogizitt und Adressierung, danach das Frage-Antwort-Schema. Danach sind abschließend weitere Stilmittel der sog. „Diatribe“ gesammelt zu behandeln. In allen drei Schritten ist Epiktet von vorrangigem Interesse, weil Marc Aurel ihn erwhnt und zitiert. Das Spektrum dialogischer Aspekte macht einen Vergleich wnschenswert, wie jngst konstatiert und gefordert wurde.745 741 742 743 744 745
Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 3, 21 und 23. Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 3, 9, 14. Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 3, 12, 9; 4, 48, 34 und 3, 22. So aber noch die ltere Forschung, etwa bei Dalfen. So Wehner auf der letzten Seite ihrer Studie ber die Dialogizitt bei Epiktet: „Die Frage, wie stark Marc Aurel, der Epiktets Diatriben aus eigener Lektre kannte, beim Abfassen seiner Selbstbetrachtungen von Epiktets Dialogelementen beeinflusst wurde, kçnnte den Ausgangspunkt fr weitere Forschungen bilden.“ (Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 269).
188
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
3.4.2 Dialogizitt und Adressierung Sowohl Ausmaß als auch Bedeutung des Dialogischen bei Epiktet sind seit langem erkannt. Fraglich ist jedoch, ob er in der Tat in einem „dialogischen Fieber“ liegt und daher seine „Dialoge voller Affekt“ sind.746 Neue Untersuchungen haben zwar besttigt, dass die Dialogizitt bei ihm – auch im Vergleich zu anderen Texten, die sonst der Tradition der „Diatribe“ zugeordnet werden – besonders hufig und facettenreich ist.747 Es wurde aber ebenfalls gezeigt, dass Epiktet sehr methodisch, geradezu systematisch vorgeht.748 Auf diese Ergebnisse soll im Folgenden aufgebaut werden, denn Marc Aurel kannte Texte von Epiktet offensichtlich gut und im Wortlaut. Ein solches Vorgehen erscheint sinnvoll, weil den Unterschieden zwischen den Formen der Dialogizitt innerhalb der rçmischen Stoa noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Eine derartig umfassendere Untersuchung, die Fragen der Rezeptionsgeschichte innerhalb der rçmischen (stoischen) Philosophie mit einschließt, kann hier jedoch nicht mal vorbereitet werden. Die Bemerkungen zur Dialogizitt bei Epiktet dienen hier lediglich dazu, den Blick fr die Selbstbetrachtungen zu schrfen. Ein zentrales Moment von Dialogen ist die Bezugnahme der Gesprchsteilnehmer aufeinander, die Adressierung.749 Im Falle eines Lehrvortrages (Epiktet) oder eines Textes (Marc Aurel) mit dialogischen Momenten gibt es einen Sprecher oder Schreibenden. Die Dialogizitt variiert jedoch mit der jeweils verwendeten Anredeform. Die erste Person Singular. Die „Ich-Form“ verwendet Epiktet in verschiedenen Bedeutungen und Funktionen: Erstens: Mit einem „persçnlichen Ich“ nimmt Epiktet auf sich selbst Bezug. Eindeutig ist dies im Falle einer autobiographischen Rede,750 oder wenn das „Ich“ mit seiner Lehrerrolle in Verbindung gebracht wird.751 Zweitens: Die Ich-Form ist aber nicht nur persçnlich-reflexiv, sie „gibt den Worten des Lehrers strkeres Gewicht, indem er so seine Ausfhrungen als Ausdruck seiner persçnlichen Meinung, seines Urteils und Gefhls 746 747 748 749
So Hirzel, R.: Der Dialog, Bd. II, a.a.O., S. 247. So Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O. So Long, A. A.: Epictetus, a.a.O. Die Untersuchung von Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., liefert alle relevanten Informationen, auf die hiermit stellvertretend fr weitere Fußnoten verwiesen wird. 750 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 9, 27 ff.; 1, 10, 2ff; 1, 19, 26 ff.; 2, 15, 4 ff.; 3, 8, 7. 751 Siehe etwa Arr. Epict. diss. 3, 13, 19.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
189
hinstellt.“752 Diese Verwendung akzentuiert den Unterschied zwischen Schlern und Redner, indem letzterer auf sich und seinen Lehrerstatus hinweist. Drittens: bersehen wurde oft, dass Epiktet ferner ein „generalisierendes Ich“ verwendet, das eine ganz andere, fr den Lehrbetrieb besonders geeignete Funktion erfllt. Diese Ich-Form gibt den Schlern die Mçglichkeit zur Identifikation mit dem Lehrer bzw. den Inhalten seiner Rede. Dabei kann es sich um allgemeine Aussagen,753 Fragen,754 die Zurckweisung falscher (z. T. in Frage-Form eingebrachter) Ansichten755 oder um Handlungsverbote bzw. -aufforderungen756 handeln. In den Selbstbetrachtungen verwendet Marc Aurel die erste Person Singular hufig, und er tut dies wie Epiktet in einer ganzen Reihe von Formen, Bedeutungen und Funktionen. berraschend ist, dass bei Marc Aurel das „persçnliche Ich“ nicht fr persçnliche Erfahrungs- oder Tatenberichte verwendet wird. Die Erzhlung in der Ich-Form ist fr den Briefwechsel mit Fronto typisch. Dass Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen auf die Verwendung der Ich-Form in der soeben genannten Funktion offensichtlich bewusst weitgehend verzichtet, ist signifikant und deckt sich mit dem Befund, dass die Selbstbetrachtungen eine Autobiographie nur in einem sehr besonderen Sinne sind. Denn der Autor schreibt zwar ber sich, fr sich und an sich adressiert, verzichtet dabei jedoch weitgehend auf Narration. Insofern der Gebrauch der ersten Person Singular fr die Bestimmung der Auseinandersetzung des Autors mit sich und seinem Leben aufschlussreich ist, fungieren die folgenden Ausfhrungen auch als Ergnzung zum speziellen autobiographischen Charakter der Selbstbetrachtungen. 757 Epiktet verwendet ein „persçnliches Ich“ fr die autobiographische Narration, die bei Marc Aurel kaum vorkommt. Bemerkenswert ist, dass sich bei Marc Aurel formal ein hnliches Spektrum an Adressierungen wie bei Epiktet findet. Da Marc Aurel jedoch keine Vorlesung vor und fr Studenten hlt, sondern an sich selbst gerichtet schreibt, kann dieser hnlich reiche Bestand an Formen mit anderen Funktionen und Bedeutungen einhergehen. Die besondere Schreibsituation und -motivation ist 752 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 87. 753 Siehe etwa Arr. Epict. diss. 2, 22, 20; 2, 3, 4; 4, 13, 7. 754 Siehe etwa Arr. Epict. diss. 1, 28, 31; 2, 7, 3; 2, 17, 18. 755 Siehe etwa Arr. Epict. diss. 1, 2, 35; 1, 5, 10; 1, 10, 7; 4, 7, 26. 756 Siehe etwa Arr. Epict. diss. 3, 2, 4; 1, 7, 17; 2, 5, 4. 757 Siehe Kap. I 3.1.
190
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
evtl. ganz anders. Dies gilt ebenfalls fr den Fall, dass Marc Aurel die gleichen Termini verwendet wie Epiktet. Die abschließende Bewertung wird erst im nchsten Kapitel erfolgen kçnnen, da die folgenden Beobachtungen zu den Formen und Elementen der „Diatribe“ in den Selbstbetrachtungen das Verstndnis des Textes als Selbstdialog vorbereiten. Besonders hufig verwendet Marc Aurel ein „persçnliches Ich“ zur Akzentuierung: Stell dir aber einmal vor, dass diejenigen, die sich erinnern, und die Erinnerung unsterblich wren. Wie kçnnte dich das berhren? Und ich sage nicht, dass es den Toten nichts bedeuten wrde. Aber was hat der Lebende vom Ruhm?758
Erstens geschieht diese Betonung des „Ich“, um einem Gedanken, einer Aussage oder einer Ermahnung mehr Nachdruck zu verleihen. Zweitens kann eine Aussage oder Mahnung unter der Verwendung der ersten Person Singular erwhnt werden,759 um der Erinnerung zu dienen. Deutlich wird dies etwa bei einem Einschub wie „oXom k´cy“: „Das leitende Prinzip der Seele belstigt sich nicht selbst, wie ich sage, so reizt es sich nicht selbst dazu an, etwas zu begehren.“760 Diese Zitate deuten bereits an, dass die Verwendung des „persçnlichen Ich“ bei Marc Aurel fast immer mit der Verwendung einer zweiten Person einhergeht. Obschon es verschiedene Konstellationen der Verwendung der ersten und zweiten Person Singular gibt, entsprechen sie doch alle einem bestimmten Typus: In jedem Fall kommt eine Lehrer-Schler-Situation bzw. das Verhltnis von Mahnendem und Ermahnten zum Ausdruck. In vielen Kapiteln ist zwischen dem „Ich“ und „Du“ eine klare und asymmetrische Rollenverteilung erkennbar: Man kann geradezu von einem „Lehrer-Ich“ und einem „Schler-Du“ sprechen.761 So schreibt Marc Aurel sich selber auf: „Wenn Du aufpasst, wirst Du sehen, was ich meine.“762 Diese Lehrer-Ich-Form berwiegt in den Selbstbetrachtungen.
758 M. Aur. Med. 4, 19. 759 So in Arr. Epict. diss. 4, 20 und 12, 3. 760 M. Aur. Med. 7, 16 (bersetzung wie Nickel, der aber gerade, wie fast alle anderen bersetzer außer Farquharson, den Einschub fallen lsst.). 761 Eine solche Verwendung des „persçnlichen Ich“ findet sich in M. Aur. Med. 3, 6; 4, 44; 6, 19 und 42; 9, 1; 10, 7. Der Kontrast zwischen Lehrer und Schler ist besonders greifbar in M. Aur. Med. 5, 8. 762 M. Aur. Med. 9, 9.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
191
Daneben verwendet er die Ich-Form in ganz wenigen Selbstgesprchen, in denen er das, was man zu sich sagen soll, in der ersten Person Singular ausdrckt: „Wenn du am Morgen widerwillig aufwachst, dann halte dir vor Augen: Ich wache auf, um die Arbeit eines Menschen zu tun …“.763 Hier redet die erste Person Singular nicht belehrend oder ermahnend. Dennoch handelt es sich um dieselbe asymmetrische Gesprchssituation. Der Gemahnte wird in der zweiten Person Singular angesprochen. Dann wechselt der Redner (oder Schreiber) die Perspektive: In der Ich-Form wird vorgesprochen, was sich der Ermahnte in einer bestimmten Situation selber sagen soll.764 Der Lehrer verwendet hier kein „Lehrer-Ich“, sondern ein „imaginres“ oder „didaktisches Ich“, er sagt dem Schler vor, was dieser sich sagen soll, und er tut dies direkt in der Ich-Form, damit der Schler sich den genauen Wortlaut einprgen kann. Solche Mahnungen kommen in zwei Varianten vor: Erstens werden sie von Marc Aurel gelegentlich mit einer einleitenden und mahnenden Rede an ein „Du“ versehen, die das Verhltnis zwischen den Dialogpartnern, den Gesprchstypus, klar machen. Der Lehrer vermittelt dabei jedoch nicht eine mahnende Formel fr den Selbstgebrauch, sondern gibt Anweisungen, wann diese zum Einsatz kommen soll. Zweitens verzichtet Marc Aurel anderenorts auf diesen Rahmen und schreibt nur die an sich selbst adressierte Mahnung in Ich-Form nieder.765 Fr solche Eintrge sind zwei Erklrungen denkbar: Entweder schreibt Marc Aurel hier, um entsprechende Formulierungen zu memorieren, oder aber er schreibt hier in unmittelbarer therapeutischer Absicht, also um im Akt des Formulierens auf sich einzuwirken. In beiden Fllen scheint er zu wissen, fr welche Zwecke und Gelegenheiten er die „ntzlichen Worte“ verwenden kann. Schwieriger zu bewerten ist ein Wechsel der verwandten Formen und Konstellationen innerhalb eines Kapitels: Wie du zu leben beabsichtigst, wenn du fortgegangen bist, so kannst du auch schon hier leben. Wenn sie dich aber nicht lassen, dann geh auch aus dem Leben, doch so, dass es nicht den Anschein hat, dir widerfhre etwas 763 M. Aur. Med. 5, 1. 764 Ein identischer Wechsel findet sich in M. Aur. Med. 5, 10: „ … man muss sich selbst gut zureden und … sich allein bei folgenden Gedanken ausruhen: Erstens, dass mir nichts passieren wird, was im Gegensatz zur Natur des Weltganzen steht. Zweitens, dass mir …“. 765 Siehe M. Aur. Med. 8, 42: „Ich verdiene es nicht, mir selbst Schmerz zuzufgen. Denn ich habe auch noch nie einem anderen freiwillig Schmerz zugefgt.“ (Ebenso M. Aur. Med. 8, 43).
192
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Schlimmes. Da ist Rauch, und ich gehe weg. Warum ist das deiner Meinung nach etwas Besonderes? Solange mich aber nichts Derartiges verjagt, bleibe ich als freier Mann, und niemand hindert mich zu tun, was ich will. Ich will es aber in bereinstimmung mit der Natur des vernnftigen und gemeinschaftsbezogenen Lebewesens.766
Der Wechsel der Perspektive oder Person kann unterschiedlich erklrt werden. Die an ein „Du“ gerichteten Mahnungen und Lehren werden immer von einer Instanz mit Autoritt gesprochen. Doch die Stze in der ersten Person Singular erlauben verschiedene Deutungen, die dann die Einschtzung des gesamten Eintrages wesentlich beeinflussen: (i) Die Stze in der ersten Person Singular werden ebenfalls vom Mahnenden gesprochen, genauer werden hier Stze vorgesprochen. Damit sich der Angemahnte diese nur in der vorgegeben Wortwahl oder Form einzuprgen braucht, verwendet der Lehrer hier bereits die erste Person Singular, und zwar im Sinne des „imaginren“ oder „didaktischen Ichs“. In diesem Falle handelt es sich nicht um einen Dialog zweier Personen, von denen beider Redeanteil wiedergeben ist, sondern durchgehend um einen Vortrag, weil alle Stze von der derselben Person, dem Lehrer, gesprochen werden. (ii) Es wre mçglich, dass die Stze in der ersten Person Singular in der Tat von einer anderen Person stammen, dem Schler oder Angemahnten. In diesem Falle wrde es sich es um einen echten Dialog handeln, den Marc Aurel hier aufschreibt. Beide Varianten schließen jedoch nicht aus, dass es sich um einen Selbstdialog handelt, denn im ersten Falle wrde Marc Aurel durchgngig zu sich als Lehrer sprechen, im zweiten wrde er den Selbstdialog niederschreiben, indem der Mahnende und, in diesem Fall, derjenige, der eine Mahnung gelernt hat, als zwei verschiedene Personen in diesem Kapitel reprsentiert sind. Das Dialogische in den lehrenden Vortrgen Epiktets wird beim selbstadressierten Schreiben Marc Aurels zum Selbstdialog. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie entscheidend die Schreibsituation ist. Selbst wenn Marc Aurel bewusst oder unbewusst identische Formulierungen gebraucht, tut er nicht dasselbe wie Epiktet. Er hlt keinen Vortrag fr andere, sondern kommuniziert (schriftlich) mit sich selber.
766 M. Aur. Med. 5, 29.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
193
In den Selbstbetrachtungen ist eine Verwendung der Ich-Form vorherrschend, die – wie bei Epiktet – in einen Dialog zwischen Belehrendem oder Mahnendem und dem jeweiligen Adressaten eingebunden ist. Von dieser Beobachtung ließe sich darauf schließen, dass Marc Aurel Epiktet hier einfach mehr oder minder direkt kopiert. Doch selbst wenn er genau das tut, ndert seine Schreibsituation die Bedeutung solcher Dialoge. Denn sowohl mit dem „Ich“ als auch dem „Du“ bezeichnet Marc Aurel sich selber. Die Lehrsituation Epiktets wird internalisiert. Bezeichnend fr die Selbstbetrachtungen als Autobiographie ist es, dass Marc Aurel eben nicht von seinem ußeren Lebensvollzug erzhlt, sondern sich mit sich selber auseinandersetzt, und zwar indem er sich selber ermahnt. Die parnetische Grundabsicht des Werkes findet ihren Niederschlag in der Verwendung der Ich-Form. Ob Marc Aurel sich dessen bewusst war, dass er sich selber als Lehrer und Schler zugleich auffasst, kann nicht sicher entschieden werden. Einige Indizien sprechen jedoch dafr: Abgesehen vom ersten Buch finden keine anderen Lehrer mehr Erwhnung, whrend er sich mehrfach in einem Lehrer-Schler-Dialog dazu auffordert, genau solche Dialoge mit sich selber zu fhren. Gerade dieser Umstand lsst darauf schließen, dass Marc Aurel nicht einfach aus Mangel an Lehrern und persçnlichen Ratgebern zum Mittel des Selbstdialoges gegriffen hat, sondern sich bewusst fr dieses Mittel der Psychagogik entschieden hat. Als weiteren Hinweis ist zu werten, dass Marc Aurel auf das „generalisierende Ich“ verzichtet, das fr den Unterricht mit wirklichen Schlern bei Epiktet funktional ist.767 Ebenso wenig findet sich bei ihm die erste Person Plural, die bspw. der Funktion dienen kçnnte, seine Zuhçrer oder Leser mit einzubeziehen. Die zweite Person Singular. Jetzt aber zur zweiten wichtigen Form der Adressierung, dem „Du“. Epiktet unterrichtet zwar eine Gruppe von Studenten, doch Ermahnungen oder Belehrungen richtet er nur selten an die zweite Person Plural. Diese Form verwendet er vorrangig zur Beschreibung des Verhaltens seiner Schler.768 Imperative an die Schler-Gemeinschaft sind relativ selten und
767 Lediglich der Eintrag M. Aur. Med. 6, 20 bietet einen Wechsel vom „Wir“ zu einem „Ich“, das als generalisiertes „Ich“ verstanden werden kçnnte. 768 Siehe etwa Arr. Epict. diss. 1, 6, 23; 1, 6, 38; 1, 16, 19; 2, 17, 34; 2, 21, 16; 3, 16, 14.
194
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
beziehen sich dann eher auf Modalitten der Unterrichtsfhrung,769 als eine Lebensanweisung zu sein.770 Die zweite Person Singular gebraucht Epiktet fr den Dialog mit fiktiven Gesprchspartnern.771 Aber vorrangig spricht er so seine Zuhçrer einzeln und direkt an.772 Zwischen beiden Verwendungen lsst sich, so die Beobachtung von B. Wehner, nicht immer trennscharf entscheiden. Epiktet wechselt gerne die Adressierungen. Im Verlaufe einer lngeren Erçrterung kçnnen die Antworten an einen fiktiven Gesprchspartner oder Reaktionen auf fiktive Einwrfe auf einen realen Zuhçrer bergehen. Das fiktive Moment tritt in den Hintergrund und nun wird jeder Zuhçrer mit dem „Du“ einzeln angesprochen, so als ob er die behandelte Frage oder den Einwurf eingebracht habe oder in Zukunft damit konfrontiert werden kçnne.773 Die hufige Verwendung der zweiten Person Singular erklrt sich ferner durch Epiktets Vorliebe fr Imperative,774 die sowohl zu Handlungen775 als auch zur Erinnerung bzw. Einbung bestimmter Grundstze auffordern.776 Imperative werden von Epiktet gerne durch den Vokativ %mhqype verstrkt.777 In den Selbstbetrachtungen findet die zweite Person Singular hufige Verwendung. Und dies nicht nur in den Kapiteln, in denen sich erste und zweite Person Singular abwechseln oder gar einen richtigen Dialog fhren.778 Viele Kapitel verwenden nur diese Form.779 Dies geschieht sogar dort, wo Marc Aurel eine der ganz seltenen individuellen Bemerkungen macht, indem er seinen Namen erwhnt:
769 770 771 772 773
774 775 776 777 778 779
Siehe etwa Arr. Epict. diss. 2, 12, 29; 2, 19, 21; 2, 19, 33; 2, 23, 47. Siehe etwa Arr. Epict. diss. 1, 3, 9; 2, 6, 2 und 4, 8, 1. Siehe Arr. Epict. diss. 1, 1, 18; 1, 12, 12; 2, 16, 31 usw. Siehe Arr. Epict. diss. 1, 8, 14; 1, 120, 12; 1, 24, 1; 1, 17, 6 usw. Siehe etwa Arr. Epict. diss. 2, 8, 10. Ebenfalls nicht eindeutig ist 3, 1, 32. Zum gesamten Komplex dieser Fragen siehe die an Belegstellen reichen Ausfhrungen von Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 60 ff. Siehe etwa Arr. Epict. diss. 1, 20, 12; 1, 24, 1; 1, 27, 6; 1, 29, 42 usw. Siehe etwa Arr. Epict. diss. 1, 11 und 3, 17. Siehe etwa Arr. Epict. diss. 1, 24, 1; 1, 30, 1; 3, 12, 10; 3, 3, 21; 4, 4, 1; 4, 4, 23. Siehe Arr. Epict. diss. 1, 29, 41; 3, 12, 10; 3, 14, 2; 3, 15, 9. Siehe exemplarisch die Reihe der Eintrge M. Aur. Med. 2, 2 – 7 (siehe dann 4, 19; 5, 1 und 8; 9, 9; 5, 29; 12, 36). Siehe M. Aur. Med. 4, 26 (siehe ferner 5, 28, sowie 30 – 31) oder 6, 30: „Achte darauf, dass du dich nicht zum Caesar machen und entsprechend frben lsst.“
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
195
Wenn dich jemand fragt, wie man den Namen Antoninus schreibt, wirst du dann etwa nicht angespannt jeden einzelnen Buchstaben nennen? Was ist aber, wenn die Leute sich darber rgern? Bist Du dann etwa auch rgerlich?780
Gerade solche Kapitel sind interessant, weil sie zeigen, dass Marc Aurel weniger vom Standpunkt der ersten Person Singular – oder gar einem IchErzhler – aus schreibt, sondern auf sich einwirken will. Und er tut dies der Form nach so, als wrde er oder eine andere Person ihn als „Du“ ansprechen und ermahnen. Ganz anders als im Briefwechsel mit Fronto bedient Marc Aurel sich fr Selbstermahnungen in seinem philosophischen Text der Mittel der Dialogizitt zu nicht-narrativen Zwecken. Die Eintrge, in denen nur die zweite Person Singular auftaucht, sind (in zum Teil scharfer Form) adhortativ. Wie bereits gezeigt, entfllt hier die Erwhnung des „Lehrer-Ichs“, weil sie ganz von diesem Standpunkt aus geschrieben sind. Wenn die Selbstbetrachtungen ein Selbstdialog sind, so sind sie vor allem ein Dialog des Lehrers Marc Aurel mit dem Schler Marc Aurel. In diesen Kapiteln wird jedoch kein Gesprch gefhrt, sondern nur die Anrede des Lehrers an den Schler. Nur ersterer schreibt hier. Andere Kapitel, in denen er sich beklagt, noch nicht gemß seines hohen Standards zu denken und zu handeln, scheinen dann eher entweder von einer Schleroder von einer Philosophen-Perspektive geschrieben worden zu sein. Bei den Anreden an die zweite Person Singular handelt es sich in der Regel um Mahnungen. Diese Mahnungen scheinen in dreifacher Weise mit Epiktets Gesprchen verbunden zu sein. Erstens durch die Form und Einbettung der Imperative. In den Selbstbetrachtungen gibt es eine Reihe von Mahnungen, die in der Tradition der parnetischen Literatur stehen.781 Diese sind durch gnomische Krze geprgt, sie sind nicht spezifisch adressiert, nicht auf eine konkrete Situation bezogen oder in einen argumentativen oder dialogischen Kontext eingebunden (z. B. „Nichts zu sehr!“). Nun gibt es auch Mahnungen, die besonders durch Epiktet geprgt sind: Diese Imperative stehen nicht isoliert fr sich und sind zum Teil lnger ausformuliert. Sie folgen aus einer Argumentation, die auch dialogischen Charakter haben kann. Aus der fr die Dialogizitt charakte780 M. Aur. Med. 6, 26. Eine Ausnahme ist der Eintrag 6, 44: „Die staatliche Gemeinschaft und das Vaterland ist fr mich als Antoninus Rom, fr mich als Menschen der Kosmos.“ 781 Siehe ausfhrlich oben Kap. I 3.2 (oder siehe nochmals Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 50 ff., dann S. 63 – 73).
196
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
ristischen Adressierung folgt die personengenaue Adressierung der Mahnung selbst. Die genannten Elemente vereinigt folgender Eintrag exemplarisch: Die Urkraft des Weltganzen ist ein wilder Strom. Er reißt alles mit. Wie unbedeutend sind doch diese politisch ttigen und – wie sie jedenfalls glauben – philosophisch handelnden Menschen. Vçllig verrotzte Gestalten. Mensch, was tust du eigentlich? Tu, was jetzt die Natur von dir fordert: Setz dich in Bewegung, wenn es dir mçglich ist, und achte nicht darauf, ob es jemand erfahren wird. Hoffe nicht auf Platons Staat, sondern gib dich damit zufrieden, wenn auch nur in den geringsten Kleinigkeiten etwas vorankommt, und betrachte dieses Resultat nicht als unwesentlich. Denn wer wird ihre Grundeinstellung ndern? Was aber bleibt ohne eine nderung der Grundberzeugungen anderes als die Fremdbestimmung von Stçhnenden, die zu gehorchen vorgeben? Gut, nenne mir jetzt ruhig Alexander, Philipp und Demetrius von Phaleron. Ich werde (ihnen) folgen, wenn sie gesehen haben, was die gemeinsame Natur wollte, und sich selbst auf den richtigen Weg fhrten. Sollten sie aber Theater gespielt haben, so hat mich niemand dazu verurteilt, sie nachzuahmen. Schlicht und bescheiden ist das Werk der Philosophie. Verfhre mich nicht zu vornehm tuender Aufgeblasenheit.782
Zweitens verwendet Marc Aurel hier – wie Epiktet und andere zur Tradition der sog. „Diatribe“ gerechnete Autoren783 – eine besondere Form der Mahnung, die im Zitat ebenfalls vorkam. Sie vereint das Dialogisch-Fragende und eine direkte und spezifische Adressierung der Mahnung: „Was tust du?“ Obschon der Form nach eine Frage, die keinen imperativen Gehalt hat, handelt es sich hier um eine Mahnung, da die Frage voraussetzt, eine Handlung oder Intention784 sei offenkundig falsch: Wie verdorben und falsch ist derjenige, der sagt: ,Ich habe mir vorgenommen, offen und ehrlich mit dir umzugehen.‘ Was tust du, Mensch? Das braucht man nicht laut zu verknden. Es wird unmittelbar sichtbar. … Die krampfhafte Bemhung um Ehrlichkeit ist ein versteckter Dolch. Nichts ist schndlicher als Wolfsfreundschaft. Nimm dich davor ganz besonders in acht.785
Drittens786 gebraucht Marc Aurel mit der Frage „Was tust Du?“ die Anrede %mhqype. Wie sehr diese Anrede in mahnender Absicht aus einem Gesprch erwchst und somit zum Bestand der dialogischen und nicht der gnomisch782 M. Aur. Med. 9, 29. 783 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 1, 24, 11; 2, 15, 7; 2, 15, 8; 2, 20, 28; 3, 5, 15; 3, 13, 23; 3, 21, 13 oder Sen. Ep. 48, 8. 784 Es geht hier nicht um eine Auffassung (so aber Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 84). 785 M. Aur. Med. 11, 15. 786 Siehe nochmals M. Aur. Med. 9, 29.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
197
parnetischen Tradition gehçrt, wird daran deutlich, dass sie von Sokrates in der Apologie verwandt wird.787 Marc Aurel zitiert sie: ,Ich aber kçnnte diesem wohl mit Recht antworten: Du hast unrecht, Mensch, wenn du glaubst, dass ein Mann, wenn er nur ein wenig ntzlich ist, die Gefahr auf Leben und Tod in Rechnung stellt und statt dessen allein darauf sieht, wenn er handelt, ob er gerecht oder ungerecht handelt und ob sein Handeln dem Handeln eines guten oder schlechten Mannes entspricht.‘788
Auch Epiktet verwendet die Anrede „Mensch“ gerne um eine Adhortatio zu betonen, in dem er sie eindringlich adressiert.789 Diese gngige Verwendung findet sich ebenfalls in den Selbstbetrachtungen. 790 Wie anhand der Frage „Was tust du, Mensch?“ deutlich geworden ist, dient die Anrede der eindringlichen Ablehnung einer bestimmten Handlung. Hier besteht eine funktionale hnlichkeit mit anderen abwertenden Adressierungen, die bei Epiktet hufig sind: „Kind“, „Tor“, „Sklave“ und „Elender“.791 Solche Anreden drcken den Hiat zwischen dem stoischen Lehrer und allen anderen Toren, die noch lernen mssen, naturgemß zu leben, mit kynischer Deutlichkeit aus. Die Anrede „Mensch“ hat aber gerade bei Marc Aurel eine andere und freundlichere Bedeutung. „Mensch“ wird dabei ebenfalls zur Verstrkung der Adhortatio gebraucht, aber der Umstand, dass der Angemahnte als Wesen der Gattung „Mensch“ angesprochen wird, hat eine Bedeutung, die mit der Mahnung selbst in inhaltlichem Zusammenhang steht. Denn Marc Aurel ermahnt sich, gemß der menschlichen Natur zu leben,792 „als ein Mensch, der nur darauf aus ist, dass auf jeden Fall das geschieht, was der Allgemeinheit ntzt“.793 „Mensch, was tust du da eigentlich? Tu, was jetzt die Natur von dir fordert …“794 „Mensch, Du hast Dich in dieser großen 787 Siehe Pl. Ap. 28b (siehe ferner Pl. Symp. 200c; Prt. 330d; Grg. 452b; Mn. 75a; Hp. mai. 289a; Resp. 329c). Bemerkenswerterweise weist das Sptwerk Platons nichts dergleichen auf. 788 M. Aur. Med. 7, 44. 789 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 15, 7; 2, 15, 8. 790 Siehe etwa M. Aur. Med. 12, 36; 5, 36 und 11, 15. 791 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 4, 11; 1, 6, 30; 2, 8, 12; 2, 13, 23; 2, 19, 8. Weitere Stellen bei Dion und Seneca bei Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 85, Anm. 1. 792 Siehe hierzu auch besonders M. Aur. Med. 3, 4: „dass es der Natur des Menschen entspricht, sich um alle Menschen zu kmmern…“ 793 M. Aur. Med. 11, 13. 794 M. Aur. Med. 9, 29. Fr die dialogische Einbindung dieser Bedeutung siehe nochmals M. Aur. Med. 5, 1: „Wenn du am Morgen widerwillig aufwachst, dann halte dir vor Augen: Ich wache auf, um die Arbeit eines Menschen zu tun. … –
198
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Stadt politisch bettigt. Was macht es dir schon aus, ob es fnf oder drei Jahre waren?“795 Auf diese Weise kann auch die besondere Verwendung der ersten Person Plural bei Marc Aurel erklrt werden: Er verwendet sie, anders als Epiktet, nicht, um die Gemeinschaft von Lehrer und Schler zu adressieren, sondern die Gemeinschaft der Vernunftwesen bzw. der Menschen als Brger des Kosmos: Alle wirken wir gemeinsam auf ein Ziel hin: einige mit vollem Bewusstsein, andere unwissend, wie auch Heraklit, glaube ich, die Schlafenden als aktive Mitarbeiter am Geschehen im Kosmos bezeichnet.796
Zum Umstand, dass Marc Aurel wenig individuelles Biographisches erzhlt, kommt hinzu, dass er sich in und mit den Selbstbetrachtungen nicht dazu auffordert, Individualitt und Subjektivitt zu kultivieren, sondern so zu sein und zu agieren wie ein guter Mensch. Entsprechend hufig sind allgemeine anthropologische Argumente: „Was einen Menschen nicht schlechter macht – wie kçnnte dies denn das Leben eines Menschen schlechter machen?“797 Abgesehen vom ersten Buch spielen Individuen fast nur noch als historische oder mythische Figuren aufgrund ihres exemplarischen Charakters eine Rolle. Andererseits wird die allgemeine menschliche Natur sehr hufig thematisiert.
,Aber das ist doch angenehmer.‘ … – Siehst du nicht die Pflanzen, die Vçgel, die Ameisen, die Spinnen, die Bienen die ihnen gemße Ttigkeit verrichten und zu ihrem Teil einen Kosmos gestalten? Dann willst du nicht dein Menschenwerk verrichten?“ 795 M. Aur. Med. 12, 36. Auch die Verwendung dieser speziellen Bedeutung der Anrede „Mensch“ mag ihren Rckhalt in der Apologie Platons haben (29cff.). Zwar bezeichnet sich erst der Protokyniker Diogenes als Brger des Kosmos, aber die anderen wesentlichen Gesichtspunkte nennt bereits Sokrates: Mit der Anrede „Mensch“ verknpft er erstens eine Aufforderung, und zweitens ist diese inhaltlich mit der Anrede verbunden, weil es ihm um das fr einen Menschen und Brger einer Polis gute Handeln geht (29d). Drittens geschieht dies nicht nur in der Apologie innerhalb eines dialogischen Einschubs, sondern Sokrates selbst verweist darin auf einen Dialog bei Homer, nmlich den zwischen Thetis und seiner Mutter, bevor dieser im Kampf Hektor tçtet (28c-d). 796 M. Aur. Med. 6, 42. 797 M. Aur. Med. 2, 11.
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
199
Hinter der Anrede „Mensch“ steckt also nicht nur eine scharfe Adhortatio im Sinne von „Tor“ oder „Sklave“, sondern bereits der Appell, sich auf seine Natur als Mensch zu besinnen und wie ein solcher zu leben.798 3.4.3 Das Frage-Antwort-Schema Fr Arrians Aufzeichnungen der Vortrge, also Monologe, die Epiktet in seiner Schule hielt, ist nicht nur das Dialogische und die damit notwendig verbundene Adressierung verschiedener Personen kennzeichnend, sondern eine bestimmte Art des Dialoges – die Wechselrede von Frage und Antwort: Welches ist die Aufgabe eines sittlich guten Menschen? Viele Jnger zu haben? Keineswegs. Dafr mçgen die sorgen, denen es der Mhe wert dnkt. Aber vielleicht die genaue Auslegung schwerer Kunstregeln? Auch dafr mçgen andere sorgen…799
Das Frage-Antwort-Schema erfllt bei Epiktet mehr als eine Funktion: Erstens erleichtert eine solche Darlegung dem Zuhçrer das Verfolgen der Rede, die im Falle einer langen Kette von Aussagestzen schnell monoton wirken wrde.800 Zweitens dient das Beantworten von Fragen nicht nur der Darstellung von Epiktets eigener Position in einer fr den Zuhçrer interessanten Form, sondern die Fragen implizieren (wie im letzten Zitat) eine Position, die so zunchst ebenfalls dargestellt wird, um dann aber im Rahmen des FrageAntwort-Verfahrens als falsch herausgestellt zu werden. Es lassen sich verschiedene Arten von widerlegten Positionen grob unterscheiden, und zwar durch Epiktet selbst eingebrachte Fragen, dann solche, die durch fiktive Fragen bzw. Einwrfe zum Gegenstand werden801 und solche, die von einzelnen anwesenden Zuhçrern stammen oder deren Standpunkt wiedergeben.802 798 Dazu passt die Beobachtung, dass Marc Aurel fr den Menschen den Vergleich mit einem Ziegenbock heranzieht, aber eben nicht, um ihn abzuwerten, wie es in der Rhetorik verstanden wrde, sondern um auf die Natrlichkeit hinzuweisen (siehe M. Aur. Med. 11, 15). 799 Arr. Epict. diss. 4, 8, 24 – 5. 800 Siehe Schmeller, Th.: Paulus und die „Diatribe“, a.a.O., S. 190 und in Folge Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 63. Epiktet selber weist auf seinen Lehrer Musionus hin, dessen Lehrvortrge besonders lebendig gewesen seien (siehe Arr. Epict. diss. 3, 23, 27 – 9). 801 Siehe hierzu mit vielen, evtl. sogar allen relevanten Stellen Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 175 ff. 802 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 1, 2, 35; 1, 5, 10; 1, 6, 13; 1, 8, 15; 1, 10, 7 usw.
200
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Eine trennscharfe Unterscheidung ist seit Schenkl803 versucht worden. Letztlich ist seine Einteilung besttigt worden,804 jedoch mssen einige Uneindeutigkeiten bleiben. Gerade was die Distinktion von fiktiven und selbst gestellten Fragen angeht, gibt es Kapitel, die nicht eindeutig zuzuordnen sind, weil, wie oben schon angesprochen, die Adressierung des „Du“ vom fiktiven Gesprchspartner zu einem bestimmten Zuhçrer wechseln kann.805 Grundlegend wird auch die Unterscheidung von realen und fiktiven Einwrfen durch den Umstand erschwert, dass wir neben dem Text keinerlei nicht-schriftsprachliche Informationsquellen wie Gestik, Mimik und Betonungen haben, die ein persçnlicher Vortrag zustzlich liefert.806 Drittens, und dies ist entscheidend, geschieht die Widerlegung einer Position unabhngig davon, wer sie in einer Frage vertreten hat, im Interesse der Zuhçrer, denn sie sind immer der eigentliche Adressat. Der Vortrag wird um ihretwillen gehalten. Die Widerlegung falscher Ansichten erfolgt exemplarisch und in prophylaktischer Absicht, denn jeder der Zuhçrer ist noch kein Weiser und wird eventuell einmal die widerlegte falsche Ansicht vertreten und darunter leiden. Die Widerlegung geschieht letztlich in protreptischer und praktischer Absicht. Das Frage-AntwortSchema wird von Epiktet nicht einfach als adquate Darstellungsvariante verwandt, sondern weil es die Zuhçrer strker an seine Rede bindet und so einen strkeren psychagogischen Effekt hat. Jeder der drei genannten Aspekte beschreibt eine Redeform. Epiktet unterscheidet die mahnende, widerlegende und belehrende Rede.807 Das Frage-Antwort-Schema erfllt fr Epiktet drei Funktionen, die sich jedoch nicht ausschließen, denn seine Beschreibung des protreptischen Stils betont die Notwendigkeit der Elenktik: „Worin liegt der protreptische Charakter? 803 Siehe Schenkl, H.: Epicteti dissertationes ab Arriano digestae, ad fidem codicis Bodleiani iterum recensuit, 2. Aufl., Leipzig 1916, S. CXV. 804 Siehe Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 64. 805 Die These, dass sich anhand der Hrte, mit der eine These zurckgewiesen wird, darauf schließen lsst, dass es sich um einen fiktiven Einwand handelt, liefert kein sicheres Kriterium fr alle zweifelhaften Flle. Ein solcher Versuch findet sich bei Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, a.a.O., S. 139. 806 Der Umstand, dass es sich hier um eine (wohl mehr als minder genaue) Mitschrift eines mndlichen Vortrages handelt, der auch nur dafr konzipiert wurde, ist auch hier zu betonen. 807 Siehe Arr. Epict. diss. 3, 23, 33: pqotqeptijºr ; 1kecjtijºr ; didasjakijºr. Diese Unterscheidung wurde erst 2002 von A. A. Long (wieder-)entdeckt (siehe Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., Kap. 2.3).
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
201
In der Fhigkeit, einem oder vielen den Widerspruch deutlich zu machen, in dem sie gefangen sind…“.808 In den Selbstbetrachtungen verwendet Marc Aurel ebenfalls hufig ein Frage-Antwort-Schema. Drei Varianten kommen vor: Erstens kann ein Lehrender oder Mahnender mittels Fragen auf den Antwortenden einwirken: „Besitzt Du Vernunft? Ja. Warum benutzt du sie also nicht? Wenn sie nmlich ihre eigentliche Aufgabe erfllt, was willst du dann noch mehr?“809 Zweitens und umgekehrt kann der Lehrende und Mahnende auf eine Frage antworten.810 Wirkliche Dialoge nach dem Frage-Antwort-Schema, die Fragen enthalten, sind insgesamt jedoch sehr selten. Die meisten Fragen, die Marc Aurel so zahlreich formuliert, sind rhetorisch und appellativ, ohne dass eine andere Person als der Fragesteller antworten wrde.811 Er schreibt also selten Dialoge nieder. Damit ist jedoch nicht prjudiziert, dass die Kapitel nicht in einem noch zu erluternden Sinne Selbstdialoge sein kçnnen, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird. Drittens entsprechen auch diejenigen Kapitel dem Frage-AntwortSchema, in denen auf einen Einwand geantwortet wird, der formal keine Frage ist. Die Einwnde beginnen oft mit einem !kk²: Man muss sein Leben aus lauter einzelnen Handlungen zusammensetzen und zufrieden sein, wenn jede – soweit wie mçglich – ihr Ziel erreicht. Dass aber jede Handlung ihr Ziel erreicht, daran kann dich niemand hindern. ,Aber es
808 Arr. Epict. diss. 3, 23, 34 – 5. Zum elenktisch-sokratischen Verfahren bei Epiktet siehe etwa 2, 12, 1 und 3, 21, 19. Zum engen Zusammenhang von Widerlegung und Mahnung siehe Arr. Epict. diss. 2, 26. Die Verbindung von fundierter Widerlegung und Mahnung wird von Epiktet nicht nur gefordert, sondern auch praktiziert. Das sokratische und elenktische Moment gibt seiner Gesprchsfhrung etwas Methodisches, dass ihn von vielen anderen Vertretern der sog. „Diatribe“ unterscheidet, in denen kynisch vorgetragene Mahnung oder ein predigthafter Stil dominiert. 809 M. Aur. Med. 4, 13 (siehe auch 5, 1 und 36; 8, 47). 810 „Wenn du deine Auffassung ber das, was dich zu betrben scheint, aufgibst, dann stehst du selbst auf dem festesten Boden. ‘Wer selbst?‘ Die Vernunft. ‘Aber ich bin nicht die Vernunft.‘ So sei es. Die Vernunft soll doch wohl sich selbst nicht betrben. Wenn sich bei dir aber etwas anderes nicht wohl fhlt, dann soll es sich ber sich selbst eine eigene Auffassung bilden.“ M. Aur. Med. 8, 40 (siehe auch 12, 28). 811 Siehe M. Aur. Med. 4, 24; 4, 26.
202
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
wird sich etwas von außen in den Weg stellen.‘ Nichts kann mich daran hindern, gerecht, besonnen und vernnftig zu handeln…812
Warum gibt es in den Selbstbetrachtungen nur eine begrenzte Anzahl wirklicher Dialoge, also Kapitel, die nach dem Frage-Antwort-Schema aufgebaut sind, in denen zwei Personen Sprechanteile haben?813 Warum fehlt die genaue Zuordnung der Einwnde zu Personen so oft? Ist das Frage-Antwort-Verfahren fr Marc Aurel nicht wichtig? Im Gegenteil, es nimmt eine zentrale Rolle ein. Er fordert sich nicht nur auf, mit sich selber zu sprechen,814 sondern explizit dazu, sich zu befragen und also diese spezielle Form des Selbstdialoges zu fhren: Sich sofort nach dem Aufwachen aus dem Schlaf die Frage stellen: ,Es wird dir doch wohl nichts ausmachen, wenn das Richtige und das Gute durch einen anderen verwirklicht werden?‘ Es wird mir nichts ausmachen.815
Selbstbefragungen sind einerseits ein Teil der Selbstbetrachtungen, andererseits und viel weitergehend werden sie fr jede Situation gefordert. Dass Marc Aurel sich zu nahezu ununterbrochenen Selbstbefragungen auffordert, zeigt, wie wichtig das Beantworten von Fragen fr ihn ist und dass er diesen Forderungen durch das Schreiben der Selbstbetrachtungen nachkommt. Bemerkenswert ist, dass in den Selbstbetrachtungen Dialoge mit anderen Personen weder beschrieben noch gefordert werden. Das FrageAntwort-Schema ist fr Marc Aurel nur als interner Selbstdialog relevant. Dazu drei Anmerkungen: Zum einen kann der bei Epiktet entscheidende elenktische Aspekt des Frage-Antwort-Schemas auch in den Selbstbetrachtungen deutlich ausgemacht werden. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass Marc Aurel nicht nur in der parnetischen Tradition steht oder sich nur nach der Art einer eher predigthaften „Diatribe“ dazu auffordert, ein bestimmtes Leben zu fhren. Argumente und Widerlegungen sind ein notwendiger und wich812 M. Aur. Med. 8, 32. Weitere Kapitel, in denen ein Einwand mit !kk² eingeleitet wird, sind: M. Aur. Med. 5, 1 und 36; 8, 40 (hier mit Frageformulierung); 6, 27; 8, 47; 10, 36; 12, 36 (ohne Frageformulierung). Alternativ, aber seltener, finden sich auch die Ausdrcke vgs¸ oder Usyr 1qe? (siehe 5, 6 und 28; 8, 19; 9, 40). Zum Vergleich siehe die Ausfhrungen zur Rhetorik, mit denen Epiktet auf Einwrfe oder Fragen reagiert (insbesondere dem lμ c´moito), bei Bultmann, R.: Der Stil der paulinischen Predigt und der kynisch-stoischen Diatribe, a.a.O., S. 33 f. 813 Siehe zum Folgenden ausfhrlich Kap. I 4.2. 814 Siehe M. Aur. Med. 2, 1. 815 M. Aur. Med. 10, 13 (siehe auch 3, 4; 8, 36; 10, 37).
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
203
tiger Teil der Selbstbetrachtungen und der Praxis, die im Text zum Ausdruck kommt. Zum anderen kann der Umstand, dass Marc Aurel sich Einwnden und Fragen in einem Selbstdialog stellt, erklren, warum die Einwnde dem Ursprung nach nicht zugeordnet werden. Einwnde und Fragen mssen lediglich fr ihn relevant sein. Er kann ihnen aktuell beim Schreiben begegnen, sie also direkt in therapeutischer Absicht widerlegen. Oder aber er schreibt in prophylaktischer Absicht fr den Fall, dass eine prototypische falsche berzeugung droht, sein Denken, Handeln und Fhlen zu bestimmen: Wenn du dich darber rgerst, dass du ausgerechnet dies oder jenes nicht tust, was dir gesund erscheint, warum tust du es dann nicht, statt dich zu rgern? ,Aber etwas Strkeres steht mir im Wege.‘ Darber brauchst du dich also nicht rgern. Denn der Grund dafr, dass du es nicht tust, liegt nicht bei dir. ,Aber es hat keinen Sinn zu leben, wenn man dies nicht tut.‘ Scheide also frohen Mutes aus dem Leben, wie auch derjenige stirbt, der die Tat ausfhrt, zugleich versçhnt mit dem, was sich dir in den Weg stellt.816
Dies ist ein Unterschied zu Epiktet, bei dem die von ihm vorgetragenen Dialoge oft ihren Ausgangspunkt in einem konkreten lebenspraktischen Problem einer anderen konkreten Person haben. Diese Schwierigkeit dieses einzelnen Menschen schildert Epiktet oft zu Beginn eines Kapitels.817 Das braucht Marc Aurel nicht zu tun, und so erklrt sich auch die Unmittelbarkeit, mit der er sich anspricht. Und schließlich und viel weitergehend erlaubt die besondere Schreibsituation und die praktische Absicht einen viel freieren Umgang mit dem Frage-Antwort-Schema. Denkbar wre es, dass ein Eintrag nur die Antwort auf eine drngende Frage festhlt. Wenn Marc Aurel ganz aktuell durch das Formulieren oder Schreiben einen psychologischen Effekt erzielen will, braucht er dafr nicht notwendig den Anlass zu notieren. Dies erklrt auch, warum nur in wenigen Kapiteln beide Personen des Dialoges Sprechanteile haben. Die letztgenannten Punkte verdeutlichen noch einmal, dass die dialogischen Momente, die Marc Aurel neben den platonischen Dialogen nicht nur, aber doch zu großen Teilen in Adrians Aufzeichnungen kennen gelernt hat, wegen des besonderen Umstandes, dass er in schriftlicher Form Selbstdialoge fhrt, eine spezifische Bedeutung bekommen. 816 M. Aur. Med. 8, 47. 817 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 1, 11 – 15 und 26; 2, 4 und 14; 3, 1 und 4 – 7; 4, 6 usw.
204
3. Aspekte frherer Literatur in den Selbstbetrachtungen
Bevor nun aber die Frage, in welchem Umfang und Sinn Marc Aurel selbstdialogisch schreibt, erçrtert wird, sind noch kurz weitere Stilmittel der Selbstbetrachtungen zu beschreiben, insofern sie fr Epiktet typisch sind und von denen Marc Aurel einige bernehmen wird. Die Darstellung wird aber auch den Blick fr Besonderheiten der Selbstbetrachtungen schrfen. 3.4.4 Weitere Stilmittel der sog. „Diatribe“ Die Tatsache, dass Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen viele Stilelemente verwendet, die auch fr Epiktet und andere Vertreter, die gerne zur Tradition der sog. „Diatribe“ gezhlt werden, typisch sind, ist erstens nicht berraschend und zweitens gut erforscht.818 Im Folgenden werden daher nur wichtige Beobachtungen, die im Zusammenhang mit der fr die Diatribe wesentlichen Dialogizitt stehen, skizziert. Andere rhetorische Aspekte werden in einem gesonderten Kapitel untersucht.819 In der genannten Literatur beeinflusst die Dialogizitt zunchst den Satzbau.820 Bei Epiktet handelt es sich um Lehrvortrge, also ursprnglich nicht zum Lesen bestimmte Stze, deren Struktur erstens auf die leichte Verstndlichkeit fr den Zuhçrer und zweitens die beabsichtigte praktische Wirkung abgestellt ist. Statt langer Ketten von Aussagestzen, die mit vielen Nebenstzen ein kompliziertes Gefge bilden, sind parataktische Ordnungen vorherrschend. Dies gilt fr Aussagen und Fragen: Genug mit dem jmmerlichen Leben und dem Murren und der fferei. Was beunruhigst du dich? Was ist von diesen Dingen neu? Was bringt dich aus der Fassung? Die Ursache? Schau sie dir an. Oder vielmehr der Stoff ? Schau ihn dir an. Außer diesen gibt es nichts. Aber werde auch um Gottes willen endlich einmal einfacher und besser.821
818 Siehe die wohl nicht sonderlich ergnzungs- oder korrekturbedrftigen Ausfhrungen von Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 82 – 160. 819 Siehe Kap. I 5. 820 Siehe die Forschungsergebnisse von Bultmann, R.: Der Stil der paulinischen Predigt und der kynisch-stoischen Diatribe, a.a.O., S. 14 ff. Nach der Arbeit von Dalfen siehe die grndliche Studie mit je einigen Passus zu Parataxe und Asyndeton bei Epiktet von Reiser, M.: Syntax und Stil des Markusevangeliums im Licht der hellenistischen Volksliteratur, Tbingen 1984, S. 99 ff. und 138 ff. 821 M. Aur. Med. 9, 37 (bersetzung weicht von der Nickels ab).
3.4 Die sog. „Diatribe“ und Dialogizitt
205
Parataktisch orientiert ist ferner das Verhltnis von Aussagen und Imperativen: „Beseitige die Annahme; beseitigt ist das Wort: ,ich bin geschdigt‘; beseitige das Wort ,ich bin geschdigt‘; beseitigt ist der Schaden.“822 Diese parataktischen Formulierungen kçnnen bei Marc Aurel kausa823 le, konditionale824 und konzessive Verhltnisse ausdrcken.825 Die parataktische und asyndetische Ausdrucksform ist wegen ihrer Krze daher nicht nur leicht verstndlich, sondern die Lehrstze und Imperative sind als isoliert stehende Stze besser zu memorieren. Und „ntzliche Worte“ kçnnen nur dann praktisch wirksam werden, wenn sie, anders als ein Buch, in jedem Bedarfsfalle zur Verfgung stehen, indem sie leicht aus dem Gedchtnis abrufbar sind. Im Zusammenhang mit der Dialogizitt steht ein weiteres Stilmittel, das laut Teles826 von Bion zum ersten Mal verwandt wurde: Verschiedenem wird Sprache verliehen, damit es in einen Dialog eintreten kçnnen, z. B. der Seele, dem Tod, der Phantasie, dem Kosmos, der Physis, einem Auge oder einfachen Gegenstnden.827 In erster Linie zeigt dies, dass Dialogen hier eine so zentrale Bedeutung zugemessen wird, dass die Mçglichkeit, Fragen zu beantworten oder auf Einwnde zu reagieren, mittels rhetorischer Mittel ber ein reales Maß hinaus erweitert wird. In den Selbstbetrachtungen macht Marc Aurel von diesen Mitteln verschiedenen Gebrauch. Erstens lsst er sprachlose Dinge etwas sagen.828
822 M. Aur. Med. 4, 7. Die bersetzung weicht von der Nickels ab (siehe die Ausgabe von Theiler). 823 Siehe M. Aur. Med. 2, 2. 824 Siehe M. Aur. Med. 8, 50. 825 Siehe M. Aur. Med. 8, 8. Siehe mit vielen weiteren Belegen Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 91. 826 Siehe Teles S. 6, 12 ff.; 7, 1 ff. 827 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 6, 37; 2, 18, 24; 2, 23, 20; 3, 12, 15; 3, 13, 11; 3, 14, 12; 3, 24, 42; 4, 1, 28; 4, 11, 11; Kleanthes bei Galen 5, 476; Poseidonius bei Cic. Tusc. 2, 61; Sen. de prov. 6, 9, 3; Dion 64, 14. Diese und weitere Angaben bei Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 90. 828 Siehe M. Aur. Med. 7, 15 (Gold, Smaragd oder Purpur) und ein Auge (M. Aur. Med. 10, 34).
206
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Zweitens werden natrliche Phnomene angesprochen, die (mit Ausnahme des Todes) nach stoischer Lehre beseelt und vernnftig sind, aber gemeinhin nicht Menschen zuhçren.829 Drittens spricht Marc Aurel bestimmte geistige Vermçgen an, die zu ihm selbst gehçren.830 Die letztgenannte Gruppe von Kapiteln ist besonders interessant, denn Marc Aurel fhrt hier einen Selbstdialog, in dem er „Teile“ personifiziert, um dann durch Ansprache besser auf sie einwirken zu kçnnen. Es ist wichtig festzuhalten, dass die These, bei Marc Aurel wrden seelische Vermçgen einen Dialog fhren, keine Aussage ber theoretische Bestimmungen bezglich einer Psychologie sein will. Zunchst ist damit nur die Rhetorik beschrieben. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die formalen Elemente, die zur Dialogizitt gehçren, von Marc Aurel zahlreich in der Tradition Epiktets verwendet werden, dabei bernimmt er diese jedoch nicht einfach, sondern findet besondere, eigene Formen. Am aufflligsten ist, dass Marc Aurel selbstadressiert schreibt, nmlich einen Selbstdialog. Der Frage, ob und in welchem Sinne die Selbstbetrachtungen oder Teile daraus als Selbstdialoge anzusehen sind, wird nun zu behandeln sein. Da der Selbstdialog nicht als eigenstndige Text-Gattung anzusehen ist, ist hier der Teil der Arbeit, der solche Gattungsmerkmale untersucht, abgeschlossen.
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog Durch den kurzen Vergleich zur Dialogizitt bei Epiktet wurde eine Besonderheit der Selbstbetrachtungen deutlich, nmlich der Umstand, dass Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen hufig eine besondere Form von Dialogizitt verwendet, nmlich den Selbstdialog. In vielen Texten der Antike finden wir Selbstdialoge, aber die Selbstbetrachtungen sind diesbezglich ein besonderer, vielleicht einmaliger Text. Denn hier wird der Selbstdialog weder von einer dramatischen Person gefhrt, die vom Autor unterschieden ist, noch vom Autor zu Demonstrationszwecken fr andere Personen in den Text eingebaut.
829 Siehe M. Aur. Med. 4, 23 (Kosmos); dann M. Aur. Med. 4, 23 und 10, 14 (Natur) und ein etwas anderer Fall: den Tod (M. Aur. Med. 9, 3). 830 Siehe M. Aur. Med. 2, 6 und 10, 1 (die eigene Seele); dann M. Aur. Med. 7, 17 (die eigene Phantasie).
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
207
Die Frage, ob und wie weitgehend ein vorrangig selbstaddressiertes Schreiben, also Verbalisieren und Abfassen von Texten, auch als Selbstdialog zu werten ist, wird im spteren Kapitel zum Schreiben mit untersucht.831 In diesem Kapitel geht es um einen ganzen Komplex an Fragen, der nicht leicht unter einen Titel zu bringen ist: Gibt es Selbstdialoge vor Marc Aurel? Wenn ja, was ist der Unterschied zwischen diesen Selbstdialogen in den Literatur vor Mar Aurel und den Selbstbetrachtungen? Welche Formen von Selbstdialogen gibt es in den Selbstbetrachtungen? Welche Bedeutungen und Funktionen verbinden sich damit? Reflektiert Marc Aurel ber seine Selbstdialoge? Kçnnen die Selbstbetrachtungen als Ganzes als Selbstdialog bezeichnet werden, und wenn ja, in welchem Sinn, oder sind es nur einige Kapitel, und wenn ja, welche? Gibt es verschiedene Arten oder Bedeutungen von Selbstdialogen in den Selbstbetrachtungen? Gerade die Beantwortung der ersten beiden Fragen verdient Aufmerksamkeit. Ihre Beantwortung stçßt aber auf grundstzliche Schwierigkeiten, denn weder die Begrifflichkeiten noch die Geschichte der Selbstdialoge vor Marc Aurel sind hinreichend erforscht. Dies gilt in besonderem Maße fr den reichen Bestand an philosophisch relevanten Formen und Funktionen des Selbstdialoges und die dahinter stehenden theoretischen Annahmen. Eine solche Geschichte der Theorien und Praktiken des philosophischen Selbstdialoges kann hier nicht prsentiert werden. Dennoch sind vor der Untersuchung der Selbstbetrachtungen einige Vorarbeiten zu leisten. Nach einer kurzen Bestimmung der Begrifflichkeiten und einer Problematisierung ihrer Anwendung im antiken Kontext werden die ersten Selbstdialoge in der Dichtung bei Homer und die Bedeutung des Selbstdialoges in der Philosophie, genauer: in der Theorie der rçmischen Stoiker, herangezogen, um die Formen, Elemente und Bedeutungen des Selbstdialoges bei Marc Aurel vor diesem Hintergrund besser einschtzen zu kçnnen.
831 Siehe Kap. I 6 und besonders I 6.4.
208
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen 4.1.1 Die Begrifflichkeiten: Monolog, Selbstgesprch und Selbstdialog Die Ausdrcke „Monolog“ und „Selbstgesprch“ oder „Selbstdialog“ tauchen im Deutschen erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf,832 vorher sind sie zumindest in Lexika nicht verzeichnet. Die Termini werden nahezu ausschließlich zur Erçrterung von Bhnenphnomenen und entsprechenden Texten verwandt. Dabei wurde vorrangig diskutiert, ob Bhnenmonologe die „Handlung aufhielten“,833 Ausdruck einer hçchst gespannten Leidenschaft sind834 oder fr das Drama wichtige „laute Atemzge der Seele“ (M. Hebbel) seien. Dieser auf den Theaterbetrieb konzentrierte Anwendungsbereich wird noch bei Hegel deutlich, fr den der Monolog „eine echt dramatische Stellung“835 hat. Insofern die Begriffe „Monolog“ und „Selbstgesprch“ neuzeitlich sind, ist ihre Verwendung in einem antiken Kontext aus verschiedenen Grnden problematisch oder zumindest erklrungsbedrftig: (i) Der Terminus „Monolog“ wird etwa um 1500 als Gegenstck zum „Dialog“ eingefhrt, um verschiedene Techniken im Drama zu kennzeichnen, er meint eine „Alleinrede“. Eine Alleinrede wiederum kann durchaus dialogisch sein. Und oft redet dort jemand fr sich allein, mit sich selbst ber sich selbst, so dass eine gewisse Nhe zur Autobiographie konstatiert wurde. In diesem Sinne wre das Selbstgesprch eine besondere Form der Alleinrede, aber nicht, wie der grzisierende Ausdruck „Monolog“ suggeriert, der Oppositionsbegriff zu Dialog. (ii) Christliche Vorlufer dieses spteren Monolog-Begriffs bezeichnen seit der Patristik noch eine andere Form als Monolog, nmlich das Gebet, das wiederum als Alleinrede, aber nicht als Selbstdialog aufgefasst werden kann. Mit lomokºcistor wird vorrangig der christliche Einsiedler bezeichnet, der sich nur dem Gebet widmet.836 Das Gebet kann 832 Siehe Dsel, F.: Der dramatische Monolog in der Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Hamburg 1897 (Neudruck 1977), S. 7 – 12. 833 Engel, J. J.: ber Handlung, Gesprch und Erzhlung, Stuttgart 1964 (Faksimile der Ausgabe von 1774, hg. von E. T. Voss), S. 52 f., 228 f. 834 Siehe Sonnenfels, J. v.: Briefe ber die Wienerische Schaubhne, Wien 1768, S. 649 f. 835 Hegel, G. W. F.: Vorlesungen ber die sthetik, Die Poesie, Frankfurt a. M. 1971, S. 278. 836 Siehe die Belegsammlung bei Asmuth, B.: Art. „Monolog“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tbingen 2001, S. 1458 – 1476, hier: S. 1459.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
209
als Ansprache, die monologisch bleibt, verstanden werden, aber ebenso als Dialog.837 Beide Varianten dieser Monologform sind damit vom Selbstdialog unterschieden. Dennoch ist die Verwendung des Begriffspaares Monolog – Dialog im Rahmen der neuzeitlichen Untersuchungen von Dramen sinnvoll, wird doch so unterschieden, ob sich zwei Personen auf der Bhne miteinander unterhalten (Dialog) oder eben eine spricht (Monolog oder Alleinrede). Dies fhrt zum nchsten Punkt. (iii) Gerade weil die Begrifflichkeiten im Kontext des Dramas entwickelt wurden, wre zu erwarten, dass sie zumindest fr die Beschreibung des antiken Theaters gewinnbringend eingesetzt werden kçnnen. Fr Leo gibt es Monologe im eigentlichen Sinne nur als Prolog, weil danach mit der Anwesenheit des Chores die fr einen Monolog erforderliche Einsamkeit des Sprechenden auf der Bhne nicht mehr gewhrleistet sei. Alles andere fasst Leo als „Monolog-Surrogate“838 auf. Erst die Neue Komçdie, so Leo, entfalte den Monolog. Diese Position, die den Prolog bei Euripides zum Maßstab fr den Monolog macht, ist kritisiert worden, weil das Kriterium der Einsamkeit auf der Bhne zu technisch, zu ußerlich sei. Entscheidend, so etwa Heintze, sei vielmehr die „seelische Haltung“.839 Und fr Schadewaldt muss die Einsamkeit vor allem Signum der Redeform selbst sein, „denn nur dann ist die ußere Einsamkeit ein wesentliches Moment des Monologes“. Fr ihn gibt es daher auch in der Tragçdie Monologe, die er allerdings nur formal untersucht. (iv) W. Schadewaldt identifiziert Monolog und Selbstgesprch im antiken Drama.840
837 Auch Anselms Monologion steht mutatis mutandis in dieser Tradition und bildet zugleich eine Ausnahme. 838 Siehe Leo, F.: Der Monolog im Drama. Ein Beitrag zur griechisch-rçmischen Poetik (Abhandlungen der kçniglichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Gçttingen. Philologisch-Historische Klasse, Neue Folge, Band X), Berlin 1908, S. 6, 26 und 35. 839 Heinze, R.: Ovids elegische Erzhlung, Leipzig 1919, S. 122. 840 Siehe Schadewaldt, W.: Monolog und Selbstgesprch. Untersuchungen zur Formgeschichte der griechischen Tragçdie, Berlin 1926, S. 5; siehe auch Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 79, Anm. 3.
210
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Anders als B. Wehner konstatiert, ist bei Schadewaldt keine Unterscheidung auszumachen, „denn Monolog und Selbstgesprch sind ein und dasselbe“. Nicht nur unter Bercksichtigung des oben bereits genannten Umstandes (i), dass der „Monolog“ als Gegenbegriff zum „Dialog“ erst in der Neuzeit gebildet wurde, ist kritisiert worden, dass es sich bei einer solchen Bezeichnung um einen Anachronismus handele.841 Denn das, was Monolog genannt wird, hat in der Antike nicht nur keinen eigenen Namen,842 sondern ist im antiken Drama gar keine Alleinrede. Die Einsamkeit ist weder innerlich noch ußerlich gegeben, da es sich um eine an das Publikum gerichtete Rede handele.843 (v) Schließlich ist generell problematisch, dass die neuzeitlichen Termini zur Beschreibung und Klassifizierung von Bhnenphnomenen entwickelt und lange nur dafr verwandt wurden. Obschon Schleiermacher einige seiner Abhandlungen „Monologe“ nennt und Nietzsche nur zwei Knste kennt, die alles schaffen, die monologische Kunst oder die „Kunst vor Zeugen“, bleibt die Verwendung fr nicht fiktionale Texte die Ausnahme. Dabei ist ferner auffllig, dass der „Monolog“ und mehr noch das Monologisieren in der Regel negativ bewertet wird, whrend ein „Selbstgesprch“, wenn es gerade nicht laut in der ffentlichkeit gefhrt wird, positiver angesehen ist.844 Demgegenber scheinen (laute) Selbstdialoge ein in der Antike nicht unbliches Phnomen zu sein. In Bezug auf Homer wurde dies schon frh festgehalten: Das wichtigste ist, dass sie (die Monologe; M.v.A.) ausdrcklich als Reden bezeichnet werden, dass das Epos seinen Helden in einsamer berlegung, Verwunderung, Klage laut sich selber reden lsst. Dafr gibt es nur eine Erklrung. Der Grieche sprach, wenn er lebhaft empfand oder nachdachte, auch mit sich selber; wenigstens war ihm das nichts Fremdes; der Monolog, den der Dichter in Gefahr und Affekt einfhrte, war ihm, wenigstens dem ionischen
841 Diese Kritik findet sich mit weiteren Belegen bei Asmuth, B.: Art. „Monolog“, a.a.O., S. 1462. 842 Siehe Mannsberger, B.: Die Rhesis, in: Jens, W. (Hg.): Die Bauformen der griechischen Tragçdie, Tbingen 1971, S. 143 – 182; siehe zuvor schon Leo, F.: Der Monolog im Drama, a.a.O., S. 114. 843 Siehe Quint. Inst. 6, 4, 1 – 3; 2, 20, 7. 844 Angaben und weiteres reiches Material bei Asmuth, B.: Art. „Monolog“, a.a.O.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
211
Griechen, etwas Natrliches, aus dem um ihn her Gelufiges. Nur so konnte der Monolog ins Epos und sonst in die Dichtung gelangen.845
In spterer Zeit werden Selbstdialoge nicht nur in schwerer zugnglichen philosophischen Texten empfohlen, sondern auch auf çffentlichen Pltzen wird dazu geraten.846 Die Verwendung der Ausdrcke „Monolog“ und „Selbstgesprch“ im antiken Kontext ist demnach keineswegs unproblematisch. Fr die hiesigen Belange empfiehlt sich daher der przisere Ausdruck „Selbstdialog“. Im vorherigen Kapitel zur sog. „Diatribe“ wurde bereits deutlich, dass Marc Aurel einen Dialog mit sich selbst fhrt. Ein Monolog muss nicht notwendig dialogische Momente enthalten und ein Monologisierender spricht nicht notwendig mit sich und ber sich selbst. All dies ist im Falle der Selbstbetrachtungen jedoch gegeben, sogar der Umstand, dass Marc Aurel um seiner selbst willen mit sich redet. Auch diese spezifische Form hat Vorlufer und ist besonders eindringlich von philosophischer Seite thematisiert worden. Um die Selbstbetrachtungen als Selbstdialog verstehen und einschtzen zu kçnnen, ist es hilfreich, sich zunchst den ersten Selbstdialogen bei Homer und dann philosophischen Thematisierungen des Selbstdialogs in der rçmischen Stoa zuzuwenden.
845 Schadewaldt, W.: Monolog und Selbstgesprch. Untersuchungen zur Formgeschichte der griechischen Tragçdie, a.a.O., S. 4. 846 Eine Inschrift von Diogenes auf dem Marktplatz von Oinoanda lautet entsprechend (siehe Diogenes of Oinoanda, The Epicurean Inscription, Neapel 2003 (ed., transl. and notes by M. F. Smith); Clay, D.: The Philosophical Inscription of Diogenes of Oinoanda: New Discoveries 1969 – 1983, in: ANRW 2, 36, 4, Berlin/ New York 1990, S. 3231 – 3232; ders.: A Lost Epicurean Community, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 30 (1989), S. 313 – 335). Diese Einschtzung ist durch die jngsten Funde in Oinoanda als vorlufig und evtl. berholt einzustufen. Noch aber sind keine Ergebnisse publiziert. Herrn Jrgen Hammerstaedt danke ich fr ausfhrliche Gesprche und Hinweise in dieser Sache. Seneca erwhnt Marcus Agrippa (siehe Ep. 94, 46) und Cassius Dio Thrasea Paetus (siehe Ep. 61, 15, 4). Zu diesen (und anderen) Fllen siehe Erler, M.: Einbung und Anverwandlung. Reflexe mndlicher Meditationstechnik in philosophischer Literatur der Kaiserzeit, in: Kullmann, W./Althoff, J./Asper, M. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1988, S. 361 – 381.
212
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
4.1.2 Erste Selbstdialoge bei Homer Aus Homers Ilias sind vier Selbstdialoge berhmt geworden. Hinzu kommt eine ebenfalls vieldiskutierte Passage aus der Odyssee, in der der Titelheld mit sich selbst spricht.847 Diese Passagen haben betrchtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wobei sie vorrangig unter dem Gesichtspunkt betrachtet worden sind, wie sich die Protagonisten bei Homer fr ein bestimmtes Verhalten entscheiden.848 Andere Kommentatoren sehen in ihnen, wohl zu Recht, Vorlufer dessen, was sie in spteren Theaterstcken „Monologe“ nennen, aber sie untersuchen sie nicht als davon unabhngiges Phnomen.849 In Bezug auf Marc Aurel sind die genannten Passagen bis dato aber noch nicht betrachtet worden oder vielmehr: fr die Interpretation der Selbstbetrachtungen wurden diese ersten Selbstdialoge noch nicht herangezogen. Von Interesse sind zunchst formale Aspekte: Wie redet eine einzelne Person mit sich selbst? Anhand der Analyse der Dialogstruktur im vorherigen Kapitel zu Elementen der der sog. „Diatribe“ wurde bereits klar: Noch vor den rhetorischen Mitteln im Selbstdialog ist also zu klren, wie der Selbstdialog und das ihn konstituierende Selbstverhltnis zustande kommen. 847 Odysseus (Hom. Il. 11, 404 – 410), Menelaos (Hom. Il. 17, 91 – 105), Agenor (Hom. Il. 19, 533 – 570), Hektor (Hom. Il. 22, 99 – 130) und wieder Odysseus (Hom. Od. 20, 18 – 21). Es handelt sich hier um ausgesprochene, d. h. explizit vorgetragene Selbstdialoge mit Selbstadressierung. Leo unterscheidet sie von zwei weiteren Arten von „Monolog“-Formen: „Zwischen den homerischen Typen der stillen berlegung und des Selbstgesprchs ist also der Unterschied nur graduell: die Unterhaltung mit dem hulºr kann ohne Worte erfolgen; laut ist sie nur, wenn der Dichter die Worte mitteilt. Daneben fanden wir einen dritten Typus, die Anrede an einen Gott, die entweder als solche durchgefhrt ist oder mit dem Anruf beginnend wie eine einsame Rede verluft.“ (Leo, F.: Der Monolog im Drama, a.a.O., S. 6). Diese Unterscheidung ist aber problematisch, da Selbstdialog und Gebet, insofern es eine Anrede an eine weitere Person (hier eine Gottheit) einschließt, zu unterscheiden sind. 848 Siehe z. B. Sharples, R. W.: „Why Has My Spirit Spoken With Me Thus?“ Homeric-Decision-Making, in: Greece and Rome 30 (1983), S. 1 – 7; Gaskin, R.: Do Homeric Heroes Make Real Decisions?, in: Classical Quarterly 40 (1990), S. 1 – 15; Williams, B.: Shame and Necessity, Berkeley 1993, Kap. 2; Gill, Ch.: The Divided Self, a.a.O., Kap. 1. 849 Siehe Leo, F.: Der Monolog im Drama, a.a.O. und Schadewaldt, W.: Monolog und Selbstgesprch, a.a.O.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
213
Wie kommt es zum Selbstdialog? Redet eine Person mit sich selbst wie mit einer anderen Person? Spricht sich die Person als Ganzes als „Du“ an, oder kommunizieren einzelne Seelenvermçgen? Wie gestaltet sich diese Verbalisierung? Diese Fragen weisen auch bereits ber die formale Ebene hinaus, da sie das Selbstverstndnis des Redenden betreffen. Jede Rede sagt etwas ber den Redenden aus. Wie und mit welchen Mitteln jemand zu sich dialogisierend in ein Verhltnis tritt, ist jedoch aussagekrftiger. Dies gilt umso mehr, wenn jemand mit sich selbst ber sich selbst spricht. Hinweise fr Selbstkonstitution und -konzeption erlauben diese homerischen Selbstdialoge auch, weil in ihnen Grundlagen praktischer Entscheidungen der Helden zutage treten. Obschon letzteres nicht im Fokus der hiesigen Untersuchung liegt, soll hier der Ausgangspunkt gewhlt werden, zumal sich die Forschung auf diese Frage konzentriert hat. Grundstzlich wurde bestritten, dass die dramatischen Personen bei Homer berhaupt in der Lage seien, praktische Entscheidungen zu treffen oder dies nach unseren Maßstben tun kçnnen. Fr Bruno Snell, Christian Voigt und nach ihnen A. W. H. Adkins treffen die homerischen Helden zwar Entscheidungen, jedoch seien es keine persçnlichen und eigenen Entscheidungen. An den Argumenten ist hier eine von ihnen gemachte Voraussetzung interessant, die das Verhltnis von Selbstdialog und Selbstvorstellung betrifft: Snell und Adkins nehmen an, eine persçnliche und eigene Entscheidung erfordere, dass der Entscheidungstrger erstens ein einheitliches „Ich“ hat, das die Entscheidung trifft und, sich zweitens bewusst ist, dass dieses „Ich“ den Willensakt oder die Entscheidung vollzieht. Genau das fehle den Personen bei Homer. Sie wrden entweder ihren hulºr entscheiden lassen, oder es handele sich gar nicht um einen Willensakt, da die Entscheidung durch etwas ußeres bestimmt werde. Daraus folge, dass es sich um keine eigenen und persçnlichen Entscheidungen handele, außerdem werde so die ethische Qualitt der Entscheidung gemindert. Sie wrden z. B. kantianische Kriterien nicht erfllen, weil keine universalen Gesetze, sondern individuelle und subjektive Erwgungen den Ausschlag gben.850 850 Siehe Voigt, Ch.: berlegung und Entscheidung. Studien zur Selbstauffassung des Menschen, Berlin 1943; Snell, B.: Aischylos und das Handeln im Drama, in: Philologus Supplementband 20 (1928), S. 1 – 164, hier: S. 63 ff.; ders.: Das Bewusstsein von eigenen Entscheidungen im frhen Griechentum, in: Philologus 85 (1930), S. 141 – 158, hier: S. 144, 150; ders.: Die Entdeckung des Geistes, 4. Aufl., Gçttingen 1975, hier: Kap. 1 und Adkins, A. W. H.: Merit and Responsibility: A Study of Greek Values, Oxford 1960 und ders.: From the Many to the
214
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Wie bereits andere vor ihm851 hat Ch. Gill in einer besonders ausfhrlichen und bemerkenswerten Analyse der relevanten Passagen vor allem die Interpretation von Snell und Adkins kritisiert und eine Alternative vorgestellt.852 Zunchst besttigt er die Auffassung, bei Homer (und in der gesamten Antike) kmen Auffassungen von praktischen Entscheidungen zum Ausdruck. Er wendet sich aber erstens gegen die hegelianisch-progressivistische These, dass die cartesianische Vorstellung von einem unabhngigen „Ich“ und die kantianische Bedeutung des Willens fr die Ethik fortgeschrittene und bessere Konzepte seien. Zweitens argumentiert er dafr, dass diese spteren Konstrukte keine adquate Erklrung der antiken Texte ermçglichen und so drittens ein anderer Ansatz herangezogen werden muss, um die Eigenheit und Qualitt der antiken Vorstellung zur Geltung zu bringen.853 Gills eigener Entwurf kann hier weder fr die Antike oder auch nur fr Homer umfassend beschrieben und aufgegriffen werden,854 zumal hier keine eigenstndige Homer-Interpretation vonnçten ist. Bemerkenswert ist vielmehr, dass Gill zwar wenig Interesse fr die Selbstdialoge als Selbstdialoge hat, zugleich aber einige Argumente prsentiert, die im Hinblick auf die im hiesigen Kapitel interessierende Bedeutung der formalen Aspekte eines Selbstdialoges instruktiv sind, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens kann auf seine Analyse der frhen Selbstdialoge in der griechischen Literatur rekurriert werden, um etwas Grundstzliches ber die Bedeutung der Form des Selbstdialoges zu sagen. Zweitens werden so die entscheidenden Kriterien fr die Untersuchung der Selbstbetrachtungen als Selbstdialog heraus zu arbeiten sein. Mit anderen Worten: Ziel der nun folgenden berlegungen ist der Nachweis, dass einige von Gills Argumenten, obschon er den Selbstdialog
851 852 853
854
One: A Study of Personality and Views of Human Nature in the Context of Ancient Greek Society, Values and Beliefs, London 1970, hier z. B.: S. 24 und 195. Siehe Gaskin, R.: Do Homeric Heroes Make Real Decisions?, a.a.O.; Williams, B.: Shame and Necessity, a.a.O., S. 35 f., 41 f. Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, The Self in Dialogue, Oxford 1998, Kap. 1 – 3. Siehe ebd., S. 34 – 47. Gill sttzt sich dabei auch auf moderne Kritiken an den genannten Vorstellungen von „Ich“ und „Wille“, wie Taylor, Ch.: Hegel, Cambridge 1977; Smith, P./Jones, O. R.: The Philosophy of Mind. An Introduction, Cambridge 1986; Wilkes, K. V.: Real People: Personal Identity without Thought Experiments, Oxford 1988, Kap. 6. Nach „Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy“ (Oxford 1996) hat er seine Untersuchung des antiken „objective-participant“-Konzeptes in „The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought“ (Oxford 2006) auf das Gebiet der epikureischen und stoischen Philosophie konzentriert.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
215
nicht grundlegend vom interpersonalen Dialog unterscheidet, hilfreich sind, um genau diese Bedeutung der Unterschiede besser zu erfassen, darzustellen und zu bewerten. Gills Begrndung, warum die Selbstdialoge wegen ihrer Form fr ihn keinerlei besondere Beachtung verdienen, ist instruktiv, da sie ins Zentrum der hier interessierenden berlegungen fhren: I do not select them for special attention … I take it that the patterns of practical reasoning expressed in the monologues can also be found in collective deliberation, in dialogues between human beings, between god or … between human being and god. Also, as I bring out, the monologues represent in different ways, an internalisation of the content and patterns of interpersonal discourse. I focus on the four dialogues855 because they constitute a limited sample of Homeric deliberation …. of practical reasoning and ethical motivation.856
Der Dialog einer Person mit sich selbst ist fr Gill nur wenig von seiner interpersonalen Variante unterschieden. Fr ihn ist dieser interpersonale Dialog wegen verschiedener Aspekte von großem Interesse. Seine Thesen lauten: Erstens ist interpersonale Dialogizitt fr ihn ein zentrales Moment der Ethik, und zwar (i) als Mittel, um eine ethische Entscheidung zu erzielen. (Auf die Dialogizitt als Medium der praktischen berlegung wird noch gesondert und ausfhrlich einzugehen sein). Ferner (ii) ist die interpersonale Kommunikation selbst ein Kriterium fr die ethische Qualitt der Entscheidung und ist somit nicht nur ein formaler, sondern ein inhaltlicher Gesichtspunkt. Gut gesttzt durch eine Vielzahl bestehender Interpretationen antiker Ethik und davon unabhngiger moderner Theorien,857 zeigt 855 Gemeint sind die genannten Selbstdialoge in der Ilias. 856 Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 46 f. 857 Siehe zum Unterschied der kantischen und der antiken Vorstellung Williams, B.: Problems of the Self: Philosophical Papers, London 1973, S. 225 – 9; ders.: Ethics and the Limits of Philosophy, a.a.O., S. 140 – 5. Zur Bedeutung des „sozialen Rahmens“ siehe MacIntyre, A.: After Virtue, 2. Aufl., London 1985, Kap. 4 (S. 43 – 7) und Kap. 15; ders.: Whose Justice? Which Rationality?, London 1988. (Die Bedeutung des „sozialen Rahmens“ im Vergleich zur Moderne beurteilt MacIntyre in diesen Arbeiten etwas unterschiedlich. Fr detaillierte Bezugnahmen und Kritik dazu Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 62 f. und 433 f.) Fr die Bedeutung des sozialen Netzwerkes fr unsere ethischen Einstellungen und Gefhle siehe Strawson, P. F.: Freedom and Resentment, in: ders.: Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 1 – 25. Fr das Verhltnis von Selbstverstndnis und der çffentlichen Sphre, bzw. den dort lokalisierten zwischenmenschlichen Dialogen, siehe Taylor, Ch.:
216
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Gill, dass es Anliegen der homerischen Helden ist, nicht durch das Befolgen universaler moralischer Gesetze, sondern durch den Dialog (mit sich und anderen) ihren Platz in der Gesellschaft, also im Geflecht der interpersonalen Beziehungen, zu finden. Und wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft und des Platzes, den eine Person einnimmt, ist der çffentliche Diskurs oder Dialog.858 Damit ist bereits der zweite Aspekt berhrt. Zweitens sind die die sozialen Verbindungen konstituierenden interpersonalen Dialoge auch ein wichtiger Bezugspunkt fr das Selbstverstndnis einer einzelnen Person. Dieser These zufolge bestimmt ein Mensch sich als solcher, indem er seine Stellung im sozialen Dialog durch Teilnahme erfhrt. Das Selbstverstndnis des Menschen wre demnach nicht ohne Dialogizitt vorstellbar. Dieser These liegt auch Gills grundstzlich anticartesianische Interpretation von „Selbst“ und „Person“ zugrunde, „the idea of the mind as a complex of functions (engaged in ‘dialogue’, or communication, with each other) rather than as a unitary and self-conscious ‘I’“.859 Problematisch ist, wie sich gleich zeigen wird, dass die letztgenannte These, der Mensch erfahre sich durch einen Dialog seiner verschiedenen Teile, den Unterschied zwischen der Form des Selbstdialoges und der eines Dialoges zwischen Personen strker macht, als dass er, wie Gill es tut, nur fr graduell gehalten werden kann. Fr ihn scheint die Selbstkonstitution durch einen internen Dialog nur eine Variante des interpersonalen Dialoges, die heuristischen Wert hat, aber nicht grundstzlich davon abgesetzt zu werden braucht. Entsprechend interpretiert er auch andere Selbstdialoge in der frhen griechischen Literatur (oder große Teile derselben) als interpersonale Dialoge, so etwa eine Rede von Achilles in der Ilias,860 dann vor allem die Ajax-Rede im gleichnamigen Stck von Sophokles861 und den
858 859 860 861
The Person, in: Carrithers, M./Collins, S./Lukes, S. (Hg.): The Category of the Person: Anthropology, Philosophy, History, Cambridge 1985, S. 257 – 281, hier: S. 274 – 8; ders.: Sources of the Self: The Making of Modern Identity, Cambridge 1989, Kap. 2 (S. 35 – 40). Eine von Gill ebenfalls rezipierte Zurckweisung der Thesen von Snell und Adkins findet sich bei Williams, B.: Shame and Necessity, a.a.O., S. 4 – 11. Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 62 – 5. Ebd., S. 59. Siehe Homer Il. 9, 645 – 8. Siehe Soph. Aj. 646 – 92. Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 205.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
217
berhmten Selbstdialog von Medea bei Euripides.862 In allen drei Fllen wrden sich die Sprechenden wenigstens zu einem guten Teil mit den Erwartungen oder Positionen anderer Personen auseinandersetzen oder an andere (wenn auch abwesende Personen) gerichtet sprechen.863 Diese Interpretation besttigt, dass es sich bei einigen der Flle und Passagen um Monologe, also Alleinreden, aber nicht notwendig um SelbstDialoge handelt. Bevor der Bedeutung der Form eines Selbstdialoges im Unterschied zum interpersonalen Dialog nachgegangen wird, ist zu erlutern, dass die beiden gerade genannten Aspekte – die Bedeutung der Dialogizitt fr praktische und ethisch relevante Entscheidungen (i) und deren Bedeutung fr die Selbstkonstitution und -konzeption (ii) – in enger Verbindung stehen. Dieser Konnex zeigt sich u. a. bei der Entscheidungsfindung (ia). Eine solche Relation ist schon deswegen zu vermuten, weil es in allen Selbstdialogen in der Ilias darum geht, berlegungen fr eine dringliche Handlung anzustellen.864 Und sie enthalten zumindest Anstze fr bergeordnete Rationalitt, die sich darauf bezieht, wie solche Entscheidungen zu treffen sind. Dass sich die Selbstdialoge als Ausdruck von praktischen Folgerungen inklusive Angabe von handlungsentscheidenden Grnden interpretieren lassen,865 setzt die grundlegendere Annahme voraus, dass die homerischen Protagonisten berhaupt einen gengend großen Spielraum fr solche Handlungsentscheidungen haben. Genau das wurde bestritten, da die ethischen Normen bei Homer ein quasi deterministisches System bilden wrden.866 Dagegen wurde plausibel eingewandt, dass die Ilias als Ganzes von kontingenten Werten und dem Streit um die entsprechenden Handlungsoptionen strukturiert werde und
862 Siehe Eur. Med. 1021 – 80. Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 216. 863 Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., Kap. 3.3 – 3.5. 864 Zum Zusammenhang von praktischer berlegung und Selbstdialog bei Homer siehe bereits Dodds, E. R.: The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951, S. 16. 865 Zumindest angemessener als durch den Versuch von Voigt, Snell und Adkins, die sie als Ausdruck eines selbstbewussten und unabhngigen Willens verstehen, dessen ethischer Wert an der Autonomie eines am universalen Gesetz orientierten Willens gemessen wird. 866 So Finlay, M. I.: The World of Odysseus, Harmondsworth 1954, S. 132 – 4. In Anlehnung daran: MacIntyre, A.: After Virtue, a.a.O., S. 122 – 130.
218
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
eben davon handele.867 Konkrete Besttigung findet diese Einschtzung durch den Umstand, dass die vier Selbstdialoge Entscheidungsfindungen beschreiben, die sich auf ganz hnliche Situationen und Optionen (Kampf und mçglicher Tod vs. schamvoller Flucht) beziehen, wobei die verschiedenen Helden jedoch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Festzuhalten ist, dass die Form des Selbstdialoges seit ihren Anfngen mit Deliberation verbunden ist. Der Selbstdialog ist eine besondere verbale Form der Einflussnahme eines Menschen auf seinen eigenen Verfgungsbereich. Exemplarisch868 kann der krzeste der vier Selbstdialoge, der von Odysseus, herangezogen werden: Bekmmert sprach er zu seinem stolzen Herzen: Wehe, was wird mir geschehen? Es wird sehr schlecht, wenn ich fliehe, von der Anzahl erschrocken. Aber es wre noch schrecklicher, wenn sie mich hier alleine finden, jetzt wo Kronion die anderen Danaer verscheuchte. Aber warum diskutiert mein Herz das mit mir? Ich weiß, dass es feige ist, dem Kampf auszuweichen, aber wer sich als Bester in der Schlacht zeigt, der muss standhalten, ob er nun trifft oder getroffen wird.869
867 So generell Schofield, M.: Eubolia in the Iliad, in: Classical Quarterly, NS 36 (1986), S. 6 – 31. Speziell gegen MacIntyre siehe Williams, B.: Ethics and the Limits of Philosophy, a.a.O., S. 220, Anm. 7. 868 Dieser Selbstdialog von Odysseus unterscheidet sich nur in einem Aspekt von den anderen: Scham wird – trotz vieler anderslautender bersetzungen – nicht erwhnt. Die Differenz wiegt aber nicht schwer, denn die Scham-Vorstellung kann auch internalisiert wirken, so dass eine Handlungsoption mehr oder minder unbewusst und ohne explizite Verwendung des Schambegriffes danach beurteilt wird, wie die anderen Gesellschaftsmitglieder sie in dieser Hinsicht beurteilen (siehe Williams, B.: Shame and Necessity, a.a.O., S. 81 – 8; Cairns, D. L.: Aidos: The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993, S. 15 – 8; Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 75). 869 Hom. Il. 11, 403 – 410. Auf die vielen Aspekte des Textes und der bersetzung, die in uferlosen Forschungskontroversen erçrtert werden, kann hier unmçglich eingegangen werden. Stattdessen eine griechische Version: awh¶sar d’ %qa eWpe pq¹r dm lecak¶toqa hulºm7 ¥ loi 1c½ t¸ p²hy. l´ca l³m jaj¹m aU je v´bylai pkgh»m taqb¶sar7 t¹ d³ N¸ciom aU jem "k¾y loOmor7 to»r d’ %kkour Damao»r 1vºbgse Jqom¸ym. !kk± t¸ E loi taOta v¸kor diek´nato hulºr. oWda c±q ftti jajo· l³m !po¸womtai pok´loio, dr d´ j’ !qiste¼,si l²w, 5mi t¹m d³ l²ka wqe½ 2st²lemai jqateq_r, E t’ 5bkgt’ E t’ 5bak’ %kkom
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
219
Diese Selbstansprache von Odysseus verdeutlicht nicht nur wegen ihrer Krze die gemeinsame Struktur aller Selbstdialoge besonders gut: (i) Nach dem einleitenden Satz, der berall identisch ist, folgt (ii) die Nennung von Handlungsoptionen inklusive entsprechender Folgen. (iii) Auch die Frage, warum der Thymos ein solches Gesprch fhrt, ist in allen Selbstdialogen wortgleich. Die Erçrterung der Handlungsvarianten wird (iv) fortgesetzt (teilweise mit Bezug zu allgemeineren Prinzipien), um dann zu einer Entscheidung zu gelangen. Praktische Entscheidungen werden hier aufgrund von Zweck-Mittel Erwgungen getroffen. Daneben finden sich auch Erwgungen, bei denen eine Handlung unter eine allgemeine Verhaltens-Regel subsumiert wird. Dieses Subsumptionsmodell wird jedoch nie kantianisch, hier: kategorisch, sondern ist auf das Abwgen der Folgen verschiedener Handlungsmçglichkeiten bezogen und bleibt damit hypothetisch.870 Es lsst sich gleichzeitig als „second order reasoning“ verstehen. Damit ist eine allgemeine Reflexion ber das, was grundlegende Gter und Ziele fr den Menschen sind, gemeint.871 Die Selbstdialoge enthalten jedoch keine Erçrterung ber die Prinzipien und Methoden der Entscheidungsfindungen, die in ihnen zum Ausdruck kommen. In diesem speziellen Sinne stellen sie keine berlegungen hçherer oder anderer Ordnung dar. Die Frage, wann eine Reflexion ber die praktisch-rationalen Aspekte des Selbstdialoges einsetzt, wird im nchsten Unterkapitel behandelt. Besonders die rçmischen Stoiker haben eine Theorie des Selbstdialoges entwickelt, diese aber nicht in einem Selbstdialog ausgedrckt. Erst bei Marc Aurel verbinden sich Handlungsentscheidungen, Selbstdialog und Reflexion ber Selbstdialog und Handlungsentscheidungen zu einer Einheit. Homer lsst einen seiner Helden mit sich selbst reden. Es ist nicht Homer selbst, der ein Selbstgesprch fhrt, indem er etwas schreibt. Die Analyse der homerischen Entscheidungen kann, wie Gill gezeigt hat, im Lichte des aristotelisch-stoischen Modells872 der praktischen
870 Siehe etwa Hom. Il. 11, 409 – 10; 17, 98 – 9. 871 Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 94 und Kap. 6.3. 872 Zum Zusammenhang bzw. der hnlichkeit des aristotelischen und stoischen Modells von praktischen Entscheidungen siehe bereits Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985, Kap. 1 und 2.
220
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
berlegung vollzogen werden und zeigt berraschende bereinstimmungen mit diesem.873 Ohne die Entsprechungen mit diesem Modell hier im Detail schildern zu kçnnen, lsst sich vor dem Hintergrund moderner Theorien Folgendes sagen:874 Erstens und ganz allgemein gesprochen, wird hier eine Handlung durch Grnde und Bestrebungen des Agenten erklrt und nicht durch das, was ihm selber bewusst ist. Zweitens bestehen die Entsprechungen zum aristotelisch-stoischen Modell vor allem darin, dass die praktische berlegung formal als Dialog875 und inhaltlich durch die Zustimmung oder Ablehnung gegenber Urteilen bestimmt ist. Drittens lsst sich – wieder in bereinstimmung mit modernen Theorien876 – annehmen, dass diese Urteile, die im Zusammenhang mit der Motivations- und Handlungserklrung herangezogen werden, genau den mentalen Vorgngen entsprechen, die bei einer Entscheidung eine Rolle spielen, die also Motivation, Entscheidung und Handlung erklren und z. T. bewusst sind. Je mehr diese Vorgnge der berlegungen und des
873
874
875 876
Allerdings ließe sich anfhren, dass auch Unterschiede bestehen, denn bei Aristoteles wird ein Bestreben vorausgesetzt, dem dann eine Wahrnehmung oder Vorstellung (phantasia) hinzukommt. Beides zusammen fhrt zu einer Entscheidung und Handlung (siehe Arist. De mot. an. 701a32 – 6, dazu Charles, D.: Aristotle’s Philosophy of Action, London 1974, S. 84 – 96). Bei den Stoikern erzeugt ein Eindruck eine Vorstellung (phantasia) und evtl. ein Bestreben (hormÞ) (siehe Origenes De principii 3, 12 – 3 (=LS 53 A, insb. 4), dazu Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 51 – 9). Zwei ganz verschiedene Hinweise mssen hier gengen: Sowohl die Zweck-MittelAbwgung als auch die Subsumtion kommt bei Aristoteles besonders hufig vor. Siehe die Auflistung der relevanten Stellen bei Charles, D.: Aristotle’s Philosophy of Action, a.a.O., S. 262. Die Stoiker selber haben in den Selbstdialogen bei Homer keinen Vorlufer ihres Models gesehen, auch wenn sie sich generell dieses entsprechenden Vokabulars bedienen (siehe Gill, Ch.: Did Chrysippus understand Medea?, in: Phronesis 28 (1983), S. 136 – 149). Siehe Smith, P./Jones, O. R.: The Philosophy of Mind, a.a.O., Kap. 9 und 17; Davidson, D.: Essays on Actions and Events, Oxford 1980, Kap. 1 – 3; LePore, E./ McLaughlin, B. P. (Hg.): Actions and Events: Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1985, S. 3 – 13. Aristoteles bezeichnet den praktischen Syllogismus gelegentlich als inneres Gesprch (z. B. De an. 432b26 – 433a3; Eth. Nic. 1147a31 – 4). Etwa Davidson, D.: Rational Animals, in: LePore, E./McLaughlin, B. P. (Hg.): Actions and Events: Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, a.a.O., S. 473 – 480.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
221
praktischen Schließens konzeptualisiert und versprachlicht sind, desto mehr hneln sie den tatschlichen mentalen Prozessen.877 Dieser letzte Punkt berhrt bereits die Frage, welches Verstndnis von dem, was den Menschen ausmacht, den Selbstdialogen zugrunde liegt und inwiefern dieses mit einem bestimmten Ausmaß an Selbstbewusstsein verknpft ist. Zuvor ist noch auf den Zusammenhang von (praktischer) Rationalitt und dem in den Selbstdialogen zum Ausdruck kommenden Verstndnis vom Menschen zurckzukommen: Wenn praktisch relevante Deliberation darin besteht, in einem internen Dialog gewissen Urteilen die Zustimmung zu geben (oder zu verweigern), liegt eine enge Verbindung zu einer Selbstkonzeption und -konstitution nahe, der zufolge der Mensch durch den internen Dialog bestimmter psychischer Vermçgen bestimmt ist. Ein Mensch kann sich so zu ihren Urteilen und Gefhlen in Beziehung setzen, und zwar indem sie diese identifizierend bejaht oder distanzierend verneint. Daraus folgt, neben der oben bereits erwhnten Tatsache, dass Selbstdialoge immer praktische Entscheidungen haben, dass der Selbstdialog auf diese Weise die praktische berlegung nach diesem speziellen Modell der praktischen Entscheidung ermçglicht und aktualisiert. Genau hier enthllt sich die Bedeutung der Form des Selbstdialoges. Die Frage, wie die homerischen Helden zu ihren Entscheidungen kommen, wird nun zur Frage, mit welchen formalen Mitteln sie berhaupt mit sich selbst einen Dialog fhren kçnnen. Nach der immer gleichen einleitenden Beschreibung durch den erzhlenden Snger („Bekmmert sprach er zu seinem stolzen Herzen“),878 folgt der eigentliche Selbstdialog. So wird dem Leser (oder Zuhçrer) nicht nur deutlich, dass nun ein Selbstdialog folgt, sondern auch wie er zustande kommen kann: Der Held spricht einen bestimmten Teil von ihm an bzw. wird von ihm angesprochen, z. B. Thymos (gr. hulºr, etwa Herz,879 Gemt, engl. spirit).880 Niemals wird an die xuw¶ appelliert.881 877 Besonders eindeutig in Form des praktischen Syllogismus als einer hoch schematisierten Form der berlegung und Entscheidung. 878 Siehe auch Scully, S.: The Language of Achilles: the iwh¶sar Formulas, in: Transactions of the American Philological Association 114 (1984), S. 11 – 27. 879 So wird z. B. in einem wichtigen Selbstdialog und dessen Umfeld (Od. 20, 9 – 38) jaqd¸a synonym zu hulºr verwandt. 880 Siehe etwa Sullivan, S. D.: How a person relates to thymos in Homer, in: Indogermanische Forschungen 85 (1980), S. 138 – 150. 881 Bei Homer taucht der Ausdruck xuw¶ vorrangig (an etwa 80 Stellen) dann auf, wenn jemand sein „Leben aushaucht“. Dass die Glieder sich lçsen und die xuw¶
222
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Der Thymos und die Kraft der Gefhle, fr die er steht, sind aber nicht ganz irrationale Krfte. Dies wird jedoch von Snell angenommen, fr den es wegen seines organizistischen Verstndnisses generell keinen Selbstdialog bei Homer gibt. Fr Snell gehçrt der Thymos nicht zum Selbst, weswegen das Gesprch mit ihm kein Selbstdialog ist: Zwiespalt in der Seele gibt es bei Homer so wenig, wie es Zwiespalt im Auge oder in der Hand geben kann. … Das ist kein Widerstreit in dem einem Organ (i. e. der Seele; M.v.A.), sondern ein Widerstreit zwischen dem Menschen und seinem Organ, wie wir auch etwa sagen: meine Hand wollte zufassen, aber ich hielt sie zurck. Es gibt deshalb bei Homer auch keine echte Reflexion, keine Zwiesprache der Seele mit sich selbst.882
Dass der Thymos nicht ganz irrational ist, zeigt – besonders deutlich – ein ebenfalls berhmter Selbstdialog am Ende der Odyssee, in dem der bereits nach Hause zurckgekehrte, aber noch unerkannte Titelheld nachts seinen aufsteigenden Zorn gegenber promiskuitren Dienerinnen beschwichtigt, um sich nicht um seine Rache an den Freiern zu bringen.883 Es handelt sich bei den ußerungen des Herzens nicht um eine ganz irrationale Gemtsregung, sondern eher um eine emotionale Reaktion, die auf einem Urteil basiert:884 „Also bellte das Herz ihm, vor Grimm oder der schndlichen Frevel.“ ausgehaucht wird, bedeutet zu sterben. Die Psyche erscheint als luft- und rauchartiges, kraftloses Gebilde, und als flchtiges eUdykom hnelt sie dann dem einzelnen Menschen wie sein Schatten (sji¶) oder ein Traum-Bild (siehe z. B. Od. 11, 205 – 209 und 213). 882 Snell, B.: Die Entdeckung des Geistes, a.a.O., S. 27. 883 „Aber ihm stieg der Zorn empor in der Tiefe des Herzens, und er bedachte sich hin und her und hier in der innersten Seele, ob er sich auf sie [die Dienerinnen; M.v.A.] strze und sie alle zusammen erschlge, oder ließe sie im Verkehr mit den trotzigen Freiern, aber zum letzten und ußersten Mal; und es bellte das Herz ihm; So wie die mutige Hndin, die zarten Jungen umwandelnd, einen, den sie nicht kennt, anbellt und zum Kampfe heranspringt: Also bellte das Herz ihm vor Grimm ob der schndlichen Frevel. Aber er schlug an die Brust und strafte sein Herz mit den Worten: Dulde auch dies mein Herz! Weit hndischeres hast du erduldet, damals, dass der Kyklop, das Ungeheuer, die braven Freunde dir fraß; du hast es ertragen, bis listiger Anschlag dich aus der Hçhle gefhrt, darin du zu sterben erwartet. Sprach und beredete so sein Herz im innersten Busen. Und es blieb ihm das Herz geduldig und im Gehorsam.“ (Hom. Od. 20, 9 – 23; bers. Voss). 884 Platon (Resp. 390d, 441b-c; Phd. 94d-e) rekurriert in mehrfacher Hinsicht auf diese Passage, da er sowohl die Metaphorik bernimmt und den Thymos mit einem Hund vergleicht, der Fremde angeht, als auch einige wesentliche inhaltliche Aspekte, insbesondere die Vorstellung, der Zorn des Thymos kçnne gerecht sein, weil er auf einer korrekten Ansicht ber etwas Ungerechtes und Schndliches
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
223
Odysseus stimmt seinem Thymos zu, weil dieser sich richtigerweise ber eine als falsch ausgemachte Handlung aufregt. Die Regung des Herzens ist nur insofern irrational, weil sie ihn, Odysseus, zu einer Handlung drngt, die auszufhren zum gegenwrtigen Zeitpunkt nicht ntzlich wre, weil damit weitere und wichtigere Plne vereitelt wrden.885 Nur deshalb spricht Odysseus zu seinem Herzen und fordert es auf, zu schweigen und zu gehorchen.886 Ganz irrational wre der Thymos nicht ansprechbar, wrde nicht sprechen und wre somit nicht kontrollierbar oder dialogfhig. Grundstzlich gilt, dass ein Selbstdialog als Mittel, auf sich, seine Gefhle und Handlungen einzuwirken, die Dialogfhigkeit derjenigen Teile voraussetzt, die den internen Dialog konstituieren und auf die eingewirkt werden soll. Zwei Aspekte sind dabei zu betonen: Erstens ließe sich anhand des gerade erwhnten Selbstdialoges aus der Odyssee vermuten, dass es hier nur um eine Adressierung des Thymos geht, da dieser durch Ansprache beeinflusst werden soll. In der Literatur wurde das Moment einer solchen einseitigen Adressierung betont. Zwar finden sich diese einseitigen Adressierungen bei Homer besonders hufig, wobei der Sprecher gegenber dem Angesprochenen eine Vaterrolle einnimmt.887 In der Tat handelt es sich bei den Selbstdialogen jedoch um vollwertige Dialoge, weil auch der Thymos mit dem Helden spricht. Dies wird zweitens nicht vom Snger (Erzhler) festgestellt, wie der immer gleiche einleitende Satz der Selbstdialoge in der Ilias nahe legt, denn dort ist nur von einer Ansprache an den Thymos die Rede. Vielmehr nimmt jeder der mit sich selber redenden Helden selber wahr, dass er einen Dialog mit sich, Teilen oder Aspekten von ihm fhrt: „Aber warum diskutiert (diek´nato) mein Herz das mit mir?“888 Auf die Bedeutung dieses Satzes ist gleich zurck zukommen. Damit ist das Verhltnis von Bewusstsein und Selbstdialog angesprochen, das in zweierlei Hinsicht interessant ist. Denn es ist zum einen fraglich, was den homerischen Helden bewusst ist, wenn sie einen Selbstdialog fhren. Als was erfahren sie sich im Selbstdialog? Zum an-
885 886 887 888
basiert. Zu Platon siehe van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., Kap. II 2. Zur Verwendung der Homerstelle bei weiteren Philosophen siehe Gill, Ch.: Did Chrysippus Understand Medea?, a.a.O., S. 136 – 149. So auch Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 189 f. Zur Fhigkeit des Thymos, sich kontrollieren zu lassen, siehe Harrison, E. L.: Homeric Psychology, in: Phoenix 14 (1960), S. 63 – 80, hier: S. 74 – 7. Siehe z. B. Hom. Il. 1, 254 – 8; 282 – 3; 19, 216 – 37. Hom. Il. 11, 407; 17, 94; 22, 122; 21, 562.
224
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
deren und tiefergehend ist fraglich, ob der Dialog nicht konstitutiv fr das ist, was den Menschen ausmacht. Um diese Fragen und die Verknpfung von Selbstdialog und Handlungsentscheidung besser einschtzen zu kçnnen, ist nun vertiefend auf die rhetorischen Mittel, die den Selbstdialog ermçglichen, einzugehen. Der Thymos wird nicht nur angesprochen. Seine Dialogfhigkeit zeigt sich auch durch weitere Zuschreibungen. Er wird mit einem Hund verglichen, der durch Worte beeinfluss- und strafbar ist: „Aber er schlug an die Brust und strafte sein Herz mit den Worten: …“.889 Der Thymos ist hier etwas Kommunikationsfhiges. Er wird sogar fast zu einem stellvertretenden Odysseus, denn dieser schreibt seinem Thymos rckblickend die Fhigkeit zu, etwas zu ertragen, den eigenen Tod zu befrchten und rumlich aus einer Hçhle gefhrt zu werden. Nur das fr Odysseus Typische, seine List, bleibt Eigenschaft des Odysseus, der mit seinem Thymos spricht.890 In der Ilias spricht auch Achill von seinem Herzen als etwas, das großen Einfluss auf ihn hat, denn das Herz kann wtend werden, weswegen Achill selbst jemand anderem nicht zustimmen mçchte.891 Auch wenn man mit Blick auf die vielen anderen Passagen im Text so weit gehen will, von einer Personalisierung des Thymos zu sprechen, wird doch deutlich dass der Thymos qua Kommunikationsfhigkeit zum Dialogpartner wird. Obschon es sich um einen Dialog handelt, gibt es Asymmetrien: Der Dialog findet immer zwischen einem Sprecher statt, der seinen Thymos, seine Gefhle oder sein Herz adressiert. Niemals wird ein anderer Teil (z. B. xuw¶, vq¶m oder mºor) in einem Selbstdialog adressiert. Der Sprecher verwendet immer die erste Person Singular, aber sein Standpunkt wird nicht mit dem Namen eines bestimmten Teiles oder Vermçgens bezeichnet. Wegen der Trennung von eher intellektuellen (vq¶m oder mºor) und emotionalen (jaqd¸a oder hulºr) Kapazitten bei Homer892 ist es verfhrerisch anzunehmen, dass die geistigen Teile im Selbstdialog die IchRolle und Adressierung bernehmen. Dafr sprche vielleicht, dass Odysseus, wie oben bereits angemerkt, seinem Herz alle menschlichen Eigenschaften zuspricht, nur die fr ihn, Odysseus, typische List nicht. Dies entspricht auch der Situation bzw. der Absicht der Selbstansprache: 889 890 891 892
Hom. Od. 20, 17. Siehe Hom. Od. 20, 18 – 20. Siehe Hom. Il. 9, 645 – 8. Siehe dazu Claus, D. B.: Toward the Soul: An Inquiry into the Meaning of xuw¶ before Plato, New Haven 1981, S. 15 ff. und 45 – 7.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
225
Das Kalkl besteht darin, den Zorn ber die Dienerinnen zugunsten der Rache an den Freiern zu unterdrcken. Odysseus’ Selbstdialog in der Ilias folgt einer Zeile, in der der Erzhler rckblickend sagt: „Whrend er solches in seinem Geist und Herzen erwog (eXor d taOh’ ¦qlaime jat± vq´ma ja· jat± hulºm).“ Bemerkenswert ist ferner, dass die Du-Form in den Selbstdialogen bei Homer fehlt. Zumindest spricht der Held sie nicht als ganze so an. Die Verwendung eines „Du“ in einem Selbstdialog wirkt besonders adhortativ. Aber die homerischen Helden verwenden den Selbstdialog weniger zu adhortativen als zu deliberativen Zwecken. Und sie tun dies nicht als bewusste Entscheidung, denn sie fragen sich, warum ihr Herz mit ihnen etwas diskutiert. Das heißt, dass vom Herzen oder Thymos die initiale Regung ausgeht. Die im Text wiedergegebene Ansprache des Helden in der IchForm an das Herz oder den Thymos muss eine Regung seitens der letzteren vorausgegangen sein, die den Selbstdialog nçtig machte. Der Selbstdialog ist hier demnach reaktiv. Zwar geht es auch den homerischen Helden um die Beeinflussung ihrer Emotionen und den zugrunde liegenden Urteilen, aber sie whlen den Selbstdialog nicht aktiv oder gar als prventives Mittel, um mit Grnden auf sich einzuwirken. Der Selbstdialog bei Homer impliziert die Fhigkeit zur Selbstidentifikation und Selbstdistanzierung. Die Anwendung dieser beiden (sehr eng verbundenen) psychoanalytischen Konzepte893 fr die Interpretation antiker Texte894 und besonders fr die Psychologie der Auseinandersetzung der homerischen Helden mit ihrem Thymos895 ist keineswegs neu. In oder vielmehr durch den Selbstdialog der verschiedenen psychischen Teile oder Aspekte kann der homerische Protagonist sich mit einigen von diesen identifizieren oder sich davon distanzieren. So distanziert sich Odysseus in der zitierten Passage im zwanzigsten Buch der Odyssee grundstzlich von seinem Herzen, denn er zwingt es, wie einen Hund zu gehorchen und mehr zu erdulden. Zugleich identifiziert er sich mit dessen Empçrung ber das Verhalten der Mgde. Die Anwendung dieser Kategorien macht es mçglich, die Variabilitt der Entscheidungen zu beschreiben, denn anders als Odysseus stimmt Achill der Ansicht seines Herzens weitaus weniger zu: 893 Siehe dazu Wollheim, R./Hopkins, J.: Philosophical Essays on Freud, Cambridge 1982, Kap. 2. 894 Siehe Price, A. W.: Plato – Freud, in: Gill, Ch. (Hg.): The Person and the Human Mind: Issues in Ancient and Modern Philosophy, Oxford 1990, S. 247 – 270, hier: S. 261 – 7 und Dodds, E. R.: The Greeks and the Irrational, a.a.O., S. 13 ff. 895 Siehe Sharples, R. W.: „But Why Has My Spirit Spoken With Me Thus?“ Homeric Decision-Making, a.a.O., S. 1 – 7.
226
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Ajas, gçttlicher Sohn des Telamon, Vçlkergebieter, alles hast Du beinahe mir selbst aus der Seele geredet, aber es schwillt mein Herz vor Wut mir, wenn ich des Mannes denke, der mir so schnçde vor Argos’ Volke begegnet.896
Thymos und Herz kçnnen sprechen und auf Worte reagieren. Diese Dialogfhigkeit steht mit dem oben erwhnten aristotelisch-stoischen (praktischen) Entscheidungsmodell in Verbindung.897 Denn so kçnnen die Gefhlsregungen erstens als Urteile verstanden werden. Zweitens kann die Entscheidung als die Zustimmung oder Ablehnung zu eben diesen Urteilen verstanden werden. Dies geschieht dann drittens in Form eines Selbstdialoges. So verstanden bildet die Deliberation in den Selbstdialogen bei Homer auch den Hintergrund oder ein Vorbild fr die platonische Vorstellung vom Denken als Dialog der Seele mit sich selbst.898 Der Umstand, dass die homerischen Helden ihrem Thymos in einem Dialog zum Teil persçnliche Qualitten, aber in jedem Fall Kommunikationsfhigkeit zuschreiben, kann mit zwei weiteren Thesen in Verbindung gebracht werden, die hier beide kurz, aber kritisch behandelt werden sollen. Erstens hat Leo angenommen, dass in den (von ihm so bezeichneten) Monologen die Protagonisten mit ihrem Thymos oder Herzen wie mit einem zweiten „Ich“ reden. Zweitens scheint dies prima facie fr die zu Beginn des Kapitels erwhnte These von Ch. Gill zu sprechen, der Selbstdialog sei nur ein internalisierter interpersonaler Dialog. Die Auseinandersetzung mit Leos These wird zum Zusammenhang von Selbstdialog und dem darin zum Ausdruck kommenden Selbst- oder Menschenverstndnis zurckfhren, whrend die Diskussion von Gills These die noch ausstehende Frage nach der Bedeutung des Selbstdialoges fr das Selbstbewusstsein betrifft. Schließlich lsst sich daran ein Ausblick auf den Unterschied von Homerischen Selbstdialogen und den Selbstbetrachtungen anschließen. hnlich wie spter Snell, Voigt und Adkins nimmt bereits Leo an, die homerischen Helden htten ein unabhngiges Ich. Dieses erste „Ich“ wrde dann in einem Monolog mit dem Thymos „fast wie mit einem zweiten Ich“ sprechen.899 896 Hom. Il. 644 – 7. 897 Dies gezeigt zu haben ist das Verdienst von Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., Kap. 1. 898 Mit Bezge zu modernen Theorien (Davidson, D.: Rational Animals, a.a.O.) siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 51 f. 899 Siehe Leo, F.: Der Monolog im Drama, a.a.O., S. 4.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
227
Zur These von Snell und anderen: Problematisch an dieser Annahme ist ihre Voraussetzung, es gbe berhaupt ein „Ich“, das von den Teilen der Menschen unabhngig sei. Demgegenber ließen sich gerade die Selbstdialoge als Hinweis darauf werten, dass eine solche Vorstellung bei Homer weder zum Ausdruck kommt noch hilft, die Form der Selbstdialoge oder deren Inhalte, die Entscheidungsfindungen, zu erklren. Stattdessen zeigen die Selbstdialoge auch nach der hiesigen nur kursorischen Analyse, dass die menschlichen psychologischen Vorgnge um Gedanken kreisen und diese in Worten ausdrcken, in denen nicht nur zum Ausdruck kommt, sondern auch thematisch wird, dass seelische Funktionen miteinander kommunizieren oder interagieren. Durch den Selbstdialog erfahren die homerischen Helden, was sie sind oder nicht sind.900 Sie bemerken, dass sie aus Teilen bestehen, die miteinander kommunizieren. Dieses Verstndnis ihrer selbst kann als Selbst-Verstndnis gelesen werden. Es beinhaltet die Vorstellung, dass der Mensch rational ist, denn die Rationalitt besteht hier genau darin, einen internen Dialog zu fhren, durch den praktisch relevante berlegungen angestellt werden. Inhalte und Form des Selbstdialoges entsprechen dem, was der Mensch ist bzw. seinen inneren Vorgngen, weil sie diese abbilden. Schwieriger ist es, der These von Ch. Gill zu begegnen, der Selbstdialog sei keine besondere Form, weil er nur als „secondary development“901 des interpersonalen Dialoges vorkomme, und durch die „exceptional isolation“902 des Helden zustande komme. Grundstzlich lsst sich einwenden, dass Gill – wie Leo und Schadewaldt – von Monologen spricht, deren Bedeutung fr ihn mit der Hufigkeit ihres Vorkommens zu tun hat. Denn er versteht „Monolog“ als „Alleinrede“ und verwendet daher das ußerliche Kriterium des Alleinseins. Im Monolog wrden die homerischen Protagonisten das tun, was sie im Normalfall mit anderen tun.903 Keineswegs kritikwrdig ist die oben bereits angesprochene, damit verknpfte Vorstellung, dass das ethische Leben zu einem großen Teil durch und in der Partizipation am interpersonalen Leben bestehe und dass die Menschen sich durch die interpersonalen Dialoge als ethisch-soziale Wesen erfahren und ihren Platz und ihre Rolle im Geflecht der menschlichen Beziehungen finden. Jedoch scheint so die Besonderheit des 900 Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 179 f. 901 Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 187. 902 Ebd., S. 58. 903 Siehe das vorherige Unterkapitel.
228
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Selbstdialoges sowohl der Form als auch der Bedeutung nach unterschtzt zu werden. Es spricht nmlich etwas gegen Gills These, dass der Selbstdialog in der Antike generell nur eine Sonderform des interpersonalen Dialogs sei, die sich wiederum nur einer besonderen interpersonalen Situation verdanke und somit keine Eigenstndigkeit besitze. Zumindest fr die homerischen Helden selbst scheint die Situation und diese Art des Dialoges besonders zu sein, wrden sie sich sonst alle fragen, warum ihr Herz mit ihnen debattiert? Diese Zeile, die, wie beschrieben, in allen Selbstdialogen vorkommt, ist gar nicht Teil der Deliberation, um die es jeweils geht. Sie enthlt auch keine Angaben ber die erwhnten anderen beiden Aspekte (hçhere Rationalitt oder „second order thinking“). Wenn diese Zeile aber in allen Selbstdialogen vorkommt, aber keine der genannten drei Funktionen hat, ist damit etwas anderes ausgedrckt. Sicherlich ist die Situation der Helden monologisch in dem dramatischen Sinne, dass sie eher zufllig in der Situation sind, mit sich alleine eine Entscheidung abmachen zu mssen. Aber in dieser Situation fragen sie sich, warum ihr Herz etwas mit ihnen diskutiert. Den Selbstdialog erfahren sie als gesonderte Situation, die Stimme des Herzens ist ungewohnt. Die Zeile drckt somit Erstaunen darber aus, dass sie sich als jemanden erfahren, der einen Selbstdialog fhrt. Weder das Alleinsein noch den Selbstdialog haben sie bewusst herbeigefhrt. Zwar ist, wie gerade gezeigt, der von Homer wiedergegebene Selbstdialog reaktiv, aber der Held reagiert nicht auf ein interpersonales Ereignis, wie Gill meint, sondern eine Regung eines Teiles von ihm. Fr Gills These spricht, dass die Selbstdialoge erst im Handlungsgeschehen auftauchen, wenn die Helden eher unfreiwillig allein sind und in eine schwierige Lage kommen. Der Selbstdialog als innerpsychisches Phnomen ergibt sich dann, wenn ein ußeres schwieriges Problem und eine Situation des Alleinseins auftauchen. Der in den Selbstdialogen zentral platzierte Satz lautet: „Warum diskutiert dies mein Herz mit mir?“ Dies deutet darauf hin, dass die homerischen Helden den Selbstdialog als etwas erfahren, das in ihnen aufkommt und laut wird, aber nicht von ihnen bewusst gewhlt wird. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Bewusstsein der homerischen Helden interessant. Gill gesteht zu, dass man die Frage, ob ein Selbstdialog bewusstes Denken reprsentiert, wohl bejahen msse. Dennoch hlt er die Selbstdialoge in erster Linie fr einen Ausdruck der Einsamkeit der Helden, die mit sich reden, weil gerade sonst niemand anderes fr einen interpersonalen Dialog zur Verfgung steht. Sie seien sich
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
229
ihrer problematischen Lage und der Entscheidung bewusst, die sie treffen wrden, aber, so Gill weiter, man solle der Versuchung widerstehen, mit Descartes anzunehmen, „that the use of monologue denotes a type of inner dialogue of which the person concerned is necessarily conscious.“904 Gill verweist in diesem Zusammenhang auf Dennett, der ein nichtcartesianisches Verstndnis von Selbstbewusstsein vertritt, das sich auf den Selbstdialog sttzt905 und auf Frankfurts berlegungen zur Bedeutung von second-order desires. 906 Zunchst ist fr Gill wie fr Dennett ein Selbstdialog bestimmt als Acting on second order desire, doing something to bring it about that one acquires a first-order desire, is acting upon oneself just as one would act upon another person: one schools oneself, one offers oneself persuasions, arguments, threats, bribes, in the hopes of inducing oneself to acquire the firstorder desire.907
Soweit scheint Dennett in der Tat Gills These, der Selbstdialog sei nicht wesentlich vom interpersonalen Dialog unterschieden, zu sttzen. Ihm geht es vornehmlich um die – plausible – These, dass der deliberative Selbstdialog eine Handlung nicht erklre, weil die Deliberation selbstbewusst stattfinde. Fr die Handlung sind die Grnde, die im Selbstdialog diskutiert werden, entscheidend.908 Diese berlegungen sind aufzugreifen. Der Selbstdialog wird sich von Homer aus zu einem besonderen Instrument der Selbsterkenntnis, Meditation und Psychagogik entwickeln. Hier ging es keineswegs um eine eigenstndige Interpretation von Homer-Texten, sondern darum, etwas zur Bedeutung der Form des Selbstdialoges anhand ihrer ersten Beispiele zu sagen. So lsst sich im Folgenden besser nachvollziehen, inwiefern die Selbstbetrachtungen als Selbstdialog zu verstehen sind, weil nun zumindest einige Kriterien vorhanden sind, anhand derer feststellbar ist, was an den Selbstbetrachtungen gattungsspezifisch fr einen Selbstdialog ist und warum Marc Aurel einen speziellen Selbstdialog verfasst hat. 904 Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 58. 905 Siehe Dennett, D. C.: Conditions of Personhood, in: Rorty, R.: The Identity of Persons, Berkeley 1976, S. 175 – 196; ders.: Brainstorms: Philosophical Essays on Mind and Psychology, Hassocks 1979, insb. Kap. 9. 906 Siehe Frankfurt, H.: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), S. 16 – 49. 907 Dennett, D. C.: Conditions of Personhood, a.a.O., S. 193. 908 Siehe Gill, Ch.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, a.a.O., S. 58 f.
230
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Anhand dieser Kriterien lsst sich ein heuristisches Raster formulieren, das im Folgenden ber die Selbstbetrachtungen gelegt werden soll, um den Text demgemß analysieren zu kçnnen. Um die Charakteristika der Selbstbetrachtungen noch besser herauszuarbeiten, wird dabei auch auf einige Texte von Seneca und Epiktet einzugehen sein. Folgende Aspekte mssen untersucht werden: (i) Formale Aspekte: Die homerischen Helden sprechen einen Teil von sich selbst oder werden von ihm angesprochen, so dass dieser als dialogfhig angesehen wird. Mit welchen rhetorischen Mitteln kommt der Selbstdialog bei Marc Aurel zustande, welche Teile redet er wie an? Wie verwendet er die Du-Form? Wozu verwendet er diese Stilmittel? (ii) Zweck und Kontext: Der Selbstdialog ist schon bei Homer thematisch mit als wichtig empfundenen Handlungsentscheidungen und mit Selbstbeeinflussung verknpft. Welche theoretischen und praktischen Momente kennzeichnen die Texte der rçmischen Stoiker und die Selbstbetrachtungen? Erst bei Marc Aurel wird der Selbstdialog als ein bewusst eingesetztes therapeutisches oder prophylaktisches Mittel thematisiert und praktiziert. Bei Homer wird nicht ber den Selbstdialog reflektiert, bei Marc Aurel hingegeben findet sich ein „second-order reasoning“, und zwar in beiden, gerade angesprochen Hinsichten: Einmal im Sinne einer Reflexion ber die allgemeinen Ziele, was im Leben ein Gut ist, aber auch als berlegungen, wie – formal betrachtet – Entscheidungen zu treffen sind, was Empfehlungen ber die sprachliche Form des Selbstdialoges einschließt. Damit ist der nchste Gesichtspunkt bereits angesprochen. (iii) Bei Homer fhren fiktive Personen einen Selbstdialog, nicht der Autor des Textes. Die Selbstbetrachtungen aber, so die leitende These, werden durch Selbstdialoge des Autors mit sich selbst geprgt. Welche Indizien gibt es fr dafr? (iv) Selbstdialoge bei Homer gaben ebenfalls darber Auskunft, wie die Menschen selbst konstituiert sind, da in ihnen etwas ber das Zusammenspiel psychischer Vermçgen zum Ausdruck kommt. Was erfahren wir darber bei Marc Aurel anhand seiner Selbstdialoge? (v) Gleichzeitig ist es interessant zu untersuchen, welche Rolle das Bewusstwerden in den Selbstbetrachtungen spielt, denn whrend im Falle der homerischen Helden zwar davon auszugehen ist, dass sie in Folge des Selbstdialoges Selbstbewusstsein haben, ist die Erlangung dieses Selbstbewusstseins kein erklrtes Ziel, whrend Marc Aurel sich hufig ermahnt, sich ber jede seiner Handlungen und jeden Ge-
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
231
danken Klarheit zu verschaffen und ihn zu kontrollieren. Es ist also zu fragen, ob hier Selbsterkenntnis und Selbstdialog nicht in einem engen und vor allem expliziten Verhltnis stehen. Gerade bezglich der zwei letztgenannten Aspekte gilt es zu untersuchen, inwiefern sie durch die Selbstbetrachtungen einerseits praktisch zum Ausdruck gebracht werden und andererseits theoretisch thematisiert werden. Anhand der rçmischen Stoiker ist zunchst die philosophisch-theoretische Reflexion ber den Selbstdialog zu erçrtern. Besonders diese Philosophen haben eine Theorie des Selbstdialoges entwickelt, sie jedoch nicht in einem Selbstdialog ausgedrckt. Da hier die These vertreten werden soll, dass die Selbstbetrachtungen besonders sind, weil sie selber sehr weitgehend selbstdialogisch sind, ist darauf hier ausfhrlich einzugehen. 4.1.3 Selbstdialoge bei Seneca und Epiktet? Der Selbstdialog ist, wie bei Homer deutlich wird, zunchst ein dramatisches und stilistisches Mittel fiktionaler Texte. Die Entwicklungen der spteren Formen und Bedeutungen des Selbstdialoges in der Antike sind noch ganz unzureichend erforscht. Das gilt auch fr den spezielleren und daher kleineren Bereich der Philosophie.909 Der Selbstdialog wird von Philosophen in theoretischer910 und praktischer Hinsicht reflektiert.911 Dies gilt fr eine ganze Reihe von Philosophen aus verschiedenen Zeiten und unterschiedlichen Traditionen. Als von philosophischer Seite empfohlenes Hilfsmittel hat der Selbstdialog sogar Eingang in den çffentlichen Raum gefunden. Auf dem Marktplatz in Oinoanda hat der Epikureer Diogenes eine Inschrift in eine Stoa einmeißeln lassen, in der zu Selbstdialogen aufgefordert wird.912 909 Es gibt wohl keine Studie, die dies zusammenhngend (auch nur fr begrenzte historische Abschnitte oder philosophische Schulen) untersucht. 910 Siehe etwa Platons berhmte Bestimmung des Denkens als Dialog der Seele mit sich selbst. 911 So etwa bei Aristoteles‘ Konzeption des praktischen Syllogismus. Dann gilt der Selbstdialog vielen Philosophen als wichtiger Bestandteil einer glcklichen Lebensfhrung. 912 Siehe Diogenes von Oinoanda fr. 74 (siehe Diogenes of Oinoanda, The Epicurean Inscription, a.a.O.; Clay, D.: The Philosophical Inscription of Diogenes of Oinoanda: New Discoveries 1969 – 1983, a.a.O., S. 3231 – 3232; ders.: A Lost Epicurean Community, a.a.O. Wiederrum ist hier der Hinweis nçtig, dass bersetzung und Angaben als vorlufig zu betrachten sind. Neue Funde in Oinoanda, die bald publiziert werden, drften den Befund przisieren und evtl.
232
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Ebenfalls zur Affekt-Kontrolle schlgt Lukrez vor: „auch diese Worte kçnntest du dir bisweilen vorsagen“.913 Mit den „Worten“ sind die dann im dritten Buch folgenden Unsterblichkeitsbeweise gemeint.914 Der Selbstdialog ist hier eine besondere Form der Angsttherapie, die bereits in Platons Phaidon vorgezeichnet ist. Dort empfiehlt Sokrates die kindliche Regung der Todesangst mit dem folgenden Pharmakon zu behandeln: „Dieses Kind in euch msst ihr, sprach Sokrates, tglich besprechen.“915 Dass bereits Platon vor den spten Dialogen den tglichen Selbstdialog zum praktischen Zwecke der Angsttherapie empfiehlt, widerspricht der Auffassung Rabbows, der Selbstdialog sei von Platon nur „spiritualistisch“ und daher „ohne praktischen Wert“ als Dialog der Seele mit sich selbst gefasst.916 Auch der Skeptiker917 Pyrrhon war sich offenbar sicher, dass ein Selbstdialog von praktischem Nutzen ist: Als man ihn einmal dabei berraschte, wie er sich mit sich selbst unterhielt und ihn nach der Ursache fragte, erwiderte er, er befleißige sich, ein umgnglicher Mensch zu werden.918
Von Kleanthes wird berichtet: Oftmals schalt er auch sich selbst. Als Ariston dies einmal hçrte, fragte er: ,Auf wen schiltst du denn?‘ Da antwortete er lachend: ,auf einen alten Mann mit grauen Haaren, aber ohne Verstand.‘919
913 914
915 916 917 918 919
Korrekturen nçtig machen. Auch hier danke ich Jrgen Hammerstaedt fr Gesprche, Hinweise und Einblicke in noch Unverçffentlichtes. Nicht korrekturbedrftig aber drfte die Einschtzung sein, dass es um Selbstdialoge geht). Dazu Erler, M.: Einbung und Anverwandlung. Reflexe mndlicher Meditationstechnik in philosophischer Literatur der Kaiserzeit, a.a.O., S. 361 – 365. Zum Hintergrund der praktischen Orientierung der Texte bei Lukrez siehe Erler, M.: Interpretatio medicans. Zur epikureischen Rckgewinnung der Literatur im philosophischen Kontext, a.a.O.; Kleve, K.: What kind of work did Lucretius write?, in: Symbolae Osloenses 54 (1979), S. 81 – 85; Clay, D.: Lucretius and Epicurus, Ithaca/London 1983, S. 212 ff.; Mitsis, Ph.: Committing Philosophy on the Reader: Didactic Coersion and Reader Autonomy in de Rerum Natura, in: Clay, J. S., et. al. (Hg.): Mega Nepioi: Il Destinatario nell‘ Epos Didascalico, Materiali e Discussione 31, Pisa 1993, S. 111 – 128. Weitere Angaben bei Erler, M.: Einbung und Anverwandlung, a.a.O., S. 366 f., Anm. 13 – 16. Pl. Phd. 77e. Zum Phaidon siehe Erler, M.: „Sokrates in der Hçhle“, Argumente und Affekttherapie im Gorgias und im Phaidon, a.a.O., S. 61 ff. Siehe Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 207. Siehe ebenfalls Timon fr. 50. Diog. Laert. 9, 64. Diog. Laert. 7, 171.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
233
Schon diese kurze Sammlung zeigt, dass es sich beim Selbstdialog um ein epochen- und schulbergreifendes Phnomen handelt. Die Quellenlage, die vielleicht nur einen verzerrten Blick zurck erlaubt, lsst dennoch annehmen, dass es sich um ein besonders in der rçmischen Stoa intensiv diskutiertes Phnomen handelt. Eine grndliche und das heißt vergleichende Untersuchung kann hier nicht erfolgen, dennoch sind einige Bermerkungen zu Seneca und vor allem Epiktet hilfreich, die Analyse der Selbstbetrachtungen vorzubereiten, denn sie schrfen den Blick fr deren Besonderheit. Bei Seneca und Epiktet findet sich: (i) eine Thematisierung von Selbstgesprchen: Wozu dient ei n Selbstdialog, wie und wann ist er zu fhren? (ii) die Aufforderung (Parnese oder Adhortatio), Selbstdialoge zu fhren; beides wird verknpft mit Exempla, d. h. hier Modell-Selbstdialogen, (iii) keine Dokumentation von Selbstdialogen der beiden Autoren. Weder wird in den Texten Senecas noch Arrians wird ein mndlicher Selbstdialog nachtrglich wiedergegeben. Der Selbstdialog ist ein besonderes Element der bungen,920 die zum reichen Bestand der psychagogischen Techniken gehçren. Zu diesem bungscharakter gehçrt das bestndige, wenn mçglich tgliche Wiederholen.921 Vorlufer ist auch hier Platon, der eine tgliche Besprechung der eigenen Angst forderte.922 Beim Selbstdialog als psychagogischer bgung handelt sich um einen verbalen Akt der Selbstbeeinflussung. Ein „reiner“ Dialog der Seele mit sich selbst ist jedoch nicht ausreichend: Wie von Kleanthes und Pyrrhon berichtet, empfiehlt auch Seneca den ausformulierten, laut und wiederholt 920 Siehe Hieronymus, F.: LEKETG. bung, Lernen und angrenzende Begriffe, 2 Bd., Diss., Basel 1970; Hijmans, B. L.: ASJGSIS. Notes on Epictetus‘ educational system, Assen 1959. Der Selbstdialog wird als eine bung verstanden und daher mit Verben wie culm²fy, leket²y, ²sj´y oder exerceo in Verbindung gebracht (z. B.: Sen. Ep. 69, 6; 70, 18; Arr. Epict. diss. 1, 1, 25; 3, 8, 1; 4, 4, 26). Fr Sen. (Ep. 78, 16) und Epiktet (Arr. Epict. diss 2, 18, 27) dienen die bungen der Vorbereitung auf den Kampf des Lebens, den sie gerne mit einem olympischen Wettstreit vergleichen, aber natrlich fr viel wichtiger erachten (siehe dazu Newman, R. J.: Cotidie meditare. Theory and Practice of the meditatio in Imperial Stoicism, in: ANRW 2, 36, 3, S. 1473 – 1517, hier: S. 1474 f.). 921 Siehe Sen. Ep. 16, 1; 107, 3; de ira 2, 10, 7; Arr. Epict. diss. 3, 8, 1; 1, 1, 25. Fr sumew_r siehe M. Aur. Med. 19, 17; 6, 47; 4, 10; fr 1mmoe?m siehe M. Aur. Med. 6, 47; 4, 10. 922 Siehe Pl. Phd. 77e.
234
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
gesprochenen Selbstdialog.923 Bei Epiktet findet sich ferner die Aufforderung, ihn schriftlich zu fhren, also auszuformulieren.924 Das Aussprechen oder Niederschreiben des Selbstdialoges soll den psychagogischen Effekt steigern. Die Worte des Selbstdialoges haben nicht nur ihren Ursprung in der Seele, sondern sollen auf sie wirken, und zwar auf alle Seelenteile. Entsprechende Metaphern veranschaulichen die Bedeutung der zu wiederholenden bungen, sie sollen Teil der benden Person werden,925 sie formen und so zu einer „Frbung in der Wolle“ fhren.926 Wiederum ist Platon Vorreiter dieser berlegungen: Der Ausdruck „Frbung in der Wolle“ ist auch bei ihm auf Praktisches bezogen, denn die Seelen sollen so behandelt werden, dass „weder Schmerz und Furcht und Begierde“ die richtige Bildung herauswaschen kçnnen.927 Fr diesen Prozess verwendet Seneca auch die Metapher des Verdauens oder Verstoffwechselns.928 Einen Selbstdialog als Dialog der Seele mit sich selbst auffassen heißt demnach keineswegs, ihm rein theoretische Bedeutung zuzuschreiben. In seiner therapeutischen Variante ist gerade nicht nur ein vernnftiger Seelenteil beteiligt, denn der Effekt gilt den Affekten. Sie sollen – je nach philosophischer Schultradition – eine Prgung haben oder mçglichst wenig sprbar sein. Ein Ergebnis der formalen Analysen der ersten Selbstdialoge bei Homer war die Beobachtung, dass von Homer an Selbstdialoge durch das die Dialogfhigkeit von verschiedenen innermenschlichen Teilen, Krften oder Aspekten mçglich wurde. Teil dieser formalen Untersuchung war die Beantwortung der Frage, wer in einem Selbstdialog mit wem redet. Schon ein erster berblick ber die philosophischen Erçrterungen des Selbstdialogs und besonders seiner praktischen Zwecke fhrt zur selben Frage. Der Umstand, dass durch den Selbstdialog das Denken praktisch, also ber sich hinaus, wirken mçchte, fhrt von einem inhaltlichen Gesichtspunkt und der Absicht des Selbstdialoges, wie dies erreicht werden soll, zu der weiteren Frage: Wer adressiert in einem Selbstdialog wen?929 923 Siehe Sen. Ep. 24, 12 mit 54, 4. Siehe zur Ausdrcklichkeit des Selbstdialoges Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 201 – 206. 924 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 1, 25. 925 Siehe Sen. Ep. 82, 8 – 9; und Arr. Epict. diss. 3, 21, 1. 926 Siehe Sen. Ep. 71, 31; M. Aur. Med. 5, 16. 927 Siehe Pl. Resp. 430a-b. 928 Siehe Sen. Ep. 2, 4; 78, 18; ferner: 11, 8; 16, 1; 113, 32. 929 Rabbow etwa unterscheidet nicht zwischen der Anrede an die eigene Phantasie oder Angst und der Adressierung der Tyche, also etwas Externen (siehe Rabbow, P.:
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
235
Bisherige Untersuchungen zum philosophischen Selbstdialog geben unzureichende Antworten. Die ltere These, in einem Selbstdialog rede ein „Ich“ mit einem anderen „Ich“,930 ist aus verschiedenen Grnden wenig hilfreich: Wie im vorherigen Kapitel erwhnt, wird so erstens vorausgesetzt, dass es ein „Ich“ gibt. Die Annahme eines unabhngigen „Ichs“ ist gerade zur Erklrung von Selbstdialogen in der Antike weniger geeignet, z. B. erlaubt die Vorstellung von einem unabhngigen „Ich“ weder die Anwendung der Konzepte Selbstidentifikation und Selbstdistanzierung, die gerade bei praktischen selbstreflexiven Entscheidungen instruktiv sind. Noch kann damit die bewussteins- und reflexionsteigernde Wirkung eines Selbstdialoges erklrt werden. Mit der Annahme eines „Ichs“, das sich immer seiner selbst bewusst ist, wrde der Selbstdialog kein Mehr an Selbsterkenntnis, hier: ein Mehr an Bewusstsein vom eigenen „Ich“ bewirken kçnnen. Warum wrden die Philosophen der Antike dann den Selbstdialog zu Zwecken der Selbstbeobachtung und Selbstbeeinflussung empfehlen? Einigen lteren Kommentatoren haben sich diese Fragen vielleicht gar nicht gestellt, da sie, wie Snell im Falle Homers, die Existenz von Selbstdialogen gar nicht in Betracht gezogen oder explizit bestritten haben.931 Zweitens wird damit den Texten nicht Rechnung getragen, in denen von einem „Ich“ keine Rede ist. Die Beschreibung, wie eine Person einen Selbstdialog fhren kann, muss genau angeben, wer in dem Text spricht und wer Adressat ist. Eine neuere These erkennt zwar, dass der Selbstdialog durch einen Dialog bestimmter Seelenteile zustande kommt, aber erklrt einen solchen Dialog fr eine Fiktion, weil die dem Selbstdialog zugrunde liegende Seelenteilung fiktional sei.932 Was aber, wenn die Vorstellung von miteinander kommunizierenden Vermçgen eines Menschen keine Fiktion ist? Im vorherigen Kapitel wurde dafr argumentiert, dass der Selbstdialog eben eine spezielle sprachliche Ausdrucksform dieser internen Kommunikationsprozesse ist, die den Menschen ausmachen. Besonders ist der Selbstdialog, weil etwas verbalisiert und bewusst gemacht wird, das zwar tatschlich, aber nicht immer notwendig bewusst geschieht. Die Wirksamkeit des Selbstdialoges, so darf angenommen werden, beruht Seelenfhrung, a.a.O., S. 199 f.). Aus diesem Grunde ist das Selbstgesprch formal ganz vom Gebet unterschieden. 930 So Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 197 f. 931 Siehe Snell, B.: Die Entdeckung des Geistes, a.a.O., S. 27. 932 So Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O., S. 1478. Newman geht von einem Selbstdialog von Kleanthes aus, genauer zwischen seinem Logismus und Thymos (zitiert bei Galen, siehe SVF 1, 570; siehe dazu Meerwaldt, J. D.: Cleanthea I, in: Mnemosyne, ser. IV 5 (1951), S. 54 – 57).
236
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
gerade darauf, dass es eine Korrespondenz zwischen der Verbalisierung und den tatschlichen kognitiven Instanzen und Prozessen gibt. Vor diesem Hintergrund bekommt die Frage nach der Selbstidentifikation und Selbstdistanzierung in und durch einen Selbstdialog zustzliches Gewicht, denn sie bezieht sich auf Vermçgen innerhalb des Menschen, der mit sich selber spricht. Fr den Selbstdialog wie fr alle praktisch relevanten Techniken der Selbstbeeinflussung in der Antike gilt, dass Systematizitt und strenge methodische Fassung nicht vorausgesetzt werden darf. Auch die Existenz einer einheitlichen antiken Konzeption mit nur marginalen Unterschieden zwischen den einzelnen philosophischen Schultraditionen oder innerhalb dieser kann nicht prjudiziert werden.933 An einer zentralen Funktion des Selbstdialoges lsst sich dies gut zeigen. Selbstdialoge kçnnen dem Zwecke nach dazu dienen (i) auf zuknftige Ereignisse vorzubereiten. Dabei kçnnen zwei – sich nicht ausschließende – Ziele verfolgt werden. Zum einen soll das Ereignis, wenn es denn eintritt, als weniger unangenehm erlebt werden. Zum anderen soll die Zeit bis dahin weniger angstvoll verbracht werden.934
933 Sowohl die Tendenz zur Systematisierung als auch die zur Vereinheitlichung der antiken Positionen findet sich bei Paul Rabbow. Beide Aspekte hngen mit Rabbows generell kritikwrdiger methodischer Annahme zusammen, der zufolge die pagane antike Seelenlenkung mit der spteren christlichen Form eine Einheit bildet. Fr ihn sind die streng systematisierten „Exercitia spiritualia“ des Ignatius von Loyola die Vollendungsgestalt der antiken Psychagogie. Von dieser spteren christlichen Tradition aus lassen sich auch, so Rabbow, Rckschlsse auf antike Vorlufer ziehen, und zwar auch dort, wo der antike Textbestand fragmentarisch ist (siehe Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 56 und 205). Obschon er behauptet (siehe ebd., S. 20 f.), Unterschiede zwischen den antiken Autoren zu bercksichtigen, finden sich kaum solche nçtigen Differenzierungen. Zu dieser Kritik an Rabbow siehe bereits die Rezension seines Buches durch G. Luck (Gnomon 28 (1956), S. 268 – 271) und Newman, R. J.: Cotidie meditare, a.a.O., S. 1476, Anm. 6. Mit Newman halte ich die Verteidigung der Methode Rabbows durch Hijmans fr nicht gelungen (siehe Hijmans, B.: ASJGSIS, a.a.O., S. 54, Anm. 1). 934 Siehe z. B. Sen. Ep. 4, 7; 94, 26 und Arr. Epict. diss. 4, 12, 17. Hier dient der Selbstdialog der „Befestigung“ (siehe Sen. Ep. 13, 3; 113, 27) der „inneren Burg“ (siehe Sen. Ep. 13, 3; 113, 27; Helv. 5, 13) gegen Schicksalsschlge. Hier ist der Selbstdialog eine praemeditatio futuri mali.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
237
(ii) Geschehnisse, die vermeintlich schlecht sind, nicht zu bedauern oder als unangenehm zu bewerten und daher entsprechend unglcklich zu sein.935 Bei dieser funktionellen analytischen Unterscheidung darf jedoch nicht vergessen werden, dass beide Funktionen bei den Stoikern auf derselben Gterlehre basieren, nmlich der elementaren berlegung, dass nichts außer der Tugend ein Gut und alles andere indifferent sei. Im Falle Epiktets ist besonders deutlich, wie sehr beide Aspekte verschiedene praktische Varianten eines Grundgedankens sind, demzufolge sich der Mensch nur auf das konzentrieren sollte, was in seiner Macht steht, nmlich seine Urteile und seine Tugend.936 In Folge ist nichts anderes zu frchten (i) oder zu bedauern (ii). Schon daher ist mit Blick auf die gerade erwhnte Systematizitt fraglich, ob immer streng zwischen (i) und (ii) unterschieden wurde. Dies gilt besonders fr die These, die Gesamtheit der antiken Autoren habe sich auf distinkte Begriffe fr (i) und (ii) geeinigt.937 Bei Seneca ist auffllig, dass der Dialog zwar die basale und daher wichtigste Form aller lebenspraktisch wirksamen bungen ist.938 Aber intensiver als den eigentlichen Selbstdialog thematisiert er die Bedeutung des interpersonalen Dialogs. Ein solches Gesprch mit anderen, besonders natrlich mit Weisen, ist schon deshalb ntzlich, weil sie ein lebendes
935 Siehe z. B. Sen. Ep. 16, 1; 98, 4; Ira 2, 31 und Arr. Epict. diss. 3, 24, 89 und 104. 936 Epiktet gibt in Arr. Epict. diss. 4, 4, 29 eine mçglichst kurze Fassung des allgemeinen Prinzips, das auf alle Lebenssituationen angewandt werden kann, und wegen seiner Krze besonders gut zu erinnern ist: „Erinnerst Du dich an die allgemeinen Regeln? ,Was ist mein? Was ist nicht mein? Was ist in meine Gewalt gestellt? Was will Gott, das ich jetzt tue? Was will er nicht?’“ Diese Fragen dienen dann zu allen Anlssen, um die Gleichgltigkeit gegenber den gleichgltigen Dingen zu erzeugen, egal ob sie erwartet werden und so Angst erzeugen oder geschehen sind und Kummer erzeugen. In einem Selbstgesprch kann man sich immer, in geradezu stereotyper Form fragen, ob etwas tatschlich ein bel ist oder nicht (siehe Arr. Epict. diss. 1, 1, 21 – 25; 1, 26, 3 – 4; 1, 30; 3, 3, 14 – 16; 3, 8, 1 – 6; 4, 1, 111 f.). 937 Rabbow gibt an, der selbsttherapeutische Dialog zur Bewltigung bereits erfolgter Schicksalsschlge wrde als 1pik´ceim oder mit dem noch strkeren Ausdruck 1põdeim bezeichnet, whrend die Vorbereitung auf zuknftige Schlge immer als pqok´ceim beschrieben wird (siehe Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 192 – 195, 348 ff.). 938 Prototypisch fr Seneca ist etwa der Briefanfang Sen. Ep. 47, 1. Insgesamt siehe dazu Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O., S. 1478.
238
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Exempel sind.939 Seneca betont allerdings, dass weniger der Dialog der Worte, sondern vielmehr das gemeinsame Leben, das contubernium entscheidend ist.940 Ferner kann der interpersonale Dialog zum Test der eigenen Urteile und Vorstellungen dienen.941 Der These, dass der Selbstdialog bei Seneca eigenstndig und gegenber dem interpersonalen Dialog vorrangig ist,942 steht eine Gruppe von Textpassagen entgegen, die das Verhltnis der beiden Dialogtypen direkt thematisiert. Was Seneca zu sich selbst sagt, ist zugleich und ununterschieden an Lucilius adressiert: … in folgender Weise prfe ich mich und spreche zu mir: ,Nichts ist es‘, sage ich, ,bis jetzt, was wir an Taten oder Worten geleistet haben. … Nicht furchtsam also richte ich mich ein auf jenen Tag, an dem ich ohne Ausflchte und Schçnfrberei ber mich zu urteilen beabsichtige, ob tapfer ich rede oder empfinde, ob es etwa Verstellung war und Schauspielerei, was immer ich gegen das Schicksal ausgestoßen habe an trotzigen Worten. … Was du geleistet hast, wird dann deutlich sein, wenn du im Sterben liegst. Ich erkenne die Bedingungen an, nicht habe ich Scheu vor dem Urteil.‘ Das spreche ich mit mir, aber dass ich es auch mit Dir gesprochen habe, stell dir vor.943
Selbstdialoge sind fr Seneca dann besonders ntzlich, wenn sie eben nicht als solche gefhrt werden, sondern den interpersonalen Dialog imitieren oder doch zumindest bercksichtigen, was wir bei Homer mit der kontingenten und nicht immer bestimmbaren An- oder Abwesenheit von Dialogpartnern zu tun hat: ,Du mahnst mich‘, sagst du? ,Hast du dich denn schon selbst gemahnt, schon gebessert? Daher hast du Zeit zur Besserung anderer? – Ich bin nicht so vermessen, dass ich Behandlungen, obwohl krank, beginne, sondern als ob ich 939 Siehe Sen. Ep. 94, 40 – 41. 940 In der Tat ist fr Seneca das Zusammenleben (contubernium) auch ohne Worte von großem Wert: „Den Zenon htte Kleanthes nicht verkçrpern kçnnen, wenn er ihn nur gehçrt htte: an seinem Leben hatte er Anteil, in seine geheimen Gedanken hatte er Einblick, beobachtet hat er ihn, ob er nach seiner Regel lebe; Platon und Aristoteles und die ganze Schar der Philosophen, die sich in verschiedene Richtungen entwickeln sollte, haben mehr aus dem Charakter als aus den Worten Sokrates‘ Gewinn gehabt: Metrodoros und Hermachos und Plyainos hat zu bedeutenden Mnnern nicht die Schule Epikurs, sondern das Zusammenleben mit ihm gemacht.“ (Sen. Ep. 6, 6). 941 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 21, 19 und Sen. Ep. 94, 40. 942 So die These von Newman, R. J.: Cotidie meditare, a.a.O., S. 1482. Newmans Argument und Rekurs auf die Passage Sen. Ep. 94, 40 berzeugt nicht. Der Text behauptet nur, dass der interpersonale Dialog ntzlich ist. Das Verhltnis zum Selbstdialog wird dort nicht erwhnt. 943 Sen. Ep. 26, 7.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
239
in derselben Heilsttte lge, unterhalte ich mich mit dir ber die gemeinsame Krankheit und teile die Heilmittel mit. So also hçre mich an, als ob ich mit dir sprche: in meine Abgeschiedenheit lasse ich dich ein, und in deiner Gegenwart gehe ich streng mit mir zu Rate.‘944
Weisheit ist fr Seneca ohne das Zusammensein mit anderen nicht erlangbar und in letzter Konsequenz kein Bestandteil des glcklichen Lebens: Wenn mir mit dieser Einschrnkung gegeben werden sollte die Weisheit, dass ich sie [in mir] eingeschlossen haben soll, werde ich sie zurckweisen: keines Gutes Besitz ist ohne einen Gefhrten erfreulich.945
Der Weise ist autark, „aber dennoch will er einen Freund haben und einen Nachbarn und einen Gefhrten, obwohl er sich selber genug ist.“; „damit nicht so große sittliche Vollkommenheit brachliege.“946 Die sehr enge Verbindung von Selbstdialog und interpersonalem Dialog kommt in einem Briefanfang zum Ausdruck. Der Aufforderung und Mahnung zum Selbstdialog folgt eine Anekdote. Nicht weiß ich, mit wem ich dich in Gedankenaustausch [sehen] mçchte. Und sieh, was du fr ein Urteil bei mir genießt: ich wage mich dir anzuvertrauen. Krates, wie man sagt, eben dieses Stilpon Schler, dessen ich im vorigen Brief Erwhnung getan habe – als er sah, wie ein junger Mann einsam spazieren ging, fragte er ihn, was er dort allein tue. ,Ich unterhalte mich mit mir‘, sagte er. Ihm antworte Krates: ,Sei vorsichtig, ich bitte dich, und gib sorgfltig Acht: mit einem schlechten Menschen unterhltst du dich.947
Festzuhalten ist demnach, dass bei Seneca Selbstdialog und interpersonaler Dialog in einem sehr engen Verhltnis stehen, und zwar zum einem, weil der Selbstdialog der Korrektur durch den interpersonalen Dialog bedarf, und zum anderen, weil auch im Selbstdialog mehr oder minder fiktiv mit anderen gesprochen wird. Obschon Seneca als einer der wichtigen Vertreter des therapeutisch orientierten Selbstgesprches gilt,948 ist die Anzahl der Passagen, in denen es detailliert um Formen und Inhalte des Selbstgesprches selbst geht, sehr gering. Der bekannteste und lngste Textabschnitt findet sich im Kapitel 36 des dritten Buches seiner Abhandlung ber den Zorn. Zu Beginn des Buches wird erklrt, dass es nun um die Verfahren gehe, den Zorn aus 944 945 946 947 948
Sen. Ep. 27, 1. Sen. Ep. 6, 4. Siehe Sen. Ep. 9, 3 und 8. Sen. Ep. 10, 1. So etwa in den genannten Arbeiten von Rabbow und Newman.
240
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Seelen zu tilgen und dass diese der jeweiligen Seele angemessen sein mssen.949 Spter werden diese Mittel zur Affekttherapie nochmals danach unterschieden, ob sie der Selbstanwendung oder der Zorntherapie bei anderen dienen sollen.950 Fr die Selbsttherapie wird eine bestimmte Art des Selbstdialoges empfohlen, nmlich das prfende Fragen. Diese an Novatus adressierte Empfehlung geschieht in Form von Exempla, und zwar in zwei Stufen. Zunchst erwhnt Seneca das Beispiel des Sextius: am Ende eines Tages, wenn er sich zur Nachtruhe zurckgezogen hatte, fragte er sich: ,Welche deiner Schwchen hast du heute geheilt? Welchem Fehler hast du Widerstand geleistet? In welchem Punkte bist du besser geworden?‘951
Dann beschreibt Seneca seine eigene allabendliche Selbstprfung, die sich von der des Sextius’ nur in einem Punkt unterscheidet: Whrend Sextius sich nach gutem Verhalten befragt, um dieses mittels positiver Verstrker zu habitualisieren, whlt Seneca den Weg, sich nach Fehlverhalten zu befragen, um dieses mçglichst weit zurckzudrngen: tglich verantworte ich mich vor mir. Wenn entfernt ist aus dem Gesichtskreis das Licht und verstummt meine Gattin, die meine Sitte ist, untersuche ich meinen Tag und ermesse meine Handlungen und Worte; nichts verberge ich vor mir selbst, nichts bergehe ich. Warum soll ich etwas von meinen Irrtmern frchten, da ich doch sagen kann: ,Sieh zu, dass du dies nicht weiter tust, fr jetzt verzeihe ich dir. In jenem Wortgefecht hast du zu kmpferisch gesprochen: gerate in Zukunft nicht mit Unerfahrenen zusammen… Jenen hast du freimtiger ermahnt als du musstest… Auf einem Gastmahl haben dich die Witzeleien gewisser Leute … getroffen … Zornig hast Du gesehen…‘952
Nachdem Seneca dem Adressaten der Schrift zuerst Sextius als Exempel prsentiert hat, spricht er mit gleicher Intention von sich selbst. Er beschreibt dabei einige Umstnde, die der bung des Selbstdialoges mehr Effektivitt verleihen: die Hufigkeit, die Regelmßigkeit (jeden Tag zur selben Uhrzeit) und das Alleinsein. Bei der Beschreibung des Fehlverhaltens, das durch falsche Affekte verursacht oder diese zur Folge hatte, verwendet er eine leicht typisierte Form, von der er aber immer mehr abweicht. Das Grundmuster besteht aus der Beschreibung des Verhaltens bzw. der falschen Affekte. Es folgt ein Vorschlag fr ein Agieren und Denken, das die Ruhe der Seele in einer hnlichen Situation sicherstellen
949 950 951 952
Siehe Sen. Ira 3, 1, 1 – 2. Siehe Sen. Ira 3, 39, 1. Sen. Ira 3, 36, 1. Sen. Ira 3, 36, 3 – 3, 37 – 5.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
241
soll. Diese adhortativen Momente werden aber immer lnger und hufiger von begrndenden Satzteilen unterbrochen. Es ist unwahrscheinlich, dass Seneca hier einen wirklich gehaltenen Selbstdialog protokolliert oder im Schreiben fhrt. Erstens mçchte er hier in erster Linie ein Exempel geben und weniger etwas dokumentieren. Auch der zuvor wiedergegebene Selbstdialog des Sextius diente diesen Zwecken. Zweitens wirken die Stze des Selbstdialogs zu formalisiert, und drittens sind sie zu unspezifisch, um Teil eines konkreten eigenen Selbstdialoges zu sein. Dies wird viertens durch die Beobachtung gesttzt, dass Seneca ja behauptet, sich jeden Abend seine Fehler vor Augen zu fhren, aber die Menge und Art der Verfehlungen, die dann aufgelistet werden, erscheint zu lang fr einen Tag zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass er eine Liste anlegen wollte, die in Form eines musterhaften Selbstdialoges modellhafte Bausteine oder Anregungen fr eigene Selbstdialoge des Lesers prsentiert.953 Dies legt nahe, dass Senecas Texte zwar bekunden, dass er Selbstdialoge gefhrt hat und dass sie den Selbstdialog als philosophisches Therapeutikum thematisieren und empfehlen; jedoch scheinen sie nicht seine eigene Praxis des Selbstdialoges zu protokollieren. Mit dieser These eng verbunden sind Annahmen ber die Bedeutung des Schreibens fr den Selbstdialog. Bevor darauf eingegangen wird, sind neben der Hauptfundstelle in der Abhandlung ber den Zorn zwei weitere relevante Textstellen zu untersuchen. In einem anderen Brief entgegnet Seneca der Klage, der Tod sei das grçßte Unglck, auch weil wir langsam strben, mit folgender Gegenfrage: „Gibt es vielleicht ein besseres Ende als in sein Ende durch die lçsende Macht der Natur hinber zu gleiten?“954 Es handelt sich bei der Klage wohl nicht um einen fiktiven Einwand, den eventuell Lucilius, der Adressat des Briefes, machen kçnnte, sondern um die Fortfhrung eines kurz vorher erwhnten Streitgesprches, das seine Seele mit ihm selbst gefhrt hat. Nach dem Streitgesprch hatte Seneca eine kurze Bestimmung des „Nachdenkens“ als Betrachten der Seele gegeben.955 Dennoch bleiben Zweifel, wie weitgehend hier der Text ein tatschliches Selbstgesprch wiedergibt, denn diesem Streitgesprch hatte die Seele, das Alter sei die schçnste Zeit, was nicht ganz zur anschließenden Klage passt. 953 „Seneca did not always specify the exact phrases to be used while meditating. Instead, he left such details to the imagination of the correspondent.“ Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O., S. 1493. 954 Sen. Ep. 26, 4. 955 Siehe Sen. Ep. 26, 2 – 3.
242
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Auch eine weitere in diesem Zusammenhang oft erwhnte Textpassage macht dies deutlich: Sooft du prfen willst, ob etwas geschehen ist, beobachte, ob du dasselbe heute willst wie gestern: eine Sinnesnderung zeigt an, dass die Seele schwimmt, bald hier und bald dort ,auftaucht‘, wie der Wind weht.956
Hierbei handelt es sich um eine Aufforderung zur Selbstbeobachtung,957 zur Prfung der internen Vorgnge, die Epiktets Aufforderung, die Vorstellung in einem Dialog mit sich selbst zu prfen, vielleicht vorweg nimmt, aber ein Selbstdialog wird hier – selbst bei großzgiger Auffassung – allenfalls angedeutet. In jedem Falle kann dies schwerlich als explizite Erçrterung oder Dokumentation eines Selbstdialoges gelten. Fr diesen Umstand lsst sich jedoch eine Erklrung geben. Seneca schreibt eben keine reinen Selbstdialoge, sondern Briefe und oftmals mit Adressierungen versehene Abhandlungen, die er verçffentlicht hat. Der Verschrnkung von Selbstdialog und interpersonalem Dialog einerseits und der Betonung des Zusammenseins entspricht besonders die Briefform. Wenn ein reales Zusammenkommen der Gesprchsteilnehmer nicht mçglich ist, kann der Brief ersatzweise eine Verbindung schaffen: „Niemals empfange ich einen Brief von dir, ohne dass wir nicht sofort zusammen sind.“958 Briefe zu lesen und zu schreiben bedeutet fr Seneca ein Gesprch zu fhren: [M]it Bchern habe ich das meiste Gesprch. Wenn einmal dazwischen kamen deine Briefe, mein ich zusammen zu sein mit dir und fhle mich innerlich so, als schriebe ich dir nicht zurck, sondern antworte. Daher will ich mich auch ber das, was du fragst, gleichsam mit dir unterhalten.959
Der Brief ist, so legen andere Passagen nahe, keineswegs ein mangelhafter Ersatz fr den realen Dialog, er zeichnet sich vielmehr durch besonders fçrderliche Eigenschaften aus: 956 Sen. Ep. 35, 4. 957 Auch die Passage Ep. 20, 3 behandelt nicht den Selbstdialog, sondern die Selbstbeobachtung: „Beobachte dich daher, ob nicht etwa deine Kleidung und dein Haushalt im Gegensatz zu einander sind, ob du nicht etwa bei dir selbst großzgig bist, gegenber den Deinen knausrig, …“. 958 Sen. Ep. 55, 9. 959 Sen. Ep. 67, 2. Seneca setzt „sermo“ und „epistula“ gleich. Siehe ferner Sen. Ep. 38, 1. Zum Hintergrund siehe Cancik, H.: Untersuchungen zu Senecas Epistulae Morales, Hildesheim 1967, S. 52 und 60 und Baardt, U.: Denken im Dialog, Senecas Epistulae morales, in: Meyer, M. (Hg.): Zur Geschichte des Dialoges, Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas, Darmstadt 2006, S. 40 – 53, hier: S. 42 f.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
243
Verkehren kann man mit Freunden, auch wenn sie abwesend sind, und zwar sooft du willst, solange du willst: mehr genießen wir diese Freude, die die grçßte ist, wenn wir nicht anwesend sind. Gegenwart macht uns nmlich verwçhnt, und weil wir gelegentlich zusammen sprechen, spazieren gehen, uns niederlassen, so – wenn wir uns getrennt haben – denken wir berhaupt nicht an die, die wir eben gesehen haben.960
Das durch den Brief mçgliche Zusammensein auf Distanz bietet den Vorteil, strker auf eine Sachfrage konzentriert zu sein. Im realen Dialog drohe die Gefahr, den sachlichen Kern durch zu komplizierte Beschreibungen oder Nennung zu vieler Einzelheiten zurcktreten zu lassen.961 Der Brief erlaubt dem Leser, die Worte des Schreibers zu dosieren, damit sie wie „ein bestndiges Wasser“ und nicht wie ein „Wildbach“962 auf ihn einstrzen. ber die Worte, die in einem Dialog und nicht in einem Traktat verwandt werden, schreibt er: „Leichter finden sie Zugang und bleiben hngen: nicht nmlich sind viele nçtig, sondern wirksame.“963 Die von Seneca eher mit dem Brief als dem wirklichen Gesprch verbundene Bestndigkeit fgt sich in seine generelle Bestimmung der Philosophie als bung, fr die „continuatio“. Seneca ist weniger an einer strikten Trennung von Selbstdialog und interpersonalem Dialog gelegen oder daran, eine Prferenz auszusprechen. Die Briefform favorisiert er gerade, weil sie beide Dialogtypen kombiniert und als Dialog grundstzlich effektiver ist als ein Traktat. Aus diesem Grunde ist zugleich verstndlich, warum seine Texte so wenig Selbstdialoge wiedergeben oder rein als solche angelegt sind. Im Rahmen dieser berlegungen ist die Forschungskontroverse, ob Senecas Briefe reine Kunstbriefe sind964 oder ob er sie tatschlich fr seinen Freund abgefasst hat und an ihn schickte, nicht maßgebend. Fr die These, jemand mit dem Namen Lucilius habe diese Briefe nie erhalten, spricht vielleicht, dass die Bcher im Ganzen so etwas wie einem Kompositionsprinzip folgen. Doch auch wenn Seneca nur etwas verçffentlichen wollte und dafr Traktate in Briefform verfasst hat, behalten die oben gemachten Argumente ihre Gltigkeit. Denn die bereinstimmung von 960 961 962 963 964
Sen. Ep. 55, 9. Siehe Sen. Ep. 71, 4. Sen. Ep. 40, 8. Sen. Ep. 38, 1. So Knoche, U.: Der Gedanke der Freundschaft in Senecas Briefen, in: Maurach, G. (Hg.): Seneca als Philosoph, Darmstadt 1975, S. 149 – 166, hier: S. 152; Cancik, H.: Untersuchungen zu Senecas Epistulae, a.a.O., S. 4 und Maurach, G.: Geschichte der rçmischen Philosophie. Eine Einfhrung, Darmstadt 1997, S. 110.
244
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Form und Inhalt bleibt bestehen. Darber hinaus ließe sich anmerken, dass Seneca auf eine dialogische Textform so viel Wert legt, dass er sie auch dann verwendet, wenn es keinen realen Anlass dafr gibt. Die Frage der Authentizitt der Briefform lsst sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Es ist mçglich, dass vor der Publikation eine Selektion stattgefunden hat, der nicht nur die Briefe von Lucilius, sondern auch einige – vielleicht weniger philosophisch gehaltvolle – von Seneca zum Opfer gefallen sind.965 Bei Epiktet ergibt sich die Bedeutung des Selbstdialoges notwendig aus dem grundlegenden Axiom seiner Philosophie, nmlich der Unterscheidung von Dingen, die in unserer Macht stehen, und solchen, die wir nicht kontrollieren kçnnen. Die Unterscheidung selbst ist nicht von ihm eingefhrt worden, sie ist bereits wesentlich fr Aristoteles’ Trennung der Pragmatien und außerdem von frheren Stoikern thematisiert worden.966 Bei Epiktet hat dieser Grundsatz (jam¾m) jedoch eine neue, umfassendere Bedeutung und Verwendung bekommen.967 Die Distinktion von Dingen innerhalb und außerhalb unseres Verfgungsbereiches spielt in der stoischen Ethik eine tragende Rolle, weil sie die Lehre von den Gtern und Entscheidungen bestimmt: Gut oder schlecht kann nur etwas sein, das in unserer Macht steht. Alle Dinge, die nicht vom einzelnen Menschen kontrolliert werden kçnnen, sind fr ihn hinsichtlich der Kriterien „gut“ oder „schlecht“ nicht unterschieden (!di²voqa). Entsprechend wichtig ist die Distinktion fr den Bereich unserer Entscheidung (pqoa¸qesir). Der jam¾m ist bei Epiktet erstens so wichtig, weil er nicht nur unsere Entscheidungen betrifft. Ein Geltungs- und Bedeutungszuwachs ergibt sich aus einer zweifachen Bedeutung von pqoa¸qesir : Neben der einfachen und grundlegenden Bedeutung als Wahl oder Wahlvermçgen bezeichnet Epiktet damit besonders hufig di²moia und kºcor.968 Der Begriff fhrt 965 Siehe dazu Grimal, P.: Seneca. Macht und Ohnmacht des Geistes, a.a.O., S. 316 und 327, dann Baardt, U.: Denken im Dialog, a.a.O., S. 41. 966 Fr Hershbell geht die Unterscheidung in der Stoa bis auf Zenon zurck, wofr er Referenztexte anfhren kann (siehe Hershbell, J. P.: Epictetus and Chrysippus, in: ICS 18 (1993), S. 139 – 146). Ein spteres Beispiel wre Sen. Ep. 71, 32. 967 Erste Hinweise dazu finden sich bereits bei Pohlenz, M.: Griechische Freiheit. Wesen und Werden eines Lebensideals, Heidelberg 1955, S. 161 ff. 968 Der pqoa¸qesir-Begriff Epiktets hat bereits einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Siehe Bonhçffer, A.: Epictet und die Stoa. Untersuchungen zur stoischen Philosophie, Stuttgart 1890 (Neudruck 1968), S. 118 – 121. Siehe ferner Pohlenz, M.: Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 1, 6. Aufl., Gçttingen 1984, S. 332 – 4; Rist, J. M.: Stoic Philosophy, a.a.O., S. 226 – 232; Dihle, A.: The Theory of Will in Classical Antiquity, Berkeley/Los Angeles/London 1982, S. 60 f.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
245
damit die Instanzen und Akte des Wollens und die hçheren geistigen Seelenteile zusammen. Dass Epiktet dabei das Denken gegenber dem Willen so sehr betont, entspricht seiner ausgeprgten kognitivistischen Grundhaltung. Prohairesis meint die dem Menschen eigene und freie Selbstbestimmung.969 Wie sehr die Auseinandersetzung mit der eigenen pqoa¸qesir Signum des Menschen ist, wird auch anhand des Selbstdialoges deutlich werden. Epiktets Aussagen zum jam¾m unterscheiden sich zweitens von Vorlufern, weil Epiktet alle Techniken der Fremd- und Selbstbeeinflussung ganz von diesem bestimmen lsst. Die Bedeutung und praktische Verwendung der Unterscheidung von Dingen inner- und außerhalb unserer Einflusssphre sind also neu. Epiktet bespricht verschiedene Typen von Situationen (peqist²seir), in denen der jam¾m Anwendung finden soll.970 Eine solche Technik der Selbstbeeinflussung ist auch der Selbstdialog. Er steht in besonders enger Verbindung mit dem jam¾m. Dazu vier Anmerkungen: (i) Die Verbindung hat bereits ußerliche Grnde, denn in vielen Situationen, die besonders schwierig sind, sind Menschen alleine. Hier kçnnen sie sich nur selber helfen. (ii) Ferner folgt die Bedeutung der Verbindung formal aus dem jam¾m selbst, denn wenn nur unser Urteil in unserer Macht steht, sollten und kçnnen sich Menschen auf nichts anderes konzentrieren, denn alle anderen Dinge sind gleichgltig. Laut jam¾m bleibt dem Menschen kein anderer Gestaltungsraum brig, als sich auf das zu konzentrieren, was fr ihn gut ist: seine richtigen Urteile und die daraus folgenden Tugenden bzw. das Meiden des Gegenteils. (iii) Der jam¾m gibt Inhalte des Selbstdialoges vor, denn er fordert eine Seelenverfasstheit und ein Handeln, das nicht leicht zu erreichen ist und daher bestndig angemahnt werden muss, sowie dass die dafr nçtigen Urteile bestndig gebt werden mssen.
969 So schon Dçring, K.: Sokrates bei Epiktet, in: Dçring, K./Kullmann, W. (Hg.): Studia Platonica. Festschrift fr H. Gundert, Amsterdam 1974, S. 195 – 226, hier: S. 200 f., und dann in Folge Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 85, Anm. 21. 970 Siehe dazu z. B. Arr. Epict. diss. 1, 1, 21 f., wo es zunchst um Szenarien geht, die zum Typen-Bestand der Konsolationsliteratur gehçren: Tod, Gefangennahme, Exil.
246
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
(iv) So folgen aus dem jam¾m bestimmte Formen und Wege des Selbstdialoges. Erforderlich ist die Etablierung der richtigen Urteile, ihre Sicherung oder Verfestigung und schließlich die Fhigkeit sie anzuwenden. Daraus ergibt sich, dass der Selbstdialog zum einen rational und argumentativ vorgeht, zweitens durch Mahnung sowie Erinnerung in Form von Wiederholung Bestndigkeit der Urteile erzielt und schließlich konzise Formulierungen verwendet, die seine Anwendbarkeit erleichtern bzw. seine Effektivitt steigern. Arrians Aufzeichnungen geben weniger reine Vortrge wieder, die von dialogischen Momenten nur unterbrochen werden, sondern ausgedehnte Lehrgesprche mit den Schlern, in denen verschiedene Formen der Dialogizitt eine tragende Rolle spielen. Gerade wegen der Bedeutung des Selbstdialoges ist es wichtig, ihn von anderen Formen praktischer bungen oder Typen der Dialogizitt zu unterscheiden.971 Monologische Abschnitte, wie ein Gebet, eine Reflexion, in der das „generalisierende Ich“ verwandt wird, oder eine kurze Alleinrede, die sich aus einem interpersonalen Dialog ergibt und schnell wieder von einem solchen abgelçst wird, werden daher im Folgenden nicht untersucht.972 Selbstdialoge sind bei Epiktet gut gekennzeichnet, entweder durch eindeutige Aufforderungen,973 bestimmte einleitende Formulierungen974 oder eine namentliche Anrede an sich selbst.975 Selbstdialoge werden bei Epiktet auf dreifache Weise thematisch: (i) als allgemeine Aufforderung, die auch Aussagen zum Ziel des Selbstdialoges enthalten, (ii) als konkrete Selbstdialoge, die sich auf bestimmte praktische Situationen beziehen und (iii) als Selbstdialoge, die sich weniger auf ußere Situationen beziehen, sondern endogen sind, weil in ihnen die eigenen Vorstellungen einer unterredenden Prfung unterzogen werden.976 971 Siehe Newman, R. J.: Cotidie meditare, a.a.O., S. 1496 ff. und Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., unterscheiden hier nicht hinreichend. 972 Es ist das Verdienst der Studie von B. Wehner („Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets“, a.a.O.), diese Typen ihrer Form und Funktion nach unterschieden zu haben. Dies ist ein Fortschritt gegenber lteren Arbeiten wie Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, a.a.O., S. 55 f. 973 Z. B. Arr. Epict. diss. 2, 5, 4. 974 Z. B. Arr. Epict. diss. 3, 24, 111. 975 Z. B. Arr. Epict. diss. 2, 18, 17 oder 3, 1, 12. 976 Die Einteilung der Gruppen und die Zuordnung von Texten ist nicht deckungsgleich mit der Dreiteilung bei Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
247
Bei den allgemeinen Beschreibungen des Selbstdialoges (i) und seines Zweckes bezeichnet Epiktet den verbalen Akt gerne mit dem Verb kake?m. Bei den anderen Gruppen von Passagen (ii und iii) verwendet er wegen der Verschiedenheit des Anlasses oder Zweckes eine etwas grçßere Spannbreite an Vokabeln: !pojq¸meshai, k´ceim, eQpe?m, lelm/shai. Die eigentlichen Selbstgesprche sind in der Regel in Ich-Form gehalten, das „Du“ verwendet Epiktet im Selbstdialog weitaus seltener, als Marc Aurel es tun wird. Fr die Aufforderung zum Selbstdialog verwendet er jedoch fast immer ein „kommunikatives Du“, wodurch deutlich wird, dass diese Ermahnungen an die Schler gerichtet sind. Ad (i) Die Aufforderung. Epiktets Aufforderungen zu Selbstdialogen verbinden mehrere thematische Strnge. Zunchst mahnt er an, nach dem Vorbild des Sokrates schriftlichte Selbstdialoge zu fhren: Wie, schrieb Sokrates nicht? – O ja, soviel wie nur einer. Aber wie hat er geschrieben? Da er nicht allzeit einen fand, der seine Anschauungen bestreiten, oder dessen Anschauungen er mit ihm abwechselnd bestreiten konnte, so nahm er es auch wohl oftmals mit sich selbst auf und prfte sich selbst und arbeitete stets irgendeinen Grundbegriff zum eigenen Gebrauche auf. Dergleichen schreibt ein Philosoph.977
Abgesehen von der Merkwrdigkeit, dass Epiktet Sokrates fr einen Polyskriptor hlt, ist interessant, dass er den Selbstdialog mit verschiedenen anderen Aspekten verknpft, nmlich der schriftlichen Ausbungsform,978 dem Elenchos (hier der Selbstprfung) und der Begriffsuntersuchung, sowie der Funktion des eigenen Gebrauches.979 Damit sind bereits die wesentlichen Inhalte und Aufgaben des Selbstdialoges angesprochen. in den Diatriben Epiktets, a.a.O., Kap. 6.1. Wehner bercksichtigt die hier als dritte Gruppe ausgemachten Selbstdialoge nicht und sieht dafr andere Selbstadressierungen als nicht unmittelbar auf die Praxis bezogen. Dennoch hat die hiesige Darstellung von Wehners Untersuchung sehr profitiert. 977 T¸ owm. Syjq²tgr oqj 5cqavem. Ja· t¸r tosaOta. !kk± p_r. 1pe· lμ 1d¼mato 5weim !e· t¹m 1k´cwomta aqtoO t± dºclata C 1kecwhgsºlemom 1m t` l´qei, aqt¹r 2aut¹m Ekecwem ja· 1n¶tafem ja· !e· l¸am c´ tima pqºkgxim 1c¼lmafem wqgstij_r. taOta cq²vei vikºsovor. Arr. Epict. diss. 2, 1, 32 – 33. 978 Siehe hierzu gesondert das Kap. I 6. 979 Dass Epiktet das Selbstgesprch auch fr die Begriffsuntersuchung empfiehlt, kann als Hinweis gelten, dass der Selbstdialog zwar vorrangig fr ethische Zwecke verwendet wird, aber nicht ganz ausschließlich. Ein Beispiel fr solche Selbstdialoge außerhalb des typischen moralischen Kontextes findet sich bei Plutarch Praec. ger. reip. 813 E. Fr diesen Hinweis danke ich Geert Roskam.
248
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Das Verhltnis von Selbstdialog und interpersonalem Dialog scheint aufgrund dieser Passage eines der Substitution zu sein. Der Selbstdialog soll die Funktionen des interpersonalen Dialogs bernehmen, wenn ußere Grnde, z. B. Einsamkeit, dies erforderlich machen. Vorbehaltlich einer genaueren Untersuchung von Senecas und Epiktets Werken darf also vermutet werden, dass damit das Verhltnis der beiden Dialogformen ein anderes als bei Seneca ist, der sie stark miteinander verbindet und insbesondere den Selbstdialog vom interpersonalen abhngig macht. Aber der Eindruck, fr Epiktet sei der Selbstdialog nur ein Ersatzmittel, tuscht. Zumindest ußert er sich in vielen anderen Passagen gegenteilig: Mensch, wenn anders du einer bist, so musst du auch allein spazieren gehen und mit dir selbst reden und dich nicht unter dem Chor verbergen. Lass dich einmal in eine Untersuchung ein, beschaue etwas von allen Seiten, schttle dich durch, damit du erkennst, was an dir ist.980
Wieder ist der Selbstdialog mit der Untersuchung verknpft, jedoch ist er hier keine Methode zweiter Wahl, die nur wegen der Einsamkeit notwendig geworden ist. Vielmehr ist die Verbindung von Selbstdialog und Einsamkeit hier als Mahnung, sein Menschsein zu aktualisieren, gefasst. Diesen Eindruck besttigt auch: Allein man muss sich nichtsdestoweniger auch darauf einrichten, dass man mit sich selbst vorlieb nehmen und sich selbst Gesellschaft sein kçnne. Wie Zeus sich selbst Gesellschaft ist und in sich selbst ruht und sich mit Absichten, die seiner wrdig sind, beschftigt: so mssen auch wir imstande sein, mit uns selbst zu reden, anderer nicht zu bedrfen.981
Einsamkeit und Autarkie werden durch den Selbstdialog eingebt und aktualisiert. Wie sehr diese Verbindung ein positives Ideal ist,982 zeigt die Erwhnung von Zeus, der es genauso mache. Die Aufforderung, Selbstdialoge zu fhren, ist also Teil der allgemeinen und fr Epiktet fundamentalen Mahnung, in allen Dingen Zeus zu folgen bzw. sich seinem Willen zu fgen und so frei zu sein.983 980 %mhqype, eU tir eW, ja· lºmor peqip²tgsom ja· saut` k²kgsom ja· lμ 1m t` woq` jq¼ptou. sj¾vhgt¸ pote, peq¸bkexai, 1mse¸shgti, Vma cm`r, t¸r eW. Arr. Epict. diss. 3, 14, 2 – 3. 981 Arr. Epict. diss. 3, 3, 6 – 7. 982 Den Selbstdialog als Ergebnis, nicht als Weg der philosophischen Bemhungen, schildert auch Arr. Epict. diss. 3, 12, 10. 983 Die Zeus-Hymne von Kleanthes (SVF 1, 527) zitiert Epiktet gerne (siehe Arr. Epict. diss. 2, 23, 42; 4, 1, 131; Arr. Epict. ench. 53). Zur Freiheit als Unterwerfung unter den Willen Zeus‘ siehe Arr. Epict. diss. 2, 17, 23 – 25. Zur Verbindung von Zeus und jam¾m siehe die Diatribe Arr. Epict. diss. 3, 24, 111 ff.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
249
Eine allgemeine Aufforderung zum Selbstdialog ist auch: „Sprich mit dir selbst, be die Vorstellungen, bilde die Begriffe aus!“984 Der Imperativ, Selbstdialoge zu fhren, scheint hier neben der Aufforderung zur Auseinandersetzung mit den je eigenen Vorstellungen (vamtas¸ai) und Begriffen (pqºkgxsir) zu stehen. Fraglich ist jedoch, ob Epiktet mit vamtas¸ai und pqºkgxsir nicht bereits Inhalte des Selbstdialoges anspricht.985 Der Vermutung, dass zumindest die berprfung der vamtas¸ai in einem engen Verhltnis zum Selbstdialog steht, wird gleich anhand der dritten Gruppe von Textpassagen zum Selbstdialog nachgegangen. Die oben wiedergegebene Erwhnung von Sokrates durch Epiktet ist aus einem anderen Grunde interessant. Wie Sokrates solle man mit sich selbst sprechen, sich selbst prfen, um zu erkennen, was fr ein Mensch man sei. Von Hirzel stammt die These, bei Epiktet ersetze der Selbstdialog die sokratische Selbsterkenntnis.986 Dass Epiktet Selbsterkenntnis und Selbstdialog zu Ungunsten des ersten unterscheidet und dass dies unsokratisch sei, ist wenig plausibel. Der Selbstdialog fhrt auch bei Epiktet zu einer besseren Erkenntnis ber sich selbst, da die eigenen Sinneseindrcke, Vorstellungen, Urteile und Bestrebungen einer bestndigen Selbstprfung und Kontrolle unterwerfen werden sollen. Dazu muss man diese und somit sich selbst kennen.987
984 Arr. Epict. diss. 4, 4, 26. 985 Wehner macht hier eine Beschreibung von drei getrennten bungsformen aus (siehe Wehner, B.: Zur Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 81). 986 Siehe Hirzel, R.: Der Dialog, a.a.O., S. 248. 987 Gerade was das Verhltnis von Selbstsorge und Selbsterkenntnis angeht, scheint Epiktet wieder zur sokratischen Position zurckzukehren, zumindest derjenigen, die Platon in der Apologie (und im Alkibiades) beschreibt. M. Foucault hat eine ganze Vorlesungsreihe der Selbstsorge (im Verhltnis zur Selbsterkenntnis) gewidmet. Besonders fr die genannten Dialoge Platons konnte er zeigen, dass die Selbstsorge, die Sokrates mehrfach anmahnt (siehe Apol. 29d., 36b-c, 30a-c, 36bc; Alc. 127e), die Selbsterkenntnis einschließt. Die Frage nach der (Selbst-) Erkenntnis wurde aber mehr und mehr als Untersuchung der Seele als Substanz verstanden und habe sich von der Selbstsorge abgelçst (siehe Foucault, M.: Die Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2004, S. 14 – 45). So verstanden kehrt Epiktet zur sokratischen Wurzel zurck. Die Selbsterkenntnis ist ein wichtiger Teil dieser Ausrichtung der Philosophie, aber darum eben nicht autonom.
250
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Die praktisch-ethische Zwecksetzung der Selbstdialoge bei Epiktet988 ist nicht berraschend, sie entspricht der Orientierung seiner gesamten Philosophie. Selbstdialoge, zu denen Epiktet seine Schler auffordert, thematisieren diese Funktion der bungen. In Selbstdialogen soll man sich auch klar machen, warum und wofr man sie fhrt: „Was mssen wir also bei jedem rauen Schicksal, das uns zustçßt, sagen? ,Eben auf dergleichen habe ich mich vorbereitet, in dergleichen habe ich mich gebt.‘“989 Eine andere Funktion des Selbstdialoges ist es, erste Erfolge positiv zu verstrken, indem sie im Selbstdialog wiederholt werden, so dass sie auch in der zuknftigen Praxis wieder vorkommen:990 ,Ich war gewçhnt, alle Tage zornig zu werden. Jetzt bin ich es nur einen ber den anderen Tag, dann zwei, dann drei Tage nicht.‘ … ,Ich bin heute nicht unmutig gewesen, ich will es auch morgen nicht werden und so weiter, zwei, drei Monate nicht; aber ich gab acht, wenn etwas eintrat, das mich reizen konnte.‘991
Ad (ii) Selbstdialoge mit Bezug zu ußeren praktischen Gegebenheiten. Selbstdialoge werden von Epiktet als Hilfsmittel in konkreten Situationen empfohlen. Die allgemeine Grundlehre (jam¾m) soll von den Schlern in Form eines Selbstdialoges auf den jeweiligen Situationstypus bezogen werden.992 Bereits die grundlegende Unterscheidung von Dingen soll in einem Selbstdialog erinnert und damit so internalisiert werden, dass er jederzeit zum Zwecke der Selbstbeeinflussung verwandt werden kann: „Erinnerst Du dich an die allgemeinen Regeln? ,Was ist mein? Was ist nicht mein? Was ist in meine Gewalt gestellt? Was will Gott, das ich jetzt tue? Was will er nicht?‘“993 988 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 3, 13, 6 ff. und 4, 4, 26. 989 Arr. Epict. diss. 3, 10, 7. Anderenorts vergleicht ein Redner seine Kmpfe im Leben in einem Selbstdialog mit einem Olympioniken: „O, will fr mich keine Prfung kommen, wie fr jenen? Soll ich mein Leben hier in einem Winkel vergeuden, der ich einen olympischen Kranz zu erkmpfen im Stande wre? Wann werde ich doch einmal zu einem solchen Kampfe berufen werden?“ (Arr. Epict. diss. 1, 29, 36 – 7). 990 Genau diese Technik hatte Seneca in De ira Sextius zugeschrieben, dann aber, als er sich selbst als Exempel anfhrt, die umgekehrte Variante, d. h. die Vergegenwrtigung von Fehlverhalten oder falschen Gefhlen, empfohlen (Sen. Ira 3, 36, 3 – 3, 37 – 5). 991 Arr. Epict. diss. 2, 18, 12 – 14. 992 „Man muss jede gesunde Anschauung fr den Fall, dass man ihrer bedarf, in Bereitschaft haben: bei einer Mahlzeit die, welche die Mahlzeiten, im Bade, welche das Bad, im Bette die, welche das Bett betreffen.“ Arr. Epict. diss. 3, 10, 1. 993 Arr. Epict. diss. 4, 4, 29. Ganz hnlich: „So soll denn hinsichtlich des Lebens dies dein Hauptgeschft sein: Mache einen Unterschied unter den Dingen, teile sie in
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
251
Hier ist der Selbstdialog eine Mnemotechnik, die der Erinnerung bzw. der Vergegenwrtigung von Erinnertem dient. Diese Funktion ist auch in den Selbstbetrachtungen prominent: Dort fordert sich Marc Aurel vierzig Mal auf, etwas zu erinnern.994 All dies geschieht, um schwierige Situationen, wie den bevorstehenden Tod, Krankheit oder Verbannung, zu meistern. Epiktet gibt seinen Schlern Auflistungen fr solche Lebensumstnde:995 Der Selbstdialog hat oft die Form von pointiert formulierten Fragen.996 Damit er in den entsprechenden Fllen wirklich eine Hilfe sein kann, muss gebt werden, und zwar tglich und in schriftlicher Form, erst dann ist er schnell und sicher genug zur Hand (pqºweiqom).997 Der Selbstdialog besteht keineswegs aus rhetorischen Fragen, diese kçnnten keinen internen Dialog initiieren. Die Fragen sind daher, wie gesagt, ernst gemeint und fordern eine explizite Antwort998 und sind dabei oft pointiert formuliert. Der Selbstdialog schließt fr Epiktet praktische Momente mit ein, weil er nicht nur eine allgemeine Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis beinhaltet. Um uns selbst (auch als Einzelwesen) einschtzen zu kçnnen, bedarf es neben einer Analyse unseres Verhltnisses zu uns selbst der Untersuchung der verschiedenen Relationen, die wir zu anderen Menschen haben.999
994 995
996 997 998 999
Klassen und sage: Die Außendinge sind nicht in meiner Gewalt. Der freie Wille ist in meiner Gewalt. Wo soll ich das Gute und das Bçse suchen? In meinem Inneren, in dem, was mein ist.“ (Arr. Epict. diss. 2, 5, 4 f., siehe dazu Arr. Epict. diss. 3, 3, 14 ff.). Siehe die Stellensammlung bei Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 3. „Mein Verstand (musst du denken) ist jetzt mein Stoff, den ich zu bearbeiten habe, so wie der Zimmermann das Holz und der Gerber die Felle. Meine Aufgabe ist, die sinnlichen Vorstellungen recht zu gebrauchen. Der Leib geht mich nichts an; seine Teile gehen mich nichts an. Der Tod? Der mag kommen, wenn er will, dem ganzen Leibe oder nur einem Teile desselben. Die Verbannung? Wohin? Kann mich jemand aus der Welt hinaus jagen? Das kann niemand, und ich mag hinkommen, wohin ich will, so finde ich doch auch da Sonne, Mond und Sterne, Trume, Vogelzeichen und den Umgang mit Gçttern.“ Arr. Epict. diss. 3, 22, 19 ff. (siehe auch 1, 1, 21 ff.). Fr einen auf verschiedene Situationen ausgerichteten Selbstdialog, der aber keine Fragen verwendet, siehe Arr. Epict. diss. 3, 22, 19 ff. Siehe Arr. Epict. diss. 1, 1, 25 f. und 3, 24, 103. Deutlich wird dies etwa in Arr. Epict. diss. 2, 21, 8; 3, 10, 2 f. und 3, 16, 15. Sehr deutlich wird dies in dem Selbstdialog Arr. Epict. diss. 2, 21, 9 – 11, besonders wegen der von Epiktet gegebenen Erklrungen.
252
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Die abendliche Selbstprfung in Form von Fragen nach dem eigenen Verhalten kennt nach dem Vorbild des carmen aureum neben Seneca auch Epiktet. Eher werde kein Schlaf dem mden Auge vergçnnt, bist du dir von den Taten des Tages Rechnung gegeben. Was ist versumt? Was habe ich verrichtet? Worin ist dem Maße meiner Pflichten nicht getan? So frage den Wandel Deines Morgens und Mittags; so prfe die Stunden des Abends. Werde beschmt, wo Bçses geschehen; des Guten erfreue dich.1000
Epiktets Texte sind noch nicht hinreichend untersucht, aber vielleicht spielt anders als bei Seneca hier sowohl die Kritik an Fehlverhalten als auch die freudige Besttigung und Verstrkung richtigen Agierens eine Rolle. (iii) Selbstdialoge mit Bezug zum Inneren. Zentral ist fr diesen Themenbereich der Umgang mit den Vorstellungen (vamtas¸ai). In Selbstdialogen soll dieser gebt werden. Es handelt sich bei entsprechenden Gesprchspassagen jedoch nicht um besondere Selbstdialoge, weil sie keinen direkten Praxisbezug oder Modellcharakter haben oder nicht mit dem einen Appell versehen sind.1001 Wenn Epiktet fordert „Will dir der Tod ein bel scheinen, so halte bereit: …“ ist erstens auf eine praktische Situation wie Todesfurcht oder Trauer ber den Tod eines anderen Menschen verwiesen, zweitens handelt es sich eindeutig um eine Adhortatio. Epiktet fhrt fort: Es ist eine Pflicht, die bel zu vermeiden, der Tod aber ist unvermeidlich. Denn was will ich machen? Wohin soll ich vor dem Tode fliehen? Lass mich Sarpedon, von des Zeus’ Stamme sein, damit ich ein Wort rede: ,Ich will entweder selbst gehen oder tapfer Taten verrichten oder doch anderen Gelegenheit geben, tapfer zu sein. Wenn ich nicht selbst im Stande bin, Heldentaten zu vollbringen, so will ich doch anderen nicht missgçnnen, edel zu handeln.‘ … Wohin kçnnte ich vor dem Tode fliehen? Nenne mir das Land, nenne mir das Volk, wo ich mich vor ihm retten kçnnte…1002
Der hier nicht ganz wiedergegebene lange Selbstdialog ist wegen verschiedener Aspekte interessant. Er bezieht sich (a) auf eine praktisch relevante Situation, jedoch eine endogene. Die Vorstellung, der Tod sei ein bel, ist angstauslçsend, und die Frage nach einer Fluchtmçglichkeit muss beantwortet werden. Der dann folgende Selbstdialog beinhaltet (b) zu1000 Arr. Epict. diss. 3, 10, 2 – 3. 1001 So Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 98 f. 1002 Arr. Epict. diss. 1, 27, 2 ff.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
253
nchst eine Aufforderung, einen Selbstdialog zu fhren. Der Selbstdialog thematisiert und reflektiert sich damit selber. Zur Vorbereitung auf den Moment der Todesangst soll man sich immer wieder sagen, was man sich dann in der konkreten Situation sagen soll. Insofern ist dieser Selbstdialog genauso modellhaft wie die von Epiktet vorgegebenen Stze. (c) Die bung selbst soll wiederholt werden, wobei zentrale Stze innerhalb einer bung nahezu wortgleich repetiert werden (z. B. „wohin vor dem Tod fliehen“). Fraglich ist, ob Epiktet der Ansicht ist, dass die Ereignisse, die eine Lebenssituation schwierig machen kçnnen, selber als Fragen verstanden werden, die mit Hilfe des jam¾m beantwortet bzw. gemeistert werden sollen. In diesem Falle wrde es sich nicht mehr um einen Selbstdialog im strengen Sinne handeln, sondern um einen Dialog mit personifizierten ußeren Ereignissen oder allgemeinen Lebensumstnden. Aber solche externen Geschehnisse scheint Epiktet nur selten und dann zum Zwecke der rhetorischen Verkrzung zu personifizieren.1003 Andere Textpassagen machen wegen ihrer ausfhrlicheren Darstellung klar, dass es sich um einen echten Selbstdialog handelt, da die externen Umstnde in uns Sinneseindrcke erzeugen und diese Vorstellungen bringen Fragen mit sich, auf die wir antworten mssen.1004 Dass der Selbstdialog den Umgang mit den vamtas¸ai zum Gegenstand hat, enthllt die zwei Bedeutungsebenen dieses Wortes bei Epiktet. vamtas¸a meint zunchst den durch die Sinne vermittelten Eindruck, dann aber auch ein Urteil ber die im Geist vorgestellten Dinge, an dem di²moia beteiligt ist.1005 Eine vamtas¸a im ersten Sinne ist Initiator oder Anlass des Selbstdialoges, aber durch ihn nicht zu ndern. Die vamtas¸a im zweiten Sinne ist innerhalb unserer Einflusssphre und durch die Technik des Selbstdialoges beeinflussbar. 1003 Z. B. Arr. Epict. diss. 2, 16, 2. 1004 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 27, 1 – 14. Es handelt sich daher nicht um eine Art interpersonalen Dialog, wie ihn laut Teles (2, 6, 8 ff.) Bion mit der Armut gefhrt haben soll (so aber Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 86, Anm. 24, die aber viele weitere Stellen und Literatur nennt). 1005 Diese Bedeutungen des vamtas¸a-Begriffs bei Epiktet sind altbekannt (siehe Bonhçffer, A.: Epictet und die Stoa, a.a.O., S. 139 f. und Billerbeck, M.: Epiktet. Vom Kynismus, Leiden 1978, S. 74). Dass die Wahrnehmung, d. h. der Eindruck, den die Seele vermittels der Sinne erhlt, bereits urteilende Momente enthlt und unmittelbar zu einem Urteil fhrt, ist bereits in Platons Theaitetos Thema (siehe Pl. Theait. 178, dazu Hardy, J.: Platons Theorie des Wissens im Theaitet, Gçttingen 2001).
254
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Wie wir uns gegen die verfnglichen Fragen der Sophistik ben, so sollten wir uns auch alle gegen die sinnlichen Vorstellungen ben. Denn diese geben uns Fragen auf. Diesem ist ein Sohn gestorben. Was denkst du darber? Antworte1006 darauf: Nicht vom Willen abhngend, als kein bel.1007
Obschon ein solcher Selbstdialog nicht weniger praktisch orientiert bzw. praktisch effektiv ist, insofern er die Anwendung des jam¾m ben soll, handelt es sich dennoch aus verschiedenen Grnden um eine besondere Art des Selbstdialoges. Anders als bei der mçglichen, aber verkrzenden Interpretation, der zufolge uns die ußeren Umstnde selbst Fragen stellen, ist bei der hier vertretenen Deutung erstens sowohl der Ausgangs- wie der Endpunkt des Dialoges etwas Internes, nmlich die sinnliche Vorstellung (vamtas¸a). Zweitens sind die Selbstdialoge, die die vamtas¸a als Fragensteller bzw. Urteil behandeln, interessant, weil – im Gegensatz zu vielen anderen Selbstdialogen – hier deutlich wird, wie der Selbstdialog zustande kommt, weil spezifiziert wird, wer in welcher Rolle berhaupt Dialogpartner und Adressat ist. Drittens werden im Selbstdialog nicht nur die vamtas¸ai in ihren beiden Bedeutungen behandelt. Auch pqok¶xir und rpºkgxir spielen eine Rolle,1008 so dass der Selbstdialog bei der Konstitution aller wichtigen Seelenvermçgen beteiligt ist. Auch bei Epiktet ist Denken zu einem guten Teil ein Selbstgesprch. Das Bild von der externen Welt, unsere kognitiven und die davon abhngigen emotionalen Reaktionen, werden in und durch 1006 Das Antworten (!pojq¸meshai) hlt Rabbow fr einen fest mit den Mysterienkulten in Verbindung stehenden Ausdruck; auf die Fragen msse man mit einer Bekenntnisformel antworten (siehe Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 348 f.). Wehner bringt mit Verweis auf Epiktet 3, 8, 1 ff. das !pojq¸meshai in Verbindung mit allgemeinen Prfungssituationen und besonders den sophistischen Fragen (siehe Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 86, Anm. 25). Neben sophistischen und rhetorischen Herausforderungen (siehe z. B. Epiktet 2, 16, 2) werden aber auch „pyrrhonische oder akademische Trugschlsse, die uns plagen“ (Arr. Epict. diss. 1, 27, 2) genannt. Fragen und Antworten, gerade im Selbstdialog, sind fr Epiktet viel wahrscheinlicher ein Selbstprfungsverfahren, das er expressis verbis auf Sokrates zurckfhrt (siehe Arr. Epict. diss. 2, 1, 32 – 33). 1007 Epiktet 3, 8, 1. 1008 Fr die bung der pqok¶xir siehe Arr. Epict. diss. 4, 4, 26 und 1, 22, 5 – 8, fr die rpºkgxir Arr. Epict. diss. 3, 16, 15. Beide bungen sind also nicht vom Selbstdialog getrennte bungsfelder, sondern kçnnen durch den Selbstdialog bernommen werden. Eine teilweise Trennung nimmt Wehner an (Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 81).
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
255
den Selbstdialog zu dem, was sie sind. Dem Selbstdialog kommt daher die zentrale Rolle der Selbsterkenntnis zu: Mensch, wenn anders du einer bist, so musst du allein spazieren gehen und mit dir selbst reden und dich nicht unter dem Chor verbergen. Lass dich einmal in eine Untersuchung ein, beschaue etwas von allen Seiten, schttle dich durch, damit du erkennst, was an dir ist.1009
Viertens sind die Selbstdialoge, die Epiktet zur Auseinandersetzung mit den vamtas¸ai empfiehlt, besonders, weil sie eben nicht in bestimmten Situationen gefhrt werden mssen. Sie mssen permanent praktiziert werden und sind demnach eine zeitlich betrachtet besonders umfangreiche Technik der Selbstbeeinflussung. Bei allen diesen Arten von Selbstdialogen handelt es sich nicht um Wortprotokolle der Selbstdialoge Epiktets, und zwar weder um solche, die Epiktet mit sich selbst fhrt und die der Text wiedergibt, oder solche, die er, den Text schreibend, mit sich selber fhrt. Es sind Modelle fr die Praxis der Schler, die ein Lehrer ihnen vorspricht. Dafr spricht einiges: (i) Epiktet gibt entsprechende Ein- und Anweisungen.1010 (ii) Besonders bei den Situationskatalogen wird deutlich, dass Epiktet eine ganze Sammlung von Text-Bausteinen fr die Selbstdialoge der Schler prsentiert. Es ist, wie erwhnt, hçchst unwahrscheinlich, dass Epiktet selbst all diese Dinge zeitgleich oder -nah passiert sind. (iii) Aus welchem Grunde, wenn nicht zum Zwecke der Exemplifizierung, fgt Epiktet solche Selbstdialoge in den Fluss seiner Lehrrede ein? (iv) Arrian gibt in seinem Brief an Lucius Gellius an, dass Epiktet gerade zu diesem Zweck geredet hat und dass er auch die Niederschrift durch ihn selbst eben wegen dieser auffordernden Wirkung auf Hçrer und Leser angefertigt habe. (v) So wie Arrian uns die Selbstdialoge prsentiert, sind sie rhetorisch sehr aufgearbeitet.1011 Dies dient der Steigerung des psychagogischen Effekts, zeigt aber auch, dass Epiktet sich offenbar Gedanken gemacht hat, wie er die Selbstdialoge prsentiert. Die monologischen und dialogischen Passagen verwenden die gleichen rhetorischen Mittel wie die Selbstdialoge, so dass nicht zu vermuten ist, die Selbstdialoge seien Wortprotokolle von Epiktets privaten Selbstdialogen. 1009 Arr. Epict. diss. 3, 14, 2 – 3. Fr diese Bedeutung des Selbstdialoges fr die Selbsterkenntnis, Selbstkonstitution, allgemein das Menschsein siehe auch Arr. Epict. diss. 3, 14, 2 – 3 und 3, 3, 6 – 7. 1010 Z. B. Arr. Epict. diss. 2, 21, 8 ff. 1011 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 21, 8 ff. oder 3, 22, 19 ff.
256
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
(vi) Der Vorfhr- bzw. Lehrcharakter, der von Epiktet wiedergegebenen Selbstdialoge zeigt sich auch anhand der Negativbeispiele, die er gibt. Es handelt sich um Darbietungen, wie man nicht mit sich reden soll: Der eine denkt, sobald er aufgestanden ist, daran herum, wem er die MorgenAufwartung machen, wem er etwas Schmeichelhaftes sagen, wem er ein Geschenk berschicken, wie er im Tanz den Preis gewinnen, wie er einem zu Gefallen einem anderen einen boshaften Streich spielen kçnne. Betet er, so betet er um Glck hierin. Opfert er, so opfert er dafr. Die Vorschrift des Pythagoras: Eher sei nicht der Schlaf den mden Augen vergçnnt, bringt er hier an und prft sich jeden Abend: ,Habe ich etwas versumt‘, womit ich mich da oder dort htte einschmeicheln kçnnen? ,Habe ich etwas begangen?‘ Habe ich mir etwa da oder dort erlaubt, wie ein freier, wie ein edler Mann zu handeln? Und wenn er sich auf so etwas entsinnt, so macht er sich Vorwrfe und tadelt sich ,Was ging dies dich an? Und nun gar deine Meinung darber zu sagen! Httest du nicht lgen drfen? Die Philosophen sagen ja, es sei wohl erlaubt, eine Lge zu sagen.‘1012
Epiktet gibt nach einem Negativmodell gelegentlich das entsprechende positive Gegenstck, um beide Paradigmen des Selbstdialoges nebeneinander zu stellen.1013 Gibt es Textstellen, in denen eine eigene Praxis des Selbstdialogs von Epiktet deutlich oder dokumentiert wird? Zumindest zwei weitere Gruppen von Selbstdialogen bei Epiktet lassen sich prima facie nicht als Modelle fr die Schler ausmachen. Zum einem spricht Epiktet sich gelegentlich in einem Selbstdialog namentlich an.1014 Diese Selbstadressierungen Epiktets sind jedoch von Mahnungen und Lehren an die Schler eingerahmt,1015 so dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass Epiktet hier zwar seinen Namen nennt, aber dies in der gleichen paradigmatischen Absicht tut wie bei den anderen Selbstdialogen.1016 1012 Arr. Epict. diss. 3, 6, 30 ff. 1013 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 4, 10, 1. 1014 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 2, 18, 17 und 3, 1, 12. 1015 Vor der Nennung seines Namens spricht er die Schler immer wieder an (Arr. Epict. diss. 2, 18, 1 – 12): „Willst du … dann tue…“ Nach einem kurzen und allgemeinen musterhaften Selbstdialog (Arr. Epict. diss. 2, 18, 12 – 17), taucht dann ein Selbstdialog mit der namentlichen Selbstadressierung auf. Daraufhin folgt aber: „Wie gelangt man, fragt ihr, zu solcher Strke?“ (Arr. Epict. diss. 2, 18, 19). 1016 So auch Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 100 (in Kombination mit S. 94, siehe S. 90: „Man kçnnte vermuten, dass Epiktet hier nicht die bernahme des Selbstgesprches durch die Schler
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
257
Doch abgesehen von dem Umstand, dass dieser Selbstdialog eine andere Gesprchsform, nmlich das Gebet in Form einer Ansprache an Zeus, einschließt, ist der Abschnitt nicht von den anderen bereits beschriebenen paradigmatischen Selbstdialogen unterschieden. Denn es handelt sich weder um eine einzige geschlossene und daher besonders lange Selbstadressierung, sondern um viele kleine, zum Teil nur satzlange Selbstdialoge, die immer wieder von Aufforderungen und Erluterungen, die an die Zuhçrer gerichtet sind, unterbrochen werden. Ferner ist die Passage vielleicht nicht ganz so rhetorisch durchgearbeitet wie viele andere, aber im Ganzen doch so gestaltet, dass der Unterschied zu den anderen Selbstdialogen mit Modellcharakter allenfalls graduell ist: Die bung fr bestimmte Situationen wird angesprochen,1017 der jam¾m spielt dabei nicht nur eine Nebenrolle1018 und auch allgemeine Aufforderungen fehlen keineswegs.1019 Die etwas geringe rhetorische Aufarbeitung mag auf Arrian zurckgehen oder durch den Umstand erklrbar sein, dass Epiktet Klassen mit verschieden alten oder fortgeschrittenen Schler unterrichtete.1020 In jedem Falle sind auch diese Selbstdialoge Teil eines didaktischen Programms. Arrians Text ist entstanden, um ein Vorbild fr Arrian und andere intendiert, sondern lediglich die Lage, in der sich ein fortgeschrittener Schler befindet, verdeutlichen mçchte.“). 1017 „Begegnet dir dann eine solche Widerwrtigkeit, so wird sie dir zuerst schon dadurch erleichtert werden, dass sie dir nicht unerwartet gekommen ist. Denn es ist ein großer Gedanke, und er lsst sich in allen Lagen anwenden: Ich wusste, dass ich einen Sterblichen gezeugt hatte.“ Arr. Epict. diss. 3, 24, 104 – 5. 1018 „Dann gehe in dich selbst und forsche nach, zu welcher Klasse der Dinge der Zufall gehçrt, der dich betroffen hat, und du wirst alsbald inne werden: ‘Er gehçrt unter die Dinge, die nicht von meinem Willen abhngen, die nicht in meiner Macht stehen, die nicht mein sind.’“ Arr. Epict. diss. 3, 24, 106. 1019 „Dergleichen Gesinnungen muss man Tag oder Nacht unterhalten, dergleichen muss man schreiben, dergleichen lesen, dergleichen Sachen muss man mit sich und mit anderen unterreden.“ Arr. Epict. diss. 3, 24, 103. 1020 Die von Rabbow vermutete und von Newman bernommene Unterscheidung von strukturierten und freien Selbstdialogen bzw. Meditationen ist wenig berzeugend. Denn erstens thematisieren weder Seneca noch Epiktet diese beiden Formen, noch kommen sie, zweitens, in den Texten zum Ausdruck. Angeblich handele es sich bei Sen. Ep. 102, 20 – 30 um eine freie Meditation, whrend der Abschnitt 24 – 7 dann die streng strukturierte Form sei. Der Unterschied ist nicht auszumachen, lediglich ist in 24 – 7 eine Anrede an ein „Du“ vorhanden, das sowohl Luculius als auch Seneca meinen drfte. Jedenfalls wre dies aufgrund der oben beschriebenen engen Verschrnkung von Selbstdialog und interpersonalem Dialog bei Seneca eher wahrscheinlich. Strukturiert und streng sind fr Rabbow sptere christliche Formen, die er zum Maß nimmt.
258
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
festzuhalten,1021 und der Text dokumentiert eine Lehre, die Paradigmen geben will, nicht eigene Praxis. Das sieht man schon daran, dass Epiktet diese Selbstdialoge im Text nicht, wie er es selber empfiehlt, alleine und schriftlich fhrt. Die These, dass es sich bei den Selbstdialogen in Arrians Text um Paradigmen fr die Schler und nicht um Protokolle von Epiktets eigenen philosophischen bungen handelt, ist alt und vor allem sehr plausibel.1022 Sie ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Dieser anderen Interpretation zufolge bezeugen sowohl Senecas als auch Epiktets Texte die philosophische Praxis der Autoren.1023 Fr Newman sind Senecas Briefe und Epiktets Diatriben irgendwie („in some way“) Teil der Meditation. Die Praxis des Selbstdialoges und der literarische Ausdruck dieser Praxis sei eine Einheit.1024 Auch fr Rabbow ist „undenkbar, dass die Autoren – bereinstimmend ihre Praxis in einer literarischen Form dargestellt haben, hinter der die praktische Form verschwunden wre.“1025 Der Selbstdialog gehçrt (bei Epiktet mehr als bei Seneca) zu den besonders wichtigen Techniken der Selbstbeeinflussung. Er wird in den Texten von Seneca und Epiktet als solches empfohlen und thematisiert, gelegentlich sogar vorgefhrt. Aber – und das ist entscheidend – die Texte selber kçnnen nicht die Aktualisierung der selbtdialogischen Praxis bei Seneca und Epiktet sein. Im Falle Senecas ist erstens auffllig, dass alle Texte an andere Personen und nicht an sich selbst adressiert sind, was ihrem Inhalt mit seiner Betonung des gemeinsamen Lebens und Philosophierens entspricht. Zweitens entspricht die Form des Textes nicht dem, was er ber die Form von 1021 Zurecht betont bereits Hirzel den leider oft vergessenen Umstand, dass Epiktet zwar (Lehr-) Gesprche gefhrt hat, aber nicht der Autor des Textes ist, der uns vorliegt (siehe Hirzel, R.: Der Dialog, Bd. II, a.a.O., S. 249 f ). 1022 Siehe z. B. bereits Hirzel, R.: Der Dialog, Bd. II, a.a.O., S. 249; dann Erler, M.: Einbung und Anverwandlung, a.a.O., S. 375 f. und Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 91. 1023 Sowohl Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O. als auch Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O. vertreten entsprechende Positionen. 1024 Siehe Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O., S. 1478 f. 1025 Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 308. Zugleich (ebenfalls S. 308) gibt Rabbow zu, dass die fraglichen Passagen etwas anderes als wiedergegebene Selbstdialoge seien, nmlich „eine unvollstndige Wiedergabe; Zusammenziehung; Skizzierung; Unterbrechung, Erweiterung durch literarische Fllsel; und besonders Versandungen des Selbstgesprchs zu rein literarischer, theoretisierender Erçrterung“.
4.1 Selbstdialoge vor den Selbstbetrachtungen
259
Selbstdialogen schreibt, denn weder ist fr ihn das Schreiben ein wichtiges Medium des Selbstdialoges noch entspricht die Brief- oder die Traktatform der abendlichen Selbstbefragung, die er empfiehlt. Bei Epiktet ist der Fall noch klarer: Seine Lehrvortrge erfllen nicht die Kriterien, die er selbst fr einen Selbstdialog bzw. dessen psychagogischen Effekt beschreibt: Erstens sind sie nicht von ihm niedergeschrieben worden. Zweitens ist er whrend des Vortrages nicht allein. Drittens adressiert er nicht sich, sondern seine Schler. Er hlt viertens Vortrge. Seltsamerweise ist Rabbow von Newman trotz der oben beschriebenen bereinstimmung heftig kritisiert worden, weil er Theorie und Praxis der Meditation zu sehr trenne.1026 Obschon es sowohl Seneca wie Epiktet in letzter Konsequenz nicht um eine theoretische Erçrterung des Selbstdialoges geht, sondern darum, ihre Adressaten, also Leser und Zuhçrer, dazu zu bewegen, Selbstdialoge zu fhren, praktizieren sie keinen Selbstdialog, whrend sie einen Brief (oder eine Abhandlung) schreiben oder eine Vorlesung halten. Erst mit den Selbstbetrachtungen wird der Selbstdialog zum bestimmenden Moment eine Textes und seiner Form. Weniger Senecas Texte als die Vortrge von Epiktet betonen die Bedeutung des Selbstdialoges. Vielleicht spricht dies bereits gegen die These von Ch. Gill, der zufolge seit Platon die griechische Ethik ganz auf den interpersonalen Dialog setze. Whrend Seneca letzteren noch betont, sieht Epiktet den Selbstdialog gelegentlich als Ersatz fr den interpersonalen Dialog, dann aber hufig als eigenstndige und vorrangige Form sogar mit der Aktualisierung des Menschseins in Verbindung bringt. Dennoch setzt er, zumindest dem Stand der berlieferung nach, auf den Dialog und Vortrag fr Schler. Mit Marc Aurel konzentriert sich die Stoa der Sache und der Form nach auf den Selbstdialog.
1026 Siehe Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O., S. 1481, Anm. 1 (in Bezug auf Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 140 f. und 338 – 340).
260
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen In der lteren Literatur zu den Selbstbetrachtungen findet sich die Feststellung, der Text sei ein geradezu prototypischer Selbstdialog,1027 jedoch wird dabei keine genaue Analyse vorgelegt, was das denn bedeute. Sptere Arbeiten hingegen erwhnen den Selbstdialog nicht mehr eigens1028 oder sind gegenber der lteren These sehr kritisch. Bereits die Argumente, die Dalfen zur Ablehnung der Thesen von Hirzel gefhrt haben,1029 offenbaren, dass die Frage, inwiefern im Zusammenhang mit den Selbstbetrachtungen von einem Selbstdialog die Rede sein kann, nicht eine Frage, sondern einen ganzen Komplex verschiedener Gruppen von Fragen betrifft, die aber in der Regel nicht unterschieden worden sind. Da diese differenzierenden Fragestellungen fehlen, berrascht es nicht, dass bis dato keine Untersuchung den formalen Reichtum und die vielfltigen Funktionen, die bei Marc Aurel mit dem Selbstdialog verbunden sind, ebenso differenziert beschreibt.1030 Folgende Aspekte der Selbstdialogizitt sollen untersucht werden: (i) Qualitative und quantitative Bestimmung: Gibt es verschiedene Arten von Kapiteln mit Selbstdialogen? (ii) Formale Bestimmung: Welche sprachlichen Mittel kennzeichnen diese Selbstdialoge? (iii) Funktionale Bestimmung: Welchen Zwecken dienen Marc Aurels Selbstdialoge? (iv) Theoretische Bestimmung: Was sagt Marc Aurel ber Selbstdialoge? 1027 Siehe Hirzel, D.: Der Dialog, a.a.O., Bd. 2, S. 264 ff.; Bruns, I.: Mark Aurel, a.a.O., S. 316 f. und Zuntz, G.: Notes on Antoninus, a.a.O., S. 54. 1028 In den Monographien von Hadot, Rutherford und di Stefano wird die Form des Selbstdialoges nicht untersucht. 1029 Siehe z. B.: „Die Frage nach der Form hat Hirzel nicht gestellt, sondern er hat aus der Tatsache, dass das Selbstgesprch gebt wurde, und aus den Umstnden, unter denen die Aufzeichnungen des Kaisers entstanden sind, den Schluss gezogen, die Selbstbetrachtungen als Ganzes seien Selbstgesprche. Gegen Hirzels These spricht die Beobachtung, dass wir innerhalb der Selbstbetrachtungen eine betrchtliche Anzahl von Abschnitten finden, die ganz eindeutig als Selbstgesprche gekennzeichnet sind (so schon II 1!): Selbstgesprche innerhalb von Selbstgesprchen?“ Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 205 f. 1030 Immerhin gefordert wird eine solche Arbeit von B. Wehner in der Zusammenfassung ihrer Untersuchung der Dialogizitt bei Epiktet (siehe Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 261 ff.).
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
261
(v) Praktische Bestimmung: Schreibt Marc Aurel nur ber Selbstdialoge, schreibt er Selbstdialoge (anderer) nieder, oder kann auch das Schreiben (bzw. Formulieren beim Diktieren) ein Selbstdialog sein? (vi) „Holistische“ Bestimmung: Sind die Selbstbetrachtungen als Ganzes ein Selbstdialog? Da sich die Beantwortung der Fragen zum Teil wechselseitig bedingt, werden diese bestimmenden Aspekte die Analyse in der genannten Reihenfolge nur in Maßen leiten kçnnen. In einem ersten Schritt ist eine Bestandsaufnahme erforderlich: Welche Eintrge der Selbstbetrachtungen sind ein Selbstdialog oder beinhalten einen solchen? Die Bestandsaufnahme der Eintrge, die Selbstdialoge sind oder solche enthalten, grndet sich zunchst auf eine mçglichst unkontroverse Bestimmung des Selbstdialoges als einen verbalen Akt der Selbstadressierung. Przisierungen kçnnen dann unter Bercksichtung der Funktionen des Selbstdialoges und Marc Aurels eigenen Bestimmungen (v) erfolgen. Auf der Grundlage einer solchen Einschtzung kann dann zum einen entschieden werden, in welchem Ausmaß der Text aus welchen Typen von Selbstdialogen besteht (i), und zum anderen, ob der Text als Ganzes ein Selbstdialog ist (vi). Diese beiden letztgenannten Fragen sind aber sorgsam zu trennen. Wie gezeigt: Auch wenn Marc Aurel sehr viele Selbstdialoge schriftlich niedergelegt hat, bedeutet dies nicht mit Notwendigkeit, dass er als Autor des Textes im Akt des Verbalisierens beim Abfassen eines Textes (v) einen Selbstdialog gefhrt hat oder der gesamte Text so aufzufassen ist. Ferner ist die Frage, welche Eintrge Selbstdialogisches enthalten, nicht unabhngig davon zu beantworten, was fr den heutigen Leser oder Interpreten einerseits und Marc Aurel andererseits als Selbstdialog gilt (iv). Marc Aurel mag etwas als Selbstdialog bezeichnen, z. B. die Rede verschiedener Seelen- oder Kçperteile, das einem modernen Leser als literarische Fiktion eines Selbstdialoges vorkommen mag oder aufgrund anderer philosophischer Grundannahmen nicht dafr gehalten werden kann.1031 1031 Exemplarisch ist hier Bruno Snells Leugnung, dass die homerischen Helden, die mit ihrem Thymos oder Herzen reden, einen Selbstdialog fhren: Fr Snell gehçrt der Thymos nicht zum Selbst, weswegen das Gesprch mit ihm kein Selbstdialog ist: „Zwiespalt in der Seele gibt es bei Homer so wenig, wie es Zwiespalt im Auge oder in der Hand geben kann. … Das ist kein Widerstreit in dem einen Organ (i. e. der Seele oder des Selbst; M.v.A.), sondern ein Widerstreit zwischen dem Men-
262
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Schließlich sind diese Fragen nicht zu beantworten, ohne formale Kriterien anzugeben, durch welche sprachlichen Ausdrucksmittel Selbstdialoge bei Marc Aurel gekennzeichnet sind (ii). Vorrangig ist hier zu untersuchen, wie Marc Aurel einen Selbstdialog fhrt, welche (grammatikalischen) Personen oder dialogfhigen Seelenvermçgen daran beteiligt sind). All dies hilft zu erklren, zu welchen Zwecken sich der praktisch orientierte Philosoph Marc Aurel der Form des Selbstdialoges bedient (iii und iv). 4.2.1 Die Formen des Selbstdialoges Eine bersicht ber die Kapitel, die Selbstdialoge sind oder solche enthalten,1032 wurde noch nicht vorgelegt. Auch dem flchtigen Leser der Selbstbetrachtungen fllt auf, dass die Eintrge formal zum Teil betrchtliche Unterschiede aufweisen. Dies betrifft nicht nur ihre Lnge, sondern auch die Verwendung wçrtlicher Rede, verschiedener Anredeformen, Wechsel der grammatikalischen Personen usw. Schon aus diesem Grund ist zu erwarten, dass sich nicht nur eine Art des Selbstdialoges findet. Folgende Arten von Selbstdialogen bzw. Kapiteln lassen sich unterscheiden: (i) Kapitel, die einen ganzen Selbstdialog enthalten. Es handelt sich hierbei um den einfachsten, weil eindeutigsten Typus, denn gemeint sind Kapitel, die einen Selbstdialog enthalten, bei dem die Redeanteile von zwei unterschiedlichen Positionen aus wiedergegeben werden. Es handelt sich demnach um wirkliche Dialoge, die zu Selbstdialogen werden, weil beide Positionen von Marc Aurel eingenommen werden. Insgesamt drften mindestens achtzehn Kapitel einen solchen Dialog enthalten.1033 Dabei lassen sich grob zwei Gruppen (a1) und (a2) unterscheiden: schen und seinem Organ, wie wir auch etwa sagen: meine Hand wollte zufassen, aber ich hielt sie zurck. Es gibt deshalb bei Homer auch keine echte Reflexion, keine Zwiesprache der Seele mit sich selbst.“ (Snell, B.: Die Entdeckung des Geistes, a.a.O., S. 27). 1032 Die einzige Vorarbeit in dieser Frage findet sich bei Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 211 – 217. Insgesamt ist seine Auflistung von Selbstdialogen aber viel krzer als die hier vorgestellte. Dabei verfolgt Dalfen aber leider weder ein einheitliches noch explizit gemachtes Kriterium. 1033 Siehe M. Aur. Med. 2, 1; 4, 13; 4, 21; 4, 49; 5, 1; 5, 5; 5, 6; 5, 32; 5, 36; 6, 15; 7, 1; 8, 32; 8, 40; 8, 47; 9, 37; 9, 40; 12, 36.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
263
Der eine Dialogpartner stellt Fragen, der andere antwortet.1034 Bei diesen Selbstdialogen, die dem Frage-Antwort-Schema folgen, sind wiederum zwei Varianten auszumachen. (ia1) Fragender und Antwortender stehen in einem Lehrer-Schler-Verhltnis, d. h. es werden (Sach-)Fragen beantwortet.1035 (ia2) Die Fragen dienen nicht dazu, eine Antwort zu erhalten, sondern werden in mahnender Absicht formuliert, sie sollen also eine Verhaltensnderung bewirken.1036 (ib) Jeder der Dialogpartner vertritt (wenn auch begrenzt) Thesen, so dass es ber das Frage-Antwort-Schema hinaus auch zu einem Wechsel von Rede und Gegenrede kommen kann.1037 (ii) Kapitel, die zwar nicht die Redeanteile von zwei verschiedenen Positionen wiedergeben, sondern nur von einer, dabei jedoch beide Positionen benennen und hinreichend klar machen, dass ein Gesprch zwischen Ihnen stattfindet. (iia) Besonders hufig ist der Fall, dass die Dialogpartner als „Ich“ und „Du“ gekennzeichnet sind1038 und eine Ansprache1039 wieder- oder (ia)
1034 „Wenn du deine Auffassung ber das, was dich zu betrben scheint, aufgibst, dann stehst du selbst auf dem festesten Boden. ‘Wer selbst?‘ Die Vernunft. …“ M. Aur. Med. 8, 40. 1035 „Warum bringen ungebildete und unwissende Seelen eine gebildete und verstndige Seele aus der Fassung? Welche Seele ist aber gebildet und verstndig? Diejenige, die den Ursprung, das Ziel und die Vernunft kennt, die das ganze Sein durchzieht und das All durch alle Ewigkeit hindurch fr jeweils bestimmte Zeitabschnitte lenkt.“ M. Aur. Med. 5, 32. 1036 „Besitzt Du Vernunft? Ja. Warum benutzt du sie also nicht? Wenn sie nmlich ihre eigentliche Aufgabe erfllt, was willst du dann noch mehr?“ M. Aur. Med. 4, 13. 1037 „Man muss sein Leben aus lauter einzelnen Handlungen zusammensetzen und zufrieden sein, wenn jede – soweit mçglich – ihr Ziel erreicht. Dass aber jede Handlung ihr Ziel erreicht, daran kann dich niemand hindern. ‘Aber es wird sich etwas von außen in den Weg stellen.‘ Nichts kann mich daran hindern, gerecht, besonnen und vernnftig zu handeln…“ M. Aur. Med. 8, 32. Weitere Kapitel, in denen ein Einwand mit !kk² eingeleitet wird, sind: M. Aur. Med. 5, 1 und 36; 8, 40 (hier mit Frageformulierung); 6, 27; 8, 40; 8, 47; 9, 40; 10, 36; 12, 36 (ohne Frageformulierung). Alternativ, aber seltener, finden sich auch die Ausdrcke vgs¸ oder Usyr 1qe? (siehe 5, 6 und 28; 8, 19; 9, 40). Zum Vergleich siehe die Ausfhrungen zur Rhetorik, mit der Epiktet auf Einwrfe oder Fragen reagiert (insbesondere dem lμ c´moito) bei Bultmann, R.: Der Stil der paulinischen Predigt und der kynisch-stoischen Diatribe, a.a.O., S. 33 f. 1038 Ein Wechsel der Personen („Ich“ und „Du“) ist hufig. Dabei ist oft eine genaue Rollenverteilung auszumachen, etwa die zwischen einem Lehrer-Ich und einem Schler-Du (z. B. M. Aur. Med. 4, 10 oder 7, 2). Siehe dazu auch rckblickend die
264
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
vorgegeben wird. In einigen Fllen wird explizit erwhnt, dass es sich um einen Selbstdialog handelt.1040 (iib) In weiteren Kapiteln werden die am Selbstdialog Beteiligten nicht nur mit der ersten und zweiten Person Singular bezeichnet. Vielmehr werden Teile des Menschen, Aspekte oder Seelenvermçgen dialogfhig, sie werden verbalen Adressierungen gegenber aufnahmefhig oder kçnnen selbst kommunizieren. Solche Selbstdialoge finden sich mit der Seele,1041 dem Hegemonikon,1042 den Vorstellungen (phantasiai)1043 und kçrperlichen Organen, die mit der Seele sprechen.1044 Analyse in Kap. I 4.2. In nur wenigen Kapiteln, die einen Wechsel der Personen enthalten, ist eine solche Identifikation der grammatikalischen Personen mit Rollen schwer oder gar nicht mçglich (z. B. M. Aur. Med. 2, 11). Es gibt auch jeweils zwei aufeinander folgende Kapitel (siehe M. Aur. Med. 5, 3 und 4; 6, 10 und 11; 6, 21 und 22), die einen interessanten Wechsel von „Ich“ und „Du“ enthalten, der allerdings funktional begrndet zu sein scheint, da Marc Aurel wohl auf unterschiedliche Effekte aus ist, wenn er sich der Ich- oder Du-Form bedient. 1039 In selteneren Fllen handelt es sich um Fragen (z. B. M. Aur. Med. 8, 2 oder 9, 21), in der Regel um Aufforderungen, Mahnungen oder zentrale Lehrstze. 1040 „Am Morgen sollte man sich sagen: Ich werde mit einem beschrnkten, undankbaren, unverschmten, falschen, missgnstigen und unvertrglichen Kerl zusammentreffen …“ M. Aur. Med. 2, 1. Morgendliche Selbstgesprche werden noch hufiger gefordert und dem Wortlaut nach wiedergegeben (M. Aur. Med. 5, 1; 10, 13, daran anknpfend ist 8, 12). Weitere Kapitel, in denen zwei Positionen genannt werden und eine Ansprache im Wortlaut festgehalten wird, sind M. Aur. Med. 8, 49; 9, 39; 10, 29. Es gibt auch die sehr seltene Variante, dass Marc Aurel, wie Epiktet, eine Selbstansprache als Negativbeispiel formuliert (M. Aur. Med. 8, 50). 1041 „Was der vernunftbegabten Seele eigentmlich ist: Sie sieht sich selbst, sie artikuliert sich selbst, sie gestaltet sich selbst … so dass sie sagen kann: ’Ich habe meine Aufgabe erfllt.’“ M. Aur. Med. 11, 1. Fr eine sprechende Seele siehe ferner M. Aur. Med. 10, 35. Eine Anrede an die Seele findet sich in M. Aur. Med. 10, 1: „Wirst du irgendwann einmal, meine Seele, gut und einfach, eins mit dir selbst, und unverhllt sein …“ 1042 „Warum lsst du dich verwirren? Zu deinem seelischen Leitprinzip sagst du: ‘Du bist tot, vernichtet, zum Tier geworden, du verstellst dich, stehst mit anderen Tieren auf der Weide, lsst dich fttern.’“ M. Aur. Med. 9, 39. Das Hegemonikon taucht nicht nur als Adressat, sondern vorwiegend als Gegenstand eines Selbstgesprches auf (besonders deutlich z. B. M. Aur. Med. 5, 11). Eine Mischform scheint der Eintrag M. Aur. Med. 11, 19 zu sein. Generell ist es die Instanz, die auf sich selber einwirken kann und dabei frei ist, es ist also die Instanz der Selbstreferenz (siehe M. Aur. Med. 6, 8; 7, 16; 11, 1). 1043 „Glck ist ein guter gçttlicher Geist oder ein gutes leitendes Prinzip. Was tust du also hier, meine Vorstellung? Geh fort, um Gottes willen, wie du gekommen bist. Denn ich brauche dich nicht. Aber du bist hergekommen nach alter Gewohnheit.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
265
(iii)
Kapitel, die keinen ganzen Dialog wiedergeben, auch keine zwei Dialogparteien benennen, aber eine klare Ansprache eines Dialogpartners an einen anderen wiedergeben. Auch hier lassen sich im Wesentlichen zwei Gruppen von Kapiteln ausmachen, die sich vor allem durch die Verwendung der ersten und zweiten Person Singular unterscheiden. Mit diesen sprachlichen Formen verbinden sich je bestimmte Funktionen, auf die noch einzugehen sein wird. Hier zunchst die Gruppen: (iiia) Die hufigsten Selbstadressierungen dieser Art nimmt Marc Aurel mit „Du“ vor.1045 Das „Du“ wird dabei vor allem zu adhortativen Zwecken verwandt. Entsprechend ist der Tonfall etwas schrfer gehalten und eher selten ruhiger und gelassener.1046 Bemerkenswerterweise finden sich auch unter diesen Mahnungen direkte Empfehlungen zum Selbstdialog oder zur (bestndigen) Selbstbefragung.1047 Dass die DuForm in diesen Kapiteln nicht mahnend gebraucht wird, sondern dass die hinter dem „Du“ stehenden Aussagen oder das Verhalten gelobt oder zumindest positiv verstrkt werden soll, kommt nur sehr selten vor.1048
Ich bin dir nicht bçse. Nur verschwinde jetzt.“ M. Aur. Med. 7, 17. Die Kontrolle der Vorstellungen geschieht nicht nur durch direkte Ansprache an die personifizierte Vorstellung. Der Selbstdialog ist zunchst das Mittel, um die Vorstellungen zurckzudrngen: „Lçsch deine Vorstellungen aus, indem du fortwhrend zu dir sagst: ’Es liegt jetzt an mir, dass in dieser Seele keine Schlechtigkeit, keine Begierde und berhaupt keine Beunruhigung ist. Whrend ich vielmehr alles so sehe, wie es ist, gebrauche ich jedes einzelne so, wie es ihm entspricht.‘ Sei dir dieser naturgegebenen Macht und Mçglichkeit bewusst.“ (M. Aur. Med. 8, 29). Der Selbstdialog dient aber ebenso der Ausrichtung der Vorstellungen im Rahmen von Imaginationsbungen (siehe M. Aur. Med. 4, 19; 4, 32; 4, 47; 6, 47; 7, 58). 1044 Siehe M. Aur. Med. 10, 35. 1045 Siehe die nicht unbedingt vollstndige Auflistung: M. Aur. Med. 3, 4 – 6; 3, 13 – 15; 4, 11; 4, 14; 4, 21; 4, 34; 4, 36 – 38; 5, 8 – 9; 5, 1 – 3; 5, 7; 6, 18 – 19; 6, 23 – 24; 6, 26 – 27; 6, 30 – 31; 6, 35; 6, 38 – 39; 6, 41 – 2; 6, 45 – 50; 6, 53; 6, 58; 7, 18; 7, 26 – 31; 7, 54 – 5; 7, 65; 7, 73; 8, 5; 8, 9; 8, 12 (knpft an den Dialog ber den morgendlichen Unwillen zum Aufstehen an); 8, 13 – 17; 8, 34; 8, 48; 9, 13; 9, 19; 9, 27 – 28; 9, 31 – 5; 9, 41; 10, 1 – 4; 10, 8 – 9; 10, 11 – 2; 10, 22 – 3; 10, 29; 10, 31 – 2; 11, 9; 11, 11; 11, 16 (oft, wie hier, sind Mahnungen mit Fragen verbunden, so auch 12, 31 – 2); 12, 1. 1046 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 7 – 8. 1047 Siehe M. Aur. Med. 10, 29: „Blick auf jede einzelne deiner Ttigkeiten und frag dich, ob dein Tod etwas Schlimmes ist, weil du das dann nicht mehr tun kannst.“ 1048 Siehe M. Aur. Med. 9, 26.
266
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
(iiib) Daneben gibt es Selbstadressierungen, die ein „Ich“verwenden. In der Regel handelt es sich um Kapitel, die keine Kritik, sondern entweder eine Selbstanalyse1049 oder eine Selbstbesttigung1050 enthalten. (iiic) Eher Ausnahmen bilden Kapitel, in denen die erste Person Plural auftaucht.1051 (Von einer weiteren Gruppe an Kapiteln kann eigentlich nicht gesprochen werden, denn die Eintrge verwenden vorrangig ein „Ich“ oder „Du“.) Zwei Kapitelgruppen sind formal nicht als Selbstdialoge ausgewiesen. Dass sind zunchst die Kapitel, die keine Adressierung enthalten. Es handelt sich um Aussagen ohne Mahnungen.1052 Diese Kapitel machen zu einem guten Teil auch die berdurchschnittlich langen Eintrge aus.1053 Danach sind die Kapitel des ersten Buches zu nennen, die auch in dieser Hinsicht einen besonderen Charakter haben. Diese Aufteilung orientiert sich stark an formalen Kriterien und bietet eine erste bersicht ber selbstdialogische Kapitel. Aber welche Funktionen erfllen Selbstdialoge bei Marc Aurel? 4.2.2 Die Funktionen des Selbstdialoges Ein Selbstdialog ist etwas vermeintlich Paradoxes, denn obschon jemand alleine, in einer monologischen Situation, ist, verwendet er die Form des Dialoges. Damit ein Selbstdialog mçglich wird, bedarf es bestimmter sprachlicher Mittel, die zugleich Inhalte transportieren. Die Form der Selbstadressierung, die Wahl der grammatikalischen Person oder die Instanzen oder Vermçgen, in die sich jemand differenziert, um einen Selbstdialog zu konstituieren, korrespondieren mit bestimmten Funktionen des Selbstdialoges oder geben Auskunft ber die zugrunde liegenden psychologischen bzw. anthropologischen Annahmen. Dieser einleitend schon erwhnten Verbindung ist nun nachzugehen. Es ist auffllig, dass der Selbstdialog bei Marc Aurel sehr hufig eine elenktische Form hat und sich in Gestalt eines Wechselspiels von Fragen, Einwnden und Antworten vollzieht. Dies kann verschiedene Funktionen erfllen, wobei die Rollenverteilung ausschlaggebend ist. So kçnnen Fra1049 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 13 oder 2, 2. 1050 Siehe etwa M. Aur. Med. 6, 5; 6, 21 – 22; 6, 44; 6, 55 – 6. 1051 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 4; 5, 8; 6, 20; 6, 42; 8, 35 oder 10, 36. 1052 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 8; 2, 10; 8, 58; 8, 60 – 1 und viele andere mehr. 1053 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 12 – 13; 2, 15 – 17.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
267
gen dazu dienen, auf sich einzuwirken, wobei (a) der fragende auch der lehrende Dialogpartner ist.1054 Eine Frage kann dabei auch adhortative Bedeutung haben.1055 Die Fragen kçnnen (b) auch vom Standpunkt eines Schlers aus gestellt werden.1056 In einigen Kapiteln wird (c) nicht auf eine Frage, sondern einen Einwand geantwortet.1057 Dass sich der Selbstdialog bei Marc Aurel in vielen Kapiteln in Form von Fragen und Antworten vollzieht, ist nicht selbstverstndlich. Die Selbstdialoge der homerischen Helden waren zwar deliberativ und enthielten Fragen, dennoch ist in ihnen keine Frage-Antwort-Struktur zu erkennen. Whrend die Selbstdialoge bei Homer immer eine Auseinandersetzung mit dem Thymos sind, sind am Wechsel von Frage und Antwort bei Marc Aurel zwei ganz andere und ungleichgewichtige Positionen, die dazu noch in einem bestimmten Verhltnis zueinander stehen, beteiligt: ein Lehrer und ein Schler. Sowohl die Form (Frage-Antwort) als auch dieses asymmetrische Verhltnis kçnnen als Echo des sokratischen Dialoges verstanden werden, wie bereits bei Epiktet deutlich wurde. Die elenktische Form ist ferner mit zwei anderen Funktionen des Selbstdialoges verbunden, die ebenfalls in den homerischen Selbstdialogen noch nicht ausgeprgt waren, nmlich die Gewissensprfung und die bestndige Kontrolle der Vorstellungen im Rahmen einer Selbstbefragung. Nun sind die beiden hufigsten Formen der Adressierungen, das „Ich“ und das „Du“ interessant. Verwendet Marc Aurel sie jeweils fr bestimmte Zwecke, und wie interagieren die beiden Formen in einem Dialog? Direkt zu Beginn des zweiten Buches findet sich ein aufschlussreiches Kapitel: Was ich eigentlich bin, ist ein bisschen Fleisch, ein wenig Atem und das leitende Prinzip meiner Seele. Wirf die Bcher fort. Lass dich nicht mehr qulen – das ist nicht erlaubt –, sondern verachte, als ob du schon sterben msstest, das erbrmliche Fleisch… Sieh dir auch an, was der Atem ist: Wind, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick ausgestoßen und wieder eingesogen. Das dritte nun ist das leitende Prinzip der Seele. berlege dir folgendes: Du bist alt. Lass es keine Sklavin mehr sein, lass es nicht mehr in Abhngigkeit von einem egoistischen Trieb hin und her gerissen sein…1058 1054 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 13. 1055 Siehe z. B. M. Aur. Med. 10, 15. Ganz deutlich wird dies in 11, 15: „Was tust du, Mensch?“ Hier soll nicht geantwortet, sondern eine Handlung beendet werden. 1056 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 40 oder 12, 28. 1057 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 32 oder 5, 1 und 36; 8, 40 (hier mit Frageformulierung); 6, 27; 8, 47; 10, 36; 12, 36. 1058 M. Aur. Med. 2, 2.
268
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Der Eintrag ist nicht nur wegen seines Inhaltes, der Auffassung von Antrieben, die hier zum Ausdruck kommt, interessant.1059 Der erste Satz formuliert dieses Selbstverstndnis in Ich-Form. Die darauf folgenden Mahnungen und Imperative richtet Marc Aurel in Du-Form an sich. Dies kann als erster Hinweis gewertet werden: Marc Aurel identifiziert sich hier durch die Verwendung der Ich-Form mit dem Aussagesatz, also der dahinter stehenden Position. Von dieser aus mahnt er ein korrekturbedrftiges „Du“. Belehrungen, Mahnungen oder Kritik richten sich vorrangig an ein „Du“ und nicht an ein „Ich“. Dass Marc Aurel sich selbst fr diese Zwecke als „Du“ anspricht, kann zunchst dadurch erklrt werden, dass die DuForm mehr adhortative Kraft hat.1060 Grundstzlich kommt damit eine Selbstdistanzierung zum Ausdruck. Eine mahnende Selbstansprache in Du-Form findet sich ußerst hufig.1061 Dabei kann die Erwhnung eines „Ichs“, des „Lehrer-Ichs“, fehlen: Erinnere dich daran, seit wann du dies aufschiebst und wie oft du von den Gçttern Termine bekamst, ohne sie zu nutzen. Du musst doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen, was fr ein Kosmos es ist, von dem du ein Teil bist, und wer es ist, der den Kosmos verwaltet und als dessen Abkçmmling du auf die Welt gekommen bist, und dass …1062
Ein „Ich“ wird hier zwar nicht benannt, aber das, was hier mahnt, muss wissen, was der andere Dialogpartner lernen bzw. tun soll. Der hier Sprechende oder Schreibende nimmt genau diesen Standpunkt ein. Auch solche Kapitel kçnnen als Selbstidentifikation und Selbstdistanzierung verstanden werden. Da ein „Ich“ oder zumindest irgendeine Position, die vom „Du“ unterschieden ist, vorausgesetzt werden muss, mssen auch diese Kapitel als Selbstdialog gelten.1063 Whrend fr die Ansprache an den korrekturbedrftigen und daher in Distanz vom grammatischen „Ich“ gerckten Teil vorrangig Imperative verwandt werden, artikuliert sich der gewhlte Standpunkt, das grammatische „Ich“, in Aussagestzen. Die Selbstidentifikation kommt durch deren Anspruch auf Gltigkeit zum Ausdruck. Dabei kann die Ich-Form 1059 Siehe Kap. II 5.3. 1060 Die Verwendung verschiedener Personen im philosophischen Selbstdialog ist noch nicht untersucht worden. Wertvolle Hinweise finden sich bereits bei Grimm, J.: ber den Personenwechsel in der Rede, Berlin 1851. 1061 Siehe die Auflistung zur oben beschriebenen Kapitelgruppe (c1). 1062 M. Aur. Med. 2, 4. 1063 Dies ist zu betonen, weil Dalfen angibt, es gebe in den Selbstbetrachtungen nur einen Selbstdialog in Du-Form.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
269
erstens der Selbstanalyse dienen und zweitens der Selbstbesttigung, also der Bekrftigung und Besttigung von richtigem Denken und Verhalten. Selbstanalytisch sind die Eintrge, in denen Marc Aurel seine eigene Konstitution thematisiert: „Ich bestehe aus einer verursachenden Form und aus Materie. … Also wird jeder Teil von mir im Sinne einer Verwandlung in einen Teil des Kosmos bergehen…“1064. Selbstbesttigung liegt vor, wenn Marc Aurel die hinter dem grammatischen „Ich“ stehende Position nicht kritisiert, sondern eher bekrftigt oder die Fragen an sie keine scharfe mahnende Form haben: „Ich tue meine Pflicht; alles andere bringt mich nicht davon ab.“1065 Selbstansprachen in „Ich“-Form sind daher auch Teil der von Marc Aurel mehrfach erwhnten und praktizierten analytischen Methode.1066 Diese will demnach nicht nur stoffliche und urschliche Faktoren unterscheiden,1067 dihairetisch vorgehen1068 und zu einer physisgemßen Betrachtung fhren, die hilft, vermeintliche Gter zu entwerten.1069 Die Analyse der eigenen Konstitution kann als Teil der natrlichen Perspektive verstanden werden, hier wird sie jedoch erstens auf den Analysierenden selbst angewandt, und zweitens dient sie nicht nur dem Zweck der Entwertung, sondern der Selbstkonstitution.1070 Die Form des Selbstdialoges vereint diese Ziele und Inhalte. Zu diesem Komplex gehçren folglich auch Kapitel, in denen die Natur des Menschen, die Aufgabe seiner Vernunft beschrieben wird.1071 Die beschriebene Rollen- oder Funktionsaufteilung zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ ist erstaunlich konsistent durchgehalten. Nur wenige Kapitel, die je ausschließlich die Ich- oder Du-Form verwenden, weichen davon ab. Mahnungen an ein „Ich“ sind selten,1072 genauso wie schrfere, ebenso eindeutig adhortative Fragen.1073 Ein „Ich“ wird nur in Ausnahmen 1064 M. Aur. Med. 5, 13 (ebenso 2, 2: „Was ich eigentlich bin, ist ein bisschen Fleisch, ein wenig Atem und das leitende Prinzip meiner Seele.“). 1065 M. Aur. Med. 6, 22 (siehe ferner z. B. 6, 21; 6, 44; 6, 55 – 6). 1066 Siehe dazu Kap. II 4.3. 1067 Siehe M. Aur. Med. 4, 21; 7, 29; 8, 11; 9, 25; 9, 37; 12, 10; 11, 2; 12, 18; 12, 29. 1068 Siehe M. Aur. Med. 2, 11; 8, 36; 12, 2. 1069 Siehe M. Aur. Med. 9, 38; 5, 48; 6, 13; 8, 24; 10, 19; 11, 2. 1070 Siehe z. B. M. Aur. Med. 12, 3 und 12, 30. Den Zusammenhang von Selbstdialog und Selbstkonstitution haben Ch. Gill und M. Foucault beschrieben, aber nicht im Detail fr Marc Aurel untersucht. 1071 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 14. 1072 Siehe M. Aur. Med. 5, 35. 1073 Siehe M. Aur. Med. 10, 24 und 11, 4.
270
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
in einem rauen, kynischen Tonfall angesprochen.1074 Auf der anderen Seite wird die Du-Form, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nicht fr die Bekrftigung, Memorierung oder positive Besttigung einer Ansicht oder eines Verhaltens verwandt.1075 Einige Kapitelfolgen besttigen die festgestellte Rollenverteilung sehr deutlich: „Kmmere dich nicht darum, sondern geh ohne Umweg auf dein Ziel zu, indem du deiner individuellen und der allgemeinen Natur folgst.“1076 Das direkt anschließende Kapitel nimmt die Topik auf, verwendet aber eine besttigende erste Person Singular: „Ich gehe meinen Weg auf der Bahn des Naturgemßen …“1077. Neben dieser Verteilung wird die Ich-Form noch in Kapiteln zur wçrtlichen Wiedergabe von Selbstdialogen verwandt. Wie bei Epiktet ist dieser Wechsel der Perspektiven vom „Du“ zum „Ich“ sinnvoll, weil erst ein Selbstdialog in Du-Form angemahnt wird, und dann nicht nur der Inhalt beschrieben, sondern im Wortlaut vorgegeben wird.1078 Allerdings ist zu beachten, dass dort, wo das „Ich“ in einer wçrtlichen Rede verwandt wird, es die korrekturbedrftigen Positionen einnehmen kann. Drittens kann ein Selbstdialog nicht nur durch Redeanteile verschiedener grammatikalischer Personen zustande kommen, sondern offenbar zwischen kommunizierenden und so dialogfhigen psychischen Vermçgen. Ein solcher Selbstdialog erçrtert nicht notwendig die Frage, aus welchen Entitten sich eine Person konstituiert. Vor diesem Hintergrund sind zwei Nennungen interessant, nmlich die Konzentration auf das Hegemonikon und die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen. Beide Phnomene kçnnen ebenfalls als Selbstidentifizierung und Selbstdistanzierung verstanden werden. Zunchst spielt das Hegemonikon, der fhrende, weil vernnftige Seelenteil, bei einem Stoiker wie Marc Aurel eine zentrale Rolle.1079 Auf den ersten Blick berrascht es daher, dass das Hegemonikon als Adressat nur in sehr wenigen Selbstdialogen genannt wird.1080 Dennoch erwhnen zahl1074 Siehe M. Aur. Med. 8, 24. 1075 Siehe z. B. M. Aur. Med. 9, 26. 1076 M. Aur. Med. 5, 3. 1077 Siehe ebenso die Abfolge M. Aur. Med. 6, 10 und 11 oder 6, 21 und 22. 1078 So z. B. im bereits zitierten Kapitel M. Aur. Med. 2, 1 und 5, 5; 5, 22. 1079 Siehe M. Aur. Med. 2, 2; 3, 4; 3, 9; 4, 38 – 9; 5, 3; 5, 11; 5, 26; 6, 8; 6, 36; 7, 5; 7, 16; 7, 22; 7, 28; 7, 33; 7, 55; 7, 62; 7, 75; 8, 3; 8, 43; 8, 48; 8, 56; 8, 61; 9, 7; 9, 15; 9, 18; 9, 22; 9, 26; 9, 34; 9, 39; 10, 24; 11, 18; 11, 19 – 20; 12, 1 – 3; 12, 33. 1080 „Warum lsst du dich verwirren? Zu deinem seelischen Leitprinzip sagst du: ‘Du bist tot, vernichtet, zum Tier geworden, du verstellst dich, stehst mit anderen Tieren auf der Weide, lsst dich fttern.’“ M. Aur. Med. 9, 39. Fr Dalfen ist dies
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
271
reiche Kapitel das Hegemonikon im Zusammenhang mit dem Selbstdialog. Eine Erklrung fr diese vermeintliche Diskrepanz ergibt sich aus der besonderen Bedeutung des fhrenden Seelenteils fr den Selbstdialog. Die Ausfhrungen zum Hegemonikon zeigen, dass Marc Aurels eigener Theorie zufolge der vernnftige Seelenteil an Selbstdialogen teilhaben muss: Die Fhigkeit zur verbalen Selbstreflexion wird generell mit der Vernnftigkeit der Seele, also dem Hegemonikon, in Verbindung gebracht.1081 Wahrscheinlich ist daher, dass der fhrende Seelenteil auch den Selbstdialog fhrt. Die Pflege des inneren Daimon1082 ist nicht nur Gegenstand oder Ziel des Selbstdialoges, sondern der Selbstdialog ist das Medium, in dem sich der vernnftige Seelenteil selbst beeinflusst. Da Marc Aurel annimmt, dass das Hegemonikon nicht von außen, sondern nur durch sich selbst beeinflussbar ist, bleibt nur der Schluss, dass er die Sorge um das Hegemonikon diesem selbst zuspricht. Wenn das Hegemonikon die Selbstdialoge fhrt und etwa in Form des (Lehrer-)“Ichs“ auftritt, wre erklrt, warum es selbst selten namentlich angesprochen wird, aber zugleich hufig thematisiert wird oder still als mahnende Instanz in anderen Formen des Selbstdialoges anwesend ist, etwa den Kapiteln, wo ein „Du“ angesprochen wird. Eine Selbstidentifikation liegt vor, weil das Hegemonikon dieser Lesart zufolge sich hufig als ein „Ich“ anspricht und allgemein als ein Seelenteil bezeichnet wird, den man bewahren soll, auf den man sich zurckziehen soll: „Konzentriere dich auf dich selbst. Der vernunftbegabte leitende Seelenteil hat die natrliche Fhigkeit, mit sich selbst zufrieden zu sein“.1083 Im Selbstdialog betrachtet sich das Hegemonikon selber.1084 Doch dieser Selbstbezug und vor allem diese Selbstgengsamkeit des Hegemonikons sind stndig in Gefahr von den Vorstellungen gestçrt zu werden,
„die einzige Stelle, an der wir bei Marcus ein, allerdings ußerst kurzes ‘inneres Zwiegesprch‘ finden“ (Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 212 f.). Siehe aber die weitere Stelle M. Aur. Med. 11, 19. 1081 „Was der vernunftbegabten Seele eigentmlich ist: Sie sieht sich selbst, sie artikuliert sich selbst, sie gestaltet sich selbst … so dass sie sagen kann: ,Ich habe meine Aufgabe erfllt.’“ M. Aur. Med. 11, 1. Siehe damit in Verbindung M. Aur. Med. 2, 17; 5, 11; 6, 8; 7, 16; 7, 28. 1082 Siehe dazu M. Aur. Med. 2, 17. 1083 M. Aur. Med. 7, 28 (siehe ebenso 6, 15; 7, 49; 12, 4). 1084 Siehe M. Aur. Med. 3, 4.
272
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
womit zur zweiten Instanz bergeleitet ist, die hufig in einem Selbstdialog vorkommt.1085 Vorstellungen tauchen im Zusammenhang mit dem Selbstdialog in verschiedenen Gruppen von Kapiteln auf: Sie werden personalisiert und in einem Selbstdialog angesprochen.1086 Und der Selbstdialog ist das Mittel, um die Vorstellungen zu kontrollieren. Genauer muss von zwei verschiedenen Formen bzw. Funktionen der Auseinandersetzung mit den Vorstellungen gesprochen werden. Zum einen geht es um die Zurckdrngung bzw. Auslçschung der Vorstellungen: Lçsch deine Vorstellungen aus, indem du fortwhrend zu dir sagst: ,Es liegt jetzt an mir, dass in dieser Seele keine Schlechtigkeit, keine Begierde und berhaupt keine Beunruhigung ist. Whrend ich vielmehr alles so sehe, wie es ist, gebrauche ich jedes einzelne so, wie es ihm entspricht.‘ Sei dir dieser naturgegebenen Macht und Mçglichkeit bewusst.1087
Zu sich selber sprechen ist hier weniger eine vorbereitende bung, sondern etwas permanent Erforderliches.1088 Bei dieser Variante der Auseinandersetzung mit den Vorstellungen handelt es sich um eine Selbstdistanzierung in einem starken Sinne, denn Marc Aurel fordert sich auf, bestimmte Vorstellungen, nmlich alle die, die nicht natrlich sind, auszulçschen. Neben dieser teilweisen Exstinktion der Vorstellungen soll von diesen im Medium des Selbstdialoges noch ein ganzer anderer Umgang gebt werden, nmlich ein kreativer Gebrauch.1089 Hier werden Vorstellungen nicht zurckgedrngt oder eliminiert, sondern zweckdienlich generiert. Dass auch diese Variante der Auseinandersetzung mit den Vorstellungen in einem Selbstdialog geschieht, wird durch zahlreiche Selbstadressierungen sowie durch Kapitel, die diese Imaginationsbungen1090 mit dem Frage-
1085 Siehe M. Aur. Med. 3, 16. 1086 „Glck ist ein guter gçttlicher Geist oder ein gutes leitendes Prinzip. Was tust du also hier, meine Vorstellung? Geh fort, um Gottes willen, wie du gekommen bist. Denn ich brauche dich nicht. Aber du bist hergekommen nach alter Gewohnheit. Ich bin dir nicht bçse. Nur verschwinde jetzt.“ M. Aur. Med. 7, 17. 1087 M. Aur. Med. 8, 29 (siehe auch 5, 16; 5, 22; 7, 17). 1088 Siehe auch z. B. M. Aur. Med. 8, 36. 1089 Eindeutig ist: „Stell dir vor… (vamt²fou)“ (z. B. M. Aur. Med. 10, 28 und 10, 31). 1090 Diese positive Seite der Kontrolle der Vorstellungen wurde in der Forschung fast ganz vernachlssigt. Siehe daher Kobusch, Th.: Leben im Als-Ob. Zur Funktion der imaginativen bung in der antiken Philosophie, in: ZK Sonderheft, Hamburg 2002, S. 1 – 19.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
273
Antwort-Schema verbinden, deutlich.1091 Besagte Imaginationsbungen dienen nicht nur der Bekmpfung der Todesfurcht,1092 sondern der Bekmpfung von Ruhmsucht und dem Streben nach anderen vermeintlichen Gtern. Sie zielen z. B. darauf ab, die vermeintlichen Werte durch die Vorstellung der Gesamtheit und Grçße von Raum und Zeit zu relativieren bzw. zu entwerten.1093 Eine Selbstdistanzierung liegt auch hier in grundstzlicher, jedoch schwcherer Form vor, weil die Vorstellungen ihrem Inhalt nach nicht notwendig sind und – wahrscheinlich durch das Hegemonikon – generiert werden kçnnen. Die starke Form der Selbstdistanzierung bestimmt wiederum den Umgang mit der Hypolepsis im Selbstdialog: „Distanziere dich von dem bloßen Aufnehmen. … Du bist gerettet. Wer kann dich denn daran hindern, dich davon zu distanzieren?“1094 Die Kontrolle der Hypolepsis dient dem Hegemonikon: Achte auf deine Fhigkeit, die Dinge in dein Bewusstsein aufzunehmen. Nur auf sie kommt es an, damit in deiner leitenden Vernunft keine Auffassung mehr entsteht, die der Natur und der Beschaffenheit des vernunftbegabten Lebewesens nicht entspricht. Diese garantiert die Fhigkeit, eine voreilige Meinungsbildung zu vermeiden, den vertrauten Umgang mit den Mitmenschen und den Gehorsam gegenber den Gçttern.1095
Die Verschiedenheit der formalen Charakteristika des Selbstdialoges lsst sich durch eine ebenfalls große Vielfalt von Funktionen, die der Selbstdialog fr Marc Aurel erfllt, erklren. Insgesamt lassen sich die Kapitel nach funktionalen Gesichtspunkten wie folgt ordnen: (i) Der Selbstdialog ist eine vorbereitende bung, weil er in diesen Fllen der Situation, auf die er vorbereitet, zeitlich mehr oder minder weit voraus geht und in einem davon unabhngigen Kontext vollzogen wird. Ziel dieser prophylaktischen Selbstdialoge ist die Vorbereitung und Gewhrleistung einer spteren Einstellung, einer emotionalen Reaktion oder eines bestimmten Verhaltens. Es handelt sich zwar um 1091 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 19; 4, 32; 4, 47; 6, 47; 7, 58. 1092 Dies ist ihr Hauptziel bei Seneca (siehe Sen. Ep. 49, 10; 12, 8; 61, 1; 93, 6; 101, 10). 1093 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 1; 4, 17; 2, 14. 1094 M. Aur. Med. 12, 25 (zur Hypolepsis siehe ferner 2, 12; 3, 9; 4, 3; 4, 7; 5, 26; 7, 62; 8, 40; 8, 44; 9, 6; 9, 13; 9, 21; 9, 32; 10, 3; 10, 33; 11, 16; 11, 18; 11, 21; 12, 4; 12, 8; 12, 22; 12, 25 – 6). 1095 M. Aur. Med. 3, 9. Die ersten zwei Stze lauten: Tμm rpokgptijμm d¼malim s´be. 1m ta¼t, t¹ p÷m, Vma rpºkgxir t` Bcelomij` sou lgj´ti 1cc´mgtai !majºkouhor t0 v¼sei ja· t0 toO kocijoO f]ou jatasjeu0.
274
(ii) (iii)
(iv) (v)
(vi)
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
eine bungsform, aber diese enthlt keine allgemeine Formel, sondern eine ganze Bandbreite situationsspezifischer Formulierungen, z. B. fr angemessene Reaktionen beim Fehlverhalten anderer Menschen.1096 Ein Selbstdialog kann, wie bereits gezeigt, als Mnemotechnik dienen, um zentrale Lehrstze besser zu verinnerlichen.1097 Selbstdialoge dienen in Form von Mahnungen der Motivation zu einem bestimmten zuknftigen Verhalten.1098 Auf Erfolge bei diesen ersten beiden Typen des Selbstdialoges aufbauend kann die Selbstadressierung als aktuelle Hilfe in einer konkreten Situation fungieren. Zum Teil werden entsprechende Formulierungen oder Selbstbefragungen fr bestimmte Situationen empfohlen.1099 Diese Stze haben dann die Aufgabe eines schnell wirksamen Pharmakons. Selbstdialoge sind das vorrangige Mittel der Selbstanalyse, und zwar einerseits der Selbstprfung bzw. -Befragung1100 und andererseits der Analyse der eigenen synthetischen Natur.1101 Selbstdialoge dienen der Gestaltung der inneren Ordnung, der Selbstkonstitution, weil sie ein Mittel sind, das Verhltnis der zentralen psychischen Fhigkeiten von Hegemonikon1102 einerseits und Phantasia1103 sowie Hypolepsis1104 andererseits zu ordnen. Diese Kontrolle und weitgehende Zurckdrngung wird weniger als Vorbereitung gefordert, sondern vielmehr als bestndige Anwendung.1105 Es handelt sich hierbei nicht um die berwindung von inneren Konflikten. Der psychische Monismus und Unitarismus der Stoiker verwendet hier nur eine Sprache, die auf wirkliche Seelenteile schließen lsst. Der Sache nach wird stoische Dialektik und der Erkenntnisprozess beschrieben. Selbstdialoge dienen ebenfalls dem kreativen Einsatz der Vorstellungen im Rahmen von Imaginationsbungen.
1096 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 1 oder 12, 16. 1097 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 46; 7, 64. 1098 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 9. 1099 Siehe z. B. M. Aur. Med. 12, 27. 1100 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 31. 1101 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 13. 1102 Siehe z. B. M. Aur. Med. 10, 39. 1103 Siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 29. 1104 Siehe z. B. M. Aur. Med. 12, 25. 1105 Siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 8.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
275
Diese Zusammenfassung der bisher aufgetauchten Funktionen des Selbstdialoges macht deutlich, wie diversifiziert und bedeutsam die Rolle des Selbstdialoges bei Marc Aurel ist. Aber entspricht dieser Befund Marc Aurels eigenen Aussagen ber den Selbstdialog? Zunchst ist auffllig, wie hufig der Selbstdialog thematisiert wird. Ganz anders als die homerischen Helden, die sich wundern, warum ihr Herz etwas mit ihnen diskutiert, fordert Marc Aurel in einer Vielzahl von Kapiteln den bewussten Einsatz dieses Instrumentes der Selbstbeeinflussung. Wie bei Seneca und Epiktet ist die Verwendung des Selbstdialoges methodisch reflektiert: Ein Selbstdialog ist kein spontanes Phnomen. Er wurde zu einer Technik, die im Rahmen eines fast systematisch zu nennenden bungsprogramms trainiert wird.1106 Daher sind nicht nur viele Kapitel selbstdialogisch, sondern Selbstdialoge werden darber hinaus gefordert.1107 Marc Aurel reflektiert ferner ber den verbalen Charakter des Selbstdialoges,1108 so dass es nahe liegt anzunehmen, dass die Vorstellung mit sich selbst zu reden, wirklich wçrtlich gemeint ist.1109 Mit dieser wçrtlichen Anrede an sich selbst, kçnnte sich eine andere Form des Selbstdialoges verbinden, die bereits angesprochen wurde, nmlich die interne Kommunikation von Seelenvermçgen. Auf der verbalen Ebene war der Selbstdialog oft durch die Verwendung von grammatischen Personen gekennzeichnet, aber wer oder was ist an dieser angenommen internen Kommunikation beteiligt? Ist das Hegemonikon auch im Selbstdialog fhrend, stellen sich zwei Probleme, die beide auch dem psychischen Monismus in Frage stehen. Wenn das Hegemonikon auf die Seele, andere Seelenvermçgen Einfluss nehmen soll, sie kontrollieren soll, stellt sich die Frage, ob der fhrenden Seelenteil dann von diesen getrennt ist. Das Problem ist gerade bei Marc Aurel drngend, da er in einem Kapitel1110 das Hegemonikon und die Seele als getrennte Instanzen zu begreifen scheint. 1106 Etwa in Form tglicher und frhmorgendlicher Stze, die auf den Tag vorbereiten sollen (z. B. M. Aur. Med. 2, 1; 5, 1; 10, 13). 1107 Siehe M. Aur. Med. 2, 1. 1108 Siehe M. Aur. Med. 7, 13. 1109 Wie schon zu Beginn des vorangegangenen Kapitels vermerkt wurde, galt der laut gefhrte Selbstdialog in der Antike und gerade unter Philosophen nicht notwendig als Kuriosum. So erwhnt Marc Aurel ohne besondere Betonung, dass andere Menschen mit sich selbst sprechen (siehe M. Aur. Med. 10, 36). 1110 Siehe M. Aur. Med. 2, 6.
276
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Zweitens und davon unabhngig muss erlutert werden, inwiefern es zwei Dialogpartner im Menschen geben kann. Welchen Status haben sie als unterschiedene Dialogpartner und welcher Art ist ihre Trennung fr den Dialog? In Bezug auf das erste Problem ist hier nur kurz anzumerken, dass abgesehen von dem einen Kapitel kein Grund besteht anzunehmen, dass Marc Aurel das Hegemonikon als etwas nicht zur Seele Gehçrendes bezeichnet hat. Die gelegentliche platonisierende Sprache berschreitet in der Sache niemals den stoischen psychischen Monismus.1111 Mit Blick auf das zweite Problem und diesen psychischen Monismus voraussetzend sollte man die Dialogpartner auch nicht als getrennte existierende und persistierende Entitten oder Seelenteile auffassen. Vielmehr scheinen verschiedene Rollen, Funktionen oder Vermçgen der Seele als kommunikationsfhig gedacht werden. Gemß der an Davidson orientierten Interpretation der Selbstdialoge bei Homer ließe sich auch bei Marc Aurel davon sprechen, dass die Verbalisierung dieser Kommunikation von Seelenvermçgen bestimmten – modern gesprochen – Bewusstseinsakten gleichkommt. Entscheidend ist, dass Marc Aurel ja offenbar Kommunikation zwischen dem Hegemonikon einerseits und den Vorstellungen und der Fhigkeit aufzunehmen andererseits annimmt. Diese Kommunikation lsst sich besser und im Einklang mit dem psychischen Monismus verstehen, wenn man die Dialogpartner als nicht persistente Funktionen oder Rollen der Seele versteht. An dieser Stelle kann nicht darauf eingegangen werden, ob diese Interpretation in Konflikt mit der Lehre andere Stoiker steht, insofern dort eher eine essentialistische Auffassung von Seelenvermçgen bzw. -Teilen vorherrschen. Marc Aurels Forderung, dass das Hegemonikon sich selber betrachtet und kontrolliert, wre mit essentialistischen Vorstellungen nicht leicht zu vereinbaren: Da eine solche Kontrolle nur vom Hegemonikon geleistet werden kçnnte, wrde dies bedeuten, dass der untersuchende Teil zugleich der untersuchte wre. Vor einem essentialistischen Hintergrund msste man von Entzweiung sprechen, so dass die Annahme von (vielleicht nur kurzfristig) eingenommen Rollen oder Vermçgen hier – zumindest in Bezug auf Marc Aurel – unproblematischer erscheint.1112 1111 Siehe Kap. II 3.1. 1112 Ich danke Jan Opsomer fr wichtige schriftliche und mndliche Hinweise in dieser Sache. Auch Teun Tieleman hat mich hier vor weiteren Fehlern bewahrt, wofr ich ihm danke.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
277
Nun kann die Beziehung von Selbstdialog und der Anachorese, einem wichtigen Lehrstck bei Marc Aurel, beschrieben werden. Obschon bei Marc Aurels Vorgngern Seneca und Epiktet der Selbstdialog bereits ein wichtiges Instrument der Lebensfhrung war, unterscheiden sich die Selbstbetrachtungen. Und dies nicht nur, weil wir dort die Anwendung entsprechender Theorien des Selbstdialoges in einer Unmittelbarkeit und Ausfhrlichkeit dokumentiert finden, sondern bereits, weil Marc Aurels Theorie des Selbstdialoges etwas Besonderes ist. Der Selbstdialog bei Marc Aurel ist durch eine zweifach intensivierte Anachorese gekennzeichnet: Erstens ist fr ihn der Selbstdialog nicht mehr eine abgeleitete Variante des interpersonalen Dialoges oder eine Ersatzform, die durch einen ußeren Umstand, das Fehlen eines Dialogpartners, notwendig wird. Fr Seneca imitierte der Brief das Zusammensein der philosophischen Freunde, und Epiktets Lehrgesprche dokumentieren, dass er solche Dialoge fr ein notwendiges Element des philosophischen Bildungsweges hielt. Bei Marc Aurel gibt es weder diese noch andere Verbindungen zwischen dem interpersonalen Dialog und dem Selbstdialog. Das Gesprch mit anderen wird gar nicht mehr positiv erwhnt, nur die eigenen Urteile zhlen.1113 Der Umgang mit anderen ist fr die Erreichung seiner Ziele keine Voraussetzung: ,Es liegt jetzt an mir, dass in dieser Seele keine Schlechtigkeit, keine Begierde und berhaupt keine Beunruhigung ist. Whrend ich vielmehr alles so sehe, wie es ist, gebrauche ich jedes einzelne so, wie es ihm entspricht.‘ Sei dir dieser naturgegebenen Macht und Mçglichkeit bewusst.1114
Marc Aurel will Gelassenheit erreichen, ohne einen Eid oder einen Menschen als Zeugen zu bençtigen. Heiterkeit und Frçhlichkeit sollen in dir sein; du darfst auf Hilfe von außen und auf Beruhigung durch andere nicht angewiesen sein.1115
Die Autarkie und vçllige Anspruchslosigkeit ist jedoch nicht nur Voraussetzung fr den Erfolg, sondern markiert zugleich die Erreichung der gesetzten Ziele. Der Selbstdialog ist Mittel und Vollendungsform. Der Rckzug von den anderen Menschen, der Verzicht auf den interpersonalen Dialog zugunsten des Selbstdialoges war bei Seneca und
1113 Siehe M. Aur. Med. 12, 4. 1114 M. Aur. Med. 8, 29 (siehe auch 7, 49). 1115 M. Aur. Med. 3, 5.
278
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Epiktet eine begrenzte bungsform, deren Ursprnge im sokratischen Dialog noch deutlich sind. Fr Sokrates gehçrt zur Selbsterkenntnis die Einsicht, dass man dazu Sokrates’ Hilfe im Dialog nçtig hat.1116 Bei Marc Aurel findet sich ein kompletter Rckzug, der zugleich Voraussetzung und Ziel seiner Philosophie ist. Fraglich ist allerdings, ob damit nicht seinen hufigen Ausfhrungen zum Menschen als Gemeinwesen widersprochen ist.1117 Immer wieder fordert er sich auf, als Glied einer kosmischen und menschlichen Gemeinschaft zu agieren. Dennoch besteht zwischen dieser ersten Form der Anachorese und Marc Aurels ausgeprgten sozialen und politischen Thesen und Ambitionen auf der Theorieebene nicht notwendig ein Widerspruch. Es ist zu bercksichtigen, dass weder der Rckzug noch der sog. „Blick von oben“ ein Ziel, einen Endzustand, beschreiben. Es bleibt jedoch auffllig, dass Marc Aurel Kontakt mit anderen konkreten und lebenden Menschen nicht erwhnt, sondern dergleichen nur allgemein als stoische Aufgabe beschreibt. Dieser Umstand lsst sich vielleicht durch seine persçnliche Lage whrend der Abfassung der Selbstbetrachtungen, also whrend der besonders schwierigen letzten Jahre seiner Herrschaft erklren. Damit wre aber nur erklrt, warum Marc Aurel Gesprche mit anderen so selten erwhnt. Die Theorie des Selbstdialoges besteht unabhngig davon. Dass Marc Aurel dem Selbstdialog so viel Bedeutung zuspricht, hat vielleicht weniger mit den kontingenten Lebensumstnden des alten Kaisers zu tun. Eine solche Deutung nimmt den Text nicht als Dokument 1116 In der berhmten, aber nicht immer hinreichend ernst genommenen Beschreibung seiner Hebammenkunst stellt Sokrates klar: Zwar gehçrt die im Dialog geprfte Ansicht dem Gesprchspartner, der sie vertreten hat, ganz allein, aber die Geburtshilfe wird von Sokrates mit seiner Kunst vollzogen: „Viele schon haben, dies verkennend und sich selbst alles zuschreibend, mich aber verachtend, oder auch selbst von anderen berredet, sich frher, als recht war, von mir getrennt und nach dieser Trennung dann teils infolge schlechter Gesellschaft nur Fehlgeburten getan, teils auch das, wovon sie durch mich entbunden wurden, durch Verwahrlosung wieder verloren, weil sie die falschen und trgerischen Geburten hçher achteten als die rechten; zuletzt aber sind sie sich selbst und andern gar unverstndig vorgekommen.“ (Pl. Theait. 150e). Zur Selbsterkenntnis gehçrt die Einsicht, dass Erkenntnis nicht ohne die Hilfe Sokrates‘ zustande kommen kann. Die Selbsterkenntnis ist nur dann vçllig eine solche, wenn sie ihre eigene Bedrftigkeit erkennt. Siehe dazu van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., S. 230 f. 1117 Siehe dazu die Kap. II 3.2 und II 4.2.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
279
einer philosophischen Theorie ernst und verharmlost die Theorie. Marc Aurel radikalisiert den Selbstdialog, weil er ihn theoretisch vom interpersonalen Dialog loslçst. Die zweite Verschrfung der Anachorese vollzieht sich nicht im Rckzug von anderen Menschen, sondern innerhalb des Menschen. Zunchst ist allgemein ein Rckzug von kçrperlichen Regungen hin zur eigenen Seele von Nçten.1118 Doch auch dieser Rckzugspunkt wird von Marc Aurel noch kleiner und prziser gefasst: Erinnere dich daran, dass das leitende Prinzip der Seele unbezwingbar ist, wenn es in sich selbst zurckgezogen mit sich selbst zufrieden ist … Darum ist die von Leidenschaften freie Vernunft eine Burg. Denn der Mensch besitzt nichts, was noch strker ist. Wenn der Mensch dort seine Zuflucht sucht, drfte er in Zukunft unbesiegbar sein.1119
Innerhalb der Seele wird die Sphre des Hegemonikons zum eigentlichen Rckzugspunkt, wobei eine vollstndige Anachorese nicht angestrebt wird: Die vçllige Trennung des Hegemonikons vom Kçrper ist im Leben nicht mçglich, weswegen die reflektierte Kontrolle und weitgehende Zurckdrngung der anderen psychischen Instanzen oder Vermçgen so wichtig ist: Der leitende und herrschende Teil deiner Seele soll nicht berhrt werden von der glatten oder rauen Bewegung in deinem Fleisch und sich nicht damit verbinden, sondern sich selbst abgrenzen und jene in den Gliedern wirkenden Verlockungen einkreisen. Wenn sie aber durch die gegenseitige innere Verbindung in die denkende Seele aufsteigen, wie es in einem einheitlichen Kçrper mçglich sein kann, dann versuche zwar nicht, gegen die sinnliche Wahrnehmung, da sie natrlich ist, anzugehen, aber der leitende Teil der Seele soll von sich aus nicht die Auffassung hinzufgen, dass es sich dabei um etwas Gutes oder etwas Bçses handele.1120
Hier wird die innere Anachorese spezifiziert: Es ist kein Rckzug im Sinne einer vçlligen und dauerhaften Separierung des vernnftigen Seelenteils von anderen kçrperlichen und psychischen Instanzen oder Vermçgen und 1118 „Die Menschen suchen sich Orte, an die sie sich zurckziehen kçnnen, auf dem Lande, an der See und im Gebirge. … Doch das ist wirklich in jeder Hinsicht albern, da es dir doch mçglich ist, dich in dich selbst zurckzuziehen, wann immer du es willst. Denn es gibt keinen ruhigeren und sorgenfreieren Ort, an den sich ein Mensch zurckziehen kann, als die eigene Seele, besonders wenn er etwas in sich hat, in das er eintauchen kann, um sich auf diese Weise sofort in vollkommener Ausgeglichenheit zu befinden. Unter ‘Ausgeglichenheit‘ verstehe ich nichts anderes als ‘innere Ordnung’. Schaff dir also ununterbrochen die Mçglichkeit des Rckzugs und erhole dich.“ M. Aur. Med. 4, 3. 1119 M. Aur. Med. 8, 48 (siehe ferner 6, 15; 7, 28). 1120 M. Aur. Med. 5, 26.
280
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
seinen Einflssen oder Aktivitten gemeint. Das wre nur durch den Tod zu erreichen.1121 Vielmehr geht es hier um Rckzug, Grenzziehung und Kontrolle, nicht um Mortifikation. Daraus folgt, dass Marc Aurel sich als einen Komplex psychischer Vorgnge begreift, die sich in einer permanenten Kommunikation befinden. Die oben aufgefhrten Selbstdialoge, in denen Phantasia und Hypolepsis weitgehend zurckgedrngt oder kontrolliert werden, sind Ausdruck dieser zweiten inneren Anachorese. Der Selbstdialog, der die innere Ordnung konstituiert, ist kein abzuschließender Prozess, an dessen Ende ein fertiges und fest gefgtes „Selbst“ steht, sondern eine permanente Erfordernis. Zusammen mit Marc Aurels ganz stoischer und ausgeprgt kognitivistischer Grundhaltung kommt dies wie folgt zum Ausdruck: „Das Leben ist Hypolepsis“1122. Wenn Hypolepsis aber bestndige Kontrolle im Selbstdialog erfordert, wird auch der Selbstdialog von Hegemonikon und andern psychischen Vermçgen permanent sein mssen. Gerade diese innere Anachorese zeigt, wie eng der Selbstdialog bei Marc Aurel mit Eingriffen in die eigene Konstituierung verbunden ist. Die innere Ordnung, die eine Ordnung der Urteile ist, hat erstens Vorrang vor einer Einleitung der ußeren Handlung,1123 und zweitens bedingt die Selbstkonstitution Selbsterkenntnis, die ebenfalls in Form von Selbstanalyse, also im Selbstdialog, erreicht werden kann. Whrend die erste Form der ußeren Anachorese erklrt, warum der Selbstdialog die Selbstbetrachtungen quantitativ dominiert, macht die innere Anachorese die Qualitt und Bedeutung des Selbstdialoges fr Marc Aurel verstndlich. Die Anachorese wird mit der beraus großen Bedeutung sozialer Aspekte zu vergleichen sein.1124 Grundstzlich ist zu klren, ob Marc Aurel nur etwas aufschreibt, das der Form eines Selbstdialoges entspricht oder ob er es ist, der dabei einen solchen Dialog mit sich selbst fhrt. Es wre mçglich, dass Marc Aurel nur Lesefrchte oder etwas aus der Erinnerung notiert. Genauso wie jemand ein nicht selbst formuliertes Gebet zitieren oder paraphrasieren kann, ohne zu beten, wrde Marc Aurel Selbstdialoge aus anderen Quellen nieder1121 Auch Platon empfiehlt im Phaidon, die Trennung von Leib und Seele im Leben nachzuvollziehen. Nur durch eine Selbsttçtung wre eine vollstndige Separation zu erreichen, aber die fordert Platon ebenso wenig wie Marc Aurel. 1122 M. Aur. Med. 4, 3. 1123 Siehe dazu die lngere Ausfhrung M. Aur. Med. 7, 66. 1124 Siehe Kap. II 2.2.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
281
schreiben, ohne dass er sich damit meint. Er wrde dann, mit anderen Worten, zwar Selbstdialoge aufschreiben, aber selbst keine fhren.1125 Von der Form und den gattungsspezifischen Merkmalen eines Textes kann nicht notwendig auf die damit vom Autor verbundenen Absichten geschlossen werden. Die Selbstbetrachtungen beinhalten jedoch eine Reihe direkter Hinweise darauf, dass es Marc Aurel selbst ist, der in vielen Kapiteln einen Selbstdialog fhrt. Textform und die mit Abfassung des Textes verbundene Handlung und deren Intention wren hier also in denkbar enger Verbindung: Marc Aurel wrde der Form nach einen Selbstdialog formulieren, um einen Selbstdialog zu fhren. Bereits das erste Buch enthlt eindeutige persçnliche Referenzen. Als Auftakt zu den restlichen Bchern, mit denen es hinreichend verbunden ist,1126 verschafft es auch diesen eine klare persçnliche Adressierung. Besttigt wird dies durch die vielen Kapitel der folgenden Bcher, in denen Marc Aurel etwas erwhnt, das nur auf ihn selber zutreffen kann, etwa den Senat,1127 den Kaiserhof,1128 sein Amt,1129 seine philosophischen Ambitionen,1130 seinen Bruder1131 und schließlich finden sich sogar namentliche Selbstansprachen.1132 Dass Marc Aurel unbezweifelbar sich selbst anspricht, widerspricht nicht, wie bereits oben gezeigt, dem Befund,1133 dass die Selbstbetrachtungen keine Autobiographie im Sinne einer breiten Narration des Autors ber sich selbst sind. Ein weiteres Argument fr die These, dass Marc Aurel nicht einfach Selbstdialoge niederschreibt, sondern dass er selbst Selbstdialoge fhrt, folgt aus der Beobachtung, dass er gelegentlich auf Selbstdialoge
1125 Diesem Einwand muss wegen der These von J. Dalfen begegnet werden, Marc Aurel sei kein origineller Philosoph, sondern vielmehr Arrian vergleichbar, der Epiktets Philosophie verschriftlicht habe. Genauso habe Marc Aurel entweder Erlerntes aufgeschrieben oder sich von Hofphilosophen etwas erarbeiten lassen (siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 194, 218 – 224). 1126 Siehe Kap. I 2. 1127 Siehe M. Aur. Med. 8, 30. 1128 Siehe M. Aur. Med. 5, 16. 1129 Siehe M. Aur. Med. 6, 30. 1130 Siehe M. Aur. Med. 7, 67 und 8, 1. 1131 Siehe M. Aur. Med. 8, 37. 1132 Siehe M. Aur. Med. 6, 26 und 44, 6. 1133 Siehe Kap. I 3.1.
282
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
anderer verweist, sie dann jedoch als solche kennzeichnet.1134 Zudem entkrftet die Tatsache, dass Marc Aurels Themen und Formulierungen eine Nhe zu Texten von Seneca, Epiktet und anderen habe, keineswegs die These, er fhre einen Selbstdialog mit sich selbst als Adressat. Auch wenn Marc Aurel solche Stze etwa aus den Aufzeichnungen der Lehrgesprche Epiktets bernimmt und anwendet, kann er einen Selbstdialog fhren, denn auch wer ein Gebet auswendig lernt, kann die gelernten Wçrter dazu verwenden, um zu beten. Von einer eventuell fehlenden Originalitt der Stze oder Ideen, die fr keinen der rçmischen Stoiker ein wichtiges Kriterium ist, kann nicht auf deren mangelhafte Anwendung im eigenen Selbstdialog geschlossen werden. Abschließend ist zu erçrtern, in welchem Sinne und in welchem Ausmaß die Selbstbetrachtungen Selbstdialoge wiederspiegeln und ob sie als Ganzes ein als Selbstdialog aufgefasst werden kçnnen. Die Frage kann unterschiedlich verstanden werden. (i) Hinter den einzelnen Kapitel, die der Form nach ein Selbstdialog sind, kçnnte sich ein tatschlicher Selbstdialog verbergen bzw. zum Ausdruck kommen. (ii) Es kçnnte danach gefragt sein, ob die Selbstbetrachtungen als ein einheitliches Werk als Selbstdialog zu charakterisieren ist. (iii) Schließlich kçnnte die Frage auf die Bedeutung des Verbalisierung, hier dem Abfassen eines Textes, abzielen, denn wenn Marc Aurel im Schreiben und durch das Schreiben1135 einen Selbstdialog fhrten wren sowohl die einzelnen Kapitel als auch das Ganze der Selbstbetrachtungen als Selbstdialog zu verstehen. Ad (i) Einzelne Kapitel als Selbstdialog. Bei den Kapiteln, in denen zwei Personen oder psychische Instanzen miteinander kommunizieren, ist dies unzweifelhaft der Fall, ebenso dort, wo ein Satz durch entsprechende Formeln ausdrcklich als Selbstadressierung gekennzeichnet ist.1136 Bei dem Großteil der Eintrge handelt es sich um Mahnungen.1137 Schon weil dabei kein anderer Adressat genannt wird, handelt es sich sehr wahrscheinlich um Selbstadressierungen. Die vielen Imperative richten sich an 1134 Ein von Epiktet vorgegebener Selbstdialog findet sich unter Angabe der Quelle im Kapitel M. Aur. Med. 11, 34. 1135 Gemeint ist auch hier das Schreiben bzw. Formulieren beim Diktieren. 1136 In der Auflistung der Kapitelarten zu Beginn dieses Unterkapitels sind das die Gruppen (a), (b) und teilweise (c). 1137 Siehe die gesamte Gruppe (c) der initialen Auflistung.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
283
jemanden. Darber hinaus gibt es neben dem Sonderfall des ersten Buches eine Reihe von Kapiteln, die keine Selbstadressierung enthalten, sie bestehen zu einem Großteil aus einfachen Aussagestzen bzw. deren Verknpfungen zu einem Argument. Hierbei handelt sich sehr wahrscheinlich um eine Variante derjenigen Kapitel, in denen eine Aufforderung fr einen Selbstdialog gegeben wird, der dann die konkreten Formulierungen folgen, die so (zum Teil fr bestimmte Situationen) auswendig gelernt werden kçnnen.1138 Typisiert haben diese Eintrge die Form „Sage zu Dir selbst: ,Ich tue x‘“. Die fraglichen Kapitel, in denen die rahmengebende Aufforderung zum Selbstdialog fehlt, kçnnen nun als zwei verschiedene Varianten dieses Kapiteltypus mit Aufforderung verstanden werden. Entweder handelt sich um eine elliptische Variante. Statt zu schreiben: „Sage Du selbst: ,Ich…‘“, um sich aufzufordern, evtl. zu bestimmten Gelegenheiten einen vorgegebenen Selbstdialog zu fhren, notiert Marc Aurel sich nur diese Formulierung und verzichtet auf die Aufforderung zum Selbstdialog, da er weiß, wofr er den Satz gebrauchen mçchte. In dieser Variante wre so ein Kapitel eine vorbereitende bung. Oder Marc Aurel aktualisiert mit einem solchen Kapitel einen Satz, den er in Du- oder Ich-Form an sich richtet, mit der Forderung, einen bestimmten Selbstdialog zu fhren. In dieser Variante wrde es sich um die Umsetzung der ersten Mçglichkeit handeln. In beiden Fllen braucht Marc Aurel keine Aufforderung zum Selbstdialog mehr niederzuschreiben, sondern nur den Teil, den andere Kapitel nach einer Aufforderung als direkte Rede wiedergeben. So fordert Marc Aurel sich mehrfach auf, morgendlich einen Selbstdialog zu fhren, wobei er den konkreten Wortlaut der Selbstansprache wiedergibt. Andere Kapitel knpfen dem Thema und den Termini nach so eng daran an, dass sie als eine solche unmittelbare Selbstansprache verstanden werden kçnnen.1139 Einer solchen Interpretation zufolge sind alle Mahnungen oder Adressierungen innerhalb der Selbstbetrachtungen Selbstadressierungen und somit ein Selbstdialog oder zumindest ein Teil davon.
1138 Im vorangegangenen Kapitel zu den Selbstdialogen bei Epiktet konnte gezeigt werden, dass Epiktet seine Schler oft zu Selbstdialogen auffordert, ihnen dann konkrete Formulierungen gibt, wobei er die grammatischen Personen so whlt, dass der Schler sich leicht identifizieren kann. 1139 Siehe etwa die Kapitel zum morgendlichen Selbstdialog (M. Aur. Med. 2, 1; 5, 1; 10, 13) mit den Eintrgen 8, 12 oder 5, 30.
284
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
Dass in einigen Kapiteln ausdrckliche Hinweise fehlen, Stze als Teil eines Selbstdialoges zu betrachten, verweist auf einen grundlegenderen Umstand, der hilft, die Selbstbetrachtungen als Ganzes zu verstehen. In der modernen Literaturwissenschaft oder Narratologie wird der Begriff des „inneren Monologs“ oder „erzhlten (inneren) Monologs“ verwandt.1140 Abgesehen von der grundstzlichen, bereits erçrterten Problematik, dass im Kontext der antiken Philosophie und besonders bei Marc Aurel nicht von „Monolog“, sondern „Selbstdialog“ gesprochen werden sollte, kçnnen die genannten Momente des „(erzhlten) inneren Monologs“ unschwer als Charakteristika diverser Kapitel der Selbstbetrachtungen ausgemacht werden. Der moderne Begriff hilft jedoch die gerade erwhnten Passagen der Selbstbetrachtungen zu verstehen, denn er bezeichnet die Wiedergabe der Gedankenfolge einer Person, ohne dass der Kontext durch formale Umstnde (z. B. seitens eines Erzhlers oder Autors) wie z. B. Anfhrungszeichen oder Hinweise (z. B. „sage zu Dir selbst“) gekennzeichnet ist. Beim inneren Monolog richtet sich das Gestaltungs- und Interpretationsinteresse weniger auf die sprachlich-rhetorische Ausprgung als auf die Integration verschiedener Inhalte (Wahrnehmung, gegenwrtiges Geschehen, Erinnerung, Zukunftsvorstellungen) und das Zusammenspiel mit anderen Formen der Gedankenwiedergabe (erlebte Rede, verkrzender Gedankenbericht).1141
Bei einer lngeren Gedankenabfolge wird von einem „erzhlten inneren Monolog“ gesprochen.1142 Die modernen Begrifflichkeiten erlauben es, eine Reihe von Kapiteln der Selbstbetrachtungen besser zu verstehen. Die Kapitel ohne formale Hinweise oder kontextualisierende Erluterungen kçnnen als „direkte innere Selbstansprache“1143 verstanden werden. Ob dies bereits durch den Schreib- oder Verbalisierungsprozess gegeben ist, muss noch entschieden 1140 Verwandt wurde die literarische Technik bereits 1888 von J. Dujardin in Les lauriers sont coups. Gehart Hauptmann aber gebraucht 1890 im zweiten Akt seines Drama Das Friedensfest den Ausdruck „innerer Monolog“, ein weiterer Gebrauch findet sich bei A. Schnitzler, um schließlich durch James Joyces Ulysses sehr bekannt zu werden. 1141 Asmuth, B.: Art. „Monolog“, a.a.O., S. 1471. 1142 Siehe etwa Cohn, D.: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton 1978. 1143 Tumanov, V.: Mind reading. Unframed direct interior monologue in European fiction, Amsterdam u. a. 1997.
4.2 Selbstdialoge in den Selbstbetrachtungen
285
werden.1144 Auch lngere Kapitel oder Argumentationen kçnnen darunter fallen. Der modernen Auffassung zufolge ist der „innere Monolog“ vor allem auf Inhalte und Auseinandersetzungen mit der eigenen Wahrnehmung konzentriert. Dies passt gut zu der von Marc Aurel mehrfach geforderten und in einigen Kapiteln praktizierten Auseinandersetzung mit der Phantasia und der Hypolepsis. Darber hinaus dient fr Marc Aurel eine solche mit Worten und Argumenten gefhrte Auseinandersetzung mit sich selbst einer permanenten Notwendigkeit der Selbstkonstitution. Insbesondere das erste Buch, das einen weitgehend formal und konzeptionell geschlossenen Charakter hat, ließe sich demnach als „erzhlter innerer Selbstdialog“ verstehen. Diese Interpretation wrde zu dem Befund passen, dass Marc Aurel im ersten Buch keinen von sich unterschiedenen Adressaten im Auge hat. Es handelt sich keineswegs um an die Erwhnten gerichtete Danksagungen, sondern um Selbstermahnungen in Form von Exempla. Deutlich wurde dies durch die Auswahl der erwhnten Eigenschaften und anhand der Tatsache, dass sich die anfangs feste formale Struktur des Satzbaus mehr und mehr der freieren Form der Kapitel der folgenden Bcher nhert. Wenn Marc Aurel vorrangig fr sich selbst und an sich selbst adressiert geschrieben hat, wre verstndlich, warum er Kapitel nicht immer ausdrcklich als Selbstdialog kennzeichnet hat. Ad (ii) Sind die Selbstbetrachtungen als Ganzes ein Selbstdialog? Da der Selbstdialog von der Forschung nicht als literarische Gattung aufgefasst wurde, konnten die Selbstbetrachtungen als Ganzen auch nicht in diesem Sinne als Selbstdialog bezeichnet werden. Die Vielzahl der Formen und Funktionen des Selbstdialoges, die in den vorangegangenen beiden Abschnitten der Untersuchungen festgestellt worden sind, erschwert es zustzlich, in irgendeinem anderen Sinne die Selbstbetrachtungen als einen Selbstdialog aufzufassen. Da aber eine Vielzahl von Kapiteln in formaler oder funktioneller Hinsicht mit dem Selbstdialog in enger Verbindung steht, ist es sicher nicht bertrieben die Selbstbetrachtungen als vorrangig selbstdialogischen Text zu bezeichnen. Epiktet wurde „dialogisches Fieber“ (Hirzel) attestiert, seine Lehrgesprche wrden sich durch einen „double focus“ auszeichnen, womit ge-
1144 Siehe den folgenden Abschnitt (ad iii) und das Kap. I 6.3.–4.
286
4. Selbstbetrachtungen und Selbstdialog
meint ist, dass sie erstens ber eine Appellstruktur1145 verfgen wrden und sich dabei aber zweitens an das reale Publikum und fiktive Gesprchspartner zugleich richten wrden.1146 Marc Aurels Selbstbetrachtungen zeigen, was Thema und sogar Formulierungen angeht, zahlreiche Spuren von Epiktet und Seneca. Was die Dialogizitt angeht, bestehen dennoch gravierende Unterschiede. Von dem genannten „double focus“ kann nmlich keine Rede sein, zumindest scheint der Text vorrangig selbstadressiert zu sein. Eine Adressierung an andere oder gar eine Publikationsabsicht sind im Text nicht gut nachweisbar und scheinen bestenfalls nachrangig zu sein. Vielleicht kann man auch sagen, dass Marc Aurel demgegenber vielleicht indifferent war, aber nicht gegenber der Selbstadressierung. Marc Aurel ußert sich nicht zu Einheit und Charakter seines Werkes. Fr die Thesen, dass die berlieferung tiefgreifend gestçrt ist, der Text aus verschiedenen literarischen Projekten Marc Aurels eher schlecht kompiliert wurde oder nur die Sammlung fr einen unvollendeten philosophischen Traktat darstellt, gibt es keine triftigen Belege. Dass einige Kapitel eher wie „Trmmerstcke eines inneren Monologes“1147 wirken, belegt die in dieser Arbeit vertretene These von der Einheit des Textes und dem Charakter der Selbstbetrachtungen als selbstdialogischem Ganzen eher als ihr zu widersprechen. Die Absicht des Textes, die Abfassungsform und die Aussagen des Autors ber den Selbstdialog erfordern es, dass der „mode for presenting consciousness“ (Cohn) eine andere Form als die vorliegende hat. Das Dialogische als Erbe wird bei Marc Aurel zu einer Form, die aber nicht mehr einem zwischenmenschlichen Austausch dient, sondern einem Selbstdialog. 1145 Siehe zum Begriff und den Hintergrnden Asper, M.: Zur Struktur und Funktion eisagogischer Texte, in: Kullmann, J./Althoff, J./Asper, M. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, a.a.O., S. 324 und Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, 3. Aufl., Konstanz 1972. Zur Anwendung im antiken Kontext bei Epiktet siehe Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 57. 1146 Diesen „double focus“ hlt Stowers fr ein Wesensmerkmal der „Diatribe“ (siehe Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, a.a.O., S. 140, im Rekurs auf Bakhtin, M.: Discourse Typology, in: Metejka, L./Pomorska, K. (Hg.): Readings in Russian Poetics. Formalist and Structuralist Views, Cambridge (Mass.) 1971, S. 176 – 196, hier: S. 176). 1147 So die erste Erwhnung des inneren Monologes bei G. Hauptmann 1890.
5. Rhetorisches
287
Diese sehr allgemeine Charakterisierung der Selbstbetrachtungen als selbstdialogisch ist natrlich mit Unschrfen verbunden. Wenn man auch die Kapitel(-reihen) in Marc Aurel offenbar Gelesenes als fr sich als wertvoll notiert und sich als Dogmen zu eigen machen will als selbstdialogisch,1148 dann verwischt man den den Unterschied zu Texten ander Autoren, die zwar ebenfalls Exzerpte beinhalten, aber nimals Selbstdialogisches.1149 Ad (iii) Schreiben als Selbstdialog. An dieser Stelle braucht nur ein Hinweis auf eine ausfhrliche Behandlung dieser schwierigen und kontroversen Fragen erfolgen.1150 Die moderne Forschung hat den inneren Monolog in der fiktionalen Literatur als „mind reading“ aufgefasst, weil er einen Einblick in das Bewusstsein der literarischen Figuren ermçgliche.1151 In Anlehnung an diese Terminologie kçnnte man bei Marc Aurel von mind writing sprechen. Der Selbstdialog wird dabei nicht nur thematisiert und fr eine Vielzahl von bestimmten Situationen sowie zur dauerhaften Kontrolle ber das eigene Seelengefge gefordert, sondern mitunter auch praktiziert.
5. Rhetorisches Zum Abschluss der Untersuchung der formalen Aspekte und ihrer Bedeutung ist auf das grundlegendste formale Charakteristikum der Selbstbetrachtungen einzugehen, nmlich auf die Tatsache, dass es sich um einen Text handelt. Dabei sind Aspekte von Interesse, von denen die ersten drei in einem engen Zusammenhang stehen und deshalb zusammengenommen in diesem Kapitel besprochen werden. Sie betreffen die von Kommentatoren zum Teil stark kritisierten sprachlichen Fhigkeiten Marc Aurels. Nach einer Analyse von Marc Aurels eigenen theoretischen Bestimmungen zu formalen Fragen des Sprachgebrauchs in den Selbstbetrachtungen (1) sind die dort tatschlich verwendeten rhetorischen Mittel und
1148 Siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 35 – 51 und 11, 30 – 39. 1149 Hier danke ich Geert Roskam fr wertvolle Hinweise. 1150 Siehe Kap. I 6.3.–4. 1151 Siehe Tumanov, V.: Mind reading. Unframed direct interior monologue in European fiction, a.a.O. und Cohn, D.: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, a.a.O.
288
5. Rhetorisches
ihre Bedeutungen exemplarisch und daher keineswegs mit dem Anspruch auf Vollstndigkeit zu beschreiben (2). Eine Evaluation des Stils der Selbstbetrachtungen (3) wird zunchst den Selbstanspruch des Autors bercksichtigen mssen. Dies fhrt zur grundlegenderen Frage, ob Marc Aurel auch in dieser Hinsicht seinem theoretischen Anspruch durch die eigene Praxis gerecht wird. Besttigt die Analyse der rhetorischen Mittel ebenfalls die These, dass die Selbstbetrachtungen etwas thematisieren und zugleich umsetzen? Schließlich wird eine solche Beurteilung der Selbstbetrachtungen auf der Grundlage einer zumindest kursorischen Bestimmung, was im Kontext einer selbstadressierten Schrift als gute Rhetorik gelten kann, erfolgen mssen. Der Stil der Selbstbetrachtungen gehçrt zu den wenigen schon frh und besonders gut untersuchten Aspekten.1152 Dabei handelt es sich in der Regel jedoch um reine Bestandsaufnahmen, die keinerlei Bewertungen enthalten oder auf eine Erçrterung mit Verbindung zu den Inhalten verzichten. Auf der anderen Seite haben weder Kritiker der rhetorischen Ausarbeitung der Selbstbetrachtungen noch diejenigen, die das Werk fr formal einzigartig halten, hinreichend auf eine Gesamtschau der rhetorischen Elemente verwiesen. Ebenfalls haben die Kritiker der Inhalte des Werkes in der Regel bersehen, dass die rhetorischen Elemente eigentlich nie reines Ornament der Argumente und Thesen sind, sondern deren integraler Bestandteil. Schließlich (4) ist dann der wichtigen und von der Forschung stark vernachlssigten Frage nach der Bedeutung des Schreib-Aktes selber nachzugehen. 5.1 Die Bestimmung der guten Rhetorik Marc Aurel ist ein ußerst reflektierter und „selbstbewusster“ (R. B. Rutherford) Autor, schon weil er sich hufig zu formalen Aspekten der Sprache ußert. 1152 Siehe Bushnell, C. C.: Comparisons and Illustrations in the t± pq¹r 2autºm, in: Transactions of the American Philological Association 36 (1905), S. xxxix-xxxx und ders.: A classification according to the Subject-matter of the Comparisons and Illustrations in the Meditations of Marcus Aurelius Antoninus, a.a.O.; Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O.; Kasulke, Ch. T.: Marc Aurel und kein Konflikt zwischen Philosophie und Rhetorik im 2. Jhr. nach Christus, a.a.O., Kap. 3.1.5. Alle drei Aspekte zur Rhetorik (Bestandsaufnahme nebst einer Evaluierung mit Blick auf Marc Aurels eigene, ausformulierte, rhetorische Ansprche) finden sich nur bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., Kap. 1, 2 und 4.
5.1 Die Bestimmung der guten Rhetorik
289
Das Entscheidendste an seinen Bestimmungen zur Rhetorik ist der Umstand, dass diese keine darauf beschrnkten Aussagen sein wollen. Formale Fragen sind auch ethische Fragen, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Die sprachliche Gestaltung soll erstens helfen, eine bestimmte Praxis zu fçrdern. Die handlungsleitenden Prinzipien mssen erlernt und erinnert werden. Dies soll durch eine kurze und prgnante Form erleichtert werden. Zweitens ist die Forderung, beim Reden und Schreiben formale Vorgaben zu bercksichtigen, selber eine ethische Anweisung, da insbesondere das Sprechen mit anderen eine Handlung ist, die entsprechend tugendhaft vollzogen werden sollte. Drittens gibt es eine grundstzliche Korrespondenz von Sprache und Praxis, insofern beide auf einfachen und klaren Prinzipien basieren sollten. Es handelt sich dabei fr beide Bereiche um dieselben Prinzipien, die ihrerseits Einfachheit und Klarheit fordern.1153 Diese Zusammenhnge werden bei vielen einzelnen Bestimmungen der Selbstbetrachtungen deutlich. Sowohl fr Worte wie Handlungen gelten zunchst quantitative Beschrnkungen: Man soll weder viel handeln noch viele Worte machen, es kommt auf die Effektivitt, nicht auf die Anzahl von Worten oder Taten an.1154 Die von Marc Aurel geforderte Krze dient der Reduktion auf das Wesentliche.1155
1153 Siehe zum Hintergrund bereits Sen. Ep. 114, 1. Weitere Belegstellen nebst Erluterungen fr die Literatur vor Marc Aurel findet sich bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 32 f. 1154 Siehe M. Aur. Med. 3, 5. Eine quantitative Reduktion wird auch im Hinblick auf die Menge des zu Erlernenden gefordert, wobei entsprechend wenig Sachwissen ausreichend ist: „Diese Einsichten sollen dir gengen, wenn sie deine Grundberzeugungen sind. Befreie dich von deinem Hunger auf Bcher, damit du dein Leben nicht in Gram beschließt, sondern wahrhaft heiter und den Gçttern von Herzen dankbar.“ (M. Aur. Med. 2, 3, siehe auch 4, 31). Whrend Seneca empfiehlt, dass Autoren ganz gelesen werden, ist Marc Aurel (vielleicht nicht nur aufgrund persçnlicher Umstnde) fr mehr Selektion (siehe M. Aur. Med. 2, 3 und 3, 14). Aber nicht nur aus dem Reichtum der Quellen, auf die Marc Aurel rekurriert, wird klar, dass er selber viel gelesen hat: Er erwhnt, dass Rusticus ihm sorgfltiges Lesen beigebracht hat (M. Aur. Med. 1, 7). Und aus dem Briefwechsel mit Fronto geht hevor, dass er bis 161 gerne gelesen und sich darber ausgetauscht hat (siehe Fronto Ep. 1, 138 und 301). 1155 „Also wirf alles von dir und halte nur an diesen wenigen berzeugungen fest.“ M. Aur. Med. 3, 10. Die Empfehlung, sich kurz zu fassen, wird bereits von Sokrates im Protagoras (343a-b) erhoben. Da Sokrates sich selbst auf die Sprche der Sieben Weisen beruft, kann er nicht als Begrnder der Tradition gelten. Die Forderung, ethische Maximen um ihrer praktischen Effektivitt willen kurz zu halten, ist wahrscheinlich so alt wie die praktischen Forderungen selbst.
290
5. Rhetorisches
Rusticus war Marc Aurels Vorbild darin, „nicht auf die Nacheiferung der Sophisten zu verfallen und nicht ber die Knste und Wissenschaften zu schreiben“, auf „gebildetes Sprechen (!steiokoc¸ar) zu verzichten“ und „einfach zu formulieren (!vek_r cq²veim)“.1156 Pius ist Exempel, wenn es darum geht, kein „Scholast (swokastijºr)“1157 zu sein. An die Gçtter gerichtet ist: Dank auch dafr, dass ich, als ich mich mit der Philosophie beschftigen wollte, nicht an irgendeinen Sophisten geriet und mich nicht dazu herabließ, Gemeinpltze zu verfassen, Syllogismen aufzulçsen oder meteorologische Fragen zu klren.1158
Es geht darum, ohne „Spitzfindigkeiten (jolxe¸a)“ auszukommen.1159 Eine bestimmte Form der Rede ist ein ethisches Gebot: „Im Senat und zu jedem anderen maßvoll und sehr klar sprechen, eine gesunde Ausdrucksweise verwenden.“1160 Dies betrifft auch spezielle Kommunikationsformen, wie das Gebet: „Man soll entweder gar nicht beten oder so: einfach und freimtig.“1161 Dass Denken, Sprechen und Schreiben einerseits und Handeln andererseits grundstzlich an denselben Prinzipien orientiert sind,1162 wird bis in das Detail der Verwendung von einzelnen Wçrtern deutlich: Ein in der Literaturkritik verwandter Ausdruck wie !vek_r wird bei Marc Aurel auch fr moralische Urteile verwandt.1163 Als „einfach ("pkoOr)“ bezeichnet Marc Aurel eine gute Ausdrucksweise, aber auch eine gute Seele.1164 Gleiches gilt fr seine Verwendung des Wortes „gesund“.1165 Die Verschrnkung von Form und Inhalt wird besonders deutlich, wenn Marc Aurel unter das naturgemße Leben neben dem Handeln eben auch die formale Gestaltung der Sprache fasst: 1156 M. Aur. Med. 1, 7. 1157 M. Aur. Med. 1, 16. 1158 M. Aur. Med. 1, 17. 1159 M. Aur. Med. 3, 5. Die Kritik an rein ornamentaler Rhetorik ist ein bekannter und alter Topos (siehe Sen. Ep. 114 und weitere Literatur, die sich z. B. bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 41, Anm. 129, findet). 1160 M. Aur. Med. 8, 30. Siehe hnlich Arr. Epict. ench. 33, 2. 1161 M. Aur. Med. 5, 7. 1162 Siehe auch M. Aur. Med. 3, 16. 1163 Siehe M. Aur. Med. 12, 27. 1164 Siehe die Verwendung in den Kapiteln M. Aur. Med. 3, 4; 3, 6; 3, 16; 4, 37; 5, 7; 6, 30; 9, 29; 9, 37; 10, 1; 10, 32. 1165 Siehe insgesamt die Kapitel zur Gesundheit und die entsprechenden Wortformen: M. Aur. Med. 1, 17; 4, 51; 5, 8; 6, 55; 8, 30; 8, 43; 8, 47; 9, 11; 10, 33; 10, 35; 11, 9; 11, 39.
5.1 Die Bestimmung der guten Rhetorik
291
Nimm stets den kurzen Weg. Kurz aber ist der Weg, der mit der Natur bereinstimmt; das hat zur Folge, dass du alles auf die gesndeste Weise sagst und tust. Denn ein solcher Vorsatz bewahrt dich vor Großsprecherei, bertreibung, ungenauem Formulieren und Spitzfindigkeit.1166
Die Forderung nach Freimtigkeit und Offenheit (paqqgs¸a) der Sprache1167 ist ebenfalls keine rein stilistisch-sthetische Frage. Vielmehr handelt es sich hierbei um den formalen Aspekt von zentralen inhaltlichen Bestimmungen: Marc Aurel fordert sich auf, sich wie Gott1168 daran zu gewçhnen, die Dinge nackt zu sehen.1169 Eine klare Ausdrucksweise ist ein wesentlicher Aspekt des geforderten klaren Blickes,1170 der nicht nur in das Innere einer Seele eindringen soll,1171 sondern fr alle Gegenstandsbereiche gebraucht wird. Denn die klare und direkte Ausdrucksweise ist integraler Bestandteil der analytischen Methode, die hilft, jedes Ding nackt, seiner Natur gemß, zu betrachten und zu bewerten.1172 Aus dieser Verbindung von paqqgs¸a und analytischer Methode gehen, wie die sich gleich anschließende Bestandsaufnahme der Rhetorik der Selbstbetrachtungen zeigen wird, zwei Redestile hervor: Zum einen erfordert die analytische Methode eine geradezu nchterne, naturgemße Beschreibung der Dinge, eine Analyse ihrer urschlichen und materialen Aspekte. Eine solche Ausdrucksweise dient dem Blick fr das, was wirklich ist. Entsprechende Formulierungen fçrdern diese Perspektive nicht nur, sie sind Teil der Methode. Zum anderen wird die Freimtigkeit der Rede auch fr den Ausdruck der aus der analytischen Methode resultierenden Entwertung vermeintlicher Gter gebraucht. Damit geht ein etwas rauerer und kymrischerer Ton einher, der strker adhortativ wirkt.1173 1166 M. Aur. Med. 4, 51. Die Form der Sprache wird nach allgemeiner stoischer Lehre durch die Wahrheit ihrer Aussagen bestimmt (siehe Diog. Laert. 7, 59 oder Cic. Fin. 4, 7). 1167 Siehe M. Aur. Med. 1, 6; 3, 4; 11, 15. 1168 Siehe M. Aur. Med. 12, 2. 1169 Siehe M. Aur. Med. 9, 34; 3, 11; 10, 1; 12, 8. Zum Hintergrund siehe: Pl. Grg. 523aff. und Sen. Ep. 92, 13. 1170 Siehe M. Aur. Med. 10, 35; 6, 31. 1171 Siehe M. Aur. Med. 6, 3; 7, 30; 8, 11; 9, 18 oder 27. 1172 Siehe die gute Kurzbeschreibung M. Aur. Med. 3, 11 (siehe ferner: 11, 2 und 16; 12, 28 – 9). 1173 Siehe zum sokratisch-kynischen Hintergrund Diogenes Laertius 4, 52. Marc Aurel selber bringt die paqqgs¸a mit Diogenes in Verbindung: „Nach der Tragçdie wurde die Alte Komçdie eingefhrt, die eine erzieherisch wirkungsvolle Offenheit zeigte und in ihrer sprachlichen Direktheit die Tugend der Bescheidenheit auf geschickte
292
5. Rhetorisches
Marc Aurel ußert sich ferner ber den richtigen Umgang mit Zitaten. Er erlutert: Wer von den richtigen Grundberzeugungen gebissen worden ist, dem gengt auch das krzeste, beilufig aufgelesene Wort zur Erinnerung an die Freiheit von Schmerz und Furcht, wie z. B.: ,Bltter, die der Wind auf der Erde verstreut, so ist das Menschengeschlecht.‘1174
Der dann folgende Teil des Kapitels erlutert, woran dann das Homerzitat erinnern soll, wenn man ihm einmal eine bestimmte Bedeutung zugewiesen hat. Zitate fungieren also als verbale Auslçser fr bestimmte Kognitionen. Sie sollen als solche sofort wirken,1175 und daher folgt ihre Form der Funktion. Auch Marc Aurel geht es dabei offensichtlich nicht um die Autorenschaft oder Autoritten, denn er bezeichnet immerhin ein von Simonides als besonders wichtig eingestuftes Homerzitat als „beilufig aufgelesen“.1176 Wer zitiert, hat vorher gelesen oder etwas Gehçrtes erinnert, aber in den Selbstbetrachtungen rumt Marc Aurel dem Lesen keinen besonderen Stellenwert ein, es sei nicht mehr notwendig, um seine stoischen Ziele zu erreichen.1177 Dennoch betont er den ethischen Wert der Literatur, der aber nicht notwendig in ihr selbst enthalten ist, sondern aus der Anwendung resultiert.1178 Marc Aurel spricht von solchen Stzen als Hilfe,1179 Regel oder Standard.1180 Wie andere Kernstze auch, sollen Zitate lebende Dogmen1181 sein, die der Erneuerung1182 dienen, indem sie die Persçnlichkeit ganz durchdringen, so wie das Frben der Wolle,1183 oder wenn etwas Teil des Stoffwechsels wird.1184 Obschon Marc Aurel also das Lesen nicht mehr ausdrcklich empfiehlt, sind fr ihn Zitate ntzlich. Dass er sie Weise zum Ausdruck brachte. Deshalb eignete sich auch Diogenes die Sprache der Komçdie an.“ (M. Aur. Med. 11, 6). 1174 M. Aur. Med. 10, 34. 1175 Siehe M. Aur. Med. 4, 3. 1176 Siehe Hom. Il. 6, 164 – 9. 1177 Siehe M. Aur. Med. 2, 3. 1178 Siehe M. Aur. Med. 11, 6. Siehe Epiktet (ber Homer) Arr. Epict. diss. 4, 10, 31. Man soll nicht um seiner selbst willen lesen, sondern nur fr psychagogische Zwecke. Dies gilt fr fiktionale Literatur genauso wie fr die Texte anderer Philosophen (siehe Arr. Epict. ench. 49). 1179 paq\stgla M. Aur. Med. 3, 11; bo^hgla M. Aur. Med. 4, 50. 1180 jam~m M. Aur. Med. 5, 22; 10, 2. 1181 Siehe M. Aur. Med. 7, 2. 1182 Siehe M. Aur. Med. 4, 3. 1183 Siehe M. Aur. Med. 5, 16. 1184 Siehe M. Aur. Med. 4, 1; 10, 31; 10, 35.
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
293
hufig verwenden kann, verdankt er seiner sehr guten Ausbildung und seiner frheren Lesefreude, die dokumentiert ist.1185 5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung Die nun folgende Bestandsaufnahme der Stilmittel verfolgt erstens das Ziel, exemplarisch nachzuweisen, dass die Selbstbetrachtungen kein unfertiges Werk im Rohzustand sind, dem der rhetorische Schliff ganz fehlt. Zweitens ist anhand des tatschlich reichhaltig vorhandenen Einsatzes rhetorischer Mittel und ihrer Bedeutung zu zeigen, wie sehr Marc Aurel selber Form und Inhalt verknpft, was drittens hilft, die Beurteilung, in welchem Sinne es sich um gute oder schlechte Rhetorik handelt, vorzubereiten. Auffllig ist bereits der Wortreichtum der Selbstbetrachtungen. Marc Aurel hat eine große Vorliebe fr die Verwendung von Komposita und besonders solche, die mit „sum“ als Prfix gebildet werden. Es handelt sich um etwa 150 Nennungen bzw. Formen.1186 Als Beispiel kann gelten: Dies ist von Gott gekommen, das geschieht durch schicksalhafte Verkettung, schicksalsbedingte Zusammenfgung, durch ein entsprechendes Zusammentreffen und durch Zufall, jenes aber wurde von meinem Mitbrger, von meinem Verwandten, von meinem Partner verursacht, der allerdings nicht weiß, was seiner Natur gemß ist.1187
In diesem Zusammenhang ist auf entsprechende Passagen bei Heraklit, Epiktet1188 und Poseidonius1189 verwiesen worden. Damit sind die zahlreichen Kapitel bei Marc Aurel jedoch nur sehr unzureichend erklrt. Denn 1185 Siehe den Briefwechsel mit Fronto (siehe Fronto Ep. 1, 138 und 301). 1186 So Schekira, R.: De imperatoris Marci Aurelii Antoninii librorum t± eQr 2autºm sermone quaestiones philosophicae et grammaticae, Diss., Greifswald 1919, S. 264 und Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 95, Anm. 1. Siehe auch den Wortindex in der Edition von J. Dalfen. 1187 toOto l³m paq± heoO Fjei, toOto d³ jat± tμms¼kkgnim ja· tμm sullgquol´mgm s¼cjkysim ja· tμm toia¼tgm s¼mteun¸m te ja· t¼wgm, toOto d³ paq± toO sulv¼kou ja· succemoOr ja· joimymoO, !cmooOmtor l´mtoi f ti aqt` jat± v¼sim 1st¸m. M. Aur. Med. 3, 11 (siehe ferner 3, 4; 4, 26; 4, 40; 4, 45; 5, 8; 6, 39; 7, 23; 11, 8). 1188 Siehe etwa Arr. Epict. diss. 3, 24, 1 und 4, 7, 20 und Heraklit DK 22 B 10, B 91, 113 und 114 (so Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 94 f.). 1189 Siehe hierzu die Angaben bei Neuenschwander, R.: Marc Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O., S. 12.
294
5. Rhetorisches
erstens sind viele der sum-Komposita offensichtlich Neuschçpfungen, da sie in der Literatur vor den Selbstbetrachtungen nicht belegt sind. Zweitens ist fraglich, ob Marc Aurel nicht auch inhaltlich viel weiter als seine Vorlufer geht. Bei keinem der Genannten spielt der Gemeinschafts- oder Zusammengehçrigkeitsgedanke auf menschlicher oder kosmischer Ebene eine so große Rolle oder nimmt derart viel Platz ein wie bei Marc Aurel.1190 Offensichtlich war Marc Aurel der Ansicht, dass der fr ihn so wichtige Gedanke, dass alle Dinge und Menschen im Kosmos eine Gemeinschaft mit engen Beziehungen bilden, besonderer und neuer Worte bedrfe. Und damit ist deutlich, dass er fhig war, diese berlegung rhetorisch umzusetzen. Was einzelne Wçrter angeht, sind ferner die bereits ausfhrlich besprochenen Imperative zu erwhnen und die hufig vorkommenden Diminutive: Was aber mit deinem jmmerlichen Fleisch und dem bisschen Atemluft (pmeulat¸ou) zu tun hat, das – so sei dir bewusst – ist weder dein Eigentum, noch kannst du es beeinflussen.1191
Der sprachlichen Verkleinerung entspricht die gedankliche Entwertung oder vielmehr die Forderung, alles realistisch mit klarem Blick und offenen Worten zu beschreiben, was eben einschließt, den Wert der gleichgltigen Dinge nicht zu groß einzuschtzen. Das entspricht der stoischen und besonders bei Epiktet zum Tragen kommenden Vorstellung, dass Dinge, die nicht durch Menschen kontrollierbar sind, auch kein Gut fr ihn darstellen kçnnen. Neben einzelnen Wçrtern kçnnen Vergleiche diminuierend sein, etwa wenn Marc Aurel mit Homer die Menschen mit Ameisen, aufgescheuchten Musen1192 oder – in enger Anlehnung an Homer – mit Blttern im Wind1193 vergleicht. Solche Verkleinerungen sind, wie im letzten Zitat anklingt, besonders hufig Bestandteil kynischer1194 Formulierungen, auf die gleich zurckzukommen sein wird. Zunchst ist auf den besonders reichhaltigen Bestand an Metaphern und Vergleichen einzugehen, die einen wichtigen und zu-
1190 Siehe Kap. II 2.2. 1191 M. Aur. Med. 5, 33. 1192 Siehe M. Aur. Med. 7, 3. 1193 Siehe M. Aur. Med. 10, 34. 1194 Kyniker selbst erwhnt Marc Aurel in M. Aur. Med. 2, 15; 6, 13; 8, 3; 11, 6.
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
295
gleich den best untersuchtesten Teil der Rhetorik Marc Aurels ausmachen.1195 Sowohl die Dinge, die Marc Aurel durch Vergleiche oder Metaphern ausdrckt, als auch die dann gewhlten Figuren stehen in einem engen Zusammenhang mit den generellen Inhalten und Absichten seiner Philosophie. Das menschliche Leben ist fr ihn nur ein Schauspiel. Es kann entsprechend Wiederholungen1196 geben, oder die Lnge des Stckes wird durch jemand anderen beeinflusst, in beiden Fllen ist dies hinzunehmen.1197 Ebenso wird das Leben als Kriegsschauplatz betrachtet.1198 Entsprechend hat Gott wahlweise die Rolle des Regisseurs oder Feldherren inne. Zum Leben als Kriegsschauplatz passt die Bezeichnung des Hegemonikons als innere Burg1199 oder die Erwhnung des Rckzugs.1200 Mit hnlicher Intention wird das Leben als Wettkampf 1201 oder Ringkampf 1202 aufgefasst, denn wie auf einen Krieg oder einen solchen Wettkampf muss man sich durch intensives ben vorbereiten.1203 Anders als auf einen Krieg oder Wettkampf macht die Darstellung des Lebens als 1195 Hier wird eine Zusammenfassung der gut etablierten und nicht leicht verbesserungsfhigen Forschungslage gegeben. Siehe Bushnell, C. C.: Comparisons and Illustrations in the t± pq¹r 2autºm, a.a.O. und ders.: A classification according to the Subject-matter of the Comparisons and Illustrations in the Meditations of Marcus Aurelius Antoninus, a.a.O.; Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 100 – 134; Kasulke, Ch. T.: Marc Aurel, Fronto, a.a.O. Auf die einzelnen Bedeutungen der Vergleiche und Metaphern kann hier nicht vollumfnglich eingegangen werden, die entsprechenden Kapitel zu den Inhalten im zweiten Hauptteil der Untersuchung werden dies jedoch behandeln. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch in diesem Punkt die Arbeit von Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso. La dialettica di Marco Aurelio, a.a.O., S. 149 ff. 1196 Siehe M. Aur. Med. 6, 46. 1197 Siehe M. Aur. Med. 3, 8; 7, 3; 12, 26. 1198 Siehe M. Aur. Med. 7, 7; 2, 17. Zum Hintergrund siehe das Exzerpt Pl. Ap. 28d in M. Aur. Med. 7, 45. 1199 Siehe M. Aur. Med. 8, 48. Zum Hintergrund siehe Pl. Resp. 560b; Cic. Tusc. 1, 20; Arr. Epict. diss. 4, 86, 5 und 25. 1200 Siehe M. Aur. Med. 3, 5. Zum Hintergrund siehe Arr. Epict. diss. 3, 3, 14; 3, 24, 101; 3, 26, 29. 1201 Siehe M. Aur. Med. 3, 4. Zum Hintergrund siehe z. B. Arr. Epict. diss. 1, 18, 21; 22, 17, 29; 4, 4, 11. 1202 Siehe M. Aur. Med. 7, 61. Zum Hintergrund siehe Sen. Ep. 69, 6 oder Arr. Epict. diss. 2, 18, 27. 1203 Siehe M. Aur. Med. 6, 20. Zum Hintergrund siehe z. B. Sen. Ep. 59, 6.
296
5. Rhetorisches
Schifffahrt von einem Ufer zu einem anderen, dem Tod, klar, dass kein ben und keine Philosophie helfen, das zu verhindern.1204 Generell ist fr Marc Aurel das Leben ein Weg, den man wissend oder unwissend gehen kann.1205 Ohne Wissen wird jedoch selbst das eigene Leben zu etwas Fremdem,1206 was wiederum das richtige Beschreiten des Weges, das gute Vorankommen gefhrdet.1207 Die notwendig vorhandenen Widrigkeiten des Lebens werden als Dornen auf dem Weg beschrieben.1208 Interessanterweise1209 ist der Vergleich des Lebens mit einem Luxus wie ein Gastmahl bei Marc Aurel nur einmal angedeutet,1210 wobei er den Akzent auf die Sttigung und den berdruss legt, der durch eintçnige Repetition der Ereignisse im Leben hervorgerufen wird.1211 Das Leben der Menge wird durch eine Reihe besonderer Formulierungen beschrieben. Es wird abschtzend als Festzug beschrieben,1212 als Streit von Hunden um Knochen, dem Bemhen von Ameisen oder aufgescheuchten Musen.1213 Der Vergleich von Menschen mit Tieren dient oft der abwertenden Beschreibung des Gruppenverhaltens anderer.1214 Dort, wo Bezugnahmen auf Tiere positiv gemeint sind, ist das Vergleichsmoment die natrliche Veranlagung der Tiere, z. B. von Bienen, in Gemeinschaften zusammenzuarbeiten.1215 Seltener, aber alt bekannt, ist der Vergleich von Tiergruppen mit menschlichen politischen Gemeinschaften und deren Fhrer. Die Menschen sind eine Herde mit dem Kaiser als Hirten.1216 1204 Siehe M. Aur. Med. 3, 3 (siehe auch 9, 30). 1205 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 16; 6, 22. 1206 Siehe M. Aur. Med. 2, 27; 4, 29; 12, 1; 12, 13. 1207 Siehe M. Aur. Med. 6, 17, 2; 7, 53; 8, 7, 1. 1208 Siehe M. Aur. Med. 8, 50. 1209 Siehe dazu die Beobachtungen bei Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 108 f. 1210 Siehe M. Aur. Med. 9, 2. 1211 Siehe dazu M. Aur. Med. 6, 46. 1212 Siehe M. Aur. Med. 7, 30. Siehe zum Hintergrund nicht nur Arr. Epict. diss. 4, 1, 105 und 2, 2, 9, sondern bereits Heraklit DK 22 B 14 und 15. 1213 Siehe ebenfalls M. Aur. Med. 7, 3. 1214 Siehe ferner M. Aur. Med. 5, 9; 9, 15; 37; 9, 39. Zum Hintergrund siehe etwa Thomas, K.: Man in the Natural World, London 1983. Menschen sind, so Marc Aurel, aufgrund ihrer Verstandesleistung hçherwertiger als Tiere, siehe z.B: M. Aur. Med. 3, 16;,; 8, 12; 9, 9. Zu Tiertugenden siehe M. Aur. Med. 1, 18. 1215 Siehe M. Aur. Med. 6, 54 (dazu auch 5, 22); 11, 18. Zum Hintergrund siehe Arr. Epict. diss. 1, 12, 9; 2, 5, 26; 3, 22, 4. 1216 Siehe M. Aur. Med. 11, 18.
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
297
Neben den vielen, zum Teil neuen sum-Komposita wird der Gedanke der Verbundenheit, das Verhltnis von Mensch und Gemeinschaft, auch durch die Auffassung ausgedrckt, dass der Kosmos eine Polis und der Mensch Brger dieser großen Polis ist.1217 Die Pflicht des Einzelnen, am Gemeinwohl mitzuwirken, wird auch durch den Vergleich mit einem Organismus verdeutlicht. Die Leistungen eines einzelnen Organes sind nur in Bezug auf einen Gesamtorganismus nçtig und sinnvoll.1218 Aus dem Bereich der Natur stammen weitere Metaphern und Vergleiche. Gute Taten sollen ganz natrlich, fast ganz ohne großes berlegen vollzogen werden, so wie ein Weinstock Trauben trgt oder eine Biene fr Honig sorgt.1219 Ebenso darf man etwas Natrliches wie eine Feige nicht unabhngig von seinen bestimmenden Faktoren, also etwa im Winter, erwarten. Genauso darf man von notwendig vorkommenden Hindernissen im Leben, wie Krankheiten und letztlich dem Tod, nicht erwarten, dass sie ausbleiben oder zu anderen Zeiten als den durch die Natur bedingten auftreten.1220 Da fr Marc Aurel aufgrund seines Stoizismus neben der Gemeinschaft die Seele und die Vernunft eine berragende Bedeutung haben, werden diese auch verschiedentlich beschrieben. Whrend der Kçrper ein Gefß ist,1221 ist der Geist wie Feuer.1222 Die Bewegungen des Geistes sind wie Sonnenstrahlen1223 oder Geschosse.1224 Dazu passt die hufige Erwhnung eines sonnigen und heiteren Gemtszustandes. Diese herakliteischen Anklnge an die Feuerigkeit der Vernunft kontrastieren mit Wendungen, die die Zustnde der Seele mit denen von Wasser, etwa der Meeresstille oder einem Wohlfluss vergleichen.1225 Die reine Seele wird als Quelle be1217 Siehe M. Aur. Med. 3, 11; 4, 3; 9, 23; 10, 15. (Arr. Epict. diss. 1, 12, 9; 2, 5, 26; 3, 22, 4.) 1218 Siehe M. Aur. Med. 2, 1, 4; 9, 42, 12. Zum Hintergrund siehe Sen. Ep. 95, 52 (auch im Kontext der Zorntherapie); Arr. Epict. diss. 2, 10, 3; 2, 6, 10. 1219 Siehe M. Aur. Med. 5, 1; 6, 6. Zum Hintergrund siehe z. B. Sen. Ep. 41, 7. 1220 Siehe M. Aur. Med. 4, 5; 8, 15. 1221 Siehe M. Aur. Med. 3, 3; 10, 38. 1222 Siehe M. Aur. Med. 4, 1; 10, 31. Zum Hintergrund siehe Sen. Ep. 39, 3 und Heraklit DK 22 B 30, 31; 43, 90 (siehe dazu van Ackeren, M.: Heraklit. Einheit und Vielfalt seiner Philosophie, a.a.O., S. 90 ff.). 1223 Siehe M. Aur. Med. 8, 57. Zum Hintergrund siehe Sen. Ep. 41, 5. 1224 Siehe ebenfalls M. Aur. Med. 8, 57. 1225 Siehe M. Aur. Med. 5, 2; 5, 7, 28; 7, 68; 7, 33; 7, 64; 9, 41. (Die Passagen werden im Kommentar von Farquharson einzeln erçrtert.) Zum Hintergrund siehe etwa Sen. Ep. 59, 16; 66, 46; 7, 75; 12, 22. Insgesamt siehe zur vçlligen „Meeresstille“ (cak¶mg) des Gemts oder zum „Wohlfluss des Lebens“ (euqoia b¸ou) Hossen-
298
5. Rhetorisches
schrieben, deren Reinheit durch keine Verschmutzung dauerhaft leiden kann.1226 Wegen seines therapeutischen Grundverstndnisses erstaunt es nicht, dass Marc Aurel medizinische Terminologie und Vergleiche verwendet. So ist etwa die Seele, die unzufrieden ist, ein Geschwr im Organismus des Kosmos.1227 Der Irrtum, die falsche Ansicht, ist ein Gift, das aber trotzdem von vielen Menschen geliebt wird.1228 Die Philosophie selbst und ihre wichtigsten Elemente, die Wçrter und Dogmen, werden daher ebenfalls und in Entsprechung einer alten und langen Tradition mit Medizinischem verglichen. Als Heilmittel werden sowohl Worte1229 als auch Tugenden1230 beschrieben. Die richtigen Dogmen des Philosophen sind wie das Messer des Arztes.1231 Die medizinische Metaphorik in den Selbstbetrachtungen ist aber nicht nur ein Erbe der Texte, die gerne als „Diatriben“ zusammengefasst wurden, sondern weist darber hinaus, da bereits der Sophist Gorgias die Rede mit einem Pharmakon verglich.1232 Im platonischen Dialog „Gorgias“ wird der Vergleich dann nicht nur fr die Philosophie in Anspruch genommen, sondern auch eingehend methodisch expliziert.1233 Im Gegensatz zu Platon zielt die Verwendung medizinischer Metaphorik bei Marc Aurel weniger auf methodische Aspekte ab;1234 er betont den Umstand, dass die Philosophie heilt
felder, M.: Stoa, Epikureismus und Skepsis (Geschichte der Philosophie, Bd. III, Die Philosophie der Antike 3; hg. von W. Rçd), Mnchen 1985, S. 24 und 34. Allerdings irrt Hossenfelder, dass Epikureer nur die Meeresstille und Stoiker nur den Wohlfluss anstreben, denn bei Marc Aurel kommt beides vor. Der Hinweis von R. B. Rutherford (The Meditations, a.a.O., S. 148) auf Heraklit DK 22 B 12 ist, trotz der ausgeprgten Heraklit-Rezeption Marc Aurels, hier nicht ganz przise, da weder dieses noch ein anderes Fragment den positiv anvisierten Seelenzustand anhand von Wasser beschreibt. Feuchte Seelen sind schlecht (DK 22 B 77 und 117), aber: „Trockene Seele – die weiseste und beste.“ (DK 22 B 118). Dazu van Ackeren, M.: Heraklit, a.a.O., S. 80 ff. und 133 ff. 1226 Siehe M. Aur. Med. 8, 51. 1227 Siehe M. Aur. Med. 2, 16; 4, 29; 9, 2; 2, 13. Arr. Epict. diss. forderte, dass falsche Meinungen wie ein Tumor o. . weggeschnitten werden mssen (1, 11, 35, ferner 3, 23, 30). 1228 Siehe M. Aur. Med. 6, 57; 7, 22. 1229 Siehe M. Aur. Med. 9, 42. 1230 Siehe M. Aur. Med. 5, 9. 1231 Siehe M. Aur. Med. 3, 13. 1232 Siehe Gorg. Hel. 8d (= DK 18 B 11), 14. 1233 Siehe Pl. Grg. 464aff. Siehe dazu van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., S. 96 ff. 1234 Siehe die Ausnahme M. Aur. Med. 6, 35.
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
299
und korrigiert wie die Medizin, wenn etwas vom Natrlichen abweicht, also krank ist. Der Weise, der die stoische Philosophie verkçrpert, ist, hnlich wie der vernnftige Seelenteil, der als innere Burg bezeichnet wird, ein Fels in der Brandung.1235 Er ist auch ein Priester und Diener der Gçtter.1236 Marc Aurel verwendet gerne raue Kynismen.1237 Dabei wird das Leben mit Blick auf sein Ende beschrieben1238 und dessen Wertlosigkeit durch die abschtzige Beschreibung von kçrperlichen Dingen oder Prozessen unterstrichen.1239 Einige Formulierungen vermitteln ihre Botschaft besonders drastisch: „Wie dir das Baden, das l, der Schweiß, der Schmutz, das fettige Wasser und alles sonst ekelhaft erscheint, so auch jeder Teil des Lebens und jeder Gegenstand.“1240 Ferner: „Der faulige Rest der Materie, aus der alles besteht: Wasser, Staub, Knochen, Gestank.“1241 Nicht zuletzt diese Wortwahl Marc Aurels hat eine betrchtliche Anzahl von psychologisierenden-pathologisiserenden Interpretationen evoziert, denen zufolge Marc so geschrieben hat, weil er krank war.1242 Dabei wird auch bersehen, dass Marc Aurel sich selber als heiter (Vkeyr) bezeichnet;1243 der Ausdruck wird von ihm besonders gern verwandt.1244 Auch andere positive Affekte spielen eine in der Literatur unterschtzte, kaum wahrgenommene Rolle.1245 Die Kapitel der Selbstbetrachtungen sind zunchst philosophisch zu erklren und nicht per psychologischer Ferndiagnose. Sie sind Teil bzw. Ausdruck der analytischen Methode und des nchternen Blicks auf die Natur der Dinge.1246 Dazu passt, dass Marc Aurel oft davon redet, der Tod 1235 Siehe M. Aur. Med. 4, 9. 1236 Siehe M. Aur. Med. 3, 4. Zum Hintergrund siehe Arr. Epict. diss. 1, 17, 20. Epiktet spricht – viel hufiger als Marc Aurel – davon, dass dem Gott zu folgen sei. Anders als Marc Aurel verwendet er fast durchgngig den Singular „Gott“. 1237 Siehe M. Aur. Med. 5, 28; 11, 15; 6, 16; 8, 37; 10, 19 und ferner: 6, 28 und 36; 9, 36; 11, 1 und 4; 48, 2 (mit verbaler Parallele zu 6, 13). 1238 Siehe M. Aur. Med. 2, 2 und 9, 36. 1239 Siehe M. Aur. Med. 5, 12; 5, 28; 11, 15; 8, 24; 10, 19; 7, 47; 5, 10, 2; 4, 39. 1240 M. Aur. Med. 8, 24. 1241 M. Aur. Med. 9, 36. 1242 Siehe dazu ausfhrlich Kap. I 3.1.2. 1243 Siehe M. Aur. Med. 12, 36. 1244 Siehe M. Aur. Med. 2, 3; 2, 17; 3, 16; 4, 37; 4, 48; 5, 33; 8, 45; 8, 47; 10, 36; 12, 3. 1245 Siehe Kap. II 5.4, insbesondere 5.4.2. 1246 Siehe hierzu besonders ausfhrlich Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., Kap. 10.
300
5. Rhetorisches
sei heiter zu erwarten. Andererseits ist zu konstatieren, dass die Formulierungen, wenn sie nicht psychologisch, sondern philosophisch interpretiert werden, sehr eindringlich die Lehre ausdrcken, dass das Leben keinen besonderen Wert hat und das sich immer alles gleicht.1247 Marc Aurels fast beißender Spott ber den Tod anderer Philosophen macht, wie bereits oben besprochen, deutlich, dass auch die Philosophie nicht unsterblich macht und angesichts des Lebens und seines notwendigen Endes machtlos ist.1248 Wie gleich zu zeigen sein wird, untersttzt auch der Satzbau die Ansicht, das Leben sei eintçnig und wertlos.1249 Auf die zahlreichen Exempla in den Selbstbetrachtungen braucht an dieser Stelle nicht noch einmal eingegangen zu werden. Das Vorbild wurde schon als Teil der Adhortatio beschrieben, insofern die Exempla eine normative Bedeutung und folglich philosophische Substanz haben. Sie sind viel mehr inhaltliche Aussage als rhetorisches Mittel. Dazu passt, dass Marc Aurel auf die im Rahmen des Philhellenismus so populr gewordenen Beispiele aus Dichtung und Sage verzichtet. Wie das erste Buch deutlich macht, orientiert sich Marc Aurel neben Philosophen vorrangig an solchen Personen, die er aus dem eigenen Leben kennt. Zu Steigerung der Effektivitt werden die Vergleiche und Bilder durch Reihungen gehuft. So soll der Mensch gut, d. h. gemeinschaftsdienlich handeln, so wie ein Weinstock, Pferd, Hund und eine Biene.1250 Das gleiche gilt fr die Beispiele.1251 Sie werden oft in Dreier-Gruppen prsentiert.1252
1247 „Wie dir alles, was sich im Amphitheater und an hnlichen Orten abspielt, zuwider ist, da man immer dasselbe sieht, und die Eintçnigkeit das Zuschauen unertrglich werden lsst, so musst du auch sonst im Leben empfinden. Denn alles ist in seinem Auf und Ab dasselbe und aus demselben. Bis wann denn?“ M. Aur. Med. 6, 46. 1248 Siehe M. Aur. Med. 3, 3. 1249 Siehe auch M. Aur. Med. 9, 37. 1250 Siehe M. Aur. Med. 5, 6 und ferner: 2, 17; 4, 3; 8, 19; 10, 3; 10, 8. 1251 Siehe M. Aur. Med. 3, 3; 4, 33; 4, 48; 4, 50; 6, 47; 8, 25; 8, 37; 10, 27; 12, 27. 1252 Z. B. Heraklit, Demokrit, Sokrates (M. Aur. Med. 3, 3), Heraklit, Pythagoras, Sokrates (M. Aur. Med. 6, 47), Diogenes, Heraklit, Sokrates (M. Aur. Med. 8, 3, siehe auch 9, 14 und 10, 25). Dass Sokrates erwhnt wird, kann nicht berraschen, aber ebenso hufig wird Heraklit genannt – ein erster Hinweis auf die sehr starke Heraklit-Rezeption bei Marc Aurel. Dreierbeispiele werden auch von Plinius gefordert (Ep. 2, 20, 9). In einem Kapitel (M. Aur. Med. 8, 25) nennt Marc Aurel – offensichtlich bewusst – mehr als drei, um den Effekt zu steigern, denn er will deutlich machen, dass es nichts gibt, das dem steten und schnellen Wandel nicht unterliegt.
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
301
Die Vergleiche in Reihung1253 verstrken sich nicht nur durch Wiederholung, da jeder Vergleich eine eigene Aussage transportiert. Sie werden zwar nicht erlutert, wirken aber dennoch sehr eingngig und berzeugend. Durch die schnelle Abfolge bleibt keine Zeit, sie zu hinterfragen, oder es wird durch die Eingngigkeit der Eindruck erweckt, das sei unnçtig. Auffllig ist, dass Marc Aurel vor allem Leben, Mensch und Philosophie behandelt, wobei er besonders gerne Metaphern und Vergleiche aus dem Bereich der Natur verwendet. Das ist aber keineswegs eine rein rhetorische Entscheidung, denn die stoische Grundforderung, naturgemß zu leben, schließt ein, dass der Mensch seine spezifische, naturgemße Aufgabe erfllt, eben wie die Biene.1254 Die Verschrnkung der Themen Leben und Natur durch die Metaphern und Vergleiche, zeigt bereits an, wie sehr die Rhetorik am Inhalt orientiert ist. So ist etwa die Bezeichnung des Kosmos als Polis nicht nur eine rhetorische Figur, sondern eine ernstgemeinte Auffassung. Von den einzelnen Wçrtern, Vergleichen und Metaphern nun zu deren Anordnung, z. B. der Reihung und allgemein zum Satzbau, dem ebenfalls bereits einige Aufmerksamkeit der Forschung zuteil wurde.1255 Es herrscht eine parataktische Diktion vor.1256 Den Verzicht auf eine logische Verknpfung von Stzen oder deren Teile erreicht Marc Aurel durch verschiedene Mittel. Lngere Satzperioden werden durch die rhetorischen Signale der Dialogizitt,1257 wie Fragen, Antworten oder Einwrfe unterbrochen. Dazu gehçren ferner Unterbrechungen durch Ansprachen,1258 eine Aufforderung, etwas zu erinnern1259 oder zu 1253 Siehe M. Aur. Med. 10, 38 oder 2, 17. 1254 Zu diesem grundlegenden Gedanken siehe M. Aur. Med. 8, 19. 1255 Siehe etwa das zusammenfassende Urteil: „the author does not regularly employ periodic structure, that he shows little concern for prose-rhythm or s¼mhesir, that he does not observe the Atticist canons of ’authorised‘ vocabulary, that upon occasion descends to simple, consecutive sentences with a single clause in each, omitting even connective and particles.“ (Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 43). 1256 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 2; 8, 50; 8, 8. 1257 Siehe Kap. I 3.4. Die Wirkung der fr die Dialogizitt zentralen Fragen, Einwrfe und Imperative wird gelegentlich durch eine Reihe von anderen rhetorischen Mitteln gesteigert, z. B. Anapher (M. Aur. Med. 5, 1; 12, 19) oder gar mit Chiasmus, Alliteration und These-Antithese (12, 32). Fr Epidiorthosis siehe M. Aur. Med. 9, 13; 4, 14; 6, 25; 8, 49. Siehe dazu Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 94 f. und 155. 1258 Siehe M. Aur. Med. 6, 35. 1259 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 14.
302
5. Rhetorisches
betrachten,1260 und Rckverweise.1261 Nicht nur im ersten Buch finden sich katalogartige Aufzhlungen.1262 Dass die Satzteile oft nicht logisch verbunden sind, heißt nicht, dass alle Stze kurz sind.1263 Satzglieder sind oft parallelisiert.1264 Zwei hufig wiederkehrende und kombinierte Elemente des Satzbaus sind verbale Echos und Reihungen, die gerade bei den Themen Tod und Vergehen1265 effektiv eingesetzt werden. Die Topoi und die vertretenen Thesen haben seit Homer1266 viele Vorlufer,1267 aber Marc Aurels Ausdrucksweise ist besonders konzis.1268 Exemplarisch ist: „Alles, was du siehst, wird ußerst schnell vergehen, und diejenigen, die zusehen, wie es vergeht, werden auch selbst sehr schnell vergehen.“1269 Das „Vergehen“ wird durch dreimalige Wiederholung betont, der Umstand, dass dies rasch geschieht, durch zwei Wiederholungen. Durch den Satz wird nicht nur die Mortalitt des Menschen hervorgehoben, sondern die schnelle1270 Abfolge des Sterbens von Generationen. Andere Kapitel drcken dies durch monotone und unverbundene Reihungen der Namen von Gestorbenen aus, indem ihre Namen monoton und unverbunden aufgelistet werden,1271 wobei das Verb „sterben“ sogar wegfallen kann.1272 Einmal wird sogar das Sterben eines ganzen Hofstaates aufgefhrt.1273 1260 Siehe M. Aur. Med. 5, 25; 11, 13. 1261 Siehe M. Aur. Med. 4, 3; 5, 16. 1262 Siehe M. Aur. Med. 2, 11; 3, 11; 4, 48; 4, 49. 1263 Siehe die lange Periode M. Aur. Med. 2, 17 (thematisch hnlich 3, 6). 1264 Parallele Glieder werden von Marc Aurel manchmal durch hnliche Klangfarben betont (M. Aur. Med. 8, 33; 8, 48, 3; hnlich ist 4, 49) oder mit anderen Figuren kombiniert, z. B. Anapher (M. Aur. Med. 9, 6). 1265 Siehe dazu M. Aur. Med. 3, 3; 4, 32 – 3; 4, 48; 4, 50; 6, 47; 8, 25; 8, 5; 8, 31; 9, 33; 10, 27; 12, 27. 1266 Siehe Homer Il. 21, 106 ff. 1267 Siehe den kursorischen Vergleich mit der vorherigen Literatur bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 163. 1268 Siehe dazu Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 161 ff. 1269 M. Aur. Med. 9, 33. 1270 Siehe zur Geschwindigkeit z. B. M. Aur. Med. 4, 48. 1271 Siehe M. Aur. Med. 3, 3; 4, 33; 4, 48; 4, 50; 6, 47. 1272 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 25. Dies ist ebenfalls ein Hinweis darauf, dass Marc Aurel hier nicht nur in der Tradition der philosophischen Konsolation schreibt, sondern auch die Sucht nach Ruhm und damit in Verbindung gebrachte Unsterblichkeit meint. Die Nennung von Augustus‘ Hofstaat ist ebenfalls ein Indiz dafr, wie sehr sich die Selbstbetrachtungen von den Res Gestae unterscheiden. 1273 Siehe M. Aur. Med. 8, 31.
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
303
Die Totenlisten und verbale Echos1274 beschreiben Leben und Tod gleichermaßen als monotone und schnelle Wiederkehr von Wertlosem.1275 Die Generationen der Menschen tun oder erleiden wie in einem Theaterspiel und wie der Kosmos selbst in Zyklen immer wieder dasselbe.1276 Zitate sind ein von Marc Aurel hufig gewhltes Mittel, um Gedanken auszudrcken. Er verwendet sie so hufig und teilweise in Form von unkommentierten Sammlungen,1277 dass, wie bereits erwhnt, frhere Kommentatoren dies als Hinweis darauf gewertet haben, die Selbstbetrachtungen seien bestenfalls ein unfertiges Werk oder eine Sammlung von Gedanken und Zitaten fr eine noch anzufertigende Abhandlung. Zitate sind jedoch ein Mittel, das bereits andere vor Marc Aurel fr hnliche Zwecke verwandt haben. So findet sich am Ende von Arrians Enchiridion ein Kapitel, das Zitate nach dem einleitenden Hinweis, dass es sich um Kernstze handelt, die man immer abrufbereit oder zur Hand haben (pqºweiqa) sollte, unkommentiert wiedergibt.1278 Der Titel des Werkes verweist auf diese berlegung und bezeugt, dass Arrian damit beabsichtigte, aus den Diatriben eine solche Sammlung der wichtigsten Dogmen Epiktets zusammenzustellen. Auch fr Seneca ist das Zitat ein Stilmittel, dessen Wirksamkeit den Ausschlag gibt. Demgegenber ist die Originalitt, die eigene Autorenschaft oder auch die Zugehçrigkeit des Zitierten zu einer anderen Philosophenschule sekundr.1279 Seneca wie Marc Aurel beziehen sich positiv auf Worte von Epikur, whrend Epiktet diesbezglich viel dogmatischer und strenger schulphilosophisch ist.1280 Eine besondere Form des Zitats ist das Negativ-Zitat, mit dem oft kein Dichter- oder Denkerwort von Wert wiedergegeben wird, sondern eine Ansicht oder ein fiktiver Einwurf, der als abschreckendes Exempel dienen soll.1281 1274 Siehe auch M. Aur. Med. 4, 35; 7, 21; 8, 21. 1275 Siehe M. Aur. Med. 10, 27. 1276 Siehe M. Aur. Med. 7, 3; 7, 10; 9, 29. 1277 Siehe die Zitatenreihen M. Aur. Med. 7, 32 – 51 und 11, 22 – 39. 1278 Siehe Arr. Epict. ench. 53. Die Zitate sind Kleanthes SVF 1, 527, dann Eur. Fragm. 965 Nauck und nach Pl. Cri. 43d und Ap. 30c-d. 1279 Siehe z. B. Sen. Ep. 7, 10; 7, 12; 8, 7; 9, 20; 24, 22; 9, 21. 1280 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 20, 10 ff.; 2, 23; 3, 7; 3, 24. 1281 Solche fiktiven Einwrfe von Gesprchsteilnehmern, Machthabern oder mythischen Helden verwendet vor allem Epiktet gerne (siehe z. B. Arr. Epict. diss. 3, 4, 3; 3, 22, 14; 1, 27, 5; 3, 19, 1; siehe dazu Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., Kap. 6.3 – 6.6). Bei Negativ-Zitaten spricht er von der „Stimme des Volkes“. Bei Marc Aurel findet sich diese Technik insgesamt seltener (siehe M. Aur. Med. 5, 8; 11, 15). Ein großer Unterschied zwischen
304
5. Rhetorisches
Marc Aurel zitiert außerhalb1282 der erwhnten zwei Zitatensammlungen Theophrast,1283 Hesiod,1284 Homer,1285 Epiktet,1286 Euripides1287 und Empedokles.1288 Weitere Stze, die als „ntzliche Worte“ gekennzeichnet sind, sind nicht berliefert und kçnnten von Marc Aurel selber stammen.1289 Dass auch bei Epiktet, z. B. am Ende des Encheiridion Zitate gesammelt werden, hat J. Dalfen zur These gefhrt, dass die Selbstbetrachtungen diesen zum Teil mit dem Titel „Verschiedenes“ (spoq²dgm tim²) berschriebenen Passagen als Ganzes hneln. So sei „nicht der allergrçßte Teil, ja fast die ganzen Bcher II-XII als ,Zitate‘ anzusehen, nmlich als die Niederschrift empfangener Lehren und frher gehçrter Vortrge“.1290 Der Vergleich mit der Art, wie die Vortrge des Teles, Musonius und Epiktet aufgezeichnet wurden, nmlich nicht durch sie selbst, sondern durch ihre Schler, legt den Gedanken nahe, etwas hnliches auch im Falle des Kaisers anzunehmen.1291
Dalfens Argument berzeugt in mehrerlei Hinsicht nicht. Erstens ist es zirkulr, weil es zeigen will, wovon es ausgeht, nmlich, dass Marc Aurel durchweg nichts Eigenes aufschreibt, sondern zitiert oder paraphrasiert. Nur deswegen kann er eine hnlichkeit feststellen. Zweitens besteht diese hnlichkeit nur zwischen den zwei Zitatensammlungen innerhalb der Selbstbetrachtungen und den drei von Arrian verfassten, sehr kurzen Textpassagen.1292 Drittens unterscheiden sich die Selbstbetrachtungen in formaler Hinsicht von den genannten anderen Werken, denn auch wenn Marc Aurel auf Epiktet und Marc Aurel bleibt bestehen. Die Dialogstruktur bei Marc Aurel hat nie den Zweck, jemanden von anderen zu berzeugen oder ihn etwas zu lehren. 1282 Siehe zu den folgenden und weiteren Angaben Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 149 f. Dort finden sich auch viele Belege, dass bereits Seneca, Epiktet, Teles und andere vor Marc Aurel die Technik des Zitats zu praktischen Zwecken eingesetzt haben. 1283 Siehe M. Aur. Med. 2, 10 (indirekt); 2, 19. 1284 Siehe M. Aur. Med. 5, 33. 1285 Siehe neben M. Aur. Med. 10, 34 noch 5, 31 und teilweise 4, 33 und 6, 10. 1286 Siehe M. Aur. Med. 4, 41; 5, 29. 1287 Siehe M. Aur. Med. 10, 21. 1288 Siehe die Bezeichnung des Geistes in M. Aur. Med. 8, 41. 1289 So etwa die Eintrge M. Aur. Med. 7, 37 und 43, 11; 4, 29. 1290 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 146 f. 1291 Ebd., S. 219. 1292 Siehe Arr. Epict. ench. 53; Arr. Epict. diss. 3, 6, 10; 3, 15, 4.
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
305
Elemente bestehender Gattungen zurckgreift, zu denen die Spruch- oder Zitatensammlungen gehçren, so kombiniert er insgesamt doch sehr viele Gattungen zu einer neuen und einzigartigen Form. Viertens hat Marc Aurel offensichtlich mit einer anderen Intention geschrieben als Arrian. Fnftens reichen formale Entsprechungen krzerer Passagen nicht aus, da sie unterschiedlichen Adressaten oder Dialogformen entsprechen. Sechstens fehlt in Dalfens Argumentation der Beweis, dass die Inhalte der Selbstbetrachtungen nur kompiliert und keineswegs originell sind.1293 Grundstzlich schließt die Verwendung von tradiertem Material nicht aus, dass der Umgang damit nicht persçnlich und eigenstndig ist. Dies betrifft nicht nur die literarische Ausgestaltung bekannter Bilder oder Gleichnisse.1294 Wie Marc Aurel erlutert, sollen Zitate, Bilder oder hnliches die Erinnerung an Grundstze auslçsen, damit diese in einer konkreten Situation das Denken und die Lebensfhrung beeinflussen.1295 Die Grundberzeugungen mssen also bereits vor der praktischen Verwendung der rhetorischen Mittel erlernt sein und sind daher unabhngig von ihnen. Ferner ist die Verbindung bestimmter Dogmen mit einem Zitat oder einer Metapher nicht Teil der Tradition,1296 sondern eine eigenstndige Leistung. Schließlich ist zu betonen, dass die Verwendung der rhetorischen Mittel auf die eigene Praxis bezogen ist und um deren Willen geschieht. Marc Aurel fordert, dass das „Geringfgigste und Alltglichste“1297 Ausgangspunkt philosophischer Reflexion sein kann und soll.1298 1293 Dalfens These in diesem Zusammenhang lautet, dass Marc Aurel ab dem ersten Buch die Lehren seiner im ersten Buch erwhnten Lehrer niederschreibt. Dass dort erwhnte Tugenden in den folgenden Bchern eine Rolle spielen, ist aber eher ein Hinweis darauf, dass Marc Aurel im ersten Buch eigenstndig Exempla aus dem privaten Bereich aufzhlt und die durch sie reprsentierten Tugenden ebenso eigenstndig erwerben mçchte. 1294 Sprachliche Eigenheiten Marc Aurels finden sich aufgelistet bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 147 – 155. 1295 Siehe M. Aur. Med. 10, 34. Das Verhltnis von Zitaten und deren Bedeutungszuschreibungen erçrtert ebenfalls 5, 8. 1296 Insbesondere die Arbeit von Dalfen wird von der berlegung getragen, die Bedeutung der Formelemente bei Marc Aurel sei ganz durch ihre Verwendung in der frheren Literatur zu erklren. Dabei wird weder der Eigenleistung bei der Komposition dieser disparaten Elemente noch ihrer jeweiligen und ferner der gesamten Bedeutung Rechnung getragen. 1297 Damit kçnnten Kapitel wie M. Aur. Med. 8, 24 gemeint sein. 1298 Kapitel mit Alltagshintergrund kçnnten z. B. sein: M. Aur. Med. 6, 46 (Zirkusspiele, Gladiatoren); M. Aur. Med. 6, 20 (Sport); M. Aur. Med. 6, 13 (luxuriçse
306
5. Rhetorisches
Das eigene Leben bildet so oft Ausgangs- und Endpunkt der Rhetorik und Argumentation.1299 Auch die Wahl der Exempla im ersten Buch, die aus dem eigenen Leben bekannt sind, ist so erklrbar.1300 Marc Aurels Gebrauch von Bildern, Metaphern und Zitaten zeichnet sich durch ein gemeinsames Prinzip aus, weil er die wenigen zentralen Themen und Thesen sehr oft anspricht, dabei jedoch formal variiert.1301 Es ist unwahrscheinlich, dass es Marc Aurel ganz unbewusst passiert, dass er aus dem reichen Repertoire an Stilmitteln, das er sich als Schler und Student seiner vielen Lehrer angeeignet hat, immer wieder Verschiedenes bzw. ganz Bestimmtes auswhlt. Dagegen spricht nicht nur, dass die Wahl seiner Mittel effektiv ist, sondern dass es sich bei der sprachlichen Variation von Themen um eine bereits bestehende und auch Marc Aurel bekannte Technik handelt. Fr das Zitat beschreibt Seneca sie wie folgt: Es sei durchaus sinnvoll, fr denselben praktischen Zweck verschiedene Zitate zu sammeln, die sich nur durch ihre Form, also Rhetorik unterscheiden, aber dieselbe Botschaft vermitteln. Eine solche Variation zeige, so Seneca, dass es sich bei der den verschiedenen Zitaten zugrunde liegenden These
Speisen). Wenn Marc Aurel tageweise geschrieben hat, kann auch vermutet werden, das Kapitel, in denen er den Zorn gegenber schlecht handelnden Menschen thematisiert, einen konkreten Hintergrund haben. 1299 Zu weitgehend ist die Interpretation von Birley, der die Lebensumstnde und besonders die politische Situation Marc Aurels zum alleinigen Entstehungsgrund des Buches erklrt: „To the reader with some imagination many pages of the Meditations can be seen to have an intensity and a special choice of imagery for which the wars were responsible. The wars in fact were the reason for their being written.“ (Birley, A. R.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 214). Birley bersieht, dass Marc Aurel durchaus vor dem Krieg philosophische Ambitionen hatte. Ferner spielt der Krieg in den Selbstbetrachtungen eine auffallend geringe Rolle. 1300 Fraglich ist, ob es sich dabei um die „Technik der regressiven Bildangleichung“ handelt, die Marc Aurel von Fronto und nur von ihm gelernt hat: „Fr die meditatio nutzbar gemacht vollzieht sich die Anwendung der frontonischen Technik der regressiven Bildangleichung also in folgenden Schritten: [1] gedankliche Visualisierung einer Alltagserfahrung – [2] Umdeutung der Visualisierung als gleichnishafte Bildvorstellung – [3] Ausdeutung dieser Bildvorstellung in Anwendung der Topik im Sinne einer philosophischen Wahrheit.“ (Kasulke, Ch. T.: Marc Aurel, Fronto, a.a.O., S. 321). Die Beschreibung der Technik durch Kasulke liefert aber eine gute Erklrung fr Kapitel wie M. Aur. Med. 8, 34 oder 8, 57. 1301 Brunt hat eine Gruppierung der Kapitel nach einigen Themen vorgelegt (siehe Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O.).
5.2 Die rhetorischen Mittel und ihre Bedeutung
307
um eine Lehre oder praktische Empfehlung handele, die der Natur entspreche.1302 Bei Marc Aurel ist die Technik der sprachlichen Variation jedoch viel ausgedehnter vorhanden.1303 Sie findet nicht nur bei Zitaten Anwendung, sondern auch bei der Wortwahl, der Suche nach Metaphern und Vergleichen und dem Satzbau. R. B. Rutherford hat daher wohl zu Recht die These vertreten, es handele sich hierbei um das formale Strukturprinzip des ganzen Werkes. Demzufolge wren die Selbstbetrachtungen als Ganzes der Versuch, einige grundlegendere Gedanken oder Aufforderungen durch Variation praktisch effektiv werden zu lassen. Auch das erste Buch wre eine – in dieser Form neue – Variante, mit Exempla eine Selbstbeeinflussung zu bewirken und so Teil eines umfassenden und einheitlichen Projektes. Die sprachliche Variation eines Themas ist jedoch nur ein Aspekt dieses Verfahrens, da es die Wiederholung voraussetzt. Die Erklrung, warum die Selbstbetrachtungen als Ganzes durch die Kombination von Variation und Iteration von Themen bestimmt sind, fhrt abermals zum Zweck des Werkes und den besonderen Umstnden seiner Abfassung. Marc Aurel hat geschrieben, um sich selbst zu beeinflussen. Die verschiedenen sprachlichen Varianten sind Versuche, der eventuell situativ bedingten Notwendigkeit gemß zu formulieren. Sie entsprechen vielleicht aktuellen Stimmungen oder Bedrfnissen, wobei aber nicht willkrlich verfahren wird, sondern vermittels eines methodischen Rahmens. Außerdem lassen sich die Variationen durch den Gedanken der Vorbereitung erklren. Marc Aurel entwickelt mit den Varianten verschiedene Pharmaka oder Derivate eines therapeutischen Instruments, um so fr verschiedene Situationen gerstet zu sein. Eine solche Erklrung korrespondiert mit den mutmaßlichen Entstehungsbedingungen des Werkes. Marc Aurel hat in seinem letzten Jahrzehnt an den Selbstbetrachtungen geschrieben. Die externen Quellen ber das Ausmaß seiner politischen und besonders seiner militrischen Aufgaben und dem damit verbundenen Tagesablauf legen nahe, dass Marc Aurel keine Zeit hatte, ber einen lngeren Zeitraum ausschließlich an den Selbstbetrachtungen zu arbeiten. Die Bcher oder sogar einzelne Kapiteln kçnnen, wie bereits erwhnt, zu sehr unterschiedlichen Zeiten verfasst worden sein und daher unterschiedliche Situationen widerspiegeln. 1302 Siehe Sen. Ep. 9, 21 (dazu siehe Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 144). 1303 Dies schließt die Variation der Lnge, mit der ein Thema behandelt wird, ein (siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 15 und 4, 20).
308
5. Rhetorisches
Das Verfahren der Iteration und Variation basiert auf dem Umstand, dass die Stoiker sich zwar durch eine extrem kognitivistische Haltung auszeichnen, dabei jedoch die menschliche Natur bercksichtigen. Sie legen Wert auf das Verstehen und Lernen bestimmter Leitstze, fordern jedoch nicht deren eimaliges Begreifen, sondern das bestndige ben der Umsetzung bzw. die Realisierung derselben in schwierigen Situationen. Die Vielfltigkeit der sprachlichen Umsetzung zeigt, dass Marc Aurel zwar einer Methode folgt, dabei aber nicht mechanisch vorgeht und einfach Stze wortgleich wiederholt. Es handelt sich um eine jedes Mal neue, frische Behandlung der von ihm als dauerhaft wichtig verstandenen Themen. Die literarische Gestaltung ist dabei kein Selbstzweck, sondern zum einen die Anpassung an die jeweilige Situation oder Bedrftigkeit und zum anderen eine Steigerung der Effektivitt.1304 Damit ist sowohl der These widersprochen, dass Marc Aurel nur Bekanntes aufgeschrieben hat, als auch der Vermutung, er habe einfach nur unmotiviert irgendetwas aufgeschrieben, das weder inhaltlich noch formal einzuordnen wre oder keine Einheit sei. Nimmt man die Selbstbetrachtungen als Ganzes, erscheinen diese sprachlichen Varianten wie verschiedene Schritte oder Gnge im Prozess des Wollfrbens, mit denen Marc Aurel dafr Sorge tragen mçchte, dass bestimmte Kognitionen fr ihn und sein Leben bestimmend werden sollen. 5.3 Die stilistische Qualitt Diese berlegungen berhren bereits die Frage nach der rhetorischen Qualitt der Selbstbetrachtungen. Zwei Aspekte sind hier relevant: Erstens eine Erçrterung der These, der zufolge das Werk schlecht bzw. mit mangelnder Sorgfalt geschrieben sein muss, weil es offensichtlich nicht stilistisch berarbeitet worden sei. Zweitens ist fraglich, nach welchem Kriterium bestimmt werden kann, ob es sich um gute Rhetorik handelt. Auch hier wird etwas ber die philosophischen Absichten deutlich. Denn sowohl Zweck der Schrift, aber auch deren formaler Reichtum zeigen, dass Vergleiche mit Caesars Commentarii genauso verfehlt sind wie Vergleiche mit den Res Gestae Divi Augusti. Marc Aurel lobt sich nicht selbst, er berichtet so gut wie gar nicht von Handlungen oder Erlebnissen, 1304 Siehe dazu Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 136. Siehe beispielsweise die verschiedenen formalen Gestalten, in denen Marc Aurel seinen Unwillen zum Ausdruck bringt: M. Aur. Med. 4, 38; 9, 34; 6, 54; 7, 34.
5.3 Die stilistische Qualitt
309
die ihn in seiner offiziellen politischen oder sozialen Funktion betreffen. Weder sind die Selbstbetrachtungen der Absicht nach ein Propagandawerk oder dienen dem Selbstlob und çffentlicher Selbstdarstellung noch behandeln sie Handlungen oder Erlebnisse, die Marc Aurel in seiner offiziellen politischen oder sozialen Funktion betreffen.1305 Nun aber zur Beurteilung der Rhetorik: Obschon dem Text bescheinigt wurde, dass er beim Leser einen (ethischen) Eindruck hinterlasse,1306 urteilen viele Kommentatoren, dass er in stilistischer Hinsicht schlecht geschrieben sei.1307 Solche Einschtzungen bersehen jedoch die formale Kunstfertigkeit, mit der viele Kapitel verfasst worden sind. Dabei wird deutlich, dass Marc Aurel vorrangig auf Symmetrie und formale Balance Wert legte.1308 Besonders typisch fr Marc Aurels Stil sind jedoch folgende Eintrge: „Viele Weihrauchkçrnchen liegen auf demselben Alter. Das eine fiel frher, das andere spter dorthin. Das macht doch keinen Unterschied.“1309 Oder: „Handle nicht so, als ob du tausende von Jahren leben wrdest. Dein 1305 „It cannot be assumed that the juxtaposition of completely diverse works will provide much enlightenment simply because both authors occupied the throne of the Roman Empire. … The Meditations fall into no obvious literary category: hence the attempt to draw parallels with work of a comparable man. … It is important, however, to emphasise that no single genre will provide the master key.“ Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 6 f. 1306 „The sentences of Seneca are stimulating to the intellect; the sentences of Epictetus are fortifying to the character; the sentences of Marcus Aurelius find their way to the soul.“ Arnold, M.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 367. 1307 „For not only are the contents incomparably more valuable than the external form … crabbed Greek without any great charm of distinct physiognomy“, „jotted down … without the slightest attempt at style, with no care, even for correct writing.“ Arnold, M.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 279 und 364; „Marcus makes no pretentions to elegance of style … if he had, his book would have lost half its reality.“ Wright, F. A. A.: History of Later Greek Literature, a.a.O., S. 253; „This book … is a soldier’s book … the rhetoric lessons of that pompous old tutor have been forgotten.“ Farquharson, A. S. L.: Marcus Aurelius: His Life and His World, a.a.O., S. 26 (siehe auch seinen Kommentar Vol I, S. lxvi); „But he was not trying to achieve ’fine writing’“ Birley, A. R.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 222; „his accession in literary exercise showed no trace of their effect“ Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 4. Ein bereits etwas differenzierteres Urteil findet sich bei Bruns, I.: Marc Aurel, a.a.O., S. 316 – 8. 1308 Siehe etwa M. Aur. Med. 4, 7; 4, 35; 6, 6; 6, 54; 7, 21; 7, 65; 8, 33; 9, 4; 9, 5; 12, 17. 1309 M. Aur. Med. 4, 15.
310
5. Rhetorisches
unabwendbares Schicksal steht schon fest. Solange du lebst, solange es dir mçglich ist, werde gut.“1310 Diese beiden zu letzt zitierten Kapitel behandeln altbekannte Themen, aber sie machen zwei spezifische Grundzge des Stils von Marc Aurel deutlich. Zum einen favorisiert Marc Aurel eine epigrammatische Ausdrucksweise.1311 Die Parallelen einiger Kapitel der Selbstbetrachtungen zur Tradition des Epigramms beschrnken sich nicht nur auf die Kompaktheit der Form und bestimmte rhetorische Mittel,1312 sondern betreffen auch Themen, wie den Tod berhmter Mnner und deren sprachliche Variation.1313 Zum anderen wird eine Schlichtheit des Ausdrucks deutlich, die fr die ganzen Selbstbetrachtungen kennzeichnend ist. Wie gezeigt, werden rhetorische Mittel eingesetzt, dies aber in einer eher zurckhaltenden Weise: He favours compression and aphorism rather than amplitude; his use of rhetorical figures (…) is sparing, and such devices are usually employed, like his imagery, to add emphatic force to the moral point. But this does not mean his style lacks its own self-conscious artistry – even if it is that of the ars quae celat artem. The pupil of Fronto uses the rhetorical techniques to frame his thoughts in the most pungent and effective form.1314
Beide Aspekte sind daher zu Unrecht als Anzeichen einer mangelnden stilistischen berarbeitung gewertet worden: „Its homeliness, abruptness, and want of literary finish (though it does not lack rhetoric) are part of the character of the work.“1315 Gerade die Krze und Direktheit des Ausdruckes ist eine kalkulierte literarische Technik, die Vorlufer hat. Da auch die meisten sehr kurzen 1310 M. Aur. Med. 4, 17. 1311 Besonders das Kapitel M. Aur. Med. 4, 15 macht dies deutlich, es hat „the brief simplicity of a Japanese haiku. Above all it shows how the strength of the epigrammatic form lies in this lack of elaboration.“ (Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 138, siehe ingesamt S. 128 ff.). 1312 Fr verbale Echos siehe z. B. Glykon (AP 10, 124): „Alles ist Gelchter, alles ist Staub, alles ist Nichts, denn alle existierenden Dinge stammen aus der Unvernunft.“ 1313 Vergleiche etwa das Kapitel 3, 3 mit den Epitaphen AP 7, 127 oder 7, 56, 3 – 4. Siehe zum Hintergrund Taran, S. L.: The Art of Variation in the Hellenistic Epigram, Leiden 1979. 1314 Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 43. 1315 Haines, C. R.: Preface, in: Marcus Aurelius: Meditations, Cambridge (Mass.) 1916, S. ix.
5.3 Die stilistische Qualitt
311
Kapitel durchaus abgeschlossen sind und fr sich sprechen, ist hier kein „literary finish“ von Nçten.1316 Marc Aurels Stil ist daher insgesamt von einer „Natrlichkeit“ geprgt, die gerade kein rhetorisches Feuerwerk veranstalten will, sondern die in ihr enthaltene Kunstfertigkeit eher verbergen will.1317 Auffllig ist, dass viele Kritiker des Stiles der Selbstbetrachtungen zugleich die Inhalte und die ethische Absicht loben. Damit trennen sie Form und Inhalt. Aber die Form ist nicht nur Kleid des Inhaltes.1318 Besonders irrefhrend ist der Versuch, sich des Problems zu entledigen, indem dem Text irgendein stilistischer Charakter berhaupt abgesprochen wurde. Begrndet wurde dies mit dem Hinweis, es handele sich um eine private Schrift.1319 Erstens folgt aus der nicht vorhandenen Verçffentlichung oder einer solchen Absicht nicht das vçllige Fehlen eines literarischen Stiles. Zweitens mag ein Autor einen schlechten Stil haben, aber es gibt keinen Autor ohne irgendeinen Stil.1320 Es gilt, dass die Beredsamkeit dieselbe ist, egal wie viele Adressaten eine Rede hat.1321 Problematisch an den Kritiken des Stils der Selbstbetrachtungen ist ferner, dass sie keine Kriterien fr die Beurteilung angeben. Rhetorik ist dann gut, wenn sie ihren Zweck erfllt. Die Kunst der Rede besteht darin, den Adressaten zu berzeugen.1322 Die Erçrterung der Rhetorik kann demnach nicht losgelçst von den Inhalten der Schrift erfolgen.1323 Dies gilt 1316 Siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 6; 6, 54; 7, 21; 10, 16. 1317 Zu diesem literarischen Stil siehe Hintergrundinformationen bei Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 12 f. 1318 Siehe Quint. Inst. 7, praef. Fr weitere Einschtzungen dieses Zusammenhangs siehe Bradley, A. C.: Oxford Lectures on Poetry, Oxford 1909, Kap. 1; Welleck, R./ Warren, A.: Theory of Literature, New York 1949, Kap. 12 – 15; Leavis, F. R.: The Living Principle, London 1977, S. 71 – 154 und Culler, J.: Structuralist Poetics, London 1975. 1319 Siehe Brunt, P.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O. 1320 Siehe Cic. De or. 75 – 90. 1321 Siehe Cic. De or. 3, 23. 1322 Siehe zum weiteren Hintergrund Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 4 und Anm. 8. 1323 Zur Bestimmung der Rhetorik in der Antike siehe Volkmann, R.: Die Rhetorik der Griechen und Rçmer, a.a.O., S. 1 – 15; Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., Eintrge 18 – 22 und 32 – 6. Moderne Definitionen finden sich etwa bei Dixon, P.: Rhetoric, London 1971; Kennedy, G. A.: Classical Rhetoric and its Christian and Secular Tradition, North Carolina 1980. Die Anwendbarkeit der Definition auf Marc Aurel schwankt sehr, wie an einer bekannten deutschen Darstellung ersichtlich wird, der zufolge es Gegenstand der Rhetorik ist, „die Mçglichkeiten zu erforschen und die Mittel bereitzustellen, die nçtig sind, die
312
5. Rhetorisches
in einem besonderen Maße fr die Selbstbetrachtungen, weil dort Form und Inhalt besonders kongruent sind. Dieses Verhltnis wird, wie gesehen, vom Autor nicht nur eigens thematisiert, sondern auch ausdrcklich mit dem Zweck der Schrift, der Selbstbeeinflussung in Verbindung gebracht. Die Rhetorik muss hier also nicht daran gemessen werden, wie viel Schmuck sie bringt, sondern wie viel Wahrheit und Therapie.1324 Den Stoikern gilt als rhetorisch gut gesagt, was wahr gesagt wird.1325 Fr die Beurteilung der Rhetorik sind also zwei Aspekte ausschlaggebend: (i) Wie gut werden die Inhalte durch den Einsatz der rhetorischen Mittel vermittelt, und (ii) wie sehr entsprechen diese der Zwecksetzung des Autors?1326 Ad (i) Rhetorische Vermittlung von Inhalten. Rhetorische Mittel verwendet Marc Aurel nie zu offensichtlich rein rhetorischen Zwecken, d. h. ausschließlich um des Ornamentes willen. Da er hufig ber formale Aspekte des Denkens und Schreibens reflektiert, berrascht es wenig, dass die tatschlich verwendeten Stilmittel integraler Bestandteil der Argumente sind. Dies gilt grundstzlich fr die Vergleiche und Metaphern, die weitgehend aus dem Bereich der Natur entlehnt sind. Dies ist weder Zufall noch eine rein sthetische Entscheidung. Gemß der stoischen Forderung nach einem vernunftgeleiteten Leben in bereinstimmung mit der Natur, ist die Natur der Referenzpunkt. Hinter den Vergleichen und Metaphern verbirgt sich Normativitt. Wenn Marc Aurel den Menschen etwa mit einer Frucht vergleicht, die wchst und fllt,1327 fordert er sich auf, die begrenzte Lebensspanne als natrlich zu akzeptieren. Der Mensch ist, so macht die Vielzahl solcher Wendungen deutlich, ein Bestandteil der Natur, der sich subjektive berzeugung von einer Sache allgemein zu machen“ (Steinbrink, B./ Ueding, G.: Grundriss der Rhetorik, Stuttgart 1986, S. 1). 1324 Siehe die Rhetorik-Kritik von Marc Aurel (z. B. M. Aur. Med. 1, 14; 4, 51) und seiner Vorgnger, denen zufolge die Philosophie nicht zur Philologie verkommen drfe (siehe Sen. Ep. 108, 24 und Epiktets – vornehmlich gegen die zweite Sophistik gerichtete – Kritik 3, 21, vor allem: Arr. Epict. diss. 7; 2, 17, 34). Siehe dazu Kap. I 5 und II 4.4. 1325 Siehe Diog. Laert. 7, 59 und Cic. Fin. 4, 7 und De or. 62 – 4, 76 – 90. Einen Sachbezug der Rhetorik erkennt schon Aristoteles an, demzufolge ein Rhetoriker die Fhigkeit haben muss, „das berzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen“ (Arist. Rh. 1, 2). 1326 Der Aspekt der berzeugung, der sich in fast allen Rhetorik-Bestimmungen findet, kann hier ausgeklammert werden, zumindest dann, wenn er Interpersonalitt voraussetzt. 1327 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 48 und 8, 51.
5.3 Die stilistische Qualitt
313
einfgen sollte, weil er den Gesetzmßigkeiten und besonders der Natrlichkeit des Todes untersteht. Der Ordnung der Natur, zu deren Prinzipien der Tod gehçrt, untersteht auch der Mensch, weil er Teil der Natur ist. Die gedankliche Basis bestimmt das rhetorische Gefge inklusive Wortschçpfungen und Satzbau. So wird durch neue Wçrter die natrliche Gemeinschaft von allem betont und dort, wo die Natur als immergleiche Wiederholung verstanden wird, imitieren verbale Echos in einem parataktischen Satzbau dies. Wie sehr Vergleiche Teil des Argumentes sind, exemplifiziert folgendes Kapitel: Wie wenn sich jemand an eine klare und sße Quelle stellt und sie beschimpft, die Quelle aber nicht aufhçrt, trinkbares Wasser hervorzusprudeln; auch wenn er Schmutz und Kot hineinwirft, wird sie diesen Unrat sehr schnell auflçsen, fortsplen und keinesfalls trbe werden. Wie wirst du eine nicht versiegende Quelle und keinen Brunnen (mit stehendem Wasser) bekommen? Entwickele dich selbst jeden Tag zu einer Unabhngigkeit hin, die verbunden ist mit Freundlichkeit, Einfachheit und Taktgefhl.1328
Ad (ii) Rhetorik und Zweck des Schreibens. Ob der Einsatz der rhetorischen Mittel in den Selbstbetrachtungen zweckgemß ist, lsst sich letztlich nicht sicher entscheiden, da Marc Aurels Rhetorik nicht etwas Subjektives durch berzeugende Rede allgemein machen mçchte,1329 sondern die private Schrift insgesamt nur der Selbstbeeinflussung dient. Dennoch ist feststellbar, dass er verschiedene Mittel fr verschiedene Zwecke einsetzt. Die Imperative, Kynismen und Selbstansprachen stehen im Dienste der Adhortatio. Die Wiederholungen bzw. Variationen und die Krze dienen der besseren Memorierung der zentralen Lehrstze, damit sie immer zur Hand sind. In welchem Umfang der Autor Marc Aurel die Ziele, die er mit der Abfassung verknpft hat, erreicht hat, kçnnte nur er selbst beantworten, weil das Ausmaß der stoischen Prgung weder aus der zeitlichen Distanz noch fr Dritte generell zu eruieren ist. Feststellbar ist jedoch, dass die Verwendung der Mittel seinen eigenen Ausfhrungen ber die richtige Form des Denkens und Schreibens entspricht. Seine Wortwahl kann der 1328 M. Aur. Med. 8, 51. Siehe hnlich 7, 68 und 7, 59: „Grabe in deinem Inneren. In dir ist die Quelle des Guten, und sie kann immer wieder sprudeln, wenn du grbst.“ Die erwhnte Reinigung (siehe auch 4, 4) spielt auf die Heilung an. Die Metapher des Flusses geht auf Heraklit zurck, whrend die Verschmutzung des Wassers eine kynische Beschreibungsform ist. 1329 So die Rhetorik-Bestimmung von Steinbrink, B./Ueding, G.: Grundriss der Rhetorik, Stuttgart 1986, S. 1.
314
5. Rhetorisches
geforderte „Biss ins Herz“1330 sein. Andernorts ist sein Stil ganz von der geforderten Natrlichkeit,1331 Einfachheit1332 oder Krze1333 geprgt. Wir sehen, wie bei diesen beiden Persçnlichkeiten (Epiktet und Marc Aurel; M.v.A.) das an sich ußerliche, rhetorische Mittel eine Vertiefung erfhrt, Wesentliches auszusprechen hilft. hnliches gilt von den anderen, an sich rhetorischen Mitteln, den gehuften Fragen, den Anaphern usw., die nicht nur oberflchlicher Schmuck der Rede sind, sondern im Dienst der erzieherischen Absicht stehen.1334
Da Marc Aurel ber den Einsatz rhetorischer Mittel reflektiert und sie demgemß konsequent einsetzt, mssen die Selbstbetrachtungen als hçchstgradig rhetorisches Werk betrachtet werden, was den Autor aber nicht zu einem Vertreter der zeitgençssischen Rhetorik macht.1335 Die 1330 "xij²qdiom M. Aur. Med. 9, 3. 1331 Siehe insgesamt die Kapitel zur Gesundheit und entsprechenden Wortformen: M. Aur. Med. 1, 17; 4, 51; 5, 8; 6, 55; 8, 30; 8, 43; 8, 47; 9, 11; 10, 33; 10, 35; 11, 9; 11, 39. 1332 Siehe die Verwendung in den Kapiteln M. Aur. Med. 3, 4; 3, 6; 3, 16; 4, 37; 5, 7; 6, 30; 9, 29; 9, 37; 10, 1; 10, 32. 1333 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 51. 1334 Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 95, siehe auch S. 100 f. 1335 Jngst ist die Gegenthese vertreten worden: Fr Kasulke gibt es bei Marc Aurel wie im gesamten 2. Jahrhundert keinen Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie. Seine These bzw. seine Argumente sind aber kritikwrdig und nicht berzeugend. Zunchst konzentriert er sich auf den kulturellen Hintergrund und erkennt, wie soeben angedeutet, bereits im gesamten 2. Jahrhundert keinen Konflikt mehr zwischen Rhetorik und Philosophie (siehe Kasulke, Ch. T.: Fronto, Marc Aurel und kein Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie im 2. Jh. n. Chr., a.a.O., Kap. 2). Die gerade fr Marc Aurel einflussreichen Kritiken von Epiktet und Seneca an bestimmten rein sthetisierenden Rhetorikformen werden dabei nicht bercksichtigt, stattdessen wird die Frage nach der Bekehrung Marc Aurels ins Zentrum gerckt. Nach einer Analyse der rhetorischen Mittel in den Selbstbetrachtungen kommt er zu dem Schluss: „Marc Aurel hat nachweislich eine bestimmte Technik des frontonischen Unterrichts fr sein philosophisches Alterswerk bewusst instrumentalisiert, damit also bis zum Ende seines Lebens keine in der Praxis sprbare Distanzierung von der Rhetorik Frontos vollzogen.“ (ebd., S. 325). Dabei handelt es sich erstens um eine nicht notwendige Schlussfolgerung, denn Marc Aurel kann durchaus rhetorische Mittel fr eine Philosophie verwenden, die der Rhetorik kritisch gegenber steht. Kasulkes Schluss setzt, wie seine ganze Arbeit voraus, dass nur der, der ganz auf Rhetorik verzichtet, ein Kritiker der Rhetorik genannt werden darf. Diese Voraussetzung ist unerfllbar und schon daher wenig sinnvoll. Es fehlt eine Unterscheidung zwischen demjenigen, der rhetorische Mittel einsetzt, und demjenigen, der sich als Rhetoriker einer bestimmten Art bekennt. Zweitens schenkt Kasulke der Rhetorik-Kritik in den
5.3 Die stilistische Qualitt
315
Beurteilung der Fhigkeiten von Marc Aurel als Autor wird ferner in Betracht ziehen mssen, dass er erstens stilistische Mittel in Entsprechung mit Traditionen einsetzt, und zwar vornehmlich solchen, die die Rhetorik ganz der Philosophie unterordnen. Zweitens, so konnte die gesamte Analyse der formalen Aspekte bislang zeigen, kombiniert Marc Aurel dabei eine Vielzahl von Formen und Stilen. Das mag als formaler Eklektizismus verurteilt werden, zu bercksichtigen ist dabei jedoch, dass er nicht nur tradiert und sammelt, sondern auch etwas Neues schafft. Insgesamt, um den Stil Marc Aurels mit einem einzigen Wort zu bezeichnen, kann von einer aphoristischen Schreibweise gesprochen werden. Aphoristisches ist notorisch schwierig zu definieren,1336 zwei moderne Bestimmungen kçnnen jedoch helfen, die Selbstbetrachtungen einzuschtzen. Gero von Wilpert hat eine weithin akzeptierte und verwendete Bestimmung gegeben: Aphoristisch sei eine zugespitzte und abgebrochene Ausdrucksweise, die der eigentlichen Verbindung entbehrt und den Gedankengang durch einzelne Sentenzen vorwrtstreibt, so dass mit der Lektre ohne Kenntnis des Zusammenhangs fast an jeder Stelle begonnen werden kann und man dennoch stets gleich im Zusammenhang ist.1337
Drei wesentliche Momente sind bei Marc Aurel festzustellen: die Krze des Ausdruckes, die asyndetisch-parataktische Struktur und das Fehlen einer Gesamtstruktur des Textes. Eine zweite Definition von H. Fricke ist ausSelbstbetrachtungen (mit Ausnahme des Kapitels M. Aur. Med. 1, 7) unzureichend Beachtung oder Glauben. Drittens und entscheidend ist, dass bereits die Behauptung, Marc Aurel verwende in den Selbstbetrachtungen mehrere Techniken, die er nur von Fronto haben kçnne, der eigenen Analyse der rhetorischen Mittel in den Selbstbetrachtungen widerspricht, denn nur wenige Zeilen vor dem gerade wiedergegebenen Zitat wird erklrt, „dass die Technik der regressiven Bildangleichung, die nur als sekundre geistige bung der Rhetorenschule denkbar ist und dementsprechend in der gesamten parnetischen Tradition vor Marc Aurel keine Spuren hinterlassen hat, tatschlich das einzige Formelement der Selbstbetrachtungen darstellt, das eindeutig und ausschließlich auf den rhetorischen Unterricht bei Fronto zurckgehen muss.“ (ebd., S. 324 – 5). Im Verlaufe seiner rhetorischen Analyse hat Kasulke immer wieder die auch hier zugrunde gelegten Ergebnisse von Dalfen und Rutherford besttigt. Rutherford hat ferner fr Unterschiede zwischen Marc Aurel und Fronto pldiert (siehe Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 151). Viele Argumente und Beobachtungen, die Kasulke liefert, sprechen gegen seine Generalthese (vgl. Kasulke, Ch. T.: Marc Aurel, Fronto, a.a.O., S. 280 – 2 (ber Archaismen und Neologismen bei Marc Aurel und Fronto), S. 282 – 4 (Diminutive: „keinerlei Gemeinsamkeit mit den Diminutiven Frontos“)). 1336 Siehe zum Problem Fricke, H.: Aphorismus, Stuttgart 1984, S. 1 ff. 1337 Wilpert, G. von: Sachwçrterbuch der Literatur, 7. Aufl., Stuttgart 1989, S. 42.
316
6. Das Schreiben
differenzierter, sie nennt drei notwendig zu erfllende Kriterien fr den aphoristischen Stil: kontextuelle Isolation, Prosaform und Nichtfiktionalitt. Darber hinaus nennt er vier weitere und alternative Kriterien: Einzelsatz, Konzision, sprachliche und sachliche Pointiertheit.1338 Von diesen sieben Kriterien erfllen die Selbstbetrachtungen sechs Kriterien durchgngig, whrend immerhin viele Kapitel Einzelstze sind. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen muss Marc Aurel als Aphoristiker von Rang gelten.
6. Das Schreiben Dass ein Text von Marc Aurel auf diverse formale Merkmale hin untersucht werden kann, liegt an dem vermeintlich trivialen Umstand, dass er berhaupt geschrieben worden ist. Doch die Tatsache, dass Marc Aurel einen Text abgefast hat, die Form, in der er es tat, die Motivation oder die Bedeutung dieses Umstandes sind erklrungsbedrftig. Zum einem unterscheidet sich Marc Aurel gerade in dieser Hinsicht von Seneca und Epiktet. Seneca hat Texte verfasst, die ausdrcklich einen Adressaten nennen und darber hinaus noch, wie vom Autor intendiert, verçffentlicht wurden. In beiden Hinsichten unterscheidet sich Marc Aurel von Seneca. Von Epiktet hingegen sind nur Vorlesungsmitschriften und Zusammenfassungen berliefert, die nicht von ihm selbst stammen. Anders als Epiktet hat Marc Aurel also selbst einen Text verfasst, aber dieser Text unterscheidet sich von denen Senecas. Auch weil bei der Untersuchung der selbstdialogischen Aspekte in den Selbstbetrachtungen die Bedeutung des Verbalisierens eine Rolle spielte, ist das Verbalisieren, das Abfassen eines Textes noch einmal eigenstndig zu behandeln, weil nicht vorausgesetzt werden kann, dass diese ganz in den Bedeutungen des Endproduktes, des Textes, aufgeht. Das folgende Kapitel geht von These aus, dass Marc Aurel vorrangig fr sich selbst geschrieben hat. Eine Verçffentlichung muss er dabei nicht ausgeschlossen haben, vielleicht war er diesbezglich indifferent. Aber es scheint so zu sein, dass eine Verçffentlichung kein tragendes Motiv fr die Abfassung des Textes darstellt. Jedenfalls haben wir keine expliziten Hinweise, dass der Kaiser Marc Aurel an einem Text gearbeitet hat oder dass er etwas verçffentlichen wollte. Neben den vielen fr den Autor verstndlichen Passagen und Selbstadressierungen spricht die berlieferungsge1338 Siehe Fricke, H.: Aphorismus, a.a.O., S. 14.
6. Das Schreiben
317
schichte1339 und vor allem der Umstand, dass der Text whrend und nach seiner Entstehung fr viele Jahrhunderte vçllig unbekannt geblieben ist, dafr, dass es sich um eine Schrift handelt, die der Autor in erster Linie fr sich abgefasst hat. Die Bedeutung des Schreibens hat dieser These zufolge sehr viel damit zu tun, dass Marc Aurel vorrangig eine private Schrift, also vorrangig fr sich geschrieben hat. Die These setzt aber nicht notwendig voraus, dass Marc Aurel selber, mit eigener Hand, geschrieben hat. Anhand der selbstdialogischen Aspekte konnte gezeigt werden, dass die Verbalisierung und Kommunikation psychischer Vermçgen entscheidend ist. Wenn Marc Aurel also nicht mit eigener Hand geschrieben hat, sondern diktiert hat, aber selber formuliert und damit verbalisiert hat, wrde diese These von der Bedeutung des Schreibens auf die Thesen zum Selbstdialog aufbauen kçnnen. Es muss also im Folgenden weder gezeigt werden, dass Marc Aurel eine Verçffentlichung strikt ablehnte oder gar (erfolgreich) verhindert hat noch dass er mit eigener Hand schrieb.1340 Wahrscheinlich ist allenfalls, dass der Text der Selbstbetrachtungen langsam, ber viele Tage, Monate oder sogar Jahre, gewachsen ist. Ob jedoch tglich daran geschrieben wurde, ist bereits aufgrund der vielfltigen Verpflichtungen Marc Aurels unwahrscheinlich, aber nicht unmçglich.1341 Die Bedeutung der Textualitt ist generell nicht gut erforscht, auch wenn dem bergang von der Oralitt zur Textualitt einige Aufmerksamkeit zu Teil geworden ist.1342 Die Literatur zur Erforschung der formalen Aspekte der Schrift, der Eigenschaften von Wçrtern und Stzen sowie ihr Verhltnis ist reichhaltig. Die grundlegende Handlung „Schrei-
1339 Siehe Kap. I 1. 1340 ber die Umstnde, unter denen Marc Aurel geschrieben hat, wissen wir nichts Sicheres. Unsicher ist, ob er, wie Plotin, selber geschrieben hat (siehe Porphyrios Vita Plotini 8, 4). Siehe Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 1 und allgemein Dorandi, T.: Den Autoren ber die Schulter geschaut. Arbeitsweise und Autographie bei den antiken Schriftstellern, in: Zeitschrift fr Papyrologie und Epigraphik 87 (1991), S. 11 – 33, hier: S. 29 – 33. 1341 Siehe dazu Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 58 – 60. Hadot ist der Ansicht, Marc Aurel habe tglich geschrieben, kann dafr aber nicht viele Indizien anfhren. 1342 Siehe etwa Kullmann, W./Reichel, M. (Hg.): Der bergang von der Mndlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tbingen 1990.
318
6. Das Schreiben
ben“, die zu dem Untersuchungsgegenstand Schrift fhrt, ist noch weniger gut erforscht.1343 Wird damit den antiken Autoren selbst entsprochen, die ihrerseits nur selten ber das Schreiben geschrieben haben? Dieser Umstand mag teilweise dadurch zu erklren sein, dass griechische Ausdrcke, die das Sagen, Sprechen oder Meinen bezeichnen, oftmals auch fr das Schreiben verwandt werden. Der spezielle Ausdruck fr das Schreiben cq²veim ist gerade in der frheren Literatur viel seltener.1344 Fr die hiesige Untersuchung ist von Interesse, welchen Stellenwert das Schreiben oder Formulieren als Element eines philosophischen Lebenskunst-Modells haben kann. Bei diesem Verbalisieren handelt es sich demnach um eine Sonderform des therapeutischen Umgangs mit Worten.1345 1343 Verdeutlicht wird dies besonders gut durch den Eintrag „writing“ im Oxford Classical Dictionary (3. berarb. Auflage, hg. von S. Hornblower und A. Spawforth, Oxford 2003, S. 1626). Es handelt sich dabei um keine eigenstndige Erluterung, sondern um Hinweise auf andere Eintrge: „Alphabet“, „Books“, „Inscriptions“, „Epigraphy“, „Letters“ usw. Ebenso bezeichnend ist, dass nach dem Eintrag „textile production“ ein Eintrag zur Textproduktion oder Textualitt fehlt. 1344 Erstmalig taucht der Ausdruck bei Hekataios von Milet auf (Fragmenta Historicorum Graecorum 1 F 1). Dann erklren Herodot (siehe Herodot 1, 95, 1; 2, 70, 1; 2, 123, 3; 3, 103, 6; 4, 195, 2; 6, 14, 1; 6, 53, 1) und Thukydides (siehe Thuc. 3, 113, 6; 1, 22, 2; 5, 20, 3), dass sie schreiben. Auch Xenophon (z. B. Xen. Mem. 1, 3, 1 und 1, 4, 1) tut dies selten. In Gerichtsreden ist vom Schreiben nur im Zusammenhang mit prozessrelevanten Texten die Rede (siehe zu diesen und weiteren Angaben Usener, K.: „Schreiben“ im Corpus Hippocraticum, in: Kullmann, W./ Reichel, M.: Der bergang von der Mndlichkeit zur Literatur bei den Griechen, a.a.O., S. 291 – 300, hier: S. 297). 1345 Bei den Untersuchungen zu den diversen Formen und Funktionen verbaler Techniken wird das Schreiben nahezu vçllig ausgeblendet (siehe z. B. Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., Kap. 189 – 215). Rabbow nennt ein Kapitel „Das psychagogische Selbstgesprch. Methoden der Selbstbeeinflussung durch verbale Akte. Psychagogisches Schreiben“. Schreiben ist fr Rabbow „ein psychologisch wirksamer Teil, aber nur ein Teil, der als solcher keine psychagogische Betonung trgt“ (ebd., S. 213 f.). Er widmet dem Thema eine Seite. Auch bei Hadot, I.: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung, a.a.O., finden sich nicht mehr als Andeutungen. Bemerkenswert ist Entralgo, P. L.: The Therapy of the Word in Classical Antiquity (herausgegeben und bersetzt von E. L. Rather und John M. Sharp), New Haven/London 1970. Die Studie ist verdienstvoll, weil sie systematisch und historisch den Zeitraum von Homer bis einschließlich Aristoteles behandelt, aber fr die hiesige Untersuchung liefert sie wenig. Erstens wird zwar der therapeutische Umgang mit dem Logos in seiner Bedeutung als „Wort“ untersucht, das geschriebene Wort wird dabei jedoch nicht bercksichtigt. Insofern schon im hippokratischen Textkorpus dem Schreiben eine wichtige Funktion zugewiesen wird,
6.1 Schreiben, Notizen und Aphorismen im Corpus Hippocraticum
319
6.1 Schreiben, Notizen und Aphorismen im Corpus Hippocraticum – eine Vorgeschichte? Die wenigen Kommentare, die sich dem Schreiben als eine solche Form der Selbstbeeinflussung widmen, tun dies vor dem Hintergrund spterer christlicher und weitaus elaborierterer Erçrterungen und vertreten zugleich die These, ein solcher Zusammenhang von Therapie und Schreiben werde erst sehr spt, im Rahmen der rçmischen Philosophie thematisiert.1346 Diese These ist jedoch zurckzuweisen, denn im Corpus Hippocraticum behandeln viele Texte explizit das Schreiben und behandeln es damit in einem therapeutischen Kontext.1347 ist das eine bedenkliche Auslassung. Schließlich werden alle philosophischen Entwicklungen nach Platon und Aristoteles entwertet und nicht behandelt: „With the death of Aristotle original speculation on the psychological action of the human word, and hence on its curative power, comes to an end. I do not think that the Stoic doctrine of the logos prophorikos and moderation of the passions adds anything really substantial to what Plato and Aristotle had said in regard to verbal psychagogy.“ Dieses negative Urteil ist problematisch. Abgesehen von den Unterschieden und Neuerungen der stoischen Theorie bieten die kaiserzeitlichen Autoren die ausfhrlichsten Darstellungen zur Theorie und Praxis der verbalen Therapie. 1346 Die These vertreten vor allem Rabbow und Foucault (siehe Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 212 f. und Foucault, M.: ber sich selbst schreiben, in: ders.: sthetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 137 – 154, hier: S. 139). Whrend Rabbow sich vorrangig an Ignatius von Layola orientiert, nimmt Foucault seinen Ausgangspunkt bei Anthanasius. Dennoch ist, wie gleich gezeigt wird, Foucaults Blick auf die antiken Autoren durch die Betonung der Interpersonalitt, die fr christliche Formen des Schreibens wesentlich ist, verengt. 1347 Erstaunlicherweise ist dieser Umstand lange unbercksichtigt geblieben (siehe Hellweg, R.: Stilistische Untersuchungen zu den Krankengeschichten der Epidemiebcher I und III des Corpus Hippocraticum, Bonn 1985, S. 10 – 12; Krug, A.: Heilkunst und Heilkult, Medizin in der Antike, Mnchen 1984, S. 43; Lonie, I. M.: Literacy and the Development of Hippocratic Medicine, in: Lasserre, F./ Mudry, P. (Hg.): Formes de pense dans la Collection hippocratique. Actes de IVe Coll. Internat. Hippocratique, Genf 1983, S. 145 – 161, hier: S. 158 – 176. Lonie untersucht, hnlich wie Foucault in der Geburt der Klinik, den Einfluss der Textformen auf die Medizin und die sie tragenden Grundvorstellungen. Dem Schreiben selbst wird dabei wenig Aufmerksamkeit zu Teil. In seinen spteren Arbeiten zu den antiken Technologien des Selbst geht Foucault nicht mehr auf das Schreiben im hippokratischen Kontext ein). Die hiesigen Ausfhrungen fassen vor allem bestehende Forschungsergebnisse zusammen und rekurrieren sehr weitreichend auf die verdienstvolle Sammlung an Fundstellen bei Usener, K.: „Schreiben“ im Corpus Hippocraticum, a.a.O., die
320
6. Das Schreiben
Es ist eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich, dass Marc Aurel die Texte aus dem Corpus Hippocraticum kannte. Sie waren zu seiner Zeit weit verbreitet und nicht zuletzt ber Galen kçnnte Marc Aurel Zugang gehabt haben.1348 Obschon eingestanden wird, nicht die ganze Medizin sei schriftlich zu fixieren,1349 wird dem Schreiben eine Reihe von Funktionen zugesprochen, die wesentlich fr die antiken Mediziner sind: Es ist entscheidend, um eigene Beobachtungen, Erkenntnisse oder Theorien festzuhalten.1350 Diese Wichtigkeit, die mehrfach betont wird,1351 ist zum einen methodisch begrndet. Beobachtungen und Empfehlungen sind schriftlich zu fixieren, damit rztliche Empfehlungen durch die Festschreibung nicht mehr arbitrr, sondern methodisch sicher sind. Zum anderen liegt die Werthaftigkeit des Schreibens in der Sache selbst begrndet – die methodische Fundierung ist von Bedeutung, weil der Gegenstand, ber den geschrieben wird, selber wertvoll ist, denn es geht um den Unterschied von Gesundheit und Krankheit, um das berleben und das gute Leben.1352 Die Reflexion ber das Schreiben ist bereits hier mit der Bedeutung des Gegenstands und einer Konzentration auf besonders wichtige menschliche Fragen begrndet. Schreiben hat den Zweck, eigene Vorstellungen und Empfehlungen zu fixieren und dadurch den Nutzen fr den Patienten zu erhçhen.1353 Zudem hat das Schreiben weitere methodische Funktionen,1354 die ber das allerdings kaum Deutungen in einem grçßeren Kontext bietet. Siehe ferner auch Langholf, V.: Structure and genesis of some hippocratic treatises, in: Horstmanshoff, H. J. F./Stol, M. (Hg.): Magic and rationality in ancient Near Eastern and Graeco-Roman medicine, Leiden/Boston 2004, S. 219 – 275. Das Phnomen ist nur schwer chronologisch zu fassen. Schriften des Corpus, die sehr wahrscheinlich zu den frhen gehçren (z. B. De aere aquis locis und De morbo sacro), behandeln das Schreiben nicht. Ob das als Hinweis gewertet werden kann, dass die Texte als Vortrge konzipiert wurden oder die Verschriftlichung auch innerhalb der rzteschule erst spter thematisiert und praktiziert wurde, ist nicht sicher zu entscheiden. 1348 Ich danke Philip van der Eijk fr Hinweise in dieser Sache. 1349 Siehe De articulis 33 und De fracturis 30. 1350 Siehe De victu acutorum 3 und 16. In De articulis wird beschrieben, was sich aufzuschreiben lohnt. 1351 !n¸g cqav/r (De victu acutorum 3 und 16). 1352 Siehe De victu acutorum 1. 1353 Den Bchern 2, 4 und 6 der Epidemien-Schrift ist noch anzumerken, dass sie als Notizen am Krankenbett fr den Arzt selber entstanden sind. 1354 Siehe dazu insgesamt Diller, H.: Ausdrucksformen des methodischen Bewusstseins in den hippokratischen Epidemien, in: Kleine Schriften zur antiken Medizin (hg. von G. Baader und H. Grensemann), Berlin 1971, S. 106 – 123.
6.1 Schreiben, Notizen und Aphorismen im Corpus Hippocraticum
321
Festhalten der eigenen Vorstellungen hinausgehen. Dem eigenen Schreiben soll nicht nur empirische Beobachtung vorausgehen, sondern auch die Lektre der Schriften anderer. Dadurch wird einerseits die Auseinandersetzung mit den rivalisierenden Methoden anderer rzteschulen,1355 andererseits die Wissensweitergabe und -akkumulation sichergestellt.1356 Das Schreiben wird hier aus wissenschaftstheoretischer Perspektive befrwortet, weil jeder Arzt so einen Teil fr die Kunst und deren Nutzen beitragen kann und diese Leistungen kumulativ dem Fortschritt der Medizin dienen.1357 Schreiben ist dabei eine zentrale Technik: Wenn ich den Eindruck htte, dass einer der Autoren, die frher ber die gesunde Lebensweise geschrieben haben, alles durchweg in der richtigen Einsicht niedergeschrieben htten, soweit man es mit menschlichem Verstand erfassen kann, so wre ich damit zufrieden, von dem, was andere erarbeitet haben, das Richtige anzuerkennen und mich dessen zu bedienen, soweit sich mir die Einzelheiten als ntzlich erwiesen haben. Nun ist es aber so, dass zwar schon viele ber dieses Thema geschrieben haben, aber noch keiner von ihnen richtig erkannt hat, wie man htte schreiben mssen.1358
Genau diese Art, die Erkenntnis vorheriger Autoren unter Ntzlichkeitserwgungen fr das eigene Schreiben fruchtbar zu machen, wird sich auch bei den rçmischen Stoikern, vor allem Seneca, finden. Andernorts im Corpus Hippocraticum wird betont, dass die schriftliche Erklrung, auch wenn sie lang ist, in praktischer Absicht geschieht, denn zu oft versuchen entweder theoretisch Unkundige zu heilen oder solche, die nur ber theoretische Kenntnisse verfgen, in der Tat aber keinen Knochenbruch richtig behandeln kçnnen.1359 In einer ganzen Reihe von Texten wird das Schreiben in Verbindung mit dem Lesen durch Hinweise auf weitere Lektre1360 thematisiert, oder indem der Autor den Leser durch Rckverweise an bereits Gelesenes erinnert. Das Schreiben ist fr antike rzte um oder nach Hippokrates nicht nur wichtig, weil Themen von existentieller Bedeutung behandelt werden, sondern weil die Verschriftlichung die Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Texten durch das Lesen den Stand der Wissenschaft insgesamt verbessert und so den Nutzen mehrt. Das Schreiben ist individuelle 1355 Deutlich in De vetere medicina 1 und De victu acutorum 1. 1356 Siehe De vetere medicina 2 und De victus ratione 1, 2. 1357 Siehe Epidemiarum 3, 16. 1358 De victus ratione 1. 1359 Siehe De fracturis 1. 1360 Siehe Epidemiarum 1, 11 und 3, 7; De vulneribus in capite 21; De articulis 11 und 12.
322
6. Das Schreiben
Mnemotechnik und soll gleichzeitig das Wissen des rztekollektivs bewahren bzw. verbessern.1361 Nun ist etwas ber Notizen und Aphorismen zu sagen. Ausdruck dieser gerade erwhnten Reflexionen ist unter anderem die aphoristische Ausdrucksweise, die in einigen Texten vorhanden ist, vereinzelt sogar dominant ist.1362 Die Notizform1363 und ihr Stil ist Grundlage fr den aphoristischen Stil.1364 Die Notizen und der damit einhergehende Stil dienen zwei der oben genannten Funktionen: Die Notizen kçnnen erstens dem Schreiber selbst zum Festhalten von Beobachtungen und allgemeinen Gesichtspunkten oder praktischen Anweisungen fr weitere Untersuchungen und hnlichem dienen. Der Stil ist gelegentlich so sehr auf Krze angelegt, dass der Text fast unverstndlich wird.1365 Zweitens scheinen andere aphoristische Passagen1366 etwas geschliffener zu sein und sich an ein Publikum zu wenden, das bspw. grundstzliche und fast philosophische Erçrterungen der rztlichen Kunst wnscht.1367 Vielleicht wird hier ebenfalls ein aphoristischer Stil, und zwar in einer verfeinerten und 1361 In diesem Zusammenhang ist besonders die Entstehung des Lehrbuchs untersucht. Siehe dazu allgemein Dihle, A.: Mndlichkeit und Schriftlichkeit nach dem Aufkommen des Lehrbuches, in: Kullmann, W./Althoff, J. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen1998, S. 265 – 278. 1362 Siehe Langholf, V.: Generalisation und Aphorismen in den Epidemiebchern, in: Baader, G./Winau, R. (Hg.): Die Hippokratischen Epidemien. Verhandlgg. d. Ve Colloque International Hippocratique, Berlin, 10.–15. 09. 1984, Stuttgart 1989, S. 131 – 143 und Kollesch, J.: Die ditetischen Aphorismen des sechsten Epidimienbuches und Herodikos von Selymbria, in: Baader, G./Winau, R. (Hg.): Die Hippokratischen Epidemien, a.a.O., S. 191 – 197. 1363 Der Ausdruck „Notizen“ (rpolm¶lata) taucht etwa in De articulis 34 auf. 1364 Dies plausibilisieren viele Argumente bei Althoff, J.: Die aphoristisch stilisierten Schriften des Corpus Hippocraticum, a.a.O., S. 40 ff. 1365 Ein deutliches Beispiel ist Epidemien 4, 14: „(Untersuchen,) Wie der Schwebstoff dispergiert ist. (Untersuchen,) Welcher Bodenstoff spter nach welchem uriniert wird. Der Schwebstoffbeschaffenheit.“ Es wird erçrtert und zitiert bei Langholf, V.: Syntaktische Untersuchungen zu Hippokrates-Texten. Brachylogische Syntagmen in den individuellen Krankheits-Fallbeschreibungen der hippokratischen Schriftensammlung, Wiesbaden 1977, S. 142. Insgesamt scheinen die Notizensammlungen der Bcher 2, 4 und 6 fr den Eigenbedarf geschrieben worden zu sein. 1366 Insgesamt sind die Bcher 1 und 3 von diesem Stil geprgt. 1367 Siehe etwa Epidemien 1, 11: „Die vorherigen Kenntnisse nennen, die gegenwrtigen (Symptome) erkennen, die zuknftigen vorhersagen: darum muss man sich kmmern. Zwei Dinge (muss man) im Bereich der Krankheit einben: ntzen oder nicht schaden. Die Kunst (arbeitet) mit drei (Faktoren): der Krankheit, dem Kranken und dem Arzt. Der Arzt ist Helfer der Kunst, der Kranke (muss) gegen die Krankheit ankmpfen mit dem Arzt.“
6.1 Schreiben, Notizen und Aphorismen im Corpus Hippocraticum
323
ausgearbeiteten Variante verwandt, weil hier nicht der Schreiber alleine adressiert ist, sondern in didaktischer Absicht geschrieben wird. Die Krze und Prgnanz des Stiles macht die Grundstze der Kunst, die hier beschrieben werden, besonders gut lernbar. Es handelt sich um grundlegende Dogmen und Handlungsanleitungen, die der Arzt immer gegenwrtig haben muss.1368 Die Texte des Corpus Hippocraticum bieten weitere Formen und Funktionen des Aphorismus:1369 Durch paradoxe Formulierungen wird ein berraschungseffekt beim Leser hervorgerufen.1370 Dies wird durch antithetische Formulierungen und eine kurze, bisweilen verdunkelnde Ausdrucksweise erreicht, eine vollstndige Explikation der Inhalte fehlt oft. Dabei wird der Text ferner in kleine, nahezu unverbundene Einheiten gegliedert.1371 Der Autor lehnt sich dabei offensichtlich an Heraklit an,1372 dessen unklare Ausdrucksweise schon in der Antike sprichwçrtlich war.1373 Er galt auch denen, die vielleicht mehr Texte von ihm kannten als uns berliefert sind, als Dunkler,1374 als Rtseler,1375 dessen tiefe Gedanken nur durch einen delischen Taucher ergrndet werden kçnnten.1376 Heraklits Sprache ist prosaisch. Er schrieb keine Verse, sondern eine technisch vielfltige 1368 Eine andere Erklrung des aphoristischen Stiles lautet: „Es hat den Anschein, als wolle der Verfasser in Zeiten eines philosophisch geprgten Umfeldes zeigen, dass auch er in seinem Gebiet solchen gehobenen Ansprchen gerecht werden kann. Statt nun jedoch philosophische Monographien zu schreiben, greift er auf das stilistische Repertoire der Gattung zurck, in der er sich gerade bewegt, und formuliert theoretische Maximen in der Form von Aphorismen.“ Althoff, J.: Die aphoristisch stilisierten Schriften des Corpus Hippocraticum, a.a.O., S. 41. 1369 Zum aphoristischen Stil siehe rckblickend die Bestimmungen am Ende des Kap. I 5.3. 1370 Siehe etwa den Beginn von De alimento (1) oder De victu acutorum 4 und 5. Zu Herakliteischem in De victu acutorum siehe Joly, R.: Hippocrate, Du Regime, Berlin 1984, S. 25 ff. 1371 Siehe dazu Althoff, J.: Die aphoristisch stilisierten Schriften des Corpus Hippocraticum, a.a.O., S. 43. 1372 Stze wie „Anfang von allem ist einer und Schluss von allem einer, und dasselbe ist Schluss und Anfang.“ (Satz 45) von De alimento sind sowohl in Diktion als auch bzgl. der Themen eng an Heraklit angelehnt. Siehe zu letzterem van Ackeren, M.: Heraklit. Einheit und Vielfalt seines Denkens, a.a.O. 1373 Siehe Pl. Tht. 180a; Lucr. 1, 639; Plotin Enn. 4, 8. 1374 Siehe etwa Arist. Mund. 396b20. 1375 Siehe Timons Einschtzung, wiedergegeben bei Diogenes Laertius IX. 6. 1376 Siehe Diog. Laer. 2, 22.
324
6. Das Schreiben
Prosa,1377 wobei eine Vorliebe fr Wortspielereien, Etymologien1378 und Gleichnisse1379 deutlich wird. Ferner ist es wohl bezeichnend, dass er auf die andeutende, prophetische Redeweise der Orakelsprche1380 und die besondere Ausdrucksweise der Sybille hinweist.1381 Seine Diktion ist offenbar bewusst gewhlt, sie macht die Interpretation nicht einfacher, sichert dem Autor aber die Aufmerksamkeit des Lesers und sorgt dafr, dass die Inhalte besser zu erinnern sind und der Text wieder erkennbar ist.1382 Diese Sprachwahl im Corpus Hippocraticum ist mit angeblich herakliteisch inspiriertem Skeptizismus bei den antiken Medizinern in Verbindung gebracht worden.1383 Wahrscheinlicher aber ist, dass die herakliteische Stilisierung ein Effekt ist,1384 der bei breiteren Kreisen Aufmerksamkeit erregen soll. Aphoristisches Schreiben dient ferner dem
1377 Siehe Deichgrber, K.: Rhythmische Elemente im Logos des Heraklit, Wiesbaden 1963. 1378 Siehe die bersicht bei Verdenius, W. J.: Der Logos-Begriff bei Heraklit und Parmenides, in: Phronesis 11 (1966), S. 81 – 98, hier: S. 95 ff. 1379 Siehe Heraklit DK 22 B 2 (sowie 9, 56, 72, 87, 97). 1380 „Die Sybille mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes hinausrufend dringt durch Jahrtausende mit der Stimme getrieben vom Gott.“ Heraklit DK 22 B 92. Die Orientierung an den Sprachformen der Orakelsprche findet sich auch in anderen Texten des Corpus Hippocraticum, besonders in den Koischen Prognosen. Siehe dazu Langholf, V.: Prognosen in der hippokratischen Medizin: Funktionen und Methoden. Probleme im Zusammenhang mit den Editionen der Schrift Koische Prognosen, in: Dçring, K./Wçhrle, G. (Hg.): Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, 2 Bnde, Bamberg 1992, Bd. 2, S. 224 – 235. 1381 „Der Herr, dessen Orakel zu Delphi ist, spricht nicht aus und verbirgt nicht, sondern gibt ein Zeichen [bedeutet].“ Heraklit DK 22 B 93. Siehe auch Heraklit DK 22 B 92 (und 93). 1382 Siehe dazu bereits Hçlscher, U.: Der Logos bei Herakleitos, in: Varia Variorum. Festschrift fr K. Reinhardt, Mnster/Kçln 1952, S. 69 – 81, hier: S. 72 f.; ders.: Anfngliches Fragen, Gçttingen 1963, S. 136 – 141; Kahn, Ch.: The Art and Thought of Heraclitus, a.a.O., S. 87 – 95, aber auch schon Snell, B.: Die Sprache Heraklits, in: Hermes 61 (1926), S. 353 – 381, hier: S. 372. 1383 Siehe Tsouyopoulos, N.: Die hippokratische Schrift „Peri TrophÞs“. Physiologie zwischen Aristoteles und Heraklit, in: Wittern, R./Pellegrin, P. (Hg.): Hippokratische Medizin und antike Philosophie, Hildesheim/Zrich/New York 1996, S. 77 – 86. 1384 Eine sachliche Entsprechung von Ausdruck und Thesen wie bei Heraklit selbst wird man hier eher nicht annehmen drfen.
6.1 Schreiben, Notizen und Aphorismen im Corpus Hippocraticum
325
Anlegen eines katalogartigen Aufbaus von etwas, das als Handbuch oder „Lexikon-Artikel“ bezeichnet werden kann.1385 Die bereinstimmungen mit dem Stil der Selbstbetrachtungen sind offensichtlich und betreffen neben den formalen Aspekten auch die damit verbundenen Funktionen, wobei allerdings zwei Einschrnkungen zu machen sind: Die Notizform der Autoren im Corpus Hippocraticum tritt in zwei Varianten auf: in sehr kurzer und bruchstckhafter Gestalt, die wohl dem Eigengebrauch des Schreibenden diente. In der stilistisch berarbeiteten Art handelt es sich um Texte, die weitere Adressaten haben. Marc Aurel, obschon er, wie gezeigt, vielfltig rhetorische Mittel einsetzt, tut dies nur fr sich selbst. Der Einfluss Heraklits ist sowohl bei den antiken rzten als auch bei Marc Aurel deutlich. Whrend bei ersteren die inhaltlichen Einflsse im Vergleich zu den sprachlichen weniger offensichtlich sind,1386 verwendet Marc Aurel etwas seltener die fr Heraklit typischen paradoxen Formulierungen, aber bernimmt (vielleicht mehr als andere Stoiker) wesentliche Lehren. Deutlich werden die Parallelen zwischen den Aphorismen und den Selbstbetrachtungen bereits anhand des ersten und berhmten Satzes der Aphorismen: Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, der rechte Augenblick geht schnell vorber; die Erfahrung ist trgerisch, die Entscheidung schwierig. Der Arzt muss nicht nur selbst bereit sein, das Erforderliche zu tun, sondern auch der Kranke, seine Umgebung und die ußeren Umstnde mssen dazu beitragen.1387
Marc Aurel greift das Thema, die Beschreibung der conditio humana auf, dabei wechselt auch er von einer Beschreibung der Lage zu einer eher normativen Perspektive: Die Dauer des menschlichen Lebens ist nur ein Augenblick, seine Existenz in dauerndem Fluss; die Wahrnehmungsfhigkeit des Menschen ist schwach, das Gebilde seines Kçrpers ganz der Fulnis ausgesetzt … Was kann uns da noch sttzen und helfen? Einzig und allein die Philosophie. Ihre Hilfe besteht darin, den gçttlichen Geist in unserem Inneren vor Schaden und Verletzung zu bewahren … schließlich den Tod mit heiterer Gelassenheit erwarten, als ob er 1385 Besonders die Koischen Prognosen mit ihren 640, zum Teil nur einen Satz langen Eintrgen machen dies deutlich. Siehe Pçppel, O.: Die hippokratische Schrift Jyiaja· pqocm¾seir und ihre berlieferung, Diss., Hamburg 1959, S. 65. 1386 Wie stark Heraklit die Inhalte des Corpus Hippocraticum beeinflusst hat, ist Gegenstand zahlreicher Ausfhrungen und entsprechender Kontroversen. 1387 Aphorismen 1.
326
6. Das Schreiben
nichts anderes sei als die Trennung der Grundbestandteile, aus denen jedes Lebewesen besteht.1388
Auffllig ist ferner, dass Marc Aurel ebenfalls aus einer herakliteisch-medizinischen Perspektive wie die Autoren des Corpus Hippocraticum ber den Fluss und den kosmischen Metabolismus aller Dinge schreibt.1389 Neben den bereits erwhnten Elementen des aphoristischen Notizstils gibt es weitere Merkmale, die die Selbstbetrachtungen den hippokratischen Schriften, insbesondere den Aphorismen, hnlich sein lassen. (i) Der Text ist als Ganzes ungeordnet. (ii) Beide Texte verwenden die Technik der Wiederholung von Themen und ihrer Variation.1390 (iii) Dieses Variieren schließt den Gebrauch fremder Texte, also von Zitaten und Paraphrasen, ein.1391 (iv) Der Text wurde offensichtlich ber einen lngeren Zeitraum immer wieder ergnzt oder umgearbeitet.1392 (v) Zum Schreiben solcher Notizen gehçrt demnach die Offenheit, Hinweise auf sptere berarbeitungen oder Lektren zu machen. Die zeitliche Offenheit des Schreibvorganges wird mit thematisiert.1393 Anhand der Aphorismen zeigt sich, dass sich ein eigenstndiges „medizinisches Schreiben“ entwickelt hat. J. Althoff spricht von „Schreibtischmedizinern“, deren aphoristischer Stil bereits eine distinkt literarische und nicht mehr rein praktische medizinische Technik ist.1394 Der aphoristische
1388 M. Aur. Med. 2, 17. 1389 Siehe besonders De alimento. 1390 Vergleiche Aphorismen 1, 7 mit 1, 8, dann 1, 2 mit 1, 25 und 4, 3. 7, 46 variiert 6, 31; 7, 36 ist eine lngere Variante von 2, 9 usw. 1391 Einige Zitate, Paraphrasen in den Aphorismen sind: 2, 23 (entspricht Coa praesagia 143); 5, 2 (entspricht Coa praesagia 349 und 496). 1392 Fr ein solches sukzessives Schreiben spricht, dass die Texte sich wechselseitig zitieren bzw. als Exzerpte verwandt haben. 1393 Siehe etwa den Anfang von De diaeta in acutis morbis, De morbis 2 (dort ist expressis verbis von „spteren berarbeitern“ die Rede). 1394 Siehe Althoff, J.: Die aphoristisch stilisierten Schriften des Corpus Hippocraticum, a.a.O., S. 61. Eine vergleichende Studie der Epidemien mit den Aphorismen zeigte: „Aphorisms are nearer to the written word…than to the practice of medicine: and Epidemics has been used as a sourcebook well suited to this operation.“ Roselli, A.: Epidemics and Aphorisms: Notes on the History of Early Transmission of Epidemics, in: Baader, G./Winau, R. (Hg.): Die Hippokratischen Epidemien, a.a.O., S. 182 – 195, hier: S. 187.
6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel
327
Stil ist ein gutes didaktisches Instrument, es hilft erstens beim ersten Erlernen, zweitens zur Vertiefung und drittens dem Wiedererinnern.1395 Die Selbstbetrachtungen entsprechen in vielen Aspekten diesem Schreiben der Mediziner in seiner aphoristischen Notizform. Diese frhe Form des Schreibens und der Reflexion darber war gerade in der Philosophie einflussreich, besonders aber bei den philosophischen Autoren, die die Philosophie zum Teil in Analogien zur Medizin konzipiert haben, um ihr methodisches und therapeutisches Gewicht zu verleihen.1396 6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel Seneca erçrtert das Schreiben insbesondere unter dem Gesichtspunkt, in welchem Verhltnis es zum Lesen steht. Beides ist fr ihn nur zusammen ntzlich: Wir drfen weder nur schreiben noch nur lesen … damit die Schriftstellerei, was immer man bei der Lektre zusammen gelesen hat, in ein Ganzes einbringe … wir mssen diese Bienen nachahmen und, was immer wir uns aus verschiedener Lektre zusammengetragen haben, trennen – besser nmlich lsst es sich gesondert aufbewahren -, sodann Sorgfalt sowie Einfallsreichtum unseres Verstandes anwenden und in einen einzigen Geschmack jene verschiedenartigen Lesefrchte zusammenfließen lassen; dadurch wird es – auch wenn deutlich ist, woher es stammt – dennoch offenkundig etwas anderes sein als das, woher es genommen ist. … ,Verdauen‘ wir es: sonst geht es nur in unser Gedchtnis ber, nicht unser Wesen … machen wir es zu unserem Eigentum, damit eine Art von Einheit entstehe aus der Vielheit… Ich meine, bisweilen kann man es berhaupt nicht erkennen, wenn ein Mann von bedeutendem Geist allem, was er einem beliebigen Vorbild entnommen hat, seinen gestalterischen Willen aufprgt, so dass es in eine hçhere Einheit bergeht … ,Wie‘, sagst du, ,kann das erreicht werden?‘ Durch die bestndige Anstrengung.1397
Mit dem Schreiben verbinden sich bei Seneca folgenden Aspekte: Es handelt sich (i) wie bei den anderen vielfltigen Meditationsformen um eine zu wiederholende bung.1398 1395 Siehe Galen 17, 2. 1396 Einen berblick ber den massiven und vielfltigen Einfluss der hippokratischen Medizin auf die antike Philosophie bietet folgende Sammlung: Wittern, R./Pellegrin, P. (Hg.): Hippokratische Medizin und antike Philosophie, a.a.O. 1397 Sen. Ep. 84, 2 – 11. 1398 Siehe auch Sen. Ep. 89, 18 – 19.
328
6. Das Schreiben
Das Schreiben ist (ii) aufs Engste mit dem Lesen verbunden: „schreibe, damit du es, whrend du schreibst, liest, dabei alles auf deinen Charakter und auf die Beschwichtigung der leidenschaftlichen Empfindungen beziehst.“1399 Beim Schreiben und Lesen wird, wie Seneca durch die Analogie mit einer Biene deutlich macht, etwas aus verschiedenen Quellen gesammelt. In diesem Sinne ist das Schreiben zunchst eine Technik, die der Memorierung von Gehçrtem und Gelesenem dient. Senecas Formulierung „besser nmlich lsst es sich gesondert aufbewahren“ weist auf solche Hypomnemata, also Notizsammlungen hin, die in erster Linie angelesene Exzerpte festhalten. Diese archivierende oder mnemotechnische Funktion steht jedoch nicht im Vordergrund oder ist Selbstzweck, denn das Schreiben dient (iii) der Entwicklung rationaler Handlungsanweisungen aus Gehçrtem oder Gelesenem und als wahr erkannten Aussagen. Als Element der Selbstbung besitzt das Schreiben eine ethopoetische Funktion, um es mit einem bei Plutarch zu findenden Ausdruck zu sagen. Es ist ein Operator, der Wahrheit in Ethos umwandelt.1400
Das Lesen und Schreiben ist (iv) eine Sache der Seele und dient ihrer Formung und Beeinflussung. Die geschriebenen Stze, auch wenn sie wortgleich von jemandem abgeschrieben werden, werden zu etwas Eigenem. Die Kompilation und Arrangierung verschiedener Stze aus verschiedenen Quellen ist je etwas Eigenes. Darber hinaus sollen die Stze ja nicht in ußerer Form festgehalten werden, sondern durch den Schreibakt und dann durch die Befolgung der Lehren im Leben des Schreibenden zu einer, wie Seneca es nennt, „hçheren Einheit“ „harmonisch verschmolzen“ werden. Schließlich (v) ist die Schrift ein Medium, das hilft, Interpersonalitt herzustellen. Durch das Schreiben von Briefen entsteht Seneca zufolge die fr die Philosophie so wichtige Gemeinschaft.1401 Bei Epiktet findet sich keine so intensive Erçrterung des Schreibens wie bei Seneca, was nicht berrascht, angesichts der Tatsache, dass die wichtigen Texte seiner Philosophie nicht von ihm selber, sondern von Arrian geschrieben worden sind. Dennoch scheinen auch fr ihn Lesen und Schreiben in enger Verbindung zu stehen oder zumindest gleiche Funktionen zu haben. So erwhnt er ein Gebet, um dann anschließend seinen 1399 Sen. Ep. 89, 23. 1400 Foucault, M.: ber sich selbst schreiben, a.a.O., S. 140. 1401 Siehe Sen. Ep. 6, 6; 7, 8; 38, 1; 40, 1; 40, 8; 55, 9; 71, 4; 75, 1.
6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel
329
Schlern zu sagen: „ber solche Gedanken, indem ich solches schreibe, indem ich solches lese, mçge mich der Tod berraschen.“1402 Bei einer bereits oben erwhnten Forderung, Selbstdialoge zu fhren, empfiehlt er, dies schriftlich zu tun.1403 Das selbstprfende Schreiben ist hier, ausdrcklicher als bei Seneca, mit der Begriffsanalyse, dem Denken, verbunden. Bemerkenswert ist dabei, dass Epiktet das Schreiben als Ersatz fr einen interpersonalen Dialog empfiehlt. Insbesondere M. Foucault hat diese und weitere antike Passagen zur Selbstbeeinflussung durch das Schreiben kommentiert,1404 dabei aber Aspekte betont, die nicht auf Marc Aurels Selbstbetrachtungen zutreffen. Sie hier dennoch zu erwhnen, ist jedoch hilfreich, um den Unterschied zwischen den Selbstbetrachtungen und den von Foucault behandelten Texten deutlich zu machen.1405 Auffllig ist, dass das Schreiben in allen von Foucault behandelten Texten1406 aufs Engste mit Interpersonalitt verbunden ist.1407 Dies gilt sogar fr die sptere christliche Form bei Athanasius, zumindest so, wie Foucault sie beschreibt. Das einsame Schreiben soll auf die Seele wirken, weil es den Blick anderer bzw. das Gesprch mit ihnen substituiert. Im christlichen Falle soll die Imagination von anderen Menschen beim Schreiben Scham auslçsend und demaskierend sein, bei Epiktet geht es um 1402 Arr. Epict. diss. 3, 5, 11. 1403 Siehe nochmals Arr. Epict. diss. 2, 1, 32 – 33. 1404 Erstaunlicherweise ist die bahnbrechende Untersuchung von Rabbow hier unergiebig. In dem einen Kapitel „Das psychagogische Selbstgesprch. Methoden der Selbstbeeinflussung durch verbale Akte. Psychagogisches Schreiben“, wird Schreiben auf einer einzigen Seite abgetan als „ein psychologisch wirksamer Teil, aber nur ein Teil, der als solcher keine psychagogische Betonung trgt“ (Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 213 f.). Frhere Untersuchungen bei Foucault liefern bereits wertvolle Hinweise, auch wenn dort die behandelten Formen und Funktionen der Selbstbeeinflussung vorrangig unter dem Aspekt der Sexualitt untersucht werden (siehe Foucault, M.: Sexualitt und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lste, Frankfurt a. M. 1986 und Bd. 3: Die Sorge um sich, Frankfurt a. M. 1989). 1405 Zu dieser These passt der Umstand, dass die Selbstbetrachtungen von Foucault in seinem einschlgigen Aufsatz nicht einmal erwhnt werden. 1406 Und vielleicht fr ihn selbst: „Schreiben heißt also sich zeigen, sich sehen lassen, sein eigenes Gesicht vor dem eines anderen erscheinen lassen.“ Foucault, M.: ber sich selbst schreiben, a.a.O., S. 148. 1407 Siehe bereits seine frheren Ausfhrungen in Foucault, M.: Sexualitt und Wahrheit, Bd. 3: Die Sorge um sich, a.a.O., S. 53 ff. und dann in den ersten beiden Vorlesungen der Hermeneutik des Subjekts (a.a.O., S. 15 – 109).
330
6. Das Schreiben
die Kontrolle der Begriffsbildung im sokratischen Gesprch. Interpersonalitt ist darber hinaus noch ein Aspekt der Textadressierung, wie besonders anhand von Briefen deutlich wird und der Schreibabsicht, insofern der Schreibende nicht nur sich selber, sondern auch den Adressaten bilden mçchte.1408 Die Selbstbetrachtungen sind, wie gezeigt, jedoch weitgehend durch ein Fehlen von Interpersonalitt charakterisiert. Weder im Bereich der Imagination, der Adressierung oder der Absicht spielen andere Menschen eine zentrale Rolle. Obschon Marc Aurels Ethik stark durch soziale Kriterien bestimmt wird, ist der Text ein Selbstdialog, den er vorrangig fr sich selbst schreibt. Fr Foucault ist Schreiben in erster Linie eine „mnemotechnological formula“,1409 die es vor allem mit Lesefrchten zu tun hat.1410 Zwar betont er den Umstand, dass die gelesenen und zusammengefgten Textstcke durch den Schreibakt zu einer neuen Einheit in der Seele des Schreibenden zusammengefgt werden, aber zunchst ist das Schreiben fr ihn ein rckwrts gerichteter Akt. Andere sind Foucault gefolgt.1411 Diese angebliche Wertschtzung der Vergangenheit steht aber prima facie im Widerspruch zur stoischen Auffassung, dass nur etwas, was in der momentanen Verfgungsgewalt liegt, ein Gut sein kann. Verfahren, wie die praemeditatio, haben es darber hinaus mit der Zukunft zu tun, und zwar, 1408 Siehe exemplarisch Sen. Ep. 34. Whrend Seneca die gegenseitige oder gemeinsame Bildung betont, liegt der Akzent bei Epiktet viel strker auf Fremdbildung. 1409 Foucault, M.: Technologies of the Self, in: Technologies of the Self. A Seminar with M. Foucault (hg. von L. H. Martin u. a.), Amherst 1988, S. 16 – 49, hier: S. 34. 1410 „…es geht darum, bereits Gesagtes festzuhalten, Gehçrtes und Gelesenes zu sammeln.“ Foucault, M.: ber sich selbst schreiben, a.a.O., S. 141. Foucault spricht vom Schreiben als Umgang mit „Fremdem und Heterogenen“ mit „bereits Gelesenem“. Foucaults Ausfhrungen werden wiedergegeben bei Humphries, M. L.: Michel Foucault on Writing and the Self in the Meditations of Marcus Aurelius and Confessions of St. Augustine, in: Arethusa 30 (1997), S. 125 – 138. Auch Humphries fasst das Schreiben nahezu ausschließlich als Mnemotechnik auf. Zwar erwhnt er die schriftliche Selbstprfung von Begriffen bei Epiktet (Arr. Epict. diss. 2, 1, 31 f.), aber unterscheidet diese Funktion der Begriffsprfung nicht von der, Angelesenes zu erinnern oder durch das Schreiben zu reaktivieren. 1411 „This is true of the Meditations; it is an example of a practical strategy in the aid of memory, the writing down of concise and memorable therapeutic logoi in order to prevent forgetfulness.“ Humphries, M. L.: Michel Foucault on Writing and the Self in the Meditations of Marcus Aurelius and Confessions of St. Augustine, a.a.O., S. 130.
6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel
331
indem sie erstens ihrer Absicht nach eine angstfrei erlebte Zukunft sichern wollen und zweitens zum Teil die Vorstellungen zuknftigen bels zum Inhalt haben. Entscheidend jedoch ist, dass die Selbstbetrachtungen nicht als Ganzes als solche Sammlung von Lesefrchten verstanden werden kçnnen. Die beiden in ihnen enthaltenen Zitatensammlungen kçnnen als diese Art des Schreibens gelten, zudem die Kapitel, in denen Marc Aurel nachweisbar andere Texte paraphrasiert. Die berwiegende Anzahl an Kapiteln und vor allem das gesamte erste Buch jedoch kçnnen nicht als diese Art des Schreibens verstanden werden, sondern dienen umfassenderen und vielfltigeren Zwecken. In den Selbstbetrachtungen schreibt Marc Aurel also nicht nur vor ihm Gesagtes oder Geschriebenes ab, was, wie oben schon gezeigt wurde, sowohl an Form und Inhalten deutlich wird. Foucault verbindet das Schreiben mit zwei inhaltlichen Themenbereichen, nmlich der Schilderung der Gesundheit oder allgemein kçrperlichen Zustnden1412 und der Schilderung von Tagesablufen.1413 Darber hinaus diene ein solcher Bericht ber die Handlungen und Emotionen im Tagesverlauf der abendlichen Gewissenserforschung.1414 Interessanterweise hat Marc Aurel ber solche Themen geschrieben, jedoch nicht in den Selbstbetrachtungen. Der Briefwechsel mit Fronto bietet in der Tat lange Passagen, die den Briefen Senecas entsprechen.1415 Zu 1412 Siehe z. B. Sen. Ep. 78 (ferner 55 und 57). 1413 Siehe z. B. Sen. Ep. 83, 2 – 3. 1414 Siehe Sen. Ep. 83, 2 – 3 und Ira 3, 36, 3 – 3, 37 – 5. 1415 Ein Brief an Fronto enthlt folgende besonders einschlgige Passage (Ep. 1, 181): „Es geht uns gut. Ich habe wenig geschlafen wegen einer kleinen Erkltung, die sich aber beruhigt zu haben scheint. Darum habe ich die Zeit von der ersten bis zu dritten Nachtstunde teils mit der Lektre von Catos De agri cultura verbracht, teils mit Schreiben, wenn auch zum Glck weniger als gestern. Nachdem ich meinen Vater begrßt hatte, habe ich Wasser mit Honig bis zum Rachen aufgenommen und wieder ausgespuckt, um meiner Kehle Linderung zu verschaffen; ich sage nicht gurgeln, obwohl ich es nach Novius und anderen kçnnte. Nachdem ich meinen Rachen wiederhergestellt hatte, ging ich zu meinem Vater und nahm an seinem Opfer teil. Danach gingen wir essen. Und was meinst du, habe ich gegessen? Ein wenig Brot, whrend ich zusah, wie die anderen Austern, Zwiebeln und fette Sardinen verspeisten. Danach haben wir Trauben geerntet. Wir haben sehr geschwitzt und waren sehr laut … Um die sechste Stunde sind wir nach Hause gekommen. Ich habe ein wenig studiert, aber ohne rechten Erfolg. Danach habe ich mich lange mit meiner Schwiegermutter unterhalten, die auf dem Bett saß … Whrend wir uns unterhielten und darber stritten, wer von uns den anderen mehr liebe, ertçnte der Gong und kndigte an, dass mein Vater ins Bad gegangen war. So haben wir dann zu Abend gegessen, nachdem wir gebadet hatten, in der Kelterei.
332
6. Das Schreiben
Recht wird dies von Foucault in diesem Sinne interpretiert, weil der Briefwechsel viele der hier genannten Momente vereint: Ein Bericht ber die Ernhrung, den Kçrper und die Gesundheit, dann eine Schilderung des Tagesablaufes, die in einen abendlichen Rechenschaftsbericht mndet, und schließlich die Vermittlung dieser Inhalte und Absichten in einem schriftlichen Bericht an eine andere Person, so dass das Schreiben der eigenen Lebensfhrung zugute kommen soll. Dennoch sind diese Berichte zum einen keine Gewissenserforschung, wie Seneca sie empfiehlt, weil die dafr notwendigen ethischen Bewertungen der Handlungen ganz fehlen. Und zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die Selbstbetrachtungen nichts Vergleichbares bieten. Von Andeutungen ber das Alter und einen vielleicht bald bevorstehenden Tod abgesehen, finden sich keine Ausfhrungen ber den Gesundheitszustand des Autors. Insgesamt werden kçrperliche Vorgnge nur selten thematisiert, dann jedoch sehr allgemein und mit einem kynischen Tonfall oder einer nchternen, „natrlichen“ Betrachtungsweise. Desgleichen beschreibt Marc Aurel keine konkreten Handlungsablufe oder deren Zusammenhnge in Form eines Tagesablaufes. Eine Gewissensprfung darber findet nicht explizit statt. Allenfalls in einem ganz abstrakten Sinne kann von einer solchen Prfung die Rede sein. Die hufig vorkommenden Aufforderungen, seine Gedanken und Gefhle zu beobachten und zu kontrollieren, stellen eine Kognitivierung und Abstrahierung dar, weil sie nicht mehr die Handlungen, sondern die ihnen zugrunde liegenden Ansichten und Emotionen behandeln. Die Auseinandersetzung geschieht dann unter Heranziehung allgemeiner Urteile oder Schlsse, gelegentlich finden sich sogar Syllogismen.1416 Schließlich handelt es sich bei der Gewissensprfung, die Seneca fordert, um etwas, das abends fr den vorangegangen Tag retrospektiv vollzogen werden soll. Die Gedankenkontrolle bei Marc Aurel blickt selten Nein, wir haben nicht in der Kelterei gebadet, vielmehr haben wir dort gegessen, nachdem wir gebadet hatten, und mit großem Vergngen haben wir den Spßen der Dçrfler zugehçrt. Wieder zu Hause und bevor ich mich zum Schlafen auf die Seite drehe, bereite ich mein Tagwerk aus; ich lege Rechenschaft ab von meinem Tag vor meinem sßesten Lehrer, den ich noch strker zu lieben wnschte – auch wenn ich darber Gewicht verlçre…“ 1416 „Wo es mçglich ist zu leben, da kann man auch gut leben. Am Kaiserhof kann man leben. Also kann man am Kaiserhof auch gut leben.“ M. Aur. Med. 5, 16. Eine ausfhrliche Analyse vor dem Hintergrund moderner Kritiken gibt Dalfen, J.: „Wo man leben kann, kann man gut leben“. Ableitung und Begrndung ethischer Stze bei Marc Aurel und die Problematik von „Sein“ und „Sollen“, a.a.O.
6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel
333
zurck, sondern untersucht zum einen gerade aktuelle Vorstellungen und fordert zum anderen zweitens, dass dies permanent zu geschehen habe. Dies alles zeigt weniger, dass Foucaults Analysen generell unzutreffend sind; vielmehr macht es den besonderen Charakter der Selbstbetrachtungen deutlich. Fr das Schreiben bei Marc Aurel scheinen andere Momente ausschlaggebend zu sein.1417 Foucault hat ferner zwei Varianten der schriftlichen Meditation unterschieden. Eine Form ist linear, insofern das Lesen, Meditieren und Schreiben im Dienste einer bestimmten Praxis stehe, die den bungen folge. Die zweite Form ist strker an Senecas Forderung, beim Scheiben zugleich zu lesen („ut dum scribes, legas“1418) , orientiert und kann als Zirkel von Meditieren, Schreiben und Lesen aufgefasst werden.1419 Welche Form des Schreibens den Selbstbetrachtungen zugrunde liegt, ist nicht einfach zu entscheiden, da Marc Aurel sich nicht ausfhrlich und explizit ber die Bedeutung des Schreibens ußert. Ferner ist fraglich, ob Foucaults Unterscheidung sich ausschließende Varianten nennt, vollstndig ist und sich auf die Selbstbetrachtungen anwenden lsst. Als Ausgangspunkt kann eine kurze, aber wichtige und umstrittene Passage der Selbstbetrachtungen ber das Verhltnis von Lesen und Schreiben dienen, die zugleich ein weiteres Vergleichsmerkmal zu Seneca darstellt: Handle nicht mehr planlos. Denn du hast weder Gelegenheit, deine Notizchen zu lesen noch die Taten der alten Rçmer und Griechen und die Auszge aus ihren Schriften, die du dir fr dein Alter fortgelegt hast. Beeile dich also ohne schweres Gepck, gib die leeren Hoffnungen auf und hilf dir selbst, wenn dir etwas an dir liegt, solange es mçglich ist.1420
Die Passage hat Anlass zu Kontroversen gegeben, die sich vor allem um die Identifikation der Notizen1421 drehen. Meint Marc Aurel damit den Text, den wir als Selbstbetrachtungen kennen? 1417 Die Selbstbetrachtungen werden auch in den einschlgigen Schriften Foucaults nur selten thematisiert und wenn, unterscheidet er sie nicht von anderen Textformen wie dem Brief (siehe z. B. Foucault, M.: Die Hermeneutik des Subjekts, a.a.O., S. 193 – 215). 1418 Siehe nochmals Sen. Ep. 89, 23. 1419 Siehe Foucault, M.: ber sich selbst schreiben, a.a.O., S. 139 f. 1420 M. Aur. Med. 3, 14: Lgj´ti pkam_7 oute c±q t± rpolmgl²ti² sou l´kkeir !maci-
m¾sjeim oute t±r t_m !qwa¸ym Uyla¸ym ja· :kk¶mym pq²neir ja· t±r 1j t_m succqall²tym 1jkoc²r, $r eQr t¹ c/qar 2aut` !pet¸heso. speOde owm eQr t´kor ja· t±r jem±r 1kp¸dar !ve·r saut` bo¶hei, eU t¸ soi l´kei seautoO, 6yr 5nestim. 1421 Der Text verwendet ein Diminutiv (t± rpolmgl²ti² sou), also „deine Notizchen“.
334
6. Das Schreiben
Sicher ist zunchst, dass Marc Aurel hier angibt, sich Notiz(ch)en gemacht und eine Sammlung von Exzerpten angelegt zu haben. Zumindest dieses Sammelsurium scheint er geraume Zeit vor der Abfassung dieses Kapitels angelegt zu haben, da er angibt, dies fr sein Alter getan zu haben.1422 Diese beiden Texte wird Marc Aurel nicht mehr lesen. Dafr kçnnten zwei Grnde ausschlaggebend sein: Die vielfltigen Pflichten erlauben ihm nicht, fr die Lektre Zeit aufzubringen. Angesichts des fortgeschrittenen Alters und der Erwartung, nicht mehr lange zu leben, mçchte sich Marc Aurel auf Wichtigeres konzentrieren als auf die Lektre der genannten selbstverfassten Texte. Die Bemerkung, dass er nicht mehr umherirren mçchte, und die Metapher vom leichten Gepck legen nahe, dass er die Lektre als nicht notwendigen Ballast und als Ablenkung ansieht. Dem entspricht eine andere Bemerkung ber das Lesen am Lebensende. Nach der Nennung weniger lebensleitender Dogmen schreibt Marc Aurel: Diese Einsichten sollen dir gengen, wenn sie deine Grundberzeugungen sind. Befreie dich von deinem Hunger auf Bcher, damit du dein Leben nicht in Gram beschließt, sondern wahrhaft heiter und den Gçttern von Herzen dankbar.1423
Beide Kapitel dokumentieren, dass Marc Aurel sowohl gerne gelesen hat1424 (oder es sogar noch immer gerne tun wrde), Auszge aus Texten gesammelt und Notizen angelegt hat, die Lektre ihm nun aber nicht mehr wichtig ist. Diese Deutung prjudiziert keine Entscheidung darber, was mit den beiden im Kapitel 3, 14 erwhnten, von Marc Aurel selbst geschriebenen Texten gemeint ist. Die beiden Ausdrcke im Text, „Notizchen“ und „Auszge aus den Werken der Griechen und Rçmer“, sind so unspezifisch, dass eine Identifikation schwer fllt. Hinter den Auszgen aus den Werken der Griechen und Rçmer drfte sich eine Notizensammlung verbergen, in der Marc Aurel fr ihn wichtige Textstcke gesammelt hat. Es ist vermutet worden, dass es sich hierbei um eine Sammlung handelt, die Marc Aurel fr die Erziehung seines Sohnes 1422 Ob dies gleichermaßen fr die erwhnten Notizchen gilt, hngt davon ab, ob sich der Relativsatz („die du fr dein Alter fortgelegt hast“) ebenfalls auf die Notizchen bezieht. 1423 M. Aur. Med. 2, 3. 1424 Marc Aurel hat viel und gerne gelesen, wie auch anhand der Selbstbetrachtungen deutlich wird. Er erwhnt, dass Rusticus ihm sorgfltiges Lesen beigebracht hat (M. Aur. Med. 1, 7). Und aus dem Briefwechsel mit Fronto geht hevor, dass er bis 161 gerne gelesen und sich darber ausgetauscht hat (siehe Fronto Ep. 1, 138 und 301).
6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel
335
Commodus angelegt hat.1425 Indizien fr diese These lassen sich nicht anfhren. Das gilt ebenfalls fr die Vermutung, es handele sich bereits um Notizen, die er fr eine zirkulre Meditationsform bereitgestellt oder verwendet hat. Auch ob Marc Aurel auf diese Sammlung oder andere Quellen zurckgegriffen hat, um dann die Zitatensammlungen innerhalb der Selbstbetrachtungen anzulegen oder die vielen anderen Paraphrasen in den Text einfließen zu lassen, ist nicht sicher zu entscheiden. Interessanter ist die Frage, was fr ein Text sich hinter den „Notizchen“ verbirgt. In Bezug auf diese Bemerkung im Text ist zunchst angenommen worden, dass Marc Aurel damit den Text der Selbstbetrachtungen meint.1426 Der These ist widersprochen worden, wobei jedoch die Argumente fr oder gegen eine solche Identifizierung gleichermaßen spekulativ, wenn auch vielleicht mehr oder weniger plausibel sind. R. B. Rutherford spricht sich wie J. Dalfen, der allerdings keine Grnde anfhrt, dagegen aus: „If Marcus had the leisure to write more, he could presumably look back. The context suggests a more pleasurable pursuit.“1427 Gegen eine Identifizierung spricht zudem, dass Marc Aurel diese Notizen offenbar zeitlich vor den Selbstbetrachtungen verfasst hat und sich jetzt, im Alter, nicht diesen Schriften zuwendet, sondern eben die Selbstbetrachtungen schreibt. Die Formulierung: „Beeile dich also ohne schweres Gepck, gib die leeren Hoffnungen auf und hilf dir selbst“1428 legt erstens nahe, dass mit dem „schweren Gepck“ die Notizchen und Auszge als Ganzes gemeint sind und zweitens dass Marc Aurel nun das Schreiben der Selbstbetrachtungen als notwendig gewordene Selbsthilfe ansieht. Auch P. Hadot hat vorgeschlagen, die Notizchen nicht mit den Selbstbetrachtungen zu identifizieren. Doch auch seine Argumente sind nur schwer zu verifizieren. Das hat vor allem damit zu tun, dass Hypomnemata keine gut bestimmbare Textgattung sind. Wenn aber Hypomnemata eine 1425 Plutarch beschreibt (Cato Mai. 20) so etwas fr Cato. Farquharson nennt noch eine weitere, aber viel sptere Quelle bei Nicephorus (Angaben und Erluterung bei Farquharson, A. S. L.: The Meditations, a.a.O., Bd. 1, S. xx und 584, Bd. 2, S. 306). Weder fr noch gegen diese These lassen sich weitere Indizien anfhren. Vielleicht hat Marc Aurel seine Notizen- und Exzerptsammlung nicht nur fr die Erziehung seines Sohnes angelegt, sondern dann auch fr einige Kapitel der Selbstbetrachtungen verwandt. 1426 Siehe Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 3. 1427 Rutherford, R. B.: The Meditations, a.a.O., S. 29. Weder ist klar, warum Marc Aurels Befrchtung, wegen eines baldigen Todes in Zeitnot zu sein, ausschließt, dass es sich bei den Notizchen um die Selbstbetrachtungen handelt, noch ist plausibel, welche Aspekte des Kontextes Rutherford als Indiz anfhren mçchte. 1428 M. Aur. Med. 3, 14.
336
6. Das Schreiben
reine Sammlung von Lesefrchten sind1429 und der Memorierung dienen, dann drfen die Selbstbetrachtungen Unterschiede aufweisen oder eine besondere Form der Hypomnemata sein. Wenn man so weit gehen mçchte, von einer einheitlichen Literaturgattung zu sprechen, muss man konstatieren, dass die Selbstbetrachtungen als Ganzes1430 nur den aphoristischen Stil und die ungeordnete Makro-Struktur mit diesen Hypomnemata gemein haben. Es scheint in keinem Fall entscheidbar, ob Marc Aurel im problematischen Passus mit den „Notizchen“ den Text der Selbstbetrachtungen meint. Die Kapitel der Selbstbetrachtungen scheint Marc Aurel nicht vorrangig formuliert zu haben, um sie zu lesen. Gegen die Annahme, dass Marc Aurel die Kapitel schreiben und wieder lesen wollte bzw. dies getan hat, also dass die Selbstbetrachtungen die zirkulre Variante der schriftlichen Meditation, die Foucault beschreibt, dokumentieren, spricht, dass der Text außerordentlich viele Wiederholungen prsentiert, die zum Teil nur minimale sprachliche Variationen bieten. Selbst wenn Marc Aurel einzelne Kapitel wieder gelesen hat, hielt er es offensichtlich hufig fr notwendig, neue Kapitel mit identischem Inhalt in fast identischer Form zu schreiben. Dies erlaubt den Schluss, dass ihm das Formulieren wichtiger als das Lesen ist, weil es eine grçßere psychagogische Wirkung hat. 1429 In der Interpretation von Hadot scheint das so bei Aullus Gellius’ Attischen Nchten und den Notizen von Pamphila zu sein. Das Schreiben solcher Exzerptensammlungen unterscheidet sich im Allgemeinen von den Texten der hippokratischen rzte, weil letztere zwar durch das Schreiben Wissen erhalten wollten, dabei jedoch ber die individuelle Mnemofunktion die Archivierung von systematisiertem und mçglichst objektiviertem Wissen intendierten. Gerade letzteres ist bei den privaten Notizen spterer Zeit nicht der Fall, weswegen sich die spteren Hypomnemata auch formal in vielerlei Hinsicht von den Anfngen des Lehrbuchs unterscheiden. Ein Sonderfall drften auch die Notizen sein, die Plutarch erwhnt, als er Paccius schreibt. Diese Notizen haben De tranquilitate animi zur Vorbereitung gedient (siehe Van der Stockt, L.: Some Remarks on Two Plutarchean Introductions, in: ders. (Hg.): Plutarchea Lovaniensia. A Miscellany of Essays on Plutarch, Lovanii 1996, S. 265 – 272; ders.: A Plutarchan Hypomnema on Self-Love, in: AJPh 120 (1999), S. 575 – 599). Wenn sie nur ein Durchgangsstadium waren, unterscheiden sich auch diese Notizen Plutarchs von den Selbstbetrachtungen, zumindest dann, wenn man annimmt, dass die Selbstbetrachtungen keine Vorform fr eine Abhandlung des Kaisers sind. Gemein ist beiden Texten aber, dass wohl eine Verçffentlichung fr den Autor nicht vorrangig waren. Bei Plutarch, weil daraus ein anderer Text werden sollte, bei Marc Aurel aus Grnden der Selbstadressierung. 1430 Fr bestimmte Teile (die Zitatsammlungen) oder einzelne Kapitel gilt das nicht.
6.2 Zum Verhltnis von Lesen und Schreiben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel
337
Auch die meisten Kapitel nach dem ersten Buch kçnnen nicht als Niederschrift von Gelesenem oder Gehçrtem gelten. Vielmehr scheint Marc Aurel sich in vielen Kapiteln mit aktuellen drngenden Kognitionen oder Situationen auseinanderzusetzten. Dafr spricht, dass er hufig eine solche bestndige Selbstkontrolle der jeweils in der Seele vorhandenen Urteile und Vorstellungen fordert. Fr eine solche Auseinandersetzung mit aktuellen Kognitionen ist der Schreibakt viel geeigneter, weil sich der Schreibende dabei viel strker auf diese konzentrieren muss, als dies beim Lesen von in der Vergangenheit verfassten Texten der Fall ist. Das Formulieren, das Schreiben (hier womçglich Diktieren) ist somit vielleicht Teil der Selbsthilfe, die Marc Aurel im Kapitel 3, 14 erwhnt. Um diese Selbsthilfe durch das Schreiben zu kontrastieren, kann nun ein Schlaglicht auf Platons Schriftkritik im Phaidros geworfen werden. Deren Behandlung soll hier nur dazu dienen, die gerade erwhnten Aspekte zu unterstreichen: Und sollen wir sagen, dass wer vom Gerechten, Schçnen und Guten Erkenntnis besitzt, weniger verstndig als der Landmann verfahren werde mit seinem Samen? – Keineswegs wohl. – Nicht zum Ernst also wird er sie ins Wasser schreiben, mit Tinte sie durch das Rohr aussend, mit Worten, die doch unvermçgend sind, sich selbst durch Rede zu helfen, unvermçgend aber auch die Wahrheit hinreichend zu lehren? – Wohl nicht, wie zu vermuten. – Freilich nicht; sondern die Schriftgrtchen wird er nur des Spieles wegen, wie es scheint, besen und beschreiben. Wenn er aber schreibt, um fr sich selbst einen Vorrat von Erinnerungen zu sammeln auf das vergessliche Alter, wenn er es etwa erreicht, und fr Jeden, welcher derselben Spur nachgeht: so wird er sich freuen, wenn er sie zart und schçn gedeihen sieht; und wenn andere sich mit andern Spielen ergçtzen, bei Gastmahlen sich benetzend und was dem verwandt ist, dann wird jener statt dessen seine Reden spielend durchnehmen. – Ein gar herrliches, o Sokrates, nennst du neben den geringeren Spielen: das Spiel dessen, der von der Gerechtigkeit, und was du sonst erwhntest, dichtend mit Reden zu spielen weiß. – So ist es allerdings, Phaidros. Weit herrlicher aber, denke ich, ist der Ernst mit diesen Dingen, wenn jemand nach den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehçrige Seele dazu whlend, mit Einsicht Reden set und pflanzt, welche sich selbst und dem, der sie gepflanzt, zu helfen im Stande und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, vermittels dessen einige in diesen, andere in anderen Seelen gedeihend, eben dieses unsterblich zu erhalten vermçgen, und den, der sie besitzt, so glckselig machen, als einem Menschen nur mçglich ist.1431
Platons Position ist bemerkenswert, weil sie als Kontrast die Besonderheiten bei Seneca und vor allem bei Marc Aurel deutlicher macht. 1431 Pl. Phdr. 276c-277a.
338
6. Das Schreiben
Fr Platon ist Schreiben ein Spiel, zwar ein deutlich wertvolleres als andere Freizeitaktivitten, aber doch ein Spiel. Ernster und besser ist eine andere Beschftigung, die sich durch bestimmte Formen, Inhalte und Ziele auszeichnet: Die Beschftigung mit den ernsten Dingen ist zunchst eine nach den Vorschriften der dialektischen Kunst gefhrte Unterredung mit anderen, ein mndlicher Dialog, in dem Thesen geprft und verteidigt werden. Diese behandeln das Wissen vom Guten, Schçnen und Gerechten und zielen darauf ab, die am Dialog beteiligten Seelen besser, schçner, gerechter und so glcklich zu machen. Bemerkenswert ist, dass das Schreiben hier einerseits als Mnemotechnik und andererseits als etwas, das dem Vergngen im Alter dienen soll, beschrieben wird. Im Kapitel 3, 14 hatte Marc Aurel ebenfalls eine Sammlung erwhnt, die er fr die Verwendung im Alter geschrieben hatte. Es ist denkbar,1432 aber keineswegs sicher, dass Marc Aurel dies in Anlehnung an die Phaidros-Passage notiert hat. Selbst wenn er eine solche Referenz einkalkuliert hat, wird diese jedoch nicht so weit gehen, dass er hier ausschließlich paraphrasiert, so dass seine Bemerkung, er habe Schriften fr die Lektre im Alter kompiliert, ohne realen Hintergrund wre. Entscheidend aber ist, dass Marc Aurel die Position, die der Beschreibung der Inhalte und Ziele des ernsten und wertvolleren Gesprchs bei Platon zugrunde liegt, teilen wrde. Fr ihn ist das Schreiben der Selbstbetrachtungen aber nicht nur ein Spaß oder eine Gedankensttze. Platons Forderung, das Wissen vom Guten in der Seele keimen zu lassen, um diese zu verndern und glcklich zu machen, mçchte Marc Aurel entsprechen, indem er einen schriftlichen Selbstdialog fhrt. Solchen philosophischen Ambitionen schriftlich nachzugehen, scheint den platonischen Ausfhrungen zu widersprechen. Auch wer die Schriftkritik im Phaidros nicht als Hinweis auf eine esoterische und systematische Prinzipienlehre versteht, wird konzedieren, dass Platon der Schriftform eingeschrnkte Tauglichkeit fr philosophische Zwecke bescheinigt. So hat etwa Ernst Heitsch, der keineswegs als Anhnger der so genannten Tbinger Schule gelten kann, ber die Passage geurteilt: Der berzeugung Platons aber, dass die Schrift kein sicheres Instrument der Verstndigung und der Vermittlung von Erkenntnis ist, lag die Einsicht zu1432 Marc Aurel kannte Platons Dialoge gut, wie viele Zitate beweisen. Auf den Phaidros spielen vielleicht eine Reihe von Passagen an, in denen Marc Aurel, wie Phaidros 246eff., die Schau der Seele bei einem berhimmlischen Flug beschreibt (siehe z. B. M. Aur. Med. 9, 32 oder 11, 1).
6.3 Die Funktionen des Schreibens
339
grunde, dass die Sprache dem Menschen zwar ermçglicht, adressaten- und situationsgerecht zu sprechen, das jedoch genau die Mçglichkeit nur im Medium der Mndlichkeit und rein nur im Gesprch zu zweit, wo jeder der beiden Partner auf den anderen sofort reagieren kann, nicht aber im Schriftwerk zu verwirklichen ist.1433
Genau diese zentrale Forderung nach Adressaten- und Situationsangemessenheit kann das Schreiben bei Marc Aurel aber erfllen. Platons Kritik, so wie Heitsch sie schildert, bezieht sich auf einen Text, nicht auf das Schreiben selbst und keineswegs auf das Schreiben eines Selbstdialoges. Ein fertiger Text von einem Autor, der nicht mit dem Leser identisch ist, passt sich der Situation und dem Leser nicht an, aber derjenige, der schreibt, kann sich erstens auf die Situation beziehen, in der er schreibt oder fr die er schreibt. Und zweitens kann der Autor eines Selbstdialoges in einem besonderen Maße adressatengerecht schreiben, weil er nur fr sich selbst schreibt. Nur eine Funktion, die das Gesprch bei Platon hat, kann der schriftlich gefhrte Selbstdialog lediglich substituieren, und zwar das der gemeinsamen Prfung. Diese Funktion wird bei Marc Aurel jedoch internalisiert. Bei Epiktet hingegen ist eine strkere Anlehnung an die platonischsokratische Bedeutung des Elenchos deutlich, da bei ihm die Prfung von Begriffen ein strker betonter Teil der Psychagogik ist. Die Untersuchung des Zusammenhangs von Lesen und Schreiben fhrte zu weiteren Unterschieden zwischen Seneca und Epiktet auf der einen Seite und Marc Aurel auf der anderen. 6.3 Die Funktionen des Schreibens Welche Funktionen hat das Schreiben bzw. das Formulieren beim Diktat fr Marc Aurel? Foucaults Unterscheidung von zirkulrer und linearer Meditation kann hier nochmals verwandt werden. In Bezug auf die lineare Form, die Foucault nennt, ist fraglich, ob durch die Annahme einer Sukzession von Meditation, Schreiben und Praxis das Schreiben nicht unberechtigterweise von der Meditation und der Praxis getrennt wird. Fr einen bestimmten Typus von Kapiteln und Inhalten der Selbstbetrachtungen wird dies zu1433 Heitsch, E.: Platon und die Anfnge seines dialektischen Philosophierens, Gçttingen 2004, S. 10.
340
6. Das Schreiben
treffen, nmlich dort, wo Marc Aurel sich zu einem bestimmten Verhalten in Situationen auffordert, die von der Schreibsituation notwendig unterschieden sind, weil sie etwa den Umgang mit anderen Menschen betreffen. Hier ist das Schreiben eine bung, die auf etwas vorbereiten soll. In anderen Kapiteln aktualisiert das Schreiben jedoch etwas, und zwar, wenn Marc Aurel sich mit bestimmten Urteilen und Emotionen auseinandersetzt und sie nach stoisch-kognitivistischer Art bekmpft. Da das Schreiben jedoch noch weitere Funktionen, etwa die Selbstkonstitution, bernehmen kann, die von einer spteren Lektre des Geschriebenen unabhngig sind, ist der Frage nach den verschiedenen Funktionen des Schreibaktes hier gesondert nachzugehen. Abgesehen von kurzen Bemerkungen zum Verhltnis von Lesen und Schreiben liefern die Selbstbetrachtungen keinerlei Erçrterungen zur Funktion des Schreibens. Dass macht eine Interpretation besonders vage, aber nicht minder nçtig oder interessant. Denn es ist anzunehmen, dass fr Marc Aurel das Schreiben eine besondere Rolle gespielt hat. Diese Sonderfunktion des Schreibens, so darf initial vermutet werden, hat mit der grundlegenden Absicht, die im Text zum Ausdruck kommt, zu tun. Zugleich ist zu fragen, ob die Bedeutung, die dem Schreiben zukommt, hilft, die Form der Selbstbetrachtungen zu erklren. Als Ausgangspunkt ist letztmalig auf die Interpretation von Foucault zurckzukommen, schon weil sie bis dato die einzige einschlgige Auseinandersetzung ist: Schreiben ist Foucault zufolge von zentraler Bedeutung, weil es der Selbstkonstitution dient. Foucault hat eine These vorgestellt, die sich auf das Schreiben der bereits oben besprochenen sogenannten Hypomnemata bezieht, denn diese dienen dazu, „Gehçrtes und Gelesenes zu sammeln, und das zu einem Zweck, der nichts Geringeres ist als die Konstituierung des Selbst.“1434 Wie ausgerechnet das schreibende Sammeln von fremden Gedanken dem eigenen Selbst dienen kann, begrndet Foucault mit drei Argumenten: (i) Das Schreiben von Exzerpten hilft, die erregende Zerstreuung (stultitia) durch bermßiges Lesen zu verhindern, weil durch die Auswahl von wichtigen Textpassagen und deren Schreiben eine Konzentration auf das Wesentliche einhergeht. (ii) Durch das Schreiben wird Disparates ausgewhlt. Es besteht kein Zwang, bei einem Autor, einer Schul- oder Philosophietradition zu 1434 Foucault, M.: ber sich selbst schreiben, a.a.O., S. 141.
6.3 Die Funktionen des Schreibens
341
bleiben. Entscheidend ist, dass aus der Flut fremder Stze einige als besonders ntzlich ausgewhlt werden. (iii) Durch das Zusammenschreiben von fremden und verschiedenen Texten entsteht durch Subjektivierung eine neue Einheit.1435 Grundstzlich ist gegen Foucaults Thesen, insbesondere (iii), eingewandt worden, dass die Rede von einer „Subjektivierung“, allgemein von „Technologien des Selbst“, einer „sthetik der Existenz“, „Hermeneutik des Subjekts“ oder „Kultur des Ichs“ missverstndlich oder irrefhrend ist. Die Kritik richtet sich zum einen gegen die Vorstellung, das Schreiben diene einer Gestaltung der eigenen Person nach subjektiven oder beliebigen Maßstben. Zum anderen wird geltend gemacht, es handele sich viel weniger um eine Auseinandersetzung im Sinne einer Konzentration auf das Ich, sondern um eine berwindung der eigenen Grenzen, ein „ber-seineeigenen Grenzen-Hinaus-gehen“.1436 Gerade am grundlegendsten formalen Aspekt der Selbstbetrachtungen, der Textualitt bzw. der Tatsache, dass Marc Aurel geschrieben hat, wird die Verbindung der formalen zu den inhaltlichen Aspekten abermals und in einem besonderen Ausmaß deutlich. Die Bedeutung des Schreibens betrifft die Frage nach der Selbstkonzeption, die Marc Aurel beim Schreiben der Selbstbetrachtungen nicht nur zugrunde legt, sondern versucht, praktisch umzusetzen. Sind „Technologien des Selbst“ keine zu beliebigen Zwecken zu gebrauchenden Instrumente, sondern haben sie einen festen inhaltlichen, funktionalen und teleologischen Bezugspunkt? Die Rede von einer „sthetik“ der Existenz oder des Selbst wecke die falsche Assoziation, Schçnheit des Selbst oder des Lebens ließe sich unabhngig von seiner 1435 Foucault verweist zu recht auf Sen. Ep. 84, 6 – 11: „wir mssen diese Bienen nachahmen und, was immer wir uns aus verschiedener Lektre zusammengetragen haben, trennen – besser nmlich lsst es sich gesondert aufbewahren –, sodann Sorgfalt sowie Einfallsreichtum unseres Verstandes anwenden und in einen einzigen Geschmack jene verschiedenartigen Lesefrchte zusammenfließen lassen; dadurch wird es – auch wenn deutlich ist, woher es stammt – dennoch offenkundig etwas anderes sein als das, woher es genommen ist. … ‘Verdauen‘ wir es: sonst geht es nur in unser Gedchtnis ber, nicht in unser Wesen … machen wir es zu unserem Eigentum, damit eine Art von Einheit entstehe aus der Vielheit… Ich meine, bisweilen kann man es berhaupt nicht erkennen, wenn ein Mann von bedeutendem Geist allem, was er einem beliebigen Vorbild entnommen hat, seinen gestalterischen Willen aufprgt, so dass es in eine hçhere Einheit bergeht … ‘Wie,‘ sagst du, ‘kann das erreicht werden?‘ Durch die bestndige Anstrengung.“ 1436 So P. Hadot, bei dem die genannten Kritiken zu finden sind (siehe sein Nachwort „Ein unvollendetes Gesprch mit Michel Foucault“ in: Philosophie als Lebensform, a.a.O., S. 177 – 181, hier: S. 178 f.).
342
6. Das Schreiben
Gutheit bestimmen oder aktualisieren. Daher msste eher von einer Ethik der Existenz die Rede sein, wobei deren Fundierung in Natur, Kosmos und Wissen zu betonen ist. Das Subjekt konstituiert sich, indem es versucht, durch Wissen objektiver zu werden. Die gerade genannten Grundlagen und Ziele werden im nchsten Hauptkapitel zu untersuchen sein.1437 Foucaults Analyse ist dennoch wertvoll. Denn es ist zu fragen, welche genannten Aspekte des Schreibprozesses auch beim Abfassen der Selbstbetrachtungen, die Foucault in diesem Kontext gar nicht erwhnt, eine Rolle gespielt haben drften. Dabei ist fraglich, ob bei Marc Aurel nicht viele Kapitel weitergehende Bedeutungen des Schreibens offenbaren. Dies wrde dann eine weitere Besonderheit der Selbstbetrachtungen ausmachen. Ad (i) Schreiben und Konzentration. Die Dringlichkeit, sich auf Wesentliches zu konzentrieren, wird von Marc Aurel mehrfach betont. Das Schreiben erfllt diesbezglich eine Reihe von Funktionen. Zunchst geht es Marc Aurel um Selbsthilfe.1438 Zum anderen verbindet sich mit der Konzentration ein Rckzug.1439 Das Schreiben gewhrleistet beides und verbindet es, und zwar in verschiedenen Hinsichten: Wer schreibt, zieht sich in der Regel von anderen Menschen zurck, so dass bereits die ußerlichen Erfordernisse, die mit dem Schreiben verbunden sind, dem Zweck dienen. Und wer nur fr sich selbst schreibt, konzentriert sich ganz auf sich, weil er auch beim Schreiben keinen anderen Adressaten be1437 Foucault wird man zugutehalten mssen, dass er nirgendwo ausdrcklich angibt, die antiken Autoren wrden fr einen beliebigen Einsatz der Techniken der Selbstkonstitution pldieren. Andererseits interessiert sich Foucault ausschließlich fr diese Verfahren und selbstbezgliche Praktiken, ihre Ausbung und Gestaltung. Die metaphysischen, ontologischen und physiologischen Grundlagen und auch die Zielbestimmungen der Selbstsorge behandelt er dabei fast gar nicht. Dennoch trifft Hadots Kritik wahrscheinlich mehr einige von Foucaults Interpreten als ihn selber, so z. B. P. Veyne: Le dernier Foucault et sa morale, in: Critique 471 – 472 (1986), S. 935 – 948, hier: S. 939. Siehe ferner die Debatte in Veyne, P.: Seneca: The Life of a Stoic, New York 2003 und Inwood, B.: Seneca, der Erfinder des Selbst?, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy, a.a.O., S. 273 – 296, hier: S. 273 – 6. 1438 Siehe nochmals das Kapitel M. Aur. Med. 3, 14: „Handle nicht mehr planlos. Denn du hast weder Gelegenheit, deine Notizen zu lesen noch die Taten der alten Rçmer und Griechen und die Auszge aus ihren Schriften, die du dir fr dein Alter fortgelegt hast. Beeile dich also ohne schweres Gepck, gib die leeren Hoffnungen auf und hilf dir selbst, wenn dir etwas an dir liegt, solange es mçglich ist.“ 1439 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 3.
6.3 Die Funktionen des Schreibens
343
rcksichtigen muss. Mit der Konzentration verbindet Marc Aurel auch Inhalte, etwa die Konzentration auf das Hegemonikon, die Auseinandersetzung mit eigenen Vorstellungen und Urteilen bzw. die Orientierung an bestimmten und wenigen Wahrheiten. Die Schreibsituation scheint besonderes geeignet zu sein, eine Konzentration auf wenige Grundstze zu bewirken. Erstens weil sie, wie gerade erwhnt, schon ußerlich einen Rckzug von dem Treiben erfordert, das die Befolgung der Grundstze erschwert: Theater, Krieg, Leidenschaft, Erstarrung, Knechtschaft werden dir tglich jene heiligen Grundstze verdrngen, die du dir, ohne naturphilosophisch gebildet zu sein, vor Augen stellst und wieder fahren lsst. Es ist nun aber notwendig, alles so zu sehen, dass einerseits das, was durch die Umstnde bedingt ist, vollzogen und andererseits die philosophische Reflexion praktiziert wird und dass aus dem Wissen um die einzelnen Dinge erwachsende Selbstbewusstsein im Stillen, aber nicht versteckt erhalten bleibt.1440
Zweitens weil Schreiben eine Mnemotechnik ist, die hilft, die entscheidenden Lehrstze abrufbar im Gedchtnis zu behalten. Diese Konzentration wird durch das Schreiben also einerseits vorbereitet, weil es hilft, etwas fr eine andere Situation Wichtiges im Gedchtnis zu behalten. Zum anderen aktualisiert sich die Konzentration durch das Schreiben, weil der Schreibprozess einen Rckzug auf die eigenen Seelenvermçgen darstellt. Ad (ii) Schreiben fremder Gedanken. Sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte machen deutlich, dass Marc Aurel mit Disparatem und Fremdem umgeht. Foucaults These unterliegt jedoch einer mehrfachen Beschrnkung. Foucault geht (a) davon aus, dass nur fremde Texte geschrieben werden und dabei (b) nur zitiert oder – allenfalls geringfgig verndert – paraphrasiert wird. Die Selbstbetrachtungen enthalten, wie besprochen, solche Kapitel und sogar zwei ganze Reihen solcher Exzerpte. Paraphrasen und Anspielungen auf andere Literatur, so weit sie heute aufgrund der Quellenkenntnis erkennbar sind, sind jedoch oft eigenstndig umgearbeitet und in eigene Stze eingearbeitet oder auf die eigene Situation bezogen. Solche Kapitel, die durch den Umgang mit fremdem Material bestimmt sind, machen jedoch nicht einmal die Hlfte der Selbstbetrachtungen aus.1441 1440 M. Aur. Med. 10, 9. 1441 Auch wenn Gegenteiliges vermutet wird, ist ein Nachweis, dass Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen ausschließlich bei anderen Gelesenes oder Gehçrtes nieder-
344
6. Das Schreiben
Auffllig ist vor allem, dass Foucault sich (c) nicht zum Umgang mit Disparatem in formaler Hinsicht ußert. Gerade hier liegen die Besonderheiten der Selbstbetrachtungen. Die gesamten bisherigen Ausfhrungen haben versucht zu zeigen, dass Marc Aurel eine Vielzahl von literarischen Gattungen und stilistischen Formen zu einer neuen und eigenen Einheit geformt hat. Diese Einheit konstituiert sich jedoch weniger durch ußerliche bereinstimmungen oder Entsprechungen. Dafr bestehen zu große formale Unterschiede zwischen dem ersten Buch und den restlichen Bchern sowie zwischen den einzelnen Kapiteln, was ihre Lnge und ihre weiteren formalen Aspekte wie Stil, Satzbau und Wortwahl angeht. Die Selbstbetrachtungen sind aber eine Einheit durch den Umstand, dass Marc Aurel sie mit einer bestimmten Absicht geschrieben hat. Die diversen formalen Aspekte konnten im Rckgriff auf eine Absicht und ein Philosophieverstndnis interpretiert werden. Diese Einheit von formal Unterschiedlichem ist im Falle der Selbstbetrachtungen viel aufflliger als bei den anderen erwhnten Texten, denn die Werke Senecas oder die anderen Notizen, die Hadot oder Foucault erwhnen, zeichnen sich durch eine viel grçßere formale Homogenitt aus. Auch dass Foucault die Bedeutung des Schreibens ber Exzerptensammlungen hinaus vor allem an Briefen festmacht, verdeutlicht nochmals die Sonderstellung der Selbstbetrachtungen, da fr denjenigen, der einen Brief schreibt, der Adressat und damit die Interpersonalitt schon beim Schreiben selbst wichtig ist. Ad (iii) Schreiben und Selbstkonstituition. Problematisch an Foucaults These, dass das Schreiben der Selbstkonstitution dient, ist nicht nur, dass er sich auf die Subjektivierung von fremden Stzen durch das schreibende Sammeln in einem Notizbuch und in Briefen konzentriert, sondern dass eine grundstzliche Erçrterung fehlt, wie gerade das Schreiben – etwa im Unterschied zum Gesprch – als Technik der Subjektivierung oder Selbstkonstitution fungiert. Bemerkenswert ist vor allem der Umstand, dass Foucault das Sammeln fremder Stze fr einen Beitrag zur Selbstkonstitution hlt. Das Ich soll sich die fremden Stze einverleiben und zu etwas eigenem werden lassen. Gemeint ist wohl eine kognitive Umstrukturierung durch den schreibenden geschrieben hat, noch nicht erbracht worden. Die Thesen Dalfens (Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, a.a.O., S. 217 f.) wurden und werden durch neuere Forschungen bereits hinreichend widerlegt.
6.4 Der schriftlich gefhrte Selbstdialog
345
Umgang mit dem Gedankengut von anderen, das aber durch den Schreiber selektiert, geordnet und kompiliert wird. Das findet sich natrlich reichlich in den Selbstbetrachtungen, was die Vermutung nahe legt, das Schreiben verstrke oder intensiviere die Auseinandersetzung mit den geschriebenen Gedanken, so dass diese die Psyche strker prgen. Gerade fr die Mnemofunktion drfte dies ausschlaggebend sein. Foucaults einschlgiger Aufsatz kndigt an, das Schreiben ber sich zu behandeln, aber im Falle der von ihm untersuchten Hypomnemata schreibt jemand nur fr sich. Ein Schreiben ber sich findet Foucault nur in Briefen. Die von ihm untersuchte Korrespondenz unterscheidet sich von den Selbstbetrachtungen dabei in wesentlichen Hinsichten, weil in den Briefen vom Tagesablauf oder von der Gesundheit berichtet wird und dies ferner durch die Adressierung dem Blick anderer ausgesetzt wird und so seinen psychagogischen Effekt erhlt. So hilfreich Foucaults Thesen auch sind, sie liefern keine Erklrung fr die Mehrzahl der Kapitel und fr grundlegende Charakteristika der Selbstbetrachtungen, etwa den Umstand, dass es sich um eine Autobiographie1442 ganz besonderer Art handelt oder die Tatsache, dass Marc Aurels Text vorrangig selbstadressiert und weitgehend selbstdialogisch ist. Eine Erklrung der Bedeutung des Schreibens muss demnach diese beiden Aspekte, das Autobiographische und den Selbstdialog, mit einbeziehen, um den Selbstbetrachtungen als Ganzes gerecht zu werden. Marc Aurel schreibt ber sich selbst, denn er reflektiert seine Lebensfhrung. Diese Auseinandersetzung mit sich selbst als Hauptgegenstand des Schreibens vollzieht sich jedoch weniger narrativ als argumentativ bzw. adhortativ. Die Klarheit, die Marc Aurel sich ber sein Leben verschaffen mçchte, ist weniger rckblickend, sondern auf die Gegenwart und die Zukunft bezogen. Dass er Einfluss nehmen mçchte, machen die vielen Aufforderungen deutlich. 6.4 Der schriftlich gefhrte Selbstdialog Mit Selbstdialogen verfolgt Marc Aurel, wie gezeigt,1443 verschiedene Zwecke.1444 Das Schreiben, so darf vermutet werden, verstrkt einige der Funktion. 1442 Siehe rckblickend Kap. I 2. 1443 Siehe Kap. I 4. 1444 Kurz zusammengefasst:
346
6. Das Schreiben
Nicht jeder, der schreibt, schreibt einen Selbstdialog. Aber das Verbalisieren beim Abfassen eines Textes untersttzt bereits einige Funktionen, die Marc Aurel mit dem Selbstdialog verbindet. Wer schreibt, zieht sich dafr in der Regel von anderen zurck und ist fr diesen Zeitraum mit seinen Gedanken alleine. Schon die ußeren Bedingungen und die der ußeren Anachorese entsprechen einander besonders gut. Schreiben fçrdert daher einen Selbstdialog des Autors. Wenn Marc Aurel nicht vorrangig geschrieben hat, um den Text an andere weiterzugeben und zu publizieren, und wenn er vorrangig geschrieben hat, um auf sich selbst einzuwirken, scheint das Schreiben als gewhlte Technik seine Ziele zu untersttzen. Denn beim Abfassen eines vorrangig selbstadressierten Textes braucht Marc Aurel an keine Leserschaft zu denken. Dass er als Schreibender auch Adressat des Textes ist, untersttzt ebenfalls die Konzentration, die Anachorese. Dass Marc Aurel vor allem einen Selbstdialog schreibt, der zunchst nicht fr die Augen anderer bestimmt ist, zeigt, dass ihm die Schriftform des Selbstdialoges als solche wichtig ist. (a) Selbstdialoge sind eine prophylaktische bung, weil sie der Vorbereitung, Anmahnung und Gewhrleistung einer spteren Einstellung, einer emotionalen Reaktion oder eines bestimmten Verhaltens in einer zuknftigen Situation dienen (siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 9). (b) Selbstdialoge werden als Mnemotechnik verwandt, um zentrale Lehrstze besser zu verinnerlichen (siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 46; 7, 64). (c) Selbstdialoge stellen eine aktuelle Therapie dar, weil Stze ein schnell wirksames Pharmakon sein kçnnen. (d) Selbstdialoge sind das vorrangige Mittel der Selbstanalyse, und zwar der Selbstprfung bzw. -befragung (siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 31) und der Analyse der eigenen synthetischen Natur (siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 13). (e) Selbstdialoge dienen der praktischen Entscheidungsfindung. (f ) Durch Selbstdialoge wird die innere Ordnung gestaltet, weil sie ein Mittel sind, das Verhltnis der zentralen Aspekte des Hegemonikons (siehe z. B. M. Aur. Med. 10, 39) einerseits und der Phantasia (siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 29) und Hypolepsis (siehe z. B. M. Aur. Med. 12, 25) andererseits zu ordnen. Diese Kontrolle und weitgehende Zurckdrngung wird weniger als Vorbereitung gefordert, sondern vielmehr als bestndige Anwendung (siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 8). (g) Selbstdialoge dienen auch dem kreativen Einsatz der Vorstellungen im Rahmen von Imaginationsbungen (siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 19; 4, 32; 4, 47; 6, 47; 7, 58). (h) Der Selbstdialog dient der ußeren und inneren Anachorese weitaus effektiver als der interpersonale Dialog: dem Rckzug von anderen, d. h. der Konzentration auf sich selbst, und dann der ausschließlichen Konzentration auf das Hegemonikon sowie bestimmte dieses bestimmende Grundstze.
6.4 Der schriftlich gefhrte Selbstdialog
347
Denn die Formulierung und Notierung seiner Gedanken scheint auch oder vielleicht sogar vor allem einen anderen Zweck zu haben, als seine Gedanken an andere weiterzureichen. Auf das Schreiben als wichtige Technik mçchte er demnach nicht verzichten. Marc Aurel erwhnt den interpersonalen Dialog nicht. Das Schreiben an sich und fr sich unternimmt er auch nicht als Substitut fr einen solchen Dialog mit anderen. Es hat einen eigenstndigen Wert. Im Folgenden sollen abschließend einige berlegungen angestellt werden, die das Verhltnis von Selbstdialog und Schreiben betreffen. Damit wird eine berlegung aufgegriffen, die sich auch aus dem Vergleich der Texte Senecas und Arrians mit den Selbstbetrachtungen ergeben hatte:1445 Es konnte gezeigt werden, dass die These, Senecas Briefe oder Epiktets Diatriben seien in some way der literarische Ausdruck einer meditativen Praxis, also eine Einheit von Textabfassung und Selbstdialog fr eben Seneca und Epiktet unzutreffend ist.1446 Aber im Falle Marc Aurel scheint diese Einheit gegeben zu sein. In den Selbstbetrachtungen aktualisiert Marc Aurel eine Forderung, die allerdings schon bei Epiktet greifbar wird.1447 Die Verbindung von Selbstdialog und Schreiben scheint daher kein rein modernes Interpretament, sondern eine anike Idee zu sein, die besonders bei Marc Aurel greifbar wird. Auch fr das Verhltnis von Schreiben und Selbstdialog kommt es nicht darauf an, ob Marc Aurel mit eigener Hand geschrieben hat oder diktiert hat. Entscheidend ist, dass er selber formuliert und damit verbalisiert hat. Von Selbstdialog kann ferner auch dann gesprochen werden, wenn er diktiert hat, also ein Schreiber anwesend war. Denn offenbar kommt der in den Formulierungen nicht vor. Der Text bleibt auch wenn ein Schreiber bei seiner Formulierung anwesend gewesen wre, ein selbstadressierter Text, ein Selbstdialog. Ein besonderer Fall liegt vor, wenn der Autor eines Textes, wie Marc Aurel, nicht nur durch den Schreibakt und die Adressierung des Textes eine Auseinandersetzung mit sich selbst fhrt, sondern wenn er im Text, den er schreibt, explizit einen Selbstdialog fhrt. Dazu gehçren zunchst eine Reihe von formalen Eigenschaften, etwa die dialogische Struktur vieler Kapitel und die direkten Selbstansprachen. Damit verbindet sich eine Reihe von Inhalten, die der Anachorese dienen. 1445 Siehe den Schlussteil des Kap. I 4.1. 1446 So generell Newman, R. J.: Cotidie Meditare, a.a.O. und Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O. 1447 Siehe nochmals Arr. Epict. diss. 2, 1, 32 – 33 und 3, 5, 11.
348
6. Das Schreiben
Die Mahnung, bestimmte zentrale Lehrstze bestndig im Gedchtnis und so fr bestimmte Anwendungskontexte parat zu haben, wird bereits dadurch umgesetzt, dass diese Mahnung und die betreffenden Stze aufgeschrieben werden. Es ist ein bekanntes Phnomen, dass verbalisierte und formulierte Stze besser erinnert werden kçnnen. Noch weitaus gewichtiger ist die Bedeutung des Schreibens eines Selbstdialoges fr die praktische Entscheidungsfindung, die Selbsterkenntnis. Denn im Falle dieser Funktionen spielt die Verbalisierung entsprechender Vorgnge eine entscheidende Rolle. Fr Marc Aurel als Stoiker liegt es nahe, sich im Selbstdialog auf die Urteile zu konzentrieren, die im Rahmen der Motivations- und Handlungserklrung zentral sind. Vieles spricht dafr,1448 dass diese Urteile den mentalen Vorgngen entsprechen, die bei Entscheidungen tatschlich eine Rolle spielen und z. T. bewusst sind. Je mehr diese Vorgnge der berlegungen und des praktischen Schließens konzeptualisiert und versprachlicht sind, desto mehr hneln sie den tatschlichen mentalen Prozessen.1449 Demzufolge wre das Schreiben ein Prozess, der hilft, sich zu motivieren und praktische Entscheidungen zu treffen, indem die zugrunde liegenden Prozesse verbalisiert und so bewusst werden. Der Selbstdialog ist ein ganz besonderer psychologischer Prozess, weil hier ein interner Dialog zwischen verschiedenen kommunikationsfhigen Seelenvermçgen gefhrt wird. Das Schreiben eines Selbstdialoges steht mit der Bewusstwerdung in einem viel engeren Verhltnis als der interpersonale Dialog.1450 Dass Marc Aurel den Selbstdialog verbalisiert und verschriftlicht hat, zeigt sein bewusstes Bemhen um diese Prozesse. Die mit dem Selbstdialog verknpfte Selbstkonstitution wird damit zu einer bewusst verwandten Technik. Ein formulierter und verschriftlicher Selbstdialog kann mehr zur Selbsterkenntnis und -wandlung beitragen als die von Foucault erwhnten Hypomnemata, also die Notizbcher oder die Kapitel der Selbstbetrachtungen, in denen fremde Stze kompiliert werden. Denn wer (ber) etwas Fremdes schreibt, muss es sich erst aneignen, wer einen Selbstdialog fhrt, setzt sich mit eigenen Positionen auseinander, macht interne mentale Prozesse bewusst und beeinflusst sie so zugleich. 1448 Etwa Davidson, D.: Rational Animals, a.a.O. 1449 Besonders eindeutig in Form des praktischen Syllogismus als einer hoch schematisierten Form der berlegung und Entscheidung. 1450 Gill hat im Anschluss an Dennett dafr pldiert, dass die innerpsychischen Kommunikationsvorgnge nicht notwendig bewusst ablaufen. Erst die Verbalisierung fhre dazu (siehe Kap. I 4.2 – 4.3).
6.4 Der schriftlich gefhrte Selbstdialog
349
Die Selbstsorge kommt bei Marc Aurel zu einer besonders konsequenten und effektiven Form: dem verschriftlichten Selbstdialog. Die Funktionen des Schreibens erklren den eigentmlichen Charakter des Werkes. Es ist nicht ausreichend, auf Marc Aurels praktische Zielsetzung zu verweisen, um die formalen Charakteristika des Textes, die Vielzahl der Gattungselemente, Stile, die Wiederholungen usw., zu erklren. Denn eine solche Erklrung setzt voraus, dass Marc Aurel schreibt ohne anzugeben, warum und wozu. Eine solche Grundannahme ist – etwa mit Blick auf Epiktet – keineswegs trivial, sie bedarf einer gesonderten Erluterung. Bei Epiktet (und zum Teil auch bei Seneca) ist es alles andere als selbstverstndlich, dass die Praxis des Philosophen einen durch Verbalisierung bewusst gefhrten und schriftlich zu fhrenden Selbstdialog erfordert. Die Beziehung zwischen dem Schreiben und den Inhalten sowie der Form des Textes war daher eingehender zu behandeln. Die formalen Eigenheiten des Textes und seine Einheit lassen sich angemessener verstehen, wenn der Text als Ausdruck einer Praxis verstanden wird. Die Funktionen der selbstdialogischen Verbalisierung sind daher das entscheidende und erklrende Bindeglied zwischen den Absichten, die hinter dem Text stehen, und seiner Form. Eine Vielzahl von Autoren vor Foucault hat – vçllig zu Recht – darauf hingewiesen, dass die philosophischen Ambitionen mit der Textform in Verbindung stehen bzw. dass die Textform durchaus als gelungene Aktualisierung der philosophischen Praxis zu verstehen ist. Dennoch haben diese Autoren die Bedeutung des Schreibens fr Marc Aurel nicht eingehend thematisiert.1451 Letztlich sind einer solchen Erçrterung im antiken Kontext enge Grenzen gesetzt, da sich die antiken Autoren, einschließlich Marc Aurel, kaum zu der Bedeutung des Schreibens selbst geußert haben. Die Quellenlage ist daher so, dass die hier vorgenommenen Funktionszuschreibungen nicht vollumfnglich als Ansicht der antiken Autoren selbst nachgewiesen werden kçnnen. Aber Marc Aurel hat offenbar mit dem Schreiben besondere Funktionen verknpft und auch daher einen besondern Text verfasst. 1451 Siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 48 ff. Vor Hadot und Foucault bereits Casaubon, M.: Prolegomena, in: Marci Antonini Imperatoris De Seipso et Ad Seipsum libri XII, London 1643 und Gataker, Th.: Praeloquium, in: Marci Antonini Imperatoris de rebus sui, sive de eis quae ad se pertinere censebat libri XII, commentario perpetuo explicati atque illustrati studio Thomae Gatakeri, Cambridge 1652.
Teil II Themen – Begriffe – Argumente
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
353
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete Die Darstellung und Interpretation von philosophischen Texten stellen eine methodische Herausforderung dar,1 zu der bereits die Fragen nach der Auswahl und Einteilung von Themen und Argumenten sowie die Reihenfolge ihrer Behandlung bei der Darstellung gehçren. Die Mehrzahl der philosophischen Texte behandelt Themen bzw. argumentiert in einer zum Teil explizit begrndeten Sequenz, so dass von einer Gesamtstruktur des Textes oder sogar einem Gesamtargument gesprochen werden kann. Die Struktur der Darstellung der Interpretation steht daher in der Regel in einem mehr oder minder engen Verhltnis zu der des zu interpretierenden Textes.2 Das gilt vor allem dann, wenn ein Text interpretiert werden soll. Besonders ausgeprgt ist die Korrespondenz im Falle eines fortlaufenden Kommentars. Diese enge strukturelle Anlehnung der Darstellung an den zu interpretierenden Text ist in vielen Fllen zugleich Ausdruck einer bestimmten Intention, etwa den Text mçglichst umfassend zu kommentieren. Weniger ausgeprgt wird die Korrespondenz der Struktur der Darstellung mit der des Textes sein, wenn es dem Interpreten nur um einen Aspekt geht. Dabei kann es sich um ein Teilargument oder ein isolierbares Thema handeln, das im untersuchten Text explizit vorhanden ist, oder aber um eine Facette des Textes, die der Interpret dem Text abgewinnen kann, weil er einen Aspekt des Textes untersucht, den dessen Autor nicht explizit behandelt. Dabei kçnnen Fragen im Licht spterer Entwicklung eine große Rolle spielen. berlegungen, die die Anlage der Darstellung betreffen, sind im Falle der Selbstbetrachtungen besonders dringlich, denn der Text ist erstens weitgehend strukturlos. Das betrifft teilweise einzelne Kapitel, vor allem die Bcher und den Gesamtaufbau. Neben einer argumentativen Makro1
2
Generell werden bei der Erforschung der antiken Philosophie methodische berlegungen zu selten angestellt. Das ist bedauerlich, denn zum logon didonai des Interpreten gehçrt nicht nur das Bereitstellen von Argumenten fr seine Thesen, sondern gleichermaßen eine Explanation seines Vorgehens, d. h. wie er zu seinen Argumenten kommt und warum er sie so prsentiert (siehe van Ackeren, M./ Mller, J.: Die Erforschung der antiken Philosophie als methodisches Problem, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.).: Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen, a.a.O., S. 7 – 18, hier: S. 7 f.). Eine Begrndung fr die Anordnung von Argumenten sowie die dem Gesamtziel entsprechende Strukturierung in Form von Kapiteln mit entsprechenden berschriften usw. gelten gerade im Bereich der verçffentlichten und damit adressierten Schriften als ein Qualittskriterium.
354
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
und Mikrostruktur fehlen formale Indikatoren, die als Anhaltspunkte fr eine Einteilung von Themen und Argumenten dienen kçnnten. Zweitens werden Themen wiederholt angesprochen. Dabei finden sich zum einen fast wortidentische Formulierungen und zum anderen scheint es Aussagen zu bestimmten Bereichen zu geben, die sich widersprechen. Wie lsst sich eine Darstellung des Inhaltes der Selbstbetrachtungen so strukturieren, dass diesem problematischen Befund Rechnung getragen wird? Zunchst scheidet eine fortlaufende Kommentierung aus, da diese dann, hnlich wie der Text, wiederholend verfahren msste. Diese und weitere methodische Probleme lassen sich gut an P. Hadots Versuch einer Gesamtinterpretation der Selbstbetrachtungen beleuchten. Hadot bestreitet nicht, dass die Selbstbetrachtungen Wiederholungen bieten. Er hlt sie insgesamt jedoch fr ußerst systematisch, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Die Thesen, die der Organisation seiner Interpretation zugrunde liegen, lassen sich wie folgt zusammenfassen: (i) Marc Aurels Philosophie ist der Sache nach mit der Epiktets identisch.3 (ii) Epiktets Philosophie ist systematisch, d. h. entsprechend der Dreiteilung der Philosophie gegliedert, so dass auch den Selbstbetrach-
3
„Durch Vermittlung des Epiktet hat Marc Aurel aus den reinsten Quellen des Stoizismus geschçpft, und unsere Darstellung des Stoizismus des Epiktet wird gleichzeitig eine erste Darstellung des Stoizismus’ Marc Aurels sein.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 126. Eine zweite Darstellung dieser Philosophie, die auch Eigenheiten in den Blick nimmt, liefert Hadot dann jedoch nicht. Die These ist nicht neu: Marc Aurel und Epiktet seien „completely at one on all philosophical questions“ behauptet bereits Farquharson, A. S. L.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 60 (siehe ebenso Long, G.: The Thoughts of the Emperor Marcus Aurelius Antoninus, London 1862, S. 35 f.; Bussel, F. W.: Marcus Aurelius and the Later Stoics, Edinburgh 1910, S. 120 f.; Matherson, P. E.: Epictetus: The discourses and the Manual, Oxford 1916, S. 13; Pohlenz, M.: Die Stoa, Bd. 1, Gçttingen 1948, S. 341; Russell, B.: History of Western Philosophy, London 1946, S. 283 f.). Vorsichtiger urteilt Arnold, E. V.: Roman Stoicism, Cambridge 1911, S. 119. Siehe auch die Studie von H. R. Neuenschwander (Mark Aurels Beziehung zu Seneca und Poseidonius, Bern 1951), die den Einfluss Poseidonios’ besonders betont. Siehe auch einen direkten Vergleich: Stanton, G. R.: The cosmopolitan ideas of Epictetus and Marcus Aurelius, a.a.O. Nicht zuletzt auf Grundlage neuerer intensiver Forschung zu Epiktet ließen sich mittlerweile einige Unterschiede ausmachen.
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
355
tungen, also den Themenfeldern in Form der sog. Hauptlehren (kephalaia) und Lehrstzen (dogmata) dieses System zugrunde liegt.4 (iii) Diese Lebensregeln von Epiktet bestimmen auch die Struktur des Textes von Marc Aurel.5 Alle drei Thesen sind problematisch. Ad (i). Schon weil die rçmische Stoa immer mehr in das Blickfeld der Forschung gert, werden auch hier Binnendifferenzierungen wnschenswert.6 Durch diese Grundannahme von Hadot wird eine zuknftige vergleichende Untersuchung der Philosophie von Epiktet und Marc Aurel nicht ermçglicht. Denn vor einem solchen Vergleich muss eine unabhngige Beschreibung des zu Vergleichenden vorliegen. Hadot setzt nicht nur einen solchen Vergleich voraus, sondern ein bestimmtes Ergebnis, nmlich die Identitt der Philosophie von Marc Aurel mit der Epiktets. Ad (ii). Fraglich ist bereits, ob Epiktet selbst ein philosophisches System als solches ausformulieren wollte, zumindest dokumentieren die von Arrian aufgezeichneten Lehrvortrge diesen Anspruch nicht, und die Aufzeichnungen selbst sind auch nicht durch entsprechende Merkmale gekennzeichnet.7 Hadot erkennt bei Marc Aurel ein System der drei Lebensregeln von Epiktet, aber diese Lebensregeln kommen im Text nur sehr selten gemeinsam vor. ber die Struktur der Themenfelder reflektiert Marc Aurel nicht hinreichend deutlich.8 Ferner behandelt Hadots Darstellung alle drei Lebensregeln gleichrangig. Sicher lassen sich alle Themenbereiche und Argumente Marc Aurels den drei Lebensregeln bei Epiktet (und weiter der stoischen Teilung der Philosophie) irgendwie zuordnen. Aber das ist nicht berraschend und daher nicht aussagekrftig. Einen stoischen Philosophen wird man immer nach stoischen Vorgaben 4 5 6 7 8
„Letztlich wird man gewahr, dass sich hinter der anscheinenden Unordnung der Ermahnungen an sich selbst ein ußerst strenges Begriffssystem entdecken lsst.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 78. „Wie die Darlegung der Dogmen ist auch die der Lebensregeln bei Marc Aurel stark gegliedert.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 73 (Hervorheb. M.v.A.; siehe vor allem die Tabellen auf S. 74). Vgl. Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., Kap. VI 1. Siehe hierzu Long, A. A.: Epictetus, a.a.O. Alle drei tauchen gemeinsam nur auf in M. Aur. Med. 4, 33; 7, 54; 8, 7 und 28; 9, 6 – 7; 11, 37. Seine Aussagen ber das Verhltnis im Sinne einer dahinter liegenden Systematik beschrnken sich im Wesentlichen darauf, die Einheit der Bereiche oder Teile der Philosophie zu betonen (z. B. M. Aur. Med. 5, 3).
356
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
und Maßstben verstehen kçnnen, also auch nach den damit einhergehenden grundstzlichen Einteilungen. Ein solches Vorgehen schrft allerdings nicht den Blick fr die Besonderheiten eines Textes und des darin zum Ausdruck kommenden Gedankens. Allenfalls kçnnte man Systematizitt in sehr einfachem Sinne konstatieren, da Marc Aurel und Epiktet wohl der Ansicht gewesen sein drften, dass ihre Aussagen zu bestimmten Themenfeldern miteinander im Einklang stehen. Eine solche Kohrenz der Themen und Argumente wird aber von Marc Aurel nicht beschrieben oder bei der Abfassung bercksichtigt, sie bildet vielmehr den Hintergrund. Die Unterscheidung von Kephalaia, Dogmen, Grunddogmen und Lebensregeln wird von Hadot nicht hinreichend transparent gemacht, zugleich aber geht er von einem systematischen Geflecht dieser Elemente aus. Der damit zum Ausdruck kommende explanatorische Reduktionismus verstellt sich selber den Blick fr die Akzentuierung bestimmter Themenfelder bei Marc Aurel, so zum Beispiel fr die Bedeutung der kosmisch fundierten, aber auch sozial bedeutsamen Beziehung von Teil und Ganzem und des damit verwandten und sehr einflussreichen Gedankens der Gemeinschaft. Auch kann Hadot das Fehlen einiger stoischer Philosophieteile nicht gut erklren. So drfte Epiktet in seiner Schule sehr wohl auch Logik und Dialektik unterrichtet haben. Arrians Aufzeichnungen, so wie sie uns erhalten sind, geben dies bestenfalls ansatzweise wieder. In Marc Aurels Selbstbetrachtungen fehlen z. B. logische Erçrterungen zu Schlussschemata vollstndig. Ad (iii). Hadot reduziert alles auf die drei Lebensregeln, die gleichsam „den Schlssel zu den Ermahnungen an sich selbst darstellen.“9 Auch wenn Marc Aurel bei der Abfassung ein philosophisches System vor dem geistigen Auge hatte, ist auffllig, dass die Form des Textes keinerlei entsprechende Spuren trgt. Wenn Marc Aurel so systematisch streng gedacht hat, wie Hadot annimmt, fehlt eine Erklrung fr den extrem ungeordneten Aufbau des gesamten Textes bzw. dieses Verhltnisses. Der Leser von Hadots Interpretation lernt einen streng systematischen Denker kennen. Vielleicht untersucht er die formalen Eigenschaften des Textes deswegen so 9
Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 109. Auffllig ist ferner, dass Hadot zwar von einem systematischen Bezug der Kephalaia, Dogmen usw. ausgeht, aber diesen nicht hinreichend transparent macht (siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 63 – 67).
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
357
wenig, weil fr ihn das „Dreierschema“ den Text strukturiert, also seine Beschreibung des philosophischen Systems nach Epiktet genau diese Analyse der Form ist. Dem Leser der Selbstbetrachtungen aber drngt sich der Eindruck der Unordnung auf. Hadot verwischt den Unterschied zwischen einem Text, dessen Autor gute Kenntnisse des stoischen Begriffssystems hatte, aber schrieb, wann oder worber es ihm nçtig schien einerseits, und einem systematisch geordneten Text andererseits. Dieser Unterschied zwischen einem systematisch fundierten Text und einem systematisch angelegten Text ist fein, aber wichtig. Dies gilt besonders fr die Frage nach der Zielsetzung und Bedeutung des Schreibens fr den Autor samt der formalen Mittel, die er dafr verwendet. Daher war der umfangreiche Teil zur Bedeutung der formalen Aspekte notwendig. Dennoch hat Hadot erstmalig die bereits von Misch geforderte10 strukturierte Darstellung geliefert, ist aber ber das Ziel hinausgeschossen,11 insofern seine Darstellung von der These der Systematizitt getragen wird. Im Folgenden wird eine andere Anordnung der Darstellung verfolgt. Zwei grundstzliche methodische berlegungen sind tragend: (i) In vielen antiken Texten finden sich Hinweise, die fr die Erschließung ihres Inhalts wichtig sind, weil sie direkt fr das Verfahren des eigenen Interpretiertwerdens fruchtbar gemacht werden kçnnen.12 (ii) Die Annahme,13 wir kçnnten antike Denker ganz objektiv so verstehen, wie sie es wollten, ist zwar in der Praxis cum grano salis Grundlage fast jeder Interpretation, aber es gibt theoretische Bedenken: Eine solche Interpretation (und schon jede vorausgehende Beschreibung) drfte keine durch den (historischen, theoretischen oder praktischen) Kontext des Interpretierenden geprgte Rekonstruktion sein und
10 Vgl. Misch, G.: Geschichte der Autobiographie, a.a.O., S. 279. 11 In einer Fußnote wird dies schon bemerkt von Asmis, E.: The Stoicism of Marcus Aurelius, a.a.O., Sp. 2236, Anm. 31. Damit ist der Wert der Arbeit von Hadot jedoch nicht grundstzlich in Zweifel gezogen. 12 So etwa Mojsisch, B.: Reflexionen zur Methodologie bei Platon und Aristoteles, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy, a.a.O., S. 167 – 177, hier: S. 167. 13 Hier ist stellvertretend die Position Gadamers zu nennen (vgl. Gadamer, H.-J.: Wahrheit und Methode, Tbingen 1960).
358
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
msste daher von einem a-historischen Standpunkt aus unternommen werden. Den aber gibt es nicht.14 Sind die beiden Positionen unvereinbar, oder entlarvt vielmehr die zweite die erste als illusorisch? Der Hinweis, dass jede Interpretation Rekonstruktion ist, befreit nicht von dem Versuch, einem Autor Thesen zuzuschreiben, die dieser – wenn mçglich – als eigene akzeptieren wrde.15 Ferner ist zu bercksichtigen, dass Texte in einigen Fllen Hinweise geben, so dass eine Deutung ohne Rekurs auf diese Passagen zumindest unvollstndig wre.16 Natrlich mssen auch diese Passagen selbst interpretiert werden, so dass auch fr sie das zweite methodische Argument gilt. Es zeigt sich, dass es keine absolute Interpretation geben kann. Im Gegenzug kann auf Freirume fr neue und gewinnbringende Deutungen verwiesen werden. Denn wenn Interpreten durch aktuelle Entwicklungen17 neue Fragestellungen an die antiken Texte herantragen, fhrt dies oft zu erstaunlichen Entdeckungen in den alten Texten.18 Die hier gewhlte Einteilung der Darstellung versucht mçglichst wenig zu prjudizieren oder textfremde berlegungen an den Text heranzutragen. Es ist vielmehr zu fragen, ob der Text Hinweise gibt, die fr sein Interpretiertwerden zu gebrauchen sind. Da Marc Aurel selber mehrfach von einer berschaubaren Anzahl von wichtigen oder zentralen Hauptpunkten oder zentralen Lehren spricht,19 14 So Graeser, A.: Altes und Neues, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy, a.a.O., S. 19 – 33, hier: S. 20 – 22. 15 Zu unterscheiden ist hier, dass im Rahmen einer Interpretation einem Autor oft erstens eine These zugeschrieben wird, und diese dann zweitens vom Interpreten in irgendeiner Form eingeschtzt wird. Die Interpretation braucht nur darauf abzuzielen, dass der Interpretierte dem ersten Teil zustimmt. 16 So wre beispielsweise eine Interpretation der Bedeutung der Dialogform fr die Philosophie Platons nicht nur unvollstndig, sondern wrde an der Sache Platons vorbeigehen, wenn sie die Stellen unbeachtet ließe, an denen Platon sich selbst dazu ußert. 17 Dazu kçnnen sowohl neue philosophische Ergebnisse als auch der weitere Kontext des Interpreten zhlen. 18 A. Graeser erwhnt u. a. die Erkenntnis, dass stoische Logik als Aussagenlogik verstanden werden kann und die erst nach (bzw. mit) Frege mçgliche Einsicht, dass die Bedeutungslehre der Stoiker auch als Semantik im Sinne Freges zu verstehen sei (vgl. Graeser, A.: Altes und Neues, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy, a.a.O., S. 22). Ein weiteres Beispiel wre das durch die aktuelle Debatte um Tugendethik, Glck und die Lebenskunst erwachte Interesse an antiken Positionen. Die Aufzhlung ließe sich beliebig verlngern. 19 Die Anzahl schwankt, bersteigt aber nie die 10 (siehe M. Aur. Med. 2, 1; 2, 21; 4, 3 und 26; 7, 22; 11, 18; 12, 7; 12, 8 und 26).
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
359
scheint es ratsam, die Darstellung nach diesen Themenfeldern zu ordnen. Damit wird dem oben beschriebenen ersten methodischen Argument Rechnung getragen, was darber hinaus folgende Vorteile bietet: So wird wenig prjudiziert bzw. durch die Wahl der Einteilung bereits an den Text herangetragen. Ferner wird keine These ber die Verwandtschaft der Philosophie Marc Aurels mit anderen Denkern, wie Seneca, Epiktet oder Poseidonius, vorausgesetzt. Im Gegenteil, ein zuknftiger Vergleich mit anderen Denkern wird derart erleichtert und vorbereitet, weil sich die Darstellung anhand von Themenfeldern dafr besonders eignet. Zu bercksichtigen ist, dass Marc Aurel seine zentralen Lehren nie in gleich bleibender Anzahl oder Anordnung erwhnt oder darber reflektiert.20 Somit erhlt der Interpret keine Vorgabe fr seine Anordnung. Der Autor gibt damit keine dezidierten Hinweise fr sein Interpretiertwerden, was jedoch selber wieder ein bemerkenswerter Umstand ist. Da Marc Aurel wegen der Selbstadressierung nicht notwendig angenommen hat, dass er von jemand anderem interpretiert wird, kann dies nicht berraschen, zugleich aber zeigt es, dass der Text nicht versucht, als Ganzes ein philosophisches System zu lehren. Schon anhand der Form wurde deutlich, dass es sich nicht um eine schulphilosophische Schrift handelt, die auf Kontroversen innerschulischer Art oder etwa durch Diskussionen mit anderen philosophischen Richtungen geprgt war. Daher kçnnen verschiedene Kapitel des Textes zu Themenfeldern zusammengefasst werden, wobei jeweils erneut zu berprfen ist, ob sie ein einheitliches Bild prsentieren und ob die Unterschiede je erklrt werden kçnnen. Damit ist in erster Linie die Konsistenz der verschiedenen Aussagen Marc Aurels zu einem Thema gemeint, dann jedoch auch die Frage, ob einzelne Formulierungen oder Aussagen Hinweise fr synkretistisch-eklektizistische Tendenzen bieten. Fr die Darstellung der gesamten Themen und Argumente gilt, dass hier vorrangig die der Selbstbetrachtungen isoliert zum Gegenstand gemacht werden sollen. Eine Einordnung jedes seiner Theoreme in die stoische Tradition kann hier nicht geleistet werden, denn die Forschung zur Stoa ist erfreulich gewachsen und mittlerweile in der Lage, die einzelnen Unterschiede innerhalb der Schule immer differenzierter zu beschreiben.21 Ne20 Das Fehlen einer solchen Reflexion steht im Gegensatz zu den Erçrterungen frherer Stoiker ber die Einteilung der Teile der Philosophie und entsprechende didaktische oder funktional-teleologische Reihungen. 21 Den Forschungsstand bis etwa 1986 – 7 bercksichtigt die gewaltige Darstellung von Steinmetz, P.: Die Stoa, in: Flashar, H. (Hg.): Grundriss der Geschichte der
360
1. berlegungen zur Anordnung der Themengebiete
ben den Verstelungen der Forschung zur Stoa sind auch die Darstellungen zu weiteren Denkern, die fr Marc Aurel eine große Rolle spielen, z. B. Heraklit, immer zahlreicher und subtiler geworden, so dass auch hier Marc Aurel im Kontext der philosophiegeschichtlichen Entwicklung weder angemessen noch ausfhrlich erfasst werden kann. Eine adquate Einordnung der Themen und Argumente Marc Aurels in die Geschichte der Stoa oder gar in eine Gesamtentwicklung der (spt)antiken Philosophie kann hier also nicht geleistet werden. Dies gilt fr die weit verzweigten Debatten vor Marc Aurel ebenso wie fr die (spter einsetzende) Rezeption. Neben der Einteilung der Themenfelder macht besonders ihre Anordnung im Rahmen einer Darstellung Probleme, denn dazu finden sich gar keine Hinweise bei Marc Aurel. Neben vielen arbitrren Reihungen der Themenfelder sollen zumindest zwei Abfolgen erwhnt werden, um dann im Rahmen dieser Untersuchung eine der beiden zu verfolgen. Eine mçgliche Anordnung der Themen kçnnte von der Angel des stoischen Denkens, der Glckskonzeption, ausgehen. Im Anschluss ließen sich damit unmittelbar in Verbindung stehende Zusammenhnge erçrtern, also die Tugend- und Gterlehre, die Strebensethik usw., um dann die weiteren, umgebenden Philosophieteile, wie Logik, Dialektik und Physik, zu behandeln. Eine solche Reihung der zentralen Themen wrde die Philosophie Marc Aurels also gemß der stoischen Lehre in systematisierter Form prsentieren. Eine zweite mçgliche Sequenz der Themen und Argumente kçnnte versuchen, das von Marc Aurel dargestellte Weltbild wiederzugeben und dabei konzentrisch vorzugehen. Hierbei ließe sich entweder vom All, der Leere und dem Kosmos, dem Weltaufbau und den allgemeinen Seinsprinzipien ausgehen, um die verschiedenen Sphren bis ins Innere des Menschen und seiner Seele zu beschreiben, oder um schließlich dasjenige, was der fhrende Seelenteil leistet und was von ihm abhngt, etwa die Urteile, das Fhlen und das Handeln, zu besprechen. Obschon beide Zugnge gleichermaßen mçglich sind, interessante Ergebnisse erzielen drften und ferner auch einen spteren Vergleich mit Philosophie (begr. von Fr. berweg), vçllig neu bearbeitete Ausgabe, Die Philosophie der Antike Bd. 4/2, Die hellenistische Philosophie, 2. Halbband, Basel 1994. Die Forschung ist aber mittlerweile nicht mehr zu berschauen.
2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz
361
anderen Denkern ermçglichen, geben die folgenden Grnde den Ausschlag fr die zweite Variante. Gegen die erste Variante spricht, dass ein stoisches System als Leitfaden der Ordnung der Themen und Argumente vorausgesetzt wird. Diese Darstellungsform setzt aber einiges voraus bzw. trgt also etwas an den Text heran. Zudem wird nicht nur ein stoisches System vorausgesetzt, sondern auch eine bestimmte Variante desselben.22 Ferner sind bei Marc Aurel nicht alle Teile der stoischen Philosophie gleichermaßen vorhanden, ber Beweisfhrungen und anderes aus den stoischen Bereichen Logik und Dialektik schreibt er, wie bereits angedeutet, nicht. Die Selbstbetrachtungen lassen sich demnach nicht gut gemß einer ganz systematisierten Form der stoischen Philosophie erfassen, weil bestimmte Themen ber- bzw. unterreprsentiert sind. Fr die zweite Variante der Darstellung, der konzentrischen Anordnung der Themen Marc Aurels, spricht hingegen, dass es die Darstellungsform ist, die am wenigsten prjudiziert und daher den Blick auf die Inhalte des Textes am wenigstens durch Vorentscheidungen darber, was fr eine Philosophie Marc Aurel vertritt, beeinflusst. Dies schließt ein, dass durch die Anordnung der Themenfelder mçglichst wenig Aussagen darber getroffen werden, in welchem systematischen Verhltnis die Themenund Argumentgruppen bei Marc Aurel stehen. Es erscheint dabei aber sinnvoll, den Weg von Marc Aurels Auffassung des Alls und den allgemeinen Prinzipien des Weltaufbaus zu den in diesem Kontext situierten Entitten, einschließlich des Menschen, zu beschreiten.23 insofern er selbst betont, sich vor allem daran zu orientieren.
2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Die Beschreibung und Beurteilung von stoischen Aussagen zur Natur ist aus verschiedenen Grnden problematisch oder zumindest schwierig: (i) Viele Informationen ber stoische Naturlehren mssen wir Texten entnehmen, die nicht von Stoikern selbst, sondern von Gegnern der 22 Die Quellen schildern verschiedene Reihungen der Philosophieteile, je nachdem, ob eine didaktische oder teleologische Perspektive gewhlt wird. 23 Fr eine mçgliche Kritik, der zufolge insinuiert wird, die Natur sei gewissermaßen das normative Fundament der stoischen Ethik und damit auch fr Marc Aurel, siehe Hossenfelder, M.: Die Philosophie der Antike 3, a.a.O., S. 45 und 60 – 2.
362 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Schule verfasst worden sind. Dabei ist nicht immer auszuschließen, dass deren kritische Absichten die Darstellung der stoischen Position beeinflusst hat.24 Wenn wir die Berichte als doxographisch korrekte und nicht verzerrende Darstellungen lesen,25 lernen wir eine Physik kennen, die sich von unserem neuzeitlich geprgten Verstndnis stark unterscheidet oder dem sogar zuwider luft.26 Dies betrifft die nchsten beiden Punkte. (ii) Fr die Stoiker war die Physik keine autonome Disziplin. Sie ist untrennbar mit der Ethik und der Logik verbunden27 und wird insbesondere durch ihre praktische Ausrichtung bestimmt.28 (iii) Zum weiten Bereich der Physik gehçren fr viele Stoiker Themenfelder, die wir heute deutlich davon unterscheiden, etwa Aussagen ber Weltenbrand, Gott, Vorsehung und Schicksal.29 24 Siehe die Berichte von Plutarch, Alexander von Aphrodisias oder Origenes. 25 Siehe die berlegungen zu dieser Entscheidung bei White, M. J.: Stoic Natural Philosophy (Physics and Cosmology), in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 124 – 152. 26 Auch zu anderen antiken Auffassungen von Physik bestehen Unterschiede, wenn auch nicht so große: Weder die aristotelische Variante der Physik entspricht dem stoischen Modell, denn Aristoteles (siehe Arist. Ph. 3, 4 202b30 – 1) zufolge untersucht die Physik die Bewegung und das mit ihr Zusammenhngende (etwa Grçße, Ort oder Zeit). Gleichzeitig rekurriert Aristoteles auf nicht materielle Konzepte, wie Idee, Potenz und Aktualitt, was Stoiker ebenfalls nicht akzeptieren konnten, denn nur Lekton, Leere, Ort und Zeit waren fr sie unkçrperlich. Aber auch der Materialismus in Gestalt der Atomlehre Epikurs kann nicht mit den stoischen Grundannahmen von der vernnftigen Einheit des Kosmos und der Vorsehung bereingebracht werden. Zu den Differenzen zum neuzeitlichen Physik-Begriff siehe etwa Randall, J. H. Jr.: The Career of Philosophy, 2 Bd., Cambridge 1969, hier: Bd. 1, S. 60. 27 Siehe At. 1. Proem. 2 (=LS 26 A); Diog. Laert. 7, 39 – 41 (=LS 26 B); Sext. Emp. Math. 7, 19 (=LS 26). 28 „Auch die stoische Physik ist ganz von den Erfordernissen der Ethik geprgt. Der Materialismus sollte zusammen mit dem Sensualismus die Unverfgbarkeit der ußeren Dinge außer Zweifel ziehen. Andererseits aber musste durch die Naturerklrungen sichergestellt werden, dass der Trieb tatschlich von der Vernunft beherrschbar ist.“ Hossenfelder, M.: Die Philosophie der Antike 3, Stoa, Epikureismus und Skepsis, a.a.O., S. 79. 29 Siehe z. B. Diog. Laert. 7, 132 (=LS 43 B); Diog. Laert. 7, 134 (=LS 44 B); weiterhin: „Von der ,Welt‘ (kosmos) sprechen sie in dreierlei Sinn. Erstens verstehen sie darunter Gott selbst, das individuell und eigenschaftsmßig Bestimmte, welches aus aller Substanz besteht; in diesem Sinn ist die Welt unvergnglich und nicht fhig zu entstehen, da sie bzw. Gott der Schçpfer der Weltenordnung ist und in bestimmten Perioden die gesamte Substanz in sich hinein verschlingt und sie dann wieder aus sich selbst heraus erzeugt. Zweitens bezeichnen sie auch die
2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz
363
Die Selbstbetrachtungen hingegen sind ein gut erhaltener Text, so dass der erste Punkt keine Schwierigkeiten bereitet. Dafr treffen die anderen beiden auf ihn im besonderen Maße zu: Es geht Marc Aurel nicht um die Darstellung einer Lehre. Gerade physikalische Themen werden nur ußerst ausgewhlt angesprochen.30 Die ethische Orientierung ist bei Marc Aurel besonders deutlich. Viele Kapitel gehen ohne weitere Erklrung von einem physikalischen zu einem ethischen Aspekt oder umgekehrt ber. Aus Stzen physikalischen Inhalts werden ethische Folgerungen gezogen. Fr Marc Aurel ist „Physik“ nicht eigenstndig, jedoch von zentraler Bedeutung. Dennoch sollen im Folgenden seine Aussagen dazu von den ethischen Aspekten getrennt gesammelt und als solche vorgestellt werden. Den Ausdruck v}sir verwendet Marc Aurel, wenn er ber kosmologische Phnomene redet, aber auch, wenn er von der individuellen Natur eines Menschen redet, etwa sich selbst. Im Folgenden sollen zunchst die Aussagen ber die Natur des Ganzen und die das Ganze bestimmenden Prinzipien gesammelt werden. Die individuellen Naturen sind Teil der universalen Natur. Die Prinzipien der universalen Natur gelten daher auch fr diese und sind bergeordnet. Und wie Zenon31 ist Marc Aurel der Ansicht, dass das
Weltordnung selbst als Welt und drittens das, was aus beidem zusammengesetzt ist.“ Diog. Laert. 7, 137 – 8 (=LS 44 F). Die generelle Zuordnung der Theologie zur Physik ist nicht bei allen Autoren einheitlich. Unterschieden werden kann vielleicht ein engeres physikalisches Themenfeld, das die Details der Vorgnge im Kosmos vereint, und ein weites Verstndnis von Physik, in dem Themen, wie die kosmische Einheit, kosmische Zirkel und Teleologie, gçttliche Vorsehung, eine große Rolle spielen. Brunschwig vertritt die These, die Stoiker wrden ferner Meta-physik-Formen vertreten: Eine dieser Formen sei Teil der Physik und betreffe mit den genannten Themen Gott und Prinzipien Fragen, die andere Philosophen als Metaphysik bezeichnen. In anderen Ausfhrungen der Stoiker, besonders in jenen zu den sog. stoischen Kategorien, erkennt Brunschwig eine Erçrterung, die ber die drei Philosophie-Teile hinaus gehe und die er als Ontologie besonderer Art und MetaPhilosophie bezeichnet (siehe Brunschwig, J.: Stoic Metaphysics, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 206 – 232). 30 Marc Aurel macht keinerlei Versuche, physikalische Fragen einzuteilen. Siehe zum Vergleich die stoische Einteilung der physikalischen Themen, die sich bei Diog. Laert. 7, 148 – 149 findet. 31 Siehe den Bericht von Diogenes Laertius ber Zenons Ansichten (Diog. Laert. 7, 39 – 41 (=LS 26 B)).
364 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Wissen von der universalen Natur fr die Gestaltung des eigenen Lebens, also den Umgang mit der eigenen individuellen Natur, wichtig sein kann.32 Wie wenig die Selbstbetrachtungen eine umfassende Abhandlung zur stoischen Philosophie sein wollen, wird auch am Umstand deutlich, dass Marc Aurel sich fr bestimmte Themen, die im Rahmen traditioneller Erçrterungen diskutiert werden, offensichtlich nicht interessiert. Fr das Gebiet der Physik ist festzuhalten, dass (i) die Entstehung des Kosmos, (ii) die Leere, (iii) der Ort und (iv) der periodische Weltenbrand nur ußerst randstndig behandelt werden. Eine kurze Darstellung kann hier jeweils gengen. Ad (i) Entstehung des Kosmos. „Die Natur des Weltganzen hat die Erschaffung des Kosmos in Gang gesetzt.“33 In einem anderen Kapitel spricht Marc Aurel von einem allgemeinen leitenden Prinzip. Alles was ist, sei eine Folge und Begleiterscheinung dieser einen ersten Ursache.34 Neben der Natur des Ganzen wird auch die Vorsehung (pq|moia) als Ausgangspunkt von allem genannt: Was von den Gçtten kommt, ist von der Vorsehung bestimmt; was dem Zufall unterliegt, ist nicht ohne Verbindung mit der Natur oder nicht ohne Verknpfung und Verkettung mit allem, was von der Vorsehung bestimmt wird. Alles hat dort seinen Ausgangspunkt. Es kommt noch das Notwendige und das fr den ganzen Kosmos Ntzliche hinzu, von dem du ein Teil bist.35 Mit meiner Feststellung, dass die allgemeine Natur diese Dinge gebraucht, ohne einen Unterschied zu machen, meine ich, dass sie ohne Unterschied eintreten, und zwar in Verbindung mit allem, was zunchst geschieht und was darauf folgt aufgrund eines ursprnglichen Anstoßes der Vorsehung, mit dem sie von einem bestimmten Anfang aus diese Weltschçpfung in Angriff nahm, nachdem sie bestimmte Vorstellungen von Zukunft entwickelt und die zeu32 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 25; 6, 58; 11, 13 (weiterhin zum Verhltnis von universeller und individueller Natur: 5, 10; 7, 55; 12, 32). Zur stoischen Formel bei Marc Aurel siehe M. Aur. Med. 3, 2 und 4. 33 J toO fkou v¼sir 1p· tμm joslopoi¸am ¦qlgse. M. Aur. Med. 7, 75. 34 „Asien und Europa sind Winkel des Kosmos. Das ganze Meer ist ein Tropfen im Kosmos. Der Berg Athos ist eine kleine Erdscholle im Kosmos. Die gesamte Gegenwart ist ein Punkt in der Ewigkeit. Alles ist winzig, leicht vernderbar, verschwindend klein. Alles kommt von dort, nachdem es von jenem allgemeinen leitenden Prinzip in Gang gesetzt wurde oder als Begleiterscheinung auftrat. … Komm also nicht auf den Gedanken, dass diese Erscheinungen nichts mit dem zu tun htten, was du verehrst, sondern denk an den Ursprung aller Dinge.“ M. Aur. Med. 6, 36. 35 M. Aur. Med. 2, 3.
2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz
365
genden Wirkkrfte entsprechender Voraussetzungen, Vernderungen und Folgeerscheinungen ausgelçst hatte.36
Diese Passagen machen deutlich, dass Marc Aurel der Kosmogonie im engeren Sinne nicht besonders viel Aufmerksamkeit schenkt. Auch scheinen seine Aussagen keine begriffliche Kohrenz zu haben, da er von einem allgemeinen leitenden Prinzip, der Natur des Ganzen oder der Vorsehung als Ursprung des Kosmos redet. Beide Umstnde sind aber kein Spezifikum Marc Aurels, sondern typisch stoisch. Wie auch immer die verursachende und kreative Instanz genannt wird, fr Stoiker ist sie nicht, wie etwa bei Platon, vom Akt der Schçpfung und von der so entstandenen Welt verschieden. Das allgemeine Prinzip bleibt in dem, was es verursacht, bestehen.37 Noch weitergehend ist eine Identifizierung von Schçpfer und Welt: Von der ,Welt‘ (kosmos) sprechen sie [die Stoiker, M.v.A.] in dreierlei Sinn. Erstens verstehen sie darunter Gott selbst, das individuell eigenschaftsmßig Bestimmte, welches aus aller Substanz besteht; in diesem Sinn ist die Welt unvergnglich und fhig zu entstehen, da sie bzw. Gott der Schçpfer der Weltordnung ist und in bestimmten Zeitperioden die gesamte Substanz in sich hinein verschlingt und sie dann wieder aus sich selbst heraus erzeugt. Zweitens bezeichnen sie auch die Weltordnung selbst als Welt und drittens das, was aus beidem zusammengesetzt ist.38
Auch von einer anderen Perspektive aus betrachtet ist der Schçpfungsakt kein besonderes Ereignis, das zu einer dann davon getrennten Welt fhrt. Denn der alles bestimmende Grund ist nicht nur in der Welt prsent, sondern erneuert sie permanent, so dass auch von einer fortwhrenden Schçpfung gesprochen werden kann, die sich in der permanenten Erneuerung des Kosmos manifestiert. Damit ist erstmalig der Wandel angesprochen, ber den Marc Aurel, wie noch deutlich werden wird, in vielen Kapiteln schreibt. Ad (ii) Leere.
Marc Aurel erwhnt Leere nur einmal:
36 M. Aur. Med. 9, 1. 37 Diogenes Laertius referiert die Meinung der Stoiker: „Mit ,Natur‘ meinen sie manchmal das, was die Welt zusammenhlt und manchmal das, was die Dinge auf der Erde wachsen lsst. Die Natur ist ein selbst bewegender Habitus, der seine Produkte in bereinstimmung mit den Samenprinzipien zu bestimmten Zeiten vervollstndigt und zusammenhlt und die Aktivitten fortfhrt, durch die sie ans Licht kamen.“ Diog. Laert. 7, 148 – 149 (=LS 43 A (2)). 38 Diog. Laert. 7, 137 – 8 (=LS 44 F).
366 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Darber hinaus umkreist sie [die vernunftbegabte Seele] den ganzen Kosmos, den leeren Raum um ihn herum und seinen ußeren Rand, dehnt sich aus in die Unendlichkeit der Ewigkeit, umfasst und reflektiert die periodische Wiederentstehung des Weltganzen…39
Hierbei fehlt eine Begrndung fr die Annahme einer Leere, genau so wie eine Erklrung der stoischen Annahme, dass Leere unkçrperlich und nicht zum Seienden gehçre, aber „etwas“ sei.40 Auch fehlt eine genaue Bestimmung der Leere.41 Im betreffenden Kapitel wird lediglich angedeutet, dass die Leere unendlich ist42 und dass sie nur außerhalb des Seienden zu finden ist, also den Kosmos umgibt.43 Ad (iii) Ort und Raum. Auch fr den Ort und den Raum interessiert sich Marc Aurel nicht als solches. Es lassen sich keine Bestimmungen der Begriffe oder Begrndungen fr ihre Einfhrung finden. Zwei Stellen verwenden den Raum im Rahmen von Argumenten. Im ersten Fall fhrt die Ausgangsfrage, wie so viele Seelen (und tote Kçrper) Platz finden kçnnen, zur These vom stetigen Wandel der Elemente. Die immer neuen Seelen und Kçrper finden Platz, weil sie Umwandlungen der vor ihnen existierenden sind: Wenn die Seelen weiter bestehen – wie finden sie seit Ewigkeiten Platz in der Luft? Wie kçnnen die Kçrper der Menschen, die seit ewigen Zeiten begraben werden, Platz in der Erde finden? Wie nmlich hier ihre Umwandlung und Auflçsung nach einer bestimmten Zeit anderen Leichen Platz schafft, so bleiben auch die in die Luft bergehenden Seelen nur einige Zeit dort. Dann verwandeln sie sich, gehen in Feuer auf, werden wieder in die zeugende Vernunft des Kosmos aufgenommen und schaffen auf diese Weise Platz fr die neu hinzukommenden Seelen. So kçnnte man antworten, falls man an die Fortexistenz der Seelen glaubt. Man muss aber nicht nur an die Menge der so begrabenen Kçrper denken, sondern auch an die jeden Tag von uns und den anderen Lebewesen verzehrten Tiere. Denn wie viele werden verzehrt und auf diese Weise gleichsam begraben in den Kçrpern derer, die sich von ihnen 39 M. Aur. Med. 11, 1. 40 Die erste Gattung der Stoiker ist nicht das Seiende (siehe Sen. Ep. 58, 13 – 15 (=LS 27 A), sondern das „Etwas“. Die Leere ist neben Ort, Zeit und Lekton etwas, aber unkçrperlich (siehe Sext. Emp. Math. 10, 218 (=LS 27 D)). 41 Etwa als „dasjenige, was von etwas Seiendem eingenommen werden kann, aber nicht eingenommen wird, oder ein von Kçrpern freies Intervall oder ein Intervall, das von keinem Kçrper eingenommen ist.“ Sext. Emp. Math. 10, 3 – 4 (=LS 49 B). 42 Siehe zum Vergleich Stobaios 1, 161, 8 – 26 (=LS 49 A). 43 Siehe zum Vergleich Galen De differentia pulsum 8, 674, 13 – 14 (=LS 49 D).
2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz
367
ernhren. Und trotzdem finden sie alle Platz, weil sie in Blut umgesetzt werden und sich in luftartige und feurige Substanz verwandeln.44
Im zweiten Kapitel und Argument45 spielt der Raum eine noch geringere Rolle. Die Selbstgengsamkeit der Natur des Ganzen schließt ein, dass diese den Raum einnimmt, den sie braucht und darber hinaus ihre rumlichen Grenzen wahrt und in keinerlei Abhngigkeit zu dem steht, was jenseits dieser Grenzen ist. Die Natur des Ganzen wandelt alles, wie auch das vorherige Zitat deutlich machte, in dem feststehenden Raum, den sie einnimmt.46 Ad (iv) Kosmische Zyklen. Die stoische Annahme, dass der Kosmos in Zyklen entsteht und vergeht, gehçrt zu den auch fr Marc Aurel etwas bedeutsameren Aspekten. Doch auch hier ist Marc Aurels Behandlung nicht technischer Natur. Wie bei allen anderen Themenfeldern finden sich keine Auseinandersetzungen mit gegnerischen Positionen, etwa um eine schuleigene zu verteidigen.47 Kosmische Zyklen interessieren ihn ebenfalls nicht im Detail. Auffllig ist, dass die zwei Kapitel, die diese These beinhalten, sie nicht als Ekpyrosis, also in der gngigen stoischen Form, prsentieren. In beiden Kapiteln spielt erstens das Feuer keine Rolle,48 zweitens bleibt Gott unerwhnt, und drittens fehlt eine Beschreibung der elementaren Umwandlung. Marc Aurel geht auf diese drei Aspekte in zahlreichen anderen Kapiteln ein, dort aber stehen sie nicht in Verbindung mit der These vom zyklischen Entstehen und Vergehen endloser immergleicher Welten. Selbst wenn Marc Aurel die Theorie der Ekpyrosis geteilt hat, so hat er offenbar keinen Wert darauf gelegt, sie zu elaborieren. Immer also an diese beiden Dinge denken: erstens, dass alles seit Ewigkeiten gleichartig ist und sich in stndigem Kreislauf wiederholt und dass es ohne Bedeutung ist, ob jemand in hundert oder zweihundert Jahren oder in unendlicher Zeit dasselbe sehen wird; zweitens, dass der am lngsten Lebende dasselbe verliert wie der andere, der sehr frh sterben muss. Denn nur das 44 M. Aur. Med. 4, 21. 45 Es handelt sich hier um einen Nachhall auf die Lehre Sext. Emp. Math. 9, 332 (=LS 44 A). 46 Siehe M. Aur. Med. 8, 50. 47 Marc Aurel gehçrt damit nicht zu der Gruppe der spten Stoiker, die nach Philon die These vom Weltenbrand aufgegeben haben „und zur heiligeren These von der Unvergnglichkeit der ganzen Welt“ (Philon De aetern. Mundi 76 – 77 (=LS 46 P)) bergingen. 48 Siehe z. B. Plut. De Stoic. repugn. 41, 1053 B (=LS 46 F).
368 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Gegenwrtige wird einem weggenommen, jedenfalls dann, wenn man nur dies besitzt und nicht verliert, was man nicht hat.49
Nur der erste Satz scheint auf die These anzuspielen und nicht mit den deutlich konsolatorischen Absichten des zweiten Gedankens in Verbindung zu stehen. Fr Marc Aurel sind die kosmischen Zyklen jedoch eine Begrndung fr die Annahme, dass sich alles wiederholt und sich gleicht,50 und dieser Gedanke hat fr ihn nicht nur eine ontologische bzw. epistemische Qualitt, sondern ist von konsolatorischer Bedeutung: Wer stirbt, braucht sich nicht sorgen, denn er verpasst nichts, weil alles immer das Gleiche war, ist und sein wird. Das menschliche Streben nach Wissen wird demnach durch den Tod nicht unnçtig frustriert, denn es ist dem Umfang nach auch in einem kurzen Leben zu erfllen. Konsolatorisch ist die Annahme vom zyklischen Entstehen und Vergehen des Kosmos auch, weil sie impliziert, dass dem Menschen mit dem Vergehen, dem Tod, nichts Exzeptionelles passiert. Wandel, Vergehen oder Tod sind ein kosmologisches Prinzip, dem nicht nur alle Dinge im Kosmos unterworfen sind, sondern der Kosmos selbst. Da Marc Aurel generell die Teil-Ganzes-Relation von Mensch und Kosmos betont, liegt der konsolatorische Effekt darin begrndet, dass dem Menschen nicht nur dasselbe Schicksal wie allen anderen Entitten oder Teilen im Kosmos bevorsteht, sondern wie dem Ganzen selbst, von dem er Teil ist. Der Tod macht keinerlei Ausnahmen, nicht einmal der Kosmos kann sich ihm widersetzen und ewig bestehen. Was dem Ganzen geschieht, kann nicht schlecht fr einen Teil sein, lautet einer seiner tragenden Gedanken. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen Tod, der Angst auslçsen sollte. Wie der Kosmos, so folgert Marc Aurel, wird der Mensch selbst nicht zerstçrt, sondern natrlich verwandelt: Alles ist dem Wandel ausgesetzt. Auch du selbst befindest dich in dauernder Vernderung und gewissermaßen in einem Prozess des Vergehens wie auch der gesamte Kosmos.51
Die nchste Passage ist interessant, weil Marc Aurel, ausgehend von der Annahme kosmischer Zyklen, ebenfalls ein konsolatorisches oder allge49 M. Aur. Med. 2, 14. Weniger eindeutig ist: „Alles Materielle verschwindet sehr bald im Sein des Ganzen, jede Ursache geht sehr bald wieder in die Vernunft des Ganzen ein, und die Erinnerung an alles wird sehr bald durch die Ewigkeit aufgehoben.“ M. Aur. Med. 7, 10. 50 Auf diesen Gedanken wird gleich ausfhrlicher eingegangen. 51 M. Aur. Med. 9, 19. Siehe zum Vergleich Euseb. Praep. evang. 15, 18, 2 (=LS 46 K).
2.1 Zentrale Begrifflichkeiten und Instanzen
369
mein: affekttherapeutisches Anliegen verfolgt, damit aber eine Reihe von orthodoxen bis weniger orthodoxen Annahmen verbindet: Das ist der Kreislauf des Kosmos, auf und ab, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und entweder wendet sich die Vernunft des Weltganzen jedem einzelnen Ding zu – wenn das der Fall ist, dann nimm ihre Zuwendung an – oder sie wandte sich nur einmal (den Dingen) zu, alles weitere aber luft als Folgeerscheinung ab. Und warum strengst du dich so an? Denn gewissermaßen gibt es nur Atome oder unteilbare Elemente. Aber alles in allem: Wenn es einen Gott gibt, ist alles in Ordnung. Wenn aber der Zufall regiert, dann darfst du dich doch nicht dem Zufall ausliefern. Schon bald wird Erde uns alle umhllen. Dann wird auch sie sich verndern, und das Resultat der Vernderung wird sich weiter ins Unendliche verndern und auch jenes wieder ins Unendliche. Denn wenn man das bereinanderwogen der Verwandlungen und Vernderungen und die Schnelligkeit (in der dies geschieht), sich bewusst macht, wird man alles Sterbliche verachten.52
Deutlich wird insgesamt, dass Marc Aurel die These von den kosmischen Zyklen geteilt hat. Er greift darauf gelegentlich zurck, ohne sie explizit zum Thema zu machen, geschweige denn zu elaborieren oder zu verteidigen. Er verwendet sie fr praktische Belange, was sich als typisch herausstellen wird. 2.1 Zentrale Begrifflichkeiten und Instanzen Wie von einem Stoiker zu erwarten ist, spricht Marc Aurel hufig von „Natur“. Was die Verwendung des Wortes betrifft, kçnnen etwa drei Kapiteltypen unterschieden werden: Marc Aurel fordert sich (i) auf, gemß der Natur (jat± v¼sim) zu leben, d. h. seine Urteile, Antriebe, Affekte und Handlungen entsprechend auszurichten.53 Diese Formulierungen erlutern jedoch nicht, was mit Natur gemeint ist. Deutlich wird hier, wie sehr die Naturauffassung mit der Ethik verschrnkt ist.
52 M. Aur. Med. 9, 28. 53 jat± v¼sim : siehe M. Aur. Med. 1, 9; 1, 17; 2, 17; 3, 12; 4, 1; 4, 39; 4, 48; 4, 51; 5, 4; 5, 29; 6, 48; 7, 11; 7, 56; 7, 74; 10, 15; 12, 1. Fr die entsprechenden gegenteiligen und seltener vorkommenden Formulierungen mit paq± v¼sim siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 1; 4, 39; 6, 33; 7, 24.
370 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Er spricht von (ii) einer „Natur des Ganzen“54 oder einer „gemeinsamen Natur“55, einer „gemeinsamen Vernunftnatur“,56 und einem „Naturgesetz der Gemeinschaft“.57 Diese Natur ist allgemein, weil sie die vollkommenste und umfassendste Natur ist,58 denn alles ist durch sie in die Welt gekommen und wird durch sie aus der Welt genommen.59 Die Natur verwaltet die gesamte Welt.60 Und sie ist in allem prsent, weil sie alles durchwaltet.61 Insofern die Natur allen alles zuteilt, ist sie identisch mit oder kaum zu unterscheiden von der Vorsehung.62 In ber 25 Kapiteln wird die „Natur des Ganzen“ behandelt, sie ist damit die am hufigsten genannte und auch wichtigste Instanz. In einigen Kapiteln erwhnt Marc Aurel nur eine v¼sir, beschreibt sie jedoch wie die Natur des Ganzen.63 Gelegentlich reiht Marc Aurel auch die Ausdrcke B toO fkou v¼sir, B joimμ v¼sir und v¼sir, wobei er sie offenbar synonym verwendet.64 Mit „Natur“ bezeichnet Marc Aurel (iii) auch das Wesen einer Sache.65 Er kennt neben der allgemeinen Natur des Weltganzen spezifische Naturen: Von Einzelnaturen66 spricht Marc Aurel in Bezug auf bestimmte Gattungen, Bltter und Pflanzen,67 vernunftbegabten Lebewesen68 und 54 Fr B toO fkou v¼sir oder B t_m fkym v¼sir siehe M. Aur. Med. 2, 3; 2, 9; 2, 11; 4, 36; 5, 8; 5, 10; 6, 9; 7, 5; 7, 18; 7, 23; 7, 25; 8, 5; 8, 6; 8, 26; 8, 35; 8, 50; 9, 1; 9, 35; 10, 11; 10, 20; 11, 5; 12, 26; 13. 55 Fr B joimμ v¼sir siehe M. Aur. Med. 4, 29; 5, 8; 5, 25; 6, 58; 7, 75; 8, 46; 9, 1; 9, 29; 10, 8; 12, 30. 56 Siehe M. Aur. Med. 9, 9: „Und folglich strebt alles, was an der gemeinsamen Vernunftnatur teilhat (joim/r moeq÷r v¼seyr), mit gleicher oder noch strkerer Intensitt zu dem ihm Verwandten.“ 57 Siehe M. Aur. Med. 3, 11: „Deshalb gehe ich mit ihm um, wie es dem Naturgesetz der Gemeinschaft (t¹m t/r joimym¸ar vusij¹m mºlom) und der Partnerschaft entspricht.“ 58 Siehe M. Aur. Med. 11, 10. 59 Siehe M. Aur. Med. 10, 14; 12, 36. 60 Siehe M. Aur. Med. 11, 18. 61 Siehe M. Aur. Med. 10, 6. 62 Siehe M. Aur. Med. 12, 1. Marc Aurel liebt Alternativen, besonders die Formulierung „entweder Atome oder Vorsehung“. Ein Kapitel behandelt das gleiche Thema, beginnt aber mit der Formulierung „Atome oder Natur“ (siehe M. Aur. Med. 10, 6). Zu dieser Alternative siehe ausfhrlicher das Kap. II 2.7. 63 Siehe etwa M. Aur. Med. 2, 3; 2, 9; 2, 16; 4, 23; 4, 29; 7, 67. 64 Siehe etwa M. Aur. Med. 9, 1. Er spricht dort ferner von der Natur des Kosmos. 65 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 1; 4, 9; 9, 39; 11, 20; 12, 30. 66 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 3; 2, 9; 3, 11 und 10, 33. 67 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 7. 68 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 9.
2.1 Zentrale Begrifflichkeiten und Instanzen
371
sozialen Lebewesen.69 Besonders hufig erwhnt Marc Aurel die Natur des Menschen70 und spricht gegenber sich selbst von „deiner Natur“.71 Diese drei Verwendungsweisen des Naturbegriffes stehen in einem engen Verhltnis. Zunchst bezieht sich die Aufforderung, gemß der Natur zu leben, sowohl auf die allgemeine Natur und eine je ausschlaggebende spezielle Natur: „geh ohne Umwege auf dein Ziel zu, indem du deiner individuellen und der allgemeinen Natur folgst. Aber beide haben nur einen Weg.“72 Die individuellen Naturen verhalten sich zur Natur des Ganzen, der allgemeinen Natur, wie ein Teil zum Ganzen.73 Das folgt schon aus der Annahme, dass es außerhalb der allgemeinen Natur nichts gibt. Diese TeilGanzes-Relation ist nicht nur wichtig fr Marc Aurels Ethik, sondern erklrt bereits Aussagen ber die Gutheit auf allgemein kosmischer Ebene: Fr jeden Teil der Natur aber ist alles gut, was die Natur des Ganzen mit sich bringt und was ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Verwandlungen sowohl der kleinsten Bausteine wie auch der zusammengesetzten Kçrper.74
Die drei Gruppen von Aussagen ber „Natur“ und ihr Verhltnis geben einen ersten Einblick in den gedanklichen Aufbau und die zentralen Themen der Selbstbetrachtungen und die Bedeutung der Physik. Es geht Marc Aurel darum, naturgemß zu leben, wobei fr jede Entitt bzw. 69 70 71 72 73
Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 9 und 10, 2. Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 2; 3, 4; 4, 49; 5, 15; 8, 1; 8, 5; 8, 12. Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 1; 5, 9; 5, 25; 8, 1; 10, 2; 11, 13; 11, 16; 12, 30. M. Aur. Med. 5, 3. „Jede Natur ist mit sich selbst zufrieden, wenn es ihr gut geht. Einer vernnftigen Natur geht es gut, wenn sie weder einer falschen noch unklaren Vorstellung ihre Zustimmung gibt, ihr Wollen allein auf gemeinschaftsfçrdernde Werke richtet, wenn sie nur die Dinge begehrt und meidet, die in unserer Macht liegen, und alles, was von der allen gemeinsamen Natur zugeteilt wird, gern entgegennimmt. Denn sie ist ein Teil der gemeinsamen Natur, wie die Natur des Blattes ein Teil der Natur der Pflanze ist – abgesehen davon, dass dort die Natur des Blattes ein Teil einer Natur ist, die kein Wahrnehmungsvermçgen und keine Vernunft hat und (in ihrer Entwicklung) behindert werden kann, whrend die Menschennatur Teil einer Natur ist, die (in ihrer Wirksamkeit) nicht zu behindern ist und ber Vernunft und Gerechtigkeit verfgt, wenigstens wenn sie jedem einzelnen den gleichen und den ihm zustehenden Anteil an Zeit, Sein, Ursache, Ttigkeit und Geschehen gibt.“ M. Aur. Med. 8, 7 (siehe auch 2, 16; 5, 25; 5, 3; 10, 6; 11, 13). 74 M. Aur. Med. 2, 3 (siehe ebenfalls 12, 23: „Den rechten Zeitpunkt und die Grenze setzt die Natur, bisweilen auch die individuelle Natur, wenn es um das Ende im Alter geht, grundstzlich aber die Natur des Weltganzen. Whrend sich deren Teile verndern, bleibt der Kosmos als ganzer immer jung und kraftvoll.“).
372 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Einzelnatur im Kosmos gilt, dass die „Natur des Ganzen“ die maßgebliche Instanz ist. Denn sie weist jedem Ding den „ihm zustehenden Anteil an Zeit, Sein, Ursache, Ttigkeit und Geschehen“75 zu. Zum einen ist damit nochmals besttigt, wie sehr die Physik die anderen thematischen Bereiche dominiert, weil sie Grundlagen behandelt. Dass Marc Aurel die Physik ganz zu Gunsten der Ethik aufgegeben habe, kann also nur dann behauptet werden, wenn mit Physik eine um ihrer selbst willen betriebene Erforschung der Natur gemeint ist. Es deutet sich auch an, dass dem Verhltnis von Physik und Ethik mehr Raum eingerumt wird als dem von Physik und Logik. Wenn Marc Aurel ber Themen, die zum Bereich der Logik gehçren, schreibt, etwa im Rahmen der sog. „analytischen Methode“, Fragen der Urteilsbildung und der Auseinandersetzung von Hegemonikon und Vorstellung, spielt die Natur eine zentrale Rolle. Technische Erçrterungen stoischer Logik, z. B. in Form von Schlussschemata usw., finden sich bei Marc Aurel nicht. Zum anderen gibt der Zusammenhang der drei wesentlichen Aussagen ber die Natur eine bestimmte Reihenfolge und Struktur vor, denn ohne Wissen von der Natur des Ganzen kann ein Mensch weder seine eigene Natur bestimmen noch sein Handeln ausrichten: Dessen muss man sich immer bewusst sein, was die Natur des Ganzen und was meine eigene Natur ist und wie sich diese zu jener verhlt und welcher Teil welches Ganzen sie ist und dass es niemanden gibt, der dich daran hindern kçnnte, stets das, was im Sinne der Natur ist, deren Teil du bist, zu tun und zu sagen.76
Die Untersuchung der Themen und Argumente wird diesem Gedankengang folgen. Untersucht werden: (i) die „Natur des Ganzen“, die allgemeinen Natur oder der Kosmos, (ii) die Natur des Menschen, (iii) das Erkennen des Menschen von allgemeiner und individueller Natur, (iv) die praktischen Konsequenzen. Die „Natur des Ganzen“ ist nicht nur eine besonders hufig genannte Instanz. Sie nimmt im Denken Marc Aurels eine zentrale Stellung ein. Daher sind seine Aussagen dazu von besonderem Interesse. 75 M. Aur. Med. 8, 7. 76 M. Aur. Med. 2, 9 (siehe auch 5, 24: „Sei dir des Seins insgesamt bewusst, von dem du ein winziges Teilchen bist, und der ganzen Ewigkeit, von der dir ein kurzer und winziger Abschnitt zugeteilt ist, und des unausweichlichen Schicksalsplanes: Welcher Bruchteil davon bist du?“).
2.1 Zentrale Begrifflichkeiten und Instanzen
373
Die „Natur des Ganzen“ ist jedoch keineswegs identisch mit dem Kosmos und dem Ganzen. Unabhngig von der „Natur des Ganzen“ tauchen die Ausdrcke j|slor und fkom weitaus seltener auf als die „Natur des Ganzen“. Dabei sind fr Marc Aurel j|slor und fkom offenbar gleichbedeutende Ausdrcke. Denn erstens verwendet er sie in einigen Kapiteln beide zusammen, und zwar offenkundig austauschbar.77 Zweitens schreibt Marc Aurel in verschiedenen Kapiteln ber das Ganze bzw. den Kosmos identische Aussagen nieder.78 Bei der „Natur des Ganzen“ handelt es sich um eine in vielerlei Hinsicht gegenber dem Kosmos bzw. dem Ganzen bergeordnete Instanz. Die folgende Gruppierung der Aussagen ber die „Natur des Ganzen“ zeigt nicht nur die Prioritt der Natur des Ganzen gegenber dem Kosmos bzw. dem Ganzen, sondern auch die Vielfalt und Bedeutung der Zuschreibungen. (i) Die „Natur des Ganzen“ ist die Ursache fr die Entstehung der Welt.79 (ii) Die „Natur des Ganzen“ ist nicht nur Entstehungsgrund, im Sinne einer einmaligen initialen Ursache, sondern Grund fr alles, was jederzeit im Kosmos geschieht. Sie bestimmt und durchwaltet den Kosmos zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht.80 Die „Natur des Ganzen“ wirkt durch eine Ursachenkette und durch eine Zusammenfgung von Einzelursachen.81 (iii) Die von der „Natur des Ganzen“ bestimmte Ursachenverflechtung manifestiert sich als stetiger Wandel und stetige Vernderung.82 Der 77 Siehe etwa: „Alles, was du siehst, wird die Natur, die das Weltganze durchwaltet, bald verndern und sie wird anderes aus ihrem Sein erzeugen und wiederum anderes aus dem Sein jener anderen Dinge, damit der Kosmos immer wieder neu ist.“ M. Aur. Med. 7, 25 (siehe ebenfalls 5, 8 und 10, 6). Im Kapitel 9, 1 spricht Marc Aurel von dem Ganzen bzw. dem Kosmos und der Natur des Ganzen bzw. der Natur des Kosmos. 78 Vergleiche etwa die Bestimmung des Kosmos als allumfassenden Kçrper, der alle anderen Kçrper umfasst (vgl. M. Aur. Med. 5, 8) mit der Bestimmung des Sein des Ganzen im Verhltnis zu allen anderen Kçrpern (vgl. M. Aur. Med. 7, 19). Vergleiche ferner die Eintrge zum Kosmos (M. Aur. Med. 7, 25; 9, 19; 9, 35; 10, 21; 12, 23) mit den Eintrgen zum Ganzen (M. Aur. Med. 3, 11; 4, 26; 5, 8; 6, 1; 7, 66; 9, 22; 9, 39; 11, 1; 11, 8; 4, 25; 4, 26; 7, 19). 79 Siehe M. Aur. Med. 2, 3; 7, 75; 9, 1 (fr die periodische Entstehung eines Kosmos siehe 11, 1; fr die ltesten Ursachen siehe 5, 8). 80 Hier ist eine Unterscheidung von direkter Ursache und Folgeerscheinung nçtig (siehe z. B. M. Aur. Med. 9, 1; 9, 28). 81 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 8. 82 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 36; 7, 25; 9, 35.
374 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Wandel ist als Prinzip etwas von der „Natur des Ganzen“ Gewolltes und Vollzogenes. Dieses Prinzip ist universal, weil es immerwhrend fr jeden Teil des Kosmos gilt, sogar, wenn man dessen Zyklen bercksichtigt, fr diesen selbst.83 Dass alles dem Wandel unterliegt und gleichermaßen von der „Natur des Ganzen“ bestimmt wird, ist ein Grund fr die Gleichartigkeit von allem.84 Der Wandel ist nicht nur ein physikalisches Prinzip, sondern auch ntzlich.85 (iv) Die „Natur des Ganzen“ schafft nicht nur eine kausale Verkettung, sondern eine Einheit, weil alles zum Plan und verwandten Teil86 der allgemeinen Natur gehçrt.87 Diese Einheit bildet einen Organismus88 und eine kosmische Stadt, also eine Gemeinschaft.89 (v) Die „Natur des Ganzen“ bestimmt alles im Vorhinein. In dieser Funktion ist sie mit der Vorsehung identisch, sie ist eine zuteilendene Natur.90 (vi) Die „Natur des Ganzen“ wird mit Gott, Zeus oder den Gçttern in Verbindung gebracht91 und ist daher Teil der Theologie bzw. die Theologie wird so Teil der Physik.92 (vii) Die „Natur des Ganzen“ ist vernnftig93 und daher Wahrheit bzw. Quelle der Wahrheit.94 (viii) Die „Natur des Ganzen“ bestimmt auch fr jede Einzelnatur, was gut ist.95 Die allgemeine Natur ist Maßstab fr das Leben der Einzelnaturen.96 Es handelt sich bei der „Natur des Ganzen“ nicht um eine Ursache, deren Aktivitt sich darin erschçpft, einen ersten Impuls bei der Entstehung des 83 Siehe M. Aur. Med. 9, 35 (fr die Universalitt) und 2, 14; 7, 10; 9, 19; 9, 28 (fr die periodischen Wandlungen, also Zerstçrung und Zeugung des Kosmos selbst). 84 Siehe M. Aur. Med. 8, 6; 11, 1. 85 Siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 18. 86 Siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 52; 7, 25; 9, 1. 87 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 35. 88 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 8; 6, 42; 6, 44. 89 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 3; 4, 4; 5, 30. 90 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 3; 2, 11; 4, 3; 4, 25; 4, 26; 5, 8; 9, 1; 12, 1; 12, 14. 91 Siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 25. 92 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 11; 5, 10; 7, 9; 9, 28. 93 Siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 9. 94 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 9; 9, 1. 95 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 11; 12, 23. 96 Siehe M. Aur. Med. 1, 9; 1, 17; 2, 17; 3, 12; 4, 1; 4, 39; 4, 48; 4, 51; 5, 4; 5, 29; 6, 48; 7, 11; 7, 56; 7, 74; 10, 15; 12, 1.
2.1 Zentrale Begrifflichkeiten und Instanzen
375
Ganzes zu geben oder einmal etwas vorzugeben, sondern um etwas, dessen Wirkung immerwhrend ist und sich zu jedem Zeitpunkt auf jeden Teil des Kosmos bezieht. Gerade die erstgenannten beiden Aspekte zeigen, dass Marc Aurels Aussagen ber die „Natur des Ganzen“ auf die altstoischen Theoreme Monismus und Immanenz verweisen.97 Dass ein rationales Prinzip nicht nur bestimmend ist, sondern in allem anwesend, das von ihm bestimmt wird, trifft sicher auf Marc Aurels Vorstellungen von der „Natur des Ganzen“ zu. Fr die Interpretation ist es hilfreich, die „Natur des Ganzen“ mit der stoischen Lehre ber erste Prinzipien in Verbindung zu verbringen. Denn, wie die Untersuchung noch zeigen wird, finden sich davon zahlreiche Spuren in den Selbstbetrachtungen. Doch der Monismus, der sich hinter der Vielzahl der Aussagen zur „Natur des Ganzen“ verbirgt, ist wesentlich umfassender. Er betrifft nicht nur bestimmte Teile der Physik98, sondern auch den Zusammenhang von Physik und den anderen Philosophieteilen. Die bersicht ber die Aspekte, die Marc Aurel mit der „Natur des Ganzen“ in Verbindung bringt, legt einen Monismus auf drei Ebenen nahe: (i) in Bezug auf einzelne Kçrper im Sinne ihrer Erklrung durch die ersten Prinzipien, 97 Siehe zum Hintergrund Todd, R. B.: Monism and Immanence: The Foundations of Stoic Physics, in: Rist, J. M. (Hg.): The Stoics, Berkeley/Los Angeles/London 1978, S. 137 – 160. Bei der Verbindung von Monismus und Immanenz handelt es sich nicht um ein Spezifikum stoischer Philosophie. Ganz sicher hat Heraklit eine solche These im Hinblick auf den Logos vertreten. Bereits das erste Fragment (DK 22 B 1), das vielleicht am Anfang seines Textes gestanden hat, gibt an, „dass alles in bereinstimmung mit diesem Logos geschieht“. Fr Heraklit ist alles eines (siehe Heraklit DK 22 B 50) und die Weltordnung ist mit dem Feuer, dem materialen Aspekt des Logos, identisch (siehe Heraklit DK 22 B 30; siehe zu Heraklit insgesamt van Ackeren, M.: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, a.a.O.). Die These, die Stoiker seien stark von Heraklit beeinflusst, hat vor allem Long vertreten (siehe z. B. Long, A. A.: Heraclitus and Stoicism, in: Philosophia 5 – 6 (1975 – 6), S. 134 – 156, davor bereits Gigon, O.: Untersuchungen zu Heraklit, Leipzig 1935 und ders.: Der Ursprung der griechischen Philosophie, Basel/Stuttgart 1967). 98 F. H. Sandbach etwa hat gegen eine Identifikation von Prinzipien, dem Feuer und Gott pldiert (siehe Sandbach, F. H.: The Stoics, London 1975, S. 74). Demgegenber konnte gezeigt werden, dass gerade solche Identifikationen spezifisch stoisch sind (siehe fr Zenon und Chrysipp die Argumente bei Lapidge, M.: Stoic Cosmology, in: Rist, J. R. (Hg.): The Stoics, a.a.O., S. 161 – 186; Todd, R. B.: Monism and Immanence, a.a.O.). Siehe dazu nochmals Diog. Laert. 7, 137 – 8 (=LS 44 F).
376 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz (ii) in Bezug auf die damit von den Stoikern in Verbindung gebrachten weiteren physikalischen Theoreme, wie die Entstehung des Kosmos, seine Zyklen, die organische Natur des Kosmos, der Vorsehung, der Theologie.99 (iii) Schließlich geht der Monismus selbst ber die nach heutigen Maßstben umfassende Physik der Stoiker hinaus und betrifft Ethik und Logik. Damit ist mehr als eine Einheit oder Verschrnkung der Philosophieteile behauptet. In diesem Sinne ist Monismus zwar ein physikalisch basiertes Prinzip, aber nicht auf die Physik beschrnkt, weil die gesamte Philosophie nicht nur durch Kohrenz, sondern auch durch Monismus gekennzeichnet ist.100 Die zahlreichen Aussagen zur „Natur des Ganzen“ sind nicht eingehend besprochen worden, dies soll nun anhand der einzelnen Themenfelder und den entsprechenden Argumenten geschehen. Diese kçnnen alle als Aspekte des Monismus, der sich mit der „Natur des Ganzen“ verbindet, verstanden werden. In weiteren Kapiteln wird sich zeigen, dass die „Natur des Ganzen“ 99 Ein alle Aspekte der Physik umspannender Monismus geht ber die Annahme, dass die Stoiker viele (fr uns) verschiedene Fragen als physikalische Fragen betrachtet haben, weit hinaus. Siehe etwa M. Aur. Med. 4, 40: „Sich den Kosmos ununterbrochen als ein Lebewesen denken, das nur ein Sein und eine Seele besitzt, und wie alles in das eine Bewusstsein des Kosmos aufgenommen wird und wie er alles durch einen einzigen Anstoß in Bewegung setzt und wie alles die mitbestimmende Ursache ist von allem, was geschieht, und wie das Verwobensein und die Verflochtenheit aussieht – (das bedenke bei dir).“ 100 Siehe etwa M. Aur. Med. 9, 9. In diesem lngeren Kapitel geht Marc Aurel von einem allgemeinen und bekannten, rein physikalischen Prinzip im engeren Sinne (t¹ blocem´r pq¹r t¹ blocem´r) aus, erlutert es, um es dann auf die anderen Bereiche, wie die Ethik, zu bertragen und dort zu verwenden. (Siehe zum Passus mit vielen Hintergrundinformationen Neuenschwander, H. R.: Marc Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonios, a.a.O., S. 15 f.). Fr die Annahme von gleichen Ordnungsprinzipien im Menschen und im Kosmos argumentiert etwa auch das Kapitel M. Aur. Med. 4, 27. Die Verbindung von Monismus und Immanenz betonen bspw. die Kapitel M. Aur. Med. 4, 45 und 5, 8. Den Monismus hebt Marc Aurel durch sprachliche Mittel hevor: „Es gibt nur ein Sonnenlicht, auch wenn es durch Mauern, Berge und tausend andere Dinge getrennt sein kann. Es gibt nur eine gemeinsame Materie, auch wenn sie durch unzhlige unterschiedliche Kçrper auseinander gehalten wird. Es gibt nur eine Seele, auch wenn sie auf zahllose Wesen und Individuen verteilt ist. Es gibt nur eine denkende Seele, auch wenn sie (in Einzelseelen) getrennt zu sein scheint. … Der Geist aber strebt auf seine Weise zu dem hin, was mit ihm verwandt ist, und vereint sich mit diesem, und das Verlangen nach Gemeinschaft wird nicht zertrennt.“ M. Aur. Med. 12, 30.
2.2 Prinzipien und Elemente
377
auch fr die Einzelnaturen die epistemisch und ethisch zentrale Referenz ist. 2.2 Prinzipien und Elemente Mit der Lehre von zwei grundlegenden Prinzipien verfolgen die Stoiker mehrere Ziele. Mit dem Ziel, eine Erklrung fr alles Existierende geben zu kçnnen, greifen sie auf die ltere Unterscheidung der Fhigkeiten, etwas zu bewirken und eine solche Wirkung zu erfahren, zurck. Diese Erklrung verbinden sie mit drei weiteren, spezifisch stoischen Annahmen: erstens mit der These, dass diese beiden Fhigkeiten nur Kçrpern zu eigen sein kçnnen;101 zweitens identifizieren sie das aktive Prinzip mit der Vernunft und Gott und das passive Prinzip mit der Materie; drittens sind fr sie beide Prinzipien nur analytisch zu trennen, denn sie kommen immer zusammen vor, schon weil es keine formlose Kçrper geben kann und auch jede Seele kçrperlich ist. Mit dieser kompakten Theorie kçnnen die Stoiker Monismus und Immanenz mit dem Materialismus verbinden. Durch die Identifizierung des aktiven Prinzips mit gçttlicher Vernunft schaffen sie zugleich die Grundlage dafr, der Erfassung der Natur eine logische und ethische Bedeutung zuzuweisen. Es gibt nichts, was nicht durch Vernunft (bzw. Gott) und Materie erklrt werden kann, so dass jede Aussage letztlich auf diesen beiden Prinzipien fußt.102 Sich auf die Natur als Maß des Lebens zu be101 Die Fhigkeit aktiv zu sein bzw. etwas zu erleiden, basiert auf bestimmten Kriterien, genauer: auf Dreidimensionalitt und Soliditt (siehe Diog. Laert. 7, 135). Materialismus und der Begriff des Kçrpers einerseits und die Kriterien bzw. Fhigkeiten aktiv oder passiv zu sein andererseits stehen in einem schwierigen Verhltnis. Die ltere Ansich lautet: Stoic philosophy designates a capacity to act or to be acted, and not a three dimensional solid“ (Reesors, M. E.: The Stoic Concept of Quality, in: American Jourunal of Philology 75 (1957), S. 63 – 82). Dagegen ist es wahrscheinlicher, „dass die Stoiker unter einem physikalischen Kçper etwas dreidimensional Solides verstanden haben und nicht primr etwa ,a capacity to act or to be acted upon‘. Bei poie?m und p²sweim handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die allgemeinsten Kriterien, nach Maßgabe derer eine Reihe von Stoikern einen Entscheid darber fllten, ob etwas unter die Klasse der seienden (man muss sagen: daseienden) Dinge zu rechnen ist (…). Erfllt werden diese Bedingungen aber nur von solchen Dingen, die dreidimensional und widerstandsfhig sind; hier besteht offenbar eine Klassenidentitt. Beide Begriffe sind extensional quivalent.“ (Graeser, A.: Zenon von Kition. Positionen und Probleme, a.a.O., S. 93). 102 Fr hiesige Belange kann unentschieden bleiben, ob Materie und Gott daher als metaphysische Grundlage zu bezeichnen sind (so etwa unbefangen in ihrem
378 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz rufen, impliziert so in jeder denkbaren Variante, dass man damit ein vernnftiges und gottgewolltes Leben fhrt. Marc Aurel kommt recht hufig auf diese stoischen Prinzipien zu sprechen. Die Fhigkeit, etwas zu bewirken bzw. zu erleiden, und die spezifisch stoische These, dass diese Vermçgen nur von Kçrpern besessen werden kçnnen, interessiert ihn dabei jedoch kaum. Er expliziert diese Unterscheidung nirgendwo. Whrend ihn die Verbindung der Prinzipienannahme mit dem Materialismus wenig beschftigt, spielen Monismus und Immanenz und vor allem die ethischen Implikationen eine große Rolle fr ihn. Doch auch diesen Zusammenhang erlutert Marc Aurel nur selten explizit und auch dann nur sehr elliptisch, so dass wir auf Rekonstruktionen angewiesen sind. Gerade der bei ihm besonders stark ausgeprgte Gedanke der Gemeinschaft, der auf physikalischem wie ethischem Gebiet prominent ist, wird von diesen berlegungen getragen. Obschon er sich fr die Prozesse der Elemente berraschend hufig interessiert, kann Marc Aurel fr die genannten Belange den materialistischen Aspekt vernachlssigen. Die Unterscheidung der beiden Prinzipien taucht bei Marc Aurel nicht in der gngigen Form der Unterscheidung eines aktiven und passiven Prinzips auf.103 Er nennt mehrfach eine Distinktion von Stoff und Ursache.104 Die verschiedenen Nennungen sind interessant, weil sie je andere Aspekte akzentuieren, die Marc Aurel mit der Unterscheidung verbindet.
Kommentar Long/Sedley in Long, A. A./Sedley, D. (Hg.): Die hellenistischen Philosophen, a.a.O., S. 45; ebenfalls unter Verwendung des Ausdrucks aber nach subtiler Erçrterung Brunschwig, J.: Stoic Metaphysics, a.a.O.). 103 Diogenes Laertius fasst die Lehre der Stoiker wie folgt zusammen: „Sie sind der Ansicht, dass das Universum zwei Prinzipien habe, das Ttige und das, worauf eingewirkt wird. Dasjenige, worauf eingewirkt wird, wie die nicht eigenschaftsmßig bestimmte Substanz, d. h. die Materie; das Ttige dagegen sei die Vernunft in ihr, d. h. Gott. Da sie nmlich ewig sei, schaffe sie jeden einzelnen Gegenstand im gesamten Bereich der Materie … Sie sagen nmlich, zwischen Prinzipien und Elementen bestehe ein Unterschied; erstere nmlich seien ungeworden und unvergnglich, whrend die Elemente beim Weltenbrand zugrundegingen. Außerdem seien die Prinzipien auch Kçrper und htten keine Form, whrend die Elemente mit einer Form ausgestattet seien.“ Diog. Laert. 7, 134 (=LS 44 B). Auffllig ist, dass sich Marc Aurel wenig fr die Kçrperlichkeit der Prinzipien interessiert, die Umwandlung der Elemente ist fr ihn jedoch wichtig, zumindest spricht er sie hufig an. 104 Siehe zum Beispiel: „Unterscheide und unterteile das Gegebene in das Verursachende und das Stoffliche.“ M. Aur. Med. 7, 29.
2.2 Prinzipien und Elemente
379
Er betont zunchst die grundlegend lebenspraktische Bedeutung der Unterscheidung: „Das Heil unseres Lebens beruht darauf, dass wir ganz durchschauen, was das Wesen jeder einzelnen Sache ist, worin ihr stofflicher Gehalt besteht und was sie verursacht hat.“105 Ferner ist die Unterscheidung von Ursache und Stoff fr ihn zugleich Grundlage jeder wahren Aussage.106 Whrend Marc Aurel weniger an den stofflichen Aspekten der Prinzipien interessiert ist, betont er Monismus und Immanenz. Die „Einheit des Seins“107 wird durch eine einzige Vernunft gewhrleistet, „die das ganze Sein durchzieht und das All durch alle Ewigkeit fr jeweils bestimmte Zeitabschnitte lenkt.“108 Hier wird eine andere Seite des Monismus betont: Das Zusammenspiel der beiden ersten Prinzipien ist nicht nur ein „geschlossenes System“, aus dem Nichts verloren geht, es ist auch das einzige System und es erfasst alles: „Es gibt nur eine gemeinsame Materie, auch wenn sie durch unzhlige unterschiedliche Kçrper auseinandergehalten wird.“109 Es gibt demnach sowohl in topographischer als auch chronologischer Hinsicht nichts, das außerhalb des Wirkkreises der Natur des Weltganzen fllt.110 105 M. Aur. Med. 12, 29. Das Unterscheiden von hyletischen und kausalen Prinzipien ist fr Marc Aurel offensichtlich Teil der Affekttherapie: „Ich habe genug von dem elenden Leben, dem Widerwillen und dem affenartigen Gebaren. Warum regst du dich auf ? Was ist denn neu daran? Was bringt dich aus der Fassung? Die Ursache? Sieh sie dir an. Außerhalb von Ursache und Materie gibt es nichts. Doch bei den Gçttern, werde nun endlich einfacher und besser.“ (M. Aur. Med. 9, 37). 106 Siehe M. Aur. Med. 4, 21. 107 Siehe M. Aur. Med. 6, 38 und 6, 4. 108 M. Aur. Med. 5, 32. 109 M. Aur. Med. 12, 30 (siehe auch 6, 25). 110 Siehe M. Aur. Med. 8, 50. Bezeichnend fr Marc Aurel ist auch hier, dass er sich fr die materialistischen Aspekte nicht interessiert, aber die stoischen Lehren dazu offensichtlich kennt und auf ethische Aspekte reduziert bzw. bezieht. So erwhnt Marc Aurel nirgendwo die fr die Stoiker in diesem Zusammenhang notwendige Widerlegung der These, dass es irgendwo im Kosmos, nmlich zwischen den Kçrpern Leere gibt. Das wren dann Bereiche, die ohne gçttliche Vernunft wren, so dass Monismus und Immanenz nicht mehr gewhrleistet wren. Fr die Lehre vom notwendigen Kontakt bei den Stoikern siehe etwa Nemesion De natura hominis 78, 7 – 79, 2 (=LS 45 C). Laut Stoiker ist die sympatheia das, was passiert, wenn Kçrper notwendig miteinander interagieren. Und die sympatheia ist fr Marc Aurel von großer ethischer Bedeutung und ein Aspekt des Monismus, den er besonders betont.
380 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Dass es eine einheitliche und vernnftige Ordnung der Welt gibt, ist fr Marc Aurel von besonderer Wichtigkeit fr die Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens.111 Einen affekttherapeutischen Anfang hat das Kapitel 8, 50, denn hier geht es um rger ber bestimmte Dinge bzw. Vorkommnisse in der Welt. Dieser rger wird dann unter Heranziehung der Handwerkermetapher ins Kosmologische gewendet und so als unbegrndet abgetan:112 Denn du wirst von einem Kenner der Natur ausgelacht werden, wie du auch von einem Zimmermann und von einem Schuhmacher ausgelacht wrdest, wenn du daran Anstoß nehmen wrdest, dass du in der Werkstatt Spne und Abflle von den hergestellten Gegenstnden siehst.113 … Aber die Natur des Weltganzen hat nichts außerhalb ihrer Grenzen, doch das Wunderbare ihrer Kunst besteht darin, dass sie innerhalb ihrer selbst gesetzten Grenzen alles, was in ihr zu verderben, zu altern und unbrauchbar zu sein scheint, in sich selbst zurckverwandelt und wieder anderes Neues daraus herstellt, damit sie weder Materie von außen heranziehen muss, noch einen Platz braucht, wohin sie das Verrottete werfen wrde. Ihr gengt also ihr eigener Raum, ihr Stoff und ihre eigene Kunst.114
Besonders aufschlussreich sind Kapitel, in denen die Aufforderung, bei allem die hyletischen und kausalen Faktoren zu bedenken, durch die Angabe von zwei weiteren Aspekten erweitert wird, die fr jede Sache wichtig sind, nmlich Zeit und Zweck.115 Damit nennt Marc Aurel weitere alles betreffende, weil alles bestimmende Aspekte. Ihre Nennung ist jedoch nicht als Aufweichung, Aufgabe oder Entwertung des Monismus zu verstehen, sondern es handelt sich um ergnzende Erluterungen, die je unterschiedliche praktische Bedeutungen haben. 111 „Falls es aber keine Gçtter gibt oder sie sich um die menschlichen Dinge nicht kmmern, was fr einen Sinn hat es dann fr mich, in einer Welt ohne Gçtter oder ohne Vorsehung zu leben? Doch es gibt Gçtter, und sie kmmern sich auch um die menschlichen Angelegenheiten; … Weder aus Unwissenheit noch wissentlich, aber unfhig, Vorsorge zu treffen oder den Fehler zu korrigieren, htte die Natur des Ganzen das bersehen, noch htte sie aus Unfhigkeit oder Ungeschicklichkeit einen so schweren Fehler begangen, dass das Gute und das Bçse gleichermaßen den guten wie den bçsen Menschen ohne Unterschied zuteil wird.“ M. Aur. Med. 2, 11. 112 Den stoischen Monismus bringt Chalcidius mit der Handwerksmetapher in seinem Timaios-Kommentar zusammen (siehe Chalcid. In Tim. 293 (=LS 44 E)). Die Handwerksmetaphorik verwendet Marc Aurel in diesem Zusammenhang oft. 113 Bei Spnen und Abfllen drfte es sich um die unbeabsichtigten Nebenfolgen handeln (siehe dazu Kap. II 2.6). 114 M. Aur. Med. 8, 50. 115 Alle vier Faktoren (Stoff, Ursache, Zeit und Zweck) werden nur in einem Kapitel genannt (siehe M. Aur. Med. 12, 18).
2.2 Prinzipien und Elemente
381
Zunchst der etwas seltener genannte Zweck: „Die Dinge selbst sehen, wie sie sind, indem man Stoff, Ursache und Zweck unterscheidet.“116 Der kurze Eintrag erlutert nicht, was sich hinter der weiteren Angabe verbirgt, aber aus anderen Kapiteln wird klar, dass die Wirkung der Vernunft auf die Materie einer Teleologie folgt und als Vorsehung verstanden wird: „Die Vernunft, die die Welt regiert, weiß, mit welchem Plan sie was an welchem Stoff bewirkt.“117 Das Wirken der Vernunft auf die Hyle ist also ber einzelne Kçrper hinaus in seiner Abfolge und Gesamtheit vernnftig. Die Vernunft, die auf die Materie wirkt, verfolgt damit auch nur ein Ziel. Mit dieser teleologischen Seite des Monismus verbinden sich weitere Aspekte, etwa Fragen der Bewertung, wie bspw. ob die leitende Vernunft selbst und die Wirkungen der Vernunft auf die Materie als gut oder schlecht bezeichnet werden drfen. Ferner kçnnen die Formungen der Materie als Zuteilungen der gçttlichen kosmischen Vernunft beschrieben werden: Das Sein des Ganzen ist leicht zu beeinflussen und zu verndern. Die Vernunft aber, die ber diesem Sein waltet, hat keinen Grund in sich, etwas Schlechtes zu bewirken. Sie verfgt nmlich nicht ber Schlechtigkeit und tut auch keinem Ding etwas Schlechtes an, und nichts wird von ihr geschdigt. Alles geschieht und vollendet sich in ihrem Sinne.118
Neben Ursache und Hyle erwhnt Marc Aurel die Zeit als weiteren bestimmenden Faktor: Befass dich mit der Beschaffenheit seines verursachenden Prinzips, grenze es vom Stofflichen ab und sieh es dir an. Dann bestimme auch die Zeit, die es seiner Natur nach hçchstens zur Verfgung hat, um in seiner spezifischen Eigenschaft zu bestehen.119
Auch die Erwhnung der Zeit sprengt den Monismus nicht. Das kausale Wirken der Vernunft auf die Materie erfolgt als Prinzip zwar ewig, aber die einzelnen Formungen sind sehr kurzlebig: „Alles Materielle verschwindet 116 M. Aur. Med. 12, 10. 117 M. Aur. Med. 6, 5. 118 M. Aur. Med. 6, 1. Siehe dazu nochmals M. Aur. Med. 2, 11. Auf diese Aspekte wird im Folgenden ausfhrlich einzugehen sein. Ebenso eindeutig ist: „aus einer einzigen geistigen Quelle und widerfhrt gewissermaßen nur einem einzigen Kçrper, und der Teil darf sich ber das, was fr das Ganze geschieht, nicht beschweren.“ M. Aur. Med. 9, 39. 119 M. Aur. Med. 9, 25 (siehe auch 8, 11: „Was ist dieses Ding an sich und seiner individuellen Natur nach? Was ist seine Substanz und sein Stoff ? Was ist seine Ursache? Was bewirkt es im Kosmos? Wie lange besteht es?“).
382 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz sehr bald im Sein des Ganzen, jede Ursache geht sehr bald wieder in die Vernunft des Ganzen ein“.120 Aus diesem Gedanken, der auf den Wandel verweist, resultiert auch die konsolatorische Bedeutung der bei Marc Aurel sehr reduziert angesprochenen Prinzipienlehre. Erstens dient dieser Gedanke der generellen Entwertung aller Dinge oder allgemeiner: der Feststellung, dass es sich um Adiaphora handeln muss. Wenn keine Formgebung der Materie von Dauer ist, lohnt es sich nicht, damit Erwartungen und Befrchtungen zu verbinden, in dem es fr ein Gut oder bel gehalten wird, denn was immer etwas ist, es wird bald etwas anderes sein. Nach stoischer Lehre kçnnen aktives und passives Prinzip nur theoretisch unterschieden werden, denn sie treten immer zusammen auf. Die Unterscheidung wird von Marc Aurel zu einem besonderen Zweck verwandt, denn im Rahmen der Konsolation ist es bei Marc Aurel vor allem die Hyle, die entwertet wird: „Dies alles ist durch Erfahrung vertraut, aber kurzlebig in zeitlicher Hinsicht und schmutzig aufgrund seines Stoffes.“121 Zweitens verwendet Marc Aurel die Prinzipienlehre fr seine Auseinandersetzung mit dem Tod, dem Hauptthema der Konsolation. Zunchst ist trçstlich, dass der Tod nicht das Ende der Existenz darstellt: „Ich bestehe aus einer verursachenden Form und aus Materie. Weder Form noch Materie werden in das Nichts vergehen“.122 Den letzten Gedanken betont er oft: „denn nichts kommt aus dem Nichts, wie es auch nicht in das Nichts verschwindet.“123 Monismus und Immanenz werden ferner direkt fr konsolatorische Belange verwandt, wenn Marc Aurel sich selbst darauf hinweist, dass sie sich als Prinzipien auch auf jeden Zustand nach dem Tod erstrecken: Wenn du in ein anderes Leben hinbergehst, dann ist auch dort alles von Gçttlichem erfllt. Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhçren, Schmerzen und Freuden zu haben und dem
120 M. Aur. Med. 7, 10. 121 M. Aur. Med. 9, 14 (siehe ebenfalls 9, 36: „Der faulige Rest der Materie aus dem alles besteht: Wasser, Staub, Knochen, Gestank. Andererseits sind auch die Marmorblçcke nur Verhrtungen der Erde, Gold und Silber nur ihr Bodensatz, die Kleidung nur Haare, der Purpur nur Blut, und fr alles andere gilt entsprechendes.“). 122 M. Aur. Med. 5, 13. 123 M. Aur. Med. 4, 4 (siehe ebenfalls dazu 4, 21).
2.2 Prinzipien und Elemente
383
Gefß dienen, das so viel weniger wert ist als das, dem es dient. Dieses nmlich ist Geist und gçttliche Kraft, jenes aber nur Erde und Blut.124
Hier wird der Unterschied zwischen den beiden Prinzipien auf den menschlichen Bereich, das Verhltnis von Kçrper und den Elementen, aus denen er besteht, sowie dem gçttlichen Geist in ihm, bertragen. Das geschieht in konsolatorischer Absicht,125 wobei das Verhltnis von Vernunft und Materie als das von Fllung und Gefß verstanden und dabei dem gerade erluterten Verfahren der Entwertung unterworfen wird. Die Existenz eines Menschen und die Begrenzung seines Lebens durch den Tod ist nur Teil der bestndig sich wandelnden Manifestationen der Vernunft in der Materie: Die Natur des Weltganzen hat aus dem gesamten Sein wie aus Wachs gerade ein Pferd gebildet,126 dann aber lçste sie es auf und gebrauchte seine Materie fr einen Baum, dann fr einen Menschen und dann fr etwas anderes.127
Von konsolatorischer Bedeutung ist der Zeitfaktor, weil er eine wichtige Eigenschaft des universalen Wandels ist.128 Der Zeitfaktor in Form der Schnelligkeit des Wandels ist fr Marc Aurel ein wesentliches Merkmal des Kosmos. Nun kann die Bedeutung der Elemente erlutert werden. Mit ihrer Lehre von den Elementen unterscheiden sich die Stoiker z. B. von der Kosmologie des Aristoteles, da die Elemente fr die Stoiker nur besondere Manifestationsformen der Materie sind und als solche nicht 124 M. Aur. Med. 3, 3. 125 Siehe dazu den Beginn des Kapitels M. Aur. Med. 3, 3. 126 Marc Aurel vertritt hier, wenn wir spteren Berichten glauben drfen, sogar die die Wachsmetaphorik einschließende altstoische Position. Siehe die Parallele Chalcid. In Tim. 292 (=LS 44 D): „Zenon sagt, dass eben diese Substanz begrenzt ist und dass sie das eine gemeinsame Zugrundeliegende oder Substrat alles dessen ist, was existiert. Außerdem ist sie teilbar und kontinuierlich vernderbar. Ihre Teile unterliegen der Vernderung, gehen aber nicht so unter, als ob sie von etwas, das existiert, zu nichts vergehen wrden. Wie es vielmehr mit den unzhlbar vielen verschiedenen Gestalten von Wachs ist, so gibt es auch, meint er, keine Form und keine Gestalt und keinerlei Eigenschaft, die der Materie eigen wre und die die Grundlage aller Dinge bilden wrde.“ 127 M. Aur. Med. 7, 23. Auch hier geht Marc Aurel wieder zu Fragen der Bewertung ber, denn der Eintrag fhrt fort: „Es ist aber fr einen Kasten ebenso wenig furchtbar, auseinandergenommen wie zusammengefgt zu werden.“ 128 „Alles, was du siehst, wird die Natur, die das Weltganze durchwaltet, bald verndern und sie wird anderes aus ihrem Sein erzeugen und wiederum anderes aus dem Sein jener anderen Dinge, damit der Kosmos immer wieder neu ist.“ M. Aur. Med. 7, 25.
384 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz dauerhaft. Die Elementenlehre ist demnach ganz darauf angelegt, die durch Monismus und Immanenz geprgte Naturlehre zu untersttzen bzw. fortzufhren.129 Nur wenige Versatzstcke der stoischen Lehre von den Elementen sind auch bei Marc Aurel erhalten, so etwa die Annahme, dass auch die Elemente keine dauerhafte Existenz haben und dem Wandel unterworfen sind: „Den Kosmos aber erhalten die Verwandlungen sowohl der kleinsten Bausteine wie auch der zusammengesetzten Kçrper.“130 Bemerkenswert ist, dass bei Marc Aurel, der Heraklit offensichtlich gut kannte, wie in anderen Zusammenhngen deutlich wird, das Feuer keine herausragende Rolle spielt. Fr die Stoiker ist Feuer ein besonderes Element, denn sie bernehmen von Heraklit die Identitt von Logos, Gott und Feuer. Die Elemente erwhnt Marc Aurel jedoch nur wenig und eingeschrnkt. Es finden sich Aufforderungen, die sehr an die Mahnungen erinnern, bei jedem Ding die hyletischen und kausalen Aspekte zu bercksichtigen. So sei es bei jedem Ding wichtig zu wissen: „aus welchen Einzelelementen seine Verbindung besteht und in welche Elemente seine Auflçsung erfolgt.“131 Die Erwhnung der Elemente scheint hier aber keine weitergehende Lehrmeinung zu implizieren, sondern fgt sich in die Absicht, durch Analyse die Dinge zu entwerten. Die Elemente und ihre Wandlungen werden nur in zwei Kapiteln spezifischer und ausfhrlicher angesprochen: Das Hauchartige in dir und alles Feurige, soweit es ihm beigemischt ist, strebt zwar von Natur aus nach oben, aber es gehorcht trotzdem der Ordnung des Weltganzen und wird hier in der Mischung (des Kçrpers) zurckgehalten. Aber auch das Erdige in dir und Feuchte streben zwar nach unten, aber sie werden trotzdem angeregt und mssen einen nicht-natrlichen Standort einnehmen. So also gehorchen auch die Elemente dem Weltganzen und 129 Siehe: „Gott, Einsicht und Zeus sind alle ein einziges [Wesen], und man hat dafr auch noch viele andere Bezeichnungen. Anfangs war er ganz fr sich selbst und verwandelte mittels der Luft die gesamte Substanz in Wasser. Und gerade wie in der Samenflssigkeit der Same enthalten ist, so steht Gott, der das Samenprinzip der Welt ist, als solches in [dieser hinter] der Feuchtigkeit und macht die Materie ihm selbst dienstbar – im Hinblick auf die anschließenden Stufen der Schçpfung. Sodann schafft er als erstes die vier Elemente: Feuer, Wasser, Luft und Erde.“ Diog. Laert. 7, 135 – 136 (=LS 46 B). 130 M. Aur. Med. 2, 3 (s]fousi d³ j|slom, ¦speq aR t_m stoiwe_ym, ovtyr ja· aR t_m sucjqil\tym letaboka_). 131 M. Aur. Med. 12, 24.
2.2 Prinzipien und Elemente
385
bleiben zwangslufig an ihrem Platz, sobald sie irgendwo hingestellt wurden, bis von dort wieder das Zeichen zur Auflçsung ertçnt.132
Soweit macht das Kapitel klar, dass dem Feuer keine Sonderstellung im Denken Marc Aurels zukommt. Lediglich in einem Kapitel wird die Vernunft mit dem Feuer verglichen, weil sich Vernunft und Feuer von allem nhren kçnnen, was sich ihnen in den Weg stellt. Doch es handelt sich dabei nur um eine Analogie von Vernunft und dem nicht kunstverstndigen Feuer,133 die Marc Aurel hier beschreibt.134 Die von Heraklit herrhrende und bei den Stoikern bekannte Identifikation von Logos, Gott und Feuer ist damit bestenfalls angedeutet. Deutlich wird in dem Passus ferner, dass den Elementen hier keine Eigenstndigkeit im Sinne eines aktiven Prinzips zugesprochen wird. Im Gegenteil gehorchen auch sie der Natur des Ganzen und deren Zuteilungen. Genau letzteres ist auch der fr Marc Aurel entscheidende, weil praktisch relevante Aspekt. Wenn die Elemente, aus denen er besteht, nicht mit der Auflçsung, also dem Tod unzufrieden sind, warum sollte er, sein Hegemonikon, dann urteilen, der Tod sei etwas bles und sich darber beklagen und dagegen auflehnen?135 132 M. Aur. Med. 11, 20. 133 Siehe dazu Stobaios 1, 213, 15 – 21 (=LS 46 D). 134 „Wenn sich die herrschende Vernunft in uns naturgemß verhlt, dann steht sie den Ereignissen so gegenber, dass sie sich auf das jeweils Gegebene stets ohne weiteres einstellen kann. Denn sie bevorzugt keine bestimmte Materie, sondern strebt zwar – mit einer gewissen Einschrnkung – nach den hçheren Zielen, macht aber, was sich entgegenstellt, zu ihrem Bettigungsfeld, wie es das Feuer tut, wenn es die hineinfallenden Gegenstnde verzehrt, von denen eine kleine Flamme erstickt worden wre. Das hoch lodernde Feuer macht sich sehr schnell die hineingeworfenen Dinge zu eigen, verzehrt sie und steigt gerade dadurch noch hçher empor.“ M. Aur. Med. 4, 1. 135 Das Kapitel M. Aur. Med. 11, 20 fhrt fort: „Ist es denn nicht schlimm, dass nur dein denkender Seelenteil ungehorsam und mit seinem Platz unzufrieden ist? Doch auf ihn wird kein Zwang ausgebt, sondern ihm widerfhrt nur, was seiner Natur entspricht. Allerdings hlt er das nicht aus, sondern strebt in die entgegengesetzte Richtung. Denn die Bewegung zu unrechten Taten, zu zgellosem Verhalten, zu Zornesausbrchen, Schmerz- und Angstgefhlen hin ist nichts anderes als Verrat an der Natur. Und wenn das leitende Prinzip sich ber ein Ereignis rgert, auch dann verlsst es seinen Platz.“ Das Kapitel behandelt damit noch ein anderes fr die Stoiker paradoxales Problem, nmlich die Frage, warum gerade das Hegemonikon trotz seiner Fhigkeit, das Maß der Natur zu erkennen, etwas anderes will. Farquharson geht davon aus, dass Marc Aurel zwar die Frage anspricht, aber anders als Augustinus (siehe Confessiones 8, 8 ff.) (siehe Farquharson, A. S. L.:
386 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Das zweite Kapitel, das die Elemente ausfhrlicher erwhnt, beginnt wie folgt: Alles, was an einem Gemeinsamen teilhat, strebt zum Verwandten: Alles Erdige neigt sich der Erde zu, alles Flssige fließt zusammen, das Luftartige ebenfalls, so dass diese Elemente nur durch trennende Mittel und Gewalt voneinander zu scheiden sind. Das Feuer strebt zwar nach oben aufgrund der elementaren Feuersphre, (die den Kosmos umgibt), ist aber so sehr bereit, mit jedem Feuer hier gemeinsam aufzulodern, dass auch jeder Stoff, der ein bisschen trockener ist, leicht entzndbar ist, weil in ihm nicht soviel von dem Stoff enthalten ist, der das Entflammen verhindern kann. Und folglich strebt alles, was an der gemeinsamen Vernunftnatur teilhat, mit gleicher oder noch strkerer Intensitt zu dem ihm Verwandten.136
Auch hier erlutert Marc Aurel einen Aspekt von Monismus und Immanenz anhand der Elemente. Ausgehend von einem universalen, vermeintlich naturwissenschaftlichen Prinzip, das die Elemente bestimmt, nmlich dem Grundsatz t¹ blocem³r pq¹r blocem]r, wird diesmal nicht die natrliche Auflçsung und damit der Tod von allem thematisiert, sondern die Gemeinschaft der Elemente, die ebenso natrlich ist. Dieses universale Prinzip wird dann von Elementen auf vernunftlose Wesen, dann bei hçheren Lebewesen und damit Menschen untersucht bzw. angewandt. Betont wird, dass dieses Prinzip natrlich sei. Auch wer sich gegen Gemeinschaft auflehnt, begeht Verrat, der zumal sinnlos ist: „Denn die Natur ist strker“.137 Zum Schluss des Kapitels wird nochmals die Einheit der Konzeption betont, indem der Ausgangspunkt, die Elemente und der Mensch, zusammen genannt werden. Das ist durch die monistische Grundkonzeption gedeckt: „Man drfte eher etwas Erdiges finden, das mit dem Nicht-Erdigen Verbindung hat, als einen Menschen, der sich von jedem anderen Menschen vçllig abgesondert hat.“138 Das anhand der Elemente eingefhrte Prinzip der Gemeinschaft gilt also fr den Menschen in noch strkerem Maße als fr die Elemente. Auch The Meditations of the Emperor Marcus Aurelius, a.a.O., Vol. I, S. 416). In der Tat betont Marc Aurel, dass es gerade eine Besonderheit des Menschen ist, sich von der Natur, der kosmischen und menschlichen Gemeinschaft zu lçsen. Diese spezifisch menschliche Mçglichkeit zu fehlen behandelt er ausfhrlich (siehe dazu Kap. II 3.2.3). 136 M. Aur. Med. 9, 9. Die Passage ist von vielen Kommentatoren auf Poseidonius und dann Heraklit zurckgefhrt worden (siehe Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O., S. 15 ff., der sich auf Arbeiten von Pohlenz, Heinimann und natrlich Reinhard sttzt). 137 M. Aur. Med. 9, 9. 138 M. Aur. Med. 9, 9.
2.2 Prinzipien und Elemente
387
wenn man folgert, es gehe Marc Aurel auch hier nicht um die Elementenlehre als solche, ist festzuhalten, dass er die Einheitlichkeit der Natur hervorhebt und von den Elementen her entwickelt. An Ausdifferenzierung ist ihm dabei nicht gelegen. Stattdessen betont er den Gemeinschaftsgedanken durch Verwendung entsprechenden Vokabulars. Die Komposita mit den bereits erwhnten „Syn“- Prfixen sind in diesem Kapitel besonders hufig. Die Gemeinsamkeit, die sich durch das Streben jeder Seinsform im Kosmos nach dem jeweils ihm hnlichen manifestiert, resultiert aus der Anwesenheit der einen Vernunft in aller Materie: Von dort aber, d. h. aus diesem gemeinsamen Staat, haben wir unser Denkvermçgen, unser vernnftiges Wesen und unser Bedrfnis nach dem Gesetz. Oder woher sonst? Denn wie ich das Erdige in mir aus einer bestimmten Sorte von Erde zugeteilt erhielt, das Feuchte aus einem anderen Grundstoff, das Hauchartige aus einer entsprechenden Quelle (denn nichts kommt aus dem Nichts, wie es auch nicht in das Nichts verschwindet), so kommt auch das Denkvermçgen irgendwoher.139
Marc Aurel geht es nicht um eine Erklrung einzelner natrlicher Vorgnge oder der Elementbewegungen, sondern um Monismus und Immanenz, um dann im Rahmen einer Teil-Ganzes-Relation praktische Folgerungen zu ziehen. Die Akzeptanz des Monismus ist das fr ihn Entscheidende: Wenn aber jemand die Wirksamkeit der Natur ausschlçsse und annhme, dass die erwhnten Vorgnge mit der natrlichen Eigenschaft der Dinge zu erklren seien, dann wre es auch lcherlich, einerseits zu behaupten, die Teile des Ganzen vernderten sich aufgrund ihrer natrlichen Beschaffenheit, andererseits sich darber wie ber einen widernatrlichen Vorgang zu wundern oder zu rgern, zumal die Auflçsung in die Elemente erfolgt, aus denen jedes Ding entsteht. Denn entweder findet eine Zerstreuung der Elemente statt, aus denen die Dinge zusammengesetzt waren, oder eine Umwandlung des Festen in das Erdige und des Hauchartigen in das Luftartige, so dass auch diese Substanzen wieder in den Geist des Weltganzen aufgenommen werden, ob es nun in bestimmten Zeitrumen in Feuer aufgeht oder in ewigem Wechsel sich erneuert. Stell es dir aber nicht so vor, dass das Feste und das Hauchartige gleich bei ihrer Entstehung da waren. Beides hat nmlich ohne Ausnahme erst gestern aus der eingeatmeten Luft die ihm zufließende Substanz erhalten. Das also, was es erhalten hat, verndert sich, nicht das, was die Mutter gebar. Aber geh davon aus, dass jener Gedanke in einer allzu engen Beziehung zu deiner eigenen Person steht…140
139 M. Aur. Med. 4, 4. 140 M. Aur. Med. 10, 7.
388 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Von den letztgenannten Passagen abgesehen, die den Gemeinschaftsgedanken auf der Ebene der Elemente einfhren und explizieren, erwhnt Marc Aurel auch die Elemente besonders hufig im Kontext der Todesproblematik. Dies zeigt, wie wichtig ihm eine naturkundlich fundierte Konsolation ist. Reprsentativ ist die Aufforderung, den Tod mit heiterer Gelassenheit zu erwarten als ob er nichts anderes sei als die Trennung der Grundbestandteile, aus denen jedes Lebewesen besteht. Wenn es aber fr die Grundbestandteile selbst nicht schlimm ist, dass sich jedes einzelne ununterbrochen in ein anderes verwandelt – warum frchtet man dann die Verwandlung und Trennung aller Grundbestandteile? Das ist doch natrlich. Nichts aber ist schlecht, was natrlich ist.141
Die Konsolation verfhrt hier nicht appellativ wie in vielen anderen Kapiteln, sondern der tragende Gedanke ist ein streng aus allgemeinen Prinzipien deduziertes Argument. Es lsst sich als Syllogismus rekonstruieren: Was immer natrlich ist, kann nicht schlecht sein. Der Tod ist natrlich, nmlich eine Auflçsung in Grundbestandteile. Also kann der Tod nicht schlecht sein.142 Solche strenger formulierten Beweisfhrungen finden sich in der Tat bei Marc Aurel.143 Hier folgt ein konsolatorischer Effekt aus der berlegung, dass dem Menschen wie den Elementen durch die Trennung nichts Schlechtes widerfhrt. Marc Aurel kennt noch eine andere Verwendung der Lehre von den Elementen, die ebenfalls konsolatorisch ist, aber eine etwas andere Angst zu bekmpfen scheint, nmlich die Angst, mit dem Tod inexistent zu werden: Was gestorben ist, fllt nicht aus der Welt. Wenn es hier bleibt, verwandelt es sich auch hier und lçst sich in seine Bestandteile auf, die die Elemente des
141 M. Aur. Med. 2, 17. 142 Siehe ganz hnlich: „Der Tod ist ebenso wie die Geburt ein Geheimnis der Natur: diese ist eine Verbindung aus denselben Grundstoffen, jener eine Auflçsung in dieselben Grundstoffe, aber das ist berhaupt nichts, weswegen man sich schmen msste.“ M. Aur. Med. 4, 5. 143 Ebenfalls syllogistisch verfahrend ist etwa das Kapitel 5, 16: „Wo es mçglich ist zu leben, da kann man auch gut leben. Am Kaiserhof kann man leben. Also kann man am Kaiserhof auch gut leben.“ Siehe zu diesen Argumentationsformen bei Marc Aurel Dalfen, J.: „Wo man leben kann, kann man gut leben.“ Ableitung und Begrndung ethischer Stze bei Marc Aurel und die Problematik von „Sein“ und „Sollen“, in: Dalfen, J./Pfligersdorffer, G. (Hg.): Symmicta philologica salisburgensia, Rom 1980, S. 21 – 41.
2.2 Prinzipien und Elemente
389
Kosmos und deine eigenen sind. Auch sie verwandeln sich und klagen deshalb nicht.144
Gemeint ist offensichtlich keine Unsterblichkeit in dem Sinne, dass ein Mensch als Individuum oder zumindest seine Seele eine ber den Tod hinausgehende kontinuierliche Existenz besitzt. Die Annahme von Elementen und ihren Wandlungen ermçglicht eine andere Vorstellung: Wenn die Seelen weiter bestehen – wie finden sie seit Ewigkeiten Platz in der Luft? Wie kçnnen die Kçrper der Menschen, die seit ewigen Zeiten begraben werden, Platz in der Erde finden? Wie nmlich hier ihre Umwandlung und Auflçsung nach einer bestimmten Zeit anderen Leichen Platz schafft, so bleiben auch die in die Luft bergehenden Seelen nur einige Zeit dort. Dann verwandeln sie sich, gehen in Feuer auf, werden wieder in die zeugende Vernunft des Kosmos aufgenommen und schaffen auf diese Weise Platz fr die neu hinzukommenden Seelen. So kçnnte man antworten, falls man an die Fortexistenz der Seelen glaubt … Und trotzdem finden sie alle Platz, weil sie in Blut umgesetzt werden und sich in luftartige und feurige Substanz verwandeln.145
Der Mensch und seine Seele bestehen als Ganzes nicht weiter. Man kçnnte einwenden, dass der Gedanke, der Tod bedeute auch fr die Seele eine Auflçsung und der Fortbestand sei nur in Form dann getrennter Elemente gewhrleistet, eine geringe konsolatorische Kraft habe. Die stoische Annahme, alles sei kçrperlich, erlaubt Marc Aurel nicht die platonische Annahme, die Seele (oder zumindest der vernnftige Seelenteil) sei unsterblich und auch unauflçslich. Fr Marc Aurel hingegen ist trçstlich, dass er durch die Auflçsung in die Elemente nach dem Tod Teil des kosmischen Ganzen werden kann.146 Die Konsolation zielt also gar nicht auf den einzelnen Menschen bzw. seine Individualitt und seinen Fortbestand als solches ab. Trçstend soll der Gedanke sein, auch durch die Auflçsung, den Tod, am kosmischen Wirken der Vernunft bzw. der Vorsehung durch Teilhabe mitwirken zu kçnnen. Auch die Consolatio, die die Elemente erwhnt, ist stark auf den Einheitsgedanken bezogen. Es gibt jedoch Bemerkungen ber die Elemente, die problematisch sind, weil sie den Monismus zu sprengen scheinen: 144 M. Aur. Med. 8, 18. 145 M. Aur. Med. 4, 21. 146 „Du kamst auf die Welt als ein Teil. Du wirst wieder in dem verschwinden, dem du dein Dasein verdankst, oder besser: du wirst verwandelt in seine zeugende Vernunft aufgenommen werden.“ M. Aur. Med. 4, 14.
390 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz „Auf und ab und im Kreis bewegen sich die Elemente. Aber die Bewegung des sittlichen Handelns ist nicht davon abhngig, sondern sie ist etwa Hçheres.“147 Die Bewegungen der Elemente scheinen hier keinen Schluss auf den Bereich des menschlichen Handelns zu erlauben. Die streng deduktive Ableitung von praktischen Empfehlungen fr den Menschen aus dem Bereich der Elemente scheint hier als Unmçglichkeit angesehen zu werden. Mit der Bemerkung, das Handeln sei nicht nur eine andere, sondern auch eine hçherwertige Sphre, scheint auch der Monismus aufgegeben zu werden.148 Dieser Deutung zufolge kçnnte es sich um eine Sprengung des stoischen Monismus durch ein vielleicht platonisches Einsprengsel im Denken Marc Aurels handeln, weil Marc Aurel hier eine Zwei-Welten-Lehre andeutet. Obschon mit diesem Platonismus auch die bereits festgestellte Abwertung der Hyle bei der Beschreibung der stoischen Prinzipienlehre erklrt wre, drfte diese Interpretation zu weit gehen.149 Denn Marc Aurel bezweifelt oder kritisiert niemals, dass die Seele kçrperlich ist.150 Wrde er von einer platonischen Position aus alles Materielle entwerten wollen, msste dies die Seele einschließen. Damit sind jedoch nur die Passagen zur Entwertung der Hyle im Rahmen seines Stoizismus erklrt, nicht das soeben zitierte Kapitel 6, 17. Gibt Marc Aurel hier den stoischen Monismus auf ? Der Unterschied, den Marc Aurel in diesem Kapitel zwischen den Bewegungen der Elemente und den Bewegungen der ethischen Handlungen konstatiert, kann durchaus eine Binnendifferenzierung des Monismus sein und wre damit durch diesen gedeckt. Zu bercksichtigen ist, dass Monismus und Immanenz weder implizieren, dass alles im Kosmos immer in jeder Hinsicht gleich ist, noch die Abwesenheit von Hierarchien ausschließen. Es finden sich bei Marc Aurel solche Abstufungen, die der Monismus deckt oder sogar als Kriterium fr die Stufung trgt. Das Kapitel 6, 14 nennt folgende Abstufung:
147 M. Aur. Med. 6, 17. 148 Vor hnlichem Hintergrund scheint M. Aur. Med. 6, 14 zu argumentieren. 149 Die Frage, ob Marc Aurel insgesamt als orthodoxer Stoiker einzuschtzen ist, kann nur abschließend und anhand vieler einzelner Beobachtungen entschieden werden. Ob er Platonismen vertritt, ist vor allem anhand seiner Anthropologie bzw. Seelenlehre erçrtert worden (siehe dazu Kap. II 3.1). 150 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 21.
2.2 Prinzipien und Elemente
391
(i)
„Gegenstnde“, „die von einer inneren Kraft oder Natur zusammengehalten werden“, (ii) „Sachen“, „die von einer Seele zusammengehalten werden, wie z. B. Schaf- oder Ziegenherden“, (iii) „Dinge“, „die von einer vernnftigen Seele zusammengehalten werden, allerdings nicht von der Seele des Weltganzen, sondern insofern sie knstlerisch begabt oder in anderer Hinsicht gebt ist“, (iv) das „Ganze“, das durch die „umfassende und auf die Gemeinschaft bezogene Seele“ bestimmt wird.151 Dabei finden sich jedoch keine Andeutungen dazu, dass hier ontologisch unterschiedliche oder von verschiedenen Prinzipien bestimmte Bereiche separiert werden. Im Gegenteil sind alle Bereiche durch die Natur des Ganzen sowohl in kausaler als auch teleologischer Hinsicht geeint. Vom Prinzip des Monismus’ distanziert sich Marc Aurel an keiner Stelle. Der Einheitsgedanke ist vielmehr sein Hauptanliegen auf physikalischem Gebiet.152 Wenn Marc Aurel trotz dieser Unterscheidung bestimmter Stufungen nirgendwo von dem Gedanken Abstand nimmt, dass alles gemeinsam von der Natur des Ganzen bestimmt werde, ist es nahe liegend, das fragliche Kapitel 6, 17 nicht als Hinweis auf eine platonische Vorstellung einer Zweiweltenlehre zu verstehen. Es gibt viel wahrscheinlicher in verkrzter Form einen Gedanken wieder, der in einem anderen Kapitel so formuliert wird: „Der leitende und herrschende Teil deiner Seele soll nicht berhrt werden von der glatten oder rauen Bewegung in deinem Fleisch und sich nicht damit verbinden“.153 Die Elementbewegungen, die die Bewegungen des Fleisches ausmachen, sollen die Aktivitt der ebenfalls aus Elementen bestehenden Seele nicht beeinflussen. Die Fortsetzung des Kapitels macht klar, dass es Marc 151 Siehe M. Aur. Med. 6, 14. An einer anderen Stelle wird noch deutlicher, dass die Stufung im Zusammenhang mit der Vorstellung steht, dass die Elemente einer Gruppe je von einer bestimmten Seele erfasst sind: „Die vernunftlosen Wesen haben eine einzige Seele gemeinsam; die vernnftigen Wesen haben ebenfalls eine einzige Seele gemeinsam, wie es auch nur eine Erde gibt, aus der alles Irdische besteht, und wir mit Hilfe eines einzigen Lichtes sehen und eine Luft atmen.“ M. Aur. Med. 9, 8 (hnlich, aber weniger explizit ist 10, 33). 152 Die Bedeutung der Stufungen zeigt sich auf anderen Gebieten: Nur Menschen kçnnen auch wider ihre Natur handeln und sich von der Gemeinschaft isolieren. Aber andererseits kçnnen sie sich auch wieder eingliedern (siehe Kap. II 3.2.3). 153 M. Aur. Med. 5, 26 (hnlich auch 10, 25 und 12, 1).
392 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Aurel hier um die Unabhngigkeit des Hegemonikons von den sinnlichen, also kçrperlich vermittelten Sinneseindrcken geht.154 Die Bemerkung, dass das Hegemonikon mit dem Fleisch in einem einheitlichen Kçrper lokalisiert ist und eine gegenseitige innere Verbindung herrscht, kann als Hinweis verstanden werden, dass es zwischen der Materie der Seele und der des Fleisches eben keine Leere oder eben kein platonischen Hiat zwischen einem Kçrper und einer Seele besteht. 2.3 Der Kosmos als Ursachengeflecht Nicht nur wegen des bereits erwhnten Problems, dass die Quellenlage uns nur wenige bruchstckhafte Texte bietet, gestaltet sich die Rekonstruktion und Bewertung der stoischen Vorstellungen von Ursachen und ihren Beziehungen untereinander als besonders schwierig.155 Das liegt zum einen daran, dass die Diskussion ber „Ursachen“ im stoischen Kontext zwar stark von den aristotelischen Unterscheidungen geprgt ist, aber eine Einordnung der stoischen „Ursachen“ in das aristotelische Schema nicht einfach gelingen kann.156
154 „Wenn sie [die rauen Bewegungen, M.v.A.] aber durch die gegenseitige innere Verbindung in die denkende Seele aufsteigen, wie es in einem einheitlichen Kçrper mçglich sein kann, dann versuche zwar nicht, gegen die sinnliche Wahrnehmung, da sie natrlich ist, anzugehen, aber der leitende Teil der Seele soll von sich aus nicht die Auffassung hinzufgen, dass es sich dabei um etwas Gutes oder etwas Bçses handele.“ M. Aur. Med. 5, 26. 155 Einen Eindruck von den besonderen Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der stoischen Vorstellung von Verursachung gibt etwa Frede, M.: The Original notion of cause, in: Barnes, J./Burnyeat, M./Schofield, M. (Hg.): Doubt and Dogmatism, Oxford 1980, S. 217 – 249. 156 Einer lteren Ansicht zufolge erlaubte der Materialismus den Stoikern nur die Akzeptanz der aristotelischen causa efficiens als einzigem Grund (so etwa bei Peason, A. C.: The Fragments of Zenon and Cleanthes, Cambridge 1891, S. 76). Siehe dazu bereits die kritische Argumentation von Graeser, A.: Zenon von Kition, a.a.O., S. 82 ff.: Graeser erinnert zunchst daran, dass Zenon nicht von aQt_a sondern aQt_om (siehe Stob. Ecl. 1, 138, 3 – 4) redet, dann rckt er Zenons Auffassung – etwa im Rekurs auf Pl. Phd. 99c-105c – in die Nhe der platonischen Position: „Diese Art Erklrungen zu denken, kçnnte sich auf Platons Metaphysik berufen. Denn dort erfhrt die Frage ,Warum ist x F?‘ die Antwort: ,x ist F aufgrund seiner Teilhabe an F‘ … Tatschlich wre es irrig, die platonischen Ideen auch als das fungieren zu lassen, was bei Aristoteles mit dem Begriff der causa efficiens gekennzeichnet wird.“
2.3 Der Kosmos als Ursachengeflecht
393
Zum anderen scheint es entweder große Unterschiede zwischen den Stoikern zu geben, oder es ist ußerst umstritten, was einzelne Autoren in ihren Texten berhaupt zum Ausdruck bringen wollen. Besonders einschlgig ist die Kontroverse, ob Chrysipp eine komplette Klassifikation von eigenstndigen Typen von Ursachen beabsichtigt habe. Whrend einige einflussreiche Kommentatoren besonders mit Blick auf Ciceros Bericht in De Fato die Frage bejaht haben,157 pldiert S. Bobzien fr eine ganz andere Lesart: Chrysippus neither developed a finished taxonomy of causes, nor intended to do so, and that he did not have a set of technical terms for mutually exclusive classes of causes, so that each cause can be assigned to its class. The various adjectives which he used for causes had the function of describing or explaining particular features of certain causes.158
Neben den Versuchen, frhere stoische Positionen zu rekonstruieren, bedrfen auch die spteren Berichterstatter und ihre Ansichten (etwa Cicero, Alexander usw.) einer umfangreicheren und komplexeren Wrdigung. Diese Hinweise zeigen noch einmal exemplarisch, dass Marc Aurels Positionen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht vor dem Hintergrund der gesamten stoischen Tradition dargestellt werden kçnnen.
Einen konzisen berblick ber die Unterschiede zwischen Aristoteles und den Stoikern gibt Frede, D.: Stoic Determinism, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 179 – 205, hier: S. 181 ff. Eine gute Gesamtschau der antiken Vorstellungen bietet Hankinson, R. J.: Cause and Explanation in Ancient Greek Thought, Oxford 2001. 157 So die Ansicht von Long, A. A./Sedley, D. (Hg.): Die hellenistischen Philosophen, a.a.O., S. 406 ff.; Duhot, J. J.: La Conception stoicienne de la causalit, Paris 1989, S. 172. 158 Bobzien, S.: Chrysippus’ Theory of Causes, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, S. 196 – 242, hier: S. 197. Auch Bobzien unterscheidet letztlich zwei Arten von Ursachen, wenn auch ohne Anspruch auf Vollstndigkeit: Ursachen fr einen Status und Ursachen fr Wandel. Erstere sind “self-sufficient” und “cohesive”, whrend Wandel zustzlich eine “antecedent cause” braucht, die zur Natur des Objektes, das sich wandelt, als “principal cause” hinzukommen muss (siehe S. 241). Siehe auch Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, Oxford 1998. Siehe auch Schrçder, S.: Philosophische und medizinische Ursachensystematik und der stoische Determinismus, in: Prometheus 15 (1989), S. 209 – 239 und Prometheus 16 (1990), S. 5 – 26 und 137 – 154. Fr (andere) Kritik an Bobziens Entwurf siehe auch Frede, D.: Stoic Determinism, a.a.O., S. 190, Anm. 25.
394 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Fr die Erçrterung der Positionen Marc Aurels kçnnen jedoch aus der allgemeinen Beschreibung der stoischen Urteilslehre zwei Anknpfungspunkte gewhlt werden. Erstens hat Andreas Graeser hat eine sprachphilosophisch orientierte Deutung der stoischen Auffassung von „Ursache“ vorgelegt,159 der zufolge man als kausal nur solche Beziehungen annimmt, die eine Art von innerer Relation bedeuten; anders gesagt: die Angabe eines aUtiom drckt eben nicht, wie die anderen meinen,160 eine pqºr-(externe) Beziehung (z. B. ,A verursacht B‘) aus. Das stoische Verstndnis der Begriffe aUtiom und oqj aUtiom zielt auf die Bercksichtigung nur solcher Beziehungen, die gewissermaßen intrinsizistisch bestehen.161
Dabei handelt es sich zunchst nur um einen Hinweis auf besondere Kriterien, die die Stoiker mit Verursachung verbinden. Die Bedeutung der inneren Relation betont auch Marc Aurel: Die Konsequenzen ergeben sich immer mit innerer Notwendigkeit aus ihren Voraussetzungen. Denn dies funktioniert nicht wie ein Zusammenzhlen, das ohne innere Verknpfung und nur nach einer verbindlichen Regel abluft, sondern es handelt sich um einen vernnftigen Zusammenhang. Und wie das Seiende harmonisch zusammengefgt ist, so lsst auch das Werdende keine bloße Abfolge, sondern einen wunderbaren Zusammenhang erkennen.162
Zum Ausdruck kommt hier bereits, dass fr Marc Aurel Kausalitt eine intrinsische Verbindung voraussetzt. Obschon dies nicht nher erlutert wird, scheint das, was spter „mechanische Kausalitt“ genannt wird, damit ausgeschlossen zu werden, weil nicht nur das Zusammenzhlen, sondern eine dies umfassende verbindliche Regel das ausschlaggebende Kriterium ist. Darber hinaus ist erkennbar, dass es Marc Aurel nicht um einzelne Flle von Verursachung geht, sondern um den Umstand, dass die vielen Verursachungen insgesamt in einem sehr besonderen Zusammenhang stehen, dem zufolge das gesamte Seiende harmonisch ist. Damit ist der zweite Anknpfungspunkt berhrt. 159 „Amplifizierend darf man Zenons Frage vielleicht so formulieren: Was passiert in der Außenwelt, dass wir auf dem Boden unseres sprachgebundenen Denkens dazu kommen, einem grammatischen Subjekt ein grammatisches Prdikat zu geben?“ Graeser, A.: Zenon von Kition, a.a.O., S. 84. Diese Deutung geschieht in Rekurs auf Ayers, A. J.: Language, Truth and Logic, 2. Aufl., Oxford 1956, S. 51. Antike Grundlage ist u. a. Sext. Emp. Math. 9, 211. 160 Sext. Emp. Pyr. 3, 16. 161 Graeser, A.: Zenon von Kition, a.a.O., S. 84 f. 162 M. Aur. Med. 4, 45 (siehe auch 10, 6).
2.3 Der Kosmos als Ursachengeflecht
395
Zweitens ist nicht nur die Vorstellung von Verursachung spezifisch stoisch. So beschrnkt sich der genannte Zusammenhang keineswegs auf die Relation von Verursachung und Propositionalitt. Vielmehr wird die stoische Lehre von Verursachung von ontologischen und physischen Annahmen getragen. Insbesondere die stoische Annahme des Zusammenhangs der vielen Ursachen einerseits und andererseits die Vorstellung, dass der Determinismus eine teleologische Dimension hat, verweisen auf die stoische Kosmologie. Die Lehre von Monismus und Immanenz sowie die notwendige Einheit des aktiven und passiven Prinzips manifestieren sich hier in Form der Vorstellung einer durch die gçttliche Vorsehung begrndeten Einheit von mechanischer Kausalitt und Teleologie.163 Vielleicht lsst sich sagen, dass bei den Stoikern der These von der harmonischen Verschrnkung alles Seienden auf der Objektseite, auf der Theorieseite die These von einer ebenso engen Verbindung der Philosophiedisziplinen entspricht. berspitzt formuliert: Monismus und Immanenz sind damit nicht nur die tragenden Aspekte der Welt, die die Stoiker beschreiben, sondern auch der Theorie mit deren Hilfe sie das tun. Diese allgemeinen Bemerkungen zu stoischen Aussagen ber Verursachung sind hier hilfreich, weil vor ihnen als Hintergrund deutlich wird, dass Marc Aurel sich nicht theoretisch fr eine einzelne Verursachung und vor allem den Zusammenhang von Verursachung und Prdikation interessiert. Seine Bemerkung ber die innere Verbindung, die fr eine Verursachung und deren korrektes Verstndnis wesentlich ist, fhrt zu vier von ihm betonten Themenfeldern und Thesen, die zur Grundlage der Unterteilung der folgenden Unterkapitel dienen: (i) Alle einzelnen Verursachungen hngen zusammen, so dass die Kenntnis derselben und ihrer Verflechtung zur Einsicht fhrt, dass der Kosmos ein geordnetes rationales Ganzes ist, in dem alle Teile verwandt sind. (ii) Alles Seiende, inklusive zuflliger Nebenfolgen einzelner Verursachungen, wird durch eine gçttliche Vorsehung bestimmt. Ursachenlehre und die teleologische Vorstellung von der Pronoia sind nur unterschiedliche Aspekte oder Beschreibungen desselben kosmischen Geschehens. Diese berlegungen sind aufs Engste mit zwei weiteren Themen verbunden: 163 Siehe dazu ausfhrlich Bobzien, S.: Determinismus and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 16 – 59.
396 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz (iii) Immer wieder erwhnt Marc Aurel die Alternative, ob die Vorsehung das fr den Kosmos Bestimmende ist oder dieser doch aus zufllig angeordneten Atomen besteht.164 (iv) Mit der Annahme, dass aufgrund des Ursachengeflechts alles Seiende miteinander kausal verbunden und verwandt ist, verknpft Marc Aurel eine noch weitergehende ontologische These: Alles ist gleichartig, und es gibt nichts Neues zu erkennen. Die genannten Aspekte sind nun im Einzelnen zu behandeln. 2.4 Die Verbindung der Ursachen Neben der besonderen Auffassung, was Verursachung berhaupt ist, zeichnet sich die stoische Lehre noch durch eine Annahme aus, die viel weitergehend ist, nmlich die Annahme, dass (alle) einzelne(n) Verursachungen in einem bestimmten Verhltnis zueinander stehen, so dass sie insgesamt das konstituieren, was unter dem spteren lateinischen Ausdruck fatum bekannt ist. Viele Facetten dieser Lehre haben zu Recht Aufmerksamkeit auf sich gezogen: etwa die Frage, wie die verschiedenen Formen oder Aspekte von Verursachung zusammenkommen, welche religiçse Implikationen sie enthlt, und schließlich ist intensiv diskutiert worden, wie diese Verursachung, die nicht nur ein deterministisches Bild vom Kosmos, sondern auch vom Menschen zeichnet, mit der Annahme kompatibel ist, der Mensch sei selber fr sein Handeln verantwortlich, und Ethik und Philosophie seien daher notwendig. Die These von der Verflechtung der Ursachen als Schicksal zeichnet sich durch zwei Facetten aus. Fraglich ist, wie die Relation der Ursachen gedacht wird und in welchem Sinne diese Relation als Schicksal verstanden wird. Obschon diese beiden Momente verknpft werden, scheint es sinnvoll, sie hier in Folge zu behandeln. Dafr spricht erstens, dass die Verknpfung der Ursachen ja nicht nur eine Bedeutung fr die gçttliche Vorsehung hat, sondern auch etwas ber die stoische Vorstellung vom Aufbau des Kosmos sagt, und zweitens findet sich in der Literatur oft die 164 Es handelt sich hierbei nur um eine der vielen Alternativen, die Marc Aurel hufig erwhnt. Bei der Frage „Vorsehung oder Atome?“ handelt es sich aber um die am hufigsten erwhnte und auch wichtigste Frage, so dass sie im Kontext des hiesigen Kapitels ber die physikalischen Themen und Argumente Marc Aurels eigenstndig behandelt wird.
2.4 Die Verbindung der Ursachen
397
Aussage, dass die Texte die Frage, wie die Stoiker sich die Relation von verschiedenen und insbesondere allen Verursachungen vorstellen, fast gar nicht thematisieren.165 Marc Aurel geht auch hier nur selektiv auf in der stoischen Tradition diskutierte Aspekte von Verursachung ein. Zu dieser Tradition gehçren zwei Perspektiven.166 Der bergeordneten kosmologischen Perspektive zufolge gibt es fr die Stoiker eine einzige Ursache.167 Diese Ursache wird dann mit Gott, Gottes Seele, seiner Natur oder seinem Hegemonikon, der Vorsehung, dem Schicksal, dem aktiven Prinzip usw. identifiziert. Die andere, weniger universale Perspektive beleuchtet Unterschiede, wie den Wandel der (einzelnen) Dinge und das Zusammenspiel verschiedener Aspekte von Verursachung.168 In den Selbstbetrachtungen wird vornehmlich die erste Perspektive thematisiert und der Umstand betont, dass das Ganze (t¹ fkom) ein geordnetes Ganzes ist, das alle Ereignisse, alles Seiende einschließt und auf besondere Weise verbindet. Bei der Erklrung der Kohrenz des Ganzen spielt Urschlichkeit fr Marc Aurel eine zentrale Rolle. Dieser Umstand mag trivial und vorhersehbar erscheinen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es nur wenige andere einschlgige berlieferungen gibt, gewinnt Marc Aurels Text jedoch an Be165 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 12; 3, 24. Siehe etwa das Urteil von A. A. Long und D. Sedley: „Die theoretischen Details der Kausalkette scheinen in unseren Quellen keine Aufmerksamkeit zu finden. Auch erfahren wir nichts ber die metaphysische Natur einer Kausalkette.“ in ihrem Kommentar ad. loc. Einen wichtigen Hinweis, allerdings ohne Nennung von Texten, gibt D. Frede: „Fate is always defined in terms of series of causes: there is an eternal causal nexus, where cause gives rise to cause. Given the overall coherence between all things in the universe, fate is best understood not as a linear sequence but as a framework of interacting causes.“ Frede, D.: Stoic Determinism, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 179 – 205, hier: S. 183. Siehe daher die große Ausnahme: Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., Kap. 1, inbs. S. 27 ff. 166 Siehe dazu die vielen Belege bei Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 17 ff. 167 Siehe exemplarisch: „Die Stoiker vertreten die Auffassung, es gebe eine einzige Ursache, das, was bewirkt.“ Sen. Ep. 65, 4. Fr die weiteren Identifikationen siehe etwa Plut. De stoic. rep. 1052c, 1053b. 168 Daher auch die Unterscheidung eines Schwarmes von Ursache-Typen oder verschiedenen Aspekten von Verursachung bei Alexander von Aphrodisias (De fato 191, 30 – 192, 28).
398 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz deutung. Die gerade erwhnte bergeordnete kosmische Perspektive wird vor allem in einer Serie von Stellen bei Plutarch thematisiert, in denen die Worte „Verursachung“ und „Schicksal“ jedoch nicht auftauchen.169 Ein weiterer einschlgiger Text, der mit den Selbstbetrachtungen zu vergleichen sein wird, wurde erst spter von Alexander von Aphrodisias verfasst.170 Die Selbstbetrachtungen bekrftigen also in erster Linie die umfassende kosmische Perspektive. Dabei verwendet Marc Aurel nur zum Teil eine technische Sprache, die aber Vertrautheit mit der stoischen Ursachen-Lehre erkennen lsst.171 Marc Aurels Bestimmungen zur Verursachung und vor allem zum Gesamtzusammenhang aller Verursachungen im Kosmos lassen sich wie folgt zusammenfassen: Marc Aurels Auffassung wre nicht monistisch, wenn er nur glauben wrde, dass alles je eine Ursache hat. Vielmehr geht er davon aus, dass alles gemeinsam auf eine einzige Ursache zurckgehe.172 Als erste Ursache des Kosmos ist die Natur des Ganzen auch dessen leitendes Prinzip.173 Allerdings gibt es ein Kapitel, das einen Plural erwhnt: Du musst also aus zwei Grnden lieben, was dir passiert: Erstens, weil es dir passierte und dir verordnet wurde und zu dir in einer gewissen Beziehung stand als etwas, das von oben aus den ltesten Ursachen zusammengefgt wurde.“174
169 Es handelt sich mutmaßlich um vier Chrysipp-Zitate und dann einen weiteren dazu passenden Text: Plut. De stoic. rep. 1049 f-1050a, 1050a, 1056c, 1050c, 1056d. Auch hier ist die Interpretation von Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 28 ff. nach wie vor maßgebend. 170 Siehe Alexander von Aphrodisias De fato 191, 30 – 192, 28. 171 Von den bei Alexander (De fato 191, 30 – 192, 28) aufgezhlten Ausdrcken fr verschiedene Ursachen erwhnt Marc Aurel die pqojataqjtij\, sumejtij\ und 2jtij\ nicht. Die suma_tia werden nur einmal, jedoch mit unspezifischer Bedeutung erwhnt (M. Aur. Med. 4, 40). sumeqc± (siehe Clemens Misc. 8, 9, 25) erwhnt Marc Aurel zwar im kosmologischen Zusammenhang, aber nur in Bezug auf Menschen (M. Aur. Med. 6, 42) und dann in der Rede ber kçrperliche Organe (M. Aur. Med. 7, 19). 172 „Die Natur des Weltganzen hat die Erschaffung des Kosmos in Gang gesetzt.“ M. Aur. Med. 7, 75 (J toO fkou v¼sir 1p· tμm joslopoi¸am ¦qlgse). 173 „Alles kommt von dort, nachdem es von jenem allgemeinen leitenden Prinzip in Gang gesetzt wurde…“ M. Aur. Med. 6, 36. 174 M. Aur. Med. 5, 8 (qjoOm jat± d}o k|cour st]qceim wqμ t¹ sulba?m|m soi·jah’ 6ma l]m, fti so· 1c_meto ja· so· sumet\tteto ja· pq¹r s] pyr eWwem, %myhem 1j t_m pqesbut\tym aQt_ym sucjkyh|lemom).
2.4 Die Verbindung der Ursachen
399
Die Erwhnung von mehr als einer ltesten Ursache muss nicht notwendig im Widerspruch zur Annahme der Natur des Ganzen als der ersten Ursache, die die Entstehung des Kosmos bewegt hat, stehen. Von den ltesten Ursachen wird nicht gesagt, dass sie den Kosmos geschaffen haben, also fr die Zusammensetzung der Dinge verantwortlich sind, die oben verordnet wurden. Es kçnnte demnach sein, dass mit den „ltesten Ursachen“ Ursachen in der noch zu beschreibenden Folge und Verbindung von Ursachen gemeint sind, die der ersten Ursache, der Natur des Ganzen, nahe stehen und deswegen altehrwrdig sind. Mit dem „oben“ kçnnte dann die Natur des Ganzen gemeint sein. Streng genommen wrde eine Pluralitt von ersten Ursachen eine Abkehr vom Monismus, dem Glauben an eine Vorsehung, einen Gott, eine Rationalitt usw. bedeuten. Genau deren Bestehen behauptet Marc Aurel jedoch emphatisch.175 Das Kapitel fhrt mit der Erwhnung des zweiten Grundes fort und verwendet dann wieder einen Singular.176 Alle anderen Kapitel sind wieder eindeutig und sprechen von einer einzigen Ursache.177 Mit Sicherheit darf also angenommen werden, dass Marc Aurel davon ausgeht, dass das Ganze einen Anfang und Ursprung hat. Als erste Ursache ist diese Ursache selber nicht von etwas anderem verursacht oder bewegt und so determiniert: „die Natur des Kosmos hat außerdem die Mçglichkeit, sich nicht von irgendeiner ußeren Ursache zwingen zu lassen“.178 Dieser Freiheit entspricht in der stoischen Lehre die
175 „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefgt und bildet gemeinsam denselben Kosmos. Es gibt nmlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit unter der Voraussetzung, dass es auch nur eine Vollkommenheit der Wesen gibt, die alle diese Herkunft haben und an derselben Vernunft teilhaben.“ M. Aur. Med. 7, 9. 176 „… die Macht, die das Weltganze durchwaltet, auch das, was jeden einzelnen ganz individuell betrifft, Ursache ihres Glckes, ihrer Vollkommenheit und beim Zeus auch ihrer Fortexistenz ist.“ M. Aur. Med. 5, 8. 177 „Sich den Kosmos ununterbrochen als ein Lebewesen denken, das nur ein Sein und eine Seele besitzt, und wie alles in das eine Bewusstsein des Kosmos aufgenommen wird und wie er alles durch einen einzigen Anstoß in Bewegung setzt und wie alles die mitbestimmende Ursache ist von allem, was geschieht, und wie das Verwobensein und die Verflochtenheit aussieht – (das bedenke bei dir).“ M. Aur. Med. 4, 40. 178 M. Aur. Med. 10, 6.
400 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Vorstellung, dass die Natur des Ganzen als leitendes Prinzip (Hegemonikon) des Kosmos’ frei ist.179 Gleichbedeutend ist die Vorstellung, die Natur des Ganzen sei nicht zu behindern. Genau darin besteht auch fr Marc Aurel der Unterschied zwischen der gemeinsamen Natur und derjenigen Natur, an der bestimmte, nicht vernunftbegabte Einzelnaturen teilhaben: Vernnftige Naturen sind ein Teil der gemeinsamen Natur, wie die Natur des Blattes ein Teil der Natur der Pflanze ist – abgesehen davon, dass dort die Natur des Blattes ein Teil einer Natur ist, die kein Wahrnehmungsvermçgen und keine Vernunft hat und (in ihrer Entwicklung) behindert werden kann, whrend die Menschennatur Teil einer Natur ist, die (in ihrer Wirksamkeit) nicht zu behindern ist …180
Die Natur des Ganzen kann auch deswegen nicht behindert werden, weil es nichts außerhalb von ihr gibt.181 Es gibt also kein Objekt oder Ereignis, das unabhngig von ihr wre und nicht bereits durch sie bestimmt ist. Der Zusammenhang mit der stoischen Ursachenlehre wird offenkundiger, wenn ein spteres Kapitel, das diese These aufnimmt, bercksichtigt wird. Dieser Passus hat Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil er die Freiheit der vernnftigen Naturen betont und dabei drei Stichworte verwendet, die seit Chrysipp aufs Engste zu den Diskussionen zur Verursachung gehçren, nmlich die Rolle (den rollenden Zylinder), das Feuer und den Stein:182 179 180 181 182
Siehe M. Aur. Med. 5, 8. M. Aur. Med. 8, 7. Siehe M. Aur. Med. 8, 50. Besonders einschlgig ist das Beispiel des rollenden Zylinders, das Chrysipp gibt (siehe Cic. Fat. 42, 3 und 43, 1). Chrysipp verwendet das Beispiel vor allem zur Veranschaulichung seines Kompatibilismus. Die Passagen haben jedoch gerade in Bezug auf das Verhltnis verschiedener Ursachentypen oder Aspekte von Verursachung eine solche Flut von Deutungen hervorgerufen, dass die diversen Positionen und Argumente hier nicht zusammengefasst werden kçnnen. Bemerkenswert ist, dass das Beispiel dann vor allem von Philopater aufgegriffen wird und evtl. fr andere Zwecke verwendet wird, so Bobzien. Im spteren Verlauf der stoischen Schule tauchen Rolle, Feuer und Stein nur noch bei Alexander von Aphrodisias (De fato 179, 12 – 17) auf: „Aber wenn wir alles aufgrund von gewissen im voraus festgelegten Grnden tten, so dass wir keine Macht htten, das jeweilig zu tun oder nicht zu tun, sondern jede unserer Taten auf eine genau bestimmte Weise vollbrchten hnlich dem wrmenden Feuer, dem niederfallenden Stein oder dem Zylinder, der einen Abhang hinunter rollt, welcher Vorteil erwchse uns fr das Handeln daraus, dass wir uns ber eine knftige Handlung bedacht htten?“ Whrend die Rolle in der Sptantike hufiger vorkommt, gibt es fr einen stoischen Kontext nur die Stelle bei Alexander und Marc Aurel (siehe Peason, A. C.: The Fragments of Zenon and Cleanthes, a.a.O.), wobei die Selbstbetrachtungen
2.4 Die Verbindung der Ursachen
401
Du wirst nicht eher aufhçren zu stçhnen, als bis du begreifst, dass das, was fr die Genussmenschen der Luxus ist, fr dich angesichts der gegebenen Voraussetzungen und vorliegenden Bedingungen die Mçglichkeit ist, alles zu tun, was den Fhigkeiten des Menschen entspricht. Denn du musst alles als einen Genuss ansehen, was dir in bereinstimmung mit deiner spezifischen Natur zu tun erlaubt ist. Der Rolle ist es nicht berall mçglich, die ihr eigene Bewegung auszufhren. Dasselbe gilt fr das Wasser, das Feuer und die brigen Dinge, die von der Natur oder von einer nicht vernnftigen Seele geleitet werden. Denn vieles hlt sie davon ab und steht ihnen im Wege. Aber Geist und Vernunft kçnnen durch jedes Hindernis so hindurchgehen, wie es ihrem Wesen entspricht und wie sie es wollen. Stell dir diese Leichtigkeit vor Augen, mit der die Vernunft durch alles hindurch kommen wird, wie das Feuer nach oben, der Stein nach unten, die Rolle den Abhang hinunter, und suche nichts weiter. Denn alle anderen Hindernisse betreffen entweder den toten Kçrper und richten ohne die Bereitschaft und die Zustimmung der Vernunft selbst keinen Schaden an und haben berhaupt keine schlimmen Auswirkungen…183
Die Passage ist schon wegen der Erwhnung von Rolle, Stein und Feuer bemerkenswert. Marc Aurel kommt auf die Rolle und das Feuer sogar zweimal zu sprechen, wobei die Funktion der beiden Stellen im gesamten Argument des Kapitels zunchst verwirrend ist, denn einmal wird von der Behinderung des Rollens gesprochen, dann von dessen Leichtigkeit.184
gelegentlich bersehen wurden (z. B. Sharples, R.: Alexander of Aphrodisias, De Fato: some parallels, in: Classical Quarterly 28 (1978), S. 243 – 266, hier: S. 252). Siehe daher fr umfangreiche Stellen- und Literaturangaben sowie eine ausgiebige Erçrterung Bobzien, S.: Determinism und Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., Kap. 8.5.–6. 183 M. Aur. Med. 10, 33. 184 Ohne auf die doppelte Erwhnung von Feuer und Rolle einzugehen, vergleicht S. Bobzien die Passage zu Recht mit Nemesius (De natura hominis 105 – 6), was auch von der berlieferung her plausibel ist: „The passage in Marcus shows more similarities to Nemesius and Alex. Fat. Ch. 13 and related passages than any other Greek passage does. Hence we can assume that Marcus Aurelius was acquainted with the later Stoic theory of Philopater from which Nemesius and Alexander draw. As regards chronology, this fits perfectly: we know that the Stoic Junius Rusticus provided Marcus with Epictetus’ works from his (Rusticus’) library. Following the remark in Galen (Khn 5.41), Philopater might perhaps not still have been teaching in the 170 s; but certainly his writings must have still been ‘contemporary’ theory. So Rusticus or anyone else could have provided Marcus with some contemporary stoic theory of fate and physics. At the very least this passage in Marcus shows that some contemporary theory of fate and natural movement of the Philopater tradition was around and read in Rome in the second century.“ (Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 395).
402 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Ausgangspunkt des Kapitels ist die Frage, ob gegebene Voraussetzungen und vorliegende Bedingungen Mçglichkeiten einschrnken und ob solche externen Faktoren fr eine Exkulpation taugen, etwas Bestimmtes nicht zu tun oder zu sagen.185 Die Antwort operiert mit den externen Grnden und Bedingungen einerseits und der spezifischen Natur des evtl. in seiner Aktivitt bzw. Bewegung behinderten Dinges andererseits. Entscheidend bei der spezifischen Natur ist dann die Unterscheidung von vernnftigen und nichtvernnftigen Naturen. Einmal ist die Rolle Beispiel fr etwas, das aufgrund ußerer Umstnde an einer Bewegung gemß der eigenen Natur gehindert werden kann. Als solches wird sie den Naturen gegenber gestellt, die vernnftig sind und denen das nicht passieren kann. Danach ist die Rolle ein Bespiel fr etwas, das eine Bewegung in Entsprechung mit der eigenen Natur eben leicht vollfhrt. Als solche wird sie mit einer vernnftigen Natur beim Vollzug irgendeiner bzw. jeder Aktivitt gleichgesetzt. Fr die ihr eigentmliche Bewegung braucht die Rolle eine gesonderte Bedingung: den Anschub. Liegt dieser vor, kann die Bewegung jedoch leicht vonstatten gehen. Wie der Rolle unter besonderen Konditionen geht es einer vernnftigen Natur immer. Ihre Aktivitt kann nicht behindert werden, sie kann immer leicht ausgefhrt werden. Dem Kapitel 8, 7 lag die Frage zugrunde,186 warum Hindernisse fr die Bewegung von Einzelnaturen bestehen, aber dies nicht fr die Bewegung des Ganzen gilt. In diesem Kapitel wird der Akzent auf die Unterscheidung von Bewegungen vernnftiger und nicht vernunftbegabter Naturen gelegt. Dabei geht es Marc Aurel um die praktische Bedeutung fr den Menschen, der Teil der vernnftigen Natur des Ganzen ist. Wegen dieser Teilhabe an der kosmischen Rationalitt gibt es auch fr den Menschen keine widrigen Umstnde. Keine Situation kann die menschliche Aktivitt, die der spezifischen, d. h. vernnftigen Natur entspricht, behindern oder unangeOhne die praktischen Schlsse eigens zu untersuchen, stellt Bobzien aber fest, dass die praktischen Schlsse, die Marc Aurel aus den Beispielen zieht, eine Eigenleistung sind. Sie schildert die Gemeinsamkeiten zu Nemesius, aber nicht das Argument, das Marc Aurel vorbringt. 185 Der Beginn des Kapitels ist adhortativ verfasst: „Was ist unter diesen Voraussetzungen am vernnftigsten zu tun oder zu sagen? Was es auch immer sei, es ist mçglich, dies zu tun oder zu sagen, und tu nicht so, als ob du daran gehindert wrdest.“ (M. Aur. Med. 10, 33). 186 Siehe zur Frage Plut. De stoic. rep. 1056d und zur Behauptung der Stoiker Cic. De nat. deor. 2, 37 – 8.
2.4 Die Verbindung der Ursachen
403
nehm machen. Anders als der Zylinder, der die schiefe Ebene fr seine Bewegung braucht, verlangt die Natur des Ganzen oder der an dieser Vernunft teilhabende Mensch keine besonderen Umstnde, um der eigenen Natur gemß aktiv zu sein. Fr den Menschen ist jede Situation so wie fr den Zylinder die schiefe Ebene: der eigenen Natur entsprechend und daher „angenehm“ bei der Aktivitt. Auf die damit verbundene Lehre von der Vorbehaltsklausel wird spter ausfhrlich einzugehen sein.187 Das Argument hat auch eine affekttherapeutische Seite, denn zum einen wird dem Klagen ber vermeintlich widrige Umstnde entgegengewirkt.188 Und zum anderen hat es motivationale Kraft, weil die Vernunft immer das Richtige tun oder sagen kann. Die Stoiker unterscheiden Bewegung (j_mgsir) und einen qualitativen Status (sw]sir) und entsprechend zwei Verursachungen.189 Bei der Natur des Ganzen als erste Ursache muss es sich um eine Ursache fr Bewegung und Wandel handeln. Denn ganz allgemein ist erstens der Anstoß fr die Entstehung des Kosmos in jedem Fall eine Verursachung von Bewegung und damit ein Wandel, da der Kosmos ja erst durch diese Verursachung entstanden ist. Zweitens ist es fr Marc Aurel spezifisch, dass er der Vernderung, dem Wandel, einen so hohen Stellenwert einrumt, dass dauerhafte Zustnde fr ihn eigentlich nicht vorkommen.190 Die Kohrenz des Ganzen besteht aufgrund einer „ordnenden Bewegung“.191
187 Siehe Kap. II 5.5.2. 188 „Du wirst nicht eher aufhçren zu stçhnen….“ M. Aur. Med. 10, 33. 189 Siehe Plut. De stoic. rep. 1050c, 1056c; Stob. Ecl. 2, 73, 1, 82, 11 – 17; Diog. Laert. 7, 104; Cic. Fin. 3, 33. Zur Gngigkeit dieser Unterscheidung siehe bereits Long, A. A./Sedley, D.: The Hellenistic Philosophers, vol. II, Greek and Latin Texts with Notes and Bibliography, Cambridge 1987, S. 176. S. Bobzien macht in ihrer Studie die Bedeutung der Verursachung von sw]sir stark, weil dies, wie sie vielleicht zu Recht meint, vernachlssigt wurde. Nur fr Marc Aurel ist dies in der Tat mehr als zweitrangig, weil er den schnellen Wandel als das kosmologische Prinzip ansieht (siehe Kap. II 2). 190 Siehe dazu Kap. II 2.3 und II 2.4. 191 Siehe dazu „Denk oft nach ber die Verbindung aller Dinge im Kosmos und ihre Beziehung zueinander. Denn alles ist gewissermaßen untereinander verflochten, und dementsprechend empfindet alles Sympathie freinander. Denn aufgrund der ordnenden Bewegung, der allgemeinen bereinstimmung und der Einheit des Seins erwchst das eine aus dem anderen (1sti taOta di± tμm tomijμm j_mgsim ja· s}lpmoiam ja· tμm 6mysim t/r oqs_ar).“ M. Aur. Med. 6, 38.
404 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Die Natur des Ganzen als erste Ursache und aktives und vernnftiges Prinzip hat nicht nur die Entstehung des Kosmos in Gang gesetzt, sondern ist auch dessen Ziel- und Endpunkt: „Alles Materielle verschwindet sehr bald im Sein des Ganzen, jede Ursache geht sehr bald wieder in die Vernunft des Ganzen ein, und die Erinnerung an alles wird sehr bald durch die Ewigkeit aufgehoben.“192 Dies ist ein erster klarer Hinweis dafr, dass es hier nicht nur um eine Kausalitt geht, bei der die Ursache der Wirkung chronologisch vorausgeht, sondern dass darber hinaus ein teleologisches Moment vorhanden ist. Eine Verursachung ist nie etwas Isoliertes oder etwas, das in der betrachtenden Analyse als etwas Unzusammenhngendes angesehen werden sollte. Generell sind Grnde nach stoischer Auffassung etwas Verbindendes, weil sie relativ (pqºr ti) sind. Denn eine Ursache ist eine Ursache von etwas fr etwas, so wie ein Messer der Grund fr das Schneiden ist, das dem Fleisch widerfhrt.193 Damit ist aber nur eine einzelne Verursachung als etwas Verbindendes, weil Relationales, beschrieben. Viel weitergehend und spezifisch stoisch ist die Auffassung, dass nicht nur viele, sondern alle Verursachungen im Kosmos in einem Verhltnis stehen, das oft als Verkettung und Verflechtung der Ursachen beschrieben wird. Etymologische Erklrungen fr den Ausdruck eRlaql]mg verweisen sowohl auf die Verbindung als auch auf die Verkettung der Dinge durch Grnde.194 Es erscheint sinnvoll, zunchst eine einzelne Verbindung von zwei Verursachungen, gewissermaßen die Verbindung von zwei Kettengliedern, zu erçrtern und dann die weitergehende Verkettung und Verflechtung.
192 M. Aur. Med. 7, 10. 193 So der Bericht bei Sext. Emp. Math. 9, 207. 194 Diogenes Laertius erwhnt die stoische Auffassung, die eRlaql]mg sei die verbindende Ursache der Dinge (aQt_a t_m emtym eQqol]mg) (Diog. Laert. 7, 149). Sptere Quellen verweisen auf die Erklrung der eRlaql]mg als Ursachenkette. Siehe zum Beispiel Nemesius (De natura hominis 108, 15 – 17: d³ eRlaql]mg eRql|r tir owsa aQti_m…). S. Bobzien betont, dass mit Ausnahme von Chalcidius (In Tim. 144), es keine Belege dafr gibt, dass die zweite Etymologie, das Bild von der Kette, auf Chrysipp zurckgeht und argumentiert in Folge, dass es wenig geeignet sei, die Theorie darzustellen, weil es insinuiere, die Ketten seien getrennt und isoliert (siehe Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 50 ff.).
2.4 Die Verbindung der Ursachen
405
Der einfachste Fall eines Zusammenhangs von Verursachungen, die Abfolge von zwei Verursachungen, wird von Marc Aurel nur selten beschrieben. Er verwendet ein Beispiel: Er senkte seinen Samen in den Mutterleib und ging fort. Darauf bernimmt diesen eine andere verursachende Kraft, wirkt auf ihn ein und vollendet das Kind. Was fr ein Ergebnis aus welchem Anfang.195
Besonders deutlich wird hier, das es sich bei dieser Abfolge nicht um die Art von einer Reihung mechanischer Kausalitt handelt, bei der eine Ursache einen Effekt hat, der dann seinerseits als Ursache einen Effekt bewirkt. Da nach stoischer Auffassung eine Prdikation verursacht wird, kann eine solche Abfolge nicht gemeint sein. Marc Aurels Ausdrucksweise „bernimmt eine andere verursachenden Kraft, wirkt auf ihn ein“ stimmt mit dem poie?m/p²sweim-Schema vçllig berein. Dass mit jeder Annahme einer Sukzession ein temporales Moment eine Rolle spielt, ist hier nur impliziert. Da Marc Aurel erstens die jeweiligen Verursachungen als Wandel auffasst, so dass das Ganze des Kosmos demnach als Ursachengeflecht vor allem durch den Wandel charakterisiert ist, und er zweitens davon ausgeht, dass diese Abfolge von Verursachungen und Vernderungen besonders schnell aufeinander folgt, spielt der Zeitfaktor fr ihn eine große Rolle. Darauf wird anhand einer Besprechung des Wandels ausfhrlicher zurckzukommen sein. Geht es bei dieser Verkettung um den Zusammenhang von Ursachen oder eine Relation von Dingen, die durch die Ursachen hergestellt wird? Marc Aurel scheint die Kohrenz der Dinge im Kosmos betonen zu wollen.196 Zwar spricht er auch von der Verkettung der Ursachen,197 doch die Folgen dieses kausalen Nexus, die Entstehung einer Gemeinsamkeit aller Dinge im Kosmos, sind das Ergebnis, das er betont: Denk oft nach ber die Verbindung aller Dinge im Kosmos und ihre Beziehung zueinander. Denn alles ist gewissermaßen untereinander verflochten, und dementsprechend empfindet alles Sympathie freinander. Denn auf-
195 M. Aur. Med. 10, 26. 196 „Und wie das Seiende harmonisch zusammengefgt ist, so lsst auch das Werdende keine bloße Abfolge, sondern einen wunderbaren inneren Zusammenhang erkennen.“ M. Aur. Med. 4, 45. 197 Siehe z. B. M. Aur. Med. 10, 5: „Alles, was dir passiert, ist dir seit Ewigkeit vorbestimmt, und die Verkettung der Ursachen verknpfte deine Existenz mit dem Eintreffen dieses Ereignisses.“
406 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz grund der ordnenden Bewegung, der allgemeinen bereinstimmung und der Einheit des Seins erwchst das eine aus dem anderen.198
Die Erwhnung der universalen Sympathie zeigt nochmals, dass es Marc Aurel um den einen Zusammenhang aller Dinge im Kosmos geht. Doch bevor auf die dafr nçtige Verkettung und Verflechtung von mehr als zwei Verursachungen eingegangen wird, ist zu einer Verursachung noch etwas zu ergnzen. Die Folgen einer Verursachung sind zwar notwendig, aber nicht einfach anhand einer Regel deduzierbar. Die hier angesprochene Kausalitt zielt nicht auf deduktiv-nomologische Erklrungen ab, die wir aus spteren, vor allem mechanischen Vorstellungen der Kausalitt kennen. Das wre nur ein „Zusammenzhlen“. Es handelt sich vielmehr um einen „vernnftigen Zusammenhang,“199 der andernorts auch als „heilig“ bezeichnet wird.200 Marc Aurel geht von der Erklrung einer Verursachung ber zum Gesamtzusammenhang der Verursachung. Damit wechselt er nicht nur die Perspektive von der Vielzahl der innerweltlichen Verursachungen zur Gesamtkausalitt des Kosmos und der Natur des Ganzen. Vielmehr scheint Marc Aurel hier diesen Wechsel zu vollziehen, weil er glaubt, dass nur von der hçheren kosmischen Warte aus eine einzelne Verursachung angemessen verstanden werden kann.201 Fr den Kausalnexus, der die Dinge im Kosmos verbindet, findet sich in der stoischen Literatur oft der Ausdruck 1pipkoj^. Er wird auch von 198 M. Aur. Med. 6, 38. Siehe auch M. Aur. Med. 4, 36: „Denn jedes Seiende ist gewissermaßen schon ein Same dessen, was aus ihm hervorgehen wird.“ 199 Siehe M. Aur. Med. 4, 45: T± 2n/r !e· to?r pqogcgsal]moir oQje_yr 1pic_metai· oq c±q oXom jataq_hlgs_r t_r 1stim !pgqtgl]mym ja· l|mom t¹ jatgmacjasl]mom 5wousa, !kk± sum\veia eukocor· ja· ¦speq sumt]tajtai sumgqlosl]myr t± emta, ovtyr t± cim|lema oq diadowμm xik^m, !kk± haulast^m tima oQjei|tgta 1lva_mei.
200 „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefgt und bildet gemeinsam denselben Kosmos. Es gibt nmlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit unter der Voraussetzung, dass es auch nur eine Vollkommenheit der Wesen gibt, die alle diese Herkunft haben und an derselben Vernunft teilhaben.“ M. Aur. Med. 7, 9. Was Marc Aurel hier in Reihung nennt, wird auch identifiziert. Fr solche identifizierenden Zuschreibungen von Kosmos, Natur des Ganzen, Gott, Vernunft und Wahrheit siehe z. B.: Plut. De stoic. rep. 1049 f., 1055e, 1056c; Stob. Ecl. 1, 78, 18 – 20; Diog. Laert. 7, 135. 201 „Denn aufgrund der ordnenden Bewegung, der allgemeinen bereinstimmung und der Einheit des Seins erwchst das eine aus dem anderen.“ M. Aur. Med. 6, 38.
2.4 Die Verbindung der Ursachen
407
Marc Aurel gerne verwandt.202 Noch hufiger aber wird die Gemeinsamkeit der Dinge durch eines der von Marc Aurel so geliebten Wçrter mit der Vorsilbe „zusammen-“ ausgedrckt,203 z. B. s}cjkysir.204 Zur Erluterung dieses speziellen Ausdrucks ist folgendes Kapitel hilfreich: „Gib dich freiwillig in Klothos Gewalt und lass sie deinen Lebensfaden mit den Dingen verspinnen, mit denen sie es will.“205 Bemerkenswert ist, dass Marc Aurel durch die viel hufigere Verwendung von Verbformen (sucjk~heshai)206 verdeutlicht, dass das Zusammenfgen ein kosmisches Geschehen des aktiven Prinzips ist.207 Diese Verflechtung und Verbindung der Ursachen miteinander wird von Marc Aurel hufig betont. Obschon der Ausdruck „Verkettung“ hier gelufig ist, ist die Metapher, es handele sich um eine „Kette“ von Verursachungen, ein wenig irrefhrend. Der Ausdruck „Kette“ (eRql|r) findet sich bei Marc Aurel nur zweimal,208 wobei er nicht zur Beschreibung des Ursachengeflechtes verwandt wird. Das hat einen sachlichen Hintergrund. Erstens hat eine „Kette“ als temporale Abfolge von Verursachungen immer nur eine Verbindung von zwei Verursachungen zu einer gegebenen Zeit. Zweitens stellt man sich eine Kette als Reihung vor, bei der ein Glied immer nur eine Verbindung mit einem Glied vor ihm und einem nach ihm hat. Zwei weiter auseinander liegende Glieder haben keinen unmittelbaren Kontakt. Drittens wre im Falle einer Vielzahl von Ketten vorstellbar, dass diese untereinander nicht in kausaler Relation stehen. Mit der Kettenmetapher lsst sich also schlecht eine kausale Verbindung aller Dinge mit allen anderen beschreiben.
202 Siehe M. Aur. Med. 2, 3; 4, 45; 7, 9; 10, 5. 203 Eine eingehende Besprechung dieser Wçrter, unter denen auch viele Neologismen sind, wre reizvoll, da dies aber eine eigenstndige und ausfhrliche Untersuchung erfordern wrde, kann dies hier nicht erfolgen. Im Wortindex der Textausgaben von J. Dalfen umfasst die Liste dieser Komposita mit der Vorsilbe „zusammen“mehr als vier Spalten, also mehr als 100 Eintrge. Allein diese Flle an bestimmten Vokabeln belegt, wie sehr Marc Aurel auf den Gemeinschaftsgedanken Wert legt. 204 Siehe M. Aur. Med. 2, 3; 3, 11. 205 M. Aur. Med. 4, 34. 206 Siehe M. Aur. Med. 3, 4; 3, 16; 4, 26; 5, 8; 7, 57. 207 Siehe auch dazu: „Alles, was dir passiert, ist dir seit Ewigkeit vorbestimmt, und die Verkettung der Ursachen verknpfte deine Existenz mit dem Eintreffen dieses Ereignisses.“ M. Aur. Med. 10, 5 (n ti %m soi sulba_m,, toOt| soi 1n aQ_mor pqojatesjeu\feto ja· B 1pipkojμ t_m aQt_ym sum]jkyhe t^m te sμm rp|stasim 1n !id_ou ja· tμm to}tou s}lbasim).
208 Das Wort verwendet Marc Aurel nur zweimal, in den Kapiteln 3, 4 und 12, 23.
408 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Die Kettenmetapher kçnnte zudem zur Vorstellung fhren, dass von der ersten Ursache (Gott, der Vernunft, der Vorsehung, der Natur des Ganzen ç. .) sternfçrmig Ursachenketten ausgehen, die sich untereinander nicht beeinflussen und deren Glieder auch immer nur mit zwei anderen Verursachungen in kausaler Relation stehen. Der Kosmos wre von nur in einem Punkt zusammenhngenden, aber ansonsten isolierten, weil parallel verkaufenden Kausalittsstrngen durchzogen.209 Zwar wrde diese Vorstellung dem monistisch-immanentistischen Grundsatz, dass alles von einer Ursache ausgeht und von einer Vernunft bestimmt wird, nicht widersprechen. Aber diese Auffassung von nur von einem gemeinsamen Punkt ausgehenden aber ansonsten getrennten Ketten ist mit der Annahme, dass alles kçrperlich sei und dem These von der allumfassenden Sympathie unvereinbar: Die isolierten Ketten sind auch deswegen eine Unmçglichkeiten, weil sie nur dann nicht miteinander kausal interagieren wrden, wenn zwischen ihnen Leere wre. Mit dem Kausalgeflecht bei Marc Aurel ist also mehr gemeint: Alle Dinge sind gleichermaßen miteinander verwandt (und nicht nur die zwei Glieder einer Kette): „Denn alles ist gewissermaßen untereinander verflochten, und dementsprechend empfindet alles Sympathie freinander.“210 Alles ist mit der Vorsehung verbunden und darum auch untereinander verbunden. Auch die Kausalittsbeziehung ist universal, denn alles ist Mitursache von allem: Sich den Kosmos ununterbrochen als ein Lebewesen denken, …, wie er alles durch einen einzigen Anstoß in Bewegung setzt und wie alles die mitbestimmende Ursache ist von allem, was geschieht (p_r p\mta p\mtym t_m cimol]mym suma_tia), und wie das Verwobensein und die Verflochtenheit aussieht – (das bedenke bei dir).211
In diesem Sinne, betont Marc Aurel, kann nicht von einer Abfolge gesprochen werden, sondern von einem totalen Nexus.212 Es gibt daher auch kein Einzelschicksal. „Denn das jedem einzelnen zugewiesene Schicksal ist in das Weltganze eingebettet und bettet ihn in dieses ein.“213 209 Eine solche Vorstellung beschreibt W. Theiler, wobei nicht ganz klar ist, ob er sie auch vertritt (siehe Theiler, W.: Tacitus und die antike Schicksalslehre, in: Gigon, O. u. a.: Phyllobolia (Fr Peter von der Mhl zum 60. Geburtstag am 1. August 1945), Basel 1946, S. 35 – 90, hier: S. 45). 210 M. Aur. Med. 6, 38 (ebenso 7, 9: „Alles ist miteinander verflochten…“). 211 M. Aur. Med. 4, 40. 212 Siehe nochmals M. Aur. Med. 4, 45. 213 M. Aur. Med. 3, 4.
2.4 Die Verbindung der Ursachen
409
Die Dinge sind nicht nur verwandt, sondern auch gleichartig.214 Marc Aurel verwendet die Ausdrcke bloeid´r215 und blocem^r216 entsprechend hufig.217 Die kausal bzw. physisch begrndete Gleichheit von allem erklrt so auch die Sympathie und das Streben der verwandten Dinge zueinander.218 Einige Aspekte dieser Vorstellung von einem Ursachengeflecht sind hervorzuheben: Erstens sind alle Dinge von allen anderen Dingen mit verursacht worden.219 Zweitens sind alle Dinge von der Natur des Ganzen als erster Ursache gleichermaßen vorherbestimmt und haben an derselben Vernunft teil.220 Jede einzelne Ursache ist auf die Vernunft des Ganzen bezogen, weil sie darauf zurckzufhren ist und wieder darin aufgehen wird.221 Drittens besteht zwischen den Dingen eine besondere Relation, weil sie alle gleichermaßen nicht neu sind, sondern aufgrund der kosmischen Zyklen wiederholt bestehen.222
214 „Denn alles ist miteinander verwandt und gleichartig (p\mta c±q blocem/ ja· bloeid/).“ M. Aur. Med. 6, 37. 215 Siehe M. Aur. Med. 2, 14; 6, 37; 6, 46; 10, 27; 11, 1. 216 Siehe M. Aur. Med. 5, 21; 6, 36; 7, 9; 10, 6. 217 Nur einmal verwendet er fr die Bezeichnung der Verwandtschaft von unbelebten Dingen eines der hufigen sum-Komposita, nmlich succem³r : „Und folglich strebt alles, was an der gemeinsamen Vernunft teilhat, mit gleicher oder noch strkerer Intensitt zu dem ihm Verwandten.“ (M. Aur. Med. 9, 9). Dieser Ausdruck wird ansonsten fr die Gleichheit und Verwandtschaft von Menschen gebraucht und auch hier mit der Teilhabe an der Vernunft des Kosmos begrndet (siehe M. Aur. Med. 12, 26). 218 Siehe daher nochmals M. Aur. Med. 9, 9. In diesem Kapitel wird die Sympathie anhand aller kosmischen oder ontologischen Bereiche und so als universales Prinzip auf die Gleichartigkeit gegrndet. Der Gedanke ist – wohl zu Recht – auf Poseidonius zurckgefhrt worden (siehe Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O., S. 15 ff.). 219 „Denn alles ist in seinem Auf und Ab dasselbe und aus demselben.“ M. Aur. Med. 6, 46 (p\mta c±q %my j\ty t± aqt± ja· 1j t_m aqt_m). Siehe auch nochmals M. Aur. Med. 4, 40. 220 Siehe M. Aur. Med. 7, 9. 221 Siehe M. Aur. Med. 7, 10. 222 Marc Aurel ermahnt sich immer zu bedenken, „dass alles seit Ewigkeiten gleichartig ist und sich in stndigem Kreislauf wiederholt“ (M. Aur. Med. 2, 14) oder „dass alles, was geschieht, schon immer so geschah und geschehen wird und im Augenblick berall geschieht“ (M. Aur. Med. 12, 26).
410 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Anhand des letztgenannten Punktes werden noch einmal die zwei bereits eingefhrten Perspektiven223 deutlich: Von der synoptischen Warte des gesamten Kosmos oder genauer: der Abfolge der Welten aus betrachtet, also aus der Perspektive der ersten Ursache, der Natur des Ganzen, ist nichts neu.224 Von einer innerkosmischen Perspektive aus gesehen, erzeugt das Ursachengeflecht in einem bestndigen Wandel immer etwas Neues, so dass die jeweils sichtbare Welt immer neu und anders erscheint.225 Das Kausalgeflecht ist gemß der bergeordneten Perspektive eine Einheit.226 Die vielen Verursachungen zeigen sich aber zugleich als ungeheure Vielfalt, weil die Dinge in einem bestndigen Wandel sind. Jede Betrachtung muss dem Einheitsgedanken Rechnung tragen, aber auch die einzelnen Dinge in den Blick nehmen.227
223 Marc Aurel beschreibt dann auch einen Perspektivwechsel, nmlich zu sehen, dass „du alles Menschliche und seine Vielfalt, wenn du plçtzlich in die Hçhe gehoben wrdest und es von oben herab betrachten kçnntest, geringschtzen wirst, nachdem du zugleich gesehen hast, wie zahlreich die Erscheinungen sind, die die Luft und den Himmel ringsum bevçlkern; und dass du, sooft du emporsteigst, dasselbe sehen wirst: das Gleichartige, das Kurzlebige“ (M. Aur. Med. 12, 24). 224 Die vernnftige Natur „umkreist … den ganzen Kosmos, …, dehnt sich aus in die Unendlichkeit der Ewigkeit, umfasst und reflektiert die periodische Wiederentstehung des Weltganzen und sieht, dass diejenigen, die nach uns kommen, nichts Neues erblicken werden … dass der Vierzigjhrige, wenn er nur ein bisschen Verstand hat, gewissermaßen schon alles, was gewesen ist und was sein wird, aufgrund seiner Gleichartigkeit gesehen hat.“ M. Aur. Med. 11, 1 (siehe nochmals 2, 14; 6, 37). 225 „Alles, was du siehst, wird die Natur, die das Weltganze durchwaltet, bald verndern und sie wird anderes aus ihrem Sein erzeugen und wiederum anderes aus dem Sein jener anderen Dinge, damit der Kosmos immer wieder neu ist.“ M. Aur. Med. 7, 25. 226 Den Gedanken der Einheit (6mysir) spricht Marc Aurel entsprechend hufig aus. Das Wort findet sich bei M. Aur. Med. 6, 10; 6, 38; 7, 32; 8, 34; 9, 9. Darber hinaus betont er die Vorstellung auch rhetorisch, siehe dazu nochmals: „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefgt und bildet gemeinsam denselben Kosmos. Es gibt nmlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit unter der Voraussetzung, dass es auch nur eine Vollkommenheit der Wesen gibt, die alle diese Herkunft haben und an derselben Vernunft teilhaben.“ (M. Aur. Med. 7, 9). 227 „Immer auf das Ganze blicken und alles, was deine Vorstellung prgt, auseinanderfalten und zerlegen in seine Ursache, seine Substanz, seinen Zweck, seine Zeit, in der es sein Ende finden muss.“ M. Aur. Med. 12, 18.
2.4 Die Verbindung der Ursachen
411
Die Vorstellung, dass die Dinge miteinander verwandt und gleichartig sind, hat eine Reihe von Konsequenzen. Zunchst ist der Umstand von ethischer Bedeutung, weil die Dinge ebenfalls alle gleich vergnglich, gleich wertvoll oder vielmehr wertlos sind. Ferner setzt die Annahme, es gebe nichts Neues zu entdecken, weil alles gleich ist, dem Erkenntnisstreben oder genauer der theoretischen Neugier eine natrliche Grenze. Verursachungen kommen Marc Aurel zufolge also weder singulr vor, noch sind sie isoliert angemessen zu verstehen. Er thematisiert immer wieder den Gesamtzusammenhang aller Verursachungen. Der Gesamtnexus ist nicht nur durch kausale, sondern ebenfalls, wie bereits anklang, durch teleologische Aspekte gekennzeichnet, wie in den folgenden Kapiteln noch deutlich werden wird. Darber hinaus ist die Verwendung von suma¸tiom geeignet, zwei weitere Aspekte deutlich zu machen. Erstens ist die so bezeichnete Kausalitt nicht nur etwas Mechanisches und teleologisches, sondern konstituiert den Kosmos als Organismus.228 Der Kosmos ist aber nicht nur ein Lebewesen, sondern das vollkommene Wesen, das gut, gerecht, schçn ist, das alle anderen Lebewesen hervorbringt, zusammenhlt, umgreift und umschließt.229 Den organischen Aspekt, der ber das bloße kausale Interagieren von leblosen Teilen hinausgeht, betont Marc Aurel auch fr sich selbst und seine Rolle im Kosmos.230 Eng verwandt mit der Vorstellung, der Kosmos sei ein Lebewesen, ist die Annahme, der Kosmos sei die große umfassende Polis.231 Obschon dieser Gedanke ebenfalls ausdrckt, dass der Gesamtnexus aller Dinge im Kosmos, hier aller vernnftigen Lebewesen, durch mehr als mechanische
228 „Sich den Kosmos ununterbrochen als ein Lebewesen denken, das nur ein Sein und eine Seele besitzt, und wie alles in das eine Bewusstsein des Kosmos aufgenommen wird und wie er alles durch einen einzigen Anstoß in Bewegung setzt und wie alles die mitbestimmende Ursache ist von allem, was geschieht, und wie das Verwobensein und die Verflochtenheit aussieht – (das bedenke bei dir).“ ªr 4m f`om t¹m j|slom, l_am oqs_am ja· xuwμm l_am 1p]wom, sumew_r 1pimoe?m ja· p_r eQr aUshgsim l_am tμm to}tou p\mta !mad_dotai ja· p_r bql0 liø p\mta pq\ssei ja· p_r p\mta p\mtym t_m cimol]mym suma_tia ja· oVa tir B s}mmgsir ja· sull^qusir. M. Aur.
Med. 4, 40. 229 Siehe zur Reihung dieser Attribute M. Aur. Med. 10, 1. 230 Siehe M. Aur. Med. 7, 13. 231 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 11.
412 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Kausalitt bestimmt wird und als solcher genuin kosmologisch ist,232 soll auf diese politische Seite der Kosmologie spter eingegangen werden.233 Die Verwendung von suma¸tiom zeigt auch,234 dass Marc Aurel den Ausdruck als terminus technicus der Stoa verwendet, also im Sinne von „sich gegenseitig bedingend“. Diese Bedeutung unterscheidet sich von der platonischen Bestimmung235 als einer kontingenten Mitverursachung, die von der aktuellen eigentlichen Ursache unterschieden wird.236 Sowohl die Vorstellung, der Kosmos sei ein Organismus, als auch die, er sei die wichtigste und wahrhafte Polis, sind Variationen des grundlegenden Gemeinschaftsgedankens. Grundlegend fr die Gemeinschaft aller Dinge im Kosmos ist ihre kausale rationale Verknpfung, weil alles von der gçttlichen Vernunft bestimmt und vorherbestimmt ist. Die Auffassung, dass die Teile ein rationales und ein organisches Ganzes, werden von Marc Aurel eng verbunden.237 Dieser Gedanke ist wiederum mit der kosmischen Polis verbunden, da Marc Aurel diesen Ausdruck gerade fr die Gemeinschaft der Vernunftwesen verwendet.238 Der kausale Nexus wird nicht nur durch eine besondere Form von Kausalitt und Verbindung von Einzelursachen bestimmt, sondern auch durch ein teleologisches Moment. Die bereits angeklungene Vorstellung von der Vorsehung ist nun also eingehender zu behandeln, da mit ihr noch eine Reihe weiterer wichtiger Momente in Verbindung stehen. 2.5 Vorsehung und Schicksal Diogenes Laertius beschreibt die Vorstellung von einem alles umfassenden Schicksal (eRlaql]mg) als festen Bestandteil der stoischen Tradition.239 232 So jngst Vogt, K.: Reason, Law and the Cosmic City: Political Philosophy in Early Stoicism, Oxford 2007. 233 Siehe Kap. II 2.2. 234 Siehe nochmals M. Aur. Med. 4, 40. 235 Siehe z. B. Pl. Phd. 99b; Plt. 281d. 236 Zu Platons Vorstellungen ber Verursachung siehe Hankinson, R. J.: Cause and Explanation in Greek Thought, a.a.O., Kap. 3. 237 Siehe M. Aur. Med. 7, 13. 238 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 11. 239 „Alles vollzieht sich nach fester Schicksalsordnung (eRlaql]mg). Das versichern bereinstimmend Chrysipp in den Bchern ber das Schicksal, Poseidonius im
2.5 Vorsehung und Schicksal
413
Diogenes’ Bericht verbindet den Schicksalsbegriff mit der naturphilosophischen These eines alles bestimmenden Ursachengeflechtes und legt so nahe, dass Schicksal und Vorsehung nicht nur mit der Ursachenlehre in enger Verbindung stehen, sondern helfen zu verstehen, wie die vielen Verursachungen auf einer hçheren Warte zu einer Einheit werden, die zugleich teleologische Zge aufweist. Vor der Erçrterung dieser Zusammenhnge bei Marc Aurel sind die Begrifflichkeiten etwas prziser zu fassen. Zwischen Schicksal (eRlaql]mg) und Vorsehung (pq|moia) wollten verschiedene antike und moderne Interpreten immer wieder unterscheiden.240 Marc Aurel gebraucht, wie gleich gezeigt wird, die Ausdrcke eRlaql]mg und pq|moia ganz im Sinne der spteren Darstellungen: Denn berhaupt ist alles eine einzige Harmonie, und wie sich der Kosmos als allumfassender Kçrper aus allen Einzelkçrpern zusammensetzt, so setzt sich das Schicksal als die allumfassende Ursache aus allen Einzelursachen zu einem Ganzen zusammen.241
zweiten Buch ber das Schicksal, Zenon und Boethos im elften Buch ber das Schicksal. Es ist aber das Schicksal die Ursachenverkettung des Seienden und die vernunftgemße Veranstaltung, nach der die Welt ihren Verlauf nimmt.“ Diog. Laert. 7, 149. Fraglich ist, ob eine traditionelle und vor allem einfachere Auffassung, der zufolge das Schicksal nur wesentliche Ereignisse und Verlufe eines menschlichen Lebens bestimmt, von den ersten Stoikern geteilt wurde. Die Vorstellung eines konventionellen Schicksals, das weder einen universalen Determinismus enthlt noch einen totalen Ursachennexus, wurde Zenon und Kleanthes zugeschrieben (siehe Long, A. A./Sedley, D.: Die Hellenistischen Philosophen, a.a.O., S. 408, Kommentar mit Bezug auf LS 62 A). Diese These ist nicht nur wegen der schlechten Quellenlage in Bezug auf Zenon und Kleanthes bestritten worden. Da Zenon bereits eine Identitt von Schicksal, aktivem Prinzip, Gott, Natur und Notwendigkeit annahm, ist evtl. auch davon auszugehen, dass er bereits eine naturphilosophisch angelegte These, die auf einen universalen Determinismus hinausluft, vertritt (so Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 55). 240 Siehe dagegen schon Chalc. In Tim. Obschon Chalcidius den Zusammenhang betont, lsst er Raum fr eine minimale Unterscheidung, da die Vorsehung hier vor allem durch den Willen Gottes bestimmt ist und nicht durch die Ursachenfolge. Erst als Fatum wird aus der Vorsehung eine Ursachenfolge, also Schicksal (siehe Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 46 f.). 241 M. Aur. Med. 5, 8 (fkyr c±q "qlom_a 1st· l_a ja· ¦speq 1j p\mtym t_m syl\tym b j|slor toioOtom s_la sulpkgqoOtai, ovtyr 1j p\mtym t_m aQt_ym B eRlaql]mg toia}tg aQt_a sulpkgqoOtai).
414 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz An anderer Stelle betont Marc Aurel, dass das Schicksal unausweichlich242 und alles umfassend ist.243 Das letzte Zitat macht ferner deutlich, dass das Schicksal ganz physikalisch als Ursachenfolge verstanden wird. Das ist bemerkenswert vor dem Hintergrund der Tatsache, dass zu Marc Aurels Zeiten die Vorstellung eines Sternenschicksals zumindest teilweise Einzug in die stoische Lehre gefunden hat.244 Besonders Poseidonius hat eine solche Sympathie von Sternen und dem fr Menschen Relevanten vertreten.245 Dass Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen gerade nicht auf das astronomische, sondern nur auf das physikalische Schicksal rekurriert, ist fr die Interpretation von R. Neuenschwander, der Marc Aurel in nahezu absoluter Abhngigkeit von Poseidonius sieht, ein problematischer Umstand.246 Ebenso ist seine These, Marc Aurel wrde in den Selbstbetrachtungen pq|moia und eRlaql]mg nicht nur deutlich trennen, sondern auch die pq|moia fr ungleich wichtiger erachten, zurckzuweisen.247 Zunchst erwhnt Marc Aurel die eRlaql]mg nicht signifikant seltener als die pq|moia.248 Eine klare Trennung, die ber das hinausgeht, was in Berichten ber Stoiker vor Marc Aurel dokumentiert wurde, ist nicht auszumachen.249 Die Vorsehung und die Verknpfung aller Dinge durch das Schicksal bzw. den kausalen Nexus werden immer wieder250 zusammen genannt.251 242 Siehe M. Aur. Med. 2, 2; 5, 24; 7, 46; 12, 14. 243 Siehe M. Aur. Med. 5, 24. 244 Diese Vorstellung des Sternenschicksals ist nicht ohne kausale Elemente, da ein kausaler Einfluss der Sterne bzw. ihrer Konstellationen auf bestimmte innerweltliche Ereignisse angenommen wird. 245 Siehe Cic. Fat. 5 – 6. 246 Bereits in der Antike wurde der Unterschied von astrologischem und physikalischem Schicksal betont (siehe Cic. Div. 1, 125; Tac. Ann. 6, 22; Sext. Emp. Math. 5, 5. Siehe dazu besonders ausfhrlich Theiler, W.: Tacitus und die antike Schicksalslehre, a.a.O., S. 39 ff.). 247 So die grundlegende These von Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O. 248 Fr die eRlaql]mg siehe M. Aur. Med. 2, 2; 3, 6; 5, 8 (zwei Mal); 5, 24; 7, 46; 8, 35. Fr die pq|moia siehe M. Aur. Med. 2, 3; 2, 11; 4, 3; 6, 10; 9, 1; 12, 1; 12, 14; 12, 24. 249 „Was von den Gçttern kommt, ist von der Vorsehung bestimmt; was dem Zufall unterliegt, ist nicht ohne Verbindung mit der Natur oder nicht ohne Verknpfung und Verkettung mit allem, was von der Vorsehung bestimmt wird. Alles hat dort seinen Ausgangspunkt.“ M. Aur. Med. 2, 3 (siehe ferner 2, 11; 4, 3; 6, 10). 250 Nur ein Kapitel scheint einen deutlichen Unterschied zu markieren: „Entweder gibt es die Unausweichlichkeit der Schicksalsfgung und eine unverletzliche Ordnung oder eine gndige Vorsehung oder die Unordnung des unbestimmten
2.5 Vorsehung und Schicksal
415
Vorsehung und Schicksal werden dabei mit der Natur des Ganzen in Verbindung gebracht. Dabei betont Marc Aurel, dass es sich um einen physikalisch-kausalen und damit rationalen Zusammenhang handelt.252 Mit der Erwhnung der Vorsehung wird jedoch ber die Rationalitt und kausale Determiniertheit der schicksalhaften Ereignisse hinaus die Verbindung dieser Kausalitt mit teleologischen und theologischen Aspekten bezeichnet. Da die religiçsen Aspekte der Selbstbetrachtungen in einem gesonderten Kapitel253 zusammen behandelt werden, ist hier zunchst auf die Teleologie einzugehen. Die stoische Vorstellung, alles sei kçrperlich, verbietet die Annahme eines transzendenten und immateriellen Gottes, der außerhalb der Welt einen Plan fasst. Ein nach einem kosmischen Jahr bzw. Zyklus entstehender Kosmos ist vielmehr die Verbindung der Vorsehung (als einem Aspekt des aktiven Prinzips) mit dem passiven Prinzip. Marc Aurel spricht in bereinstimmung mit der Tradition von dem ersten Impuls bql^,254 der den Kosmos nicht nur geschaffen hat, sondern auch bestimmt, oder dem Bcelomij|m, das den Kosmos leitet.255
251 252
253 254 255
Zufalls. Wenn nur der unausweichliche Zwang herrscht – warum leistest du dann Widerstand? Wenn aber eine Vorsehung, die sich gndig stimmen lsst, dann verhalte dich so, dass du gçttliche Hilfe verdienst.“ (M. Aur. Med. 12, 14). Es handelt sich hierbei um eine Alternative, die Marc Aurel gerne formuliert, um zu zeigen, dass jede Mçglichkeit eine hnliche, nmlich stoische Haltung erfordert. Ob er mit der Vorsehung hier die von den Stoikern im strikten Sinne verstandene Vorsehung meint, ist fraglich, da die Vorsehung hier nicht vorbestimmt, was einem geschieht, sondern offensichtlich beeinflussbar ist. Das widerspricht den Aussagen ber die Vorsehung etwa im Kap. M. Aur. Med. 10, 5. „Alles, was dir passiert, ist dir seit Ewigkeit vorbestimmt, und die Verkettung der Ursachen verknpfte deine Existenz mit dem Eintreffen dieses Ereignisses.“ M. Aur. Med. 10, 5. „Mit meiner Feststellung, dass die allgemeine Natur diese Dinge gebraucht, ohne einen Unterschied zu machen, meine ich, dass sie ohne Unterschied eintreten, und zwar in Verbindung mit allem, was zunchst geschieht und was darauf folgt aufgrund eines ursprnglichen Anstoßes der Vorsehung, mit dem sie von einem bestimmten Anfang aus diese Weltschçpfung in Angriff nahm, nachdem sie bestimmte Vorstellungen von Zukunft entwickelt und die zeugenden Wirkkrfte entsprechender Voraussetzungen, Vernderungen und Folgeerscheinungen ausgelçst hatte.“ M. Aur. Med. 9, 1. Siehe Kap. II 2.8. Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 40; 6, 36; 7, 75; 9, 1; 9, 28. Einige Kapitel, etwa M. Aur. Med. 9, 1, besttigen auch die Identitt der Natur der Ganzen mit der Vorsehung. Siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 36; 7, 75.
416 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Die Vorsehung ist die Ursache dafr, dass es weitere Ursachen und ein Ursachengeflecht gibt.256 Als Herkunft und Ziel aller Verursachungen hat die Vorsehung ein besonderes Gewicht. Unklar bzw. umstritten ist, ob die Stoiker neben der Ursache (aQt_a), die die Einheit aller Dinge gewhrleistet und die Gesamtperspektive ergibt, noch Formulierungen gefunden, haben, um die Ursache von einer Verursachung (aUtiom) der Kausalverknpfungen, also der zweiten Perspektive, zu unterscheiden.257 In diesem Sinne ist die Vorsehung causa causarum. 258 Bei Marc Aurel finden sich folgende Formulierungen: gçttliche Ursache, von der alles ausgeht,259 Grund von allem,260 allumfassende Ursache, die sich aus allen Einzelursachen zusammensetzt.261 Der Hinweis, dass sich Vorsehung und Schicksal aus der Gesamtheit der Einzelursachen zusammensetzen, zeigt, dass es hier nicht nur um eine 256 Siehe nochmals: „Alles, was dir passiert, ist dir seit Ewigkeit vorbestimmt, und die Verkettung der Ursachen verknpfte deine Existenz mit dem Eintreffen dieses Ereignisses.“ (M. Aur. Med. 10, 5). Das Ursachengeflecht als Schicksal ist die Manifestationsform der Vorsehung. Dabei kommt der Vorsehung wegen dieser teleologischen Komponente auch eine besondere kausale Rolle zu. Es handelt sich nicht um eine gewçhnliche Ursache, die nur den ersten Anstoß fr weitere Verursachung gibt, sondern um die Vernunft des Ganzen: „Alles Materielle verschwindet sehr bald im Sein des Ganzen, jede Ursache geht sehr bald wieder in die Vernunft des Ganzen ein…“ (M. Aur. Med. 7, 10). 257 Die umstrittene Unterscheidung geht davon aus, dass Chrysipp von aQt_a im Unterschied zu aUtiom spricht, um den Grund fr das Schicksal, das aktive Prinzip, den Willen oder die Vernunft Gottes zu bezeichnen. Entsprechend finden sich folgende Ausdrcke B lec¸sta aUtia (vgl. Plut. De stoic. rep. 1055e), t¹ p²mtym aQt¸am (vgl. 1056b) und aQt¸am !m¸jgtom ja· !j¾kutom ja· %tqeptom (vgl. 1056c). Gerade die letztgenannte Bestimmung passt zu den zahlreichen Kapiteln, in denen Marc Aurel die Unausweichlichkeit und Unbezwingbarkeit der Vorsehung betont. Mit der Unterscheidung von aQt_a und aUtiom bersetzt Bobzien auch den notorisch schwierig und zum Teil unverstndlich wiedergegebenen Satz bei Stob. Ecl. 1, 139, 3 – 4: „aQt_a is the Reason in the cause (aUtiom), or the Reason in respect of the cause as cause.“ (Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 53, Anm. 97). Eine ausfhrlichere Diskussion bietet Bobzien, S.: Chrysippus’ Theory of causes, a.a.O. 258 Sen. Q. Nat. 2, 45. 259 M. Aur. Med. 8, 27: Tqe?r sw´seir B l³m pq¹r [t¹ aUtiom] t¹ peqije¸lemom, B d³ pq¹r tμm he¸am aQt¸am, !v’ Hr sulba¸mei p÷si p²mta, B d³ pq¹r to»r sulbioOmtar. 260 M. Aur. Med. 9, 29: B t_m fkym aQt¸a. 261 M. Aur. Med. 5, 8: ovtyr 1j p²mtym t_m aQt¸ym B eRlaql´mg toia¼tg aQt¸a sulpkgqoOtai.
2.5 Vorsehung und Schicksal
417
Ursache geht, die der Ursachenabfolge vorausgeht oder, teleologisch betrachtet, das Aufgehen des Kosmos am Ende eines Zyklus’ in der reinen und feurigen Vernunft meint, sondern dass die Vorsehung und die kosmische Vernunft in jeder einzelnen Verursachung gleichermaßen immanent sind. An diesem Immanenzgedanken ist bemerkenswert, das Marc Aurel hierfr nicht auf die bei frheren Stoikern gngige Vorstellung, dass Gottes Vernunft als Pneuma in allen Menschen und Dingen gleichermaßen prsent ist, zugreift, so dass jede Verursachung am gçttlich-kosmischen Pneuma als der Ursache berhaupt (aQt_a) teilhat.262 Den Ausdruck Pneuma (pmeOla) verwendet Marc Aurel nur in Bezug auf einzelne Lebewesen,263 in Bezug auf Menschen und gerade sich selbst oft auch diminuierend als pmeul²tiom,264 das Hauchartige (pmeulatij¹m) als Element.265 Pneuma wird von Marc Aurel demnach nicht als gçttliche Instanz oder Substanz angesprochen. Sie wird auch nicht mit der menschlichen Vernunft als Teil der gçttlichen Vernunft in Verbindung gebracht.266 Vor allem spielt pmeOla bei Marc Aurel keine Rolle im Zusammenhang mit Monismus und Immanenz im Allgemeinen und der Ursachen- bzw. Vorsehungs- und Schicksalslehre im Besonderen. Dieser Umstand lsst sich vielleicht durch einen Hinweis auf Epiktet erklren, der pmeOla auch nicht mehr in dem genannten altstoischen Sinne verwendet.267 Vielleicht orientiert sich Marc Aurel hier ganz am Text Epiktets, den er von Rusticus bekam, denn auch Epiktet spricht vom pmeOla nicht als kosmischer, sondern nur menschlicher Instanz. Es wre denkbar, dass die Vorsehung alles in einem einmaligen Akt vorherbestimmt oder whrend des Verlaufes des kosmischen Geschehens permanent (oder gelegentlich) etwas fr einzelne Dinge festlegt. Kommentatoren haben bei Seneca, Epiktet und Marc Aurel eine explizite Erçrterung dieser Frage ausgemacht.268 Ausdrcklich erwhnt wird die Alternative bei Marc Aurel nur ein einziges Mal: 262 263 264 265 266 267 268
Siehe dazu etwa Diog. Laert. 7, 134. Siehe M. Aur. Med. 2, 2; 4, 3; 9, 2; 12, 30. Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 2; 5, 33. Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 3; 10, 7. Siehe Kap. II 3.2.2. Siehe Arr. Epict. diss. 2, 1, 17; 2, 23, 2; 3, 3, 23; 3, 13, 15. So Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O., S. 79 und Theiler, W.: Tacitus und die antike Schicksalslehre, a.a.O., S. 47 f.
418 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Und entweder wendet sich die Vernunft des Weltganzen jedem einzelnen Ding zu – wenn das der Fall ist, dann nimm ihre Zuwendung an – oder sie wandte sich nur einmal (den Dingen) zu, alles Weitere aber luft als Folgeerscheinung ab.269
Ein anderes Kapitel scheint diese Alternative aufzugreifen und zu reformulieren: Entweder gibt es die Unausweichlichkeit der Schicksalsfgung und eine unverletzliche Ordnung oder eine gndige Vorsehung oder die Unordnung des unbestimmten Zufalls. Wenn nur der unausweichliche Zwang herrscht – warum leistest du dann Widerstand? Wenn aber eine Vorsehung, die sich gndig stimmen lsst, dann verhalte dich so, dass du gçttliche Hilfe verdienst.270
Im Falle der letztgenannten Vorsehung, die sich gndig stimmen lsst, ist impliziert, dass die Vorsehung neu eingreift und also nicht alles bei der Entstehung des Kosmos’ festgelegt ist. Jedoch formulieren beide Kapitel nur Alternativen. Wie in anderen Kapiteln geht es Marc Aurel auch hier nicht um eine Diskussion dieser Alternativen selbst, um zu einer dogmatischen Entscheidung bezglich der angebotenen Alternativen zu kommen, sondern darum, dass jede der genannten Alternativen zu dem selben praktischen Schluss fhrt. Zunchst ist wichtig festzuhalten, dass viele Kapitel die Alternative zwar nicht nennen, aber zeigen, dass Marc Aurel dort, wo er Position bezieht, von einer einmaligen Festlegung der Vorsehung ausgeht.271 Die Vorsehung legt demnach fest, was geschehen wird, bevor der Kosmos geschaffen wurde. Vom ersten Anstoß an verwirklicht sich die Vorsehung durch das Ursachengeflecht.272 Marc Aurel spricht davon, dass alles „von oben aus den ltesten Ursachen zusammengefgt wurde“273 oder bestimmt wird.274 269 M. Aur. Med. 9, 28. 270 M. Aur. Med. 12, 14. 271 „Mit meiner Feststellung, dass die allgemeine Natur … aufgrund eines ursprnglichen Anstoßes der Vorsehung, mit dem sie von einem bestimmten Anfang aus diese Weltschçpfung in Angriff nahm, nachdem sie bestimmte Vorstellungen von der Zukunft entwickelt und die zeugenden Wirkkrfte entsprechender Voraussetzungen, Vernderungen und Folgeerscheinungen ausgelçst hatte.“ M. Aur. Med. 9, 1. 272 „Alles, was dir passiert, ist dir seit Ewigkeit vorbestimmt, und die Verkettung der Ursachen verknpfte deine Existenz mit dem Eintreffen dieses Ereignisses.“ M. Aur. Med. 10, 5. 273 M. Aur. Med. 5, 8: %myhem 1j t_m pqesbut\tym aQt_ym sucjkyh|lemom.
2.5 Vorsehung und Schicksal
419
Marc Aurel ist, wie auch die anderen Kapitel zeigen, durchaus entschieden, er will also keine Indifferenz bekunden. Zudem sprechen fr die von ihm eingenommene Position auch insofern sachliche Erwgungen, als sie besser mit seinen anderen stoischen Grundauffassungen harmoniert. Wrde die Vorsehung nicht als causa causarum alles in einem einmaligen Akt bestimmen, sondern bei jeder Verursachung mitwirken, dann wre eine solche neu von der Vorsehung bestimmte Verursachung nicht mehr eng kausal mit der vorherigen Verursachung verwoben. Dass die Vorsehung sich durch jede Verursachung im kausalen Gesamtnexus, der den Kosmos ausmacht, vollzieht, kann nicht heißen, dass die Vorsehung plçtzlich kausale Ketten unterbricht oder neue beginnt, ohne dass dies aus dem, was vorher geschah, folgt. Da Marc Aurel erstens den kausalen Aspekt der Vorsehung und die fr ihn daraus resultierende Unausweichlichkeit des Schicksals und zweitens die Einheit des kausalen Nexus im Sinne der strengen kausalen Determiniertheit eines Ereignisses aus den vorherigen annimmt, wrde die Vorstellung eines spontanen Eingreifens der Vorsehung mit dieser strengen Kausalittsvorstellung potentiell in Konflikt geraten. Dennoch ist das Auftauchen der genannten Alternative bemerkenswert. Denn weder bei Seneca noch bei Epiktet wird sie erwogen.275 Seneca betont wie Marc Aurel in vielen Kapiteln, dass fr ein menschliches Leben alles bereits bis zum Tod festgelegt ist,276 whrend Epiktet vor allem den Umstand betont, dass es berhaupt eine Vorsehung gibt und dass sie vernnftig und gut ist.277 Bei Seneca findet sich lediglich eine berlegung, die dem Kapitel 12, 14 in den Selbstbetrachtungen vorgreift, weil auch dort die Frage nach der 274 „Alles, was passiert, wurde auch dir von Anfang an aus der Ganzheit des Kosmos zugeteilt und vorausbestimmt.“ M. Aur. Med. 4, 26. 275 Anders Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O., S. 79. 276 Siehe Sen. Prov. 5, 7: „Entscheidungen des Schicksals leiten uns, und wie viel einem jeder Zeit bleibt – die erste Stunde, da man zur Welt kommt, hat es festgelegt. Ursache hngt von Ursache ab … Vor Zeiten ist festgesetzt worden, woran du dich erfreuen sollst, worber weinen und mag noch so große Vielfalt scheinbar das Leben jedes einzelnen gestalten, das Ergebnis kommt auf eines hinaus: wir empfangen Vergngliches, selber vergnglich.“ Seneca behauptet hier genau genommen nur, dass bei der Geburtsstunde eines Menschen alles bestimmt ist, nicht wie Marc Aurel, dass bei der Genese des Kosmos bereits alles vorherbestimmt ist. Aber entscheidend fr beide sind die praktischen Schlsse, die sich gleichen. 277 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 12; 3, 24.
420 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Vernderbarkeit des Willens des Gottes gestellt wird.278 Seneca stellt fest, dass die Vorsehung eine fest beschlossene ist,279 schon weil sich die Gçtter nicht um den Einzelnen kmmern.280 Marc Aurel formuliert demnach erstmalig oder zumindest deutlicher als Vorgnger diese Alternative, ohne sich fr die neue Mçglichkeit zu entscheiden.281 Doch dass die Vorsehung je neu fr jedes Ding oder Ereignis eingreift, ist nur von theoretischem Interesse. Praktisch entscheidend ist fr Marc Aurel wie fr Seneca und Epiktet die Tatsache, dass es die Vorsehung gibt.282 2.6 Nebenfolgen Die Frage, wann und ob die Vorsehung alles bestimmt, steht bei Marc Aurel in enger Beziehung zu einer Erçrterung der so genannten Nebenwirkungen (1picemm¶lata), die eine Begleiterscheinung der natrlichen Vorgnge sind.283 278 279 280 281
Sen. Q. Nat. 3, 30, 1. Sen. Prov. 5, 7. Sen. Ben. 6, 23. Es ist, ohne die Mçglichkeit, Textbelege liefern zu kçnnen, vermutet worden, dass Poseidonius hier Marc Aurels Quelle ist. So Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O., S. 79 und Theiler, W.: Tacitus und die antike Schicksalslehre, a.a.O., S. 47 f. Theiler ist, wie oft, vorsichtiger als Neuenschwander. ber Marc Aurel schreibt er (S. 48): „Leider ist nicht sicher von wem die besondere Prgung des Gedankens stammt. Die Zeugnisse sind spt, kçnnen auf den Stoiker Poseidonius weisen. Es kann sein, dass dieser nur wie çfters die im Redeschwall der frheren Stoiker leicht verschwindenden glcklichen Formulierungen ans Licht gestellt hat.“ 282 „Wenn die Gçtter wirklich ber mich und ber das, was mir zustoßen sollte, Beschlsse gefasst haben, dann haben sie gute Beschlsse gefasst. …. Wenn sie aber fr mich persçnlich keine Beschlsse gefasst haben, dann haben sie doch auf jeden Fall fr das Weltganze Beschlsse gefasst. Ich bin verpflichtet, auch das, was im Zusammenhang damit passiert, willkommen zu heißen und zu akzeptieren.“ M. Aur. Med. 6, 44. 283 Deutlich ist die Bestimmung bei Marc Aurel zu Beginn von M. Aur. Med. 3, 2: „Man muss auch folgendes beachten: Auch die Ereignisse, die die natrlichen Vorgnge begleiten (Wqμ ja· t± toiaOta paqavuk\sseim, fti ja· t± 1picim|lema to?r v}sei cimol]moir 5wei ti euwaqi ja· 1pacyc|m).“ Die Unterscheidung taucht ebenfalls bei M. Aur. Med. 6, 36 deutlich auf. Eine erste Erwhnung von 1picim|lema finden wir bei Aristoteles und in der lteren Stoa, wo die Hedone als Nebenfolge bezeichnet wird. Siehe Arist. Eth. Nic. 1174b 33 und dann fr die lteren Stoiker Diog. Laert. 7, 86. Fr die
2.6 Nebenfolgen
421
Unbeabsichtigte Nebenfolgen sind fr den behaupteten Zusammenhang von kosmischer Kausalitt und Teleologie in der Stoa ein besonderes Problem, weil sie als Folgen zwar Teil des kausalen Geflechtes sein kçnnen, aber zugleich nicht vollumfnglich vorherbestimmt sind, d. h. nicht Teil der Teleologie sind. Kçnnen diese Nebenfolgen ein ebenfalls vom gçttlichen Willen bestimmter rationaler Teil des Kosmos sein? Welche praktischen Schlsse sind zu ziehen, wenn es etwas im Kosmos gibt, das nicht in diesem Sinne gut ist? Sind Dinge, die prima facie nicht von der Vorsehung bestimmt sind und weder als gut noch schçn gelten, zu vermeiden? In einem besonders eindrucksvollen Kapitel der Selbstbetrachtungen erwhnt Marc Aurel eine lange Liste solcher Zuflligkeiten, die konventionell weder als gut noch schçn gelten: Auch die Ereignisse, die die natrlichen Vorgnge begleiten, haben etwas Reizvolles und Anziehendes an sich. Wenn zum Beispiel ein Brot gebacken wird, platzen einige Stellen auf, und diese Risse, die gewissermaßen im Widerspruch zum Zweck des Brotbackens stehen, fallen irgendwie ins Auge und regen auf besondere Weise den Appetit an. Auch die Feigen platzen auf, wenn sie berreif sind. Und bei den vollreifen Oliven erhlt die Frucht eine eigentmliche Schçnheit, wenn die Fulnis unmittelbar bevorsteht. Die sich nach unten neigenden hren, die runzlige Stirn des Lçwen, der Schaum, der aus dem Maul des Ebers fließt, und vieles andere, das fr sich allein betrachtet alles andere als schçn ist, trgt dennoch zur Schçnheit bei und hat seinen eigenen Reiz, weil es die natrlichen Erscheinungen begleitet; wenn also jemand ein Gefhl und ein tieferes Verstndnis fr das Geschehen im Weltganzen hat, dann wird ihm deutlich werden, dass fast alles auch durch derartige Begleitumstnde eine auf seine Weise angenehme und erfreuliche Wirkung hat. Ein solcher Mensch wird sogar die wirklichen Muler wilder Tiere ebenso gerne anschauen wie ihre von Malern und Bildhauern gefertigten Abbildungen. Er wird auch in der Lage sein, die Reife und Blte einer alten Frau und eines alten Mannes und die Anmut von Kindern mit seinen unverbildeten Augen zu sehen. Vieles dieser Art wird nicht jedem zugnglich sein, sondern allein demjenigen, der mit der Natur und ihrem Wirken vollkommen eins ist.284
In den wenigen Texten, die uns zu diesem Themenkomplex erhalten sind, erçrtern andere Stoiker Begleitumstnde von natrlichen Vorgngen im Rahmen einer Rechtfertigung der Vorsehung angesichts der bel, die einem Menschen widerfahren kçnnen.285 rçmische Stoa siehe Sen. Vit. 9, 2; Otio 7, 2. Die Zusammenhnge, um die es Marc Aurel geht, sind jedoch anderer Natur als die von Aristoteles angesprochenen. 284 M. Aur. Med. 3, 2. 285 Siehe z. B. Gellius 7, 1, 1 – 13 (=LS 54 Q).
422 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz In Bezug auf die Dinge und Ereignisse, die Nebenfolgen sind, weil sie nicht direkt von der Vorsehung verursacht wurden, verwenden die Stoiker eine Reihe von Argumenten, um zu zeigen, dass die Annahme einer Vorsehung nicht die Annahme von beln ausschließt:286 Vielleicht von Heraklit inspiriert ist die grundstzliche Annahme,287 dass nichts ohne sein Kontrarium auftritt und in Folge verstndlich ist. Im Kosmos kann daher auch Gutes nicht ohne Schlechtes existieren.288 Eine andere Weise, sich das Auftreten von beln zu erklren, besteht darin, sie als nur vermeintlich schlecht zu deklarieren, und dies auf einen noch unvollstndigen Erkenntnisstand zurckzufhren. Mit dem Erkenntnisstand argumentieren die Stoiker einem Bericht zu Folge nur sehr „unbeholfen“: Sie sagen nmlich, dass es unter den Pflanzen und Tiere viele gibt, deren Nutzen uns bisher verborgen geblieben ist, dass man ihn aber im Laufe der Zeit entdecken wrde, gerade so, wie vieles, was in frheren Jahrhunderten durch Notwendigkeit und Gebrauch entdeckt wurde.289
Vermeintliche bel dienen als solche einem bergeordneten und grçßeren Zweck.290 In Epiktets „Diatribe“ zur Vorsehung findet sich keine Erçrterung der sog. bel, die Fragen der Kausalitt einschließt. Er argumentiert pragmatisch, gegen jedes bel habe man von der Vorsehung eine Fhigkeit erhalten, so dass insgesamt der Nutzen berwiege.291 Marc Aurel erwhnt entsprechende Nebenfolgen hufig, wobei er sich auf den Ausdruck 1pajoko}hgsir und Verwandtes beschrnkt292 und den Terminus paqajoko}hgsir, den Chrysipp laut Gellius in diesem Zusammenhang gebraucht,293 nicht fr diesen technischen Sachverhalt, sondern 286 Siehe die Zusammenstellung bei Long, A. A./Sedley, D.: Die hellenistischen Philosophen, a.a.O., S. 396. 287 Heraklit hat sicher eine Einheit der Gegenstze vertreten. Die Fragmente lassen jedoch keine eindeutige Interpretation zu, was Heraklit damit meint bzw. ob es verschiedene Bedeutungsebenen gibt (siehe dazu van Ackeren, M.: Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, a.a.O., Kap. 4). 288 Siehe nochmals Gellius 7, 1, 1 – 13. 289 Lactantius De ira dei 13, 9 – 10 (=LS 54 R). 290 „Im fnften Buch ber die Natur sagt er [Chrysipp], dass Wanzen ntzlich sind, um uns zu wecken, dass Muse uns anhalten, nicht unordentlich zu sein.“ Plut. De stoic. repugn. 21, 1044D (=LS 54 O). 291 Arr. Epict. diss. 1, 6. 292 Siehe M. Aur. Med. 3, 2; 6, 36; 6, 44; 7, 75; 9, 28 (1pajoko}hgsir, fr die Verbform siehe auch 3, 2; 4, 24; 5, 3). 293 Siehe Gellius 7, 1, 1 – 13 (=LS 54 Q (2)).
2.6 Nebenfolgen
423
fr andere, nicht-akademische Belange verwendet. Insgesamt geht es Marc Aurel weniger um die Theodizee-Problematik.294 Stattdessen sind an seiner Behandlung der Nebenfolgen folgende Aspekte hervorzuheben: Erstens fehlt das Argument Heraklits, Gutes sei im Kosmos notwendig nur zusammen mit Schlechtem existent und erkennbar. Fr das Anliegen, vermeintlich schlechte oder unangenehme Dinge zu akzeptieren, rekurriert Marc Aurel durchaus auf Heraklit, und konzentriert sich daher darauf, diese Dinge als notwendige Vernderungen und Wandel zu beschreiben. Zweitens betont Marc Aurel auch hier den Einheitsgedanken. Einheitlich sind die Dinge und Ereignisse im Kosmos auch, weil es keinen signifikanten Unterschied zwischen den beabsichtigten Folgen und den notwendigen Nebenfolgen zu geben scheint.295 Marc Aurel unterscheidet zwar zwischen dem Wirken der Vorsehung und den Folgeerscheinungen des ersten Schçpfungsimpulses, betont jedoch dabei, dass beides Teil des vernnftigen und kausal bestimmten Ganzen ist.296 Zunchst hebt Marc Aurel damit den Grundgedanken hervor, der bereits bei Chrysipp tragend war.297 Die vermeintlichen Nachlssigkeiten der Natur in Form der fr den Menschen vielleicht un-
294 Nur ein einziges Kapitel, das sich wie eine Zusammenfassung des Eintrages 3, 2 liest, hat einen solchen Tonfall, weil es explizit das vermeintlich Schlechte erwhnt. „Alles kommt von dort, nachdem es von jenem allgemeinen leitenden Prinzip in Gang gesetzt wurde oder als Begleiterscheinung auftrat. Dennoch sind der Rachen des Lçwen, das Gift und alles Schdliche, wie z. B. ein Stachel oder Schmutz, Folgeerscheinungen des Erhabenen und Schçnen. Komm also nicht auf den Gedanken, dass diese Erscheinungen nicht mit dem zu tun htten, was du verehrst, sondern denk an den Ursprung aller Dinge.“ (M. Aur. Med. 6, 36). 295 „Mit meiner Feststellung, dass die allgemeine Natur diese Dinge braucht, ohne einen Unterschied zu machen, meine ich, dass sie ohne einen Unterschied zu machen, und zwar in Verbindung mit allem, was zunchst geschieht und was darauf folgt aufgrund eines ursprnglichen Anstoßes der Vorsehung, mit dem sie von einem bestimmten Anfang aus diese Weltschçpfung in Angriff nahm.“ M. Aur. Med. 9, 1. 296 Siehe auch M. Aur. Med. 7, 75. 297 „Ferner hat er [Chrysipp] hufig darber geschrieben, dass es an der Welt nichts zu tadeln und nichts auszusetzen gibt, dass alles nach Maßgabe der vollkommenen Natur ausgefhrt ist. Dennoch gesteht er an anderer Stelle bestimmte tadelnswerte Flle von Nachlssigkeit in Dingen zu, die keineswegs unbedeutend sind. … Er sagt, dass damit in beachtlichem Maß auch Notwendigkeit einhergeht.“ Plut. De stoic. repugn. 37, 1051 B-C (=LS 54 S).
424 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz angenehmen Nebenfolgen sind nicht wirklich etwas Unangenehmes, Nicht-Ntzliches oder Hssliches.298 Drittens ist dabei auffllig, wie stark Marc Aurel wiederum den Perspektivwechsel betont.299 Die isolierte Betrachtungsweise einzelner Verursachungen und Zwecke bei gleichzeitiger Nichtbeachtung der alles durchdringenden Rationalitt des Ganzen fhrt erst dazu, die unbeabsichtigten Nebenfolgen als Problem anzusehen. Der Perspektivwechsel von den einzelnen Verursachungen zum Gesamtnexus wird deutlich, wenn in dem bereits erwhnten Kapitel 3, 2 die zahlreichen von Marc Aurel eingeschobenen Beispiele weggelassen werden. Das folgende Zitat gibt diesen Wechsel der Perspektive noch einmal wieder. Aus der Perspektive der einzelnen Verursachungen und Zwecke gibt es Ereignisse, die die natrlichen Vorgnge begleiten“, etwas „das fr sich allein betrachtet“, „gewissermaßen im Widerspruch zum Zweck“ steht. Aber wenn „jemand ein Gefhl und ein tieferes Verstndnis fr das Geschehen im Weltganzen hat, dann wird ihm deutlich werden, dass fast alles auch durch derartige Begleitumstnde eine auf seine Weise angenehme und erfreuliche Wirkung hat. … Vieles dieser Art wird nicht jedem zugnglich sein, sondern allein demjenigen, der mit der Natur und ihrem Wirken vollkommen eins ist.300
Viertens geht es bei diesem Perspektivwechsel nicht nur um vermehrte Einsicht in den Nutzen, sondern viel hufiger betont Marc Aurel, dass er den vermeintlich schdlichen und hsslichen Nebenfolgen sogar etwas 298 Das Argument findet sich ebenfalls bei Chrysipp angedeutet, wenn er ber den Nutzen der Muse und Wanzen schreibt (siehe Plut. De stoic. rep. 21, 1044d) oder darber, dass wilde Tiere uns helfen, uns in der Tapferkeit zu ben (siehe Porph. Apst. 3, 20, 2, 1, 3). 299 Ein solcher Perspektivwechsel ist keineswegs ein Spezifikum Marc Aurels. Er ist ein zentrales Element der stoischen Schule (siehe Striker, G.: Essays on Hellenistic epistemology and ethics, Cambridge 1996, S. 225 – 31; White, N.: The role of physics in Stoic ethics, in: The Southern Journal of Philosophy 23, supplement (1985), S. 57 – 74; ders.: Individual and conflict in Greek ethics, Oxford 2002, S. 312 – 9). Der Grundgedanke ist sptestens bei Platon deutlich (z. B. Resp. 500b-501d oder 592a-b; siehe dazu van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., Kap. 2, 4 und 6). Damit ist jedoch erstens nicht entschieden, ob Marc Aurels Auffassung von der kosmischen Perspektive nicht einige Besonderheiten aufweist und zweitens, welche Bedeutung fr die Ethik dieser physikalisch-theologischen Betrachtung des Kosmos zukommt. 300 M. Aur. Med. 3, 2.
2.6 Nebenfolgen
425
sthetisches abzugewinnen vermag.301 Das Kapitel 3, 2 ist daher nicht nur wegen der Inhalte interessant. Gerade die Ausformulierung ist ungewçhnlich, weil anhand von vielen Einzelbeispielen Naturschçnheit beschrieben wird. Dabei wird nicht die von Marc Aurel hufig erwhnte und praktizierte analytische Methode302 angewandt, um vermeintliche Gter zu entwerten, sondern vermeintlich bles wird als ein nicht nur zweckmßiger, sondern auch sthetischer natrlicher Vorgang beschrieben.303 Das ist in der stoischen Tradition vielleicht nicht ganz so hufig. Fr denjenigen, der eins mit dem Kosmos ist, ist das Leben kein Kampf mehr, sondern auch das vermeintlich Hssliche und Widerspenstige ein Genuss. Es ist interessant, einige Aussagen Senecas mit denen Marc Aurels zu vergleichen, denn sie geben vielleicht mehr als einer kontrren Stimmung Ausdruck. Fr Seneca ist das Schicksal eine Kriegserklrung: Das Schicksal fhrt mit mir Krieg: ich habe nicht die Absicht seinen Befehlen zu gehorchen, das Joch nehme ich nicht an, im Gegenteil – was mit grçßerer Tapferkeit zu tun ist: ich schttle es ab. … Freiheit ist das Ziel; … Was ist Freiheit, fragst du? Keiner Sache als Sklave zu dienen, keiner Notwendigkeit, keinen Zufllen…304
Whrend bei Seneca die Freiheit sich im tapferen Ertragen und im Kampf gegen das Schicksal verwirklicht, beschreibt Marc Aurel die Einheit mit den schicksalsbedingten Notwendigkeiten als Ideal. Mit der Unterscheidung der Perspektive, die einzelne Verursachungen beobachtet, von derjenigen, die die teleologische Verfasstheit des kausalen Gesamtzusammenhanges in den Blick nimmt, kçnnen zwei Gruppen von Kapiteln bei Marc Aurel in ihrer Eigenart besser verstanden werden. Denn einige, wie etwa der Eintrag 3, 2, handeln von der zweitgenannten, erreichten Perspektive oder Einheit, whrend andere etwas mehr Nhe zu Senecas kmpferischer Einstellung haben, da dort das Leben als wilder Strom und daher als ungeeignet fr Verwçhnte beschrieben wird. Die Einordnung der unbeabsichtigten Nebenfolgen in das kausale und rationale Geflecht des Ganzen ist Teil der umfassenden Erçrterung. Gibt es berhaupt etwas, dass zufllig geschieht oder existent ist? 301 Nur in einem Bericht bei Plutarch findet sich eine hnliche Anspielung (siehe nochmals Plut. De stoic. repugn. 21, 1044 D (=LS 54 O)). 302 Siehe Kap. II 4.3. 303 Bemerkt wurde dies von Misch, G.: Geschichte der Autobiographie I, a.a.O., S. 284. 304 Sencea Ep. 51, 8 – 9 (hnlich: 64, 4; 71, 25; 74, 7; 94, 74; 100, 22 und 29; 111, 4; 117, 33; 118, 4; Prov. 3, 4; Marc. 10, 6; Pol. 5, 4; Helv. 5, 3).
426 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz P. Hadot hat im Rekurs auf das Kapitel 9, 28 behauptet, Marc Aurel weise alles Zufllige dem Epikureismus zu und halte die Annahme von Zufllen mit dem Stoizismus fr unvereinbar.305 Hadot bersieht jedoch ein Kapitel, das dem widerspricht: Was von den Gçttern kommt, ist von der Vorsehung bestimmt; was dem Zufall unterliegt, ist nicht ohne Verbindung mit der Natur oder nicht ohne Verknpfung und Verkettung mit allem, was von der Vorsehung bestimmt wird. Alles hat dort seinen Ausgangspunkt.306
Marc Aurel bekrftigt hier den Einheitsgedanken, indem er den Zufall in das durch die Vorsehung bestimmte kausale Geflecht integriert. Denn alles, was geschieht, also auch Zuflliges, ist auf den ersten vernnftigen Impuls zurckzufhren. Wiederum ist zwar der Grundgedanke altstoisch,307 aber die explizite Erwhnung des Zufalls in diesem Kontext ist es nicht. Wie P. Hadot kçnnte man die Integration des Zufalls in den stoischen Zusammenhang von Teleologie und Kausalitt generell ablehnen, weil die Idee des Zufalls eben diesem Zusammenhang in seinem universalen Anspruch widerspricht. Marc Aurel kçnnte hier mit dem Zufall die von der Vorsehung verursachten, aber nicht vollumfnglich beabsichtigten Nebenfolgen meinen. Die Risse beim Brotbacken, die Marc Aurel erwhnt,308 kçnnte er als so ein Zufallsereignis auffassen, weil die genaue Linienfolge der Risse nicht vorherbestimmt und in diesem Sinne zufllig ist.
305 Hadot formuliert eindeutig: „der Gegensatz zwischen Zufall und Nicht-Zufall, d. h. zwischen Zufall und Vorsehung, ist, wie Marc Aurel selber sagt, eine disjunktive Aussage, d. h. von den beiden Termini des Gegensatzes schließt der eine den anderen aus. Sie sind miteinander absolut unvertrglich.“ Hadot, P.: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektre Marc Aurels, a.a.O., S. 217 (Hervorheb. P. Hadot). 306 M. Aur. Med. 2, 3: T± t_m he_m pqomo_ar lest\. t± t/r t}wgr oqj %meu v}seyr C sucjk~seyr ja· 1pipkoj/r t_m pqomo_ô dioijoul]mym. p\mta 1je?hem Ne?. 307 Chrysipps Formulierung bei Plutarch lautet: „Weil die allgemeine Natur nmlich berall hin reicht, muss alles, was irgend im Kosmos und in einem beliebigen Teil des Kosmos geschieht, in bereinstimmung mit ihr und ihren Grnden in ungehinderter Folge geschehen, da es einerseits nichts gibt, was von außerhalb in ihre Regierung eingreifen kçnnte, und andererseits auch keiner ihrer Teile in irgendeiner Weise in der Lage ist, eine Bewegung oder einen Zustand anzunehmen, der mit der allgemeinen Natur nicht bereinstimmen wrde.“ Plut. De stoic. rep. 34, 1050b-d. 308 Siehe nochmals M. Aur. Med. 3, 2.
2.6 Nebenfolgen
427
Besttigt wird dies durch ein anderes Kapitel, in dem Marc Aurel eine Distinktion anbringt – etwas kann auf verschiedene Weisen vom ersten Grund stammen: Dies ist von Gott gekommen, das geschieht durch schicksalhafte Verkettung, schicksalsbedingte Zusammenfgung, durch ein entsprechendes Zusammentreffen und durch Zufall…309
Damit ist t}wg bei Marc Aurel neben der direkten Ursachenfolge eine Form, in der sich Gott oder die Vorsehung in der Welt aktualisiert. Er bernimmt damit nicht direkt die sptere stoische Vorstellung vom Zufall als dem Gegenstand der Wahrsagerei.310 Aber die berzeugung, dass Zufalls-Phnomene, anders als der Gegenstandsbereich anderer Knste, solche Ereignisse sind, von denen wir die Grnde noch nicht kennen oder sogar aus prinzipiellen Grnden nicht kennen kçnnen,311 kçnnte Marc Aurel beeinflusst haben. Zumindest wrde es zur Unterscheidung von Zufall und Ursachengeflecht, bei gleichzeitiger Anbindung von beidem, mit der Vorsehung als der causa causarum passen. Wenn das genannte Verstndnis von t}wg als etwas, das zwar verursacht wurde, aber dessen Ursachen unbekannt sind, auch fr Marc Aurel vorausgesetzt werden darf, lsst sich der Gesamtnexus zusammenfassend wie folgt beschreiben. Es gibt (i) eine erste Ursache, die einen ersten Impuls fr die Entstehung des Kosmos gibt. Diese Natur des Ganzen, (bzw. die Vorsehung, die Rationalitt des Kosmos, Gott) verursacht dann (ii) eine kausale Verbindung von miteinander verwandten und hnlichen Dingen, die von der Vorsehung genau so gewollt sind. Teile des kausalen Geflechtes sind aber (iii) unbeabsichtigte Nebenfolgen, die der gleichen Notwendigkeit unterworfen sind. Dann gibt es (iv) zufllige Ereignisse, von denen eine Verursachung nur grundstzlich – im Rekurs auf (i) und (ii) – angenommen werden kann, die spezifischen Grnde fr ein bestimmtes Ereignis jedoch (prinzipiell) unbekannt sind.312 309 M. Aur. Med. 3, 11: toOto l³m paq± heoO Fjei, toOto d³ jat± tμm s}kkgnim ja· tμm sullgquol]mgm s}cjkysim ja· tμm toia}tgm s}mteun_m te ja· t}wgm. 310 Siehe Cic. Div. 1, 9; 2, 13 – 26. Bei Cicero ist dies als Poseidonius-Rezeption bezeichnet worden, weil es keine frh-stoischen Berichte ber die Vorstellung gibt (vgl. Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 174 f.). Die Kunst der Divination spielt jedoch bei Marc Aurel keine tragende Rolle. 311 Siehe Stob. Ecl. 1, 92, 14 – 15. Dazu ferner Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., Kap. 1.3.2 und S. 175. 312 Die Unterscheidung und gesonderte Auflistung von (iv), den zuflligen Ereignissen, mag knstlich klingen, denn letztlich wrden die Stoiker und Marc Aurel
428 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Dieses Weltbild zeichnet sich nicht nur durch eine lckenlose kausale Determiniertheit aus, sondern auch durch die Annahme, dass ber die kausale Verbindung aller Dinge auch teleologisch und theologisch gedacht wird.313 Diese Verbindung kausaler Faktoren mit darber hinausgehenden Aspekten wird von Marc Aurel in der berhmtesten seiner von ihm zahlreich formulierten Alternativen in Frage gestellt. Denn dort erwhnt er ein konkurrierendes Weltbild. Die Gegenberstellung wird auf die pointierte Formel gebracht: Vorsehung oder Atome? 2.7 Vorsehung oder Atome Bei der Erçrterung dieser Alternative stehen fr Marc Aurel praktische Gesichtspunkte im Zentrum, also die Frage, wie man mit welchem physikalischen Weltbild leben kann und sollte. In der Forschungsliteratur haben die entsprechenden Kapitel jedoch auch der Diskussion um den Charakter der Philosophie Marc Aurels zustzliche Schrfe verliehen. Das betrifft zunchst Grundstzliches: Erstens wurde bestritten, dass Marc Aurel wegen der Erwgung der Alternative als stoischer Philosoph gelten darf. Er wrde sich weder hinreichend konsistent ußern noch wrde er die orthodoxe stoische Position argumentativ untersttzen. Daher sei er zwar stoisch, aber dies nur religiçsaffirmativ und eben kein Philosoph.314 Zweitens wurde sein Denken wegen der Erwgung des epikureischen Atomismus als eklektizistisch eingestuft. Drittens haben neben diesen allgemeineren Erwgungen die Kapitel, in denen die Alternative erwhnt wird, zu einer Diskussion ber das Vernicht bestreiten, dass auch Zuflliges verursacht wurde und damit auch zur entsprechenden Klasse gehçrt. Zuflliges (iv) besteht daher nur aus der Perspektive der Unwissenheit, gehçrt aber eigentlich zu (ii). Ich danke Geert Roskam fr einen Hinweis in dieser Sache. 313 Siehe nochmals: „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefgt und bildet gemeinsam denselben Kosmos. Es gibt nmlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit unter der Voraussetzung, dass es auch nur eine Vollkommenheit der Wesen gibt, die alle diese Herkunft haben und an derselben Vernunft teilhaben.“ M. Aur. Med. 7, 9. 314 Siehe Rist, J.: Are you a Stoic?, a.a.O.
2.7 Vorsehung oder Atome
429
hltnis der Philosophieteile, insbesondere von Ethik und Physik, gefhrt. Wegen der klassischen Annahme, dass die stoische Ethik notwendig eine stoische Physik voraussetze, wurde die Frage diskutiert, ob Marc Aurel die Ethik von der Physik entkoppelt und so autonomisiere. Obschon die praktischen Konsequenzen erst im Kontext der gesamten Ethik, die in einem spteren eigenen Kapitel behandelt werden, gewrdigt werden kçnnen, sind sie hier relevant. Denn in Frage stehen hier nicht nur die Inhalte der praktischen Konsequenzen, sondern vor allem auch die Frage, welche Art Verbindung von Physik und Ethik hier vorliegt. Basiert die Ethik bei Marc Aurel berhaupt noch vollumfnglich auf Physik? Und wenn ja, basiert die Ethik auf einer bestimmten, der stoischen Physik, also dem providentiellen kosmologischen Weltbild? Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunchst die physikalische Seite eingehend zu beschreiben. Probleme machen dabei zwei Umstnde. Die Kapitel, die sich zu dieser Frage finden, sind erstens fr sich genommen nicht immer eindeutig, noch ergibt sich zweitens insgesamt ein einheitliches Bild. Die Beachtung einzelner Unterschiede ist hier entscheidend. Hilfreich ist demnach zunchst eine grobe Ordnung der relevanten Eintrge. Es lassen sich folgende Gruppen von relevanten Kapiteln unterscheiden: (i) Die Alternative „Vorsehung oder Atome“ wird von Marc Aurel in einer Reihe von Kapiteln behandelt.315 Diese Formulierung ist jedoch bei weitem nicht die hufigste. Sie wird in dieser kurzen Form sogar nur einmal verwandt,316 auch wenn viele Kommentatoren mit den Zuschreibungen etwas großzgiger umgehen. Marc Aurel verwendet eine Vielzahl anderer Termini.317 Dennoch scheint in dieser Formulierung die Alternative auch fr ihn am einprgsamsten zu sein.318
315 Siehe M. Aur. Med. 12, 14; 6, 10; 7, 32; 8, 17; 10, 6; 11, 18; 6, 44; 9, 28; 4, 3; 9, 39 (verwandt ist etwa 4, 4). 316 „Besinne dich wieder auf die Alternative, ,entweder Vorsehung oder Atome‘ (!mameys\lemor t¹ diefeucl]mom t|· Etoi pq|moia C %toloi).“ M. Aur. Med. 4, 3. 317 „Entweder ist es ein Gemisch, eine Verknpfung und Wiederauflçsung oder Einheit, Ordnung und Planung. Wenn nun das erste zutrifft – warum will ich da noch in einem zuflligen Gebilde und einem solchen Durcheinander verweilen? (Mtoi juje½m ja· !mtelpkojμ ja· sjedasl¹r C 6mysir ja· t\nir ja· pq|moia. eQ l³m owm t± pq|teqa, t_ ja· 1pihul_ eQja_\ sucjq_lati ja· vuql` toio}t\ 1mdiatq_beim ;)“ M. Aur. Med. 6, 10. Alternativ auch: „Ob Atome oder Natur, zuerst soll gelten, … (EUte %toloi eUte v}sir, pq_tom je_shy).“ M. Aur. Med. 10, 6 (hnlich 11, 18).
430 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Wichtig ist, dass er mit der Alternative keine vollstndige Disjunktion beschreiben mçchte. So erwhnt er an einigen Stellen auch drei Mçglichkeiten.319 Es geht Marc Aurel darum, der stoischen Kosmologie, fr die Vorsehung und Teleologie wesentlich sind, ein anderes Weltbild gegenberzustellen, ohne sich darauf festzulegen, ob es weitere Alternativen gibt und wie viele. (ii) Weiterhin gibt es Kapitel, in denen eine Entscheidung zugunsten der stoischen Positionen getroffen wird: Hier drckt Marc Aurel erstens eine Prferenz fr die stoische providentielle Kosmologie aus. Zweitens finden sich in diesen Kapiteln explizite Kritiken an einer atomistisch-epikureischen Weltsicht.320 (iii) In einigen Kapiteln lsst Marc Aurel offen, ob er in Bezug auf die Alternative „Vorsehung oder Atome“ eindeutig Position bezieht.321 Zur Beantwortung der Frage, ob die Selbstbetrachtungen insgesamt eine einheitliche Position prsentieren, sind die Kapitel(-gruppen) zunchst einzeln zu betrachten. Auffllig ist, dass in keinem Kapitel, das die Vorsehung oder das Schicksal erwhnt, ausdrcklich gegen die stoische Vorstellung vom Schicksal argumentiert wird. In einigen Kapiteln der Gruppe (ii) wird nicht nur die Annahme einer Vorsehung im kosmischen Geschehen befrwortet, sondern die andere Alternative, die atomistisch-epikureische Sicht auf den Kosmos, explizit verworfen. Bei diesen Zurckweisungen gibt es jedoch Unterschiede, die bemerkenswert sind: Einmal (a) wird argumentiert, die Atomlehre sei nicht kompatibel mit der Vorstellung eines geordneten Inneren des Menschen,322 wobei offenbar 318 Er verdichtet damit theoretische Alternativen zu knappen Schlagworten, wie es seiner eigenen Theorie ber die Mnemotechniken entspricht, d. h. sich kurze Formulierungen zu berlegen, die gut zu memorieren sind und sofort an die richtigen Dogmen erinnern. 319 „Entweder gibt es die Unausweichlichkeit der Schicksalsfgung und eine unverletzliche Ordnung oder eine gndige Vorsehung oder die Unordnung des unbestimmten Zufalls (Mtoi !m\cjg eRlaql]mgr ja· !paq\bator t\nir C pq|moia Rk\silor C vuql¹r eQjai|tgtor !pqost\tgtor).“ M. Aur. Med. 12, 14 (siehe auch 6, 44, wo mehr als zwei Optionen genannt werden: Es gibt entweder eine Vorsehung, die das Schicksal eines Menschen bestimmt oder nur bestimmt, was in der Welt geschieht, oder gar nichts bestimmt). 320 Siehe M. Aur. Med. 4, 27; 4, 3; 6, 10; 10, 6; 11, 18 (allgemein positiv zur Vorsehung auch 2, 3 und 9, 1). 321 Siehe M. Aur. Med. 6, 44; 9, 28; 9, 38; 12, 14. 322 Siehe M. Aur. Med. 4, 27.
2.7 Vorsehung oder Atome
431
vorausgesetzt wird, dass die Ordnung der Seele nicht nur ein Abbild der kosmischen Ordnung ist, sondern davon kausal abhngt. Dann (b) findet sich das Argument, dass ein vom Zufall bestimmter Kosmos nur ein atomisches Gemisch sei, in dem zu leben nicht lohne.323 Schließlich (c), so ein weiteres Kapitel, mache die Atomlehre das Hegemonikon zum Tier und zerstçre es sogar.324 Die Auflistung der verschiedenen Argumente gegen die Atomlehre ließe sich verlngern und noch weiter differenzieren, doch bereits die kurze Erwhnung macht zwei grundstzliche Aspekte deutlich. Erstens zeigt sich, dass Marc Aurel immer wieder zu verschiedenen Themen und Thesen zurck kommt, dabei jedoch argumentativ ußerst vielfltig vorgeht. Damit entspricht die Vielfalt der Argumente auf Seiten der Inhalte der Variation formaler Aspekte bei der Behandlung eines Themas, die im ersten Teil dieser Arbeit untersucht wurde. Wenn es stimmt, dass Marc Aurel die Kapitel ber einen lngeren Zeitraum verteilt geschrieben hat, so hat er dabei offenbar nicht nur die formalen Elemente seinen Stimmungen oder Bedrfnissen angepasst, sondern auch verschiedene argumentative Wege beschritten. Zweitens wird neben dieser allgemeinen Feststellung deutlich, dass die Argumente gegen die Atomlehre nie physikalischer Natur sind, denn immer geht es um die Bedeutung des Kosmos fr den einzelnen Menschen. Die Folgen fr die Auffassung vom Menschen und seiner Praxis werden als Argument fr die Ablehnung einer bestimmten kosmologischen Auffassung herangezogen. Dass ber die Alternative „Vorsehung oder Atome“ und damit das physikalische Weltbild nicht anhand von physikalischen berlegungen, sondern ethischen entschieden wird, ist ein wichtiger Hinweis fr die Erçrterung der umfangreicheren Debatte ber das Verhltnis von Ethik und Physik, die sich an die unmittelbare Erçrterung der Alternative „Vorsehung oder Atome“ angeschlossen hat. Die nun anstehende Behandlung der Kapitel (iii),325 in denen Marc Aurel nicht Position bezieht, wird zu diesem Punkt zurckfhren. In der Forschung besonders umstritten ist das folgende Kapitel: Entweder gibt es die Unausweichlichkeit der Schicksalsfgung und eine unverletzliche Ordnung oder eine gndige Vorsehung oder die Unordnung des 323 Siehe M. Aur. Med. 6, 10. 324 Siehe M. Aur. Med. 9, 39. Die Deutung dieses Kapitels ist umstritten, weil der argumentative Kern von Marc Aurel nicht deutlich gemacht wird. 325 Siehe dazu nochmals M. Aur. Med. 12, 14; 6, 44; 9, 28; 9, 38.
432 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz unbestimmten Zufalls. Wenn nur der unausweichliche Zwang herrscht – warum leistest du dann Widerstand? Wenn aber eine Vorsehung, die dich gndig stimmen lsst, dann verhalte dich so, dass du die gçttliche Hilfe verdienst. Wenn aber die regellose Unordnung herrscht, dann sei froh, dass du in einem solchen Durcheinander einen lenkenden Geist in dir hast. Und wenn dich die Brandung fortreißt, soll sie das Fleisch, den Lebensatem usw. fortreißen. Denn den Geist wird sie nicht fortreißen.326
Die Kontroverse zur Alternative „Vorsehung oder Atome“ ist mittlerweile angewachsen. Es lassen sich in etwa sechs verschiedene Positionen ausmachen. (i) Das Kapitel ist herangezogen worden, um Marc Aurel den Status eines Philosophen abzusprechen, weil er sich nicht fr eine Position entscheidet und sein Stoizismus nur religiçs und nicht argumentativ fundiert sei.327 Gerade das letzte Argument ist wenig berzeugend, da Marc Aurel hier328 gerade nicht religiçs argumentiert und sogar die Mçglichkeit erwgt, dass die Gçtter weder fr ihn persçnlich noch in Bezug auf die ihn umgebende Welt Beschlsse gefasst haben. Die Schlussfolgerung ist demnach unabhngig von einer religiçsen Einstellung. (ii) Weiterhin wurde Marc Aurel aufgrund des Kapitels 12, 14 ein existentialistischer Glaube an das eigene Selbst attestiert.329 Als anachronistische Zuschreibung hilft dies jedoch in der Sache nicht weiter, zumal es sich hierbei erstens um keine Erklrung fr die Alternative „Vorsehung oder Atome“ handelt und Marc Aurel zweitens nicht in allen Kapiteln, in denen er die Alternative diskutiert, von seinem Selbst spricht, wobei Asmis hier wohl das Hegemonikon meint. Interessanter ist eine Reihe weitere Interpretationen: (iii) John Cooper hat konstatiert, dass die Selbstbetrachtungen inkonsistent argumentieren, weil sie einerseits die stoische Physik gelegentlich in Frage stellen, aber andererseits durchgngig stoische Ethik vertreten.330 Coopers Kritik setzt zwei Annahmen voraus: Erstens, dass die stoische Ethik nur auf 326 327 328 329 330
M. Aur. Med. 12, 14. So Rist, J.: Are you a Stoic?, a.a.O., S. 43. Siehe auch M. Aur. Med. 6, 44. So Asmis, E.: The Stoicism of Marcus Aurelius, a.a.O., Sp. 2252. Siehe Cooper, J.: Moral theory and moral improvement, in: ders.: Knowledge, nature and the good, a.a.O., S. 348 f. Konsistent ist fr Cooper jedoch die Folgerung Marc Aurels, dass aus einer stoischen Perspektive die Annahme einer epikureischen Atomlehre einer Aufforderung zur Selbsttçtung gleich komme (siehe M. Aur. Med. 6, 10).
2.7 Vorsehung oder Atome
433
Grundlage der stoischen Physik behauptet werden kçnne, und zweitens, dass diese Verbindung bei Marc Aurel nicht gegeben sei.331 Weiterhin argumentiert Cooper, dass Marc Aurel durchaus konsistent sei, was die Infragstellung des kosmischen Weltbildes angehe, aber dass er auf der stoischen Ethik beharre, sei irrational, weil sie damit unvereinbar sei. Cooper hlt es aber fr konsequent, wenn Marc Aurel (siehe Kap. 12, 14) im Falle einer epikureischen Physik den Selbstmord nahe legt.332 (iv) Die Kapitel, in denen Marc Aurel die Alternative nennt, ohne selbst Position zu beziehen, haben L. Becker zu der These gefhrt, das Marc Aurel die Vorstellung, Ethik stehe mit einer teleologischen Weltsicht in Verbindung, ganz aufgebe. Stattdessen werde die Ethik ganz von der Natur des Menschen abgeleitet.333 Dabei handelt es sich aber, wie noch deutlich gemacht werden wird, um eine fragwrdige Interpretation der vier Kapitel, in denen Marc Aurel die Alternative nicht entscheiden mçchte, und ferner um eine Verabsolutierung dieser Interpretation. Zudem wird dabei ausgeblendet, dass sich Marc Aurel in weitaus mehr Kapiteln fr die stoische Kosmologie und die Vorsehung entscheidet334 und auch davon die Ethik und die Vorstellung von der menschlichen Natur abhngig macht.335 (v) Hadot ist davon berzeugt, dass Marc Aurel sich nicht nur eindeutig fr die stoische Physik entschieden habe, sondern diese zur notwendigen Grundlage mache, von der die Ethik abhnge.336 Andererseits widmet sich Hadot den Passagen, in denen Marc Aurel sich nicht fr eine der Alter-
331 Siehe Cooper, J.: Moral theory and moral improvement, in: ders.: Knowledge, nature and the good, a.a.O., S. 335 – 368. Dieser Punkt ist generell kontrovers (siehe die Debatte Cooper, J.: Eudaimonism and the appeal to nature in the Morality of Happiness, in: Philosophy and Phenomenological Research 55 (1995), S. 587 – 598 und Annas, J.: Reply to Cooper, in: Philosophy and Phenomenological Research 55 (1995), S. 599 – 610). Zur Kontroverse insgesamt und der Relevanz fr Marc Aurel und der obigen Einschtzung siehe Gill, Ch.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 185. 332 Siehe Cooper, J.: Moral theory and moral improvement, in: ders.: Knowledge, nature and the good, a.a.O., S. 348 – 9, 362. 333 Siehe Becker, L.: A New Stoicism, Princeton 1998, S. 5 – 7. 334 Siehe die oben erwhnte Kapitelgruppe (i). 335 „Du musst doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen, was fr ein Kosmos es ist, von dem du ein Teil bist, und wer es ist, der den Kosmos verwaltet und als dessen Abkçmmling du auf die Welt gekommen bist, und dass deine Zeit begrenzt ist.“ M. Aur. Med. 2, 4. 336 Siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 213.
434 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz nativen entscheidet. Hier erklrt er, dass Marc Aurel die kosmischen Weltbilder einander entgegensetzt, um zu zeigen, dass bei allen Hypothesen – selbst wenn man im Bereich … die der stoischen diametral entgegengesetzte Hypothese annehmen wrde – in der Moral die stoische Haltung die einzig mçgliche ist. …Das Modell des Universums ndert nichts an der stoischen Grundeinstellung der Zustimmung zu den Ereignissen.337
Fr Hadot ist die Alternative eine hypothetische Erwgung, mit der Marc Aurel zeigen mçchte, dass auch ein anderes Weltbild, das er nicht teilt, zu jenen stoischen praktischen Folgerungen fhrt, die er mit dem physikalischen stoischen Weltbild verbindet. Interessant ist Hadots These, diese Gedankenfolge sei „selbstverstndlich keine Erfindung von Marc Aurel.“338 Zu Recht schließt er Epiktet als Vorgnger aus, dessen ausgeprgter Anti-Epikureismus die Erwgung eines entsprechend atomistischen Weltbildes verhindert. Aber bei Seneca, der Epikur freundlich gegenbersteht, findet sich, so Hadot, eine Passage: Sagen wird jemand: ,Was ntzt mir die Philosophie, wenn es ein unabnderliches Geschick gibt? Was ntzt sie, wenn es einen Gott als Lenker gibt? Was ntzt sie, wenn der Zufall herrscht? Denn Festgelegtes kann nicht gewandelt werden, und keine Vorkehrung kann getroffen werden gegen das Unbestimmbare, sondern entweder hat meines Planens der Gott sich bemchtigt und bestimmt, was ich tun soll, oder meinem Planen berlsst das Schicksal nichts.‘ Was immer davon zutrifft, Lucilius, sogar wenn alles zutrifft, man muss philosophieren: mag uns mit unerbittlichem Gesetz das Schicksal gefesselt halten, mag nach seinem Willen ein Gott das All ordnen, mag der Zufall die Angelegenheiten der Menschen ohne System in Bewegung setzen und hin- und herwerfen, die Philosophie muss uns schtzen. Sie wird uns ermahnen, dem Gott gern zu gehorchen, dem Schicksal zu trotzen; sie wird [dich] lehren, dem Gott zu folgen, zu ertragen den Zufall.339
Das ist jedoch nur in Grundzgen eine Vorform der Argumente bei Marc Aurel. Parallelen bestehen in der undogmatischen Haltung bezglich der physikalisch-theologischen Weltbilder. Auch Seneca will sich nicht festlegen, wie viele konkurrierende Weltbilder es gibt. Sein Schluss soll sogar gelten, wenn sie alle gemeinsam wahr wren. Dennoch gibt es Unterschiede zu Marc Aurel: Senecas Passage erwhnt lediglich den Zufall, geht also nicht so explizit auf die Atomlehre ein. Der Schluss betrifft vielmehr die Philosophie als Ganzes und nicht das Verhltnis von Physik und Ethik. 337 Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 211 f. 338 Ebd., S. 211. 339 Sen. Ep. 16, 4 – 5.
2.7 Vorsehung oder Atome
435
Die Erwhnung des Schutzes, den die Philosophie gewhrt, erinnert mehr an das Kapitel 2, 17 der Selbstbetrachtungen. Schließlich ist auch die praktische Konsequenz Senecas, wie bereits erwhnt, eine tendenziell andere, denn fr ihn muss der Natur kmpferisch begegnet werden: dem Schicksal ist zu trotzen, der Zufall ist heroisch zu ertragen. Fr Marc Aurel steht weniger der zhneknirschende Widerstand gegen das, was die Natur bringt, im Vordergrund, sondern die harmonische Einfgung in die Natur. Kampf, Widerstand und Trotz sind keine wesentlichen Strategien fr Marc Aurel. Hadot erklrt leider nicht, wie das Gesamtbild zu bewerten ist. Wie ist das Verhltnis der Passagen, in denen Marc Aurel klar fr das stoische Weltbild optiert zu den Passagen, in denen die Frage offen gelassen wird? Gerade wenn Hadot annimmt, dass Marc Aurel an der Auffassung festhlt, dass eine stoische Physik Grundlage der Ethik ist, muss erklrt werden, warum er gelegentlich mit stoischer Ethik auf atomistische Physik reagieren mçchte. Und was heißt das generell fr das Verhltnis von Physik und Ethik bei Marc Aurel? Diese Fragen werden von der jngsten und ausdifferenziertesten Forschungsposition, die die Frage „Vorsehung oder Atome?“ behandelt, angegangen. (vi) Diesen umfassenderen Fragen haben sich Ch. Gill und J. Annas in zum Teil aufeinander aufbauenden Interpretationen verstrkt zugewandt.340 Zunchst ist ihre Interpretation der schwierigen Kapitel derjenigen von P. Hadot sehr hnlich, denn auch Gill und Annas sehen in diesen Kapiteln einen neuen, anderen argumentativen Weg,341 da Marc Aurel hier praktische Schlussfolgerungen zieht ohne die Position der Vorsehung zu ver-
340 Siehe Gill, Ch.: Marcus Aurelius, a.a.O.; zum Hintergrund: Annas, J.: Morality of Happiness, a.a.O., Ch. 5. Ferner: dies.: Ethics in Stoic Philosophy, a.a.O.; dann spezifischer dies.: Marcus Aurelius. Ethics and its Background, a.a.O. 341 „The way that Marcus expresses confidence in the powers of his own mind to find the right ethical way, even when not starting from Providence. Even if everything is governed by chance, that is not a reason for letting yourself be governed by chance (IX 28); faced by what looks like a real choice between Providence or atoms, Marcus tells his governing faculty to wake up and reflect (IX 39). Most strikingly, he tells himself that if the world is merely purposeless and random, he can still be glad that he has a guiding intellect which is not subject to the storms of the world in the way that other aspects of him are (XII 14).“ Annas, J.: Marcus Aurelius. Ethics and its Background, a.a.O., Ch. VIII.
436 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz treten, sondern diese Folgerungen von der Annahme der epikureischen Atomlehre aus entwickelt. Anders als Hadot nehmen Annas und Gill diese Kapitel im Hinblick auf Marc Aurels Grundposition ernst, denn sie verstehen diesen Schluss nicht nur als hypothetische Abweichung von Marc Aurels vermeintlicher stoischer Orthodoxie. Die Thesen von Annas und Gill betreffen drei Ebenen: Erstens die Frage, wie Marc Aurel zu seinen ethischen Schlssen kommt. Zweitens die Konsistenz der Selbstbetrachtungen als Gesamtwerk. Drittens steht im Hintergrund die Frage nach dem Verhltnis der Philosophieteile, insbesondere dem von Physik und Ethik bei Marc Aurel oder noch umfassender bei den Stoikern.342 342 Die Frage nach dem Verhltnis von Physik und Ethik in der stoischen Tradition ist Gegenstand nicht unerheblicher Kontroversen. Die Frage kann hier nicht umfassend erçrtert werden, obschon es reizvoll wre zu untersuchen, ob es innerhalb der stoischen Tradition Vernderungen oder eine dogmatische Stabilitt gegeben hat. Die immer noch vorherrschende Meinung sieht in der einen stoischen Physik, die den Kosmos als durch Vorsehung bestimmt erkennt, die notwendige Grundlage der davon als abhngig betrachteten Ethik (siehe Striker, G.: Essays on Hellenistic epistemology and ethics, a.a.O., S. 225 – 31; White, N.: The role of physics in Stoic ethics, a.a.O.; ders.: Individiual and conflict in Greek ethics, a.a.O., S. 312 – 9; Frede, M.: On the Stoic Conception of the Good, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 71 – 94; Betegh, G.: Cosmological Ethics in the Timaeus and early Stoicism, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 24 (2003), S. 273 – 302; Inwood, B.: Review of Annas, J.: The Morality of Happiness, in: Ancient Philosophy 15 (1995), S. 647 – 66; Cooper, J.: Marcus Aurelius, a.a.O.). Diese Deutung ist nur selten herausgefordert worden, und zwar durch die Annahme, der menschliche Standpunkt, die Ethik, werde durch eine kosmische Perspektive, die Physik, ergnzt, nicht bedingt (siehe Engberg-Pedersen, T.: The Stoic theory of oikeiosis, Aarhus 1990, Kap. 1 – 4 und Annas, J.: The Morality of Happiness, a.a.O., Kap. 5; Gill, Ch.: The Stoic theory of ethical development: in what sense is nature a norm?, in: Szaif, J./Lutz-Bachmann, M. (Hg.): What is good for a human being?, Berlin 2004, S. 101 – 25; ders.: The Structured Self, a.a.O., S. 144 – 66; ders.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 179 ff.). Annas und Gill etwa sprechen statt von einem Abhngigkeitsverhltnis von einem reziproken Verhltnis der Philosophieteile. Die Textgrundlage dieser Kontroverse ist ebenfalls heftig umstritten (vgl. Schofield, M.: Stoic Ethics, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 233 – 256): Cic. De fin. 3, 17, 20 – 22 beschreibt keine fundamentale Rolle der kosmischen Perspektive, auch Stobaios nicht, fr Cicero siehe daher die Ausnahme De fin. 3, 73, wo es um die Bedeutung der Physik geht. Der Bericht bei Plutarch (De stoic. repugn. 9, 1035 C-D (=LS 60 A)) gibt die Position wieder, derzufolge die stoische Kosmologie die Ethik bedinge. Ebenso berufen sich Vertreter dieser Interpretationsrichtung auf Diog. Laert. 7, 37 – 39
2.7 Vorsehung oder Atome
437
Whrend auf der ersten Ebene die Unterschiede zur Interpretation von Hadot nicht deutlich werden, zeigen sie sich auf der zweiten und dritten Ebene besonders gravierend. Wie bereits dargestellt, ist Hadot der Meinung, dass Marc Aurel in den wenigen Kapiteln nur hypothetisch die Alternative offen lsst, insgesamt aber immer die Physik zur Grundlage mache. Demgegenber folgert Gill aus den Kapiteln, dass Marc Aurel neben der prferierten Verbindung von stoischer Ethik mit stoischer Physik noch andere Mçglichkeiten sieht: He is also assuming that, even taken on its own, Stoic ethics can make an independent contribution to a philosophically based way of life, even though it would ideally be combined with the insights of the two other branches.343
Zwei weitere Beobachtungen werden von Gill und Annas als Argumente angefhrt, um diese Lesart zu untersttzen. Beide sind darber hinaus geeignet, einen Unterschied zwischen Marc Aurel und Epiktet festzustellen: Erstens betont Marc Aurel mehrfach, kein professioneller und in allen Philosophieteilen umfassend ausgebildeter Philosoph zu sein.344 Fr die konkrete Alternative „Vorsehung oder Atome“ heißt dies auch, dass Marc Aurel sagt, „that, as far as he knows – from independent analysis – the Epicurean world view may be correct, though, of course, he also generally takes the Stoic-world view on trust. „345 Zweitens, so Annas, zeigen andere Kapitel an, dass Marc Aurel generell Aspekten des Epikureismus gegenber offen steht, zumindest gibt es, was und 85 – 89, wohingegen Annas die Erwhnung von Diogenes (Diog. Laert. 7, 40), die Stoiker wrden die Philosophieteile ohne Prferenz mischen, fr ihre These in Anspruch nimmt (vgl. Annas, J.: Marcus Aurelius, a.a.O., Kap. IX). 343 Gill, Ch.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 185. 344 Siehe M. Aur. Med. 1, 16 und 17; 6, 67; 8, 1. Auch diese Passagen sind unterschiedlich beurteilt worden. Marc Aurel ist als „hoffnungsloser Fall“, als ganz und gar philosophisch ungebildet bezeichnet worden (vgl. Barnes, J.: Logic in the Imperial Period, Leiden 1997, S. 11), whrend gerade Epiktet fundierte Kenntnisse aufweise, und wohl viel Logik unterrichtet habe. Dem steht gegenber, dass Marc Aurel philosophisch technisches Vokabular verwendet und sich in den genannten Kapiteln nur gegen logische Haarspaltereien und theoretische Naturbetrachtung um ihrer selbst willen ausspricht (vgl. Annas, J.: Marcus Aurelius, a.a.O., Kap. IX). 345 Gill, Ch.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 186. Es handelt sich dabei vor allem auch um einen Hinweis, dass diese spezielle Alternative nur eine von weiteren ist, also auf einen bestimmten Grundzug im Denken Marc Aurels hinweist. Die gleich vorzunehmende Erçrterung des Verhltnisses der Philosophieteile bei Marc Aurel, insbesondere von Physik und Ethik, ist damit nicht allgemein betroffen.
438 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz gewichtige Fragen angeht, Gemeinsamkeiten, wie Marc Aurel betont.346 Und auch hier verwendet er die Strategie der Kapitel 12, 14 und 6, 44, d. h. ein praktischer Schluss wird sowohl mit der stoischen als auch der epikureischen Physik in Verbindung verbracht.347 Fr diese Interpretation spricht, dass sie das Gesamtbild der Aussagen zur Physik besser verstndlich macht als diejenige von Hadot. Ideal wre fr Marc Aurel demnach eine Kombination von stoischer Physik und stoischer Ethik, weswegen sie auch in der Mehrzahl der Kapitel zusammen behauptet werden. Wenn er nicht davon ausgeht, dass die stoische Ethik nur von stoischer Physik abgeleitet werden kann, erklrt das den argumentativen Gang der Kapitel, in denen er die Alternative offen lsst. Die These setzt somit ein bestimmtes Verhltnis von Physik und Ethik oder, allgemeiner, der Philosophie-Teile voraus. Der Rede von der „Kombination“ von Ethik und Physik muss jedoch spezifiziert werden: Die Ethik, so Gill, sei mit ihren Behauptungen weder vçllig losgelçst von der Physik noch ganz davon abhngig, sondern stehe in einem reziproken Verhltnis. Dieses Verhltnis nennen Annas und Gill in Anlehnung an Diogenes Laertius „mixed presentation“,348 weil hier kein hierarchisches Verhltnis der Philosophie anvisiert werde, sondern eine gleichberechtige Synthese.349 346 Ausdrcklich M. Aur. Med. 7, 34; 9, 24; 11, 26. 347 Die Gleichheit im Tod bzw. die Gleichgltigkeit gegenber dem Tod begrndet Marc Aurel so: „Alexander und sein Maultierpfleger fanden nach ihrem Tod dieselbe Situation vor. Denn entweder sind sie in derselben zeugenden Vernunft des Kosmos aufgegangen oder sie wurden gleichermaßen in die kleinsten unteilbaren Teilchen aufgelçst.“ M. Aur. Med. 6, 24 (siehe auch 8, 24; vgl. dazu die weiteren Argumente bei Annas, J.: Marcus Aurelius, a.a.O., Kap.VI). 348 Siehe Diog. Laert. 7, 40. 349 „The Stoics always regarded philosophy as consisting of three parts: logic, physics and ethics, each of which, of course, has to be studied and mastered separately, but which are eventually all grasped together as forming mutually supportive parts of a whole. Philosophy is like a living being, made up of skeleton, flesh and blood; or an egg, made up of shell, white and yolk. Thus there are two ways of grasping ethics; on its own, probably in the context of arguments against other ethical theories, and as part of Stoic philosophy as a whole, fortified by a grasp of logic and set against the background of Stoic metaphysics. With a holistic system like this, it will be relatively indifferent what the order is in which the three parts are learned (the teacher should allow for the aptitude and background of the learner) and so it is no surprise that we find alternative orders of priority for the parts.“ Annas, J.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 106.
2.7 Vorsehung oder Atome
439
Die Deutungen von Annas und Gill haben viele Vorteile und scheinen dem Textbefund am besten gerecht zu werden, besonders was die Interpretation der fraglichen Kapitel angeht, in denen Marc Aurel sich weder fr die Vorsehung noch die Atome entscheidet. Vor allem aber werden so zwei vermeintliche Widersprche erklrt. Zum einen der vermeintlich falsche Schluss von nicht-stoischen physikalischen Annahmen zu stoischer praktischer Philosophie und zum anderen die vermeintliche Widersprchlichkeit zwischen den vielen Kapiteln, in denen er sich eindeutig fr das stoische Weltbild ausspricht. Problematisch an dieser Deutung sind jedoch zwei andere Punkte: Erstens ist nicht ganz klar, wie weitgehend und absichtlich Marc Aurel die stoische Ethik von ihrer Abhngigkeit von der Physik befreien mçchte und ein reziprokes Verhltnis anstrebt. An dieser Stelle scheint auch ein Unterschied zwischen den Interpretationen von Ch. Gill und J. Annas zu bestehen. Whrend Gill davon ausgeht, dass eine Fusion von ethischer und kosmologischer Perspektive immer angestrebt ist und in den meisten Fllen auch vollzogen wird, betont Annas das Gegenteil.350 Viele Kapitel legen aber nicht nur eine Verzahnung von Physik und Ethik nahe, sondern auch, dass Marc Aurel recht hufig bereit ist, ethische Aussagen aus physikalischen abzuleiten.351 350 „All the passages show an attitude of relative willingness either to bracket or to suspend the providential background to Stoic ethics, or to look at the consequences of an incompatible alternative, while retaining confidence in that ethical view itself.“ Annas, J.: Marcus Aurelius, a.a.O., Kap. IX. 351 Das folgende Kapitel ist hier einschlgig. Nachdem Marc Aurel die analytische Methode, die ebenfalls einen Naturbezug hat, erlutert und fr den permanenten Gebrauch angemahnt hat, fhrt er fort: „Nichts trgt nmlich so sehr dazu bei, innere berlegenheit zu erzeugen, wie die Fhigkeit, methodisch konsequent und wirklichkeitsgerecht jeden im Leben vorkommenden Sachverhalt zu durchleuchten und zu erklren, und die Gewohnheit, die Dinge stets so zu betrachten, dass man gewahr wird, welcher Art von Welt die Sache welchen Nutzen bringt und welchen Wert sie einerseits fr das Ganze und andererseits fr den Menschen als Brger des obersten Gemeinwesens hat, zu dem die brigen Gemeinwesen gleichsam wie Huser gehçren, ferner (dass man sich dessen bewusst ist), was das ist, das bei mir jetzt die Vorstellung erzeugt, und woraus es zusammengesetzt ist und wie lange es seiner Natur nach erhalten bleiben kann und welche Qualifikation dafr erforderlich ist, wie zum Beispiel …. Daher muss man sich bei jedem einzelnen Vorgang sagen: Dies ist von Gott gekommen, das geschieht durch schicksalhafte Verkettung, schicksalsbedingte Zusammenfgung, durch ein entsprechendes Zusammentreffen und durch Zufall, jenes aber wurde von meinem Mitbrger … verursacht, der allerdings nicht weiß, was seiner Natur gemß ist. Aber ich weiß es genau. Deshalb gehe ich mit ihm um, wie es dem Naturgesetz der
440 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Zweitens und wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, dass bei Marc Aurel die Ethik nicht „free-standing“ (Gill) ist, zumindest nicht in einem absoluten Sinne, so dass ihre Empfehlungen unabhngig von physikalischen Feststellungen getroffen werden. Das folgende Kapitel, das schon mehrfach erwhnt wurde, ist nun erneut heranzuziehen: Wenn die Gçtter wirklich ber mich und ber das, was mir zustoßen sollte, Beschlsse gefasst haben, dann haben sie gute Beschlsse gefasst. Denn einen Gott, der schlechte Beschlsse fasst, kann man sich nur schwer vorstellen. Aus welchem Grund aber sollten die Gçtter mir Bçses antun wollen? Was htten sie oder das Weltganze, fr das sie doch vor allem sorgen, denn dadurch fr einen Vorteil? Wenn sie aber fr mich persçnlich keine Beschlsse gefasst haben, dann haben sie doch auf jeden Fall fr das Weltganze Beschlsse gefasst. Ich bin verpflichtet, auch das, was im Zusammenhang damit passiert, willkommen zu heißen und zu akzeptieren. Sollten sie aber ber gar nichts Beschlsse gefasst haben (das zu glauben ist eine Gotteslsterung), so wollen wir nicht mehr opfern, beten, schwçren oder die anderen Dinge tun, die wir tun, weil wir glauben, dass die Gçtter gegenwrtig sind und mit uns zusammenleben. Wenn die Gçtter also ber keines der uns betreffenden Dinge Beschlsse fassen, dann kann ich fr mich selbst beschließen,352 und es liegt bei mir, ber das fr mich Ntzliche nachzudenken. Ntzlich aber ist fr jeden, was seinen Fhigkeiten und seiner Natur entspricht. Ich habe eine vernnftige und auf die staatliche Gemeinschaft bezogene Natur.353
Dieses Kapitel zeigt deutlich, dass sich hier zumindest354 die Ethik nicht von der Physik als Disziplin gelçst hat, sondern nur von einer bestimmten, nmlich der stoischen Auffassung vom Kosmos. Im Kapiteltext folgt jeder bestimmten physikalischen Alternative355 eine ethische Konsequenz. Und
352
353 354 355
Gemeinschaft und der Partnerschaft entspricht, erfllt von Wohlwollen und Gerechtigkeit. Zugleich aber habe ich bei den Dingen, die weder gut noch bçse sind, das Angemessene im Auge.“ (M. Aur. Med. 3, 11). Bei diesem Kapitel gibt auch Ch. Gill (Marcus Aurelius, a.a.O., S. 179 ff.) an, dass hier sowohl die These vom reziproken Verhltnis von Ethik und Physik sowie die von einem Abhngigkeitsverhltnis gleichermaßen berzeugend sind. Das scheint auch der Kerngedanke eines weiteren Kapitels zu sein: „Und entweder wendet sich die Vernunft des Weltganzen jedem einzelnen Ding zu – wenn das der Fall ist, dann nimm ihre Zuwendung an – oder sie wandte sich nur einmal (den Dingen) zu, alles weitere aber luft als Folgeerscheinung ab. Und warum strengst du dich so an? Denn gewissermaßen gibt es nur Atome oder unteilbare Elemente. Aber alles in allem: Wenn es einen Gott gibt, ist alles in Ordnung. Wenn aber der Zufall regiert, dann darfst du dich doch nicht dem Zufall ausliefern.“ M. Aur. Med. 9, 28. M. Aur. Med. 6, 44. Auf die damit verbundene Einschrnkung wird gleich eingegangen. Im Kap. M. Aur. Med. 12, 14 sind es drei.
2.7 Vorsehung oder Atome
441
da auf jede physikalische Vorstellung mit einer anderen praktischen Folge reagiert wird, besteht sogar ein Abhngigkeitsverhltnis. Die Ethik grndet – nur in diesen Kapiteln – nicht mehr auf der distinkt stoischen Physik.356 Aber die Kapitel 12, 14 oder 6, 44 zeigen, dass fr jedes physikalische Weltbild eine andere ethische Konsequenz gezogen wird oder ein anderer argumentativer Weg von dieser bestimmten Physik zur Ethik fhrt. Diese Beobachtungen sind auf wenige Kapitel beschrnkt. Noch seltener sind Formulierungen, bei denen die Ethik wirklich ganz unabhngig von der Physik behandelt wird: Den Geist als Fhrer, zu dem was sittlich geboten erscheint, zu haben, liegt auch in der Reichweite der Leute, die nicht an die Gçtter glauben, ihr Vaterland verraten und alles Mçgliche tun, wenn sie ihre Tren geschlossen haben.357
Mit Blick auf die Gesamtheit der Kapitel in den Selbstbetrachtungen sind zwei weitere Feststellungen interessant: Zum einen gibt es, wie bereits oben angedeutet, bemerkenswerte Kapitel, die umgekehrt verfahren, denn dort wird eine bestimmte physikalische Sicht wegen ethischer Erwgungen verworfen, so dass die Ethik hier primr zu sein scheint, etwa wenn Marc Aurel die Atomlehre verwirft, weil sie mit der Vorstellung einer inneren Ordnung im Menschen nicht kompatibel ist.358 Zum anderen besteht hier eine weitere Schwierigkeit, die mit der besonderen Textform der Selbstbetrachtungen zu tun hat, denn viele Kapitel enthalten Argumente bzw. Ermahnungen rein ethischen Inhalts. Dort wird gar kein Verhltnis zu einer physikalischen Weltsicht im Allgemeinen oder 356 Siehe auch: „Entweder ist es ein Gemisch, eine Verknpfung und Wiederauflçsung oder Einheit, Ordnung und Planung. Wenn nun das erste zutrifft – warum will ich da noch in einem zuflligen Gebilde und einem solchen Durcheinander verweilen. Wieso soll ich mich da um etwas anderes kmmern als darum, ,dass ich einmal zu Erde werde‘, d. h., dass ich einigermaßen durchkomme? Warum soll ich mich noch aufregen? Denn auf mich wartet ja die Auflçsung, was immer ich tue. Wenn aber das zweite richtig ist, dann empfinde ich Ehrfurcht, genieße innere Ruhe und vertraue auf die alles lenkende Vernunft.“ (M. Aur. Med. 6, 10). Auch werden die praktischen Folgen in Form von Nicht-Aufregung und innerer Ruhe, die sich hnlich sind, als Reaktion und auf je unterschiedliche kosmische Szenarien und in Abhngigkeit von ihnen gezogen. 357 M. Aur. Med. 3, 16. 358 „Entweder gibt es einen geordneten Kosmos oder ein zufllig zustande gekommenes, aber ungeordnetes Gemisch. Oder kann in dir eine Ordnung bestehen, im Ganzen aber eine Unordnung sein, und dies, obwohl doch alles, was getrennt und abgesondert existiert, in enger Beziehung zueinander steht?“ M. Aur. Med. 4, 27.
442 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz der stoischen Kosmologie und Vorsehung erwhnt. Wie sind diese Eintrge zu werten? Handelt es sich dabei nur um eine Kurzform, die Marc Aurel verwendet, weil er fr sich selbst den Zusammenhang mit der Physik nicht jedes Mal herstellen muss, oder sind diese Kapitel ein Indiz fr die Eigenstndigkeit der Ethik in seinem Denken? Problematisch an der Interpretation von Annas bleibt, dass eine Vielzahl von Kapiteln eine Vorrangstellung der kosmischen Perspektive bei Marc Aurel indiziert.359 Andere Kapitel machen deutlich, dass Marc Aurel kosmologisches Wissen als Voraussetzung fr gelingendes Handeln ansieht: Wer nicht weiß, was der Kosmos ist, weiß nicht, wo er ist. Wer nicht weiß, wozu er geschaffen worden ist, weiß nicht, wer er ist und auch nicht, was der Kosmos ist. Wer aber eins davon nicht erfasst, kçnnte auch nicht sagen, wozu er da ist.360
Es lassen sich in Bezug auf das Verhltnis von Ethik und Physik vier Kapiteltypen unterscheiden: (i) Die stoische Ethik setzt stoische Physik voraus. (ii) Stoische Ethik und stoische Physik sind reziprok. (iii) Stoische Ethik kann auf stoische und epikureische Physik folgen bzw. reagieren. (iv) Ethische Aussagen kçnnen unabhngig von jeder Physik gemacht werden. Vielleicht wird man der Gesamtheit aller Kapitel zum Thema gerecht, wenn man die These von Ch. Gill aufgreift und sie etwas mehr mit Blick auf die orthodoxe Sicht um- oder reformuliert: Idealerweise mçchte Marc Aurel seine Ethik mit einer Kosmologie begrnden,361 sicher sieht er beide Felder als reziprok an und in Zweifelsfllen ist er bereit, praktische Schlsse, die auf stoische Ethik hinaus-
359 „Du musst doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen, was fr ein Kosmos es ist, von dem du ein Teil bist, und wer es ist, der den Kosmos verwaltet und als dessen Abkçmmling du auf die Welt gekommen bist, und dass deine Zeit begrenzt ist …“ M. Aur. Med. 2, 4. 360 M. Aur. Med. 8, 52. 361 Siehe hinreichend deutlich: „Dessen muss man sich immer bewusst sein, was die Natur des Ganzen und was meine eigene Natur ist und wie sich diese zu jener verhlt und welcher Teil welches Ganzen sie ist und dass es niemanden gibt, der dich daran hindern kçnnte, stets das, was im Sinne der Natur ist, deren Teil du bist, zu tun und zu sagen.“ M. Aur. Med. 2, 9.
2.7 Vorsehung oder Atome
443
laufen, auch aus einem nicht-stoischen Weltbild zu ziehen.362 Zumindest scheint diese Deutung (inklusive der Stufung) die Hufigkeit der entsprechenden Kapitel wiederzugeben. Diese Diskussion zeigt vor allem zwei Dinge. Zum einen muss die argumentative Vielfalt der Selbstbetrachtungen neu und positiver eingeschtzt werden, wobei vielleicht den Versuchen, in den Selbstbetrachtungen eine einheitliche systematische Position zu erkennen, Grenzen gesetzt sind. Das drfte sowohl mit der Textform, aber auch mit den Ansprchen des Autors zu tun haben. Und die liegen im Bereich der Praxis und nicht der Systematisierung von Theorie.363 Zum anderen wird durch die Interpretationen von Annas und Gill deutlich, dass man die Vielfalt der Argumente und ihre Ausrichtung nicht als nur tradiert, unorthodox oder eklektizistisch abwerten muss, sondern auch etwas Originelles ausmachen kann. Die Untersuchung der Bedeutung der Kausalitt in den Selbstbetrachtungen fhrte zu Marc Aurels Konzept einer kosmischen Verbindung aller Verursachung durch Vorsehung und Schicksal. Die Erçrterung der Vorsehung leitete bereits zu ethischen Aspekten hin, genauer zur Beziehung von Physik und Ethik. Marc Aurels Beschreibung des Kosmos ist jedoch nicht nur als eine Grundlage fr seine Ethik von Belang, vielmehr verwendet die Beschreibung der kosmischen Vorgnge selbst Begrifflichkeiten, die zum ethischen Bereich gehçren. Marc Aurels Beschreibung der conditio humana und der sich daraus fr ihn ergebenden ethischen Konsequenzen werden daran anknpfen. Zuvor sind jedoch die theologischen Aspekte in den Selbstbetrachtungen zu untersuchen, da sie nach stoischer Auffassung zum Gebiet der Physik gehçren oder zumindest mit der Beschreibung der Gesamtheit der natrlichen Vorgnge, insbesondere die Teleologie, in enger Gemeinschaft verkehren.
362 Selten sind Formulierungen wie diese: „Den Geist als Fhrer zu dem, was sittlich geboten erscheint, zu haben, liegt auch in der Reichweite der Leute, die nicht an die Gçtter glauben, ihr Vaterland verraten und alles Mçgliche tun, wenn sie ihre Tren geschlossen haben.“ M. Aur. Med. 3, 16. 363 Siehe dazu M. Aur. Med. 4, 3.
444 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz 2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen Theologisches ist fr die Stoiker nicht von der Philosophie und in vielen Fllen nicht von der Physik zu trennen. Das genaue Verhltnis von Physik und Theologie drfte weder einfach zu bestimmen sein noch stellt es sich im Verlaufe der Schultradition einheitlich dar.364 Monismus und Immanenz sind immer dann theologisch geprgt, wenn von dem einen aktiven Prinzip, das in aller Materie prsent ist und sie vorausschauend bestimmt, gesagt wird, dass es gçttlich sei. So ist also nicht nur ein wichtiger Aspekt der Theologie, Psychologie und Ethik beschrieben,365 wie durch viele stoische Dokumente belegt ist, sondern auch gezeigt, dass in diesem Sinne die Theologie das Zentrum der der Physik ausmacht, weil Gçttliches die alles bestimmende und omniprsente Entitt ist. Daneben belegen viele stoische Schriften, dass diese fundamentale Annahme zu weiteren davon abgeleiteten und durchweg affirmativen Thesen ber Sternengçtter, Wahrsagung, Orakel, Dmonen usw. fhrte. Von einem stoischen Autor erwarten wir demnach nicht nur irgendeine Behandlung religiçser Fragen, sondern auch ein entschiedenes dogmatisches Bekenntnis zu einer ganzen Reihe von religiçsen Aspekten, die sich mit der zentralen These von der Identitt des aktiven Prinzips mit Gott verbinden.366 Drei weitere Grnde sprechen fr die initiale These, dass Religiçses hufig, facettenreich und positiv konnotiert in den Selbstbetrachtungen auftaucht: Zum einen berichten historische Quellen, dass Marc Aurel seinen religiçsen Pflichten im Rahmen einer fast unberschaubar großen Anzahl von entsprechenden mtern aus eigenem Antrieb besonders viel Zeit und 364 Zenon behandelt Theologisches im Kontext seiner kosmologischen Schrift, whrend die ihm folgenden Stoiker, wie Kleanthes und Chrysipp gesonderte Werke ber Gçtter, Zeus, Divination und Orakel verfasst haben. Whrend Kleanthes die Theologie von anderen Bereichen der Physik oder gar von der Physik selbst trennt (vgl. Diog. Laert. 7, 41), betont Chrysipp, dass die Theologie integraler, wenn auch abschließender Teil der Physik sei (Plut. De stoic. rep. 1035a-b). 365 Hier muss ein reprsentativer Hinweis gengen: Cicero berichtet, dass fr die Stoiker niemand, der nicht ber das Wissen vom Plan des natrlichen Ganzen und des Lebens der Gçtter verfge, Gut und Schlecht erkennen kçnne (vgl. Cic. Fin. 3, 73). 366 Siehe hierzu Algra, K.: Stoic Theology, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 153 – 178; zum Hintergrund siehe Gearson, L. P.: God and Greek Philosophy, Studies in the Early History of Natural Theology, London 1990.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
445
Sorgfalt gewidmet hat. Diese intensive religiçse Praxis, so darf vermutet werden, sollte sich in den Selbstbetrachtungen widerspiegeln. Zum anderen steht damit eng in Verbindung, dass Antoninus Pius, dessen Beinamen sicher keine ironische Zuschreibung ist, fr Marc Aurel eine so bedeutende Vorbildfunktion hat, dass sie entscheidende Kapitel der Selbstbetrachtungen prgt.367 Drittens haben einige Autoren, unter ihnen besonders prominent E. R. Dodds, angenommen, dass im 2. Jahrhundert Religiositt in Form eines Glaubens an çstliche religiçse Kulte sprbar zunimmt, wobei sich dieses Phnomen besonders auf die sog. Oberschicht erstreckt.368 Mit Marc Aurels Stoizismus sprechen damit viele Grnde fr die Erwartung, dass religiçse Aspekte in den Selbstbetrachtungen hufig und durchgngig positiv erwhnt werden. Doch diese Erwartungshaltung wird teilweise enttuscht. Obschon, wie gleich zu zeigen sein wird, religiçse Aspekte hufig angesprochen werden, handelt es sich dabei auch um bemerkenswerte Abweichungen von den gngigen stoischen Auffassungen. Natrlich lassen sich Belege finden, die an der Religiositt von Marc Aurel selbst und spezieller der Bedeutung derselben fr sein Denken nicht viel Zweifel aufkommen lassen, etwa wenn er schreibt: „Denn du wirst weder etwas Menschliches gut ausfhren, ohne den Bezug zum Gçttlichen zu bercksichtigen, noch umgekehrt.“369 Was jedoch die stoische Philosophie betrifft, wird festzustellen sein, dass Marc Aurel eine ganze Reihe von Themen, die zum Repertoire stoischer Theologie gehçren, gar nicht anspricht. Einige Momente kritisiert er sogar entschieden. Insgesamt tauchen in den Selbstbetrachtungen viele Themen nur vereinzelt auf und nicht wiederholt, wie die Themen, die ihm sonst wichtig sind.370 Insgesamt ist seine Haltung weit davon entfernt, areligiçs zu sein. Aber es ist auffllig, dass er dort, wo er sich argumentativ mit religiçsen Themen
367 Siehe Kap. I 2.2. 368 Siehe Dodds, E. R.: Pagan and Christian in the Age of Anxiety, Cambridge 1965. Umstritten ist mittlerweile lediglich, ob es sich um eine sprunghafte oder lineare Entwicklung handelt (siehe die Rezension von Price, S. R. F., in: The Journal of Roman Studies 72 (1982), S. 194 – 196 (L. Fox in: The Journal of Roman Studies 76 (1986), S. 304 – 305)). 369 M. Aur. Med. 3, 13. 370 Wiederholung, so konnte in Kap. I 6 etabliert werden, ist eine wichtige Technik des Schreibens bei Marc Aurel.
446 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz auseinandersetzt, das zwar nicht immer agnostisch oder skeptisch tut,371 aber doch mit einer fr einen Stoiker sehr ungewçhnlichen Zurckhaltung. Vom Dogmatismus und dem religiçsen Eifer Epiktets372 ist in den Selbstbetrachtungen Marc Aurels fast nichts zu bemerken. Fr A. A. Long ist die Theologie Epiktets durch zwei Momente charakterisiert: Ihre explizite Bedeutung fr die Ethik und den „warmly and personalist urgently tone“.373 Die Selbstbetrachtungen unterscheiden sich in beiden Hinsichten. Die entsprechenden Kapitel, die Aufschluss ber Marc Aurels religiçse Vorstellungen bieten, sollen daher nun, nach Themen geordnet, analysiert werden. Bei der Diagnose der religiçsen Aspekte ist fraglich, wie sich der Befund zu den anderen beiden gerade erwhnten Grnden, seiner intensiven religiçsen Praxis als Kaiser und der Wertschtzung von Antoninus Pius, verhlt. Das interessante, weil berraschend spannungsreiche Verhltnis der Beschreibung religiçser Aspekte in den Selbstbetrachtungen und der Praxis Marc Aurels als Kaiser ist bemerkenswerterweise auch von Historikern noch nicht eingehend untersucht worden, obschon es von historischem und biographischem Interesse sein drfte. Diese vergleichende Untersuchung aus historischer Perspektive kann hier nicht geleistet werden. Aber zugleich sagt die erwhnte Differenz etwas ber Marc Aurels philosophisches Selbstverstndnis und die Selbstbetrachtungen als philosophisches Dokument aus. Darum geht es der folgenden Untersuchung. Religiçses kommt vor allem im ersten Buch zur Sprache. Nach einem Hinweis, dass sich seine Mutter durch Frçmmigkeit ausgezeichnet habe,374 ußert Marc Aurel direkt Kritisches, denn von Diognetos lernte er „dem Gerede der Wundertter und Zauberer ber Beschwçrungen, Teufelsaustreibungen und hnliches nicht zu glauben“.375 371 Natrlich ist Marc Aurel weit davon entfernt, eine derart agnostische Position einzunehmen wie sie sich bei Lucian findet, der nicht nur eine intensive Kritik an allen magischen und sonstigen obskuren Praktiken pflegt, sondern auch alle Philosophie jenseits des common sense fr gnzlich unplausible Annahmen hlt, der Menschen nicht folgen sollten. Vielmehr sei dem Leben des einfachen Mannes auf der Straße zu folgen. Siehe dazu (mit einem Vergleich zu Marc Aurel und vielen Angaben zu Lucian) Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 182 – 5. 372 Siehe dazu Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., Kap. 1 und Kap. 6. 373 Ebd., S. 143. 374 Siehe M. Aur. Med. 1, 3 (Paq± t/r lgtq¹r t¹ heoseb³r…). 375 M. Aur. Med. 1, 6 (Paq± Diocm^tou t¹ !jem|spoudom·ja· t¹ !pistgtij¹m to?r.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
447
Nach dem mtterlichen Exempel der Frçmmigkeit bekennt Marc Aurel sich also dazu, in bestimmten Hinsichten, %pistor zu sein. Die Ablehnung richtet sich gegen Zauberer und Magier. Zu Recht hat R. B. Rutherford, der bis dato die einzige umfassendere und nicht nur deshalb maßgebliche Untersuchung der religiçsen Aspekte vorgelegt hat, darauf hingewiesen, dass die Ausdrcke c|gr und l\cor zusammengehen und generell negativ konnotiert sind. Diese Bezeichnungen werden zumindest im Rahmen der çffentlichen Wahrnehmung – gerne auch fr Sophisten und falsche Philosophen verwandt,376 wie etwa an der (fiktionalen) Biographie des Apollonius durch Philostratus deutlich wird.377 Die Ablehnung, die Marc Aurel hier ußert, entspricht im Allgemeinen den Zuschreibungen, die wir bei Philostratus finden. Darber hinaus verbindet sich der Vorwurf der Zauberei mit der Kritik an der Sophistik und dem Eintreten fr eine nchterne Philosophie. Beides taucht bereits im ersten Buch mehrfach auf.378 Indem die Sophistik als Zauberei gebrandmarkt wird, wird auch ihr Anspruch, Philosophie zu sein, abgelehnt und von der wahren Philosophie unterschieden. Wie Rutherford zeigt, ist dieser Zusammenhang im 2. Jahrhundert in Rom ein hitzig diskutiertes Thema, das viele Polemiken provoziert hat.379 Die kritische Diskussion dieser Verbindung hat jedoch ltere Wurzel, sie geht auf Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten zurck. Bereits im Euthydemos bezeichnet Sokrates die beiden Sophisten Dionysodoros und Euthydemos als Gçtter, denen gegenber er selbst unglubig ist.380 Ihre Gesprchsfhrung wird von Sokrates dann als Initiationsritus, als Einweihung in sophistische Heiligtmer beschrieben.381 Die Unterscheidung von Sophistik und Philosophie bei gleichzeitiger Kritik an falschen religiçsen Ansprchen behandelt Platon dann im Sophistes eingehender. t_m teqateuol]mym ja· co^tym peq· 1p\d_m ja· [peq·] dail|mym !popolp/r ja· t_m toio}tym kecol]moir…).
376 Siehe dazu MacMullen, R.: Enemies of the Roman Order, Cambridge (Mass.) 1966, Kap. 3 – 4. 377 Siehe Tiede, D.: The Charismatic Figure as Miracle-Worker, Missoula 1972, S. 56 f.; Tatum, J.: Apuleius and the Golden Age, Ithaca/London 1979, S. 103 – 119. 378 Siehe M. Aur. Med. 1, 6, dann besonders im Kapitel 16 ber Pius und auch in der Danksagung an die Gçtter (17. Kapitel). 379 Siehe Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 185 – 190. 380 Siehe Pl. Euthyd. 273d-e. 381 Siehe Pl. Euthyd. 277d-e.
448 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Dabei bezieht er die Erçrterung auf die Fragen nach der richtigen Lebensbzw. Seelenformung.382 Diese Wendung nimmt ebenfalls das Kapitel 6 des ersten Buches von Marc Aurel. Mit diesen Hinweisen soll indes keineswegs behauptet werden, dass Marc Aurel sich direkt an Platons Texten orientiert, obschon das prinzipiell nicht ausgeschlossen ist, wie viele andere Zitate belegen. Der Verweis auf Platons Dialoge untersttzt die These, dass die Kritik an der Sophistik als Zauberei alte Wurzeln hat, die Marc Aurel gekannt haben drfte, zumindest steht er in dieser alten Tradition. Dem entspricht die bereits von Theiler gemachte383 – aber nicht viel rezipierte – Beobachtung, dass Marc Aurel insofern als altmodischer Denker zu bezeichnen ist, weil er viele geistige Strçmungen seiner Zeit
382 In den ersten Stzen des Dialoges wird der Fremde aus Elea, den Theodoros zur am Vortag verabredeten Diskussion mitbringt, als wahrer Philosoph bezeichnet. Auf diese Einfhrung des Fremden als Philosophen reagiert Sokrates mit der Frage, ob es sich also um einen Gott handele, und zwar einen „he¹r ¥m tir 1kecjtijºr“ (Pl. Soph. 216b). In den ersten Stzen des Dialoges wird besonders hufig auf Gott und Gçttliches angespielt. Die Erçrterung des Sophisten im Rahmen der Dihairesen greift dann die genannten Beziehungen auf. Das Ergebnis lsst sich wie folgt zusammenfassen: Da es unmçglich ist, dass ein Mensch alles weiß, bleibt nur der Schluss brig, dass die Sophisten es verstehen, in allem wissend zu erscheinen, folglich haben sie kein wirkliches, sondern nur ein scheinbares Wissen (Pl. Soph. 234e, 236b-c). Da der Sophist nicht (in allem) wissend ist, aber den Eindruck erweckt, er wisse etwas, erzeugt er durch sein Reden Trugbilder (vamt²slata ; Pl. Soph. 234c). Wie ein Zauberer agiert er als Nachbildner und erzeugt Schattenbilder (eUdyka) des wirklichen Wissens (Pl. Soph. 216b). Die siebte Bestimmung zeigt, dass der Sophist kein Wissender ist, sondern sich darauf versteht, ein Trugbild des Wissens zu erzeugen. Dies ist fr die Beurteilung der sechsten Bestimmung und besonders der Frage, ob der Sophist die Kunst der Seelenreinigung ausben kann, wesentlich. Die Seelenreinigung geschieht mittels Belehrung und der Prfung, ob eine Ansicht nur ein eingebildetes Wissen ist und daher dem wirklichen Wissen entgegensteht, gleichzeitig ist es dem Geprften so mçglich zu wissen, ob er etwas weiß oder nicht. Diese reinigende Kunst basiert auf und operiert mit der Unterscheidung von wirklichem und scheinbarem Wissen, aber der Sophist hat kein Wissen, so dass er diese Kunst gar nicht ausben kann. Vielmehr kann der Sophist als jemand verstanden werden, der der Reinigung bedarf. Das Verhltnis von Wahrheit und Schein betrifft nicht nur das Wissen, sondern auch die Kunst selber, insofern der Sophist vorgibt, diese reinigende Kunst auszuben. 383 Siehe seine Einfhrung zu Kaiser Marc Aurel: Wege zu sich selbst, Zrich 1951, S. 15 f.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
449
nicht bercksichtigte und stattdessen an ltere Philosophie anknpfte.384 Dies trifft in besonderem Maße auf religiçse Strçmungen zu. Eine erste Annhrung an Marc Aurels Auffassung ber Religiçses kann daher durch die Erstellung einer Negativliste erfolgen. Wesentliche Ergebnisse finden sich zu einem großen Teil bereits bei Theiler,385 doch die von ihm vorgelegte Liste der bei Marc Aurel fehlenden religiçsen Aspekte ist noch zu erweitern. Auffllig ist auch, dass das Christentum bei Marc Aurel weder positiv noch negativ eine besondere Rolle spielt, es tangiert sein eigenes Denken in keiner Weise.386 Dafr war die Bewegung zu seiner Zeit aber wohl einfach noch zu unbedeutend.387 Gnostische Elemente, die durch Valentin oder etwa Basileides zur Zeit Marc Aurels vertreten wurden, kann man in den 384 Nur vermeintlich im Widerspruch dazu steht Marc Aurels doch offenkundige Epiktet-Lektre, die ihn ganz sicher stark beeinflusst hat. Auch fr Epiktet gilt, was gerade ber Marc Aurel gesagt wurde: Er orientiert sich strker an Sokrates-Platon als an zeitgençssischen Autoren (vgl. Long, A. A.: Epictetus. A Stoic and Socrates Guide to Life, a.a.O.). 385 Siehe seine Einfhrung zu Kaiser Marc Aurel: Wege zu sich selbst, a.a.O., S. 15 f. 386 Es gibt bestenfalls nur ein Kapitel, das diese Religion erwhnt: „Was fr ein Gebilde ist die Seele, die bereit ist, sich vom Kçrper loszulçsen und entweder zu verlçschen oder sich zu zerstreuen oder weiter zu existieren, wenn es sein muss. Doch ist es notwendig, dass diese Bereitschaft aus einer Entscheidung hervorgeht und nicht aus reinem Widerspruchsgeist erfolgt [wie es bei den Christen der Fall ist], sondern wohlberlegt, wrdevoll und nicht theatralisch, so dass man auch einem anderen gegenber berzeugend wirkt.“ M. Aur. Med. 11, 3 (Zitat weicht von Nickels bersetzung ab). Bei dem Einschub ¢r oR Wqistiamo_ handelt sich sehr wahrscheinlich um eine sptere Einfgung, zumindest geht nach dem einschlgigen Aufsatz von P. A. Brunt (Marcus Aurelius and the Christians, in: Deroux, C. (Hg.): Studies in Latin Literature and Roman History, Vol. I, Brssel 1979, S. 483 – 520) auch der maßgebliche Texteditor J. Dalfen in seiner Ausgabe davon aus. Die ltere These (siehe etwa Haines in seiner Textausgabe fr die Loeb Classical Library, ad. loc.), dass sich die Bemerkung im Kapitel 1, 6 der Selbstbetrachtungen ber die Teufelsaustreibung nur auf die Christen beziehen kann, ist hinreichend widerlegt, weil Marc Aurel hier auch auf die zeitgençssisch bekannten Praktiken von Juden oder anderen paganen Religionen anspielen kann. 387 Diese Nicht-Beachtung der Christen in den Selbstbetrachtungen heißt jedoch nicht, dass die sog. frheren Apologeten (vgl. Goodspeed, E.: Die ltesten Apologeten, Gçttingen 1914) das Christentum nicht schon bekannt gemacht htten (vgl. Suet. Nero 16, 2; Tac. Ann. 15, 44). Unter Marc Aurel hat es in den Jahren 167 und 177 Verfolgungswellen gegen Christen gegeben (siehe zum historischen Hintergrund bei Marc Aurel Birley, A.: Mark Aurel. Kaiser und Philosoph, a.a.O., Kap. IV; zum Gesamtkontext siehe Wilken, R.: The Christians as the Romans Saw Them, New Haven (Conn.) 1983).
450 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Selbstbetrachtungen nicht ausmachen. Das gilt ebenfalls fr Hermetik. Und auch von der Chaldischen Orakelphilosophie ist Marc Aurel nicht beeinflusst.388 Er gibt an keiner Stelle, auch nicht innerhalb des langen Dankes an die Gçtter im ersten Buch (Kap. 17) so etwas wie einen religiçsen Erfahrungsbericht. Obschon es der ffentlichkeit gut bekannt war und dann als wichtiger Umstand tradiert wurde, erwhnt Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen nicht einmal, dass er eine Initiation in die eleusinischen Mysterien erhielt.389 Die einzige Passage, die eine Erfahrung von Gçttlichem erwhnt, erlutert diese Erfahrung nicht. (Antworte) denen, die fragen: ,Wo hast du denn die Gçtter gesehen, die du so sehr verehrst, oder woraus hast du den Schluss gezogen, dass sie existieren?‘ Erstens: Sie sind auch den Augen sichtbar. Zweitens: Ich habe zwar auch meine Seele noch nicht gesehen und dennoch ehre ich sie. Das gilt auch fr Gçtter: Aus der Tatsache, dass ich ihre Macht immer wieder spre, schließe ich, dass sie existieren, und deshalb verehre ich sie.390
Der Eintrag zeigt vielmehr, wie gut Marc Aurel mit Standard-Fragen, -Argumenten und Texten vertraut ist.391 Auch hierbei ist Marc Aurel ußerst zurckhaltend. Vergleicht man seine sprlichen Ausfhrungen mit denen anderer Autoren,392 wird deutlich, dass er in den Selbstbetrachtungen nicht nur seinen eigenen konkreten religiçsen Erfahrungen keinen Raum einrumt, sondern auch, dass die theoretischen Hintergrnde ihn nicht so stark und vor allem nicht wiederholt beschftigen wie andere Themenfelder. Wie im Rahmen der Behandlung der autobiographischen Aspekte393 ist auch hier zu konstatieren, dass die Selbstbetrachtungen fast vollstndig auf Narration verzichten. Obschon es sich um eine in jeder Hinsicht private Schrift handelt, ist auch die Religiositt nicht individuell gefrbt. Sternenschicksal und Sternengçtter werden von ihm nicht erwhnt. In keinem der Kapitel, in denen Marc Aurel einen Aufstieg beschreibt, der 388 Zu diesen letztgenannten Aspekten siehe die konzisen, wenn auch nicht ganz aktuellen, Informationen in Theilers Einleitung zu Marc Aurel: Wege zu sich selbst, a.a.O. 389 Siehe HA Marc. 27, 1. 390 M. Aur. Med. 12, 28. 391 Siehe etwa Quint. 3, 5, 6; 12, 2, 21 (weitere Angaben und Hintergrnde bei Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 209). Zur Frage, ob Gçtter sinnlich erfahren werden kçnnen, siehe Diog. Laert. 7, 52. 392 Z. B. Cic. De nat. deor. 393 Siehe Kap. I 3.1.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
451
eine kosmische Perspektive gewhrt, findet sich eine Vergçttlichung der Sterne.394 Nur die Sonne wird einmal als Gott bezeichnet.395 Obschon Marc Aurel sich dem teleologischen Weltbild der Stoa verpflichtet fhlt, spielt die Wahrsagerei bei ihm ebenfalls keine Rolle. Er wertet sie sogar ab, zumindest die populren Formen. Einen personalisierten Gott oder Gçtternamen erwhnt Marc Aurel nur hçchst selten. Den Ausdruck da_lym verwendet er fr eine innere Kraft,396 fr sein Hegemonikon, den wertvollsten Teil in ihm397 und nennt da_lym in einer – wahrscheinlich identifizierenden – Reihung mit der Vernunft.398 Allenfalls in zwei Kapiteln kçnnte eine Bedeutung als etwas Religiçses und Externes eine Rolle spielen, vielleicht als Schutzgeist,399 aber auch hier wre die andere, gerade erwhnte Lesart gut mçglich. In jedem Falle argumentieren die Kapitel nicht damit bzw. explizieren die Vorstellung nicht, sondern erwhnen sie nur. Damit ist zweifelhaft, ob die Vorstellung von da_lym als einem Wesen, das Menschen und Gçtter verbindet, in den Selbstbetrachtungen zur Sprache kommt.400 Auch in der Bedeutung als Dmon, als ein bçser Geist, verwendet Marc Aurel das Wort nie. Ebenfalls große Unterschiede gibt es zu Sokrates’ Verwendung des Wortes, denn fr Marc Aurel, wie fr die Stoiker insgesamt,401 hat jeder Mensch immer und im gleichen Maße ein da_lym. Dass Marc Aurel diese stoische, in einem gewissen Sinne egalitre Vorstellung vertritt, ist auch deshalb bemerkenswert, weil rçmische Kaiser sich gerne als privilegiert dargestellt haben, indem sie eine angebliche spezielle Beziehung zu einem bestimmten Gott ihr Eigen nannten.402 Davon ist Marc Aurel zumindest in den Selbstbetrachtungen sehr weit entfernt. Marc Aurel prsentiert keine Beweise fr die Existenz der Gçtter und auch die Natur der Gçtter wird nicht eingehend erçrtert.403 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403
Siehe M. Aur. Med. 7, 48; 9, 30 und 32; 10, 25; 11, 1; 12, 24. Siehe M. Aur. Med. 8, 19. Siehe M. Aur. Med. 2, 13 und 2, 17; 3, 6; 3, 7; 3, 12; 3, 16; 8, 45; 12, 3. Siehe M. Aur. Med. 10, 13. Siehe M. Aur. Med. 3, 3. Siehe M. Aur. Med. 5, 10 und 5, 27. Wie etwa bei Pl. Symp. 202d-4a; Arr. Epict. diss. 3, 13, 15. Siehe z. B. Sen. Ep. 41, 2 und Arr. Epict. diss. 1, 14, 12. So z. B. Octavian zu Apollon, Domitian zu Minerva und Julian zu Mithras. Siehe evtl. die gerade bereits erwhnte Ausnahme M. Aur. Med. 12, 28 (sofern man hier von einem Versuch, die Existenz der Gçtter zu beweisen, sprechen mag).
452 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Die Liste von fehlenden Aspekten, die aber evtl. in den Selbstbetrachtungen erwartet werden kçnnten, ist beeindruckend lang. Sie sagt aber, wie jede negative Bestimmung, nicht hinreichend genug darber aus, was Marc Aurel nun in der Tat ber Religiçses schreibt. Die entsprechenden Passagen sollen nun untersucht werden. Dabei kann der Eindruck berprft werden, ob fr Marc Aurel Religiçses in den Selbstbetrachtungen eine berraschend untergeordnete Rolle spielt, obschon Marc Aurel unzweifelhaft selber religiçse Vorstellungen gehegt hat. Dass Marc Aurel sich gegen Zauberei und Magie einerseits, aber andererseits auch gegen die Wahrsagerei ausspricht, ist von einem stoischschulphilosophischen Standpunkt aus interessant. Denn whrend die Stoiker einerseits Kritik an vielen religiçsen Praktiken gebt haben, haben sie zugleich an der Divination festgehalten. Diese Trennung ist kritisiert worden. So wird von einem epikureischen Standpunkt aus behauptet, dass die stoischen Lehren ber Wahrsagerei direkt zu einer Akzeptanz von diversen und zum Teil obskuren Praktiken von Trauminterpreten, Magiern, Auguren usw. fhren wrden.404 Kritik an religiçsen Praktiken von einem philosophischen Standpunkt aus, der selber nicht von einer areligiçsen, sondern dezidiert religiçsen Perspektive aus vorgetragen wird, ist ein fester Bestandteil der stoischen Philosophie. Bereits Zenon kritisiert den Tempelbau und Gottesabbildungen, da kein Gebude ein fr Gçtter wrdiger Ort sei.405 Auch bei Seneca findet sich eine solche Kritik,406 die generell kein Spezifikum der Stoa ist.407
404 405 406 407
Gottesbeweise machen einen wichtigen Teil der stoischen Theologie aus. Folgt man Long und Sedley (siehe LS, Kommentar S. 396) bei der Einteilung der Argumente in solche, die zeigen wollen, dass (i) Gçtter existieren, (ii) dass es Vorsehung gibt und (iii) solche, die sich dem Theodizee-Problem annehmen, so ist auffllig, dass erstens keines dieser Themenfelder fr Marc Aurel eine gewichtige Rolle spielt, insbesondere (i) nicht, und zweitens, dass er dort, wo er zu diesen Fragen zu argumentieren scheint, gerne alternative Formulierungen verwendet. Zu (i) und (ii) siehe Dragona-Monachou, M.: The Stoic Arguments for the Existence and the Providence of the Gods, Athens 1976. So zumindest der Epikureer in Cic. De nat. deor. 1, 55. Dem Epikureer wird entgegnet, dass seine Lehre mit dem Aberglauben direkt die ganze Religion unmçglich machen wrde (Cic. De nat. deor. 1, 55). Siehe SVF 1, 246. Siehe Sen. Ep. 95, 50; siehe dazu Lausberg, M.: Untersuchungen zu Senecas Fragmenten, Berlin 1970, S. 211 – 259. Siehe Theophrasts Schrift ber die Frçmmigkeit (dazu Bernays, J.: Theophrastos’ Schrift ber Frçmmigkeit, Berlin 1860; Pçtscher, W.: Theophrastos, Peri Eusebeias, Leiden 1964; Parker, R.: Miasma, Oxford 1983, S. 307).
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
453
Die These, dass eine solche Kritik erst seit Theophrast gut dokumentiert ist, ist aber zurckzuweisen.408 Ob Heraklit auch hier die Stoiker direkt beeinflusst hat, muss im Rahmen dieser Untersuchung nicht erforscht werden, aber ganz sicher findet sich bereits bei ihm eine dezidierte Kritik, die einige Aspekte der stoischen vorwegnimmt.409 408 So aber Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 190. 409 Heraklits Kritik an falschen religiçsen Praktiken, die sozial weit verbreitet sind, fußt auf einer tendenziell intellektualistischen Auffassung. Grundstzlich soll das Wissen das Handeln bestimmen. denn Weisesein bestimmt Heraklit als Wissen von der Physis der Dinge und entsprechendes Handeln (vgl. Heraklit DK 22 B 112). Diejenige Seele ist besonders weise, die besonders viel vom Logos, dem Feuer erfasst hat (vgl. Heraklit DK 22 B 118). Die von Heraklit offensichtlich prferierte und praktizierte Methode ist die der Selbsterforschung (vgl. Heraklit DK 22 B 101 und 116). Heraklit empfiehlt damit Klarheit und Vernnftigkeit der Seele, weswegen er Grenzerfahrungen abzulehnen scheint (vgl. Heraklit DK 22 B 45). Es kçnnte sein, dass „eine solche Auffassung gegen verbreitete orphisch-orgiastische Strçmungen der damaligen Zeit gerichtet ist, die etwa eine taumelnde berwindung aller Grenzen klaren Denkens predigten und das den wahren Reichtum der Seele nannten.“ (Buchheim, Th.: Die Vorsokratiker, a.a.O., S. 84). In der Tat findet sich eine solche Kritik: „Denn wr es nicht Dionysos, dem sie den Umzug machen und das Lied singen vom Phallos, sonst ist es ganz schamloses Treiben. Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie toben und feiern.“ (DK 22 B 15). Dann: „Den Nachtschwrmern, Magiern, Bakchen, Mnaden und Mysten (droht er mit Strafe nach dem Tode, prophezeit er das Feuer), denn die bei den Menschen blichen Mysterien werden unheilig gefeiert.“ (Heraklit, DK 22 B 14). Dionysos ist der Gott des Weines und damit des Rausches, der in den von Heraklit kritisierten Festen eine große Rolle gespielt hat (vgl. Farnell, L. R.: Cults of the Greek City State V, Oxford 1896 – 1909, S. 197, 243 und Deubner, L.: Attische Feste, 3. Aufl., Darmstadt 1969, S. 136 f. und 141). Heraklit identifiziert Dionysios, den Gott des Phallus, also dem Sinnbild einer enthemmten Sexualitt, ferner mit dem Gott des Hades. Der Rausch oder die rauschhafte Sexualitt wird damit in die Nhe des Todes gerckt. Diese Verbindung begrndet sich in einer grundstzlich anti-hedonistischen Ausrichtung (vgl. Heraklit DK 22 B 4 und 116), die ihrerseits mit seiner Seelenauffassung begrndet werden kann, weil es der Tod der Seele ist, Wasser zu werden, also der Lust nachzugehen (vgl. Heraklit, DK 22 B 36, 117 und 77. Der letzte Text ist heftig umstritten: Fr unzuverlssig hlt das Fragment Kirk, G. S.: Heraclitus: The Cosmic Fragments, a.a.O., S. 340; dagegen: Gigon, O.: Untersuchungen zu Heraklit, a.a.O., S. 109, und in Folge Guthrie, W. K. C.: A History of Greek Philosophy, a.a.O., S. 443 inkl. Anm. 4; vermittelnd dann Kahn, Ch.: The Art and Thought of Heraclitus, a.a.O., S. 245. Mit Guthrie wird man aber festhalten drfen, dass fr Heraklit das Feucht-Werden der Seele mit Lust einhergeht oder sogar darin besteht). Im Rahmen seiner Kritik an falscher Religiositt wird auch deutlich, dass er die Orientierung am Logos und nicht an Lust und Reichtum mit Reinheit identifiziert
454 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Was diese Kritiken angeht, ist interessant, dass gerade Epiktet, den Marc Aurel sicher besonders intensiv rezipiert hat, hier eine – wohl von der stoischen Tradition insgesamt – leicht abweichende Meinung vertritt. Auch Epiktet kritisiert den falschen lgenden Umgang mit Kulten,410 aber er tut dies sehr selten und anderenorts erwhnt er sie ohne Kritik oder sogar affirmativ. Auch bei ihm spielt die „Reinheit“ eine Rolle: Aber Trank- und Rauchopfer und die Erstlingsgabe nach Vtersitte darzubringen, ist stete Pflicht – mit reinem Herzen, nicht zerstreut, nicht knausrig, aber auch nicht ber unsere Mittel hinaus.411
Mit der hier erwhnten Reinheit konzentriert sich die Kritik auf die innere Haltung der religiçsen Praxis und betont diese gegenber der ußeren
und zugleich fr nur singulr mçglich hlt: „Es gibt meiner Meinung nach nur zwei Arten von Opfern: erstens solche, die von vçllig reinen Menschen – wie Heraklit sagt, ausnahmsweise einmal von einem Individuum oder von ganz wenigen bedeutenden Mnnern – dargebracht werden; zweitens die materiellen und kçrperlichen …“ (Heraklit DK 22 B 69). Zu diesem Komplex siehe ausfhrlicher van Ackeren, M.: Heraklit. Einheit und Vielfalt seiner Philosophie, a.a.O., Kap. 5.1 und 5.2. Aus den ethischen Aussagen folgt eine Kritik an kollektiven Verhaltensregelungen, vor allem çffentlichen Kulten. ber die bereits erçrterten Fragmente DK 22 B 14 und 15 hinaus, in denen çffentliche Riten, Feiern und Gebruche behandelt werden, macht Heraklit deutlich, wie sich in sozialen Institutionen die Momente der basalen Unwissenheit mit denen des Wahnsinns und der mangelnden Reinheit (von Seelen) verbinden: „Sie suchen Shnung umsonst, indem sie mit Blut sich besudeln, wie wenn einer, der in Schmutz getreten, sich mit Schmutz abwsche. Fr verrckt muss der gelten, bemerkt man nur, dass er dies tut. Auch zu den Gçtterbildern dort beten sie, wie wenn einer mit Husern schwatzte und wsste nicht, was Gçtter und Heroen in Wirklichkeit sind.“ (Heraklit DK 22 B 5). Hintergrund des kritisierten Nicht-Wissens ist wieder die unzureichende und daher isolierende Sichtweise der Volksreligion, die zwar Zeus als solchen anspricht, aber nicht weiß, dass sich dahinter der Logos und das Leben (des Kosmos) verbergen: „Eins, das einzige Weise, lsst sich nicht und lsst sich doch mit dem Namen des Zeus (oder: des Lebens) benennen.“ (Heraklit DK 22 B 32). Damit steht wohl erneut der Gedanke der Reinheit bzw. die berlegung, dass die Religionsausbung reinigen sollte, im Zentrum: „Heilmittel (nannte er, was die Seelen entshnt, da sie die Angst heilen und die Seele ledig machen alles Unglcks, das in der Geburt liegt.)“ (Heraklit DK 22 B 68). 410 Vgl. z. B. Arr. Epict. diss. 2, 20, 27 (siehe dazu Bonhçffer, A.: Die Ethik des Stoikers Epictet, Stuttgart 1894, S. 75 – 7. 411 Arr. Epict. ench. 31 (siehe auch 32). Diese Aspekte in der Philosophie Epiktets bleiben von Long leider unbercksichtigt (vgl. Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., Kap. 7).
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
455
Gestaltung der Riten.412 Diese Bedeutung der inneren Religiositt gegenber den ußeren Handlungen betont auch Marc Aurel: Denn ein solcher Mensch, der nicht mehr zçgert, schon jetzt zu den Allerbesten gehçren zu wollen, ist eine Art Priester und Diener der Gçtter, indem er auch mit der in seinem Inneren wohnenden Macht in enger Beziehung steht …413
Damit in Verbindung steht eine andere Variante der Kritik an gngigen Formen der Religionsausbung, die auch von Seneca erwhnt wird und seltener ist, weil Seneca die innere Haltung explizit als Imitation der gçttlichen Naturen versteht: Wichtigste Verehrung der Gçtter ist, an die Gçtter zu glauben … Willst Du die Gçtter gndig stimmen? Gut sollst du sein. Genug verehrt sie, wer ihnen nacheifert. (Satis illos coluit quisuquis imitatus est.).414
Damit ist natrlich die prominente Redeweise von der Verhnlichung mit Gott angesprochen,415 die nicht nur in der frheren stoischen Tradition bekannt ist, sondern auch von Marc Aurel verwandt wird: Es wird dir freilich sehr helfen, die Begriffe im Gedchtnis zu behalten, wenn du immer an die Gçtter denkst, die nicht umschmeichelt werden wollen, sondern den Wunsch haben, dass alle vernunftbegabten Wesen ihnen hnlich werden und der Feigenbaum die Funktion des Feigenbaumes, der Hund die des Hundes, die Biene die der Biene und schließlich der Mensch die der Menschen erfllt.416
Bei Marc Aurel ist die Rede von der Verhnlichung mit Gott erstaunlich wenig religiçs aufgeladen. Er weist ihr offenbar eine andere Rolle zu oder erlutert sie in nicht-religiçser Sprache. Die Angleichung an Gott soll dazu fhren, die menschlichen Pflichten zu erfllen, die Marc Aurel immer als Pflichten gegenber den Mitbrgern und nicht gegenber den Gçtten bestimmt.417
412 413 414 415
Siehe Arr. Epict. diss. 3, 24, 118 und Sen. Ep. 79, 13 – 18. M. Aur. Med. 3, 4. Sen. Ep. 95, 50. blo_ysir he`, Plat. Theait. 176b; Leg. 716a-d; eine frhe Variante des Gedankens prsentiert auch Resp. 500a-c. 416 M. Aur. Med. 10, 8. 417 Ganz anders Seneca: „Was sagt ihr? ,So gelangt man zu den Sternen?‘ [Vergil Aenaeis 9, 641] Das nmlich ist es, was mir die Philosophie verspricht, mich dem Gott gleich zu machen, dazu bin ich eingeladen worden, dazu bin ich gekommen …“ Sen. Ep. 48, 11.
456 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Der Gçtterglaube ist dabei erstens auf Gçtter beschrnkt, die nicht umschmeichelt werden wollen. Zweitens scheint er hier in diesem Kapitel nur ein Mittel zum Zweck zu sein, eine Erinnerungshilfe. Drittens ist das Ganze rational orientiert, denn zum einen nennt er als Ziel die Memorierung von Begriffen, zum anderen die Gemeinschaft der mit Vernunft begabten Lebewesen. Es ist vermutet worden, dass die religiçse Vorstellung von dieser Verhnlichung mit Gott im Zusammenhang mit folgenden Kapitel steht: „Es ist dir mçglich, wieder aufzuleben. Sieh dir die Dinge wieder so an, wie du sie schon gesehen hast. Denn das bedeutet, wieder aufzuleben.“418 Es handele sich, so R. B. Rutherford, um eine Metapher for the true life of philosophy, analogous to the imagery of awakening and light; in other writers, and, it appears, in the mystery religions, a literal promise of rebirth, a guarantee, as in Christian belief, of safety and preservation in the afterlife.419
Doch in diesem Kapitel erwhnt Marc Aurel das Aufleben nach einer Behandlung der „lebendigen dogmata“420, diese mssten immer wieder angefacht werden, indem man die richtigen Vorstellungen bildet und so sein Denken schult. Bei Marc Aurel werden im Kontext der Formulierung nur epistemische Fragen behandelt. Rutherford weist ferner Interpretationen zurck, die die Bedeutung des Fortlebens nach dem Tod als Aspekt der Religion fr berbewertet erklren.421 Doch im Falle des erwhnten Kapitels 7, 2 ist keine Anspielung auf ein Nachleben sprbar. Wie gleich noch zu zeigen sein wird, vertritt Marc Aurel dort, wo es um die Frage nach dem Fortbestand der Seele geht, erstens eine Position, die zwischen Agnostizismus und ganz schwachem Dogmatismus einzustufen wre. Zweitens argumentiert er in Bezug auf diese Frage nicht mit religiçsen Mitteln. Weniger als der Hinweis, Marc Aurel spiele hier auf den Gedanken der Wiederauferstehung an, fhrt derjenige, dass es sich bei jenem „Wiederaufleben“ um ein Wiederaufwachen handelt, weiter. Marc Aurel kçnnte hier an die bei Heraklit422 und Platon ausgiebig verwendete Metapher von 418 419 420 421
M. Aur. Med. 7, 2. Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 180. F0 t± d|clata (M. Aur. Med. 7, 2). Z. B. MacMullen, R.: Paganism in the Roman Empire, New Haven (Conn.) 1981, S. 53 – 7. 422 Gerade fr Heraklit als Hintergrund spricht, dass Marc Aurel die Wiederbelebung der Dogmen als Wiederanfachen eines Feuers beschreibt.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
457
der Opposition eines durch Meinung bestimmten Lebens als Schlafen und eines durch Wissen bestimmten Lebens im Wachzustand anknpfen.423 Weder bei Heraklit noch bei Platon sind damit religiçse Aspekte verbunden. Diese Kapitel erbringen folglich nicht hinreichend Informationen, weil die dort verwendeten Ausdrcke entweder von Marc Aurel nicht notwendig religiçs verstanden werden oder er sie in einem nicht-religiçsen Kontext oder fr nicht religiçse Zwecke verwendet.424 Aussichtsreicher ist vielleicht eine Untersuchung der Passagen, in denen Marc Aurel expressis verbis eine Kommunikation mit Gçttern erwhnt. Dabei ist zunchst interessant, wie Marc Aurel die Gçtter adressiert. So ist es auffllig, dass er Gçtter nur ußert selten mit Namen anredet. Er nennt Asklepios,425 Klotho,426 die Musen427 und einige Male Zeus.428 Doch etwa im Unterschied zu Epiktet sind auch diese wenigen namentlichen Ansprachen von einer bestimmten Distanz geprgt. Dies wird besonders an der Nennung Asklepios’ deutlich, denn es handelt sich um eine Referenz in einem Beispielsatz. Bei Epiktet hingegen ist Zeus noch vor Sokrates der am hufigsten genannte Eigenname.
423 Fr Heraklit siehe DK 22 B 1, 21, 34, 73, 75 (siehe dazu van Ackeren, M.: Heraklit, a.a.O., Kap. 2.2). Fr Platon siehe Resp. 474b-480a (siehe speziell dazu van Ackeren, M.: Die Unterscheidung von Wissen und Meinung in Politeia V und ihre praktische Bedeutung, in: van Ackeren, M. (Hg.): Platon Verstehen. Darmstadt 2004, S. 92 – 110. Allgemein zu dieser Metaphorik bei Platon siehe Galopp, D.: Dreaming and Waking in Plato, in: Anton, J. P./Kustas, G. L. (Hg.): Essays in Ancient Philosophy, Albany 1971, S. 187 – 201). 424 So bereits W. Theiler: „Kein Gericht und keine Sndenstrafe, keinen Aufstieg zum Auserwhlten, die vom Schlaf des Nichtwissens erweckt und wiedergeboren, bis zur Vergçttlichung, homoiosis the , gelangen; der Ausdruck ist bei ihm in ganz unekstatischem Sinn gebraucht. Der Begriff der Erkenntnis Gottes, cm_sir heoO, obgleich auch stoisch-poseidonisch, vermeidet er; er kennt nicht den Genuss der Seligkeit; berhaupt keine persçnliche Unsterblichkeit, weiß nichts von einem Gottesreich am Ende eines geschichtlich-bergeschichtlichen Ablaufes, in dem schließlich Gott alles in allem ist. Es gibt fr ihn keine eschatologische Vollendung.“ Theiler, W.: Einfhrung zu Marc Aurel: Wege zu sich selbst, a.a.O., S. 16. 425 Siehe M. Aur. Med. 5, 8. 426 Siehe M. Aur. Med. 4, 34. 427 Siehe M. Aur. Med. 11, 18. 428 Siehe M. Aur. Med. 4, 23; 5, 6; 5, 7; 7, 1; 8, 10; 8, 12; 8, 27; 11, 8.
458 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Nach Diogenes Laertius haben die Stoiker die Namen der traditionellen Gçtter behalten, aber gereinigt und allegorisch verwandt, um verschiedene Aspekte des aktiven Prinzips damit auszudrcken.429 Wenn diese Beschreibung korrekt ist, trifft sie auf Marc Aurel nur bedingt zu. In den Selbstbetrachtungen werden vom Standpunkt des zweiten Jahrhunderts aus nicht traditionelle oder zeitgençssische rçmische Gçtter angesprochen, sondern archaische griechische, und dies auch nur selten. Damit zeigen sich noch einmal zwei Unterschiede: Einmal der zwischen den Selbstbetrachtungen und Marc Aurels Rolle als Kaiser bzw. der Teilnahme an diversen Priesterschaften und Kulten. Zweitens zeigt sich ein Unterschied zu Epiktet, der Gott – zumindest im Vergleich mit vorherigen Stoikern – wieder strker personalisiert hat. Dass die Religiositt in den Selbstbetrachtungen nur ußert sprlich personalisiert ist und einen nur schwachen individuellen Ausdruck findet, wird sich wiederholt anhand weiterer Aspekte zeigen. Marc Aurel verwendet fr die Ansprache von Gçttern viel hufiger ein unpersçnlicheres he|r oder heo_. Hier ist bereits der Wechsel von Singularund Pluralform interessant, weil er evtl. von anderen Stoikern abweicht. So mag der Wechsel bei anderen Stoikern nicht nur willkrlich oder ein Tribut an die traditionellen Gçtter der Griechen sein.430 Zudem hat die Verwendung der Singular- und Pluralform auch einen sachlichen Hintergrund. Whrend der Singular als Hinweis auf das eine aktive Prinzip verstanden werden kann, gibt es fr den Plural vielleicht zwei Deutungsmçglichkeiten. Er kann erstens als Referenz und Konzession an die vielen traditionell verehrten Gçtter verstanden werden. Und zweitens kçnnten die Stoiker damit einer anderen Vorstellung Ausdruck verleihen, nmlich dem Glauben an die Sternengçtter.431 429 “ Man nennt ihn Dia (Zeus), weil durch (dia) ihn alles wird …“ Diog. Laert. 7, 147. 430 Mit Verweis auf Diog. Laert. 7, 147 argumentieren so Long und Sedley: „Ihr Schwanken zwischen dem Singular „Gott“ und Plural „Gçtter“ mag in gewissem Umfang die Vielfalt der gçttlichen Erscheinungswelt widerspiegeln, ist in grçßerem Umfang aber vermutlich willkrlich, wie das im griechischen Sprachgebrauch hufig ist.“ Long, A. A./Sedley, D.: Die hellenistischen Philosophen, a.a.O., S. 395. 431 Zwischen dem einen Gott und den Sternengçttern bestehen aber Unterschiede, die auch aus dem Umstand resultieren, dass die Sternengçtter mit dem kosmischen Weltenbrand – zumindest zeitweise – vergehen. Zu solchen religiçsen Vorstellungen, die die Annahme eines obersten Gottes mit der Existenz einer Vielzahl von untergeordneten Gçttern vereinigen, dem Henotheismus, siehe West, M. L.: Towards Monotheism, in: Athanassiadi, P./Frede,
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
459
Marc Aurel ußert sich, wie erwhnt, nirgendwo zu den Sternengçttern, auch nicht andeutungsweise. Und Verweise auf die vielen griechischen Gçtter sind selten, spezifisch rçmische religiçse Vorstellungen fehlen ganz. Wie also ist die Verwendung von Plural und Singular zu werten? Marc Aurel unterscheidet sich auch hier von Epiktet, der nicht nur berwiegend den Singular verwendet, sondern, wie angedeutet, auch namentlich berwiegend von Zeus spricht und dabei auf eine emphatische Redeweise nicht verzichtet. Damit gibt Epiktet einer sehr bestimmten religiçsen Vorstellung einen festen und gleich bleibenden Ausdruck. Bei Marc Aurel kçnnte das Gegenteil vorliegen: Dass er so wenige Gçtter beim Namen nennt und sich dann auch nicht zwischen Singular und Plural festlegen mçchte, kçnnte Ausdruck einer gewissen Zurckhaltung sein. Es gibt noch weitere interessante Aspekte der Kommunikation mit den Gçttern. Marc Aurel erwhnt eine solche Kommunikation im Schlusskapitel des ersten Buches, das dem Dank an die Gçtter gewidmet ist.432 Hier verbindet er Kommunikation, die von den Gçttern ausgeht, mit seinem zentralen Anliegen, dem stoischen Ziel, ein naturgemßes Leben zu fhren. Zweimal wird dieses wiederholt. R. B. Rutherford hat die drei zentralen Termini, die Marc Aurel in diesem Kapitel verwendet, untersucht:433 (i) Die Kommunikation mit den Gçttern (di²dosir): Der Terminus di²dosir bezeichnet sonst die Verteilung gemß einer bestimmten Vereinbarung, wie z. B. Land und anderer Gter. Als solcher kçnnte er Hinweis auf die Vorstellung Gottes im Sinne einer zuteilenden Natur sein. Hier scheint Marc Aurel aber wie Epiktet434 lediglich irgendeine Form der Kommunikation zu meinen. M. (Hg.): Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999, S. 21 – 41; Frede, M.: Monotheism and Pagan Philosophy in Later Antiquity, in: Athanassiadi, P./ Frede, M. (Hg.): Pagan Monotheism in Late Antiquity, a.a.O., S. 41 – 69. 432 „Den Gçttern sei Dank, dass ich Apollonius, Rusticus und Maximus kennenlernte, dass ich vom wahren Wesen des naturgemßen Lebens mehr als nur einmal eine klare Vorstellung gewann, so dass mich, soweit es an den Gçttern, den von dort kommenden Gaben, Hilfen und Anregungen lag, eigentlich nichts daran hinderte, sofort ein Leben im Einklang mit der Natur zu fhren, ich es aber aus eigener Schuld und aufgrund mangelhafter Beachtung der von den Gçttern kommenden Hinweise, die fast schon Belehrungen waren, dazu nicht kommen ließ.“ M. Aur. Med. 1, 17. 433 Ich gebe hier seine nicht korrekturbedrftigen Ergebnisse wieder (vgl. Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 192). 434 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 12, 6.
460 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz (ii) Die Hilfe durch die Gçtter (s}kkgxir) erwhnt Marc Aurel noch in einem anderen Kapitel und meint dort die hilfreiche Reaktion der Gçtter auf die von Marc Aurel empfohlene Art des Betens.435 (iii) Mit den Anregungen (1pimo_air oder 1pipmo_air) meint Marc Aurel sonst so etwas wie Kontemplation (1p_moia).436 Epiktet meint damit die Fhigkeit von Zeus, selbstgengsam einen Selbstdialog zu fhren.437 Auch diese Bedeutung ist fr Marc Aurel, wie bereits gezeigt,438 insgesamt wichtig. Rutherford hat vorgeschlagen, hier doch besser 1pipmo_air zu lesen, ein Wort, das normalerweise gçttliche Inspiration meint, eine besondere Einsicht wie sie fr Dichter, Priester oder Propheten kennzeichnend ist. Insgesamt bleibt die Kommunikation, die Marc Aurel mit den Gçttern fhrt, erstaunlich unbestimmt. Nichts davon kann als Beschreibung von religiçsen Erfahrungen gewertet werden. Abgesehen von den Trumen schreibt Marc Aurel weder ber Inhalte noch ber Art und Weise der Kommunikation mit den Gçttern Details nieder. In einem anderen Kapitel wird nicht ein Gott, sondern der Kosmos und die Physis wie in einem Gebet angesprochen. Gleichzeitig handelt es sich um das einzige Kapitel, das keine Reflexion wiedergibt, sondern einen direkten Einblick in die religiçse Praxis Marc Aurels bietet, die nicht durch seine Rolle als Kaiser bestimmt ist: Alles passt mir, was dir gut passt, mein Kosmos. Nichts ist zu frh oder zu spt, was fr dich zum richtigen Zeitpunkt geschieht. Fr mich ist alles eine gute Ernte, was deine Jahreszeiten bringen, gtige Natur. Von dir kommt alles, in dir ist alles, zu dir geht alles. Der Dichter sagt: Geliebte Stadt des Kekrops. Wirst du aber nicht sagen: Geliebte Stadt Gottes?439
Der Umstand, dass Marc Aurel hier Kekrops, den mythischen ersten Kçnig von Athen nennt, zeigt noch einmal wie – von einem zeitgençssischen rçmischen Standpunkt aus gesehen – archaisch und hellenistisch Marc Aurel orientiert ist. Die zuvor erwhnten Inhalte der Ansprache an Kosmos und Natur sind alle nicht spezifisch religiçs, weil die Themen Vorsehung und zuteilende Natur hier wieder aufgegriffen werden. Dass die gelegentliche Erwhnung von Religiçsem nur verstrkend wirken soll, also eine mçgliche Variante ist, sich selbst zu beeinflussen, 435 436 437 438 439
Siehe M. Aur. Med. 9, 40. Siehe M. Aur. Med. 10, 18 oder 27. Siehe Arr. Epict. diss. 3, 13, 7. Siehe Kap. I 4. M. Aur. Med. 4, 23.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
461
zeigen auch die anderen Erwhnungen der Hilfestellung durch die Gçtter. Diese Hilfe, die immer eine Untersttzung zur Erreichung des stoischen Lebens ist, ist offenbar nichts, dass exklusiv nur durch Gçtter erfolgen kann. Denn erstens erwhnt er, dass er den Gçttern Lehren verdanke, die ihm eine klare Vorstellung vom stoischen Lebensideal vermittelt haben.440 Und zweitens notiert er in Kap. 1, 9, dass der Stoiker Sextus ihm dieselben Lehren vermittelt hat. Marc Aurel betont in dem Kapitel, in dem er den Gçttern dankt, auch, dass er die helfenden Hinweise der Gçtter nicht genutzt habe. Diese negative Bilanzierung findet sich auch in einem anderen ganz hnlichen Kapitel: „Erinnere dich daran, seit wann du dies aufschiebst und wie oft du von den Gçttern Termine bekamst, ohne sie zu nutzen.“441 Hierauf folgt im Kapitel eine Erluterung, in der es nur um kosmologisches Wissen geht. Die Hilfestellung der Gçtter wird wie die Verhnlichung mit Gott von Marc Aurel ganz epistemisch verstanden. Auch hier werden Hinweise, Hilfestellungen und Belehrungen durch die Gçtter nicht detailliert erlutert. Wie auch im gesamten Schlusskapitel des ersten Buches, das, wie gesagt, dem Dank an die Gçtter gewidmet ist, erfahren wir nichts ber die Natur der Gçtter. Entscheidend ist, dass das, was als das entscheidende Wissen genannt wird, von einer Art ist, wie Marc Aurel es auch von Menschen gelernt hat. Spezifischer sind die Ausfhrungen, die Marc Aurel ber die Hilfe von Gçttern in bzw. durch Trume macht: „Ich danke den Gçttern, … und dass ich in meinen Trumen Ratschlge erhielt, unter anderem gegen das Blutspucken und die Schwindelanflle.“442 Seit Homer wird Trumen eine besondere religiçse Bedeutung zugeschrieben.443 Sog. Traumbcher sind seit Antiphon, also aus dem 5.–4. vorchristlichen Jahrhundert, bekannt.444 Einige antike Autoren sind sogar so weit gegangen, sie zur Hauptquelle vom Wissen ber die Gçtter bei der Mehrheit der Menschen zu erklren.445 Whrend insbesondere Aristoteles die These von einer angeborenen Fhigkeit zur Prophetie und die Vorstellungen vom Trumen als gottgesandte Hinweise kritisiert hat,446 haben gerade hellenistische Autoren,447 440 441 442 443 444 445 446
Siehe M. Aur. Med. 1, 17. M. Aur. Med. 2, 4. M. Aur. Med. 1, 17. Siehe z. B. Hom. Il. 1, 63; 2, 1 – 83; Od. 19, 560 – 569. Siehe den Bericht bei Diog. Laert. 2, 46 oder Cic. Div. 1, 39. Siehe z. B. Tertullian De Anima 47, 2. Siehe Arist. Div. Somn. 464a20; siehe auch Cic. Div. 2, 126 und 129.
462 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz und dabei vorrangig die Stoiker aus allen Phasen der Schulentwicklung, diese religiçse Kommunikationsform fr bedeutsam erklrt.448 Fr die Stoiker sind die Existenz der Gçtter und ihre hilfreiche Einflussnahme durch Trume miteinander verbunden. Aus dem Reichtum entsprechender religiçser Praktiken und Vorstellungen wird sogar auf die Existenz der Gçtter geschlossen.449 Marc Aurel erwhnt in dem zitierten Kapitel eine spezielle Form der Weissagung in Trumen, nmlich konkrete medizinische Ratschlge fr (kçrperliche) Leiden. Auch hierfr gibt es Vorlufer, z. B. Plutarch und Aristides. Es lohnt sich, Aristides mit Marc Aurel zu vergleichen, denn beide sind nicht nur Zeitgenossen,450 sondern hatten sogar zum Teil identische Lehrer (Alexander von Kotiaeum).451 Darber hinaus kannten sie sich: 178 wurde Smyrna, wo Aristides ab 147 vor allem lebte, durch ein Erdbeben zerstçrt. Marc Aurel war (mit seinem Sohn Commodus) auf Reisen und hçrte eine klagende Trauerrede von Aristides, die den Kaiser zu Trnen bewegt haben soll.452 Gerade weil es sich bei Marc Aurel und Aristides um Zeitgenossen mit bestimmten Beziehungen handelt, ist der Unterschied in Bezug auf ihre Vorstellungen von den helfenden Interventionen von Gçttern bei Krankheiten besonders signifikant. Fr Aristides ist das Schreiben insgesamt durch Gçtter motiviert, befrwortet und begleitet worden.453 Er bezeichnet Asklepios als seinen persçnlichen Schutzgott. Seine Trume, religiçsen Erfahrungen und Visionen beschreibt er mit großer Emphase und Detailliebe. Der deutliche und umgesetzte Wille, all dies publik zu machen, wird von der Grundberzeugung getragen, auserwhlt zu sein. 447 Siehe dazu allgemein Weber, G.: Traum und Alltag in hellenistischer Zeit, in: Zeitschrift fr Religions- und Geistesgeschichte 50 (1998), S. 22 – 39. 448 Siehe den berblick ber die Lehrmeinungen bei Cic. Div. 1, 5 – 7 und bes. 82. Poseidonius soll fnf Bcher zum Thema verfasst haben (vgl. Cic. Att. 2, 1, 2). 449 Siehe Cic. Div. 1, 9. Die Vorstellung, dass die Gçtter erstens existieren, zweitens freundlich sind, drittens selber die Zukunft kennen und daher viertens diese den Menschen mitteilen, wird von Cicero dann selber im zweiten Buch kritisiert. Ciceros Kritik war sozial nicht sonderlich wirksam. Praktiken der Wahrsagerei und Traumdeutungen waren genauso hoffhig wie weit verbreitet. 450 Aristides lebte von 117 – 181. 451 Siehe dazu Wells, L.: The Greek Language of Healing from Homer to the New Testament Times, Berlin/New York 1998, S. 93. 452 Siehe Philos. VS 582. 453 Siehe Arist. Or. 50, 38 – 70.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
463
Was die medizinische Hilfe durch Gçtter im Traum angeht, entwickelt Aristides ein erstaunliches Selbstbewusstsein.454 Er schachtelt Traumerzhlungen ineinander, weil er angibt, die Fhigkeit erlangt zu haben, bewusst in Trumen zu trumen, um so wiederum andere medizinische Hinweise (evtl. aus vorherigen Trumen) zu deuten. Die Grundberzeugung, dass Gçtter den Menschen in ihren Trumen medizinische Ratschlge geben, wird demnach von Aristides nicht nur als religiçse Vorstellung behauptet, sondern er praktiziert dies auch als gottgegebene, aber beherrschbare Technik, die er auf sich selbst und seine Trume anwenden kann.455 Fr die hiesigen interpretatorischen Belange ist ein Rekurs auf psychologische und vor allem psychoanalytische Deutungen nicht erforderlich,456 zumal daran teilweise berechtigte Kritik gebt wurde.457 Auch so ist hinreichend deutlich, wie intensiv und ostentativ die religiçse und medizinische Bedeutung von Trumen von Zeitgenossen Marc Aurels thematisiert wird. In den Selbstbetrachtungen hingegen findet sich nur eine Passage im ersten Buch, die nicht viel mehr leistet, als anzuzeigen, dass Marc Aurel in Trumen glaubte, von den Gçttern kontaktiert worden zu sein. Da Marc Aurel sonst alle wichtigen Themen wiederholt, darf aus der nur einmaligen Erwhnung geschlossen werden, dass ihm diese Form der gçttlichen Intervention wenig bedeutsam war. Er erwhnt auch nur den Umstand und gibt wiederum keinen Erfahrungsbericht. Dass sich Marc Aurel in Krankheitsfllen nicht nur den auch von Stoikern anerkannten Weg der Hilfe durch Gçtter in Trumen zu eigen machte, zeigt ein anderes Kapitel hinreichend deutlich. Dort wird Epikur zum Vorbild fr eine Therapie, die sich nur auf physiologische Aussagen sttzt.458 454 Siehe dazu Baumgart, H.: Aelius Aristides als Reprsentant der sophistischen Rhetorik des zweiten Jahrhunderts der Kaiserzeit, Leipzig 1879, S. 100 f. 455 Siehe Arist. Or. 5, 337. 456 Siehe etwa Dodds, E. R.: Pagan and Christian in an Age of Anxiety, a.a.O. 457 Siehe z. B. Gordon, R.: Fear of freedom? Selective continuity in Hellenistic religion, in: Didaskalos 4 (1972), S. 48 – 60; Brown, P.: Religion and Society in the Age of St. Augustine, London 1972, S. 74 – 81. 458 „Epikur sagt: ,Whrend meiner Krankheit fhrte ich keine Gesprche ber die Leiden des Kçrpers … Stattdessen befasste ich mich dauernd mit den wichtigsten Aussagen der Naturphilosophen und konzentrierte mich auf die Frage, wie die Seele, die von derartigen Bewegungen in unserem Fleisch mit betroffen ist, ihre Ruhe findet, indem sie ihren spezifischen Wert bewahrt. …‘ So wie er musst auch
464 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Nach der Kommunikation, in der die Gçtter Marc Aurel adressieren, ist nun der umgekehrte Fall zu untersuchen, das Gebet. Auffllig ist, dass die entsprechenden Kapitel alle im neunten Buch zu finden sind, so dass es sich hierbei ebenfalls um kein buchbergreifendes Phnomen handelt. berhaupt kann nur von einem Kapitel gesagt werden, dass dort explizit Gebete thematisiert werden. Die anderen nehmen das behandelte Thema, eine Kritik an einer stoischen Lehrmeinung, auf, ohne von Gebeten zu sprechen. Zunchst das wesentliche Kapitel: Entweder haben die Gçtter Macht oder sie haben keine Macht. Wenn sie nun keine Macht haben – warum betest du zu ihnen? Wenn sie aber Macht haben – warum bittest du sie nicht lieber darum, dass sie dir gewhren, nichts von diesen Dingen frchten zu mssen, nichts haben zu wollen und ber nichts dich rgern zu mssen, statt darum zu bitten, dass etwas davon nicht vorhanden oder vorhanden sei? Denn wenn sie berhaupt fhig sind, den Menschen zu helfen, dann kçnnen sie ihnen auf jeden Fall auch darin helfen. Aber vielleicht wirst du sagen: ,Das haben die Gçtter mir berlassen.‘ Wre es dann nicht besser, alles, was in deiner Macht steht, in freier Selbstbestimmung zu gebrauchen, als dich in Abhngigkeit und Selbsterniedrigung fr das zu verzehren, was nicht in deiner Macht steht? Wer aber hat dir gesagt, dass die Gçtter nicht auch bei dem helfen, was in unserer Macht steht? Fang also an, darum zu bitten, und du wirst schon sehen. … Formuliere Deine Gebete ganz einfach so und achte darauf, was geschieht.459
Zweck des Gebetes ist es, Hilfe zu erlangen. Die geforderte Hilfe bezieht sich aber bereits auf stoische Lehren und erwhnt traditionelle Gebete nicht, vielmehr geht es um den Umgang mit indifferenten Dingen. Doch Marc Aurels Reflexion ber Gebete, die hierbei Hilfe erbitten, weicht in wesentlichen Aspekten von der gngigen stoischen Lehre ab. Marc Aurel beginnt das Kapitel mit einer der von ihm so geliebten Alternativen. Das Kapitel hlt den dubitativen Ton zwar nicht ganz durch, Zurckhaltung in Bezug auf Dogmatismen wird jedoch in anderen Kapiteln deutlich. Zudem behauptet Marc Aurel auch hier nicht dogmatischemphatisch, dass die Gçtter Hilfe gewhren. Diese Haltung drckt sich ebenfalls in der zweimaligen Aufforderung aus, entsprechend zu beten und abzuwarten, was dann geschehe. Fr einen festen Glauben, dass die Gçtter ganz sicher existent sind und dann auch in jedem Falle helfen, ist das ein
du dich whrend einer Krankheit verhalten, wenn du krank bist, und auch in anderen Situationen.“ M. Aur. Med. 9, 41. 459 M. Aur. Med. 9, 40.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
465
schwacher Ausdruck. Eine Erçrterung der Frage, warum manche Gebete erfolgreicher sind als andere, erfolgt hier nicht.460 Ausfhrlich erçrtert Marc Aurel die Frage, wofr man beten soll. Schon von Sokrates wird diese Frage kontrovers diskutiert, vielleicht sind aber auch nur die Berichte ber Sokrates divergent. Xenophon berichtet, Sokrates habe fr „gute Dinge“ gebetet und es dabei ausdrcklich dem berlegenen Wissen der Gçtter berlassen, zu entscheiden, was das Gute fr ihn sei.461 Im Phaidros betet Sokrates nur fr den Erwerb der Tugend und schließt konventionelle Besitztmer von seiner Anfrage an die Gçtter aus.462 Marc Aurel scheint zunchst die stoische Position besttigen zu wollen: Man solle nicht gegen oder fr bestimmte vermeintliche Gter beten, sondern eher dafr, dass die Seele von beunruhigenden ngsten, Begierden oder Sehnschten verschont bleibt. Obschon die Stoiker Sokrates zustimmen und nur die Tugend als Gut betrachten, gehen sie darber hinaus, denn sie betonen viel strker die Unabhngigkeit, den freien und eigenen Verfgungsbereich bei den tugend- und glcksrelevanten Entscheidungen. Diese lgen ganz in der Verantwortung des Menschen. Aus dieser Position heraus ergibt sich ein problematisches Verhltnis zum Gebet, das um eine gçttliche Mithilfe beim Erwerb der Tugend bittet. Wenn den Stoikern zu Folge die Erkenntnis, Entscheidungen und Handlungen, die Tugend und in Folge das Glck nur vom Tugendhaften selbst abhngen und er darin absolut frei ist, warum sollte er dann fr den Erwerb der Tugend die Gçtter anflehen? Seneca formuliert das stoische Ideal dieser Tugendautarkie wie folgt: Du tust etwas Vorzgliches und fr dich Heilsames, wenn du – wie du schreibst – weiterhin fortschreitest zu sittlicher Vervollkommnung, die zu wnschen tçricht ist, da du sie von dir selbst erlangen kannst. Nicht soll man zum Himmel erheben die Hnde noch anflehen den Tempelwchter, dass er uns zum Ohr des Gçtterbildes, als ob wir dann besser gehçrt werden, vorlasse: nahe ist dir Gott, mit dir ist er, in dir ist er. So sage ich, Lucilius: ein heiliger Geist wohnt in uns, unserer schlechten und guten [Taten] Beobachter und Wchter: wie er von uns behandelt wird, so behandelt er selber uns.463
460 461 462 463
Siehe zum Vergleich Platon Resp. 331b, 364aff. Xen. Mem. 1, 3, 2. Siehe Pl. Phdr. 279b-c. Sen. Ep. 41, 1 – 2.
466 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz Noch prgnanter formuliert er Folgendes: „… es ist schimpflich, auch jetzt noch die Gçtter zu bemhen. Was sind Wnsche nçtig? Mach Dich selbst glcklich.“464 Marc Aurel argumentiert, dass aus der Annahme, die Gçtter seien mchtig, folgen wrde, dass es unsinnig sei, eine Hilfestellung durch sie abzulehnen. Fraglich ist ferner, ob allmchtige Gçtter auch um Hilfestellung beim Tugenderwerb angefleht werden sollen. Schließlich scheint Marc Aurel an die Stoiker gerichtet fragen zu wollen, woher das Wissen stamme, dass die Gçtter die menschliche Machtsphre entweder respektieren wrden oder nicht fhig seien, in diese Sphre der menschlichen Freiheit einzugreifen. Auch Seneca scheint hier Zweifel zu haben, oder zumindest eine schwankende Ansicht zu vertreten, denn seine gerade zitierte Position hlt er nicht durch.465 Auch wenn im weiteren Verlauf des Briefes klar wird, dass Seneca hier vorrangig gegen bestimmte, weit verbreitete Formen der religiçsen Praxis argumentiert, bleibt doch der Umstand, dass er hier von einer korrekten Weise des Wnschens spricht, die leicht mit dem ebenfalls von ihm vertretenen Ideal des autark erzeugten Glcks zusammengeht. Auch Epiktet behandelt die Frage.466 Seine Position ist weder mit einer derjenigen in den Seneca-Zitaten identisch noch mit der Marc Aurels. Erstens geht es Epiktet um einen Dank an Gott fr das, was dieser bereits gegeben hat, nicht um Wnsche oder Bitten im Gebet, die Zuknftiges betreffen. Zweitens umfasst dieser Dank nicht nur Dinge, die nicht vom Menschen selbst abhngen, sondern auch seine Fhigkeit zum Erkennen. 464 Sen. Ep. 31, 5. 465 Anderenorts empfiehlt er Lucilius: „So sprich, so lebe; sieh zu, dass dich nichts zu Boden drckt. Deine alten Wnsche magst du den Gçttern erlassen, andere beginn von neuem: bitte um gesunde Gesinnung, um gute Gesundheit der Seele, sodann des Kçrpers. Warum solltest du diese Wnsche nicht oft aussprechen? Khn bitte den Gott: um nichts Ungehçriges wirst du ihn bitten.“ Sen. Ep. 10, 5. 466 „Was sollten wir doch, wenn uns der Sinn dafr aufgegangen wre, insgesamt und einzeln anderes tun, als Gott lobsingen und preisen und seine Wohltaten aufzhlen? Sollte man nicht beim Pflgen, beim Graben, beim Essen den Lobsang auf Gott singen: ,Gott ist groß, dass er uns dies Werkzeug gegeben hat, die Erde zu bebauen! Groß ist Gott, dass er uns Hnde gegeben, dass er uns unseren Schlund, dass er unseren Magen geschaffen hat! Der gemacht hat, dass wir unvermerkt wachsen, dass wir atmen im Schlafe!‘ So sollten wir bei jedem singen, den erhabensten und feurigsten Lobgesang aber darber anstimmen, dass er uns das Vermçgen gegeben hat, die Dinge deutlich zu erkennen und auf gehçrige Weise zu brauchen.“ Arr. Epict. diss. 16, 15 – 19.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
467
Drittens beschrnkt Epiktet den Dank, was das Erkennen angeht, eindeutig auf die Fhigkeit zum Erkennen, meint also nicht den aktuellen Gebrauch dieser Fhigkeit. Er fordert, mit anderen Worten, nicht dazu auf, fr (einzelne) Erkenntnis, also Wissensbestnde, selbst zu danken, sondern nur fr die Fhigkeit dazu. Viertens ist auffllig, dass der geforderte Dank fr Epiktet auch indifferente Dinge einschließen soll, wobei aber auch hier der Werkzeugcharakter betont wird. Fr die entscheidende Anwendung der von Gott gegebenen Dinge wird nicht gedankt. Vielleicht will Epiktet mit der Beschrnkung des Dankes auf Fhigkeit und Werkzeuge bzw. Voraussetzungen fr das Denken und Handeln sagen, dass wir im Gebrauch der Erkenntnisfhigkeit und der anderen gçttlichen Gaben frei sind. Zusammenfassend lsst sich sagen, dass Senecas Position nicht ganz eindeutig ist und Epiktet den freien und nicht von gçttlicher Hilfe abhngigen Gebrauch der gçttlichen Gaben favorisiert. Marc Aurel hingegen bittet auch um gçttliche Hilfe, um autark und selbstgengsam zu werden. Bei der Annahme, dass diese Hilfe mçglich ist und tatschlich erfolgt, geht er jedoch minimal dogmatisch vor. Diese Position findet sich auch an anderen Stellen ausgedrckt, etwa wenn er das erste Buch mit den folgenden Worten beschließt: „Denn das alles ist auf helfende Gçtter und Glck angewiesen.“467 Nun zu den beiden weiteren Kapiteln, die das Thema aufnehmen, aber nicht mehr von Gebeten sprechen. Die Frage, wem warum Hilfe zu Teil wird, erçrtert Marc Aurel in anderen Kapiteln des neunten Buches. Seine Ausfhrungen betreffen hier aber, wie bei Epiktet, auch Hilfe bei Dingen, die nach stoischer Lehre nicht gut, sondern indifferent sind: Wenn du kannst, dann belehre (sie) eines Besseren. Wenn aber nicht, dann erinnere dich, dass dir fr diesen Fall die Nachsicht gegeben ist. Auch die Gçtter ben gegenber solchen Menschen Nachsicht. Bei manchem wirken sie auch mit: bei der Gesundheit, dem Reichtum, dem Ansehen. So gtig sind sie. Aber das ist auch dir mçglich. Oder sag, wer hindert dich daran?468
Auch das weitere, letzte, Kapitel, das dieses Thema aufnimmt, behandelt es gar nicht mehr unter dem Aspekt des Gebetes, erwhnt aber nochmals die Hilfe im Traum.469 In beiden Fllen geht es Marc Aurel als Ausgangspunkt 467 M. Aur. Med. 1, 17. 468 M. Aur. Med. 9, 11. 469 „Wenn ein anderer dich tadelt oder hasst oder die Leute etwas Vergleichbares von sich geben, dann wende dich ihren Seelen zu und sieh dir an, was es fr Leute sind. … Denn von Natur aus sind es Freunde. Auch die Gçtter helfen ihnen auf viel-
468 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz weder um einen Dank an die Gçtter noch um einen im Gebet geußerten Wunsch. Ausgangspunkt fr die Erwhnung der Hilfe der Gçtter ist in beiden Fllen das Fehlverhalten anderer Menschen, die eben eine besondere Zuwendung in Form von gçttlichen Geschenken brauchen. Werfen diese Bemerkungen ein neues Licht auf Marc Aurels Empfehlung, auch fr gçttliche Interventionen zu beten, die den eigenen Machtbereich, das Hegemonikon, betreffen? Marc Aurel hatte argumentiert, dass jede Hilfe, auch in diesem Bereich, wnschenswert sei und erfleht werden kçnne. In den gerade zitierten beiden Kapiteln erwhnt er eine solche Hilfe nur fr Menschen, die falsch handeln. Es liegt der Schluss nahe, dass er sich gelegentlich als derart unvollkommen betrachtet hat, dass auch er eine stoische Haltung nicht ganz aus sich heraus meistern kann und daher externe gçttliche Hilfe braucht. Gleichzeitig fordert er sich im Kapitel 9, 11 auf, die Gçtter zu imitieren, so gtig zu sein wie sie und denen, die Hilfe brauchen, diese und Nachsicht zukommen zu lassen. Dieser Befund ließe sich als theoretische Inkonsistenz werten, denn einmal bittet Marc Aurel um die Hilfe der Gçtter und dann meint er – gotthnlich – Hilfe gewhren zu kçnnen. Doch erstens sind diese Kapitel nur auf den ersten Blick unvereinbar, denn Marc Aurel behauptet nicht, dass er immer Hilfe braucht oder immer Hilfe gewhren kann. Zweitens zeigen die verschiedenen Kapitel, dass sie unterschiedlichen Bedrfnissen entstammen, unterschiedlichen Zwecken dienen und nicht ein geschlossenes philosophisches System ergeben oder dass dies angestrebt wird. Vielleicht ist insgesamt ausgedrckt, dass fr alle, die keine stoischen Weisen sind, auch externe Hilfe willkommen sein muss. Anhand zweier weiterer Kapitel kçnnen die folgenden beiden oft in religiçsem Kontext behandelten Probleme untersucht werden: Die Frage nach der Existenz von Dmonen und die Frage nach der Fortexistenz einer individuellen Seele nach dem Tod. Dmonen scheinen eine Variante der auch von Stoikern vertretenen Vorstellung zu sein, dass es gçttliche Krfte und Wesen in der sublunaren Welt gibt.470 Bei Marc Aurel hat man solche Vorstellungen in einem Kapitel ausfindig gemacht, das zur Gruppe der Kapitel gehçrt, die den „Blick von fltige Weise durch Trume, durch Weissagungen – allerdings ber die Dinge, um die jene Leute sich streiten.“ M. Aur. Med. 9, 27. 470 Siehe Diog. Laert. 7, 151; SVF 2, 1101 – 5.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
469
oben“, die kosmische Perspektive, beschreiben. Marc Aurel fordert sich auf zu bedenken: Dass du alles Menschliche und seine Vielfalt, wenn du plçtzlich in die Hçhe gehoben wrdest und es von oben herab betrachten kçnntest, geringschtzen wirst, nachdem du zugleich gesehen hast, wie zahlreich die Erscheinungen sind, die die Luft und den Himmel ringsum bevçlkern; und dass du, sooft du emporsteigst, dasselbe sehen wirst: das Gleichartige, das Kurzlebige. Dazu diese Eitelkeit und Aufgeblasenheit.471
Der Ausdruck da_lym wird von Marc Aurel in diesem Kapitel nicht verwandt. Aber nicht nur deshalb sind seine Vorstellungen von denen, die wir bei anderen antiken Autoren wie Philo, Albinus, Aupuleius und Plutarch diesbezglich finden,472 vçllig unterschieden. Das Kapitel beabsichtigt auch keine Darstellung der Region, die sich ber der menschlichen Sphre erhebt. Genau wie in den anderen Kapiteln, die die kosmische Perspektive beschreiben, geht es Marc Aurel hier nicht um das Entdecken neuer wertvoller Entitten, sondern um den entwertenden Blick auf die vermeintlichen Gter der menschlichen Sphre. Diese Zielsetzung kçnnte die Vagheit des Ausdruckes erklren, denn es geht Marc Aurel erstens um etwas ganz anderes als die Beschreibung der Gemeinschaft der Entitten, die Himmel und Luft bevçlkern. Zweitens ist mit der Absicht auch erklrt, warum etwas Vergleichbares von Marc Aurel in hnlichen Kapiteln sonst nicht erwhnt wird. Die Erscheinungen, die den Himmel bevçlkern, sind fr ihn offenbar nicht von vorrangigem Interesse und kein wichtiger Bestandteil der kosmischen Beschreibung. Trotz dieser Einschrnkung ist zu fragen, was sich in diesem Kapitel hinter der Formulierung „Erscheinungen, die Himmel und Luft bevçlkern“ verbirgt. Es kçnnte sich um eine Bemerkung handeln, die die Vorstellung, dass es sich beim Kosmos um eine Polis handelt, aufgreift und allen Entitten im Kosmos eben Verwandtschaft und Gemeinschaft bescheinigt. Spezieller und dezidierter religiçs ist die Interpretation, es handele sich bei den genannten Erscheinungen um Seelen, die nach dem Tode von ihren Kçrper getrennt im ther weiterexistieren. Diese Vorstellung hat besonders Plutarch in Rekurs auf Hesiod vertreten.473 Epitaphe spiegeln die Idee
471 M. Aur. Med. 12, 24. 472 Bibliographische Hinweise fr die genannten Autoren liefert Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 206. 473 Siehe Plut. De def. or. 415b.
470 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz wieder.474 Und bereits von Platon sind entsprechende Inschriften bekannt.475 Rutherford hat diese Vorstellungen fr relevant erklrt:476 Sie kçnnten auch der Hintergrund fr die Bemerkung im Kapitel 12, 24 sein, weil Marc Aurel in einem anderen Kapitel folgende Fragen untersucht: „Wenn die Seelen weiter bestehen – wie finden sie seit Ewigkeiten Platz in der Luft?“477 Der Eintrag, der bereits ausfhrlich im Kontext der Consolatio behandelt wurde,478 kann jedoch nicht als Hinweis dafr gewertet werden, dass Marc Aurel an die (bestndige) Fortexistenz individueller Seelen nach dem Tod geglaubt hat, so wie es vielleicht einige Stoiker vor ihm getan haben.479 Erstens geht Marc Aurel die Frage nach dem Fortbestand agnostisch an, wie der erste und letzte Satz des Kapitels 4, 21 deutlich machen, denn er schrnkt seine gesamte Argumentation durch die hypothetischen Klauseln ein.480 474 Siehe Lattimore, R.: Themes in Greek and Latin Epitaphs, Illinois 1942, S. 31 f., 311 f. 475 Siehe Edmonds, J. M.: Plato: Inscriptions, in: ders. (Hg.): Greek Elegy and Iambus, Bd. II, Cambridge (Mass.) 1931, S. 2 – 11. 476 Siehe Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 207. 477 M. Aur. Med. 4, 21. 478 Siehe Kap. I 3.3.2. 479 Diogenes berichtet, dass Kleanthes an den Fortbestand aller Seelen geglaubt hat, whrend Chrysipp nur den Seelen von Weisen Bestndigkeit attestiert hat (siehe Diog. Laert. 7, 157). 480 Ein anderes Kapitel besttigt diese Einschtzung. Nachdem Marc Aurel aufgezhlt hat, wie viele bedeutende Philosophen trotz ihres Wissens gestorben sind, fhrt er fort: „Wozu sage ich das? Du bestiegst ein Schiff, fuhrst los und landetest wieder. Steig aus. Wenn du in ein anderes Leben bergehst, dann ist auch dort alles von Gçttlichem erfllt. Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhçren, Schmerzen und Freuden zu haben und dem Gefß zu dienen, das so viel weniger wert ist als das, dem es dient. Dieses nmlich ist Geist und gçttliche Kraft, jenes aber nur Erde und Blut.“ (M. Aur. Med. 3, 3). Auch hier erwgt Marc Aurel Alternativen. Die Vorstellung, dass nach dem Tod ein anderes, ebenfalls von Gçttlichem erflltes Leben beginnt, scheint er nicht weiter zu verfolgen. Er scheint die zweite Alternative fr wahrscheinlicher zu halten, derzufolge mit dem Tod dauerhafte Empfindungslosigkeit einsetzt. Dass der Geist gegenber dem Kçrper wertvoller ist, wird betont, aber offenbar vergeht auch er. Das Kapitel erçrtert damit jedoch nicht nur die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod, sondern macht deutlich, dass fr Marc Aurel der Kçrper zwar weniger wertvoll als der Geist ist, letzterer aber dadurch fr ihn nichts platonisch Immaterielles wird. Die Frage nach dem Platonismus in Marc Aurels Auffassung
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
471
Zweitens argumentiert er dann, vielleicht wie Epiktet,481 dafr, dass die Seelen keinen individuellen Fortbestand haben, sondern in Bestandteile aufgelçst werden und so, durch das geschlossene System des kosmischen Wandels, wieder etwas anderes, vielleicht neue Seelen, daraus entstehen kçnnen. Marc Aurel konzediert, dass die Auflçsung der Seelen etwas spter einsetzt als die der Kçrper. Drittens ist zu fragen, ob es wahrscheinlich ist, dass es sich bei diesen noch nicht in ihre Bestandteile zerlegten Seelen um die Gemeinschaft der „Erscheinungen handelt, die Himmel und Lfte bevçlkern“. Die Formulierung deutet eher darauf hin, dass mit den Erscheinungen dauerhafte Entitten gemeint sind. Ein anderer Vorschlag fr die Interpretation wird ebenfalls von Rutherford vorgebracht und diskutiert. Man kçnne, so Rutherford, die Wçrter 1maeq_ym und 1maiheq_ym je als Neutrum, nicht Maskulinum, lesen und die himmlischen Kçrper bezeichnen lassen. Diese Vorstellung sei aus Ciceros Somnium Scipionis bekannt.482 Zwar drckt auch Marc Aurel in einigen Kapiteln483 die Vorstellung aus, dass aus der kosmischen Perspektive das Menschliche und Irdische in seinem wahren, nmlich kaum vorhandenen Wert besser erkannt werden kann. Aber erstens schreibt Marc Aurel Himmelskçrpern nirgendwo persçnliche Eigenschaften zu. Zweitens macht Marc Aurel die Himmelskçrper nicht zu gçttlichen oder sonst wie religiçs konnotierten Objekten. Seine Behandlung der Frage nach dem Fortbestand der Seelen nach dem Tod zeigt, dass er eher zu einer physiologischen Betrachtungsweise neigt. Insgesamt ist Rutherfords Bilanzierung dieser schwierigen Kapitel zuzustimmen: Whichever explanation of this passage is correct; it shows the author’s otherworldliness in the most literal sense. … Whether astral spirits or dead men’s souls, they are detached from Marcus’ concerns.484
Nicht nur fr die Frage nach der Fortexistenz individueller Seelen ist ein weiteres Kapitel interessant. Hier werden bestimmte Fragen explizit als
481 482 483 484
vom Menschen und besonders der Seele wird im nchsten Kapitel eine große Rolle spielen. Die Alternativstellung ist hier aber platonisch. Im Schlussteil der Apologie erwgt Sokrates sie als Vorstellung davon, was der Tod ist, und vertritt (anders als in spteren Dialogen) eine agnostische Position. Siehe etwa Arr. Epict. diss. 4, 1, 106. Siehe Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 208. Siehe z. B. M. Aur. Med. 7, 47 und 11, 27. Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 208.
472 2. Physik – zur Theorie der Natur des Ganzen: Monismus und Immanenz „unntz“ zurckgewiesen und damit letztlich auch die dogmatische Verteidigung der Grundlagen, die zur Beantwortung derselben notwendig sind. Hier findet sich also ein Ansatz zu einer Reflexion, die vielleicht verstehen hilft, warum bestimmte religiçse Fragen so wenig Raum in den Selbstbetrachtungen einnehmen: Wie kann es denn sein, dass die Gçtter, die doch alles so schçn und menschenfreundlich geordnet haben, dieses eine bersahen, dass nmlich einige Menschen, und zwar besonders gute und solche, die mit den Gçttern sozusagen die meisten Vertrge geschlossen haben und durch ihre frommen Werke und heiligen Handlungen mit dem Gçttlichen ganz besonders vertraut waren,485 nicht mehr wiedergeboren werden, sobald sie einmal gestorben sind, sondern fr immer vollkommen verlçschen? Falls dies wirklich so ist, dann – davon kannst du berzeugt sein – htten die Gçtter, wenn es wirklich anders sein msste, entsprechend gehandelt. Wenn es nmlich gerecht wre, wre es auch mçglich, und die Natur htte es mçglich gemacht, wenn es naturgemß wre. Aus der Tatsache, dass es sich nicht so verhlt, musst du die Einsicht gewinnen, dass es, wenn es sich nicht so verhlt, auch nicht so sein sollte. Denn du siehst auch selbst, dass du mit Gott einen Rechtsstreit vom Zaun brichst, wenn du diese unntzen Fragen stellst.486
Marc Aurel erklrt, warum bestimmte religiçse Spekulationen oder Praktiken wenig Sinn machen, zumindest dann, wenn man sich davon bestimmte Folgen erwartet. Vielleicht ist damit – um zu einer Zusammenfassung zu kommen – seine generelle Zurckhaltung erklrt. Diese eher zurckgenommene Bedeutung der Religion ußerte sich erstens in dem Fehlen von Erfahrungsberichten, einer Schilderung der religiçsen Aspekte, die wenig individuelle Zge hat. Auf der Seite der religiçsen Themen und Argumente ist eine dogmatische Zurckhaltung festzustellen, die auch Abweichungen 485 Sehr wahrscheinlich meint Marc Aurel hier nicht die ußere Befolgung von Religion, sondern die erwhnte philosophisch gereinigte Vorstellung (siehe dazu M. Aur. Med. 3, 7). Epiktet hatte erklrt, dass der kynische Philosoph Zeus dient (vgl. Arr. Epict. diss. 3, 22, 82). ltere stoische Quellen sprechen von dem Weisen als wahrem Priester, Heiligem und hnlichem (vgl. SVF 3, 608 und 611 – 624). Ein gçttlicher Mann, so betont Marc Aurel, muss nicht notwendig von anderen Menschen dafr anerkannt werden, dass er Gott gehorcht (vgl. M. Aur. Med. 7, 67). Marc Aurel geht sogar so weit zu betonen, dass auch Sokrates nicht besser als Telauges war, nur weil er çffentlich wirksamer gestorben ist. Entscheidend, so Marc Aurel weiter, sei nur die Seele (vgl. M. Aur. Med. 7, 66). Siehe auch die Einschtzung von Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 216: „These passages are sufficient to show how out of sympathy Marcus Aurelius would be with the kind of hero-worship received in this period.“ 486 M. Aur. Med. 12, 5.
2.8 Religiçses in den Selbstbetrachtungen
473
von der stoischen Orthodoxie kennt. Fr die Kapitel, die Religiositt berhaupt behandeln, ist folgender Satz typisch: „Man soll entweder gar nicht beten oder: so einfach und freimtig.“487 Die These, dass Marc Aurels Religiositt in den Selbstbetrachtungen unpersçnlich ist, wurde bereits von vorheriger Forschung erwogen. Die bisherigen Ergebnisse sind aber zu qualifizieren bzw. zu erweitern. A. A. Long488 und A. MacIntyre489 bezeichnen die Religiositt Marc Aurels als unpersçnlich, weil auf der Objektseite bei Marc Aurel kein persçnlicher Gott steht, sondern er eine Theologie vertritt, „that comes closest to pure pantheism.“ Die Untersuchung konnte aber zeigen, dass die Religiositt in einem zweiten Sinne unpersçnlich ist, und zwar auf der Seite des einzelnen Menschen. Denn in den Selbstbetrachtungen schildert Marc Aurel erstens keine religiçsen Erfahrungen. Bei den wenigen Passagen, die sich finden, handelt es sich um sehr allgemeine, manchmal vage Reflexionen. Zweitens wird mit der Ausnahme eines Kapitels, das sich als Gebet an den Kosmos verstehen lsst, Religiositt nicht praktiziert. Dieser Umstand wiegt schwer, weil im Rahmen dieser Untersuchung etabliert werden konnte, dass die Selbstbetrachtungen zu einen guten Teil nicht nur ein Text ber die praktische Philosophie sind, sondern die praktisch orientierte Philosophie der Stoa durch das Schreiben ausben. Gerade im Falle der Religiositt fehlt diese praktische Umsetzung durch das Abfassen des Textes weitgehend. In einem weiteren Sinne sind die religiçsen Aspekte der Selbstbetrachtungen ebenfalls als unpersçnlich zu charakterisieren. Religiositt scheint fr Marc Aurel unpersçnlich zu sein, weil sie fr ihn nicht zentral ist. Der Focus des Textes liegt im Bereich der ausgebten praktischen Philosophie. Damit sind die religiçsen Aspekte der Selbstbetrachtungen beschrieben. Es bleibt die Frage nach dem Verhltnis der Behandlung theologischer Fragen in diesem privaten Text und Marc Aurels religiçsen Praktiken in seiner Rolle als çffentlicher Mensch. Wenn Marc Aurel sich in den Selbstbetrachtungen sogar entgegen vieler stoischer Autoren nicht einmal positiv ber die Wahrsagerei ußert, wie erklrt sich dann seine besondere intensive Orientierung an alten und zeitgençssischen religiçsen Riten in seiner Rolle als Kaiser? 487 M. Aur. Med. 5, 7. 488 Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., S. 178. 489 MacIntyre, A.: Pantheism, in: Edwards, P. (Hg.): The Encyclopaedia of Philosophy, New York 1967, S. 31 – 5.
474
3. Die Natur des Menschen
Zum einen erweist er sich hierin als „ein Schler des Pius“, dem er als Vorbild vielleicht darin folgt. Und zum anderen kann sein Verhalten eventuell durch entsprechende Ausfhrungen bei Cicero erhellt werden, weil bei Cicero selbst ein hnliches Verhltnis von Schriften und çffentlicher Rolle vorliegt. Fr Cicero ist Religion, selbst wenn sie philosophisch widerlegt werden kçnnte, notwendig, damit die Vielzahl der Menschen fromm, tugendhaft und insbesondere gerecht sind.490 Cicero folgert daraus, dass es kein Widerspruch fr ihn selbst ist, dass er zwar einerseits die Lehre der Divination widerlegt haben kçnne, aber andererseits zugleich Mitglied eines Augurenkommitees sein mçchte. Der weise Politiker sorge sich eben so um die Aufrechterhaltung der alten Riten und damit um die der Gerechtigkeit der Menge.491 In diesem Sinne lobt Marc Aurel seinen Vorgnger Antoninus Pius, dass dieser einerseits Traditionalist war, der „alles im Einklang mit der berlieferung tat“, aber dabei „erweckte er doch nicht den Anschein, dass er nur die berlieferung bewahren wollte“.492 Dass Marc Aurel sich in einem spteren Kapitel auffordert, in allem „ein Schler des Antoninus“493 zu sein, ist dabei demnach nicht nur eine Wiederholung. Indem Marc Aurel in seiner Praxis als Kaiser diesen Grundsatz umsetzt, praktiziert er auch, was ihm sein Vorbild vorgelebt hat. Zugleich scheint es sich dabei aber auch um etwas fr ihn ußerliches gehandelt zu haben. Der Schluss liegt zumindest nahe, wenn man die augenfllige Abwesenheit entsprechender Themen in den Selbstbetrachtungen als seine eigene Meinung gelten lsst. Vielleicht hat er wie Cicero die religiçse Praxis als çffentlicher Mensch nur aus funktionaler berzeugung heraus befolgt. Es handelte sich demnach bei ihm um eine Pflicht, die Teil seiner Rolle als Kaiser war. Das Kapitel ber die Politik wird dieses Moment aufnehmen.494
3. Die Natur des Menschen In den vorangegangenen Kapiteln wurde die Themen und Argumente vorgestellt, die Marc Aurel mit der allgemeinen und umfassenden Natur, dem Kosmos, verbindet. Wie zu Beginn dieser Reihe von Kapiteln bereits 490 491 492 493 494
Siehe Cic. De nat. deor. 1, 4. Siehe dazu Cic. Leg. 2, 15; Polyb. 6, 56. M. Aur. Med. 1, 16. M. Aur. Med. 6, 30. Siehe dazu Kap. II 2.2.
3. Die Natur des Menschen
475
erwhnt wurde, spricht Marc Aurel nicht von „Natur“, um den Kosmos zu bezeichnen, sondern er spricht ebenfalls hufig von einer Natur des Menschen.495 Die Untersuchung dieser Aussagen ber die Natur des Menschen wird im Zentrum des nun beginnenden Kapitels stehen. Obschon hier in der Darstellung eine isolierende Analyse der relevanten Passagen vorgenommen werden muss, handelt sich es sich gerade bei diesen Aussagen ber die Natur des Menschen um ein Thema, das besonders komplex ist, und zwar aus zwei Grnden. Erstens ist Marc Aurels Auffassung vom Menschen durch eine enge Verbindung verschiedener Einzeltheoreme geprgt, diese betreffen die Relationen Kosmos – Mensch und Mensch – Mensch. Zweitens ergibt sich aus den Inhalten der anthropologischen Bestimmungen eine Relevanz fr andere Philosophieteile, vor allem fr den Vernunftgebrauch und die Ethik. Auch anhand der Aussagen ber die Natur des Menschen wird demnach deutlich, dass Philosophie bei Marc Aurel nicht isolierbare Teile hat, sondern eine komplexe Angelegenheit ist. Marc Aurel bestimmt den Menschen (i) in seiner Gesamtheit, d. h. vollstndig, als materiellen Teil des Kosmos. Die Vernunft eines Menschen als den entscheidenden Aspekt der Seele fasst er (ii) als Teil der einen kosmischen Vernunft auf, die (iii) ein Mensch mit allen anderen Menschen gemeinsam hat. Mit allen anderen Menschen besteht (iv) im Rahmen einer kosmischen Gemeinschaft nicht nur eine enge Beziehung, sondern diese Gemeinschaft soll dem Einzelnen auch als Zweck dienen. Komplex ist Marc Aurels Auffassung von der Natur des Menschen, weil diese aus einem Geflecht von verschiedenen Ansichten besteht, von denen jede fr sich genommen Aufmerksamkeit verdient. Die genannten vier Theoreme bedingen sich. Es wird zu zeigen sein wie. Darber hinaus ist fast jede der genannten Teilaussagen fr sich genommen umstritten und damit auch ihr Verhltnis. Strittig sind dabei 495 Auffllig ist dabei, dass Marc Aurel von seiner eigenen Natur spricht, aber dann nicht spezifische, individuelle Charakteristika nennt, sondern in der Regel etwas, das auf alle Menschen zutrifft. (Nur in wenigen Fllen erwhnt er etwas, das nur auf ihn selbst zutrifft oder seinen Namen). Deshalb ist es berhaupt mçglich, von anthropologischen Bestimmungen in den Selbstbetrachtungen zu sprechen. hnlich wie die Aussagen ber die religiçsen Aspekte sind auch die ber die menschliche Natur wenig persçnlich. Obschon es sich um einen nur fr ihn selbst verfassten Selbstdialog handelt, erwhnt Marc Aurel also selten etwas nur fr ihn Gltiges. Vielleicht ist dieser allgemeine Zug auch ein Grund dafr, warum diese private Schrift in der ffentlichkeit, bei Menschen verschiedenster Zeiten, so viele Leser gefunden hat.
476
3. Die Natur des Menschen
sowohl die Beschreibung als auch die Bewertung. Die noch kleine Erforschung der Philosophie Marc Aurels beinhaltet schon große Kontroversen. Die viel erçrterten Aspekte lassen sich zu zwei Problemkreisen zusammenfassen, denn einerseits werden Fragen, die mit den ersten beiden Teilaussagen in Verbindung stehen, diskutiert und andererseits sind politische Aspekte der letzten beiden Teilaussagen Gegenstand einer, wenn auch kleineren Gruppe von Interpretationen. Zum ersten Problemkreis: Hier wird zum einen die Bedeutung der Teilaussagen erçrtert und zwar im Lichte der generellen Debatte, ob Marc Aurels Philosophie durchweg stoisch orthodox ist. Auf die Frage nach der Natur des Menschen bezogen wird insbesondere erçrtert, ob bzw. wie sehr Marc Aurel hier platonisch argumentiert. Diese Debatte ber den angeblichen Platonismus in der Anthropologie Marc Aurels konzentriert sich ihrerseits auf zwei Fragen, die beide den vermeintlichen platonischen Dualismus betreffen, der in den stoischen physiopsychischen Holismus einen Keil treiben kçnnte. Die erste Frage betrifft den Dualismus von Kçrper und Seele, die zweite Frage geht noch weiter, denn einige Autoren erçrtern, ob Marc Aurel nicht nur Kçrper und Seele trennt, sondern auch die Vernunft von der Seele. Das Spektrum der Interpretationen ist denkbar groß: Einige Autoren vertreten die Auffassung, dass Marc Aurels Sprache zwar platonisch gefrbt sei, aber in der Sache nur stoische Positionen vertrete.496 Andere sehen Marc Aurel hier an der Grenze zum Platonismus, aber verorten ihn noch auf der stoischen Seite.497 Von den Interpreten, die der Sache nach Platonismus erkennen, verstehen einige Marc Aurel als rckwrtsgewandt, weil er in seinen Stoizismus die Position Platons integriere. Andere erkennen in Marc Aurel einen progressiven Platonisten, der Elemente des Mittelplatonismus nicht nur aufgreife, sondern durch eine „new anthropology“, eine „radical innovation“, nmlich durch die Trennung von Vernunft und Seele sogar zur Vorhut des Neuplatonismus werde.498 Unabhngig von diesen Zuschreibungen finden sich Wertungen. Von den Autoren, die einen Platonismus erkennen, tun dies einige als Eklektizismus ab, andere loben ihn als innovativ, weil die Trennung der Vernunft
496 Siehe Gill, Ch.: Marcus Aurelius, a.a.O. 497 Siehe Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., S. 36. 498 Reale, G.: The Schools of the Imperial Age, New York 1990, S. 89 – 100.
3. Die Natur des Menschen
477
von der Seele auch den Ausdruck einer noch tieferen Religiositt als bei den frheren Stoikern erlaube.499 Zum zweiten Problemkreis, der sich um die politischen Aspekte der Teilaussagen (iii) und (iv) kmmert, ist vor allem zu sagen, dass er bis dato noch gar nicht hinreichend gewrdigt wurde. Whrend in P. Hadots Studien generell politische Aspekte der antiken Lebenskunst unterreprsentiert sind und auch seine Monographie zu Marc Aurel eher spirituelle Momente statt konkrete politische Aspekte betont, hat lediglich G. Reydams-Schils auf die verschiedenen politischen Aspekte hingewiesen. Da ihre Untersuchung aber den rçmischen Stoikern als Gruppe gilt, fehlt zum einen eine Binnendifferenzierung dieser letzten großen Phase in der antiken stoischen Tradition und vor allem eine Erçrterung der Fragen, inwiefern Marc Aurel gerade mit den Teilaussagen (iii) und (iv) die politische Dimension strker akzentuiert als Stoiker vor ihm. Diesen letzten Punkt eingehender zu erforschen, wrde eine Betrachtung der gesamten stoischen Tradition vor Marc Aurel erfordern und kann daher hier nicht geleistet werden. Aber jngste Forschungen zur politischen Philosophie in der frhen Stoa kçnnen als Referenzpunkt gewhlt werden.500 Sie zeigen erstens, wie eng die Verbindung der beiden Problemkreise ist. Dass Marc Aurel den Menschen als vernnftiges und politisches Lebewesen bestimmt, ist altstoisch. Schon insofern kçnnen die Teilhabe des Menschen am Kosmos, die Bedeutung der geteilten Vernunft und die politische Dimension nicht getrennt werden. Gerade die bisherigen Erçrterungen des ersten Problemkreises blenden bei der Frage nach dem Platonismus in Marc Aurels Anthropologie gerne die Frage nach den kosmischen Ursprngen der menschlichen Vernunft und den politischen Implikationen aus. Der Rekurs auf neuere Interpretationen der altstoischen Positionen kann zweitens den Blick dafr schrfen, wie sehr Marc Aurel den Gemeinschaftsgedanken bei seiner Bestimmung der menschlichen Natur in den Vordergrund rckt. Ferner wird er ihn ausweiten, insofern es fr ihn zur menschlichen Natur gehçrt, dass alle Menschen, nicht nur die Weisen, eine Gemeinschaft bilden, es also keine Gemeinschaften der perfekten oder aktualisierten Vernunft gibt, sondern der Vernunftbegabten und dazu gehçren fr Marc Aurel auch die, die nicht vernunftgemß handeln. 499 Ebenfalls Reale, G.: The Schools of the Imperial Age, a.a.O., S. 99. 500 Siehe Vogt, K. M.: Law, Reason, and the Cosmic City. Political Philosophy in the Early Stoa, Oxford 2008.
478
3. Die Natur des Menschen
Soweit zu den beiden Problemkreisen, die sich auf die zwei Gruppen von Teilaussagen zur Natur des Menschen beziehen. Marc Aurels Auffassung von der Natur des Menschen ist also komplex, weil sich dahinter aufeinander Bezug nehmende Thesen verbergen. Die Thesen selbst beschreiben ihrem Inhalt nach den Menschen als komplexes Lebewesen, das – wie der Kosmos – eine physisch-psychische Einheit ist, die in ihrer Gesamtheit Teil des Kosmos ist. Die Vernunft als entscheidender Aspekt des Menschen ist etwas, das Menschen verbindet. Der Mensch ist damit vor allem durch Relationalitt gekennzeichnet, wobei es verschiedene Varianten der Beziehung gibt: Materielle Einheit, TeilGanzes-Beziehung, Teilhabe und verschiedene enge soziale Beziehungen. Die folgende Darstellung wird hier differenzieren mssen. Komplexitt liegt noch in einem anderen Sinne vor, nmlich auf theoretischer Ebene: Marc Aurel bestimmt den Menschen einerseits als vernunftbegabtes Lebewesen, dessen Vernunft wie die von allen solchen Lebewesen Teil der einen kosmischen Vernunft ist. Die Vernunft des Menschen soll zugleich wieder auf das natrliche Geschehen des Kosmos als Gegenstand bezogen bleiben. Und andererseits ist der Mensch dasjenige Lebewesen, das ganz auf die Gemeinschaft ausgerichtet ist. Die Handlungen des Menschen sollen den Nutzen der Gemeinschaft befçrdern. Die Bestimmung der Menschen als vernunftbegabtes und soziales Wesen weist so den Weg zu den weiteren Kapiteln ber Marc Aurels Auffassung vom Vernunftgebrauch (Logik im weiteren Sinne) und seine Aussagen ber Ethik und Politik. Da der Mensch, wie er ihn bestimmt, zugleich Teil der kosmischen allumfassenden Natur ist, beschreibt das vorliegende Kapitel einen Nexus im Denken Marc Aurels. Seine Vorstellung von dem, was der Mensch ist, verbindet also die bereits dargestellten Aussagen ber die allgemeine Natur, den Kosmos, mit den entscheidenden menschlichen Feldern – Denken und Handeln – die in den anschließenden Kapiteln behandelt werden sollen. Marc Aurel betont zunchst das besondere Verhltnis der individuellen und allgemeinen Natur: Dessen muss man sich immer bewusst sein, was die Natur des Ganzen und was meine eigene Natur ist und wie sich diese zu jener verhlt und welcher Teil welches Ganzen sie ist und dass es niemanden gibt, der dich daran hindern kçnnte, stets das, was im Sinne der Natur ist, deren Teil du bist, zu tun und zu sagen.501 501 M. Aur. Med. 2, 9.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
479
Hier wird die Beziehung der beiden Naturen klar als Teil-Ganzes-Verhltnis bestimmt. Mit dem letzten Satz, einer Variation der stoischen Formel, wird die Kenntnis von diesem Verhltnis zur Grundlage fr praktische und logische Belange erklrt. Mit der Einordnung des Menschen in den kosmischen Zusammenhang sind auch soziale und politische Aspekte impliziert.502 Marc Aurel fordert sich auf, die Dinge stets so zu betrachten, dass man gewahr wird, welcher Art von Welt die Sache welchen Nutzen bringt und welchen Wert sie einerseits fr das Ganze und andererseits fr den Menschen als Brger des obersten Gemeinwesens hat, zu dem die brigen Gemeinwesen gleichsam wie Huser gehçren …503
Damit ist angedeutet, dass Marc Aurel vielfltige Zusammenhnge annimmt, die nun einzeln zu behandeln sind, bevor wieder auf die Bedeutung der Bestimmung des Menschen als Nexus eingegangen werden kann. 3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus? Die in der Literatur504 rege diskutierte Frage, ob Marc Aurels Auffassung vom Menschen vom Platonismus geprgt ist, behandelt zwei Themenkreise. Zum einen ist fraglich, ob Marc Aurel den Menschen vollstndig als 502 „Denn das jedem einzelnen zugewiesene Schicksal ist in das Weltganze eingebettet und bettet ihn in dieses ein. Es ist ihm auch bewusst, dass alles Vernnftige miteinander verwandt ist und dass es der Natur des Menschen entspricht, sich um alle Menschen zu kmmern…“ M. Aur. Med. 3, 4. 503 M. Aur. Med. 3, 11. 504 Die ltere Kontroverse hat E. Asmis zusammengefasst (siehe Asmis, E.: The Stoicism of Marcus Aurelius, a.a.O., Sp. 2240). Jngst findet sich die These, dass Marc Aurel einen platonischen Dualismus fr seine Auffassung von Mensch und Seele verwendet, bei Allesse, F.: Il tema delle affezioni nell’antropologia di Marco Aurelio, in: Brancacci, A. (Hg.): Antichi e moderni nella filosofia de et imperiale, Napoli 2001, S. 111 – 134. Die Debatte fhren wieder zugunsten einer strker stoischen Deutung fort: Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., S. 35 ff. und Gill, Ch.: Marcus Aurelius’ Meditations, a.a.O. und ders.: Marcus Aurelius, a.a.O., S. 176 ff. Bemerkenswert ist, dass eine Reihe von Interpretationen, die Marc Aurel eine neue mittelplatonisch inspirierte Anthropologie zuschreiben, derzufolge der Nous nicht mehr Teil der Seele ist, von der gerade erwhnten Literatur nicht (oder nur unzureichend) diskutiert werden: Neuenschwander, R.: Marc Aurels Beziehung zu Seneca und Poseidonius, a.a.O.; Erbse, H.: Die Vorstellung von der Seele bei Marc Aurel, in: Mller, W. (Hg.): Festschrift fr Friedrich Zucker, Berlin 1954, S. 127 – 154 und Reale, G.: The Schools of the Imperial Age, a.a.O., S. 89 – 100.
480
3. Die Natur des Menschen
kçrperlichen Teil des Kosmos betrachtet, und zum anderen wird seine Auffassung von der Seele und dabei besonders der Status der Vernunft diskutiert. Diese Fragen hngen bei Platon, im Platonismus und auch bei Marc Aurel eng zusammen, sind aber keineswegs identisch. Nicht nur deshalb lohnt es sich, zu unterscheiden und die Fragen getrennt zu behandeln, denn es kçnnte auch sein, dass in Bezug auf die erste Frage ein Platonismus festgestellt wird, nicht aber in Bezug auf die zweite – oder umgekehrt. Doch bevor diese zwei Themenfelder behandelt werden, ist herauszustreichen, dass die Erwartung, in den Selbstbetrachtungen Theoreme aus dem Platonismus zu finden, a priori Plausibilitt beanspruchen kann. Marc Aurel geht es darum, seine eigene Lebensfhrung zu verbessern. Seit Sokrates in der Apologie die Sorge um die Seele zum Gegenstand und Ziel der Philosophie machte, verbindet sich damit von der Antike bis heute mit Platons Philosophie auch ein praktisches Anliegen. Marc Aurel drfte Sokrates nicht nur ber Epiktet als Exempel kennen gelernt haben. Seine vielen Platon-Zitate belegen, dass er dessen Texte kannte. Die Frage nach dem platonischen Einfluss betrifft Marc Aurel, insofern er sich dazu bekennt, keine Schulphilosophie betreiben zu wollen. Die Frage nach dem Platonismus betrifft den Status seiner Philosophie die angeblich besonders unrein, weil eklektisch, ist. Das Thema ist aber auch von grundstzlicher Bedeutung fr die Stoa.505 Obschon es Przedenzflle gibt, in denen platonische Psychologie in materialistische506 und stoische berlegungen507 integriert wird, ist fraglich, ob dergleichen als Eklektizismus zu werten ist. Es ist aber nicht sonderlich wahrscheinlich, dass solche Beziehungen und Diskussionen zwischen Platonikern und Stoikern als Meta-Thema Marc Aurel bekannt waren oder ihn interessierten.508 505 Siehe Bonazzi, M./Helmig, Ch. (Hg.): Platonic Stoicism – Stoic Platonism. The Dialogue between Platonism and Stoicism in Antiquity, Leuven 2007. 506 So etwa bei Galen (siehe dazu Hankinson, R. J.: Galens’ Anatomy of the Soul, in: Phronesis 36 (1991), S. 197 – 233; Staden, H. v.: Body, Soul, and Nerves: Epicurus, Herophilos, Erasistratus, in: Potter, P./Wright, J. P. (Hg.): Psyche and Soma: Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body-Problem from Antiquity to Enlightment, Oxford 2000, S. 79 – 116, hier: S. 105 – 116). 507 Eine solche Verbindung gibt es bei Philo von Alexandrien (dazu mit Angaben Reydams-Schils, G.: Philo of Alexandria on Stoic and Platonic Psycho-Physiology: The Socratic Higher Ground, in: Ancient Philosophy 22 (2002), S. 125 – 147). 508 Eine andere Betrachtungsweise, die weniger die Reinheit der philosophischen Schulen gegen den vermeintlich minderwertigen Eklektizismus ausspielt, hat jngst Gill vorgelegt und zum Hintergrund seiner Analyse der platonischen Formulierungen in den Selbstbetrachtungen gemacht: „Recognition of the Platonic
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
481
Platonisch Anmutendes findet sich nicht nur in den Aussagen ber den Menschen. Auf dem Gebiet der Kosmologie, etwa dem Aufstieg der Seele und dem sog. „Blick von oben“, zeigte sich, dass Marc Aurel mit platonischen Vorstellungen vertraut ist. Aber genau diese Kapitel untersttzen zwar einerseits die Erwartung von Platonismen in den Selbstbetrachtungen, zum anderen konnte ihre Analyse jedoch zeigen, dass Marc Aurel offensichtlich ltere platonische Texte kennt, davon aber freien und eigenen Gebrauch macht. Zunchst mssen die Kapitel angefhrt werden, die fr einen solchen Platonismus in Bezug auf Vorstellungen vom Menschen sprechen. Die Diskussion dieser Passagen kann dann anhand der gerade angefhrten beiden Fragestellungen dazu dienen, Marc Aurels Vorstellung von Kçrper und Seele darzustellen. Obschon die Stoiker Kçrper und Seele unterscheiden509, betonen sie die Einheit des Lebewesens und die wechselseitige Beeinflussbarkeit, die darin begrndet liegt, dass beide kçrperlich sind, folglich, entsprechend dem passiven Prinzip, beeinflussbar sind: Weil das Lebewesen also aus beiden … zusammengesetzt ist, aus Kçrper und Seele, und weil beide berhrbar und fr Eindrcke empfnglich sind, nmlich der Widerstndigkeit unterliegen und berdies durch und durch gemischt sind und weil der eine von ihnen in Vermçgen zur Sinneswahrnehmung ist und er sich selbst in der Weise bewegt, die wir beschrieben haben, deshalb ist klar, dass contribution to Stoicism throws new light on the alleged shift back to Plato (or Aristotle) in later Hellenistic thinkers such as Panaetius and Poseidonius. This alleged shift is better interpreted as a change in the explicitness with which the relationship between Platonic and Stoic thought is discussed than as a move towards an ecclectic combination of the two approaches. This reinterpretation of the larger relationship between Platonism and Stoicism has a bearing on the way we may read Platonic allusions or the use of quasi-Platonic language in the Meditations. Although first- and second-century non-Stoics such as Plutarch and Galen stress the contrast between Platonic (part-based) psychology and Stoic psychological monism, we need not assume that Marcus has this debate in view. In light of the longstanding contribution to Platonic thought to Stoicism, Marcus may see Platonic-style language as a resource or instrument to formulate distinctively Stoic ideas.“ Gill, Ch.: Marcus Aurelius’ Meditations, a.a.O., S. 192 (zur Diskussion des angeblichen Eklektizismus in diesem Fall siehe auch Gill, Ch.: The Structured Self, a.a.O., S. 209 – 214, 266 – 290 und Tieleman, T.: Chrysippus’ On Affection. Reconstruction and Interpretation, Leiden 2003, Kap. 5). 509 „Andere [Stoiker] … sagen, das ,Wort‘ Seele habe zwei Bedeutungen; es bezeichne zum einen das, was das ganze Gefge zusammenhlt, und zum anderen insbesondere das Zentralorgan. Denn wenn wir sagen, der Mensch bestehe aus Seele und Kçrper, so sprechen wir speziell vom Zentralorgan.“ Sext. Emp. Math. 7, 234.
482
3. Die Natur des Menschen
ein Lebewesen sich stndig selbst wahrnimmt. Denn indem sie sich ausspannt und locker lsst, macht die Seele auf alle Teile des Kçrpers einen Eindruck, da sie ja auch mit ihnen allen verschmolzen ist; und indem sie einen Eindruck macht, empfngt sie einen Eindruck als Antwort. Denn genau wie die Seele setzt auch der Kçrper dem Druck Widerstand entgegen. Als Resultat ergibt das den Zustand eines gleichzeitigen Drucks aufeinander und Widerstands gegeneinander. Von den ußersten Teilen nach innen gewandt, bewegt dieser Zustand sich … zum Fhrungsvermçgen, so dass dort eine Wahrnehmung aller Teile sowohl des Kçrpers als auch der Seele entsteht. Das aber ist identisch damit, dass das Lebewesen sich selbst wahrnimmt.510
Auf den zweiten Teil des Zitats, der Beschreibung der Interaktion von Kçrper und Seele als Prozess der Selbstwahrnehmung, wird noch zurckzukommen sein, denn erstens spielt auch Marc Aurel darauf an. Ferner wird so erklrt, dass Selbstreferentialitt in Form von Selbstwahrnehmung notwendig etwas ist, was Lebewesen ausmacht. Bemerkenswert ist dabei, dass Hierokles diesen Prozess als gegenseitiges Antworten von Kçrper und Seele, also ansatzweise so etwas wie einen Selbstdialog, beschreibt. Darauf wird noch einzugehen sein. Hier ist zunchst die Einheit von Kçrper und Seele interessant. Die Seele, so wird betont, ist mit allen Teilen des Kçrpers verbunden.511 Der stoischen Auffassung nach ist die Seele nicht einfach dem Kçrper gegenbergestellt, sondern ist im ganzen Kçrper. Das kann sie vor allem deswegen, weil sie, etwa als lebendiger Atemstrom verstanden, selbst kçrperlich ist.512 Zunchst scheint Marc Aurel lapidar festzustellen: „Ich bestehe aus einem Kçrper und einer Seele.“513 Damit widerspricht er in keine Weise der gngigen stoischen Auffassung. Der Vorstellung von einer engen Verbindung und Einheit von Kçrper und Seele scheint jedoch eine dualistische Sprache bei der Beschreibung des Menschen zu widersprechen, weil der Dualismus von Marc Aurel offenbar als Antagonismus aufgefasst wird, da Seele und Kçrper antithetisch sind. 510 Hierokles 1, 5 – 33, 4, 38 – 52, davon zitiert: LS 53 B (5 – 9). 511 Die Verbindung von Kçrper und Seele wird unterschiedlich gefasst. Whrend Hierokles hier in neutraler Beschreibung davon spricht, dass die Seele mit jedem Teil des Kçrpers verbunden ist, sprechen andere Quellen in etwas strker figurativer Weise von dieser Verbindung: „Aus dem Fhrungsvermçgen wachsen sieben Seelenteile heraus und erstrecken sich in den Kçrper hinein – gerade so, wie aus dem Polypen seine Arme hervorkommen.“ (Atios 4, 21, 1 – 4 (=LS 53 H)). 512 Siehe z. B. Chalcid. In Tim. 220 (=LS 53 G). 513 M. Aur. Med. 6, 32.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
483
Besonders deutlich wird dies, wenn Marc Aurel die Seele ebenfalls im Kçrper lokalisiert, dabei aber auf die klassische platonische Formulierung anspielt, derzufolge die Seele im Kçrper in einem Gefngnis ist. Wer aber an der Vervollkommnung des Geistes interessiert ist, der, so Marc Aurel, fragt sich nicht, ob „er aber seine im Kçrper eingesperrte Seele fr einen grçßeren oder fr einen kleineren Zeitraum zur Verfgung haben wird …“.514 Ebenfalls an Platons Phaidon erinnert eine andere Formulierung. Sokrates fordert unmittelbar vor seinem Tod dazu auf, ihm im Leben zu folgen, indem man Philosophie als Sterbenlernen, die Trennung von Kçrper und Seele, praktiziert. In vielleicht diesem Sinne schreibt Marc Aurel wieder von dem idealen Philosophen: „Ein solcher Mensch hat seine kçrperliche Hlle schon abgestreift …“.515 Neben solchen ußerungen, die an Platon erinnern oder sogar von Platon-Lektre inspiriert sind, finden sich Kapitel, die auf den ersten Blick der stoischen These vom psychophysischen Holismus widersprechen: Auf und ab und im Kreis bewegen sich die Elemente. Aber die Bewegung des sittlichen Handelns ist nicht davon abhngig, sondern sie ist etwas Hçheres, und indem sie auf einem schwer zu begreifenden Weg voranschreitet, nimmt sie eine glckliche Entwicklung.516
Ferner scheint gegen eine Vermischung von Geist und Kçrper im folgenden Kapitel argumentiert zu werden: Was bedeutet mir das leitende Prinzip meiner Seele, was mache ich jetzt aus ihm und wozu gebrauche ich es jetzt? Es ist doch wohl nicht ohne Geist, losgelçst und abgerissen von der Gemeinschaft, verschmolzen und vermischt mit dem Fleisch, so dass es sich gemeinsam mit diesem verndert?517
Die Unabhngigkeit des Geistes betont Marc Aurel hufig518 und setzt diesen519 dabei scheinbar ganz von den erwhnten Einflssen des Kçrpers ab.520 514 515 516 517 518 519 520
M. Aur. Med. 3, 7. M. Aur. Med. 10, 11. M. Aur. Med. 6, 17. M. Aur. Med. 10, 24. Z. B. „das leitende Prinzip ist vçllig unabhngig“ (M. Aur. Med. 8, 3). Siehe etwa M. Aur. Med. 8, 28 und 29, 48 und 56. „Denk daran, dass es jene in uns verborgene Macht ist, die uns wie Marionetten bewegt. Jene Macht ist unser Sprechen, unser Leben – und wenn man so will – der Mensch. Niemals fhre dir dabei zugleich das dich umgebende Gefß und diese ringsum angebrachten Organe und Glieder vor Augen. Denn sie sind kleinen
484
3. Die Natur des Menschen
Statt einer Verbindung bzw. Einheit von Kçrper und Seele betont Marc Aurel die Unterschiede, insbesondere die Unabhngigkeit des Denkens. Dabei scheint die Andersartigkeit des Geistes eine Rolle zu spielen.521 Aber ist das hinreichend, um einen platonischen Dualismus zu konstatieren, und wenn ja, was fr ein Dualismus liegt hier vor? Offenbar ist bei Marc Aurel an keine Unterscheidung von getrennt existierenden Seinsweisen, dem Sensiblen und Intelligiblen, gedacht.522 Dass er einen ontologischen Dualismus, wie er etwa in Platons Phaidon deutlich wird, auch nur untergrndig annimmt, scheint vor allem deshalb ausgeschlossen zu sein, weil er sich oft eindeutig zur orthodoxen stoischen Position bekennt. Die Grundannahmen stoischer Physik wendet er auf die Bestimmung des Menschen, seine gesamte Existenz und seine Seele an. Ich bestehe aus einer verursachenden Form und aus Materie. Weder Form noch Materie werden in das Nichts vergehen, wie sie ja auch nicht aus dem Nichts entstanden sind. Also wird jeder Teil von mir im Sinne einer Verwandlung in einen Teil des Kosmos bergehen, und dieser wird sich wieder in einen anderen Teil des Kosmos verwandeln und so weiter bis ins Unendliche.523
Die Seele wird hier nicht erwhnt, aber Marc Aurel macht deutlich, dass jeder Teil von ihm durch die stoischen zwei Prinzipien verstanden werden kann und dem elementaren Wandel unterliegt. Marc Aurel erwhnt die „Grundbestandteile, aus denen jedes Lebewesen besteht“.524 Der Gedanke wird in anderen Kapiteln konkret auf die Frage nach dem Fortbestand der Seele angewandt. Das Schicksal der Seelen wird so beschrieben: Dann verwandeln sie sich, gehen in Feuer auf, werden wieder in die zeugende Vernunft des Kosmos aufgenommen und schaffen auf diese Weise Platz fr die neu hinzukommenden Seelen.525
521 522 523 524 525
Gertschaften vergleichbar und nur insofern andersartig, als sie angewachsen sind.“ M. Aur. Med. 10, 38. „Ein Pfeil fliegt auf seine Weise, der Geist geht auf seine Weise vor.“ M. Aur. Med. 8, 60 (Dieses Kapitel ist wohl im Zusammenhang mit dem Kapitel 6, 17 zu lesen). So etwa fhrt das Kapitel nach dem letztgenannten Zitat fort: „Auch wenn der Geist vorsichtig ist und alles grndlich untersucht, geht er doch um nichts weniger geradeaus und auf seinen Gegenstand zu.“ M. Aur. Med. 8, 60. M. Aur. Med. 5, 13. M. Aur. Med. 2, 17. M. Aur. Med. 4, 21.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
485
Nur in diesem Sinne ist ein Fortbestand der Seele mçglich.526 Ein anderes Kapitel ber den Tod kann hnlich verstanden werden. Nachdem Marc Aurel aufgezhlt hat, wie viele bedeutende Philosophen trotz ihres Wissens gestorben sind, fhrt er fort: Wozu sage ich das? Du bestiegst ein Schiff, fuhrst los und landetest wieder. Steig aus. Wenn du in ein anderes Leben bergehst, dann ist auch dort alles von Gçttlichem erfllt. Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhçren, Schmerzen und Freuden zu haben und dem Gefß zu dienen, das so viel weniger wert ist als das, dem es dient. Dieses nmlich ist Geist und gçttliche Kraft, jenes aber nur Erde und Blut.527
Es wird deutlich, dass Marc Aurel auch bei diesem Thema gerne Alternativen erwgt. Die Vorstellung, dass nach dem Tod ein anderes, ebenfalls von Gçttlichem erflltes Leben beginnt, scheint er nicht weiter zu verfolgen. Er scheint die zweite Alternative fr wahrscheinlicher zu halten, derzufolge mit dem Tod dauerhafte Empfindungslosigkeit einsetzt.528 Das Kapitel erçrtert damit jedoch nicht nur die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod, sondern macht deutlich, dass fr Marc Aurel der Kçrper zwar weniger wertvoll ist als der Geist, letzterer aber dadurch fr ihn nichts platonisch Immaterielles wird. Marc Aurel gibt eine Beschreibung der Verbindung von Kçrper und Seele, die genau dem entspricht, was Hierokles darber sagt: Der leitende und herrschende Teil deiner Seele soll nicht berhrt werden von der glatten oder rauen Bewegung in deinem Fleisch und sich nicht damit verbinden, sondern sich selbst abgrenzen und jene in den Gliedern wirkenden Verlockungen einkreisen. Wenn sie aber durch die gegenseitige innere Verbindung in die denkende Seele aufsteigen, wie es in einem einheitlichen Kçrper mçglich sein kann, dann versuche zwar nicht, gegen die sinnliche Wahrnehmung, da sie natrlich ist, anzugehen, aber der leitende Teil der Seele soll von sich aus nicht die Auffassung hinzufgen, dass es sich dabei um etwas Gutes oder etwas Bçses handele.529
526 „Was fr ein Gebilde ist die Seele, die bereit ist, sich vom Kçrper loszulçsen und entweder zu verlçschen oder sich zu zerstreuen oder weiter zu existieren, wenn es sein muss.“ M. Aur. Med. 11, 3. 527 M. Aur. Med. 3, 3. 528 Die Alternativstellung ist platonisch. Im Schlussteil der Apologie erwgt Sokrates sie als Vorstellungen, was der Tod ist und vertritt (anders als in spteren Dialogen) eine agnostische Position. 529 M. Aur. Med. 5, 26 (hnlich auch 10, 24 und 12, 1: „Es sollen dich also weder die Bosheit noch die Annahme noch die Stimme eines anderen hindern und auch nicht die Gefhle des dich umgebenden Fleisches.“).
486
3. Die Natur des Menschen
Obschon Marc Aurel hier auf Grundlage der stoischen Vorstellungen argumentiert, besteht ein Unterschied, der im weiteren Verlauf der Analyse wichtig werden wird, um die zweifelsfrei vorhandene platonisch-dualistische Sprache zu erklren. Whrend die Beschreibung von Hierokles nur die Beeinflussung von Kçper und Seele durch die Bewegungen beschreibt, akzentuiert Marc Aurel die Freiheit der Prohairesis. Er fordert, dass sich Nous oder Hegemonikon bei Urteilen nicht von den Bewegungen des Kçrpers beeinflussen lassen, er nennt es „die Erhebung des denkenden Seelenteils ber die glatte und raue Bewegung des Fleisches“.530 Gleichzeitig kommt diesem eine ethische Bedeutung zu, denn er fordert, Kçrperliches nicht als Gut anzuerkennen. Damit sind bereits die mit der Auffassung vom Menschen eng verbundenen epistemischen und vor allem ethisch-praktischen Aspekte angesprochen, um die es Marc Aurel letztlich geht. Darauf wird noch einzugehen sein. Wichtig ist es zunchst, festzuhalten, dass Marc Aurel hier in bereinstimmung mit der stoischen Orthodoxie argumentiert, dass Seele und Kçrper als zwei kçrperliche Instanzen interagieren kçnnen und ihre Verbindung das Lebewesen ausmacht. Zweifel an der Kçrperlichkeit der Seele rumen auch Kapitel wie das folgende aus: So sei das „Seelchen selbst nur ein Dampf aus dem Blut“.531 Den Menschen und seinen Aufbau aus den vier Elementen und den zwei stoischen Prinzipien macht er in einem langen Kapitel zum Thema oder – wie wir sehen werden – zum Ausgangspunkt. Das Hauchartige in dir und alles Feurige, soweit es ihm beigemischt ist, strebt zwar von Natur aus nach oben, aber es gehorcht trotzdem der Ordnung des Weltganzen und wird hier in der Mischung (des Kçrpers) zurckgehalten. Aber auch das Erdige und Feuchte in dir streben zwar nach unten, aber sie werden trotzdem angeregt und mssen einen nicht-natrlichen Standort einnehmen. So also gehorchen auch die Elemente dem Weltganzen und bleiben zwangslufig an ihrem Platz, sobald sie irgendwo hingestellt wurden, bis von dort wieder das Zeichen zur Auflçsung ertçnt. Ist es denn nicht schlimm, dass nur dein denkender Seelenteil ungehorsam und mit seinem Platz unzufrieden ist? Doch auf ihn wird kein Zwang ausgebt, sondern ihm widerfhrt nur, was seiner Natur entspricht. Allerdings hlt er das nicht aus, sondern strebt in die entgegengesetzte Richtung. Denn die Bewegung zu unrechten Taten, zu zgellosem Verhalten, zu Zornesausbrchen, Schmerzund Angstgefhlen hin ist nichts anderes als Verrat an der Natur.532 530 M. Aur. Med. 10, 8. 531 M. Aur. Med. 5, 33. 532 M. Aur. Med. 11, 20.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
487
Anhand der letzten beiden Zitate mag man bezweifeln, ob es Marc Aurel hier grundstzlich darum geht, die menschliche Natur mit Mitteln der stoischen Physik zu beschreiben oder ob es ihm generell um philosophische Psychologie oder physisch-metaphysisch fundierte Anthropologie geht.533 berhaupt wre es erstaunlich, wenn Marc Aurel, der sich gegen professionelle Schulphilosophie ausspricht, hier theoretisch-konzeptionelles Interesse entwickeln wrde. Vielmehr scheint Marc Aurel alle diese Beschreibungen des Menschen fr praktische Belange verwenden zu wollen. Selbst wenn jedoch die Aussagen ber die Natur des Menschen nicht mit theoretischem Interesse vorgenommen werden, es also gar nicht um Anthropologie allein geht, sondern diese Ausfhrungen nur die Funktion eines „springboards“ (Christopher Gill) haben, so ist es doch entscheidend, ob Marc Aurel stoisches oder platonisches Material verwendet, um von diesem zu seiner Ethik zu gelangen. Von platonischen Vorstellungen aus wre der Sprung grçßer. Im Folgenden ist also zu eruieren, ob die den jeweiligen Kapiteln zugrunde liegende Absicht auch hilft, die platonisch-dualistischen Formulierungen zu erklren. Doch zuvor ist noch auf die zweite Frage, die sich mit dem angeblichen Platonismus verbindet, einzugehen, denn es wurde ja nicht nur der vermeintliche ontologische Dualismus diskutiert, sondern auch die Frage, ob Marc Aurel eine neue Anthropologie entwerfe, der zufolge die Vernunft kein Seelenteil mehr ist.534 Folgende Kapitel haben zu entsprechenden Interpretationen Anlass gegeben: Was ich eigentlich bin, ist ein bisschen Fleisch, ein wenig Atem und das leitende Prinzip meiner Seele. Wirf die Bcher fort. Lass dich nicht mehr qulen – das ist erlaubt –, sondern verachte, als ob du schon sterben msstest, das erbrmliche Fleisch: Schmutziges Blut, Knochen, Gebilde aus Sehnen, Verschlingung von Venen und Arterien. Sieh dir auch an, was der Atem ist: Wind, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick ausgestoßen und wieder eingesogen. Das dritte nun ist das leitende Prinzip der Seele. berlege dir folgendes: Du bist alt. Lass es keine Sklavin mehr sein, lass es nicht mehr in 533 Fr solche berechtigten Zweifel siehe etwa Gill, Ch.: Marcus Aurelius’ Meditations, a.a.O., S. 201 – 2. 534 Eine getrennte und intensive Diskussion der letztgenannten Frage ist auch deshalb interessant, weil einige der Kommentatoren, die eine neue Anthropologie ausmachen, von der jngeren englischen Literatur, die Marc Aurel als reinen Stoiker sieht (hier vor allem Ch. Gill), nicht diskutiert werden.
488
3. Die Natur des Menschen
Abhngigkeit von einem egoistischen Trieb hin und her gerissen sein, lass es nicht mehr zu, dass es mit dem Unausweichlichen unzufrieden ist, wenn es da ist, oder ihm ngstlich entgegensieht, wenn es noch bevorsteht.535 Kçrper, Seele, Geist: Zum Kçrper gehçren die sinnlichen Wahrnehmungen, zur Seele die Anstçße und Antriebe, zum Geist die berzeugungen. Eindrcke zu bekommen mit Hilfe der Vorstellung, ist auch den Tieren auf der Weide mçglich. In Bewegung gesetzt zu werden durch Anstçße und Antriebe ist auch den wilden Tieren, den Schwchlingen, Phalaris und Nero vergçnnt. Den Geist als Fhrer zu dem, was sittlich geboten erscheint, zu haben, liegt auch in der Reichweite der Leute, die nicht an die Gçtter glauben, ihr Vaterland verraten und alles Mçgliche tun, wenn sie ihre Tren geschlossen haben. Wenn also das brige den Genannten gemeinsam ist, dann liegt die spezifische Eigenschaft des guten Menschen nur noch darin, alles, was ihm passiert und bestimmt ist, zu lieben und gern anzunehmen, außerdem die in seinem Herzen wohnende gçttliche Kraft nicht zu verunreinigen oder durch eine Flle von Vorstellungen aufzuregen, sondern in heiterer Ruhe zu belassen, indem sie der Gottheit folgt …536
Diese Trichotomie findet sich auch in der Aufzhlung anderer Kapitel: Seelchen selbst nur ein Dampf aus dem Blut … jmmerlichen Fleisch und dem bisschen Atemluft…537 Das leitende Prinzip der Seele belstigt sich nicht selbst, so reizt es sich nicht selbst dazu an, etwas zu begehren. Wenn aber jemand anders fhig ist, das leitende Prinzip der Seele zu verunsichern oder zu betrben, dann soll er es tun. Denn selbst wird es sich aufgrund seiner eigenen Annahme nicht auf derartige Wege begeben. Der Leib soll, wenn er kann, alles daran setzen, dass er nichts erleidet, und er soll es ruhig sagen, wenn ihm etwas wehtut. Die Seele aber, die in der Lage ist, sich zu frchten, zu trauern und berhaupt in dieser Hinsicht etwas aufzunehmen, soll nicht erwarten, dass sie etwas erleidet. Denn sie hat nicht die Fhigkeit zu einem entsprechenden Urteil. Das leitende Prinzip ist, soweit es selbst betroffen ist, bedrfnislos, wenn es sich nicht selbst ein Bedrfnis erzeugt. In demselben Sinne ist es auch nicht zu stçren und zu behindern, falls es sich nicht selbst stçrt oder behindert.538 Fr meinen freien Willen ist der freie Wille eines Mitmenschen ebenso gleichgltig wie sein Atem und sein Fleisch. Denn auch wenn wir noch so sehr freinander geschaffen worden sind, so haben doch die leitenden Prinzipien unserer Seelen ihre jeweils eigene Entscheidungsfhigkeit.539 Drei Dinge sind es, aus denen du bestehst: Kçrper, Lebensatem und Geist. … Wenn du daher von dir selbst, d. h. von deinem Geist, alles fernhltst, was 535 536 537 538 539
M. Aur. Med. 2, 2. M. Aur. Med. 3, 16. M. Aur. Med. 5, 33. M. Aur. Med. 7, 16. M. Aur. Med. 8, 56.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
489
andere tun oder sagen … was dir von dem Kçrper, der dich umgibt, oder von dem mit ihm verbundenen Lebensatem ohne deine Zustimmung anhaftet und was der von draußen dich umbrandende Wirbel heransplt …„540 Wenn aber die regellose Unordnung herrscht, dann sei froh, dass du in einem solchen Durcheinander einen lenkenden Geist in dir hast. Und wenn dich die Brandung fortreißt, soll sie das Fleisch, den Lebensatem usw. fortreißen. Denn den Geist wird sie nicht fortreißen.541
Das waren Kapitel, die eine Dreiteilung nahelegen. Im Rekurs auf diese Kapitel haben verschiedene Interpreten einen radikalen Bruch mit der stoischen Lehre ausgemacht. Am weitesten geht G. Reale, der von einer „radical innovation“ und von einer „new anthropology“ spricht, die Marc Aurel entwickelt habe, weil er mittelplatonisches Gedankengut aufgenommen und weiterentwickelt habe: It is nevertheless evident that Marcus Aurelius was preoccupied with exactly this, to show that man is not reduced, as are all other things, to a purely physical component and not even to something vital. Mind (nous) arises decisively beyond the vital and the physical, and because of this superiority the destiny and happiness of human beings is decided only through and with nous.542
Reale betont die Identifikation von Nous bzw. Hegemonikon mit dem inneren Daimon, wobei er in Marc Aurels Rede vom inneren Daimon eine neue Religiositt ausmacht.543 Entsprechende Ausdrcke in den Selbstbetrachtungen sind fr ihn „now charged with a new meaning“544. Wegen dieser neuen Anthropologie und Religiositt weise Marc Aurel auf ein neues Lebensmodell hin, ein „live according to principles which transcend nature“.545 R. Neuenschwander erkennt gemß seiner Grundthese, der zufolge Marc Aurels Gedanken weitgehend auf Poseidonius beruhen, auch hier, wenn auch vorsichtiger, an, es drfe „auch fr die hier vertretene NousLehre tatschlich an Poseidonius gedacht werden.“546 Dabei betont er ei-
540 541 542 543
M. Aur. Med. 12, 3. M. Aur. Med. 12, 14. Reale, G.: The Schools of the Imperial Age, a.a.O., S. 94. „The religious sentiment in Marcus Aurelius was also much further developed.“ Ebd., S. 95. 544 Reale, G.: The Schools of the Imperial Age, a.a.O., S. 94. 545 Ebd., S. 95 (Hervorheb. M.v.A.). 546 Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O., S. 52.
490
3. Die Natur des Menschen
nerseits, dass Poseidonius kein Dualist gewesen sei, andererseits, dass bei Marc Aurel viel Neuplatonisches vorweggenommen sei.547 H. Erbse vermutet – unabhngig von R. Neuenschwander – Einflsse von Poseidonius, aber konstatiert vor allem, dass die Selbstbetrachtungen zwei Konzepte vertreten: Einmal eine stoisch-orthodoxe Unterscheidung von Kçrper und Seele und dann eine damit unvereinbare Trichotomie, um so das System der stoischen Lehre in grundlegenden Fragen zu verlassen …dem Kçrper kommen die sinnlichen Wahrnehmungen zu, die Seele ist das Substrat der Affekte, der Geist erfllt die Denkttigkeit. s_la und xuw^ sind kçrperlich gedacht, der moOr dagegen ist gçttlicher Herkunft und immateriell gedacht.548
Die neue Nous-Konzeption, so Reale, habe Marc Aurel eingefhrt, denn im stoischen System „fehlte ihm doch das transzendentale, unfassliche Moment“.549 Soweit die Kapitel der Selbstbetrachtungen, die eine Trichotomie in der Anthropologie Marc Aurels andeuten, und die Interpretationen, die dies als neu und von der stoischen Lehre abweichend verstehen. Eine Einschtzung dieser Texte und Deutungen ist jedoch nur sinnvoll, wenn alle anderen Passagen mit einbezogen werden, in denen Marc Aurel sich zu dem ußert, was den Menschen ausmacht. Denn erst im Kontext dieser Passagen kann ein umfassendes Urteil ber die Anthropologie Marc Aurels erfolgen. Dies betrifft hier die Fragen, ob ihm berhaupt an der Darlegung einer solchen Auffassung gelegen ist, ob er eine solche Ansicht vertritt oder inkonsistente Positionen vertritt bzw. wie diese zu bewerten sind, also etwa als stoisch, platonisch, eklektisch usw.
547 Siehe dazu Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, a.a.O. 548 Erbse, H.: Die Vorstellung von der Seele bei Marc Aurel, a.a.O., S. 130 und 131. 549 Ebd., S. 139. In diesem Kontext ist auch die Deutung der Ttigkeit des Geistes durch Farquharson zu erwhnen. Im Anschluss an das Kapitel 8, 57 spricht er von einer umfangreichen Vorwegnahme neuplatonischen Denkens und einem „semimystical tenet“ und erwhnt dazu eine Reihe frhchristlicher Texte. Allerdings werden die Deutungen dann wieder eingeschrnkt: „We must, however, hesitate before giving a mystical interpretation to the words of a writer who is above all simple and direct in his moral teaching. He seems rather to seek an illustration from the phenomena of light than to hint at a deeper religious significance…“ (Farquharson, A. S. L.: The Meditations of the Emperor Marcus Antoninus, a.a.O., Bd. I, S. 376 – 7).
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
491
Die bislang zitierten Kapitel explizieren eine Trichotomie, wobei es folgende Varianten gibt: (i) saqj_diom pmeul\tiom moOr/Bcelomijºm550 (ii) syl\tiom pmeul\tiom moOr551 (iii) s\qn pmeul\tiom Bcelomijºm552 (iv) syl\tiom xuw^ Bcelomijºm553 (v) jqeõdiom xuw\qiom/pmeul\tiom (leitender Teil unbenannt)554 (vi) s_la xuw^ moOr555 (vii) saqj_om pmeul\tiom Bcelomijºm556 Diese Nennungen lassen sich leicht auf zwei Varianten reduzieren. Denn erstens verwendet Marc Aurel auch hier gerne diminutive Formen, ohne dass das Referenzobjekt des Ausdruckes sich ndert.557 Zweitens sind einige Ausdrcke fr die Zwecke der Aufzhlung von Teilen, aus denen der Mensch besteht, offensichtlich synonym. Daher lassen sich die Passagen auf die folgende eine Dreiteilung reduzieren: (viii) s\qn/s_la xuw^/ pmeul\tiom moOr/Bcelomijºm Was die Verwendung synonymer Ausdrcke angeht, ist auffllig, dass Marc Aurel zwar generell moOr, di\moia, Bcelomijºm, (inneren) da_lym synonym verwendet, in allen Kapiteln, die eine Dreiteilung darlegen, jedoch auf den Ausdruck da_lym verzichtet. Zumindest im Hinblick auf die Deutungen von G. Reale und H. Erbse, die die Neuerung der Konzeption von Marc Aurel mit dem Hinweis auf besonders einschlgige religiçse Implikationen begrnden, ist dies bedenkenswert. Neben dieser Trichotomie findet sich eine Reihe von Passagen, die die Annahme eines Leib-Seele-Dualismus nahelegen. Neben den vielen bereits zitierten Kapiteln ist vor allem folgendes zu bercksichtigen: „Wirst du irgendwann einmal, meine Seele, gut und einfach, eins mit dir selbst und unverhllt sein, offener als der Kçrper, der dich umgibt?“558 550 551 552 553 554 555 556 557 558
M. Aur. Med. 12, 14. M. Aur. Med. 12, 3. M. Aur. Med. 8, 56. M. Aur. Med. 7, 16. M. Aur. Med. 5, 33. M. Aur. Med. 3, 16. M. Aur. Med. 2, 2. Auf die Bedeutung der Diminutive wird jedoch gleich noch einzugehen sein. M. Aur. Med. 10, 1.
492
3. Die Natur des Menschen
Schließlich scheint Marc Aurel am Menschen gar nicht verschiedene Aspekte unterscheiden zu wollen, sondern ihn ganz auf das Hegemonikon zu reduzieren.559 In hnlicher Intention wie hier ber den Geist (Dianoia) spricht Marc Aurel jedoch auch ber die Seele, den Ort, an den man sich zurckzieht, wenn man sich in sich selbst zurckzieht.560 In Bezug auf Marc Aurels Auffassung vom Menschen ist die Befundlage damit zunchst wie folgt zu beschreiben. Es scheint nicht eine Auffassung vorzuliegen, sondern es finden sich, neben zahlreichen trichotomischen Bestimmungen des Menschen, viele Varianten einer dualistischen Konzeption und schließlich, wenn auch wenige, essentialistische Formulierungen. Fr jede dieser drei Auffassungen ist unklar, was mit ihr zum Ausdruck gebracht wird und wie ihr Verhltnis zu den anderen ist. Dabei ist besonders fraglich, ob mit der Verwendung platonischen Vokabulars auch in der Sache solche Dualismen gemeint sind, und wenn ja, welche? Vertritt Marc Aurel damit auch eine platonisch-stoisch gemischte Anthropologie oder neben der stoischen auch eine platonische? Der Frage, ob eine Anthropologie isoliert vorliegt oder isolierbar ist, kann grundstzlicher Zweifel entgegengebracht werden, weil Marc Aurel theoretische Ambitionen weder auf dem Gebiet der Anthropologie noch der philosophischen Psychologie und deren ontologisch-metaphysischen Fundierung hat. Mit einem solchen Einwand, so berechtigt er im Falle Marc Aurels auch ist, wird jedoch keine der gerade erwhnten problematischen Frage beantwortet. Wie sind die vielen Kapiteln jeweils zu verstehen? Auf Grundlage einer Antwort werden dann Rckschlsse auf den Charakter der Philosophie Marc Aurels, die Frage nach dem Eklektizismus, mçglich sein. Zunchst ist noch einmal auf den vermeintlich platonischen Dualismus einzugehen. Im Rahmen dieses Kapitels wurde bereits dafr argumentiert, dass Marc Aurel nicht nur an keiner Stelle fr eine immaterielle Seele argumentiert, sondern hufig dezidiert die Gegenthese vertritt. Kçrper und Seele gehçren also nicht grundstzlich distinkten ontologischen Klassen an. Wie aber sind dann die zahlreichen platonisch anmutenden Formulierungen zu erklren? 559 Siehe M. Aur. Med. 12, 3. 560 „Drei Dinge sind es, aus denen du bestehst, Kçrper, Lebensatem und Geist. Die ersten beiden sind insofern dein Besitz, als du dich um sie kmmern musst, aber nur der dritte ist im eigentlichen Sinne dein Eigentum. Wenn du daher von dir selbst, d. h. deinem Geist, alles fernhltst….“ M. Aur. Med. 12, 3.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
493
Einen ersten Hinweis liefert Epiktet, bei dem wir hnliche Textabschnitte finden. Denn auch Epiktet orientiert sich sprachlich an Platons Phaidon, wenn er von der Gefangenschaft bzw. den Ketten des Kçrpers spricht, in denen die Seele sich befindet.561 Auch er fasst Kçrper und Seele als starken Gegensatz auf. … da wir von zusammengesetzter Natur sind und teils aus einem Leibe, den wir mit den Tieren teilen, teils aus Vernunft und Willen bestehen, die wir mit den Gçttern gemein haben, so neigen sich viele auf die Seite dieser armseligen sterblichen, wenige hingegen auf die Seite jener gçttlichen und glckseligen Verwandtschaft hin. Da es nun nicht anders sein kann, als dass man mit jeder Sache seinen Vorstellungen gemß umgeht, die man sich dazu gemacht hat, so werden die wenigen, welche glauben zur Treue, zur Ehre, zum sicheren Gebrauche der Vorstellungen geboren zu sein, weder niedrig noch gering von sich denken. Bei dem großen Haufe aber muss sich wohl das Gegenteil finden. Was bin ich denn, sagt man. – Ein armer elender Mensch! Schwaches hinflliges Fleisch! – Das ist wahr; aber du hast auch etwas Besseres als dieses arme Fleisch. Warum setzt du denn jetzt jenes Edlere hintan und heftest dich an dieses fest?562
Dieser Ausschnitt aus der kurzen Diatribe 1, 3 erwhnt in komprimierter Form neben einer Opposition von Kçrper einerseits und den anderen Vermçgen (Vernunft und Willen) andererseits darber hinaus erstens auch eine scala naturae und zweitens, mit der grundstzlichen Bedeutung von Vorstellungen, epistemische Aspekte. Diese beiden letztgenannten Momente sind nicht nur fr Epiktet, sondern auch fr Marc Aurel von großer Relevanz fr die Bestimmung der Natur des Menschen. Daher wird darauf zurckzukommen sein. Zunchst aber ist zur vermeintlich platonischen Opposition von Kçrper und Seele bei Epiktet zu sagen, dass die negativen Formulierungen wohl ohne eindeutige Vorlufer in der stoischen Tradition sind. Denn gut kçnnen nach klassischer stoischer Auffassung bestimmte Leistungen der Seele sein, whrend der Kçrper zum indifferenten Bereich gehçrt. Als solcher ist er aber nicht schlecht und keineswegs Gegenstand von Abwertungen oder wird als Grund fr die Schlechtigkeit bezeichnet. Dieses 561 Epiktet sagt seinen Schlern, „dass der Leib und seine Habe und alles, was man zum Hauswesen und Umgang mit der Welt nçtig hat, Fesseln sind, in denen wir stecken…“ (Arr. Epict. diss. 1, 9, 11). Noch deutlich auf den Phaidon verweist die anschließende Frage, ob der Selbstmord erlaubt sei, um die Seele schneller vom Gefngnis des Kçrpers zu befreien und die Antwort Epiktets, die der des Sokrates entspricht. ber den Todeszeitpunkt bestimmen die Gçtter durch ein Signal, nicht der Mensch selber. 562 Arr. Epict. diss. 1, 3, 3 – 6.
494
3. Die Natur des Menschen
Verhltnis von Kçrper und stoischer Wertelehre erwhnt Epiktet nirgends, stattdessen finden sich klar negative Formulierungen. Obschon sich Epiktet nicht fr die materiellen Aspekte, die konstituierenden Elemente von Vernunft und Willen, interessiert, erklrt er eher beilufig, dass Vernunft aus Pneuma besteht.563 Hinter den Formulierungen Epiktets verbirgt sich also kein platonischer Immaterialismus. A. A. Long fasst in seiner Epiktet-Studie zusammen: … we should take this sharp contrast between the body and the mind to be Platonic in an ethical rather than a metaphysical sense … What he wants to emphasize is a duality in our human constitution that gives the option of deciding whether we shall be godlike (by identifying with our minds) or merely animal (by identifying with our bodies).564
Der Gegensatz hat fr Epiktet demnach keine metaphysisch-ontologischen Implikationen. Auch ihm scheint generell nicht viel an der Ausarbeitung einer solchen metaphysischen Hintergrundstheorie fr sein ebenfalls vorrangig ethisches Anliegen zu liegen. Damit besteht ein erster Vergleichspunkt zu Marc Aurel. Auch er whlt Formulierungen, die eine Opposition von Kçrper und geistigen Vermçgen ausdrcken, um sich bestimmte Prferenzen fr Entscheidungen zu verdeutlichen. Dabei spricht er, wie Epiktet, dem Kçrper nur instrumentellen Wert zu: Die durch den Kçrper vermittelte Wahrnehmung und die entsprechenden Vorstellungen sollen geprft werden, und zwar um zu entscheiden, was wertvoll und Gegenstand bzw. Ziel von Handlungen sein soll.565 Bei dieser Prfung und Entscheidung soll die Seele aber unabhngig sein. Genau das ist die Bedeutung der oftmals platonisch formulierten Unterscheidung von Kçrper und Seele. Generell soll ein ethisches Argument vorgebracht werden, aber dieses bezieht sich nicht nur einfach auf Wertungen darber, was ein Gut ist, was indifferent ist. Es geht bereits bei den dualistisch formulierten Kapiteln bei Epiktet wie auch bei Marc Aurel um einen anderen Aspekt, der spezifisch stoisch ist: die Freiheit der Entscheidungen (pqoa_qesir). Der Gegensatz ist also kein metaphysischer, aber auch kein ethischer, zumindest dann, wenn es nur um Wertungen geht. Es geht um die Freiheitssphre des Geistes beim Urteilen. Die platonisch anmutenden dualistischen Formulierungen die563 Siehe Arr. Epict. diss. 2, 23, 3 und 3, 3, 22. 564 So die bemerkenswerte Beobachtung von Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., S. 158. 565 Siehe dazu etwa M. Aur. Med. 3, 6.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
495
nen also einem spezifisch stoischen Anliegen. Wenn Marc Aurel schreibt: „das leitende Prinzip ihrer Seele war vçllig unabhngig“566, mçchte er es ganz von diesem Bereich,567 ganz von den erwhnten Einflssen des Kçrpers absetzen.568 Mit der Betonung dieser Unabhngigkeit geht nicht notwendig eine komplette Abwertung oder ein ontologischer Dualismus einher. Dass dem Kçrper instrumenteller Wert zukommt, heißt gerade nicht, dass er vçllig abgetçtet werden muss. Die Neutralitt und Offenheit diesbezglich wird von Marc Aurel gelegentlich hervorgehoben. Die Untersuchung der Passagen, die einen Dualismus nahe legen, liefert damit auch den Schlssel zum Verstndnis der Kapitel, die eine Trichotomie beinhalten. Letztere betonen nicht nur die Unabhngigkeit des Nous oder Hegemonikons vom Kçrper, sondern betrachten diese Freiheit differenzierter, indem die freie Instanz von zwei anderen Instanzen im Menschen unterschieden wird. Doch zuvor ist eine letzte Beobachtung zu den dualistischen Formulierungen zu erwhnen. Die Abwertungen des Kçrpers sind nicht als platonisch inspiriert zu verstehen. Es gibt einige auffllige Formulierungen, die kynisch wirken, besonders mit harschen entwertenden und diminutiven Wortformen, womit Kçrper, Kçrperteile oder -vorgnge bezeichnet werden.569 Obschon sich die Kyniker wie die Stoiker und eben Platon auch als Sokratiker verstehen, unterscheiden sie sich gerade durch die Nicht-Akzeptanz bestimmter metaphysischer Annahmen, die besonders Platon vertreten hat. Untersttzt wird diese Einschtzung durch die Beobachtung, dass Marc Aurel auch die Seele diminuiert. Die sehr hufige Rede von einem Seelchen (xuw\qiom)570 zeigt, dass Marc Aurel der Seele keinen erhabenen ontologischen Sonderstatus zubilligt, sondern auch sie fr ihn keinen Bestand hat und Teil des schnellen kosmischen Metabolismus ist.571 566 M. Aur. Med. 8, 3. 567 Siehe etwa M. Aur. Med. 8, 28; 8, 29; 8, 48; 8, 49; 8, 56. 568 „Denk daran, dass es jene in uns verborgene Macht ist, die uns wie Marionetten bewegt. Jene Macht ist unser Sprechen, unser Leben und – wenn man so will – der Mensch. Niemals fhre dir dabei zugleich das dich umgebende Gefß und diese ringsum angebrachten Organe und Glieder vor Augen. Denn sie sind kleinen Gertschaften vergleichbar und nur insofern andersartig, als sie angewachsen sind.“ M. Aur. Med. 10, 38. 569 Siehe Kap. I 5. 570 M. Aur. Med. 4, 41; 5, 33; 7, 16; 9, 3; 9, 27; 9, 34; 10, 36; 12, 26. 571 „Was hlt uns also hier noch fest, wenn die wahrnehmbaren Dinge dem schnellen Wandel unterworfen sind und keinen Bestand haben, unsere Wahrnehmungsor-
496
3. Die Natur des Menschen
Von Platons erhabener Rede ber die Seele findet sich bei genauer Betrachtung hier keine Spur mehr. Der Ausdruck Seelchen muss nicht unbedingt eine Erfindung von Marc Aurel sein, aber es ist doch signifikant, dass er sie acht Mal verwendet. Und das unterscheidet ihn sogar von Epiktet. In den Aufzeichnungen Arrians taucht der Ausdruck nur ein einziges Mal auf.572 Marc Aurel schreibt sich selbst etwas von Epiktet auf: „Ein armseliges Seelchen bist du, das einen Leichnam mit sich herumschleppt, wie Epiktet sagte.“573 Es kçnnte gut sein, dass Marc Aurel hier Epiktet aus dem Kopf zitiert oder paraphrasiert und dabei xuw\qiom verwendet. Obschon er damit sicher Epiktets grundstzliche Auffassung wiedergibt,574 so weist die hufige Verwendung von xuw\qiom doch auf eine Vorstellung, die spezifisch fr Marc Aurel ist. Farquharson nennt eine Reihe von Texten, die ihrerseits fr Epiktet Vorbild gewesen sein kçnnen. Aber auch diese Texte sprechen von xuw^ und nicht von xuw\qiom. Es muss hier auch nicht entschieden werden, ob Marc Aurel die Redeweise vom „Seelchen“ als erster einschlgig verwandte oder gar populr gemacht hat. Sicher und hier entscheidend ist, dass Marc Aurel mit der hufigen Rede vom Seelchen etwas Unplatonisches zum Ausdruck bringt.575 Seine Philosophie ist monistisch auch in dem Sinne, dass selbst der Rckzug in die innere Burg, die Seele, keine Rettung vor dem kosmischen Wandel oder gar Unsterblichkeit gewhrt. Der Seele steht dasselbe Schicksal wie dem Kçrper bevor, die schnelle Auflçsung. Nun aber zu den Kapiteln die eine Trichotomie enthalten. Auch im Falle von Aussagen ber den Menschen ist zu betonen, dass es Marc Aurel nicht an einer theoretischen Ausarbeitung von Anthropologie
572 573 574 575
gane stumpf und leicht zu tuschen sind, das erbrmliche Seelchen selbst nur ein Dampf aus dem Blut ist und der Ruhm bei solchen Geschçpfen sich als vçllig wertlos erweist? Wie soll es weitergehen? Du wartest mit heiterer Resignation auf das Verlçschen oder den bergang.“ M. Aur. Med. 5, 33. Siehe Arr. Epict. diss. 3, 2, 10. M. Aur. Med. 4, 41. Z. B. Arr. Epict. diss. 3, 10, 15. Davon unberhrt taucht der Terminus psycharion bei Platon selbst bereits zweimal auf: Resp. 519a und Theait. 195a. In beiden Fllen wird nicht Platons eigene Position beschrieben, sondern eine schlechte Seele oder eine rumliche Vorstellung von der Seele verchtlich gemacht. Platon nimmt den Ausdruck psycharion niemals fr die Beschreibung der eigenen Theorie in Anspruch.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
497
oder gar einer neuen Anthropologie gelegen ist. Eine neue Anthropologie, die nicht zu einer Verbesserung der Praxis fhrt, wrde er als nutzlos erachten. Es geht hier offenbar nicht um eine przise und eindeutig ausformulierte Theorie. Die Thesen, dass die Gruppe von Kapiteln, die einen Dualismus enthalten, und diejenigen, die eine Trichotomie explizieren, unvereinbar seien,576 oder eine eklektische, weil stoisch-platonische Position beschreiben wrden, gehen beide davon aus, dass Marc Aurel in diesen Kapiteln je dogmatisch eine „neue“ Anthropologie zum Ausdruck bringe. Was aber, wenn beide Kapitelgruppen nur einem Ziel dienen, nmlich einem stoischpraktischen Anliegen? Die folgenden Ausfhrungen versuchen zu zeigen, dass die Dreiteilung und die Verwendung von platonischem Vokabular vor dem Hintergrund dieses praktischen Zieles erklrt werden kann. Einen ersten Hinweis darauf, dass sich hinter der platonischen Sprache nicht unbedingt eine entsprechende Theorie verbirgt, liefert der Umstand, dass Marc Aurel die Dreiteilung in keiner Variante dazu verwendet, eine Ursache fr schlechtes Handeln, fr Untugend, auszumachen. Wie die Kapitel, die einen Gegensatz von Seele und Kçrper beschreiben, den Kçrper oder einen begehrenden Seelenteil nicht als Ursache fr Schlechtes bezeichnen, so wird auch in den Kapiteln mit einer Dreiteilung keine schlechte Instanz identifiziert. Die Qualitt des Lebens hngt von den Urteilen ab, und darin ist der Mensch frei, also kann nur dort der Fehler liegen, der eine falsche Handlung erklrt.577 Worum geht es Marc Aurel nun in den Kapiteln, die eine Trichotomie nahelegen? Auffllig ist erstens, dass die Kapitel alle mit der Erwhnung von drei Instanzen beginnen. Die Dreiteilung wird in keinem Fall eingehender eingefhrt, begrndet oder ausgefhrt. Marc Aurel scheint sich nicht bewusst zu sein, dass er hier, zumindest vom Standpunkt stoischer Schulphilosophie aus, Ungewçhnliches behauptet. Annas und Gill weisen auch hier darauf hin, dass seine Bemerkungen, er sei kein professioneller Philosoph, auch erklren, warum er auf diesem Gebiet wenig theoretische Ambitionen hat. Jedes Mal geht es Marc Aurel um ein praktisches Anliegen, das weitgehend dem Epiktets entspricht. Zwei Aspekte dieser praktischen Zielsetzung kçnnen unterschieden werden. Erstens gilt fr Epiktet allgemein, dass fr das Glck nicht die Dinge, sondern unsere Urteile darber entscheidend sind. Als solches ist Glck im 576 So Erbse, H.: Die Vorstellung von der Seele bei Marc Aurel, a.a.O. 577 Zu diesem wichtigen Punkt siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 160 f.
498
3. Die Natur des Menschen
menschlichen Verfgungsbereich etwas, das von der Prohairesis abhngt. Damit ist auf die Bedeutung des Urteilens fr den tatschlichen Erfolg der praktischen Ethik hingewiesen. Mit der Vorstellung, dass die Entscheidungen ganz im eigenen Verfgungsbereich liegen, ist eine methodische Annahme ber negative Freiheit verknpft, nmlich, dass die urteilende Instanz unbeeinflusst von Sinneseindrcken oder anderen Bestrebungen der Seele entscheiden kann. Zweitens und etwas spezifischer gilt fr Epiktet, dass alles, was mit dem Kçrper und nicht den Entscheidungen des freien Hegemonikons zu tun hat, kein Gut, sondern indifferent ist und daher kein inhaltliches Kriterium fr das Handeln darstellt. Es kann gezeigt werden, dass Marc Aurel die erwhnte Trichotomie inkl. der platonischen Formulierungen dazu verwendet, genau diese beiden genuin stoischen Ziele zu verfolgen: Kçrper, Seele, Geist: Zum Kçrper gehçren die sinnlichen Wahrnehmungen, zur Seele die Anstçße und Antriebe, zum Geist die berzeugungen. Eindrcke zu bekommen mit Hilfe der Vorstellung, ist auch den Tieren auf der Weide mçglich. In Bewegung gesetzt zu werden durch Anstçße und Antriebe, ist auch den wilden Tieren, den Schwchlingen, Phalaris und Nero vergçnnt. Den Geist als Fhrer zu dem, was sittlich geboten erscheint, zu haben, liegt auch in der Reichweite der Leute, die nicht an die Gçtter glauben, ihr Vaterland verraten und alles Mçgliche tun, wenn sie ihre Tren geschlossen haben. Wenn also das brige den Genannten gemeinsam ist, dann liegt die spezifische Eigenschaft des guten Menschen darin, alles, was ihm passiert und bestimmt ist, zu lieben und gern anzunehmen, außerdem die in seinem Herzen wohnende gçttliche Kraft nicht zu verunreinigen oder durch eine Flle von Vorstellungen aufzuregen, sondern in heiterer Ruhe zu belassen, in die sie der Gottheit folgt …578
Das Kapitel wechselt sehr schnell von einer anthropologischen Perspektive zur Ethik. Denn statt das Spezifische des Menschen bestimmt Marc Aurel das Spezifische des guten Menschen. Und das liegt in der Fhigkeit, stoisch zu leben. Die Beschreibung hnelt anderen Kapiteln ber die richtige Lebensfhrung.579 Und diese Darstellung rekurriert dann aber wieder auf den Kapitelanfang, denn die Qualitt des Lebens basiert auf der Unabhngigkeit der Vorstellungen von sinnlichen Eindrcken. Diese Unabhngigkeit exemplifizieren einige der anderen Kapitel, die eine Dreiteilung beinhalten, genauer. Beide fr Epiktet580 wichtigen As578 M. Aur. Med. 3, 16. 579 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 17. 580 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 3, 8, 5.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
499
pekte finden sich bei Marc Aurel wieder. Zum einen wird die grundstzliche Bedeutung der Unabhngigkeit des Urteils betont.581 Marc Aurel erwhnt „Verlockungen in den Gliedern“, und damit ist bereits der zweite speziellere Aspekt angesprochen, dass Kçrperliches kein inhaltliches Kriterium fr eine (Handlungs-)Entscheidung darstellen darf, weil es sich dabei um Indifferentes handelt. Marc Aurel verwendet klassische und rein stoische Theorie um alle Entitten durch verschiedene Grade der Teilhabe am aktiven Prinzip zu erklren und so in eine Hierarchie zu berfhren.582 Gleichzeitig folgt aus dieser Auffassung von Dingen und ihrer Ordnung, dass Kçrperliches fr die Entscheidungen des denkenden Teils keinen Wert darstellt und deshalb davon unabhngig ist.583 581 „Der leitende und herrschende Teil deiner Seele soll nicht berhrt werden von der glatten oder rauen Bewegung in deinem Fleisch und sich nicht damit verbinden, sondern sich selbst abgrenzen und jene in den Gliedern wirkenden Verlockungen einkreisen. Wenn sie aber durch die gegenseitige innere Verbindung in die denkende Seele aufsteigen, wie es in einem einheitlichen Kçrper mçglich sein kann, dann versuche zwar nicht, gegen die sinnliche Wahrnehmung, da sie natrlich ist, anzugehen, aber der leitende Teil der Seele soll von sich aus nicht die Auffassung hinzufgen, dass es sich dabei um etwas Gutes oder Bçses handele.“ M. Aur. Med. 5, 26. 582 „Das meiste von dem, was die Masse bewundert, lsst sich auf die allgemeinsten Gegenstnde zurckfhren, die von einer inneren Kraft oder Natur zusammengehalten werden: auf Steine, Holz, Feigenbume, Weinstçcke, Oliven. Was von etwas hçher stehenden Menschen bewundert wird, lsst sich auf Sachen zurckfhren, die von einer Seele zusammengehalten werden, wie z. B. Schaf- oder Ziegenherden. Was von noch hçher gebildeten Menschen bewundert wird, geht auf die Dinge zurck, die von einer vernnftigen Seele zusammengehalten werden, allerdings nicht von der Seele des Weltganzen, sondern insofern sie knstlerisch begabt oder in anderer Hinsicht gebt ist, oder es geht – einfach ausgedrckt – auf den Besitz einer Menge von Sklaven zurck. Wer aber eine vernnftige, das Ganze umfassende und auf die Gemeinschaft bezogene Seele in Ehren hlt, kmmert sich nicht mehr um die anderen Dinge, sondern sorgt vor allem dafr, dass seine Seele ihre vernnftige und gemeinschaftsbezogene Haltung und Aktivitt bewahrt und arbeitet deswegen mit dem zusammen, was seinem Wesen verwandt ist.“ M. Aur. Med. 6, 14. 583 „Das leitende Prinzip der Seele belstigt sich nicht selbst, so reizt es sich nicht selbst dazu an, etwas zu begehren. Wenn aber jemand anders fhig ist, das leitende Prinzip der Seele zu verunsichern oder zu betrben, dann soll er es tun. Denn selbst wird es sich aufgrund seiner eigenen Annahme nicht auf derartige Wege begeben. Der Leib soll, wenn er kann, alles daran setzen, dass er nichts erleidet, und er soll es ruhig sagen, wenn ihm etwas wehtut. Die Seele aber, die in der Lage ist, sich zu frchten, zu trauern und berhaupt in dieser Hinsicht etwas aufzunehmen, soll nicht erwarten, dass sie etwas erleidet. Denn sie hat nicht die Fhigkeit zu einem entsprechenden Urteil. Das leitende Prinzip ist, soweit es selbst betroffen ist, be-
500
3. Die Natur des Menschen
Damit betont Marc Aurel den Unterschied der urteilenden Instanz zum Kçrper. Die Dreiteilung ist mit dem praktischen Anliegen aber erst dann gut erklrt, wenn auch die Unterscheidung von Bcelomijºm oder moOr und xuw^ bzw. pmeOla verstndlich gemacht wird. Offensichtlich verbindet Marc Aurel mit xuw^ und pmeOla (i) bestimmte kçrperliche Aspekte, die er, wie gerade erlutert, von Urteilen unterscheiden mçchte. Dieser Schluss scheint erlaubt zu sein, weil Marc Aurel von der Seele als Ausdampfung des Blutes, also von ihr als etwas Kçrperlichem spricht. Marc Aurel sttzt sich (ii), wie Ch. Gill gezeigt hat, in anderen Kapiteln584 auf stoische Vorstellungen, in denen der Hauch (oder das Feuer) als ein kçrperlicher Aspekt des aktiven Prinzips verstanden wird. (Fr Epiktet hat A. A. Long bereits gezeigt, das dessen Verwendung von pmeOla keine signifikante Abweichung von der stoischen Lehre beinhaltet585). Indem Marc Aurel also in einigen Kapiteln Bcelomijºm oder moOr von der Seele, verstanden als pmeOla, unterscheidet, betont er nochmals die Unabhngigkeit und Freiheit der Entscheidung von jeglichen kçrperlichen Aspekten, auch denen, die zur Seele gehçren. Marc Aurel mçchte die denkende und lenkende Instanz des Menschen nicht nur von Sinneseindrcken und Bewegungen des Kçrpers abgrenzen, sondern – wie Epiktet586 – auch von anderen Bestrebungen der Seele.587 Trotz der nicht ganz orthodoxen Sprache darf die Trichotomie in den Kapiteln also nicht vom stoischen und praktischen Anliegen isoliert werden.588 Abschließend ist noch kurz ein weiteres vermeintlich platonisches Moment in Marc Aurels Aussagen zu erlutern. Marc Aurel spricht in
584 585 586 587
588
drfnislos, wenn es nicht selbst ein Bedrfnis erzeugt. In demselben Sinne ist es auch nicht zu stçren und zu behindern, falls es sich nicht selbst stçrt oder behindert.“ M. Aur. Med. 7, 16 (siehe ebenfalls 5, 26). Siehe z. B. M. Aur. Med. 11, 20. Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 2, 23, 3; 3, 3, 22. Siehe dazu Long, A. A.: Epictetus, a.a.O., S. 158. Siehe etwa M. Aur. Med. 3, 16. „Sieh dir auch an, was der Atem ist: Wind, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick ausgestoßen und wieder eingesogen. Das dritte nun ist das leitende Prinzip der Seele. berlege dir folgendes: Du bist alt. Lass es keine Sklavin mehr sein, lass es nicht mehr in Abhngigkeit von einem egoistischen Trieb hin und her gerissen sein, lass nicht mehr zu, dass es mit dem Unausweichlichen unzufrieden ist, wenn es da ist, oder ihm ngstlich entgegensieht, wenn es noch bevorsteht.“ M. Aur. Med. 2, 2. Zu demselben Ergebnis kommt auch Gill, Ch.: Marcus Aurelius’ Meditations, a.a.O.
3.1 Marc Aurels Auffassung von Kçrper und Seele – ein Platonismus?
501
essentialistischer Weise vom Hegemonikon als dem, was „im eigentlichen Sinne dein Eigentum“ ist.589 Das klingt platonisch590 (und zum Teil aristotelisch591). Doch auch hier handelt es sich eher um eine sprachliche Frbung als um eine wirklich tiefgehende Strçmung im Denken Marc Aurels. Denn zum einen zeigen diese Passagen ein sehr seltenes Phnomen. In vielen Kapiteln sagt er, dass er aus drei Dingen bestehe. Und auch das Kapitel 12, 3, das die essentialistische Formulierung enthlt, beginnt so: „Drei Dinge sind es, aus denen du bestehst: Kçrper, Lebensatem und Geist…“592 Mit der Aussage, dass nur der Geist im eigentlichen Sinne ihm gehçre, ist also wohl eher die stoische Vorstellung von der Freiheit des Geistes gemeint. Ch. Gill fgt ein weiteres Argument hinzu: But there is a further important difference in Marcus’ use of this motif. In Plato and Aristotle, the essentialist move is used in order to provide an ontological or metaphysical basis for an ethical claim. Roughly, the claim is that because we are, essentially, certain kinds of entity, we should give special value to this aspect of ourselves and our lives accordingly. In Marcus the versions of the essentialist move are not used in the same way. The ethical message (exercising rational agency to seek virtue) is already assumed as guiding theme of the Meditations, and is not grounded or supported by reference to the characterisation of our nature; our nature (what we are) is presented as background fact, against which the appeal to exercise agency is made.593
Dieses Argument kann zumindest teilweise angezweifelt werden. Sicher ist es korrekt, dass Marc Aurel auf die metaphysisch-ontologische Fundierung seiner ethischen berzeugungen wenig Wert legt, insofern er nicht glaubt, dass in jedem Kapitel eine theoretische Fundierung notwendig ist, um davon eine stoische Ethik abzuleiten.594 Und, wie gezeigt, grndet Marc Aurel seine praktischen Folgerungen nicht auf eine platonische oder gar ganz neue oder auch nur eklektische Anthropologie. Dennoch haben seine Ausfhrungen zur Natur des Menschen teilweise mehr Bedeutung als ein „background fact“. Dies gilt vor allem fr die Bestimmung des Menschen als einem Wesen, das wegen seiner Vernunftbegabung in einem besonderen 589 590 591 592 593 594
M. Aur. Med. 12, 3 (siehe auch 2, 2). Siehe Pl. Resp. 611d-612; Alc. 28e-130c, 132c-133c; Phd. 68a-69c, 78d, 84b. Siehe Arist. Eth. Nic. 1166a16, 22 – 23, 1168a35, 1169a2, 1178a2 – 3. M. Aur. Med. 12, 3. Gill, Ch.: Marcus Aurelius’ Meditations, a.a.O., S. 204. Etwas sehr Vergleichbares konnte anhand von Marc Aurels Behandlung der Frage „Vorsehung oder Atome?“ gezeigt werden. Seine invarianten ethischen Folgerungen leitet er aus verschiedenen Physikkonzeptionen ab oder erwhnt teilweise eben keine physikalischen Grundlagen.
502
3. Die Natur des Menschen
Maße politisch und gemeinschaftsbezogen ist. Hier basieren einige Argumente und praktische Folgerungen auf einer sehr speziellen Anthropologie. Genau diesen Aussagen ber die Natur des Menschen ist nun eingehender nachzugehen. 3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen: Gemeinschaftsorientierung von Vernunft und Handeln Die Untersuchung der Auffassung Marc Aurels von der Seele zeigte bereits, dass er der Fhigkeit zum Denken, und dabei vor allem zum unabhngigen Urteil, große Bedeutung zumisst. Vernunft ist demnach etwas, das die Natur des Menschen ausmacht, und der freie Vernunftgebrauch soll sein Leben bestimmen. Dabei ist auffllig, dass Marc Aurel die Vernunft sehr hufig nicht isoliert erwhnt. Geradezu formelartig spricht er von der „Natur des vernnftigen und gemeinschaftsbezogenen Lebewesens“.595 Die Natur des Menschen, erlutert er, wird durch die Seele geprgt, und die Seele ist vernnftig und politisch.596 Dem ist nun nachzugehen. 3.2.1 Die Vernunft des Menschen Dass Marc Aurel schreibt, der Mensch habe eine vernnftige und politische Natur heißt nicht nur, dass es sich bei der Rationalitt und Gemeinschaftsorientierung um zwei bestimmende Charakteristika der menschlichen Natur handelt. Fr Marc Aurel ist es vielmehr eine Bestimmung, insofern ein unauflçsbarer Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten der menschlichen Natur besteht. In den Selbstbetrachtungen bestimmt Marc Aurel die Natur des Menschen durch genau diesen Konnex. Der Zusammenhang besteht notwendig, da die politische Natur des Menschen unmittelbar mit der Vernunftbegabung gegeben ist und nicht etwa, wie noch zu zeigen ist, erst aus einer Vernunftaktivitt folgt, wodurch die Sozialitt von der Vernunftbegabung logisch und chronologisch zu unterscheiden wre und von ihr abhngen wrde. 595 h´ky d³ jat± v¼sim toO kocijoO ja· joimymijoO f]ou. M. Aur. Med. 5, 29 (siehe ferner 3, 3, 6; 3, 7; 4, 12; 5, 16; 6, 14; 6, 44; 7, 68; 7, 72; 7, 9; 9, 12; 9, 16; 10, 2). 596 Siehe M. Aur. Med. 6, 14.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
503
Demzufolge handelt sich bei der Aussage, der Mensch habe eine vernnftige und politische Natur, nicht um eine Aufzhlung, die ohne Bedeutungsverlust in zwei Aussagen zergliedert werden kann und deren Wahrheitswert unabhngig voneinander besteht. Zentral fr Marc Aurels Vorstellung vom Menschen ist vielmehr die Verbindung. Marc Aurels zentrale These soll im Folgenden in drei Schritten untersucht werden: (i) Welche Auffassung von Vernunft liegt der These von der Verbindung von vernnftiger und politischer Natur zugrunde? (ii) Wie genau wird der Zusammenhang begrndet? (iii) Welche Auffassung von der politischen Natur des Menschen folgt aus der Begrndung? Die Beantwortung dieser Fragen wird wesentliche Elemente der Ethik vorwegnehmen, da die Gemeinschaftsorientierung fr Marc Aurel das Handlungskriterium schlechthin darstellt. Marc Aurel spricht davon, es gebe „nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft“.597 Diese Aussage kann unterschiedlich verstanden werden. Es kçnnte gemeint sein, dass alle denkenden Wesen die gleiche Art von Vernunft haben, aber dass die Seelen getrennt sind. Die Vorstellung von der menschlichen Vernunft ist jedoch eingebettet in sein monistisches Grundverstndnis der gesamten physikalischen Welt.598 Die Menschen haben an einer Vernunft teil, denn alle Menschen haben nicht getrennte Seelen, die sich hneln, sondern teilen sich eine Seele. Monismus ist hier also nicht in einem schwachen Sinne zu verstehen, demzufolge es verschiedene Seelen gibt, die einem Prinzip unterliegen. Vielmehr handelt es sich bei dem, was als vernnftige Seele des Menschen bezeichnet wird, um einen auch in einem materiellen Sinne zu verstehenden Teil der einen vernnftigen Seele im Kosmos. Es gibt nur eine Seele, auch wenn sie auf zahllose Wesen und Individuen verteilt ist. Es gibt nur eine denkende Seele, auch wenn sie (in Einzelseelen) getrennt zu sein scheint. Die brigen Bestandteile der genannten Wesen, wie z. B. Atem und stoffliche Substanz, haben kein Wahrnehmungsvermçgen und sind auch nicht miteinander verwandt. Allerdings werden auch sie durch die 597 M. Aur. Med. 7, 9. 598 Siehe nochmals: „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefgt und bildet gemeinsam denselben Kosmos. Es gibt nmlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit unter der Voraussetzung, dass es auch nur eine Vollkommenheit der Wesen gibt, die alle diese Herkunft haben und an derselben Vernunft teilhaben.“ M. Aur. Med. 7, 9.
504
3. Die Natur des Menschen
einigende Kraft des (Geistes) und das in dieselbe Richtung strebende Gewicht zusammengehalten. Der Geist aber strebt auf seine Weise zu dem hin, was mit ihm verwandt ist, und vereint sich mit diesem, und das Verlangen nach Gemeinschaft wird nicht zertrennt.599
Statt von den vernnftigen Seelen der Menschen spricht Marc Aurel von der einen vernnftigen Seele aller Menschen. Aber das ist keine Besonderheit seiner Vernunftauffassung. Wie die letzten beiden Zitate verdeutlichen, ist dies mit allen Dingen, aus denen der Mensch besteht so. Wie jeder andere Teil des Menschen (Kçrper oder Fleisch, Pneuma oder Seele) ist auch die Vernunft des Menschen dadurch bestimmt, dass sie nur ein Teil von etwas Geteiltem ist, an dem auch andere Menschen partizipieren. Die Vernunft des Menschen ist immer schon eine „politische Vernunft (pokitij¹r kºcor)“.600 Der Mensch als Ganzes ist durch seine Beziehung zu einem Ganzen bestimmt, weil jeder Teil des Menschen Teil von einem Teil des Ganzen ist.601 Fr die Vernunft des Menschen gilt, dass sie ein Teil der gçttlichen Vernunft des Ganzen ist, die auch mit der Vernunft von Zeus identifiziert wird.602 Eine isolierte Betrachtung der Vernunft eines einzelnen Menschen ist schon deshalb nicht mçglich, weil der Mensch als Ganzes und mit keinem seiner Teile isoliert besteht. Der Mensch ist vollumfnglich durch Teilhabe an und Bezge zum Kosmos bestimmt.603 Das Wissen vom Kosmos ist also 599 M. Aur. Med. 12, 30. Ebenso eindeutig ist das folgende Kapitel: „Die vernunftlosen Wesen haben eine einzige Seele gemeinsam; die vernnftigen Wesen haben ebenfalls eine einzige Seele gemeinsam, wie es auch nur eine Erde gibt, aus der alles Irdische besteht, und wir mit Hilfe eines einzigen Lichtes sehen und eine Luft atmen, soweit wir alle zum Sehen befhigte und beseelte Wesen sind.“ (M. Aur. Med. 9, 8). 600 M. Aur. Med. 9, 12. 601 „Also wird jeder Teil von mir im Sinne einer Verwandlung in einen Teil des Kosmos bergehen, und dieser wird sich wieder in einen anderen Teil des Kosmos verwandeln und so weiter bis ins Unendliche.“ M. Aur. Med. 5, 13. 602 „Mit den Gçttern aber lebt nur derjenige zusammen, der ihnen ununterbrochen zeigt, dass seine Seele mit allem, was ihr zugeteilt ist, zufrieden ist, und dass sie tut, was der gçttliche Geist will, den Zeus als ein Stck von sich selbst jedem einzelnen als Beschtzer und Fhrer gegeben hat. Er ist der Geist und die Vernunft jedes einzelnen.“ M. Aur. Med. 5, 27. 603 „Dessen muss man sich immer bewusst sein, was die Natur des Ganzen und was meine eigene Natur ist und wie sich diese zu jener verhlt und welcher Teil welches Ganzen sie ist und dass es niemanden gibt, der dich daran hindern kçnnte, stets das, was im Sinne der Natur ist, deren Teil du bist, zu tun und zu sagen.“ M. Aur. Med. 2, 9.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
505
zu einem guten Teil Selbsterkenntnis und liefert der Vernunft, die selber Teil ist, die Kriterien zu entscheiden, was zu tun und zu sagen ist. Marc Aurels Auffassung von der Vernunft und dem Menschen ist also eingebettet in ein Geflecht von Bezgen. Dieser Grundzug wird auch im Folgenden prominent bleiben. 3.2.2 Vernunft und Polis Marc Aurel erwhnt nicht nur sehr hufig, dass die Vernunft des Menschen ihn zu einem sozialen, politischen Lebewesen macht, es finden sich, bei genauerer Betrachtung, auch zahlreiche Varianten des Zusammenhangs von Vernunftbegabung und Gemeinschaftsorientierung des Menschen. Von verschiedenen Argumenten wrde Marc Aurel wahrscheinlich nicht reden wollen, fr ihn sind es wohl eher verschiedene Aspekte eines einzigen Verhltnisses, demzufolge der Mensch qua Vernunftbegabung politisch ist. Unterscheiden lassen sich folgende Relationen: (i) Die Vernunft als politisches Konstituens. Die Vernunft des Menschen politisiert ihn, weil die Vernunft etwas ist, dass er mit jedem anderen Menschen teilt. Damit ist die Gemeinschaft der Menschen etwas, das bereits durch die Vernunftbegabung besteht und nicht erst durch den Gebrauch der Vernunft in Form von Urteilen konstituiert werden muss. Vernunft muss also nicht erst Gemeinschaft stiften, sondern sie selbst ist bereits etwas Gemeinschaftliches. Mit anderen Worten, Vernunftbegabung ist bereits Ausdruck einer Gemeinschaft. Streng genommen gibt es keinen Individualismus, zumindest nicht in dem Sinne, dass es eine individuelle Seele gibt, denn es gibt nur die eine Seele, an der alle Menschen teilhaben. Die Gemeinschaft und Verwandtschaft der Menschen besteht aufgrund der Teilhabe am selben Geist.604 Wegen des stoischen Materialismus ist diese vernnftige und politische Gemeinschaft etwas, das von Natur aus physikalisch ist: Wenn uns das Denkvermçgen gemeinsam ist, dann ist uns auch die Vernunft, durch die wir vernnftig sind, gemeinsam. Wenn dies zutrifft, dann ist auch die Vernunft, die bestimmt, was zu tun ist oder nicht, uns allen gemeinsam. Trifft dies zu, so ist auch das Gesetz uns allen gemeinsam. Wenn das richtig ist, dann sind wir alle Brger. In diesem Fall haben wir teil an einer Art von Staatswesen. Wenn dies zutrifft, dann ist der Kosmos gewissermaßen ein Staat. Denn zu welchem gemeinsamen Staatswesen, so kçnnte jemand fragen, sollte das gesamte Menschengeschlecht sonst gehçren? Von dort aber, d. h. aus 604 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 1.
506
3. Die Natur des Menschen
diesem gemeinsamen Staat, haben wir unser Denkvermçgen, unser vernnftiges Wesen und unser Bedrfnis nach dem Gesetz. Oder woher sonst? Denn wie ich das Erdige in mir aus einer bestimmten Sorte von Erde zugeteilt erhielt, das Feuchte aus einem anderem Grundstoff, das Hauchartige aus einer entsprechenden Quelle (denn nichts kommt aus dem Nichts, wie es auch nicht in das Nichts verschwindet), so kommt auch das Denkvermçgen von irgendwoher.605
Bemerkenswert ist eine bestimmte Formulierung im Argument: Das Denkvermçgen des einzelnen Menschen stammt aus dem gemeinsamen Staat. Die politische Gemeinschaft geht der Vernunft des Menschen voraus, weil die Vernunft des Einzelnen eine Zuteilung aus der bereits vor dem Einzelnen bestehenden politischen Gemeinschaft ist. Die geteilte kosmische Vernunft nimmt durch die Partizipation eines einzelnen Menschen diesen in die bereits bestehende Gemeinschaft auf. Mit der Existenz des Menschen als vernnftigem Wesen ist daher seine politische Natur gegeben. Anders als etwa bei Platon, bei dem sich das gemeinschaftliche Leben aus der bedrftigen Natur des Menschen ergibt, ist der Gemeinschaftsbezug bei Marc Aurel viel grundlegender, weil er bereits bei der kçrperlichen Grundlage der Vernunft beginnt. Schließlich ist bemerkenswert, dass die aufgrund der Vernunftbegabung vorhandene politische Gemeinschaft eine Gruppe von Gleichen beschreibt. Kein Kapitel deutet an, dass die Zuteilungen an Vernunft unterschiedlich sind. Auch aus dem unterschiedlichen Vernunftgebrauch erwachsen keine politischen Unterschiede. Darauf wird noch einzugehen sein. (ii) Die vernnftige Vorsehung und jeder Mensch will Gemeinschaft. Zu welchem Zweck ein jedes Wesen ausgerstet ist und wofr es ausgerstet ist, dahin strebt es. Wohin es aber strebt, dort liegt sein Ziel. Wo aber sein Ziel ist, da liegt der Nutzen und das Gute eines jeden Wesens. Das Gute also des vernunftbegabten Lebewesens ist die Gemeinschaft. Denn dass wir fr die Gemeinschaft geschaffen sind, ist seit langem offenkundig. Oder ist es nicht klar, dass die niederen Wesen wegen der hçheren und die hçheren freinander auf der Welt sind? Hçher aber als die nicht beseelten sind die beseelten Wesen, und hçher als die beseelten sind die vernunftbegabten.606 Die Vernunft des Menschen verbindet die Menschen nicht nur, weil die Vernunft eine geteilte Vernunft ist, sondern weil die kosmische Vernunft 605 M. Aur. Med. 4, 4. 606 M. Aur. Med. 5, 16.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
507
als Vorsehung will, dass die Menschen in Gemeinschaft leben. Die Verbindung von Vernunft und Gemeinschaft ist hier eine ganze andere, denn erstens ist die Begrndung der Gemeinschaft hier teleologisch oder fatalistisch, weil durch die Vorsehung festgelegt. Die Vernunft, die hier die Gemeinschaft begrndet, ist nicht Vernunft einzelner Menschen, sondern die eine kosmische Vernunft, an der die Menschen teilhaben. Das Anerkennen der eigenen Vernunft ist aber gleichbedeutend mit dem Anerkennen der kosmischen Vernunft und ihrer Zuweisungen und Plne. Dann will auch der einzelne Mensch Gemeinschaft. Die Gemeinschaft der Menschen ist vernnftig, weil sie von der Vorsehung geschaffen wurde. (iii) Vernnftiges Zusammenwirken. Wie du selbst zur Verwirklichung einer politischen Ordnung beitrgst, so soll auch all dein Tun dazu beitragen, ein politisches Leben zu verwirklichen. Jede deiner Taten, die in keinem unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zu dem Ziel der Gemeinschaft steht, zerreißt das Leben, zerstçrt seine Einheit und ist aufrhrerisch wie ein Mensch, der innerhalb seines Volkes, was seine Person betrifft, aus einem solchen Zusammenhang heraustritt.607 Die eigene Natur zu achten, schreibt Marc Aurel, heißt so zu handeln, dass es der Gemeinschaft ntzt.608 Die von der Vorsehung gewollte und durch die vernnftige und gemeinschaftsbezogene Natur der Menschen bedingte politische Natur ist eine Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame Praxis verwirklicht wird.609 Die politische Gemeinschaft ist also eine Gemeinschaft von handelnden Menschen, deren Handlungen zugleich die Gemeinschaft besttigen, und zwar dann, wenn ihre Handlungen sich am Kriterium des Gemeinwohls orientieren.610 Wie den Kosmos selbst fasst Marc Aurel auch das Zusammenwirken der Gemeinschaft in der kosmischen Stadt organisch auf: Alle Menschen 607 M. Aur. Med. 9, 23. 608 Siehe M. Aur. Med. 5, 1 (siehe z. B. auch 3, 6; 4, 33;). 609 „Nicht im passiven Verhalten, sondern im Ttigsein liegt das Wohl und Wehe des vernnftigen und politisch aktiven Lebewesens, wie auch seine guten und schlechten Eigenschaften nicht im passiven Verhalten, sondern im Ttigsein wirksam werden.“ M. Aur. Med. 9, 16. 610 „Wer aber eine vernnftige, das Ganze umfassende und auf die Gemeinschaft bezogene Seele in Ehren hlt, kmmert sich nicht mehr um die anderen Dinge, sondern sorgt vor allem dafr, dass seine Seele ihre vernnftige und gemeinschaftsbezogene Haltung und Aktivitt bewahrt, und arbeitet deswegen mit dem zusammen, was seinem Wesen verwandt ist.“ M. Aur. Med. 6, 14.
508
3. Die Natur des Menschen
handeln zusammen, so wie die Teile eines Kçrpers zusammenwirken. Die einheitliche Ausrichtung und Zusammengehçrigkeit der Menschen, die ja nicht wie Kçrperglieder unmittelbar kçrperlich verbunden sind, wird durch die gemeinsame, geteilte Vernunft gewhrleistet.611 Das Miteinander der Menschen in der Gemeinschaft zeichnet sich durch zwei Momente aus. Einerseits wird der Gemeinschaftsbezug zum alleinigen Kriterium fr Handlungen.612 Andererseits ergibt sich daraus fr Marc Aurel eine Verpflichtung, auf die Handlungen der Mitmenschen in einer bestimmten Weise zu reagieren. Auf die Handlungen von Mitmenschen, die nicht tugendgemß sind, ist ohne Zorn und besonders verstndnisvoll zu reagieren.613 Diese Ausrichtung auf die Mitmenschen wird von Marc Aurel nicht nur durch Urteile, sondern oft auch mit Hilfe von positiven Affekten, die offenbar die Rolle von Handlungsantrieben haben, beschrieben. Er betont die Notwendigkeit zur „Liebesfhigkeit und Liebesbereitschaft“614 und Nachsicht615 gegenber den Mitmenschen. Gerade der Umgang mit anderen Menschen, die nicht wie ein Weiser handeln, spielt eine große Rolle im Denken Marc Aurels. Immer wieder fordert er sich auf, darauf mit Nachsicht, Ruhe und allenfalls dem Impuls zu Belehrung der aufgrund von Unwissenheit falsch Handelnden zu reagieren. Die zahlreichen Kapitel zu diesem Themenkomplex werden im Folgenden auch Aufschluss ber die Zusammensetzung der politischen Gemeinschaft liefern. Die Bedeutung der Mitmenschen fr Marc Aurels Auffassung vom Menschen und damit seiner Philosophie kann also ingesamt kaum berschtzt werden. Er erklrt den Gemeinschaftsbezug des Menschen sogar zum herausragenden Aspekt der menschlichen Natur: „Die wichtigste 611 Siehe nochmals M. Aur. Med. 7, 13 (siehe auch 2, 1: „Denn wir sind da, um zusammenzuarbeiten, wie die Fße, Hnde, Augenlider oder die Reihen der oberen und unteren Zhne. Gegeneinander zu arbeiten, wre gegen die Natur.“). 612 „Wie du selbst zur Verwirklichung einer politischen Ordnung beitrgst, so soll auch all dein Tun dazu beitragen, ein politisches Leben zu verwirklichen. Jeder deiner Taten, die in keinem unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zu dem Ziel der Gemeinschaft steht, zerreißt das Leben, zerstçrt seine Einheit und ist aufrhrerisch wie ein Mensch, der innerhalb seines Volkes, was seine Person betrifft, aus einem solchen Zusammenhang heraustritt.“ M. Aur. Med. 9, 23. 613 „Vergegenwrtige dir den Grundsatz, dass alle vernnftigen Wesen freinander geschaffen sind und dass es ein Teil der Gerechtigkeit ist, sie zu ertragen, und dass sie Fehler machen, ohne es zu wollen.“ M. Aur. Med. 4, 3. 614 M. Aur. Med. 10, 1 (siehe auch 11, 1; 11, 9; 11, 13). 615 Siehe M. Aur. Med. 9, 42.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
509
Eigenschaft der spezifisch menschlichen Natur ist die Solidaritt mit den Mitmenschen.“616 (iv) Aktualisierung der vernnftigen und gemeinschaftsorientierten Natur bedeutet Glck. Da der Gemeinschaftsbezug des Menschen sein Handeln und seine Einstellung zu bzw. seine Reaktion auf das Handeln der anderen Menschen bestimmen soll und davon auch bestimmte Affekte betroffen sind, berrascht es nicht, dass der Mensch durch das vernnftige und gemeinschaftsbezogene Agieren seiner Natur entsprechend lebt und so glcklich ist. Eine andere Facette dieses Zusammenhangs beschreibt Marc Aurel, wenn er vom Guten der Gemeinschaft als dem Guten fr den Einzelnen spricht.617 Wer gemeinschaftsdienlich handelt, ist auch sich selber ntzlich. Eine andere, fr die eudaimonistische Grundlegung wichtige berlegung ist die Vorstellung, dass die menschliche Vernunft ein Teil der kosmischen Vernunft ist, die mit der Vorsehung identisch ist, und dass diese Teilhabe zugleich ein Geschenk, eine Zuteilung der Vorsehung ist. Aus diesen beiden Aspekten des Verhltnisses von individueller und kosmischer Vernunft ergibt sich eine besondere Glcksrelevanz fr das Erkennen der eigenen Natur. Erstens erkennt, wer mit seiner Natur die Vorsehung erkennt, auch, dass alle Zuteilungen nicht zu beklagen sind und Glck in jeder Situation mçglich ist. Mit der eigenen Natur werden zweitens die entscheidenden Kriterien des glcklichen, weil naturgemßen Lebens erkannt.618 Marc Aurel formuliert diese beiden Zusammenhnge wie folgt: „Nur an einem erfreue dich und schçpfe daraus neue Kraft: Von einer gemeinschaftsfçrdernden Tat zur nchsten zu kommen in Gedanken an Gott.“619 Hufiger sind Kapitel, in denen er negativ formuliert, also von der Unzufriedenheit spricht. Dieses Unwohlsein wird auf mangelndes Anerkennen und Befolgen der (eigenen) Natur zurckgefhrt.620 616 M. Aur. Med. 7, 55 (t¹ l³m owm pqogco¼lemom 1m t0 toO !mhq¾pou jatasjeu0 t¹ joimymijºm 1sti). 617 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 16. 618 Mit diesem Argument deutet sich an, dass die Konzentration auf sich selbst und der Rckzug keineswegs inkompatibel mit der Gemeinschaftsorientierung und der Forderung nach entsprechender Praxis sind. Dieser Punkt wird fr die politischsozialen Aspekte bedeutsam sein und im Folgenden noch behandelt werden. 619 M. Aur. Med. 6, 7. 620 Siehe z. B.: „Ein Abgesonderter des Kosmos ist, wer sich entfernt und trennt von der Vernunft der gemeinsamen Natur, indem er sich nicht mit dem, was geschieht,
510
3. Die Natur des Menschen
(v) Der Gemeinschaftsbezug ist proportional zur Vernunftbegabung. Alles, was an einem Gemeinsamen teilhat, strebt zum Verwandten: Alles Erdige neigt sich der Erde zu, alles Flssige fließt zusammen, das Luftartige ebenfalls, so dass diese Elemente nur durch trennende Mittel und Gewalt voneinander zu scheiden sind. Das Feuer strebt zwar nach oben aufgrund der elementaren Feuersphre (die den Kosmos umgibt), ist aber so sehr bereit, mit jedem Feuer hier gemeinsam aufzulodern, dass auch jeder Stoff, der ein bisschen trockener ist, leicht entzndbar ist, weil in ihm nicht soviel von dem Stoff enthalten ist, der das Entflammen verhindern kann. Und folglich strebt alles, was an der gemeinsamen Vernunftnatur teilhat, mit gleicher oder noch strkerer Intensitt zu dem ihm Verwandten. Denn je strker es neben den brigen Dingen ist, desto bereitwilliger ist es, sich mit dem ihm Verwandten zu vereinigen und zu vermischen. Schon bei den vernunftlosen Wesen fand man Schwrme, Herden, gemeinsame Aufzucht von Jungen und so etwas wie Liebesbeziehungen; denn es gab dort bereits Seelen, und der Geselligkeitstrieb fand sich beim hçheren Lebewesen in so ausgeprgter Form, wie er bei Pflanzen, Steinen und Hçlzern nicht vorhanden war. Aber bei den vernunftbegabten Lebewesen gibt es Staaten, Freundschaftsbeziehungen, Familien, Versammlungen und im Krieg Vertrge und Waffenstillstand. Bei den noch hçheren Lebewesen entstand gewissermaßen eine Einheit auch des rumlich Getrennten, wie es bei den Sternen der Fall ist. So kann der Aufstieg zum Hçheren auch zwischen Getrenntem Sympathie erzeugen. Sieh dir nun an, was gerade geschieht. Denn allein die vernunftbegabten Wesen haben das Streben nach gegenseitiger Verbindung und ihre Zuneigung zueinander jetzt vergessen, und nur hier sieht man keine Vereinigung. Aber dennoch werden sie gefasst, wenn sie fliehen. Denn die Natur ist strker. Wenn du aufpasst, wirst du sehen, was ich meine. Man drfte eher etwas Erdiges finden, das mit dem Nicht-Erdigen Verbindung hat, als einen Menschen, der sich von jedem anderen Menschen vçllig abgesondert hat.621
Marc Aurel argumentiert hier im Rahmen einer scala naturae, dass der Mensch das am strksten gemeinschaftszbezogene Wesen im Kosmos ist. Grundlage ist ein allgemein physikalisches, nicht nur Lebendiges betreffendes Prinzip, dem zufolge alle Elemente zum Verwandten streben. Aus diesem Grundsatz entwickelt Marc Aurel dann die Vorstellung, dass der Grad der Sozialitt proportional zur Vernnftigkeit ist. Die Vernunft schaffe es dann sogar, Sympathie zwischen rumlich Getrennten zu erzufrieden gibt. Denn die Natur, die auch dich hervorgebracht hat, bringt dies hervor. Ein von der menschlichen Gemeinschaft Abgetrennter ist, wer seine eigene Seele von der einen Seele alles Vernnftigen abtrennt.“ M. Aur. Med. 4, 29. 621 M. Aur. Med. 9, 9.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
511
zeugen.622 Hier wird zustzlich deutlich gemacht, dass die Gemeinschaft der Menschen nicht nur geistig fundiert ist. Sie hat immer nur den Charakter einer geistigen Gemeinschaft, weil sich nicht alle Menschen vollstndig materiell miteinander verbinden. Trotz dieser Unsichtbarkeit ist die Sozialitt bei dem Vernunftwesen „Mensch“ besonders ausgeprgt, weil auf keiner Stufe der scala naturae eine Gattung existiert, bei der weniger Exemplare sich von der Gemeinschaft der Gattung abgesondert haben als bei den Menschen. Von allen Lebewesen kçnnen Exemplare der Gattung „Mensch“ besonders schlecht ohne ihre (Vernunft-)Gemeinschaft leben. An diesem Punkt setzt ein weiteres Argument an. Der Mensch ist besonders sozial, weil die Gemeinschaft auch im Falle einer Absonderung wieder hergestellt werden kann,623 genauer: durch vernnftiges Handeln kann die Gemeinschaft wieder hergestellt werden. In diesem Falle stellt der praktische Gebrauch der gemeinsamen Vernunft die Gemeinschaftsbande wieder her. Das heißt, die Gemeinschaft, die qua gemeinsamer Vernunftbegabung besteht, muss hier durch Vernunftgebrauch und dadurch gelenkte Praxis wiederhergestellt werden. Diese Gemeinschaft besteht dann in zeitlicher und kausaler Abhngigkeit vom Vernunftgebrauch. Vernunftgebrauch muss dann aber auf beiden Seiten vorliegen, zunchst bei denjenigen, die sich durch gemeinschaftsbezogene Handlungen wieder in die Gemeinschaft begeben, und dann bei jenen, die vormals falsch Handelnde wieder aufnehmen.
622 Siehe bereits M. Aur. Med. 7, 13. 623 „Wenn du einmal eine abgehauene Hand, einen Fuß oder einen abgeschnittenen Kopf getrennt von dem brigen Kçrper hast liegen sehen – so etwas tut sich derjenige selbst an, der, soweit es an ihm liegt, nicht will, was ihm passiert, und der sich absondert oder etwas tut, was fr die Gemeinschaft schdlich ist. Da hast du dich irgendwie von der natrlichen Einheit losgerissen. Denn du warst doch als ein Teil (dieser Einheit) geschaffen worden. Jetzt hast du dich selbst abgeschnitten. Aber da gibt es jene schçne Mçglichkeit, dass es dir erlaubt ist, dich wieder (mit dem Ganzen) zu vereinigen. Diese Mçglichkeit hat Gott keinem anderen Teil (des Kosmos) gegeben, nachdem er abgetrennt oder abgeschlagen wurde, wieder (mit den brigen Teilen) zusammenzuwachsen. Aber denk doch einmal an die Gte, mit der Gott den Menschen geehrt hat. Denn er hat es ihm mçglich gemacht, dass er erst gar nicht aus dem Ganzen herausgerissen wird und dass er, wenn er herausgerissen wurde, wieder zurckkehren, wieder anwachsen und seinen Platz als Teil (des Ganzen) wieder einnehmen kann.“ M. Aur. Med. 8, 34.
512
3. Die Natur des Menschen
3.2.3 Die politische Gemeinschaft Nach heute blichen Vorstellungen gibt es nicht eine einzige politische Gemeinschaft, sondern sie kommen immer im Plural vor. Ein Merkmal einer solchen Gemeinschaft sind Gesetze, die fr je eine Gemeinschaft gelten und die kontingent sind, weil sie durch Konventionen zustande kommen. Im Falle der stoischen Theorie vom Kosmos als Polis wird eine umfassende Polis thematisiert, die als einzig wirkliche politische Gemeinschaft begriffen wird und die ferner nicht auf einem konventionellen und daher kontingentem Gesetz basiert. Zunchst ist es also sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass Marc Aurels Rede von der politischen Gemeinschaft, in der sich der Mensch natrlicherweise befindet, nicht leichthin als Rede von einer politischen Gemeinschaft zu verstehen ist, die seit der Neuzeit vorrangig an einen Nationalstaat denken lsst. Nach der Klrung der Frage, wie die Vernunftbegabung die politische Gemeinschaft konstituiert, ist zu bestimmen, wo die politische Gemeinschaft lokalisiert ist, wer ihr angehçrt und welche Formen der Zugehçrigkeit es gibt. Marc Aurels Auffassung von der politischen Natur des Menschen ist dann weiter zu spezifizieren. Welche sozialen Beziehungen sind fr den Menschen bestimmend? Nach welchen Kriterien sind diese geordnet bzw. sollen diese von den Menschen praktisch gestaltet werden? Obschon der Ausdruck pok¸tgr toO jºslou von Marc Aurel (wie auch von Epiktet) nicht verwandt wird, beschreibt er sich und den Menschen allgemein als einen Brger des Kosmos.624 Er spricht von dem Kosmos, dem Ganzen als dem obersten Gemeinwesen. Dabei wird der Kosmos nicht nur als Polis bezeichnet, sondern es wird nahegelegt, dass es sich beim Kosmos um die eigentliche Polis handelt, zu der die anderen Gemeinwesen wie Huser gehçren. Marc Aurel fordert sich auf, zu berlegen, welcher Art von Welt die Sache welchen Nutzen bringt und welchen Wert sie einerseits fr das Ganze und andererseits fr den Menschen als Brger des obersten Gemeinwesens hat, zu dem die brigen Gemeinwesen gleichsam wie Huser gehçren…625
Mit der Unterscheidung des Kosmos als oberster politischer Gemeinschaft und den brigen politischen Gemeinschaften, die aber im Grunde genommen nur Huser in der eigentlichen Polis des Kosmos seien, gibt Marc 624 Siehe M. Aur. Med. 3, 11 und 6, 44. 625 M. Aur. Med. 3, 11.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
513
Aurel den Sprachgebrauch anderer stoischer Texte wieder, die von der politischen Gemeinschaft in gleicher Weise reden.626 Dieser doppelte Gebrauch taucht in den Selbstbetrachtungen noch an anderer Stelle auf, wobei die doppelte Verwendung hier besonders deutlich ist, weil Marc Aurel zunchst von politischer Gemeinschaft im Singular spricht, und dann erklrt, dass er zweien angehçrt: Ich habe eine vernnftige und auf die staatliche Gemeinschaft bezogene Natur. Die staatliche Gemeinschaft und das Vaterland sind fr mich als Antoninus Rom, fr mich als Menschen der Kosmos. Was diesen Gemeinschaften ntzlich ist, das allein ist fr mich gut.627
Hier kommt keine Prferenz zum Ausdruck, welcher der beiden Gemeinschaften die Bezeichnung eher zukommt. Denn Marc Aurel geht es in diesem Kapitel, wie der abschließende Satz deutlich macht, um die Bedeutung der sozialen Bindungen als Kriterium.628 Auf den Umstand, dass im Hinblick auf die praktische Bedeutung der politischen Gemeinschaft nicht zwischen der kosmischen und durch Geburt zugewiesenen Stadt unterschieden und gewichtet wird, ist noch einzugehen. Es kann auch hier nur wieder darauf hingewiesen werden, dass es Marc Aurel nicht an einer theoretisch-systematisierenden Ausarbeitung seiner Philosophie gelegen ist. Vor allem findet sich keine selbst vorgenommene Einordnung in schulphilosophische Debatten und keine philosophiehistorische Reflexion der eigenen Thesen. Aber fr sein Anliegen ist beides auch nicht erforderlich. Eine kurze Auflistung wesentlicher Theoreme der frhstoischen Lehre kann dennoch helfen, erstens die Darstellung von Marc Aurels Position zu strukturieren und zweitens Besonderheiten seiner Position zu akzentuieren. Damit ist kein umfassender Vergleich der kosmopolitischen Auffassungen von frher Stoa und Marc Aurel intendiert.
626 „Zwei Staatswesen wollen wir uns im Geiste vorstellen: das eine groß und wirklich allgemein, das Gçtter und Menschen umfasst, darin wir nicht auf diesen Winkel achten oder jenen, sondern die Grenzen unseres Staates mit der Sonne ausmessen; das andere dem uns als Brger zugeordnet hat die Bedingung der Geburt (es kann von Athen sein oder von Karthago oder irgendeiner anderen Stadt), das nicht allen Menschen angehçrt, sondern bestimmten.“ Sen. Otio 4, 1 (siehe auch SVF 3, 327). 627 M. Aur. Med. 6, 44. 628 Siehe auch Sen. Otio 4, 1.
514
3. Die Natur des Menschen
Katja Vogt nennt fr die frhstoische kosmopolitische Lehre vier charakteristische Theoreme:629 (i) Der Kosmos ist eine politische Gemeinschaft, insofern diese durch ein Gesetz reguliert wird. (ii) Der Kosmos wird erhalten und verwaltet von denjenigen Brgern, die, um diesen Status zu erlangen, eine perfekte Vernunft haben mssen, also von Gçttern und Weisen. (iii) Dennoch gehçren zur Population der kosmischen politischen Gemeinschaft alle Menschen, aber nur vollkommen Vernnftige haben den Brger-Status.630 (iv) Die kosmische politische Gemeinschaft wird nach dem Vorbild einer einzelnen Polis als durch Herrschaft stratifizierte Gemeinschaft begriffen. (v) Die Vorstellung, dass die politische Gemeinschaft im Kosmos auf perfekter Vernunft und entsprechenden Gesetzen basiert, ist keineswegs normativ oder gar utopisch, sondern wird als reale Beschreibung verstanden. Gleichwohl hat diese Auffassung normative Folgen, da sich das Verhalten daran ausrichten soll. Zunchst ist auffllig, dass bestimmte Fragen, die fr die frhen Stoiker wichtig waren, bei Marc Aurel keine oder nur eine ußerst randstndige Bedeutung haben. Dies trifft auf zwei der fnf genannten Teilthesen zu (iv) und (i). Ad (iv) Herrschaft in der kosmischen Polis. Der Kaiser Marc Aurel thematisiert keinerlei Herrschaftsverhltnisse der kosmischen Polis. Die 629 Siehe Vogt, K.: Law, Reason and the Cosmic City. Political Philosophy in the Early Stoa, a.a.O., S. 65 ff. 630 Mit der Kombination der Thesen (ii) und (iii) legt Vogt eine Unterscheidung innerhalb der Gemeinschaft zugrunde, nmlich die zwischen vollwertigen Brgern (vollkommen vernnftigen Wesen wie Gçttern und Weisen) und anderen, nichtvernnftigen, Einwohnern und Mitgliedern der politischen Gemeinschaft (allen anderen Menschen, die eben keine Weisen sind). Diese an der Zusammensetzung von antiken Stdten orientierte Unterscheidung erlaubt es Vogt, ein Problem zu lçsen, nmlich die divergierenden Aussagen in den Texten, dass (a) nur Weise und Gçtter Brger der kosmischen Polis sind und (b) alle Menschen Mitglieder der umfassenden kosmischen Gemeinschaft sind. Diese Interpretationen kçnnen beide zugleich gelten. Es kann hier keine umfassende Diskussion erfolgen. Vogts Interpretation lçst das Problem elegant. Dass einige ihrer Distinktionen (z. B. zwischen Brgern und nicht perfekt vernnftigen anderen, beherrschten Mitgliedern) nicht selber in den erhaltenen Texten belegt sind, mag an der schwierigen Textgrundlage liegen.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
515
kosmische Polis stellt sich Marc Aurel, so weit wir das schließen drfen, sehr egalitr vor. Hçhere Wesen sind fr niedrigere da, aber was die Gemeinschaft der Menschen angeht, betont Marc Aurel immer nur die Zusammenarbeit.631 Der bei ihm, wie schon mehrmals festgestellt wurde, stark ausgeprgte Gedanke der Gemeinsamkeit ist als Vorstellung von einem egalitren Gemeinwesen zu spezifizieren. Im ersten Buch nennt er Severus als Vorbild, denn durch ihn bekam er eine Vorstellung von einem Staat, in dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben und der im Sinne der Gleichheit und allgemeinen Redefreiheit verwaltet wird, und von einer Monarchie, die vor allem die Freiheit der Brger achtet.632
Es ist nicht sicher zu entscheiden, ob Marc Aurel hier von der kosmischen Polis spricht oder von der rçmischen politischen Gemeinschaft. Da jedoch zwischen beiden eine große Korrespondenz herrschen muss und die Gleichheit nicht auf eine der beiden Gemeinschaften beschrnkt sein kann, ist der hier zum Ausdruck kommende Gedanke als Folge der gemeinsamen Teilhabe an der kosmischen Vernunft zu werten. Nur sehr selten weist Marc Aurel auf seine eigene politische Rolle, inkl. seiner legislativen Kompetenzen hin.633 Die Gesetze, die Marc Aurel dabei erwhnt, drften rçmisches und damit konventionelles bzw. kontingentes Recht und nicht das kosmische gemeinsame Recht meinen. Zusammen mit der Menschenfhrung spielt Marc Aurel hier auf seine Kompetenzen innerhalb der politischen Gemeinschaft Roms an. Aber auch damit ist noch nichts ber Herrschaftsverhltnisse innerhalb der kosmischen Gemeinschaft gesagt.634 631 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 1; 5, 16; 8, 59; 9, 1. 632 M. Aur. Med. 1, 14. 633 „Zu zwei Dingen musst du immer bereit sein: erstens nur das zu tun, was dir die Kunst der Menschenfhrung und der Gesetzgebung zum Wohl der Menschen an die Hand gibt, und zweitens deine Meinung zu ndern, wenn jemand da ist, der dich berichtigen und von einer falschen Beurteilung abbringen kann. Die Meinungsnderung muss jedoch immer von der berzeugung getragen sein, dass sie der Gerechtigkeit und Gemeinntzigkeit dient, und ihre Beweggrnde drfen sich nur darauf beziehen, nicht weil es angenehm oder dem eigenen Ansehen dienlich zu sein schien.“ M. Aur. Med. 4, 12. 634 Ebenso ohne Bezug zur kosmischen Polis ist die folgende Selbstbestimmung: „Darber hinaus soll der Gott in dir Leitbild eines mnnlichen Charakters, eines reifen Menschen, eines politischen Geistes, eines Rçmers und Herrschers sein, der seinen Standort in der Welt gewhlt hat, wie es einer Persçnlichkeit gemß ist, die ganz gelassen auf das Zeichen zum Rckzug aus dem Leben wartet, ohne einen Eid oder einen Menschen als Zeugen zu bençtigen.“ M. Aur. Med. 3, 5.
516
3. Die Natur des Menschen
Dass Marc Aurel diese umfassende menschliche Gemeinschaft egalitr konzipiert, drfte in dem Umstand begrndet liegen, dass er – anders als die frheren Stoiker – nicht zwischen zwei Menschentypen unterscheidet. Dies verweist schon auf die Aspekte (ii) und (iii), d. h. die Frage, wer Mitglied der kosmischen Polis ist. Zunchst aber steht mit dem gerade erwhnten Gedanken in Verbindung, dass er sich nicht ausfhrlich fr die Gesetze der kosmischen Polis interessiert. Das ist der nchste Aspekt. Ad (i) Die kosmische Gemeinschaft und das gemeinsame Gesetz. Ein gemeinsames Gesetz, das den alten Stoikern so wichtig war,635 erwhnt Marc Aurel nur in zwei Abschnitten.636 Marc Aurel geht von zwei Formen der Verursachung aus, eine durch die Vorsehung und dann eine andere, die Marc Aurel wie folgt erlutert: jenes aber wurde von meinem Mitbrger, von meinem Verwandten, von meinem Partner verursacht, der allerdings nicht weiß, was seiner Natur gemß ist. Aber ich weiß es genau. Deshalb gehe ich mit ihm um, wie es dem Naturgesetz der Gemeinschaft und der Partnerschaft entspricht, erfllt von Wohlwollen und Gerechtigkeit.637
Die nomothetische Verfasstheit der kosmischen Polis erwhnt Marc Aurel hier zwar, aber sie ist nicht Hauptthema oder Ziel der Argumentation. Er macht auch nicht weiter von der Vorstellung eines gemeinsamen Gesetzes Gebrauch. Wenn die stoische Lehre vom gemeinsamen Gesetz ein Vorlufer spterer naturrechtlicher Vorstellungen ist,638 dann ist erstens zu konstatieren, dass Marc Aurel hier kein besonders ergiebiger ReferenzAutor ist. Denn zweitens verwendet Marc Aurel die Vorstellungen vom 635 Das Gesetz ist einigen Quellen zufolge der wichtigste Bestandteil der Definition einer politischen Gemeinschaft, siehe z. B. bei Dion Chrysostomos: „Sie [die Stoiker] sagen, die Stadt sei eine vom Gesetz regierte Gruppe von an derselben Stelle wohnenden Menschen.“ Dion Chrysostomos 36, 20 (=LS 67 J). 636 Siehe M. Aur. Med. 3, 11 und 4, 4. 637 M. Aur. Med. 3, 11. Das zweite Kapitel, das das gemeinsame Gesetz erwhnt, wurde bereits oben zitiert (4, 4). 638 Zur Diskussion dieser wichtigen aber schwierigen Frage siehe Watson, G.: The Natural Law and Stoicism, in: Long, A. A. (Hg.): Problems in Stoicism, London 1971, S. 216 – 238; Vander Waerdt, P.: Zeno’s Republic and the Origins of Natural Law, in: ders. (Hg.): The Socratic Movement, Ithaca (N.Y.) 1994, S. 272 – 308; Striker, G.: Origins of the Concept of Natural Law, in: ders.: Papers in Hellenistic Ethics and Epistemology, Cambridge 1996, S. 209 – 220, hier: S. 209 f.; Mitsis, Ph.: The Stoic Origin of Natural Rights, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, Oxford 2001, S. 153 – 177.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
517
gemeinsamen Gesetz nicht, um daraus weitere Normen fr Kollektive oder Individuen abzuleiten. Stattdessen betont er die Gemeinsamkeit, die durch die geteilte Vernunft besteht. Aus diesem Umstand folgen fr ihn Verhaltensregeln, besonders fr den Umgang mit denen, die nicht gemß der Vernunft handeln. Es gibt zwei weitere Aspekte, die in der Stoa traditionell mit der Vorstellung vom gemeinsamen kosmischen Gesetz verbunden werden und die bei Marc Aurel unterreprsentiert sind. Es handelt sich in beiden Fllen um Identifizierungen des gemeinsamen Gesetzes,639 einmal mit der Vernunft und dann mit Zeus. Bei der gngigen Identifizierung des Gesetzes mit der Vernunft ist es prziser, davon zu sprechen, dass das kosmische Gesetz die perfekte Vernunft ist, das aktive Prinzip.640 Sicher wrde Marc Aurel diese Identifizierung nicht bestreiten, wie die zwei Kapitel deutlich machen, in denen er das gemeinsame Gesetz erwhnt. Aber dass die kosmische Vernunft auch Gesetz ist, scheint fr ihn kein besonders ausschlaggebendes Moment zu sein. Zum anderen ist auch die religiçse Begrndung des gemeinsamen Gesetzes anhand der Identifizierung des gemeinsamen Gesetzes mit Zeus bei Marc Aurel nicht einschlgig.641 Beide Identifizierungen verweisen selber wieder auf eine Identitt, nmlich die von Zeus, der perfekten Vernunft, dem aktiven Prinzip und der Vorsehung. Dass Marc Aurel das kosmische Gesetz selten mit Zeus identifiziert, besttigt noch einmal, dass er, was religiçse Aspekte betrifft, immer dann besonders zurckhaltend ist, wenn es um persçnliche religiçse Erfahrungen geht und vor allem kein stark personal geprgtes Gottesverstndnis hat, so wie es bei Epiktet vorliegt. An diesem Punkt kçnnte sich ein ausfhrlicher Vergleich zu Epiktet anschließen.642 Hier mssen einige wenige Hinweise gengen. G. R. 639 Zu solchen in der Stoa hufigen Identifizierungen siehe Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 45 – 7. 640 Siehe z. B. Diog. Laert. 7, 87 oder Cic. Leg. 1, 23. 641 Siehe etwa Diog. Laert. 7, 88. 642 Die folgenden Ausfhrungen nehmen einen Versuch von Stanton auf (Stanton, G. R.: The Cosmopolitan ideas of Epictetus and Marcus Aurelius, a.a.O.). Stanton hat sehr frh und vçllig zu Recht darauf hingewiesen, dass unser Bild von den rçmischen Stoikern außerordentlich undifferenziert ist. Lange war die Ansicht vorherrschend, insbesondere Marc Aurel und Epiktet wrden absolut identische Positionen vertreten (siehe Long, G.: The Thought of the Emperor Marcus Aurelius Antoninus, a.a.O., S. 35 – 6; Bussel, F. W.: Marcus Aurelius and Later Stoics, a.a.O., S. 120; Matheson, P. E.: Epictetus, the Discourses and Manual, a.a.O.;
518
3. Die Natur des Menschen
Stanton hat die These vertreten, Epiktet ginge es um die Ableitung praktischer Empfehlungen aus der kosmopolitischen Vorstellung, „Marcus Aurelius, on the other hand, concentrates on the theory of the universal state.“643 Stanton zufolge ist es nach Marc Aurel auch die Aufgabe des Weltbrgers „to work from observation to theory“.644 Stanton weist zu Recht darauf hin, dass es in den Selbstbetrachtungen verschiedene Verbindungen von Vernunft und kosmischer politischer Gemeinschaft gibt.645 Aber er bersieht mit seinen Thesen, dass fr Marc Aurel die kosmische Gemeinschaft durch aktives Zusammenwirken konstituiert wird, durch die Aktivitt einzelner, die sich aber als Glied einer Gemeinschaft auffassen und ihr Handeln am Gemeinwohl ausrichten. Doch es gibt andere Unterschiede zwischen Marc Aurel und Epiktet, die die kosmische Gemeinschaft betreffen. Bei Epiktet ist die kosmische Gemeinschaft zunchst eine Gemeinschaft der Menschen mit Gott. Da jeder Mensch gleichermaßen mit Gott lebt, Teil von ihm ist, ist er auch den anderen Menschen gleich und lebt mit ihnen gemeinsam.646 Epiktets Vorstellung von der kosmischen Gemeinschaft ist also erst sekundr eine Vorstellung von der Verwandtschaft bzw. Gemeinschaft der Menschen, und zwar aus zwei Grnden: Erstens ist die politische Gemeinschaft der Menschen abgeleitet und dabei gleichzeitig theologisch begrndet. Im Unterschied dazu betont Marc Aurel die Gemeinschaft der Menschen miteinander, daraus leitet er
643 644 645 646
Farquharson, A. S. L.: Marcus Aurelius. His life and his work, a.a.O., S. 60; Russell, B.: History of Western Philosophy, a.a.O., S. 283 f.; Pohlenz, M.: Die Stoa, Bd. 1, a.a.O.). Es wurden dann etwas vorsichtigere Ansichten geußert (z. B. Arnold, E. V.: Roman Stoicism, a.a.O., S. 119) oder Vergleiche angemahnt (Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 269). Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., fllt wieder ganz auf die alte Position zurck und auch Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., ist nicht immer an einer Unterscheidung interessiert. Ein Vergleich kann hier (siehe die methodischen berlegungen Kap. II 1) nicht vorgenommen werden, er wird vielmehr vorbereitet, denn eine unabhngige Beschreibung des zu Vergleichenden ist der erste Schritt und nur der wird hier fr Marc Aurel unternommen. Stanton, G. R.: The Cosmopolitan ideas of Epictetus and Marcus Aurelius, a.a.O., S. 187. Ebd., S. 184. Von den oben genannten Aspekten (a)-(e) nennt Stanton zwei: die Bedeutung der geteilten Vernunft und der Gemeinschaft als oberstes Ziel. Siehe Arr. Epict. diss. 1, 9, 1 – 6; 1, 6, 12 – 21. Siehe auch die Diatribe zum Kynismus 3, 22, 1 – 4ff.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
519
die meisten ethischen Forderungen ab. Die Gemeinschaft der Menschen, ihre Verwandtschaft und Gleichheit ist das, was fr ihn die menschliche Natur bestimmt und daher auch ihr Denken und Handeln leiten soll. Natrlich erschließt auch Marc Aurel die Gemeinschaft der Menschen aus einem anderen Verhltnis, der Partizipation jedes Menschen an derselben Vernunft. Man mag einwenden, dass Epiktet der Sache nach nicht viel anderes sagt, da Zeus und Vernunft identifiziert werden, aber Epiktet betont das Verhltnis von Gott und Mensch, whrend Marc Aurel dem der Menschen untereinander mehr Raum und Bedeutung einrumt. Zweitens ist es bezeichnend, dass Marc Aurel von geteilter Vernunft spricht und Epiktet eben von einem personalisierten Gott. Auch fr Marc Aurel hat die politische Gemeinschaft religiçse Zge, aber diese werden randstndig behandelt und entsprechende Formulierungen scheinen allein der Illustration zu dienen. Es wird daraus selten etwas gefolgert. Inhaltlich hat der Bezug auf Gçttliches nicht die personalisierten monotheistischen Tçne wie bei Epiktet, sondern ein solcher Bezug ist selten, argumentativ wenig bedeutsam und hat dann vorrangig die bereits beschriebenen entpersonalisierten Zge. Ad (ii) und (iii) Die Population der kosmischen Polis. In der frhen Stoa finden sich vier Angaben zu den Mitgliedern der kosmischen politischen Gemeinschaft: (a) die Weisen,647 (b) alle Menschen,648 (c) die Gçtter und die Menschen und (d) die Gçtter und die Weisen.649 647 ber Zenon gibt Diogenes Laertius einen Bericht wieder: „dass er alle, die nicht der Tugend teilhaftig wren, fr Leute erklre, die zueinander in einem Verhltnis der Gehssigkeit, der Feindschaft, der Knechtschaft und Entfremdung stnden, und das gelte eben sowohl von Eltern und Kindern wie von Brdern und Verwandten in ihren gegenseitigen Beziehungen. Dementsprechend stelle er andererseits in seinem Staate nur die wirklich Tugendhaften als solche hin, die man als Mitbrger, Freunde und Verwandte und Freie bezeichnen drfe.“ (Diog. Laert. 7, 32). 648 „…vielmehr sollten wir alle Menschen als Mitglieder unserer Gemeinde und als Mitbrger ansehen, und es sollte eine Art zu leben und eine Ordnung geben, hnlich wie bei einer Herde, die zusammen weidet und durch ein gemeinsames Gesetz genhrt wird. Zenon schrieb dies und malte sozusagen einen Traum oder ein Bild von der guten Gesetzgebung und dem Staat eines Philosophen…“ Plut. De Alex. fort. 6, 329 A-B (=LS 67 A). Siehe dazu auch Vogt, K.: Plutarch ber Zenons Traum, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy, a.a.O., S. 196 – 217. 649 Siehe fr (iii) und (iv) Arius Didymus bei Euseb. Praep. evang. 15, 153 – 5 (=LS 67 L): „Als Welt bezeichnet man auch die Wohnstatt der Gçtter und der Menschen
520
3. Die Natur des Menschen
Die Frage, wie diese Bestimmungen fr sich und insbesondere ihr Verhltnis zueinander zu verstehen sind, wurde eingehend diskutiert.650 Stark vereinfachend lsst sich sagen, dass die frhere Forschung sehr stark die Brgerschaft des Weisen (als Mitbrger der Gçtter) betont hat. Dagegen hat K. Vogt jngst dafr argumentiert, dass die These (b), der zufolge alle Menschen Mitglieder der kosmischen Gemeinschaft seien, erstens mehr Beachtung gebhrt und dass sie zweitens keineswegs inkompatibel mit den anderen Thesen sei. Stark verkrzt lautet ihre Lçsung, dass es mehr als eine Form der Zugehçrigkeit zur kosmischen Polis gibt. Neben einer Brgerschaft, die den Weisen vorbehalten ist, kçnnen NichtWeise zur Population gezhlt werden, so wie Metçken, Frauen oder Sklaven.651 Alle vier Aussagen bilden Vogt zufolge eine einzige komplexe Theorie, die konsistent ist. Angenommen K. Vogts Gesamtargument ist berzeugend und die universalistische Vorstellung, dass alle Menschen Mitglied der kosmischen Gemeinschaft sind, ist bereits Bestandteil der frh-stoischen Auffassung, so fhrt dies schnell zum Schluss, Marc Aurels Auffassung weise gegenber der frhen stoischen Position kaum Unterschiede auf. Marc Aurel, so kçnnte man vermuten, konzentriere sich nur auf die universalistische These, dass alle Menschen zur kosmischen Gemeinschaft gehçren. Im Folgenden geht es weniger darum zu zeigen, dass Marc Aurel in der Tat nicht nur eine reduzierte, weniger ausdifferenzierte Variante der kosmopolitischen Vorstellung vertritt, sondern auch deutlich andere Akzente setzt. Insbesondere zwei Gruppen von Unterscheidungen fehlen in den Selbstbetrachtungen. Da ist zum einen die Unterscheidung von NichtWeisen, Weisen und Gçttern als mçgliche Brger oder Bewohner einer politischen Gemeinschaft. Und zum anderen die Unterscheidung von sowie das Gefge [aus Gçttern und Menschen] und dem, was um derentwillen erschaffen ist. Denn in der Weise, wie man in zweierlei Sinn von einer Stadt spricht, einerseits im Sinn von Wohnstatt, andererseits im Sinne des Gefges aus denen, die darin zusammen mit den Brgern wohnen, in derselben Weise ist auch die Welt sozusagen eine aus Gçttern und Menschen bestehende Stadt, wobei die Gçtter die Fhrungsaufgaben versehen und die Menschen ihnen untergeben sind. Gemeinschaft besteht zwischen ihnen, weil sie an der Vernunft teilhaben, die von Natur aus Gesetz ist; und alles andere ist um ihretwillen geschaffen.“ 650 Siehe Schofield, M.: The Stoic Idea of the City, Cambridge 1991; Vander Waerdt, P.: Politics and Philosophy in Stoicism, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 9 (1991), S. 185 – 211; Obbrink, D.: The Stoic Sage in the Cosmic City, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 178 – 195. 651 Siehe Vogt, K.: Law, Reason and the Cosmic City, a.a.O., S. 73 ff.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
521
verschiedenen funktionalen Gruppen einer politischen Gemeinschaft: Gesetzgeber, Vollbrger, brgerrechtslose Mitbewohner. Was die erste Unterscheidung betrifft, ist festzustellen, dass Marc Aurel zwischen Gçttern und Menschen unterscheidet, aber nicht zwischen Weisen und Nicht-Weisen. Die Distinktion von Weisen und Toren ist nicht notwendig identisch mit der bei Marc Aurel so hufig und vielfltig vorkommenden Distinktion von Menschen, die falsch handeln, und denen, die darauf reagieren mssen. Marc Aurel erwhnt damit Gçtter und zwei Arten von Menschen, solche die zeitweise, einmalig oder mehrmals nicht gemß der Tugend handeln, und andere, von denen aber nicht im Gegenzug gesagt wird, dass sie dauerhaft weise agieren. Abgesehen von dem Umstand, dass diese Dreiteilung nicht mit der frhstoischen identisch ist, ist entscheidend, dass Marc Aurel sie nicht als Dreiteilung einer politischen Gemeinschaft darstellt bzw. ihnen entsprechende politische Funktionen zuteilt. Dass er Gçtter und die zwei Typen von Menschen ber die Selbstbetrachtungen verteilt erwhnt, bedeutet somit nicht, dass es sich dabei um eine politische Aussage handelt. Dem entspricht das Fehlen der zweiten Gruppe von Unterscheidungen, der Differenzierung von mit bestimmten Funktionen versehenen Gruppen einer politischen Gemeinschaft, z. B. Gesetzgeber, Brger und Untergebene. Solche Differenzierungen thematisiert Marc Aurel generell nicht eigenstndig. Heißt das nun, dass sich Marc Aurel auf die altstoische Behauptung konzentriert, alle Menschen wrden in einer kosmischen Polis leben, und darber hinaus keinerlei Differenzierungen, geschweige denn Neuerungen anbietet? Damit wrde er nur eine reduzierte, vereinfachte Form der alten stoischen Theorie vorbringen. Mit der weitgehenden Nichtbeachtung der genannten Unterscheidung verbindet sich jedoch eine von Marc Aurel beabsichtigte Nivellierung der darin implizierten Hierarchien und Ausgrenzungen. Die politische Gemeinschaft ist bei ihm umfassender und egalitrer konzipiert. Die fehlende Unterscheidung ist dabei Ausdruck der verloren gegangenen Bedeutung der perfekten Vernunft als Voraussetzung fr die Mitgliedschaft. Zumindest wird sie nirgends in Absetzung von einer nicht-perfekten Vernunft thematisiert. Das kçnnte ein weiteres unterscheidendes Merkmal sein. In diesen Fragen besteht ein Unterschied zur frh-stoischen Position. Deutlich wird dies, wenn man Marc Aurels Aussagen ber die Gemein-
522
3. Die Natur des Menschen
schaft der Menschen bercksichtigt, in denen von nicht vernnftig agierenden Menschen die Rede ist. Nach frh-stoischer Lehre ist mit diesen Menschen weder eine politische Gemeinschaft noch Freundschaft und Verwandtschaft mçglich.652 Genau diese Gemeinschaft wird von Marc Aurel aber immer betont. Da Marc Aurel die Unterscheidung zwischen Weisen und Menschen nicht ausdrcklich vornimmt oder verwendet, ist die Frage, in welcher Art politischer Gemeinschaft der Mensch seiner Natur gemß lebt, anhand anderer Texte zu entscheiden. Doch bereits der Umstand, dass diese Unterscheidung, ebenso wie die zu den Gçttern, hier nicht gemacht wird, ist signifikant. Denn anderenorts nimmt Marc Aurel Beschreibungen vor, die durchaus an die gngige stoische Beschreibung des Weisen anknpfen und offenbar hnliche Personen meinen, z. B. dann, wenn Marc Aurel von jemandem spricht, der alles weiß bzw. gesehen hat. Wenn die Vorstellungen eines Weisen ihm nicht vçllig fremd sind – und wie sollte sie einem Stoiker ganz abgehen – ist es bezeichnend, dass er sie hier im politischen Kontext nicht anbringt. Interessant fr seine Auffassung von der politischen Natur der Menschen ist die Frage, wer zu den Mitgliedern der politischen Gemeinschaft zhlt. Nach frherer stoischer Auffassung kçnnen schlecht handelnde Menschen weder Freunde noch Verwandte sein. Selbst Eltern und Kinder sind dann verfeindet, wenn sie nicht weise sind.653 Marc Aurel behandelt dieses Problem von zwei Perspektiven aus. Zum einen beschreibt er den sozialen Zusammenhalt der Menschen von einem neutralen Standpunkt aus. Man kçnnte dies als neutrale Perspektive der dritten Person bezeichnen. Viel hufiger aber whlt er einen anderen Standpunkt fr die Beantwortung der Frage, ob jemand zur natrlicherweise bestehenden Gemeinschaft zu zhlen ist, nmlich die Perspektive der persçnlichen Involviertheit. Genauer behandelt er dann die Frage, ob jemand, der von anderen geschdigt wurde, diese ungerechten Menschen noch als Mitglied der Gemeinschaft, als Verwandte und Mithandelnde auffassen soll. Whrend die erste Perspektive theoretischer orientiert ist, schildert die zweite das Problem aus einer praktischen Perspektive bzw. Situation heraus.
652 Siehe Diog. Laert. 7, 32. 653 Siehe Diog. Laert. 7, 33.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
523
Die neutral-theoretische Perspektive scheint zunchst der frh-stoischen Auffassung zu entsprechen, dass mit nicht tugendhaften Menschen keinerlei Gemeinschaft mçglich ist: Ein Flchtling ist, wer sich der staatlichen Vernunft entzieht, ein Blinder, wer das Auge der Vernunft schließt, ein Bettler, wer auf einen anderen angewiesen ist und nicht alles, was fr das Leben ntzlich ist, aus sich selbst zur Verfgung hat. Ein Abgesonderter des Kosmos ist, wer sich entfernt und trennt von der Vernunft der gemeinsamen Natur, indem er sich nicht mit dem, was geschieht, zufrieden gibt. Denn die Natur, die auch dich hervorgebracht hat, bringt dies hervor. Ein von der menschlichen Gemeinschaft Abgetrennter ist, wer seine eigene Seele von der einen Seele alles Vernnftigen abtrennt.654
Ein weiteres Kapitel scheint noch deutlicher zu sein, es fhrt dabei aber eine andere Vorstellung ein. Der Agent einer nicht tugendgemßen Handlung trennt oder entfernt sich hier nicht von der Gemeinschaft, sondern zerstçrt sie. Marc Aurel schreibt, jede deiner Taten, die in keinem unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zu dem Ziel der menschlichen Gemeinschaft steht, zerreißt das Leben, zerstçrt seine Einheit und ist aufrhrerisch wie ein Mensch, der innerhalb seines Volkes, was seine Person betrifft, aus einem solchen Zusammenhang heraustritt.655
Mit der Behauptung, die tugendlose Handlung zerstçre die Gemeinschaft geht Marc Aurel viel weiter als nur eine Absonderung von Gemeinschaft zu behaupten. Vom monistischen Verstndnis her ist die These jedoch konsequent, denn der Monismus lsst keine Ausnahmen zu. Verhlt sich etwas im Kosmos nicht rational, ist die gesamte Ordnung nicht mehr einheitlich, d. h. nicht mehr komplett rational. Gleichwohl scheint Marc Aurel hier keinen solch strengen Maßstab anzulegen. Er mçchte offenbar darauf hinweisen, wie sehr eine nicht tugendgemße Handlung gegen die natrlichen Prinzipien verstçßt. Klar ist zumindest, dass eine solche Handlung nicht dauerhaft zerstçrend sein kann. Denn nach einer ersten Fehlhandlung eines Menschen wre die Gemeinschaft damit fr immer vernichtet. Und angesichts der Verbreitung von Ungerechtigkeiten wrde sie niemals Bestand haben. Marc Aurels Rede davon, dass jede ungerechte Handlung zerstçrerisch ist, impliziert aber, dass es viele solche Angriffe auf die Kohrenz des 654 M. Aur. Med. 4, 29. 655 ovtyr ja· p÷sa pq÷n¸r sou sulpkgqytijμ 5sty fy/r pokitij/r. Ftir 1±m owm pq÷n¸r sou lμ 5w, tμm !mavoq²m, eUte pqosew_r eUte pºqqyhem, 1p· t¹ joimymij¹m t´kor, avtg diaspø t¹m b¸om ja· oqj 1ø 6ma eWmai ja· stasi¾dgr 1st¸m, ¦speq 1m d¶l\ b t¹ jah’ art¹m l´qor diist²lemor !p¹ t/r toia¼tgr sulvym¸ar. M. Aur. Med. 9, 23.
524
3. Die Natur des Menschen
Ganzen gibt, so dass nicht jeder davon vollumfnglich bzw. dauerhaft erfolgreich sein kann. Diesen Punkt besttigt ein anderes in diesem Zusammenhang wichtiges Kapitel: Wenn du einmal eine abgehauene Hand, einen Fuß oder einen abgeschnittenen Kopf getrennt von dem brigen Kçrper hast liegen sehen – so etwas tut sich derjenige selbst an, der, soweit es an ihm liegt, nicht will, was ihm passiert, und der sich absondert oder etwas tut, was fr die Gemeinschaft schdlich ist. Da hast du dich irgendwie von der natrlichen Einheit losgerissen. Denn du warst doch als ein Teil (dieser Einheit) geschaffen worden. Jetzt hast du dich selbst abgeschnitten. Aber da gibt es jene schçne Mçglichkeit, dass es dir wieder erlaubt ist, dich wieder (mit dem Ganzen) zu vereinigen. Diese Mçglichkeit hat Gott keinem anderen Teil (des Kosmos) gegeben, nachdem er abgetrennt oder abgeschlagen wurde, wieder (mit den brigen Teilen) zusammenzuwachsen. Aber denk doch einmal an die Gte, mit der Gott den Menschen geehrt hat. Denn er hat es ihm mçglich gemacht, dass er gar nicht aus dem Ganzen herausgerissen wird und dass er, wenn er herausgerissen wurde, wieder zurckkehren, wieder anwachsen und seinen Platz als Teil (des Ganzen) wieder einnehmen kann.656
Hier ist von Zerstçrung keine Rede mehr. Vielmehr kann nach einer ungerechten Tat, einer Absonderung von der Gemeinschaft, eine Wiedereingliederung erfolgen. Und eine Wiedereingliederung setzt das Weiterbestehen der Gemeinschaft nach einer falschen Tat voraus. Dass die eine Gemeinschaft aller Menschen durch eine einzige Tat eines einzelnen Menschen zerstçrt wird, wre aus zwei Grnden auch unplausibel. Erstens wre die natrlicherweise bestehende Gemeinschaft damit ußerst fragil konzipiert, was ihrer Natrlichkeit und Gottgewolltheit widersprechen wrde. Zweitens wre es nicht ganz verstndlich, warum die sozialen Bande zwischen den brigen Menschen bestehen sollten, wenn ein Mensch falsch handelt. Nur von der theoretischen Perspektive des Monismus aus konnte also von einer Zerstçrung gesprochen werden, denn wenn Monismus meint, dass es nur eine einzige Ordnung gibt, die gemeinschaftlich ist, wrde der Monismus nicht mehr gelten, weil es dann ein anderes Prinzip gibt oder etwas, das außerhalb der gemeinschaftlichen Ordnung bzw. des angeblich einen Prinzips steht. Die soziale Bindung ist also stabil und belastbar. Die Mçglichkeit der Wiedereingliederung wird dann in einem anderen Kapitel, das ebenfalls mit einer Analogie zum organischen Bereich argumentiert, wieder aufgenommen und przisiert, d. h. hier eingeschrnkt:
656 M. Aur. Med. 8, 34.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
525
Ein Zweig, der von dem Zweig, an dem er wuchs, abgeschnitten wurde, ist unwiderruflich auch von dem ganzen Baum abgetrennt. So ist also auch ein Mensch, der sich von einem einzigen Menschen getrennt hat, aus der ganzen Gemeinschaft herausgefallen. Einen Zweig schneidet ein anderer ab. Ein Mensch aber trennt sich selbst von seinem Mitmenschen, weil er ihn hasst und sich von ihm abwendet. Er weiß aber nicht, dass er sich zugleich auch von der Gemeinschaft als ganzer abgeschnitten hat. Abgesehen davon ist jene Gemeinschaft ein Geschenk des Zeus, der sie zusammengefgt hat. Es ist uns nmlich mçglich, wieder zusammenzuwachsen mit dem Nachbarn und wieder dazu beizutragen, dass das Ganze ergnzt wird. Wenn freilich eine Abtrennung dieser Art hufiger erfolgt, dann fhrt dies dazu, dass der Teil, der sich absondert, nur unter Schwierigkeiten wieder mit dem brigen zu vereinigen und kaum mehr zu integrieren ist. berhaupt ist der Zweig, der von Anfang an mit den brigen zusammengewachsen und in einer Lebensgemeinschaft mit ihnen geblieben ist, dem nicht mehr gleich, der nach der Abtrennung wieder eingepfropft wird, mçgen die Grtner sagen, was sie wollen.657
Die Resozialisierung wird hier detaillierter beschrieben. Sie ist erstens nicht unendlich wiederholbar, weil mehrfaches nicht-gemeinschaftsorientiertes Handeln den so agierenden Menschen verndert, so dass er nicht mehr integrierbar ist. Zweitens bleibt die Resozialisierung nicht ohne Spuren. Zwar ist die Gemeinschaft wieder hergestellt, aber der wiederintegrierte Teil ist durch die Trennung selbst verndert und die wiederhergestellte Verbindung zur Gemeinschaft ist von schlechterer Qualitt als eine dauerhaft natrlicherweise und ununterbrochen bestehende Verbindung. Drittens scheint Marc Aurel hier einen Hinweis zu geben, dass die Wiedereingliederungen ein aktives Geschehen erfordert, und zwar nicht nur seitens des durch seine eigenen Handlungen Abgetrennten, sondern gerade auch durch die Mitglieder der wiederaufnehmenden Gemeinschaft. Damit ist zu der zweiten oben erwhnten Perspektive bergeleitet, die persçnlicher und praktischer ist. Typisch ist folgendes Kapitel: Am Morgen soll man sich sagen: Ich werde mit einem beschrnkten, undankbaren, unverschmten, falschen, missgnstigen und unvertrglichen Kerl zusammentreffen. Alle diese Eigenschaften besitzen die Leute, weil sie nicht wissen, was gut und bçse ist. Da ich aber das Wesen des Guten erkannt habe, dass es schçn ist, und des Bçsen, dass es hsslich ist, und das Wesen dessen, der alles falsch macht, dass er mir verwandt ist – nicht weil er dasselbe Blut hat oder aus demselben Samen stammt, sondern weil er teilhat an demselben Geist und an denselben gçttlichen Gaben -, kann ich weder von einem dieser Leute geschdigt werden – denn in Hssliches wird mich niemand verstricken – noch kann ich meinem Verwandten zrnen oder sein Feind sein. Denn wir sind da, um zusammenzuarbeiten, wie die Fße, Hnde, Augenlider oder die Reihen 657 M. Aur. Med. 11, 8.
526
3. Die Natur des Menschen
der oberen und unteren Zhne. Gegeneinander zu arbeiten wre gegen die Natur. Man arbeitet aber gegeneinander, wenn man rgerlich ist und sich abwendet.658
Marc Aurel bereitet sich hier auf die Situation vor, dass jemand, dem er begegnen wird, ungerecht handelt. Er beschreibt sich als jemand, der wissend ist, wobei allerdings nicht davon auszugehen ist, dass Marc Aurel sich damit als ein Weiser stilisiert.659 Bemerkenswert ist nicht nur, dass derjenige der ungerecht handelt, auch wegen bzw. nach seiner die Gemeinschaft verachtenden Tat, als Teil derselben, als Freund und Verwandter, behandelt werden soll. Interessant ist vor allem der Schluss des Kapitels, weil Marc Aurel dort sagt, man msse den Untugendhaften weiterhin als Mitglied der Gemeinschaft betrachten, weil man sich durch Zorn sonst selbst von der Gemeinschaft abwendet.660 Stattdessen, so betont Marc Aurel sehr hufig, sind zwei Reaktionen vonnçten, die die Gemeinschaft aufrechterhalten: Belehrung661 und Liebe oder Freundschaft und Wohlwollen.662 Nur von der theoretischen, neutralen Perspektive nimmt es sich aus, als wrden die beltter die Gemeinschaft verlassen. Fr die anderen Mitglieder bleiben sie, praktisch gesehen, ein solches Mitglied, auch wenn sie besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung in Form von Vergebung und Belehrung brauchen. „Denn auch mit ihnen hatte dich die Natur verknpft und verbunden.“663 Es ließe sich vermuten, dass sich die Forderung, falsch Handelnde weiterhin als Verwandte und Mitglieder der kosmischen Gemeinschaft zu betrachten, nur individuell tugend-ethisch begrndet sei, also dem Verbot gleichkomme, sich aufzuregen oder Rache zu ben, weil das der eigenen Glckseligkeit schaden wrde. Damit wre die Forderung nicht kosmopolitisch begrndet bzw. wrde wenig ber Marc Aurels Konzeption des Menschen als eines vernnftigen und politischen Wesens aussagen. 658 M. Aur. Med. 2, 1. 659 Siehe auch eindeutig M. Aur. Med. 3, 11. 660 „Was der Stadt nicht schdlich ist, schdigt auch nicht den einzelnen Brger. Immer wenn du dir vorstellst, geschdigt worden zu sein, leg diesen Maßstab an: Wenn die Stadt dadurch keinen Schaden erleidet, habe auch ich keinen Schaden. Wenn aber die Stadt geschdigt wird, darf man demjenigen nicht zrnen, der die Stadt schdigt, sondern man muss ihm zeigen, was er falsch gemacht hat.“ M. Aur. Med. 5, 22 (siehe auch 5, 38). 661 Siehe M. Aur. Med. 8, 59; 9, 11. 662 Siehe M. Aur. Med. 3, 11; 11, 9 und 11, 13. 663 M. Aur. Med. 10, 36.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
527
Demnach ginge es hier vorrangig um eine spezielle Affekttherapie, nmlich die Prvention bzw. Kurierung von Zorn. Der Mensch ist nach Marc Aurel aber nicht nur politisch, wenn er vollumfnglich vernnftig ist und sich entsprechend verhlt. Von den oben genannten Argumenten oder Aspekten des Schlusses von der vernnftigen Natur des Menschen auf die gemeinschaftliche Natur haben nmlich einige Bestand auch dann, wenn ein Mensch sich aufgrund von Unwissenheit aktualiter untugendhaft und damit unsozial verhlt. Denn auch fr ihn gilt weiterhin, dass die Gemeinschaft etwas auch fr die Zukunft von der Vorsehung Gewolltes und Vorherbestimmtes ist. Auch Zuwiderhandelnde sind Teil des kosmischen Geschehens. Marc Aurel rekurriert hier auf Heraklit, wenn er feststellt, dass die Zuwiderhandelnden auch im Akt der Nicht-Kooperation Teil des providentiellen Gesamt-Nexus sind. Alle wirken wir gemeinsam auf ein Ziel hin: einige mit vollem Bewusstsein, andere unwissend, wie auch Heraklit, glaube ich, die Schlafenden als aktive Mitarbeiter am Geschehen im Kosmos bezeichnet. Der eine wirkt auf diese, der andere auf jene Weise mit, zum berfluss aber auch derjenige, der sich stndig beschwert und versucht, dem Lauf der Welt entgegenzutreten und ihn aufzuhalten. Denn auch einen solchen Menschen braucht der Kosmos. Du musst dir nun auch noch klar werden, zu welchen Menschen du dich zhlst. Jener nmlich, der das Weltganze lenkt, wird dich jedenfalls richtig verwenden und als ein wichtiges Teilchen in die Reihe seiner Mitarbeiter und Helfer aufnehmen.664
Marc Aurel erinnert sich richtig, wenn er hier Heraklit erwhnt.665 Heraklit verwendet die Schlafmetapher, um epistemische Isolierung und eine damit einhergehende idiosynkratische Weltsicht zu beschreiben,666 die einer Abwesenheit gleicht. Aber Heraklit erwhnt dabei auch praktische Aspekte, denn obschon die Schlafenden, als unwissende Menschen, kognitiv isoliert und entfremdet sind,667 sind sie immer in der gemeinsamen Welt anwesend668 und Mitttige. 664 M. Aur. Med. 6, 42. 665 „Schlafende sind Ttige und Mitwirkende beim Geschehen der Welt.“ DK 22 B 75. Zu den hier von Marc Aurel angesprochenen Momenten bei Heraklit siehe von Ackeren, M.: Heraklit, a.a.O., Kap. 1. 666 „Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt; im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.“ DK 22 B 89 (siehe zur Metaphorik Mansfeld, J.: Heraclitus on psychology and physiology of sleep and on rivers, in: Mnemosyne 20 (1967), S. 1 – 29). 667 „Mit dem sie am engsten verkehren, dem Logos, von dem kehren sie sich ab, worauf sie tglich stoßen, das erscheint ihnen fremd.“ DK 22 B 73.
528
3. Die Natur des Menschen
Marc Aurel betont hier in Anlehnung an Heraklit einen praktischen Aspekt: Wer unwissend ist, trennt sich epistemisch von der Gemeinschaft, aber er handelt ja noch in Bezug auf sie. Er agiert weiterhin im Kosmos, und da der Kosmos der Ort der großen Polis ist, in der die Gemeinschaft aller Menschen lokalisiert ist, gibt es schon keinen Ort außerhalb der kosmischen Gemeinschaft. Damit entwickelt Marc Aurel zwei praktische Grnde, einen anderen Menschen, der schlecht handelt, weiterhin als Teil der kosmischen Polis anzusehen. Zum einen sollten die anderen Menschen ihn weiterhin so behandeln, und zum anderen agiert er weiterhin mit ihnen in einem Wechselverhltnis, so dass er zwar gegen die Gemeinschaft handelt und sich von den zugrundeliegenden Normen trennt, aber er tut dies notwendig im Rahmen des Kosmos und der dort bestehenden Polis. 3.2.4 Politik in menschlichen Gemeinschaften und soziale Bindungen Fr Marc Aurel spielt die politische Gemeinschaft aller vernunftbegabten Menschen im Kosmos eine zentrale Rolle zur Bestimmung der menschlichen Natur. Fraglich ist, ob sich die sozialen Beziehungen, die die politische Natur des Menschen impliziert, nur auf die kosmische Polis beziehen oder aber ob andere Gruppen unterhalb der kosmischen Ebene gemeint sein kçnnen. Die Frage stellt sich aus der stoischen Tradition heraus, der zufolge nur die kosmische Polis als Polis aufgefasst wird. Demzufolge wre der Mensch aufgrund seiner vernnftigen und politischen Natur nur auf diese Gemeinschaft der Menschen bezogen und nicht durch andere soziale oder politische Bezge bestimmt, die ihn in Bezug auf andere Menschen oder Menschengruppen verpflichten. Mit der Mitgliedschaft in der kosmischen Polis scheint Marc Aurel die Bedeutung des Politischen und damit der Behauptung, der Mensch habe eine politische Natur, auszuweiten. An dieser Auffassung sind einige Punkte untersuchungswrdig: (i) Wenn der Mensch eine Natur hat, die ihn mit allen anderen Menschen verknpft, lsst sich fragen, wie tiefgehend diese politisch-sozialen Bindungen sein kçnnen. Handelt es sich nicht bereits wegen des Umstandes, dass ein Mensch nicht alle Mitbrger der kosmischen Polis kennen kann, um ein nur abstraktes geistiges Band, das die Menschen verbindet? 668 „Die ohne Verstndnis hçren, gleichen Tauben; das Sprichwort bezeugt es ihnen ,Anwesend sind sie abwesend‘.“ DK 22 B 34.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
529
(ii) Widerspricht die Aufforderung, gemeinwohlorientiert zu denken und zu handeln, nicht der ebenfalls von Marc Aurel betonten Aufforderung, sich im Rahmen der Anachorese in sich selbst zurckzuziehen und auf sich selbst zu konzentrieren? Widerspricht die von Marc Aurel ins Feld gefhrte soziale Natur damit der Bestimmung der Vernunft als dem ganz Eigenen, von dem das Glck abhngt? (iii) Welche Rolle spielt die Politik im blichen Sinne, also im Falle Marc Aurels diejenige Roms? Wenn es nur eine kosmische Polis gibt, mssten politische Gemeinschaften bzw. Zugehçrigkeiten im landlufigen Sinne irrelevant sein oder sogar zu Einstellungen und Handlungen fhren, die dem Grundsatz, alle Menschen seien gleichermaßen Mitmenschen, entgegenstehen. (iv) Welche Bedeutung haben andere soziale Bindungen? Familie und Freunde drften ebenfalls keinen besonderen Stellenwert haben, wenn die Zugehçrigkeit zur kosmischen Polis einziges und streng zu nehmendes Kriterium fr die Ausrichtung der eigenen Handlungen ist. Ad (i) Abstrakte oder konkrete Gemeinschaft? Insbesondere die Erçrterung der Aufforderungen, politisch zu denken und zu agieren, lsst sich nicht nur im Rahmen der Philosophie erçrtern, z. B. auf Konsistenz hin zu untersuchen. Eine Reihe von Kommentatoren hat erstens zu Recht gefragt, ob Marc Aurel hier seine eigene Ttigkeit als Kaiser reflektiert oder sogar rechtfertigen und motivieren mçchte.669 Zweitens ist gefragt worden, ob die tatschliche Regierungspolitik Marc Aurels von seiner Philosophie beeinflusst wurde.670 Beide Fragen beziehen sich hier jedoch nur auf die Philosophie der Selbstbetrachtungen.
669 Diesen Punkt stellt Eric Brown in einer demnchst erscheinenden Studie zum antiken Kosmopolitismus heraus: „Marcus the Philosophical Mediator renews Marcus the Emperor.“ Brown, E.: unverçffentlichtlichte Arbeit ber Antiken Kosmpolitismus, voraussichtlich Cambridge 2010, S. 206. 670 Eine solche Untersuchung kann hier nicht geleistet werden, ein derartiger Vergleich wrde eine Darstellung und Bewertung von Marc Aurels Regierungsttigkeit voraussetzen. Da Marc Aurel mehrere Hundert Gesetze verabschiedet hat, wre bereits diese Untersuchung ußerst umfangreich. Ferner msste etwa seine Bildungspolitik, die Kriegsfhrung usw. bercksichtigt werden. Bestehende Versuche fr einen solchen Vergleich beziehen sich erstens immer nur auf Teilaspekte seiner Herrschaft und zweitens untersuchen sie seine Philosophie ußerst unzureichend.
530
3. Die Natur des Menschen
Generell hat auf den Zusammenhang von einer Konzentration auf sich selbst und der Bedeutung der Mitmenschen bereits Michel Foucault aufmerksam gemacht.671 Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Marc Aurel die menschliche Natur nicht nur mit einer kosmischen Gemeinschaft in Verbindung bringt, sondern auch andere soziale und politische Verbindungen als natrlich betrachtet. Damit wird behauptet, dass sich Marc Aurels Ausfhrungen zur politischen Natur des Menschen nicht ganz im kosmopolitischen Gedanken erschçpfen. Zunchst ist zu erçrtern, ob Marc Aurel zwischenmenschliche Beziehungen politischer und sozialer Natur durch ihre sehr abstrakte Fassung entwertet oder zumindest doch inhaltlich schwach und unkonkret fasst. Da andere Menschen nicht zum eigenen Verfgungsbereich zhlen, gehçren sie zu den Dingen, die indifferent sind. Wie kçnnen sie dann die ihnen zugeschriebene Bedeutung haben?672 Die Frage stellt sich fr Marc Aurels Auffassung in besonderer Weise, da bei ihm der Gemeinschaftsgedanke besonders ausgeprgt ist und zugleich wegen der Betonung von Liebe, Wohlwollen und Zuneigung gegenber den Unwissenden und daher schlecht Handelnden besonders ausgeprgt ist. Die Frage wird auch nicht durch den Hinweis auf die Bedeutung des Freundes entschrft, den der Weise hat.673 Denn weder ist bei Marc Aurel die Bedeutung der Beziehung zu anderen Menschen auf einen Freund beschrnkt, noch geht es ihm um den Weisen, zumindest nicht in Absetzung von den normalen Menschen.
671 Foucault tut dies ganz zu Recht und korrigiert damit die Vernachlssigung politischer und sozialer Aspekte, die Hadots Marc Aurel-Interpretation und seinen sonstigen Arbeiten zu den „geistigen bungen“ zu Eigen ist. Foucault untersucht ebenfalls folgende Frage: „Schließt das so definierte Heil als Beziehung zu sich selbst, das eben darin – und nur in dieser Beziehung – seine Vollendung findet, das Verhltnis zum Anderen gnzlich aus? Sind ,Rettung seiner selbst‘ und ,Rettung der anderen‘ jetzt endgltig voneinander abgekoppelt bzw. sind – um wieder das neuplatonische Vokabular zu benutzen – das Politische und das Kathartische endgltig voneinander abgelçst?“ (Foucault, M.: Hermeneutik des Subjekts, a.a.O., S. 244). Foucault untersucht daraufhin (ebd., S. 244 – 256) zuerst die Bedeutung der Freundschaft im Epikureismus, dann soziale Bindungen zu Familienangehçrigen in den Gesprchen Epiktets und schließlich die politische Machtausbung und die Philosophie Marc Aurels. 672 Auf das Problem hat Reydams-Schils hingewiesen (Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O. S. 53 ff.). 673 Siehe Diog. Laert. 7, 121 – 122 (=LS 60 M).
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
531
Die strenge altstoische Auffassung von dem, was „gut“ ist, erlaubt nicht, irgendetwas außerhalb des Verfgungsbereiches der Aktivitt des leitenden Seelenvermçgens als mehr als indifferent zu bezeichnen. Damit wren die anderen Menschen genauso wenig ein Gut wie der Kçrper, Ruhm oder materielle Objekte.674 Diese Vorstellung kennt Marc Aurel, und auch er bezeichnet andere Menschen als indifferente Objekte: Unter einer bestimmten Voraussetzung ist uns ein Mensch das vertrauteste Wesen, soweit man ihm Gutes tun und ihn aushalten muss. Sobald mich aber einige Menschen an der Erfllung meiner eigenen Aufgaben hindern, wird mir der Mensch zu einem der gleichgltigen Dinge (6m ti t_m !diavºqym) wie die Sonne, der Wind oder ein Tier. Von diesen kçnnte zwar eine Ttigkeit behindert werden, es entsteht aber fr meinen Willen und meine Einstellung keine Behinderung, weil ich sie gedanklich beseitige und umdrehe.675
Marc Aurel verwendet hier den stoischen terminus technicus und spricht von den gleichgltigen Dingen (!di\voqa). Doch diese Auffassung wird nur fr einen Sonderfall in Anschlag gebracht, nmlich nur die Behinderung einer Handlung durch einen anderen Menschen. Hier wird keine Aussage ber die Bedeutung der Mitmenschen fr den Menschen, also ber seine politische Natur getroffen, sondern es geht Marc Aurel hier um die sogenannte Vorbehaltsklausel,676 also die Behinderung einer als gut erkannten, gewollten und begonnenen Handlung, die dann durch etwas, das nicht im eigenen Verfgungsbereich liegt, nicht vollstndig ausgefhrt werden kann. Er wird in anderen Kapiteln klassisch stoisch dafr argumentieren, dass sich die Handlung in jedem Moment vollendet hat, und daher auch das Glck des Handelnden nicht vom vçlligen Vollzug der intendierten Handlung abhngt. Im Gegenteil, eine nderung der externen Bedingungen bis hin zur vçlligen Behinderung, lsst eine Handlung nicht unvollendet,677 sondern die neuen Bedingungen werden wie Brennstoff fr das Feuer auf die neue Gelegenheit gut reagieren:678 Versuche, die Menschen zu berzeugen, handle aber auch gegen ihren Willen, wenn der Geist der Gerechtigkeit es so verfgt. Wenn sich dir allerdings jemand unter Androhung von Gewalt in den Weg stellt, dann lass es dir gefallen, nimm keinen Anstoß daran, benutze die Behinderung zur Verwirklichung einer anderen Tugend und denk daran, dass du dich nur unter Vorbehalt in Bewegung setztest und nicht nach Unmçglichem streben wolltest. Wonach 674 675 676 677 678
In der Tat schreibt Epiktet, dass Menschen so wenig wertvoll wie Tassen seien. M. Aur. Med. 5, 20 (siehe auch Arr. Epict. diss. 4, 1, 100 – 102). Siehe Kap. II 5.5.2. Siehe Kap. II 5.5. Siehe dazu M. Aur. Med. 6, 1.
532
3. Die Natur des Menschen
denn? Nach einer Bewegung dieser Art. Das aber hast du erreicht. Wozu wir angetrieben werden, das geschieht auch.679
Es handelt sich hier um keine Einschtzung, die mit der Auffassung von der Natur des Menschen in Verbindung steht. Die Frage nach der Vereinbarkeit eines Menschenbildes, das politische Bindungen zu allen anderen Menschen vorsieht, und der strengen stoischen Auffassung von dem, was als „gut“ gelten kann, bleibt damit zunchst bestehen. G. Reydams-Schils hat sich dieser Frage im Kontext der rçmischen Stoa, mit einem deutlichen Fokus auf Seneca, angenommen. Ihr Argument rekonstruiert die nicht explizit gemachte Einordnung der sozialen Beziehungen als eine besondere Form der indifferenten Dinge (!di\voqa), nmlich solche, die vorzuziehen seien. Von diesen Dingen, die pqogcl]mom sind, sind diejenigen, die die Seele betreffen, wertvoller als die, die den Kçrper oder anderes Externes, wie Ruhm, betreffen.680 Reydams-Schils unterstreicht den Wert sozialer Bindungen ganz zu Recht, doch ihre Erklrung, sie seien pqogcl]mom, kann fr Marc Aurel nicht in Anschlag gebracht werden, er verwendet den Ausdruck und die dahinterstehende Theorie, es gebe indifferente, aber vorzuziehende Bindungen nicht. Er argumentiert sogar gegen sie und wendet sich damit wieder alt-stoischen und der abweichlerischen Position von Ariston von Chios zu.681 Dennoch weisen Reydams-Schils Ausfhrungen in diese Richtung, denn sie erklrt mit dem Eintreten der rçmischen Stoiker fr konkrete Bindungen auch die Theorie der angemessenen Handlungen jah^jomta, und diese Theorie teilt Marc Aurel.682 Auf die theoretischen Probleme der Ethik Marc Aurels kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Dass er die Theorie, etwas sei pqogcl]mom, ablehnt, aber fr die Annahme von jah^jomta eintritt, ist nicht leicht zu verstehen, aber auch in Kombination ist es per se keine theoretische Unmçglichkeit. Wie so oft sieht Marc Aurel auch fr sich selbst keinen Bedarf fr weitere Erklrungen. Fr die Frage nach der Bedeutung anderer Menschen ist im Kontext der Bestimmung der Natur des Menschen entscheidend, dass Marc Aurel 679 M. Aur. Med. 6, 50. 680 So Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O. S. 59 ff. Reydams-Schils sttzt sich auf die Unterscheidung von Arius Didymus (vornehmlich bei Stobaios 2, 79 – 86). 681 Siehe Kap. II 5.2. 682 Siehe Kap. II 5.5.1.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
533
die Orientierung am Gemeinwohl und damit die anderen Menschen zu dem Kriterium fr das Handeln macht: sich vorrangig um die Menschen kmmert … Es ist nmlich nicht recht, dem vernunftbestimmten und gemeinschaftsbezogenen hçchsten Wert irgendeinen anderen Wert vorzuziehen.683
Deutlich wird hier, dass die beiden nicht zu trennenden Aspekte der menschlichen Natur auch zu einem Kriterium fr die Praxis werden. Das, was die Vernunft frei innerhalb ihres Verfgungsbereiches bestimmen kann, wird als Wert bezeichnet, der mit dem Gemeinnutzen identifiziert wird. Das Wohl der Gemeinschaft und der Menschen ist schon insofern nicht indifferent, weil es vernunftbestimmt ist.684 Diese Bedeutung der politischen Gemeinschaft als Kriterium fr das Handeln ist bei Marc Aurel eine konsequente Fortfhrung des bereits oben beschriebenen Zusammenhangs der beiden Aspekte der menschlichen Natur: Vernnftigkeit und Sozialitt des Menschen. Ad (ii) Anachorese vs. Gemeinschaft? Der Rckzug ist von vielen Kommentatoren berwertet worden, so wie sie den Gemeinschaftsgedanken nicht hinreichend gewrdigt haben. berhaupt besteht kein Widerspruch zwischen der Konzentration auf die eigene Vernunft und dem Anerkennen der eigenen politischen Natur. Denn erstens ist bereits die Vernunft bei Marc Aurel etwas Soziales, weil Gemeinsames, und zweitens manifestiert sich die politische Gemeinschaft durch ein gemeinsames Agieren, das die Gemeinschaft zum Ziel hat. Einerseits pldiert Marc Aurel fr die Bercksichtigung des Gemeinwohls, aber andererseits fordert er sich auf, nicht ber andere Menschen nachzudenken. Stattdessen scheint die Orientierung am Gemeinwohl in Konzentration auf die eigene Vernnftigkeit erreicht zu werden und nicht durch Auseinandersetzung mit den konkreten Mitmenschen: Vergeude nicht den Rest deines Lebens mit Gedanken ber andere Menschen, wenn du dies nicht mit Blick auf das Gemeinwohl tust. Sonst wirst du nmlich von einer anderen Ttigkeit abgehalten, wenn du dir darber Gedanken machst, was dieser oder jener tut und weshalb er es tut und was er sagt, was er denkt, was er treibt und sonst was noch dazu fhrt, dass du von der Beob683 M. Aur. Med. 3, 6. 684 Marc Aurel fordert sich auf, zu berlegen „welcher Art von Welt die Sache welchen Nutzen bringt und welchen Wert sie einerseits fr das Ganze und andererseits fr den Menschen als Brger des obersten Gemeinwesens hat, zu dem die brigen Gemeinwesen gleichsam wie Huser gehçren…“ (M. Aur. Med. 3, 11).
534
3. Die Natur des Menschen
achtung und Erforschung der hçchsten Instanz in dir selbst, der ,herrschenden Vernunft‘, abgebracht wirst.685
Hier scheint Marc Aurel in der Tat zu fordern, er solle gar nicht auf die Mitmenschen achten, sondern sich dem Rckzug, der Konzentration auf eigene Vernnftigkeit widmen. Aber erstens schrnkt Marc Aurel seine Aufforderung, nicht ber andere Menschen nachzudenken, ganz eindeutig ein. Wenn die Beschftigung mit der Lebensfhrung im Dienste des Gemeinwohls steht, dann scheint sie nicht nur statthaft, sondern geboten zu sein. Marc Aurel scheint hier also nur bestimmte Motive, z. B. Neid, Missgunst, Schadenfreude und Gier, fr die Beschftigung mit den anderen Menschen abzulehnen. Zweitens ist dies wohl das einzige Kapitel, das diese Interpretation auch nur prima facie erlaubt.686 Es ist schwer vorstellbar, dass Marc Aurel sich einerseits auf das Ziel der Gemeinschaft als dem Kriterium fr die Ethik festlegt687 und sich zu gemeinschaftlichem Handeln auffordert und andererseits dabei keine intensive Auseinandersetzung mit den Mitmenschen stattfinden soll. Gegen diese These, dass Marc Aurel sich nicht fr seine Mitmenschen interessiert, spricht ferner der Befund, dass sich sehr viele Kapitel der Selbstbetrachtungen mit dem Fehlverhalten der Mitmenschen bzw. der angemessenen Reaktion darauf beschftigen.688 Auch seine Aufforderung, die schlecht Handelnden zu belehren, schließt689 enge soziale Kontakte ein, da diese Belehrung nicht abstrakt erfolgen soll.690 Ferner gibt es viele Kapitel, in denen Marc Aurel sich ausdrcklich auffordert, sich den Mitmenschen zuzuwenden.691
685 M. Aur. Med. 3, 4. 686 Die anderen Kapitel, die Eric Brown in diesem Zusammenhang nennt (ohne die Interpretation selbst zu vertreten) lassen diesen Schluss gar nicht zu (siehe M. Aur. Med. 2, 1; 2, 13; 12, 26). 687 Siehe z. B. M. Aur. Med. 12, 20. 688 Schon die Erçrterung der Frage, ob auch die Fehlhandelnden noch Mitglieder der kosmischen Polis sind, belegt dies. Siehe ferner hier exemplarisch M. Aur. Med. 5, 28 und 11, 18. 689 Siehe M. Aur. Med. 8, 59. 690 Fr diesen Spannungsbogen siehe das Kapitel 9, 3 der Selbstbetrachtungen. Dort finden sich die genannten Momente wieder: Der Rckzug, die Auseinandersetzung mit den anderen Menschen bzw. ihrem Fehlverhalten, das Belehren, sogar Familiennachwuchs wird erwhnt. 691 „sich vorrangig um die Menschen kmmert … Es ist nmlich nicht recht, dem vernunftbestimmten und gemeinschaftsbezogenen hçchsten Wert irgendeinen anderen Wert vorzuziehen.“ M. Aur. Med. 3, 6. Ebenso: „Es ist ihm aber auch
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
535
Der Rckzug, die Anachorese, fhrt ebenfalls nicht notwendig zu einer Abkehr von den Menschen. Wenn die Vernunft sich auf sich selbst konzentriert, erkennt sie auch, dass sie sozial ist. Und das fhrt zu gerechtem Handeln: Konzentriere dich auf dich selbst. Der vernunftbegabte leitende Seelenteil hat die natrliche Fhigkeit, mit sich selbst zufrieden zu sein, wenn er gerecht handelt und eben dadurch innere Ruhe und Heiterkeit genießt.692
Mit der sozialen Bestimmung der Vernunft ist bereits indiziert, dass Glck und Tugend nicht einfach durch Rckzug, Passivitt und Kontemplation bestimmbar sind, sondern auch durch soziale Aktivitt. Dass Marc Aurel Gemeinschaftsorientierung empfiehlt, ist unstrittig.693 Die Bewertung seiner Vorstellungen ber soziale und politische Bindungen zu anderen Menschen hngt aber entscheidend von der Beantwortung der Frage ab, ob diese sozialen und politischen Bindungen von bestimmten positiven Affekten fundiert oder begleitet werden. Marc Aurel ist vorgeworfen worden, dass er soziale und politische Handlungen und Beziehungen auf der Basis der stoischen Theorie der Leidenschaften vçllig emotionslos konzipiert. Er tue dies „by teaching a type of detachment that undermines our connection to humanity“.694 In diesem Kapitel werden nur Marc Aurels Aussagen zu den politischen und sozialen Bindungen selbst untersucht. Die Frage nach dem emotionalen Fundament und den Folgen wird im Kontext seiner Theorie der Leidenschaften und positiven Affekte behandelt werden.695 Denn Stoiker verstehen die Leidenschaften als eine besondere Form des Antriebes oder Impulses (bql^). Es erscheint daher sinnvoll, die Frage nach der Rolle der Emotionen und Leidenschaften nach der Behandlung der Vorstellungen von bql^ bei Marc Aurel wieder aufzunehmen.
692 693 694
695
bewusst, dass alles Vernnftige miteinander verwandt ist und dass es der Natur des Menschen entspricht, sich um alle Menschen zu kmmern…“ M. Aur. Med. 3, 4. M. Aur. Med. 7, 28. Positiv vermerkt von Nussbaum in: Nussbaum, M. C.: Patriotism and Cosmopolitism, in: Nussbaum, M. C.: For Love of Country, Boston 2002, S. 3 – 20. Nussbaum, M. C.: Love; Literature and Human Universals, in: Kallhoff, A. (Hg.): M. C. Nussbaum. Ethics and Political Philosophy, Mnster 2000, S. 129 – 152, hier: S. 133. Siehe ferner: Nussbaum, M. C.: Kosmopolitismus heute: Tatschliche Chancen aller auf ein vollauf gutes Leben. Interview mit Martha C. Nussbaum. Angela Kallhoff, in: Zeitschrift fr Didaktik der Philosophie und Ethik (2001), S. 5 – 13; Nussbaum, M. C.: The Transfiguration of Everyday Life, in: Metaphilosophy 25 (1994), S. 238 – 261. Siehe Kap. II 5.4, besonders 5.4.1.
536
3. Die Natur des Menschen
Ad (iii) Kosmos vs. Rom? Entscheidend fr die Beantwortung der Frage, wie konkret sich die politische Natur des Menschen in Bezgen zu anderen Mitmenschen manifestiert, ist jedoch die Untersuchung der Frage, ob diese Vorstellung einerseits Politik im blichen Sinne, also auf Ebenen unterhalb der kosmischen Polis, einschließt und ob bzw. in welchem Ausmaße andere soziale Beziehungen fr Marc Aurel theoretisch von der Bestimmung der vernnftigen und politischen Natur eingeschlossen sind. Der Akzent der Untersuchung liegt dabei auf Marc Aurels philosophischen Bestimmungen und weniger auf der Frage, ob die Selbstbetrachtungen Aufschluss darber geben, welche sozialen Kontakte der Mensch oder Politiker Marc Aurel hatte.696 Die Erçrterung der Fragen nach der Bedeutung politischer und weiterer sozialer Beziehungen lsst sich vereinfacht an der Schilderung von Hierokles’ Kreisen erlutern. Der Passus bei Stobaeus lautet: Jeder von uns ist nmlich sozusagen von vielen Kreisen umgeben, wovon die einen kleiner und die anderen grçßer sind, die letzteren umschließend und die ersten umschlossen, entsprechend ihren unterschiedlichen und ungleichen Beziehungen zueinander. Denn der erste und engste Kreis ist der, den jemand wie um ein Zentrum herum gezogen hat, seinen eigenen Verstand. Dieser Kreis umschließt den Kçrper und alles, was um des Kçrpers willen hinzugenommen wird. Denn es ist beinahe der kleinste Kreis, und er berhrt fast das Zentrum. Von da aus der zweite Kreis ist zwar weiter vom Zentrum weg; er umschließt aber den ersten. In ihm haben die Eltern, die Geschwister, die Frau und die Kinder ihren Platz. Als nchstes kommt der dritte Kreis, der die Onkel und Tanten umfasst, die Großvter und Großmtter, die Neffen und Nichten, auch Vettern und Cousinen. Der Kreis danach bezieht die brigen Verwandten ein. Der nchste Kreis umschließt die Bewohner der Ortsgemeinden, der nchste die Mitglieder des Volksstammes, der nchste die Brger der Stadt und so weiter der Kreis der Leute aus den Nachbarstdten, dann der mit den Nachbarlndern. Der ußerste und grçßte Kreis, der alle diese Kreise umfasst, ist der des ganzen Menschengeschlechts. Nachdem man sich also hierber einen berblick verschafft hat, stellt sich fr den gut temperierten Mann bei der passenden Behandlung jeder Gruppe die Aufgabe, die Kreise irgendwie zum Zentrum zusammenzuziehen und mit Eifer stets die Leute aus den umschließenden Kreisen in die umschlossenen zu versetzen … Es obliegt uns, Leute aus dem dritten Kreis so zu respektieren wie die aus dem zweiten und die 696 Auch nicht untersucht wird die Frage, ob Marc Aurels Verhltnis zu Rom und rçmischen politischen Verhltnissen durch die orthodox stoische Vorstellung geprgt ist, dass alle reale Politik und alle Regierungen, also auch alle politischen Gemeinschaften defizitr oder sogar schlecht sind. Wenn ein stoischer Weiser sich dennoch politisch engagiert, sollte er so handeln als ob die politischen Akteure und die politischen Verhltnisse gut seien (siehe Plut. De stoic. rep. 1033 F und 1034 B). Den Hinweis auf diese Frage verdanke ich Geert Roskam.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
537
brige Verwandtschaft so zu respektieren wie die Menschen aus dem dritten Kreis. Denn obwohl die grçßere Entfernung dem Blut nach etwas von dem Wohlwollen wegnimmt, mssen wir trotzdem ernsthaft bemht sein, sie zu assimilieren. Das richtige Maß stellt sich nmlich dann ein, wenn wir durch Initiative die Distanz der Beziehung zu jeder Beziehung reduzieren. Die Hauptvorgehensweise dafr ist also dargestellt. Wir sollten aber auch etwas im Bereich der Bezeichnungen tun, die wir gebrauchen, indem wir Vettern auch Brder und Onkel und Tanten auch Vter und Mtter nennen … Denn diese Art der Anrede wre einerseits ein sehr deutliches Zeichen fr unser ernsthaftes Bemhen und sie alle wrden andererseits auch die angezeigte Zusammenziehung aller Kreise vorantreiben und intensivieren.697
Es soll hier nicht um eine ausfhrliche Kommentierung dieser sehr wichtigen Textpassage gehen, sondern sie soll nur zur Veranschaulichung herangezogen werden. Denn einige Elemente des Berichtes lassen sich unschwer auf die stoische Vorstellung vom Kosmos als Polis und die nun interessierende spezielle Frage nach der Bedeutung von politischen und sozialen Bindungen innerhalb der kosmischen Polis beziehen. Neben dem Zentrum, der Vernunft, ist vor allem die Benennung der Kreise interessant. Den ußersten Kreis, der das ganze Menschengeschlecht umfasst, kann man leicht als kosmische Polis auffassen, zumindest wenn man den Stoikern die Ansicht zuschreibt, alle Menschen und nicht nur Weise zhlen als Brger bzw. Mitglieder dazu. Und Marc Aurel teilt diese Auffassung. Interessant ist dann die im Text vorgenommene Unterteilung der weiteren Kreise. Nach dem Zentrum und dem innersten Kreis, des Kçrpers und dem ihm Dienenden folgen drei Kreise, die die immer entfernter werdenden Familiengrade betreffen. Dann folgen politische Kreise (Ortsgemeinde, Volksstamm, Stadtbrger, Nachbarstdte, Nachbarlnder). Der ußerste umfasst alle anderen konzentrisch angeordneten Kreise. Die Nennung und Unterscheidung der vielen inneren Kreise macht deutlich, wie differenziert die sozialen und politischen Bindungen aufgefasst wurden. Die Beschreibung von Hierokles gibt auch einen ersten wichtigen Hinweis in der Sache: Die Empfehlung lautet nicht, die engeren Kreise zu missachten und die Bindungen zu den damit bezeichneten Mitmenschen zu ignorieren. Mit dem kosmopolitischen Gedanken ist die Bedeutung der engeren Kreise demnach nicht aufgehoben.698 Dass die Menschen von entfernter liegen-
697 Diog. Laert. 57 G. 698 Aristoteles’ Kritik an Platon kçnnte ein historischer Hintergrund dieser berlegung sein. Aristoteles (Pol. 1261a4 ff.) wendet sich gegen die Vorstellung, dass zu
538
3. Die Natur des Menschen
den Kreisen wie die von engeren angesprochen und behandelt werden sollen, unterstreicht die Bedeutung der Bindungen zu den Menschen der engeren Kreise, also von sozialen und politischen Beziehungen im blichen Sinne. Die fr die engeren Kreise spezifischen Handlungen sollen nun auf alle Menschen ausgedehnt werden. Weitergehend ist die Interpretation, es sei gemeint, die Wertschtzung gegenber allen Menschen manifestiere sich im Kontext der engeren Kreise, also im Rahmen von familiren, sozialen Beziehungen und Politik im blichen Sinne. Der Kosmopolitismus „is meant to be contextualised in specific relations.“699 Der Frage, welche politischen und sozialen Bindungen Marc Aurel thematisiert, ist nun getrennt nachzugehen. Zunchst (ad iii) ist zu fragen, welche Rolle Politik im blichen Sinne im Rahmen der Vorstellung spielt, der Mensch sei von Natur aus politisch. Marc Aurel pldiert dafr, alle Menschen aufgrund ihrer Vernunftbegabung als Angehçrige der kosmischen Polis zu betrachten und entsprechend im eigenen Handeln zu bercksichtigen. Die Handlungsentscheidungen orientieren sich damit an dem ußersten Kreis von Hierokles, der als eigentliche politische Gemeinschaft aufgefasst wird. In der Tat spielt Politik im blichen Sinne und, wie vielleicht zu erwarten ist, rçmische Politik, keine besonders gewichtige Rolle in den Selbstbetrachtungen. Zum einen nennt Marc Aurel zwar viele einschlgige rçmische Politiker und Namen von çffentlicher Bedeutung,700 aber er tut dies meistens nicht, enge familire und soziale Bindung der Orientierung am Gemeinwohl im Wege stehen wrde. Dabei ist wohl die platonische Vorstellung (Resp. V) gemeint. 699 Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., S. 77. Eine andere Variante oder Gewichtung dieses Arguments vertritt Eric Brown, die aber nur auf den politischen Aspekt abhebt und nach der Vereinbarkeit von kosmopolitischem Engagement und dem fr eine bestimmte politsche Gemeinschaft wie Rom fragt. Whrend fr Reydams-Schils die sozialen und politischen Bindungen innerhalb des großen kosmopolitischen Kreises eigenstndige Bedeutung haben, argumentiert Brown, dass Marc Aurel gezwungen ist auszuwhlen, welchen Menschen seine Frsorge gilt, weil er nicht allen helfen kann. Dass er seine Handlungen auf die Rçmer ausrichtet, ist also eine praktische Notwendigkeit und drckt keine Prferenz fr Rom selbst aus (vgl. Brown, E.: Cosmopolitism, Cambridge 2009, S. 210 f.). 700 Die folgende Liste ist nur eine Auswahl. Marc Aurel erwhnt Trajan (M. Aur. Med. 4, 32), Tiberius (M. Aur. Med. 12, 27), Aprippa (M. Aur. Med. 8, 31), Hadrian (M. Aur. Med. 4, 33; 8, 5; 8, 37), Antoninus Pius (M. Aur. Med. 1, 16; 6, 30; 8, 25), Marcus Antoninus (M. Aur. Med. 6, 26), Augustus (M. Aur. Med. 4, 33; 8, 5; 8, 31), Brutus (M. Aur. Med. 1, 14), Julian (M. Aur. Med. 4, 50), Catul
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
539
um ein politisches Argument vorzubringen, und oft fehlt jede Referenz auf rçmische Politik. Typisch sind Kapitel, in denen er die Kaiser oder andere hochgestellte Persçnlichkeiten in einer Reihung nennt, um zu zeigen, dass auch sie sterben und ihr Ruhm verblasst.701 Auch die Nennung rçmischer politischer Gemeinschaften in Form von Stdtenamen geschieht in der Regel ohne eine Erçrterung politischer Aspekte.702 Zum anderen sind, wie schon gesagt, Anspielungen auf Marc Aurels eigene politische Rolle als Kaiser eher selten. So finden die Feldzge des letzten Jahrzehnts keinerlei Erwhnung.703 Dass Marc Aurel nicht ber konkrete rçmische Politik berichtet, mag mit dem generellen, sehr weitgehenden Fehlen von Narration in den Selbstbetrachtungen zusammenhngen. Aber dadurch ist noch nicht entschieden, ob Marc Aurel die politische Natur des Menschen ausschließlich mit der kosmischen Polis in Beziehung setzt. Denn es ist durchaus mçglich, dass Marc Aurel die Bedeutung von Politik im blichen Sinne nicht durch die Erzhlung konkreter Belange der rçmischen oder eigenen Politik herausstreicht. In einem Kapitel betont Marc Aurel sogar, dass es fr die Aktualisierung der kosmischen Sympathie aller Menschen egal sei, wo man sich befindet. Die politischen Aspekte der menschlichen Natur beziehen sich demzufolge gar nicht auf die kontingente Zugehçrigkeit zu einer bestimmten politischen Gemeinschaft, z. B. derjenigen von Rom: Kurz ist die Zeit, die dir bleibt. Lebe wie auf einem Berg. Denn es ist kein Unterschied, dort oder hier, wenn man berall im Kosmos lebt wie in einer Stadt. Die Menschen sollen einen wirklichen Menschen sehen und kennenlernen, der in bereinstimmung mit der Natur lebt. Wenn sie ihn nicht er-
(M. Aur. Med. 1, 13), Cato (M. Aur. Med. 1, 14), Nero (M. Aur. Med. 3, 16), Fabius Catullinus, Lusius Lupus, Verlius Rufus und Tiberius (M. Aur. Med. 12, 27). 701 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 25 oder 12, 27. 702 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 48. 703 Typisch ist hier etwa ein Kapitel (M. Aur. Med. 10, 10), in dem Sarmaten erwhnt werden, gegen die Marc Aurel militrisch vorging: „Eine Spinne ist stolz, wenn sie eine Fliege gefangen hat, ein anderer ist es, wenn er einen Hasen, der zweite, wenn er einen Fisch im Netz, der dritte, wenn er Wildschweine, der vierte, wenn er Bren und der fnfte, wenn er Sarmaten gefangen hat. Sind diese Leute denn keine Ruber, wenn du ihre Grundstze prfst?“ Kein Leser, der nicht aus anderen Quellen Kenntnis von Marc Aurels Auseinandersetzung mit den Sarmaten hat, wird aus dieser Erwhnung etwas ber die Politik Marc Aurels schließen kçnnen.
540
3. Die Natur des Menschen
tragen kçnnen, sollen sie ihn tçten. Denn das ist besser, als so zu leben (wie sie).704
Hier scheint Marc Aurel nur den Kosmos als politischen Bezugspunkt gelten zu lassen, andere Bindungen zu Mitmenschen werden mit der Bergmetapher scheinbar diskreditiert. Demgebenber stehen jedoch drei Kapitel, in denen Marc Aurel seinen eigenen Bezug zur rçmischen Politik erwhnt und als wichtig erachtet. Die staatliche Gemeinschaft und das Vaterland ist fr mich als Antoninus Rom, fr mich als Menschen der Kosmos. Was diesen Gemeinschaften ntzlich ist, das allein ist fr mich gut.705 Zu jeder Stunde denke als Rçmer und als Mann daran, das, was dir aufgegeben ist, mit unanfechtbarer, schlichter Wrde und Menschenliebe, in Freiheit und Gerechtigkeit zu tun …706
Du sollst weder gegen deinen Willen noch zum Schaden der menschlichen Gemeinschaft, noch ohne vorherige Prfung, noch aus innerer Unsicherheit handeln. Deine Gedanken sollen sich nicht mit Spitzfindigkeiten schmcken. Du sollst nicht viele Worte machen und dich nicht mit allem und jedem abgeben. Darber hinaus soll der Gott in dir Leitbild eines mnnlichen Charakters, eines reifen Menschen, eines politischen Geistes, eines Rçmers und Herrschers sein, der seinen Standort in der Welt gewhlt hat, wie es einer Persçnlichkeit gemß ist, die ganz gelassen auf das Zeichen zum Rckzug aus dem Leben wartet …707 In diesen drei Kapiteln ist eine bestimmte politische Gemeinschaft, diejenige Roms, ein Referenzpunkt fr Marc Aurel. In der Tat ist fraglich, ob Marc Aurel damit seiner kosmopolitischen Auffassung von der Natur des Menschen widerspricht. E. Brown hat einen interessanten Lçsungsversuch unternommen. Er geht zwar einerseits davon aus, dass insbesondere Kapitel 6, 44 der rçmischen politischen Gemeinschaft einen eigenen Wert beimisst, ist aber andererseits der Meinung, dass Marc Aurels kosmopolitische Konzeption „strict“ ist, dass also nur die kosmische Gemeinschaft aller Menschen die politische Natur des Menschen ausmache. Zur Vermeidung des Widerspruches hat er folgende Interpretation vorgelegt:
704 705 706 707
M. Aur. Med. 10, 15. M. Aur. Med. 6, 44. M. Aur. Med. 2, 5. M. Aur. Med. 3, 5.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
541
Marcus does not mean that he should promote what is good for Rome just because it is good for Rome. He must be interested in the good of Rome only because he finds himself helping the human beings of Rome, and he must find himself helping the human beings of Rome only because he could not help any other human beings so effectively. … After all, Marcus does not explicitly say that he was obligated to start to serve Rome or Romans or even that he has an obligation to continue serving Rome. Rather he consistently holds that all humans and human things are of concern … Being committed to contributing to he shared work of human beings, and realizing that he cannot help every human being, Marcus faces a decision about which humans to help. For that decision, Marcus is fortunate, for he can contribute on very large scale if he engages as a Roman. So he does, and so engaged, he is both a Roman and a human being. But Rome has no special pull. Marcus is strictly a citizen of the cosmos.708
Browns Interpretation bewahrt Marc Aurel in der Tat vor dem Widerspruch einerseits nur die kosmische Polis als Referenzpunkt zu akzeptieren und andererseits eine Prferenz fr die rçmische politische Gemeinschaft auszusprechen. Ob diese Position, die Brown Marc Aurel zuschreibt, systematisch betrachtet wirklich konsistent und in allen Fllen praktizierbar ist, kann bezweifelt werden, da es sicher Flle gibt, wo Marc Aurel zwischen dem Wohl eines Rçmers und dem eines Samarten beispielsweise entscheiden musste. Da er beide als Brger der kosmischen Polis gleichermaßen lieben msste, liegt hier sicher ein schwieriger Fall vor. Doch darf seine Interpretation nicht zu dem Missverstndnis fhren, rçmische Politik spiele fr Marc Aurel gar keine Rolle. Die politische Sphre im blichen Sinne ignoriert auch der Philosoph Marc Aurel nicht: Die Urkraft des Weltganzen ist ein wilder Strom. Er reißt alles mit. Wie unbedeutend sind doch diese politisch ttigen und – wie sie jedenfalls glauben – philosophisch handelnden Menschen. Vçllig verrotzte Gestalten. Mensch, was tust du da eigentlich? Tu was jetzt die Natur von dir fordert: Setz dich in Bewegung, wenn es dir mçglich ist, und achte nicht darauf, ob es jemand erfahren wird. Hoffe nicht auf Platons Staat, sondern gib dich damit zufrieden, wenn auch nur in den geringsten Kleinigkeiten etwas vorankommt und betrachte dieses Resultat nicht als unwesentlich. Denn wer wird ihre Grundeinstellung ndern? Was aber bleibt ohne nderung der Grundberzeugungen anderes als die Fremdbestimmung von Stçhnenden, die zu gehorchen vorgeben? Gut, nenne mir jetzt ruhig Alexander, Philipp und Demetrius von Phaleron. Ich werde (ihnen) folgen, wenn sie gesehen haben, was die gemeinsame Natur wollte, und sich selbst auf den richtigen Weg fhrten. Sollten sie aber Theater gespielt haben, so hat mich niemand dazu verurteilt,
708 Brown, E.: Cosmopolitism, a.a.O., S. 210 f.
542
3. Die Natur des Menschen
sie nachzuahmen. Schlicht und bescheiden ist das Werk der Philosophie. Verfhre mich nicht zu vornehm tuender Aufgeblasenheit.709
In diesem Kapitel erlutert Marc Aurel seine politischen Ambitionen, genauer gesagt, warnt er sich davor, berzogene Erwartungen und Ziele zu haben. Er mçchte die politische Ttigkeit in bereinstimmung mit der Natur ausben. Legendre Politiker sollen ihm auch nur dann Vorbild sein, wenn sie eine naturgemße Politik betrieben haben. Auch der platonischen Auffassung vom Staat mçchte er aber nicht folgen. Marc Aurel gibt dafr zwei Begrndungen. Zunchst, in den ersten Stzen des Kapitels, dass aufgrund des mchtigen kosmischen Wandels die Gestaltungsmçglichkeiten unbedeutend sind. Zweitens kçnne die Grundeinstellung der Menschen nicht einfach gendert werden, und auf die komme es an. Daher ermahnt sich Marc Aurel zweimal zur Bescheidenheit, er mçchte mit minimalen Fortschritten auch in kleinen Belangen zufrieden sein. Gleichfalls lsst sich die abschließende Ermahnung, nicht berheblich zu sein, auf die politische Erwartungshaltung beziehen. Besondere Aufmerksamkeit verdient Marc Aurels soeben bereits angesprochene Aufforderung, nicht auf Platons Staat zu hoffen. Die Bemerkung ist erstens berraschend und zweitens ist erklrungsbedrftig, welche politische Vorstellung Marc Aurel damit verwirft. berraschend ist die Bemerkung in den Selbstbetrachtungen, weil Marc Aurel nicht nur in spterer Zeit als Philosophenkçnig verstanden wurde, der mit seiner Regentschaft Platons politische Philosophie umgesetzt habe, sondern auch, weil berichtet wird, er habe gerne und oft Platons Satz von den Philosophenkçnigen geußert.710 Die Phrase „Platons Staat“, die fr eine bestimmte politische Auffassung steht, ist erklrungsbedrftig. Sie wird vom jngeren Cato fr eine kompromisslose Politik verwandt, die von idealistischer Warte aus keinerlei Zugestndnisse an die realen Bedingungen macht.711 Von Cicero wird die Position sowohl den Stoikern als auch Sokrates zugeschrieben, weil letzterer sich vor Gericht besonders kompromisslos gezeigt habe und sich weigerte, aus Angst vor dem Tod an die Gefhle der Brger Athens zu appellieren.712
709 710 711 712
M. Aur. Med. 9, 29. Siehe HA Marcus 1, 1 und besonders 27, 7. Siehe Cic. Att. 2, 1 und Plut. Phoc. 3, 1. Siehe Cic. De or. 1, 222 ff. und 1, 1, 29.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
543
Andererseits haben Stoiker auch und hufig fr eine Einmischung in Realpolitik pldiert.713 Und Marc Aurel kçnnte seine politischen Aufgaben als Kaiser gar nicht wahrnehmen, wenn er es ablehnen wrde, bei philosophischen Prinzipien Kompromisse zu machen.714 P. Hadot gibt an, der Ausdruck „Platons Staat“ sei „ein sprichwçrtlicher Ausdruck, der eine sehr przise Bedeutung hatte.“715 Gemeint sei, so Hadot, nicht Platons Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Philosophen Regenten werden (oder die Regenten Philosophen), sondern die Vorstellung, dass alle Mitbrger Philosophen sind.716 Ob Hadots Angaben korrekt sind, msste im Rahmen einer umfangreichen und anderen Untersuchung berprft werden.717 Entscheidend ist, dass auch Hadot das fragliche Kapitel 9, 29 als Pldoyer fr eine bescheidene Politik der kleinen Schritte versteht. Dabei scheint auch Hadot, der sonst selten auf politische Aspekte abhebt, zu implizieren, dass sich diese Schritte auf dem Feld blicher Politik manifestieren. Da E. Brown zugibt, seine Interpretation des Kapitels 6, 44 sei nicht die naheliegende Lesart, gibt es vielleicht eine andere Mçglichkeit, die Stellen ohne die genannte Widersprchlichkeit zu interpretieren. Marc Aurel erwhnt zwei Gemeinschaften, die Roms und die des Kosmos’.718 Es gibt demnach fr Marc Aurel zwei politische Gemeinschaften, denen er durch sein Handeln ntzlich sein will. Die genannten Gemeinschaften haben erstens ein Verhltnis zueinander und zweitens stehen sie je in einer Beziehung zu Marc Aurel. Die kosmische Gemeinschaft umgibt diejenige Roms so wie der ußerste Kreis bei Hierokles den Kreis mit der politischen Gemeinschaft im blichen Sinne umgibt. Entsprechend schreibt Marc Aurel, die politischen Gemeinschaften wie Rom seien wie Huser in der eigentlichen Polis des Kosmos.719 713 Siehe Stob. Ecl. 2, 94; 2, 111. Sen. Otio 3, 3. Siehe auch den Bericht ber Musionius Rufus, demzufolge er sich, anders als Sokrates, ernsthaft vor Gericht verteidigen wollte (Philostr. V A 4, 46). 714 So berzeugend Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., S. 87 (mit vielen weiteren Angaben). 715 Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 415. 716 Siehe ebd., S. 414 f. 717 Keiner der Texte, auf die Hadot sich bezieht, formuliert dies klar (siehe nochmals Cic. De or. 1, 230; Cic. Att. 2, 1, 8; Plut. Phoc. 3, 2, 749 f. 718 „Die staatliche Gemeinschaft und das Vaterland ist fr mich als Antoninus Rom, fr mich als Menschen der Kosmos. Was diesen Gemeinschaften ntzlich ist, das allein ist fr mich gut.“ M. Aur. Med. 6, 44. 719 Siehe M. Aur. Med. 3, 11.
544
3. Die Natur des Menschen
Marc Aurel thematisiert seine eigene Rolle als Gesetzgeber selten.720 Und generell gilt, dass die umfassende kosmische Polis, der ußerste Kreis, bestimmend bleiben soll. Wie erklren sich dann aber die Referenzen auf Rom? Zunchst ist an die vorherige Bestimmung zu erinnern, die forderte, dass der Kosmopolitismus an bzw. mit konkreten Menschen, die im eigenen Kontext leben, praktiziert werden muss. Anders als der Interpretation von Brown zufolge kçnnte es ferner so sein, dass rçmische Politik fr Marc Aurel eine Rolle spielt, weil er sich als Mensch zwar der kosmischen Gemeinschaft verpflichtet fhlt, speziell als Antoninus aber Rom. Im Hintergrund kçnnte die Unterscheidung von allgemeiner und spezieller Natur stehen. In einigen Kapiteln thematisiert Marc Aurel seine eigene Natur und tut dies offenbar mit Blick auf seine politische Ttigkeit und seine Pflichterfllung. Der eigenen Natur folgen, hieße fr Marc Aurel demnach, die Aufgaben, die er nicht als Mensch, sondern als Rçmer bzw. rçmischer Kaiser hat, zu erledigen. Er bedauert zwar, kein professioneller Philosoph geworden zu sein, aber er kann noch immer seiner Natur (und damit auch der allgemeinen Natur) folgen, und nur das heißt, ein gutes Leben fhren.721 Der eigenen Natur folgen, heißt fr Marc Aurel sonach, rçmische Politik zu betreiben. In einem Kapitel, in dem sich Marc Aurel ermahnt, morgens nicht widerwillig aufzuwachen, schreibt er dann: Du aber achtest deine Natur weniger als der Metallhandwerker die Metallbearbeitung, der Tnzer die Tanzkunst, der Geldgierige das Geld, der Ruhmschtige den lcherlichen Ruhm? Und wenn diese Leute von ihrer Leidenschaft gepackt sind, verzichten sie lieber auf Essen und Schlafen als auf die Vollendung dessen, wofr sie sich begeistern. Dir aber scheinen die Taten fr die Gemeinschaft weniger wertvoll zu sein und weniger Einsatz zu verdienen?722
In gleichem Sinne kçnnte sich Marc Aurel auffordern, seine Natur zu achten und eben seine Rolle als Kaiser, die einen starken Bezug zur rçmischen Politik hat, auszuben. Dazu passt, dass Marc Aurel sich nur in einem weiteren Kapitel namentlich erwhnt, und auch dort bringt er – wie im Kapitel 6, 44 – seinen Vornamen mit der politischen Gemeinschaft Roms in Verbindung und ermahnt sich, seiner Pflicht nachzukommen.
720 Siehe M. Aur. Med. 4, 12. 721 Siehe M. Aur. Med. 8, 1. 722 M. Aur. Med. 5, 1.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
545
Abermals fordert er sich auf, nicht ungeduldig oder zu anspruchsvoll zu sein, sondern „Schritt fr Schritt seine Aufgaben [zu] erfllen“.723 Politisch ist der Mensch demnach fr Marc Aurel evtl. auf zwei Weisen. Vorrangig ist er aufgrund seiner Vernunft Mitglied der kosmischen Polis und seiner eigenen Natur nach auch Mitglied einer bestimmten politischen Gemeinschaft, z. B. derjenigen Roms. Dabei bleibt die allgemeine Natur, die die kosmische Polis konstituiert und bestimmt, auch fr die politische Gemeinschaft Roms ausschlaggebend. Letztere erwhnt Marc Aurel auch entsprechend selten. Rom ist fr ihn nicht theoretisch, im Sinne seiner Philosophie, ausschlaggebend, aber fr die praktische Verwirklichung derselben ist Rom entscheidend, erstens, weil hier die Menschen sind, mit denen Marc Aurel in einer unmittelbaren Gemeinschaft lebt, und zweitens, weil er seine politische Ttigkeit als Kaiser als Pflicht betrachtet. Ad (iv) Soziale Bindungen. Im Folgenden ist noch zu untersuchen, ob Marc Aurels Vorstellung vom Menschen und seiner vernnftigen und politischen Natur bestimmte Ansichten ber soziale und nicht politische Beziehungen724 einschließt, die sich im Inneren des umfassenden Kreises der kosmischen Polis befinden, also etwa Familie, Freunde und weitere Beziehungen.725 Einerseits gibt es, wie im Falle der Politik im blichen Sinne, grundstzliche Vorbehalte. Aufgrund ihrer vernnftigen Natur gelten alle Menschen als gleichberechtigte Mitglieder der einen kosmischen Gemeinschaft, denen Zuneigung und Liebe zukommen soll. Ferner sind Menschen, wie bereits diskutiert, insofern sie nicht der eigenen Verfgungsmacht unterworfen sind, eventuell als indifferente Hindernisse zu betrachten. Soziale Beziehungen und entsprechende Affekte kçnnen bei 723 M. Aur. Med. 6, 26. 724 Unbercksichtigt bleiben hier auch Flle, in denen verschiedene soziale oder politische Bezge innerhalb der kosmischen Polis in Konflikt geraten. Cicero diskutiert den Fall eines Mannes, dessen Vater Tyrann wird, so dass dieser, nach Ausschçpfung aller anderen Mçglichkeiten, den Vater von dessen politischem Unwesen abzuhalten, entscheiden musste, ob er die Vaterliebe hçher als die Vaterlandsliebe stellen mçchte. In dem Falle sei Vatermord gerechtfertigt (Cic. Off. 3, 90). Siehe auch Sen. Brev. 4, 5 und Clem. 1, 10, 3 – 4. 725 Unbercksichtigt bleibt hier ein Unterschied zwischen der Familie, in die man hineingeboren wird und die nicht gewhlt werden kann, und einem Ehepartner und Freunden, deren Wahl von einer eigenen Entscheidung abhngt (auch wenn ihr Verhalten selber nicht Teil des eigenen Verfgungsbereiches ist). Siehe dazu etwa Sen. Ben. 4, 33, 2; Arr. Epict. diss. 3, 3, 38; Arr. Epict. ench. 30.
546
3. Die Natur des Menschen
Verlust oder Unglcken die Seelenruhe gefhrden. Allgemein sagt Epiktet, dass das Gute als Kriterium jegliche Blutsbande bertrifft.726 In diesem Teil wurden bereits Kapitel zitiert und berlegungen zu Marc Aurel angestellt, die Zweifel an dieser theoretischen Ableitung sen. Aber auch in der stoischen Tradition gibt es eine Reihe von Belegen, die nahe legen, dass mit der vernnftigen Natur nicht nur eine politische Natur im Sinne der kosmopolitischen Vorstellungen verbunden ist, sondern dass die vernnftige Natur des Menschen auch seine soziale Natur bestimmt. Bei Diogenes finden wir eine Bestimmung der angemessenen Handlungen, die gerade soziale und politische Beziehungen einschließt: Pflichtgemß sei alles, wofr sich die Vernunft entscheidet, wie z. B. Eltern, Brder, Vaterland, in Ehren zu halten und mit den Freunden im herzlichen Umgang zu stehen, pflichtwidrig dagegen, was die Vernunft verwirft, wie z. B. Pflichtversumnis gegen die Eltern, Rcksichtslosigkeit gegen die Brder, Mangel an Entgegenkommen gegen die Freunde, Verachtung des Vaterlandes und hnliches.727
Weiter werden Ehe und Kinderzeugung neben der Beteiligung an den Staatsgeschften positiv bewertet.728 Fr Epiktet ist die Frage, ob soziale Beziehungen zu Ehepartnern,729 Familienangehçrigen, Kindern und Freunden zu den prferierten indifferenten Dingen gehçren, ein wichtiges und hufiges Thema.730 In einem berhmt-berchtigten Kapitel vergleicht Epiktet ein Kind oder eine Ehefrau mit einer Tasse oder einem Krug, der zerbrechen kann, weswegen man sich nicht zu sehr an Kinder binden sollte.731 Vielleicht liegt es nahe, Epiktet hier eine harsche und kalte Absage an jede soziale Bindung, sogar zu den eigenen Kindern, zu unterstellen. Wahrscheinlicher ist, dass er auf die Fragilitt des menschlichen Lebens aufmerksam machen mçchte, die auch Seneca hervorhebt.732 Epiktet be726 727 728 729
Siehe Arr. Epict. diss. 3, 3, 5 – 7. Diog. Laert. 7, 108 – 9. Siehe Diog. Laert. 7, 121 (siehe auch Cic. Fin. 3, 68). Fr die Ehe siehe Stob. Ecl. 4, 502, 9 – 503 (Bericht ber Hierokles). Siehe dazu ausfhrlicher Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., Kap. 5. 730 Epiktet behandelt Kinder mehrfach (Arr. Epict. diss. 1, 1, 14 – 15; 3, 24, 14 f.; 3, 24, 84 ff.; 4, 1, 67; 4, 1, 87; 4, 1, 100 – 108), dann Ehefrauen (Arr. Epict. diss. 3, 24, 14 f.; 4, 1, 67; 4, 100) und Freunde (Arr. Epict. diss. 1, 1, 14; 4, 1, 67; 4, 1, 153). Die Liste ist keineswegs abgeschlossen. 731 Arr. Epict. diss. 3, 24, 84 ff. Siehe auch Arr. Epict. ench. 3. 732 Siehe Sen. Ep. 49, 10 – 11 und Cons. Marc. 11, 3. Zu dieser Interpretation mit vielen (auch hier angegebenen Passagen) siehe Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., S. 68.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
547
tont, dass Sokrates seine Kinder liebte.733 Und Epiktet zhlt die Elternschaft zu den Dingen, die gemß der Natur und daher gut sind.734 „Wenn wir dagegen unser Gut in einen rechten Willen setzen, so wird die Bewahrung unserer sozialen Lebensverhltnisse selbst ein Gut.“735 Besonders die Beziehung zu Freunden galt den Stoikern als wichtig. Freunde, so kann man evtl. aus einigen Texten entnehmen, galten als etwas, das zwar nicht gut wie die Tugend sein kann, das aber besser als die zu prferierenden indifferenten Dinge ist.736 Freundschaft wird sogar herangezogen, um die Weisheit zu bestimmen.737 Nach diesen schlagwortartig formulierten Hinweisen, die hier lediglich auf sptere Kapitel verweisen sollen,738 ist nun zu fragen, ob es in den Selbstbetrachtungen Anzeichen dafr gibt, dass auch Marc Aurel sozialen Kontakten, unabhngig von der kosmopolitischen Annahme, Bedeutung zuspricht. Die Interpretation der Selbstbetrachtungen als Werk eines einsamen alten Mannes, der kurz vor seinem Tod seinen zum Teil depressiven Gedanken Ausdruck verleiht, stimmt mit vielen Kapiteln nicht berein. Die Bedeutung anderer Menschen und der Beziehung zu ihnen berhrt nicht nur die Inhalte einzelner Kapitel, sondern auch den Aufbau des Textes selbst. Das gesamte erste Buch – mit Ausnahme des Kapitels, in dem Marc Aurel den Gçttern dankt – belegt dies. Marc Aurel dankt dort nicht nur seinen Eltern, sondern auch seinen Erziehern, Lehrern und Freunden und erwhnt seine Frau. Wir wissen nicht, warum das erste Buch formal so andersartig ist und warum darin so vielen anderen Personen, zu denen Marc Aurel offenbar innige und wichtige Beziehungen hatte, gedankt wird. Unabhngig von der Entstehungs- und berlieferungsgeschichte wird so in jedem Fall belegt, welche Bedeutung fr Marc Aurel die genannten Personen haben. Sie waren entscheidend fr seine Bildung. Das erste Buch der Selbstbetrachtungen dokumentiert auf diese Art die erste Bedeutung sozialer Beziehungen fr die Natur des Menschen. Sie gehçren insofern zur Natur des Menschen, weil kein Mensch ohne sie berleben bzw. erwachsen werden kann. Ein Mensch wird nicht von der 733 734 735 736
Siehe Arr. Epict. diss. 3, 24, 60. Siehe Arr. Epict. diss. 1, 11, 17 – 18; 3, 3, 8; siehe ferner Diog. Laert. 7, 120. Arr. Epict. diss. 3, 3, 8. Siehe zur Diskussion Cic. Fin. 3, 55; Diog. Laert. 7, 95 und 124; Sext. Emp. Math. 11, 46. 737 Siehe Sen. Ep. 9, 20. 738 Siehe Kap. II 5.4.1 und 5.5.2.
548
3. Die Natur des Menschen
gesamten kosmischen Polis erzogen, sondern einem Geflecht bestimmter Beziehungen zu konkreten einzelnen Personen. Die eigene spezielle Natur wird von diesen konkreten sozialen Beziehungen stark beeinflusst. Mit dem ersten Buch ist nicht nur etwas ber die Persçnlichkeit, sondern vielmehr auch ber den Philosophen Marc Aurel gesagt. Da ist zunchst der Grundgedanke, der den persçnlichen Erinnerungen und Bemerkungen des ersten Buches zugrunde liegt:739 Durch konkrete Personen, mit denen ein Mensch nicht notwendig in politischen, aber in sozialen Beziehungen steht, werden Tugenden exemplifiziert.740 Soziale Kontakte haben demzufolge auch die Funktion Tugenden zu vermitteln. Bemerkenswert ist, dass die Orientierung am Wohl der Mitmenschen zu den Inhalten dieser Lehren und Exempel gehçrt. Von anderen Menschen lernte Marc Aurel nicht nur die Kinder741 und die Familie zu lieben,742 sondern das Verhalten gegenber Freunden,743 und allgemein die Beziehung zu den Mitmenschen zu pflegen.744 Von Apollonius gibt Marc Aurel an, habe er gelernt, den Verlust eines Kindes auszuhalten.745 Dass das keine Lieblosigkeit sein muss, zeigt das fast unmittelbar folgende Kapitel, in dem er Demetrius dafr dankt, dass er lernte, die Kinder wirklich zu lieben.746 Gerade auch politisch relevante Aspekte hat Marc Aurel in sozialen Kontakten oder durch sie vermittelt bekommen. Es ist daher wohl kein Zufall, dass in Kapiteln, in denen Marc Aurel auf sozial relevante Einstellungen oder Handlungen zu sprechen kommt, er diese Nennung mit einem Hinweis auf soziale Bindungen, meistens Vorbilder, verknpft. Dies gilt in besonderem Maße fr politische Aspekte.747 739 Siehe rckblickend das Kap. I 2. 740 „Wenn du dich freuen willst, dann denk an die Vorzge deiner Mitmenschen. Das ist z. B. bei dem einen die Tatkraft, bei dem anderen die Zurckhaltung, bei dem nchsten die Freigebigkeit, bei einem anderen noch etwas anderes. Denn nichts macht so viel Freude, wie die Erscheinungsformen der Tugenden, die in den Charakteren unserer Mitmenschen sichtbar werden und – soweit mçglich – in großer Zahl zusammentreffen. Deshalb muss man sie auch immer zur Hand haben.“ M. Aur. Med. 6, 48. 741 Siehe M. Aur. Med. 1, 13. 742 Siehe M. Aur. Med. 1, 14. 743 Siehe M. Aur. Med. 1, 13 und 14. 744 Siehe M. Aur. Med. 1, 12 und 15. 745 Siehe M. Aur. Med. 1, 8. 746 Siehe M. Aur. Med. 1, 13. 747 Siehe etwa die bestimmten Staatsvorstellungen, die er bei Severus lernte (siehe M. Aur. Med. 1, 14), den Umstand, dass Patrizier nicht lieblos sein sollten, aber leider
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
549
Die von Marc Aurel als besonders wichtig erachteten sozialen Beziehungen und die entsprechenden Affekte werden also selber wieder im Rahmen solcher sozialer Beziehungen vermittelt. Das fr die Aktualisierung der sozialen menschlichen Natur Notwendige lernt der Mensch demnach am besten im Rahmen von paradigmatischen sozialen Beziehungen. Gemeinschaftsorientierung wird vorgelebt. Der Mensch hat soziale Bindungen auch deshalb, weil er die Tugenden, die er hat, auch ausben muss. Die Liebe zu den Mitmenschen muss sich immer auf konkrete Menschen beziehen, die Gegenstand oder Ziel einer Handlung sind: Wie bist du bis jetzt mit den Gçttern, deinen Eltern, deinen Geschwistern, deiner Frau, deinen Kindern, deinen Lehrern, deinen Erziehern, deinen Freunden, deinen Verwandten, deinen Sklaven umgegangen? Ob auch auf dich bis heute im Blick auf alle das Wort des Dichters zutrifft, dass du ,niemandem etwas Bçses getan oder gesagt‘ hast?748
Auffllig an dieser Auflistung ist, dass die politischen Beziehungen zu anderen Menschen nicht erwhnt werden. Marc Aurel scheint hier ganz bewusst neben dem (kosmo-)politischen Aspekt gesondert auf das Spektrum der Beziehungen zu den Mitmenschen hinweisen zu wollen. Wenn der Mensch aufgrund seiner Natur zu gemeinsamer Aktivitt bestimmt ist, wie Marc Aurel betont, braucht er aufgrund seiner vernnftigen Natur auch Beziehungen zu Mitmenschen, die ihm erlauben, seine Natur zu aktualisieren. Gerade die Frage nach den Leidenschaften, die bei politischen und sozialen Beziehungen eine Rolle spielen, sind, wie gesagt, noch detaillierter zu behandeln.749 Hier ging es zunchst um den Nachweis, dass Marc Aurels Vorstellung von der vernnftigen Natur des Menschen und auch sein Kosmopolitismus sowohl politische Bezge im gngigen Sinne, aber auch andere Beziehungen zu Mitmenschen einschließt. Beide Arten von Beziehungen stehen damit keineswegs im Widerspruch zu der von Marc Aurel selbst mehrfach geforderten Anachorese und dem Selbstdialog. Dies soll in einem folgenden, kurzen Kapitel deutlich werden, das die bisherigen Aussagen ber die spezifische Natur des
oft sind, lernte er von Fronto (siehe M. Aur. Med. 1, 11). Die beiden Kapitel ber Pius als Vorbild enthalten eine ganze Reihe politischer Aspekte (siehe M. Aur. Med. 1, 16 und 6, 30). 748 M. Aur. Med. 5, 31. 749 Siehe Kap. II 5.4.1.
550
3. Die Natur des Menschen
Menschen noch einmal kurz vor dem Hintergrund der stoischen OikeiosisLehre betrachtet. 3.2.5 Die Gemeinschaftsausrichtung bei Marc Aurel und die Oikeiosis-Lehre Den Ausdruck oQje¸ysir verwendet Marc Aurel nicht. Es handelt sich um eine besonders schillernde Theorie der Stoiker, der mittlerweile viele Untersuchungen gewidmet sind.750 Die Wortschçpfung ist schwer zu bersetzen. Nicht nur deshalb hat sich das Griechische als technischer Ausdruck durchgesetzt. Die Oikeiosislehre verbindet die Natur des Menschen, seine vormoralische Disposition mit den Erfordernissen und Zielen ihrer Ethik. Denn die Natur des Menschen wird so beschrieben, dass er von Natur aus zu einem ethischen Verhalten hin angelegt ist. Bei Marc Aurel gilt dies besonders fr das gemeinschaftsorientierte Handeln. An dieser Stelle ist kurz auf den Hintergrund einiger berlegungen bei Marc Aurel einzugehen. Denn einerseits erwhnt Marc Aurel die OikeiosisLehre nicht und behandelt ihre Elemente nur sehr selektiv. Andererseits kçnnen die berlegungen der vorangegangenen Kapitel nun retrospektiv als ein interessanter, weil – relativ zu sonstigen Quellen – ausfhrlicher Beitrag zur stoischen Oikeiosis-Lehre verstanden werden. Fr die Stoiker begrndet die Oikeiosislehre die Selbsterhaltung, die Selbstentfaltung, die Reproduktion; dann die Fhigkeit, die Frsorge, die ein Lebewesen gegenber sich selbst aufbringt, auf andere auszuweiten und 750 Die wichtigsten Buchpublikationen der letzten Jahre sind: Bees, R.: Die Oikeiosislehre der Stoiker, Wrzburg 2004; Lee, Ch.: Oikeiosis: Stoische Ethik in naturphilosophischer Perspektive, Freiburg 2002; Radice, R.: „Oikeiosis“: ricerche sul fondamento del pensiero stoico e sulla sua genesi, Milano 2000; EngbergPedersen, T.: The Stoic theory of oikeiosis: moral development and social interaction in early Stoic philosophy, Aarhus 1990. Zur den Ursprngen siehe Dirlmeier, F.: Die Oikeiosislehre Theophrasts, Leipzig 1937; Magnaldi, G.: L’ Oikeiosis peripatetica in Ario Didimo e nel „De finibus“ di Cicerone, Florenz 1991. Einen Eindruck vom historischen Einfluss gerade dieser stoischen Lehre gibt Brandt, R.: Selbstbewusstsein und Selbstsorge – Zur Tradition der „oikeiosis“ in der Neuzeit, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 85 (2003), S. 179 – 197 (englische bersetzung in: Blom, H. W./Winkel, L. C. (Hg.): Grotius and the Stoa, Assen 2004, S. 73 – 92). Fr die rçmische Stoa und Marc Aurel einschlgig ist Reydams-Schils, G.: Human Bonding and Oikeiosis in Roman Stoicism, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 22 (2002), S. 221 – 251.
3.2 Die politische und vernnftige Natur des Menschen
551
vor allem den Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Gemeinschaftssinn. Dabei betonen die Stoiker, dass es sich bei jedem der Elemente dieser Theorie, und vor allem ihrer Verbindung, um etwas Natrliches handelt. Erstens ist die Selbstwahrnehmung durch die Fhigkeit zur Wahrnehmung begrndet.751 Zweitens haben Lebewesen, die sich selbst wahrnehmen, eine bestimmte Disposition sich selbst gegenber: Wohlwollen und das Bestreben nach Selbsterhaltung.752 Drittens sorgen sich bereits Tiere nicht nur um sich selbst, sondern auch besonders intensiv um ihre Nachkommen, sie kçnnen das grundlegende Bestreben nach Selbsterhaltung auf andere ausweiten.753 Viertens kann diese auf sich selbst und die Nachkommen beschrnkte Frsorge auf alle Menschen erweitert werden.754 Aspekte dieser Lehre werden anhand der in den vorherigen Kapiteln besprochenen Passagen aus den Selbstbetrachtungen deutlich: Bemerkenswert ist die Verbindung von Selbstsorge und Sorge fr die anderen Menschen. Da gerade Marc Aurel mit Anachorese und Selbstdialog die Konzentration auf sich selbst zu betonen scheint, ist fraglich, wie die Sorge um die anderen mit diesem Grundmotiv in Verbindung steht. Schon mit der Wahrnehmung ist dem Menschen nach stoischer Lehre die Unterscheidung zwischen dem eigenen Leben und anderen Menschen gegeben. Helfen wir nun anderen Menschen, weil sie andere sind? Wenn ja, msste erklrt werden, was diese Handlungen motiviert. Die Stoiker whlen einen anderen Weg.
751 Siehe Hierokles 1, 34 – 39, 51 – 57; 2, 1 – 9 (=LS 57 C). 752 Siehe Hierokles 9, 3 – 10, 11, 14 – 18 (=LS 57 D). 753 Cato, der Stoiker, sagt bei Cicero: „Wichtig ist nach ihrer Ansicht, zu verstehen, dass die Liebe der Eltern zu den Kindern von der Natur hervorgebracht wird. Von diesem Ausgangspunkt aus erreichen wir stufenweise die universale Gemeinschaft des Menschengeschlechts. … Es kçnnte fr die Natur aber untereinander nicht stimmig sein, sowohl die Reproduktion zu wollen als auch nicht dafr zu sorgen, dass die Nachkommenschaft geliebt wird. Selbst bei den wilden Tieren kann man die Kraft der Natur beobachten; wenn wir die Mhe sehen, die sie darauf verwenden, ihre Jungen zur Welt zu bringen und aufzuziehen, scheinen wir die Stimme der Natur selbst zu hçren.“ Cicero De fin. 3, 62 – 68 (=LS 57 F). 754 Siehe Hierokles bei Stobaios 4, 671, 7 – 673, 11 (=LS 57 G). Es wurde darauf hingewiesen, dass Platon in der Politeia (Resp. 461e-471b) bereits eine Vorform der stoischen Oikeiosis vertritt, die sich allerdings nicht bis zur kosmopolitischen Vorstellung ausdehnt, da die Frsorge in Platons Polis nur auf die Mitglieder der Polis ausgedehnt wird (siehe Brennan, T.: The Stoic Life. Emotions, Duties and Fate, Oxford 2005, S. 160 ff.).
552
3. Die Natur des Menschen
Die Oikeiosislehre ignoriert also nicht den Unterschied zwischen einem Menschen und seiner Selbstwahrnehmung und -erhaltung. Sie fordert aber, dass der Mensch den anderen nicht hilft, weil sie andere Menschen sind, sondern um seiner selbst willen. Die Hilfe fr andere wird als Selbsthilfe verstanden, als selbstinteressiertes Handeln gemß der eigenen Natur. Marc Aurel und andere Stoiker fordern nicht dazu auf, die Sorge um eigene Selbsterhaltung und eigenes Glck zu transzendieren,755 sondern zu erweitern: „Habe ich solidarisch gehandelt? Also habe ich etwas gewonnen.“756 Anachorese und Selbstdialog fçrdern also auch Selbsterkenntnis von der eigenen politischen Natur und lassen erkennen, dass Politik und Sorge fr andere gemß der eigenen Natur ist. Dieser Ansatz ist darber hinaus erstens wichtig fr die Fragen der Motivierung tugendhafter Handlungen. Zweitens ist es wichtig festzuhalten, dass hier nicht nur einfach fr so etwas wie ein politisches Bewusstsein pldiert wird, sondern zugleich stoische Wertvorstellungen konkret politisch werden. Das erscheint zunchst fr die Stoiker ein Problem zu sein, denn wenn die Selbsterhaltung und das Streben nach dem eigenen Glck die grundlegende Motivation auch im politischen Agieren bleiben soll, muss erklrt werden, wie sich dieses konkret gestalten soll. Die stoische Lçsung des Problems lsst sich wie folgt zusammenfassen: The fact that my attitude towards my own good and happiness is irremediably self-centred turns out to have fewer consequences than might be expected, because of the fact that only virtue is productive of my good. If I correctly understand the nature of indifferents, then it turns out that the essentially first-person orientation of my concern for goods will not prevent me from being motivated in unselfish ways when it comes to the distribution of indifferents.757
Diese Antwort muss an dieser Stelle als vorlufig bezeichnet waren. Sie verweist auf die Frage, was Menschen zu ihren Handlungen bewegt und damit auf die Lehre vom Antrieb (bql^). Im Rahmen der Untersuchung von Marc Aurels Konzeption der bql^ ist daher noch einmal kurz auf die Oikeiosislehre einzugehen.758 755 Das aber scheint die Interpretation von Hadot zu sein, der von „Selbstlosigkeit“ der geforderten Handlungen spricht, denn diese mssten „gegen das eigene Interesse“ ausgebt werden (siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 279 f.). 756 M. Aur. Med. 11, 4 (siehe auch das bereits zitierte Kapitel 7, 13). 757 Brennan, T.: The Stoic Life, a.a.O., S. 164 f. 758 Siehe Kap. II 5.3.1.
4. Logik – Vernunftgebrauch
553
Mit diesem Verweis kann die Untersuchung der Vorstellung Marc Aurels ber die Natur des Menschen an dieser Stelle abgeschlossen werden. Deutlich wird, wie weit diese Bestimmung der vernnftigen und sozialen Natur des Menschen in andere Bereiche der Philosophie Marc Aurels hineinreicht. In den nun folgenden beiden Teilen sind Marc Aurels Auffassungen vom Denken und seine Ethik zu untersuchen.
4. Logik – Vernunftgebrauch Die Erforschung der stoischen Logik hat große Fortschritte gemacht.759 Lange wurde dabei bestritten, dass das philosophische Gebiet der Logik bei den rçmischen Stoikern berhaupt eine Rolle gespielt habe, geschweige denn, dass dort wirklich nennenswerte Erçrterungen vorzufinden seien. Whrend J. Barnes in seiner Studie zur Logik bei den rçmischen Stoikern Marc Aurel ganz ausschließt,760 weil er ein „hopeless case“ sei,761 gibt es mittlerweile auch erste umfangreiche Arbeiten zur Dialektik bei Marc Aurel.762 Die spt einsetzende Erforschung der kaiserzeitlichen Logik ist sogar verstndlich. Von den drei Teilen der Philosophie haben Seneca, Epiktet und Marc Aurel sicher die Ethik prferiert. In den Selbstbetrachtungen dankt Marc Aurel den Gçttern dafr, dass er sich nicht dazu herabließ, Syllogismen aufzulçsen.763 Auch andere Kapitel bei Marc Aurel legen scheinbar nahe, dass er der Logik eine deutliche Absage erteilt.764 Andererseits jedoch erklrt Marc Aurel, dass er die Hoffnung aufgeben musste, ein Dialektiker zu werden.765 Dazu passen einige frhe Briefe aus der 759 Siehe exemplarisch die mittlerweile klassischen Arbeiten von Lukasiewicz, J.: Zur Geschichte der Aussagenlogik, in: Erkenntnis 5 (1935), S. 111 – 131; Mates, B.: Stoic Logic, Berkeley 1953; Frede, M.: Die stoische Logik, a.a.O.; und Graeser, A.: Zenon von Kition, a.a.O. 760 Siehe Barnes, J.: Logic in the Imperial Stoa, a.a.O. J. Barnes behandelt eigentlich nur Epiktet, Seneca wird auf nicht einmal einem Dutzend Seiten abgehandelt. 761 In seiner Einfhrung schreibt Barnes: „I shall say no more about Marcus, who is a hopeless case.“ Ebd., S. 11. 762 Siehe Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso. La dialettica di Marco Aurelio, a.a.O. 763 Siehe M. Aur. Med. 1, 17. 764 Siehe z. B. M. Aur. Med. 1, 8. 765 Siehe M. Aur. 7, 67: to¼tou l´lmgso !e· ja· 5ti 1je¸mou, fti 1m akic¸stoir je?tai t¹ eqdailºmyr bi_sai7 ja· l¶, fti !p¶kpisar diakejtij¹r ja· vusij¹r 5seshai, di± toOto !pocm`r ja· 1ke¼heqor ja· aQd¶lym ja· joimymij¹r ja· eqpeihμr he`.
554
4. Logik – Vernunftgebrauch
Korrespondenz mit Fronto, aus denen hervorgeht, dass Marc Aurel sich eine zeitlang mit Logik beschftigt hat und dies auch gerne getan hat.766 Marc Aurel hatte also Affinitten zur Logik, die er einerseits bedauernd, andererseits bewusst und glcklich nicht weiter verfolgt hat. Keine Abhandlung ber stoische Logik oder Untersuchung ihres Niedergangs in der Kaiserzeit kommt ohne den Hinweis aus, dass im Rahmen der stoischen Logik mehr abgehandelt wurde, als wir heute mit dem Ausdruck verbinden. Logik nach heutiger Vorstellung ist ein Teil der stoischen Dialektik, die ihrerseits neben der Rhetorik die stoische Logik ausmacht.767 Dennoch konzentrieren sich bestehende Abhandlungen zu einem Großteil auf den Teil der stoischen Logik, den auch wir als Logik ansehen.768 Dabei ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine solche isolierende Betrachtung zwar mçglich ist, aber der Relevanz, welche die Stoiker der Einheit der Philosophieteile und -aspekte zumaßen, nicht gerecht wrde.769 Doch auch wenn bercksichtigt wird, dass die Stoiker mit Logik mehr meinen als wir heute, scheinen die Selbstbetrachtungen eine wenig ergiebige Quelle zu sein. Nahezu alle Themen, die A. A. Long und D. Sedley ihrer Gliederung der stoischen Logik zugrunde legen, behandelt Marc Aurel nicht ausfhrlich: Es findet sich keine Erçrterung von Themen, wie Einteilung, Lekta, einfachen und nicht-einfachen Aussagen, Argumenten, Trugschlssen oder Modalitt. Hat J. Barnes also Recht damit, dass es bei Marc Aurel keine Logik gibt oder keine, ber die sich auch nur ein lohnender Satz publizieren ließe?
766 767 768
769
J. Barnes liest auch dieses Kapitel als Absage an die Logik (siehe Barnes, J.: Logic in the Imperial Stoa, a.a.O., S. 1). Dieses Kapitel passt aber zu den anderen, in denen Marc Aurel bedauert, kein professioneller Philosoph geworden zu sein (M. Aur. Med. 1, 16 und 17; 8, 1). Siehe Fronto Ep. 4, 5; 2, 17. Siehe Diog. Laert. 7, 42 – 3. Siehe z. B. Mates, B.: Stoic Logic, 2. Aufl., Berkeley/Los Angeles 1991; Frede, M.: Die stoische Logik, a.a.O.; jngst auch bei Ierodiakonou, K.: Stoic Logic, in: Gill, M. L./Pellegrin, P. (Hg.): A Companion to Ancient Philosophy, Oxford 2006, S. 505 – 529; Baltzly, D.: Stoicism, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (Hg. von E. Zalta), Winteredition 2008, URL: http://www.science.uva.nl/~seop/entries/stoicism/. Siehe daher die Ausfhrungen von Kahn, Ch.: Stoic logic and Stoic logos, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 51 (1969), S. 158 – 172; Long, A. A.: Dialectic and the Stoic Sage, in: ders.: Stoic Studies, Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 85 – 106, und ders.: The logic basis of Stoic ethics, in: ders.: Stoic Studies, a.a.O., S. 134 – 155.
4. Logik – Vernunftgebrauch
555
Nicht ganz. Die Frage, ob vom Gebiet der stoischen Logik in den Selbstbetrachtungen gar nichts abgehandelt wird, ist nicht so leicht zu entscheiden, wie es J. Barnes suggeriert. Zum einen gehçrt, wie angedeutet, zur stoischen Logik auch die Rhetorik770 und zum anderen auch die Epistemologie mit Aussagen ber Vorstellungen und Methodiken. Allgemein ist die Logik bei den Stoikern der Teil der Philosophie, der das untersucht, was mit dem Logos in Verbindung steht.771 Da auch Marc Aurel als Stoiker an einem vernunftbestimmten Leben in bereinstimmung mit der Natur orientiert ist, die ihrerseits als vollkommen rational konzipiert ist, muss zumindest Logik in dieser sehr weiten Bedeutung eine Rolle spielen. Einen ersten Einblick in die „Logik“ Marc Aurels gibt folgendes Kapitel: Zu den genannten Grundstzen ist aber noch ein weiterer hinzuzufgen: Man muss sich immer eine Definition oder einen Begriff von dem Gegenstand bilden, der einem vor Augen tritt, so dass man ihn in seiner Beschaffenheit ganz unverhllt und in allen Einzelheiten sieht und den ihm gehçrenden Namen und die Namen aller Teile, aus denen er zusammengesetzt ist und in die er wieder aufgelçst werden wird, sich selbst nennen kann. Nichts trgt nmlich so sehr dazu bei, innere berlegenheit zu erzeugen, wie die Fhigkeit, methodisch konsequent und wirklichkeitsgerecht jeden im Leben vorkommenden Sachverhalt zu durchleuchten und zu klren, und die Gewohnheit, die Dinge stets so zu betrachten, dass man gewahr wird, welcher Art von Welt die Sache welchen Nutzen bringt und welchen Wert sie einerseits fr das Ganze und andererseits fr den Menschen als Brger des obersten Gemeinwesens hat, zu dem die brigen Gemeinwesen gleichsam wie Huser gehçren, ferner (dass man sich bewusst ist), was das ist, das bei mir jetzt die Vorstellung erzeugt, und woraus es zusammengesetzt ist und wie lange es seiner Natur nach erhalten bleiben kann und welche Qualifikation dafr erforderlich ist, wie zum Beispiel Nachgiebigkeit, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Treue, Schlichtheit, Unabhngigkeit und die brigen Qualifikationen. Daher muss man sich bei jedem einzelnen Vorgang sagen: Dies ist von Gott gekommen, das geschieht durch schicksalhafte Verkettung, schicksalsbedingte Zusammenfgung, durch ein entsprechendes Zusammentreffen und durch Zufall, jenes aber wurde von meinem Mitbrger, von meinem Verwandten, von meinem Partner verursacht, der allerdings nicht weiß, was seiner Natur gemß ist. Aber ich weiß es genau. Deshalb gehe ich mit ihm um, wie es dem Naturgesetz der Gemein770 Siehe Diog. Laert. 7, 49 – 51. 771 „Die Stoiker vertreten also diese Ansicht in der Logik, um auf bestmçgliche Weise ihre Behauptung zu rechtfertigen, dass der Weise immer ein Dialektiker ist. Denn alle Dinge wrden durch ein in Diskursen betriebenes Studium betrachtet, mçgen sie in das Gebiet der Physik oder auch in das der Ethik gehçren. Was den Bereich der Logik betrifft, versteht sich das von selbst.“ Diog. Laert. 7, 83 (=LS 31 C (1)).
556
4. Logik – Vernunftgebrauch
schaft und der Partnerschaft entspricht, erfllt von Wohlwollen und Gerechtigkeit. Zugleich aber habe ich bei den Dingen, die weder gut noch bçse sind, das Angemessene im Auge.772
Wie dieses Kapitel andeutet, gibt es eine von der Vielzahl der Themen, die Stoiker unter der berschrift Logik abgehandelt haben. Einige wenige davon kommen bei Marc Aurel vor und sollen hier untersucht werden. Das Zitat macht darber hinaus die zwei typischen Momente der Philosophie Marc Aurels deutlich: Die Themen werden erstens nicht suberlich getrennt, sondern in einem Komplex angesprochen, der Trennungen von philosophischen Disziplinen bzw. deren Teilgebiete nicht anerkennt. Zweitens werden die argumentativen Strnge immer auf eine gelingende Praxis bezogen. Bei den nun vorzustellenden Themenfeldern der Selbstbetrachtungen handelt es sich demnach um fr die Zwecke der Analyse isolierende Darstellungen. Erstens enthalten viele Kapitel Ausfhrungen ber Vorstellungen (phantasiai) oder kçnnen als gerade ausgebte Auseinandersetzung mit Vorstellungen verstanden werden. Hier verwendet Marc Aurel zum Teil technisches Vokabular, wenn auch nicht immer sicher. Schon deshalb kann hier am eindeutigsten von einer Erçrterung eines logischen Themas gesprochen werden. Zweitens sprechen andere Kapitel von einer analytischen Methode, Definitionen und von Wahrheit. Auch in diesen Fllen enthalten die entsprechenden kurzen Abhandlungen Fachausdrcke, insbesondere aus der Physik, die Marc Aurel jedoch zu etwas mehr oder minder eigenem oder eigenwillig Formuliertem zusammenfgt. Bei diesen beiden Problemkreisen handelt sich um klassische Felder der stoischen Logik. Und in beiden Fllen gibt es zum einen Kapitel, die eher theoretisch, also im Rahmen von Reflexionen, auch wenn sie sehr kurz und elliptisch sind, darber Auskunft geben, was Marc Aurel ber die Vorstellung bzw. die analytische Methode sagt. Zum anderen finden sich solche Kapitel, in denen er diese berlegungen praktisch umsetzt. Drittens gibt es bei Marc Aurel rhetorische berlegungen, die zum Bereich der Logik gezhlt werden kçnnen. Es handelt sich dabei nicht um klassische Themen der stoischen Rhetorik, noch werden entsprechende Einteilungen, etwa die in Beratung, Rechtssprechung und Lobrede vor-
772 M. Aur. Med. 3, 11.
4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir
557
genommen,773 sondern um berlegungen, die sprachliche Formen in Verbindung mit Epistemischem betreffen. Bei dem folgenden Versuch, bezglich dieser Elemente und Aspekte in den Selbstbetrachtungen Unterscheidungen vorzunehmen, soll es nicht darum gehen, Marc Aurel zu einer Hauptquelle der (spten) stoischen Logik zu erklren. Aber logische Momente in der Philosophie Marc Aurels auszumachen, gehçrt zu einer umfassenden und korrekten Beschreibung seiner Themen und Argumente. Ferner ist eine solche Beschreibung eine wichtige Grundlage fr die Beurteilung der Frage, ob der Stoizismus Marc Aurels berhaupt noch als Philosophie gekennzeichnet werden darf. Neben dem Vorwurf des Eklektizismus, der ihm abspricht, ein origineller Philosoph zu sein, gibt es den, bei Marc Aurel sei gar keine Logik und kein argumentatives Gerst zuerkennen und das angeblich rein moralisch Appellative sei nicht als hinreichend fr Philosophie. 4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir Es gibt gute Grnde, die Darstellung des logischen Teils der Philosophie Marc Aurels mit der Vorstellung (vamtas_a) zu beginnen. Denn sie kommt nach allgemeiner stoischer Auffassung vor der eigentlichen Verstandesttigkeit.774 Ferner handelt es sich bei Marc Aurels Behandlung der Vorstellung um den wichtigsten Teil seiner Logik. Die Vielzahl der Kapitel, in denen Marc Aurel Vorstellungen erwhnt, zeigt darber hinaus, dass es sich um einen bedeutenden Teil seiner Philosophie insgesamt handelt. Der Ausdruck vamtas_a taucht immerhin in rund 15 Prozent aller Kapitel auf.775 Es gibt nach stoischer Auffassung zwei Arten von Vorstellungen, die einen sind kçrperlicher Natur, da sie durch die Sinneswahrnehmung 773 Siehe Diog. Laert. 7, 41 – 45 (=LS 31 A). 774 Siehe Diog. Laert. 7, 49 – 51 (=LS 39 A) und Atios 4, 11, 1 – 4 (=LS 39 E). 775 Im Wortindex in Dalfens Textausgabe werden allein 40 Kapitel fr das Wort vamtas_a aufgelistet. Marc Aurel beachtet dabei stoische Unterscheidungen, z. B. die von phantasia (Vorstellung), phantaston (Vorgestelltes), phantastikon (Einbildung) und phantasma (Fiktion). Siehe zum Hintergrund Atios 4, 12, 1 – 5 (=LS 39 B). Besonders deutlich sind die Unterscheidungen bei Marc Aurel in den Kapiteln, in denen er zwei verschiedene Ausdrcke verwendet. In Kapitel 3, 11 finden sich vamtast|m und vamtas_a. Im Kapitel 3, 4 vamtas_a und v\mtasla. Fr die weiteren Stellen zu den drei Ausdrcken siehe den Wortindex in der Ausgabe von Dalfen.
558
4. Logik – Vernunftgebrauch
vermittelt worden sind, die anderen sind durch das Denken erzeugt und daher unkçrperlich.776 Im Falle der ersten Gruppe geht der Vorstellung die Ttigkeit der Sinneswahrnehmung voraus. Sinneswahrnehmung behandelt Marc Aurel nicht hufig und dann durchweg negativ:777 Die „Wahrnehmungsfhigkeit des Menschen ist schwach“778 so wie „die wahrnehmbaren Dinge dem schnellen Wandel unterworfen sind und keinen Bestand haben, unsere Wahrnehmungsorgane stumpf und leicht zu tuschen sind“.779 Abschtzig spricht Marc Aurel von der „Wahrnehmung des umgebenden Fleisches“.780 Insgesamt hlt Marc Aurel die Gegenstnde der Sinneswahrnehmung fr unsicher, die Wahrnehmung selbst und die Wahrnehmungsfhigkeit fr schlecht, er ordnet sie allesamt mit pejorativer Absicht ganz dem Kçrper zu und verortet sie im Rahmen einer scala naturae auf der untersten Stufe.781 Diese Auffassung von der Wahrnehmung wird nicht besonders ausfhrlich thematisiert, sie berrascht aber auch nicht. Neben der Frage, ob damit eine pessimistische Epistemologie indiziert ist, sind eventuelle Folgen fr Marc Aurels Verstndnis von der Vorstellung von vorrangigem Interesse. Wenn einige Vorstellungen, nmlich die sinnlichen, gemß stoischer Lehre sowohl zeitlich als auch logisch der Wahrnehmung folgen, msste Marc Aurel diese sinnlichen Vorstellungen also auch ablehnen. Zunchst stellen sich damit folgende Fragen bzw. 776 Siehe Diog. Laert. 7, 49 – 51 (=LS 39 A). Es gibt weitere und hochkomplexe Unterscheidungen von Vorstellungen, die hier zunchst nicht von Bedeutung sind (siehe Sext. Emp. Math. 7, 242 – 246 (=LS 39 G) und Atios 4, 11, 1 – 4 (=LS 39 E)). Die Erzeugung von unkçrperlichen Vorstellungen durch das Hegemonikon ist ußerst problematisch, weil dies eine bestimmte Kausalitt voraussetzt. Fr solche unkçrperlichen Vorstellungen kommen vor allem universale Begriffe, die durch das Abstraktionsvermçgen des Geistes entstehen und die nicht durch ein Element der Außenwelt physisch verursacht sein kçnnen, in Betracht (siehe dazu den Kommentar von Long/Sedley zu LS 39). 777 Nur geringfgig neutraler ist der Hinweis, dass die sinnliche Wahrnehmung der Zustimmung bedarf, die aber ihrerseits Vernderungen unterworfen ist, weil der Mensch als Ganzes am Wandel teilhat (vgl. M. Aur. Med. 5, 10). 778 M. Aur. Med. 2, 17. 779 M. Aur. Med. 5, 33. 780 M. Aur. Med. 12, 1. 781 „Zum Kçrper gehçren die sinnlichen Wahrnehmungen, zur Seele die Anstçße und Antriebe, zum Geist die berzeugungen. Eindrcke zu bekommen mit Hilfe der Vorstellung ist auch den Tieren auf der Weide mçglich.“ M. Aur. Med. 3, 16 (t¹ l³m tupoOshai vamtastij_r ja· t_m bosjgl²tym7 t¹ d³ meuqospaste?shai bqlgtij_r ja· t_m hgq¸ym ja· t_m !mdqoc¼mym ja· Vak²qidor ja· M´qymo…).
4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir
559
Probleme, wobei die Frage nach nicht-sinnlichen Eindrcken bei Marc Aurel hier ausgeklammert wird.782 (i) Steht Marc Aurel tatschlich allen Eindrcken, die durch die Sinne vermittelt worden sind, negativ gegenber? Wenn ja, welche Folgerungen hat das fr das Handeln? Denn auch wenn Marc Aurel nicht viel ber die Wahrnehmung schreibt und dies mit einem abwertenden platonischen Unterton tut, so ist die Wahrnehmung doch natrlich. Problematisch an ihr ist fr Marc Aurel offenbar, dass sie den Menschen dazu verfhrt, ihr ein Urteil hinzuzufgen. (ii) Es ist fraglich, ob sich aus der Untersuchung der Kapitel, in denen Marc Aurel Vorstellungen behandelt, ein einheitliches Bild ergibt. (iii) Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich aus diesen Vorstellungen Marc Aurels? Eine ltere Einschtzung ber die vamtas_a bei Marc Aurel lautet: Das Wort hat fr Marc Aurel einen ausgesprochen negativen Sinn, es sind – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ,verwerfliche Gedanken‘, die man auslçschen oder verwischen soll, denn sie kçnnen dem Daimon nicht dienen.783
Fr H. Erbses These sprechen die gerade skizzierte Auffassung und weitere Kapitel.784 Doch gegen die These von einer grundstzlichen Abwertung der Vorstellung bei Marc Aurel spricht zunchst eine systematische berlegung. Fr Erbse steht die Kultivierung des Geistes, nicht die glcklichmachende Lebensfhrung im Vordergrund der Philosophie Marc Aurels. 782 Sie spielt auch in der traditionellen stoischen Lehre keine berragend große Rolle, was nicht berrascht, da die Stoiker Materialisten sind. Zweitens ist bereits bei den Autoren, die solche Vorstellungen thematisieren, schwierig zu verstehen, was damit gemeint ist, und wie sie verursacht werden ohne Einbildung zu sein. Drittens – und entscheidend – ist festzuhalten, dass dieser Typus von Vorstellungen bei Marc Aurel nicht thematisiert wird. Siehe Cicero Acad. 1, 41 – 42 (=LS 41 B). Zum Hintergrund siehe u. a. Hankinson, J.: Stoic Epistemology, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 59 – 84, hier: S. 61, Anm. 4. Nicht-kçrperliche Vorstellungen kçnnen z. B. Gott (siehe Diog. Laert. 7, 52) betreffen und mit dem wenigen, was nach den Stoikern unkçrperlich ist, in Verbindung stehen. 783 Erbse, H.: Die Vorstellung von der Seele bei Marc Aurel, a.a.O., S. 139. 784 Neben dem bereits zitierten Kapitel 3, 16 z. B. auch dieses: „Die Einbildung fortwischen, die Bedrfnisse einstellen, das Streben auslçschen, das leitende Prinzip der Seele in deiner Gewalt haben.“ 9nake?xai vamtas¸am7 st/sai bql¶m7 sb´sai eqenim7 1v’ 2aut` 5weim t¹ Bcelomijºm. M. Aur. Med. 9, 7.
560
4. Logik – Vernunftgebrauch
Will ein Mensch aber gelingend handeln, braucht er Informationen ber die Welt und seine Mitmenschen. Entsprechende Daten ber die Außenwelt und Partikulares bekommt die Seele des Menschen der stoischen Auffassung zufolge aber durch die vamtas_a. Sie kann als Verbindung des geistigen Inneren des Menschen und der Realitt beschrieben werden oder als das kognitive Moment, das der entscheidenden Instanz im Menschen berhaupt informativen Zugang zur Realitt erlaubt. Schon daher ist es unwahrscheinlich, dass Marc Aurel die vamtas_a grundstzlich ablehnt.785 Besttigen die Selbstbetrachtungen solche berlegungen? Zunchst ist festzuhalten, dass es bei Marc Aurel einen nicht-technischen, dabei aber positiven Gebrauch von vamtas_a gibt, und zwar bereits im ersten Buch: „Von Rusticus wurde mir die Einsicht (vamtas_a) vermittelt, dass mein Charakter der Verbesserung und Pflege bedarf.“786 Bereits wegweisend fr die technische Bedeutung der spteren Kapitel ist der Eintrag zu Pius im ersten Buch, in dem es ber Marc Aurels Vorbild heißt: Bei Beratungen pflegte er grndliche Untersuchungen anzustellen und legte Geduld an den Tag. Er gab seine Nachforschungen nicht vorzeitig auf, zufrieden mit naheliegenden Erklrungen.787
Die Vorstellungen werden nicht grundstzlich verworfen, man soll sich jedoch eben nicht vorschnell mit ihnen zufrieden geben, sondern „grndliche Untersuchungen“ anstreben. Angedeutet wird hier der in den spteren Kapiteln etwas stoisch-technischer ausformulierte und praktizierte Gedanke, dass die Vorstellungen grndlich untersucht werden mssen,
785 Erbses Einschtzung ist auch in anderer Hinsicht problematisch: Der Ausdruck „verwerfliche Gedanken“ insinuiert, dass die vamtas_a per se ethisch problematisch ist. Ferner ist nicht klar, was der Ausdruck „verwischen“ im Unterschied zu „verwerfen“ bedeuten soll. Sollte Marc Aurel tatschlich wollen, dass der Eindruck von Realitt verwischt und nicht gemß der Natur przisiert wird? 786 M. Aur. Med. 1, 7. Auf die stoische Tradition verweist auch ein anderer Eintrag, in dem Marc Aurel auf die stoische Lehre und die stoische Formel hinweist und dies mit einer Vorstellung, die offenbar etwas Wahres fasst, in Verbindung bringt: „Den Gçttern sei Dank, dass ich Apollodoros, Rusticus und Maximus kennenlernte, dass ich vom wahren Wesen des naturgemßen Lebens mehr als nur einmal eine klare Vorstellung gewann…“. „t¹ cm_mai )pokk¾miom, Uo¼stijom, L²nilom. t¹ vamtash/mai peq· toO jat± v¼sim b¸ou 1maqc_r ja· pokk²jir oXºr t¸r 1stim.“ M. Aur. Med. 1, 17. 787 M. Aur. Med. 1, 16 (ja· t¹ fgtgtij¹m !jqib_r 1m to?r sulbouk_oir ja· 1p_lomom, !kk’ oq t|7 pqoap]stg t/r 1qe}mgr, !qjeshe·r ta?r pqowe_qoir vamtas_air).
4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir
561
bevor eine Zustimmung erfolgen kann, und dass dieser Prozess dem Charakter nach etwas Dialektisches, etwas von einer Beratung hat.788 Nahe gelegt wird so, dass nicht die Vorstellungen per se das Problem sind. Kritisch hingegen ist der Umgang oder die Reaktion auf eine Vorstellung bzw. der Umstand, dass sie vorschnell zu einer falschen, weil unnatrlichen Auffassung ber das, was gut und schlecht ist, fhren. Die Kontrollfunktion des Hegemonikons ist daher entscheidend. In der Aktivitt des fhrenden Seelenteils liegt die Ursache fr die Akzeptanz falscher Ansichten, die wiederum zu falschem Handeln fhrt. Daher wird die Urteilsmçglichkeit und -fhigkeit von Marc Aurel betont:789 „Einer vernnftigen Natur geht es gut, wenn sie weder einer falschen noch unklaren Vorstellung ihre Zustimmung gibt.“790 Hier knpft Marc Aurel an zwei gngige stoische Unterscheidungen an: Von den Vorstellungen ist die eine Art erkenntnistauglich, die andere nicht erkenntnistauglich. Die erkenntnistaugliche Vorstellung ist, so sagen sie [die Stoiker], das Kriterium fr die Sachen; sie bildet sich von etwas Existierendem her, hat sich in bereinstimmung mit eben dieser Grundlage siegelartig in unserem Geist abgedrckt und ist ihm gegenwrtig. Die nicht-erkenntnistaugliche Vorstellung hingegen stammt entweder von etwas Nichtexistierendem her; oder sie stammt von etwas Existierendem her, hat sich nicht in bereinstimmung mit eben dieser Grundlage gebildet; sie ist nicht deutlich und auch kein klarer Abdruck.791
Dass Marc Aurel die falschen und unklaren Vorstellungen erwhnt, denen keine Zustimmung gegeben werden soll, scheint ferner ein Anklang an die Debatte ber die Voreiligkeit zu sein, mit der Zustimmungen erteilt werden: gilt sie einer unklaren Vorstellung, handelt es sich um eine „irrige“ Zustimmung, bei der Zustimmung zu einer falschen Vorstellung um eine „Selbsttuschung“. Mit diesen Unterscheidungen verbindet sich natrlich die Diskussion, die Stoiker, Akademiker und Skeptiker ber die Kriterien der Wahrheit fhrten.792 Diese hçchst komplexen Debatten finden bei Marc Aurel weder eine Fortsetzung noch einen nennenswerten Niederschlag. Hier ging es 788 Siehe dazu Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 37. 789 „Sich nicht hinreißen lassen, sondern bei jedem Anstoß (zum Handeln) das Gerechte zur Wirkung bringen und sich bei jeder Vorstellung die Urteilsfhigkeit bewahren.“ M. Aur. Med. 4, 22. 790 M. Aur. Med. 8, 7. 791 Cic. Acad. 2, 77 – 78 (=LS 40 D). 792 Siehe dazu z. B. Hankinson, J.: Stoic Epistemology, a.a.O.
562
4. Logik – Vernunftgebrauch
aber auch zunchst nur um den Nachweis, dass Marc Aurel der Vorstellung nicht immer negativ gegenbersteht, sondern stattdessen einen kontrollierten kognitiven Umgang mit ihnen fordert. Er thematisiert jedoch nicht den ontogenetischen Entwicklungsprozess, der zu Erkenntnisfhigkeit und Begriffsbildung fhrt, etwa die Entwicklung eines Kindes bis hin zur Begriffsbildung,793 sondern nur das Erkennen. Bevor dieser Erkenntnisprozess erlutert wird, sind einige Vorbemerkungen ber Marc Aurels sonstiges Vokabular hilfreich. Zum Fehlen der Thematisierung der Begriffsbildung beim Kind passt, dass bestimmte Voraussetzungen, wie z. B. pq|kgxir, nicht erçrtert werden. Der Ausdruck pq|kgxir taucht in den Selbstbetrachtungen nicht einmal auf. Den Ausdruck 5mmoia hingegen verwendet Marc Aurel hufiger, zunchst, ganz am Anfang des ersten Buches neutral in der Bedeutung „Gedanke“794 oder „Bewusstsein“, dann im Sinne von „Vernunft“795 bzw. „vernnftigem Denken“.796 Damit spricht Marc Aurel von 5mmoia sowohl als dem Inhalt als auch dem Organ des Denkens.797 Marc Aurel konzentriert sich auf den Umgang mit der vamtas_a. Das tut er einerseits der Sache nach und vor allem auch bei der Auswahl der Termini.798 Ein weiterer Ausdruck ist rpºkgxir, der eine weitere Annhrung an Marc Aurels wichtiges Thema, dem kontrollierenden Umgang mit den Vorstellungen, darstellt. Es gibt Kapitel, in denen Marc Aurel sehr allgemein und unspezifisch von rpºkgxir spricht.799 Er verwendet den Ausdruck dann berwiegend fr ein „Urteil“. In vielen Kapiteln geschieht dies erstens nicht in einem 793 794 795 796 797
Siehe Atios 4, 11, 1 – 4 (=LS 39 E). M. Aur. Med. 1, 3. M. Aur. Med. 8, 19. M. Aur. Med. 2, 12. Weitere Belege bei Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 58. Zum Hintergrund und auch dem nicht ganz einfachen Verhltnis von pq|kgxir und 5mmoia siehe Dyson, H.: Prolepsis and Ennoia in the Early Stoa, Berlin/New York 2009. 798 So das Ergebnis der Wortfeldanalyse zur Epistemologie von Marc Aurel (vgl. Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 57). 799 „Alles ist zunchst nur ein Aufnehmen“ (M. Aur. Med. 2, 15); „.. dass alles nur bloßes Aufnehmen ist“ (M. Aur. Med. 12, 8), und „Der Kosmos ist Wandlung. Das Leben nur Aufnehmen. (b jºslor !kko¸ysir, b b¸or rpºkgxir.)“ (M. Aur. Med. 4, 3). Das letzte Zitat zeigt, dass hier rpºkgxir zwar allgemein, aber doch abwertend im Sinne von bloßer Meinung, die eben schwankt, verwendet wird.
4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir
563
epistemologischen Kontext, wobei zweitens auffllig ist, dass es sich bei den meisten Fllen um eher abschtzige Verwendungen handelt: rpºkgxir bezeichnet eine irrige Ansicht, der man nicht folgen sollte.800 Eine bestimmte „Aufnahme“ kann Marc Aurel zufolge aber unterbleiben: Es ist mçglich, dass man ber diese Angelegenheit nichts aufnimmt und sich damit seelisch nicht belastet. Denn die Dinge selbst haben nicht die Macht, unsere Urteile zu beeinflussen.801
Hier handelt es sich um eine Anspielung auf die Freiheitssphre, zu der die Mçglichkeit gehçrt, die durch die Wahrnehmung bedingten Vorstellungen und die Aufnahme, rpºkgxir im Sinne von Urteil, zu kontrollieren bzw. ganz auf sie zu verzichten. Der Freiraum entsteht nach stoischer Auffassung erst, weil die Dinge und die Sinneswahrnehmung nicht notwendig und hinreichend fr eine Urteilsbildung sind. ber die Gte der Wahrnehmungsinhalte informiert die Vorstellung also einerseits nicht, aber anderseits kann sie vorschnell zu einem Urteil darber verleiten. In diesem Sinne ist eine bestimmte Aufnahme kein Automatismus. Das bedeutet, dass eine Entscheidung zunchst berhaupt mçglich wird, dann dass sie, ethisch betrachtet, nçtig wird. Der Hinweis, dass dies offenkundig in unserer Macht steht, sollte aber nicht dahingehend verstanden werden, dass die Freiheit so genutzt werden sollte, ganz auf rpºkgxir zu verzichten.802 Diese Lesart ist aufgrund des ersten Satzes des letzten Zitats verfhrerisch, wrde aber in die Irre fhre. Weder pldiert Marc Aurel fr eine totale Diskreditierung von Sinneswahrnehmung, Phantasia und Hypolepsis, noch meint er allgemein, dass wir ganz ohne Urteile leben kçnnen oder sollen: Achte auf deine Fhigkeit, die Dinge in dein Bewusstsein aufzunehmen. Nur auf sie kommt es an, damit in deiner leitenden Vernunft keine Auffassung mehr entsteht, die der Natur und der Beschaffenheit des vernunftbegabten Lebewesens nicht entspricht. Diese garantiert die Fhigkeit, eine voreilige Meinungsbildung zu vermeiden, den vertrauten Umgang mit den Mitmenschen und den Gehorsam gegenber den Gçttern.803 800 Siehe etwa M. Aur. Med. 7, 62; 8, 44; 10, 32; 12, 1; 12, 4. 801 =nesti peq· to¼tou lgd³m rpokalb²meim ja· lμ awke?shai t0 xuw07 aqt± c±q t± pq²clata oqj 5wei v¼sim poigtijμm t_m Blet´qym jq¸seym. M. Aur. Med. 6, 52. 802 Eindeutig positiv ist etwa M. Aur. Med. 11, 18. 803 Tμm rpokgptijμm d¼malim s´be. 1m ta¼t, t¹ p÷m, Vma rpºkgxir t` Bcelomij` sou lgj´ti 1cc´mgtai !majºkouhor t0 v¼sei ja· t0 toO kocijoO f]ou jatasjeu07 avtg d³ 1pacc´kketai !pqoptys¸am ja· tμm pq¹r !mhq¾pour oQje¸ysim ja· tμm to?r heo?r !jokouh¸am. M. Aur. Med. 3, 9.
564
4. Logik – Vernunftgebrauch
Hier wird ganz eindeutig nur eine bestimmte Urteilsbildung kritisiert. Das Kapitel nennt mehrere Kriterien: Die rpºkgxir sollte (a) nicht voreilig zustande kommen. Mit der Forderung, keine der „Natur und der Beschaffenheit des vernunftbegabten Lebewesens entgegenstehende Auffassung“ zuzulassen, kçnnte gemeint sein, dass sie (b) dem Objekt, ihrem Gegenstand, gemß sein muss und (c) dass sie dem vernunftgemßen Lebewesen, dem Urteilenden, gemß sein muss. Schließlich sollte die rpºkgxir (d) eine bestimmte Praxis ermçglichen, und zwar in Hinblick auf die Mitmenschen und die Gçtter. Die hier angesprochene Kontrolle ist also sehr weitgehend in dem Sinne, dass eine Vielzahl von Urteilen ausgeschlossen wird. Daher ist die Kontrolle zugleich erforderlich und schon deswegen beschwerlich. Dies gilt fr den besonderen Fall, dass die Wahrnehmung eines Objektes zum vorschnellen Urteil fhrt, dass es sich um ein Gut handelt.804 Die berlegung, dass Urteile nicht ber natrliche Vorstellungen hinausgehen sollen, verbindet sich mit einem zentralen Thema der Ethik Marc Aurels, dem Umgang mit den unwissenden ungerechten Handlungen der anderen. Die Frage, ob man geschdigt wurde und wie darauf zu reagieren ist, ist aber nicht nur ein praktisches Problem. Marc Aurel behandelt auch seine epistemischen Grundlagen, etwa die Vorstellungen ber Schdigungen, denen flschlicherweise oder vorschnell zugestimmt wurde. Fr Marc Aurel hat dieser Problemkreis offensichtlich eine so große Bedeutung, dass er im Rahmen seiner Ausfhrungen zum Umgang und zur Kontrolle von Vorstellungen Beispiele fr diese Situation anfhrt: Sag zu dir nichts weiter als das, was dir die ursprnglichen, ungetrbten Vorstellungen anzeigen. Es wurde dir angezeigt, dass dieser oder jener schlecht ber dich redet. Das ist dir angezeigt worden. Dass du dadurch geschdigt worden bist, ist dir aber nicht angezeigt worden. Ich sehe, dass das Kind krank ist. Ich sehe es. Dass es aber in Lebensgefahr ist, sehe ich nicht. So bleib also bei den ersten Vorstellungen und deute von dir nichts hinein, dann geschieht dir 804 „Der leitende und herrschende Teil deiner Seele soll nicht berhrt werden von der glatten oder rauen Bewegung in deinem Fleisch und sich nicht damit verbinden, sondern sich selbst abgrenzen und jene in den Gliedern wirkenden Verlockungen einkreisen. Wenn sie aber durch die gegenseitige innere Verbindung in die denkende Seele aufsteigen, wie es in einem einheitlichen Kçrper mçglich sein kann, dann versuche zwar nicht, gegen die sinnliche Wahrnehmung, da sie natrlich ist, anzugehen, aber der leitende Teil der Seele soll von sich aus nicht die Auffassung hinzufgen, dass es sich dabei um etwas Gutes oder etwas Bçses handele.“ Der letzte Halbsatz lautet: tμm d³ rpºkgxim tμm ¢r peq· !cahoO C jajoO lμ pqostih´ty t¹ Bcelomij¹m 1n 2autoO. (M. Aur. Med. 5, 26).
4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir
565
nichts. Interpretiere es vielmehr wie jemand, der alles, was im Kosmos geschieht, genau kennt.805
Auf das besondere Vokabular (z. B. !cc]kky, k]cy, !macc]kky), das Marc Aurel hier verwendet, wird noch einzugehen sein, denn es verweist nicht nur auf den propositionalen Gehalt der Vorstellungen, sondern ist auch ein Hinweis darauf, dass die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen als dialektisches Gesprch stattfinden kann. Dieser Umgang mit den Vorstellungen hat einen praktischen Wert, weil nicht naturgemße Vorstellungen beunruhigend sind: Verzichte auf deine Sicht der Dinge, dann ist die Aussage: ,Mir wurde Schaden zugefgt‘ gegenstandslos. Verzichte auf die Aussage: ,Mir wurde Schaden zugefgt‘, dann ist der Schaden beseitigt.806
Hintergrund dieser Argumentation bildet die berlegung, dass nicht die Taten schdigen, sondern eine entsprechende Hypolepsis.807 Whrend einige Kapitel808 nahelegten, dass Marc Aurel Vorstellungen, die durch die Sinneswahrnehmung verursacht wurden, grundstzlich negativ gegenbersteht und vielleicht nur diejenigen, die kºc\ zustande gekommen sind, gelten lsst,809 wird hier deutlich, dass auch sinnliche Vorstellungen, wenn sie natrlich sind, durch den fhrenden Seelenteil geachtet werden sollen. Abermals findet sich nur die Erklrung, dass den natrlichen Vorstellungen kein Werturteil ber das Vorgestellte zugefgt werden soll. Hier wird die prfende und entscheidende Instanz genannt, das Hegemonikon. Die beiden nun folgenden Kapitel der Untersuchung werden sich dem bislang nur skizzierten Problem des Umgangs mit der Vorstellung detaillierter widmen. Es zeichnen sich bereits mehrere Anliegen dieses Verfahrens ab. Erstens sollen natrliche, ursprngliche Vorstellungen als solche er-
805 M. Aur. Med. 8, 49. 806 M. Aur. Med. 4, 7. Die deutsche bersetzung gibt das Original mit seiner sehr effektiven rhetorischen Pointierung nur unvollkommen wieder: /qom tμm rpºkgxim, Gqtai t¹ b´bkallai7 üqom t¹ b´bkallai, Gqtai B bk²bg. 807 ber die schlecht Handelnden schreibt Marc Aurel: „Dass uns nicht ihre Taten belasten – denn dafr sind die leitenden Prinzipien ihrer Seelen zustndig –, sondern die Art und Weise, wie wir sie in unser Bewusstsein aufnehmen. Lass doch einfach davon ab und sei bereit, dein Urteil ber eine angeblich schlimme Angelegenheit zu revidieren, und die Aufregung hat sich gelegt.“ M. Aur. Med. 11, 18. 808 Z. B. M. Aur. Med. 2, 5. 809 Zum Hintergrund der Unterscheidung siehe Diog. Laert. 7, 51 – 52.
566
4. Logik – Vernunftgebrauch
kannt werden. Zweitens scheint es Marc Aurel zufolge schwierig zu sein, nur bei diesen zu bleiben und keinerlei weitere Urteile hinzuzufgen. In der stoischen Tradition, besonders der Epistemologie, verbindet sich der Umgang mit Vorstellungen hin zu Erkenntnis mit den Begriffen jat\kgxir und sucjat²hesir. Der Erkenntnisprozess wird in einem berhmten Vergleich von Chrysipp mit dem Schließen und festen Umfassen einer Faust verglichen.810 Marc Aurels Auffassung vom Umgang mit der Vorstellung ist teilweise an der stoischen Terminologie orientiert, bietet aber darber hinaus Eigenstndiges. Ein kurzer berblick ber die Verwendung der beiden zentralen Termini (i) jat\kgxir und (ii) sucjat²hesir wird auch verdeutlichen, wie wenig Marc Aurel an einer systematischen Darlegung von epistemologischen Aspekten gelegen ist, er aber zugleich ganz stoischer Philosoph ist. Ad (i) jat\kgxir. berraschend ist zunchst, dass Marc Aurel zwar einerseits meint, dass fr viele Philosophen die Dinge unbegreifbar sind (!jat²kgpta), whrend sie fr die Stoiker nur schwer begreifbar, also dusjat²kgpta sind.811 Andererseits fordert er sich auf, „bei jeder Vorstellung die Urteilskraft zu bewahren.“812 Die weiteren Kapitel besttigen ebenfalls, dass Marc Aurel von der Mçglichkeit, etwas korrekt zu erfassen, berzeugt war. Pius war ihm nicht nur ein Vorbild darin, Nachforschungen und Beratungen anzustellen, um nicht mit naheliegenden Vorstellungen zufrieden zu sein.813 In dem dazu passenden Kapitel 6, 30, in dem Marc Aurel wieder auf das Exempel Pius zu sprechen kommt, heißt es, sein „Ehrgeiz beim Erfassen von Tatsachen“814 sei paradigmatisch. Und Sextus zeigte ihm, „die fr das Leben notwendigen Leitideen zupackend und zielgerecht zu erfassen und zu ordnen“815. Es handelt sich um eine Parallelstelle zu dem bereits zitierten Passus aus dem Kapitel 1, 17, in dem Marc Aurel dafr dankt, hufiger klare Vorstellungen ber das naturgemße Leben gehabt zu haben. Diese beiden Kapitel stellen eine Verbindung von jat\kgxir und Vorstellung da. 810 811 812 813 814 815
Siehe Cic. Acad. 2, 145 (=LS 41 A). Siehe M. Aur. Med. 5, 10. 1p· p²sgr vamtas¸ar s]feim t¹ jatakgptijºm. M. Aur. Med. 4, 22. Siehe den oben bereits zitierten Abschnitt aus M. Aur. Med. 1, 16. T¹ peq· tμm jat²kgxim t_m pqacl²tym vikºtilom. M. Aur. Med. 6, 30. ja· t¹ jatakgptij_r ja· bd` 1neuqetijºm te ja· tajtij¹m t_m eQr b¸om !macja¸ym docl²tym. M. Aur. Med. 1, 9 (bersetzung weicht von der Nickels ab).
4.1 Sinneswahrnehmung, vamtas_a und rpºkgxir
567
Den Zusammenhang von rpºkgxir und jat\kgxir macht ein Vergleich zweier anderer Kapitel deutlich. Das bereits zitierte Kapitel 3, 9 gibt im ersten Satz einen Gedanken wieder, den Marc Aurel anderenorts mit der der jat\kgxir verbindet: „Es gengen das jeweils vorhandene Auffassungsvermçgen (rpºkgxir jatakgptijμ), das jeweils praktizierte solidarische Handeln und die jeweilige Verfassung der Seele…“.816 Ad (ii) sucjat²hesir. Auch den Ausdruck sucjat²hesir bzw. das entsprechende Verb verwendet Marc Aurel zunchst im ersten Buch vermeintlich umgangssprachlich. Von Rusticus lernte er auch „den Schwtzern nicht ohne weiteres zuzustimmen“817. Wie aber schon bei den anderen Fachtermini der stoischen Epistemologie ist die vermeintlich rein umgangssprachliche Formulierung wegweisend fr den weiteren Inhalt der Selbstbetrachtungen, auch wenn Marc Aurel den Ausdruck sucjat²hesir nicht sehr hufig verwendet. Das Kapitel 5, 10 machte in Bezug auf die jat\kgxir bereits den Eindruck, dass Marc Aurel den menschlichen epistemischen Mçglichkeiten eher skeptisch bis abwertend gegenbersteht. Die weiteren Kapitel konnten das nicht besttigen, vielmehr sagten sie das Gegenteil aus. In diesem Kapitel (5, 10) ußert er sich vielleicht auch ber die Zustimmung zweifelnd: „Auch unsere Zustimmung (zu den Ergebnissen der sinnlichen Wahrnehmung) ist insgesamt der Vernderung ausgesetzt.“818 Dass die Zustimmung insgesamt als „Filter“ fr (moralische) Urteile beschrieben wird, entspricht ganz der stoischen Lehre.819 Marc Aurel zitiert Epiktet und deutet im Folgenden vielleicht an, wie das Schwanken der Zustimmung berwunden werden kann, nmlich durch eine Kunst: Er sagt: ,Fr die Zustimmung muss man eine Methode finden (T´wmgm“, 5vg, „de? peq· t¹ sucjatat¸heshai erqe?m) und im Bereich unseres Wollens aufmerksam darauf achten, dass es mit der Mçglichkeit zum Verzicht ausgestattet ist, dass es gemeinschaftsfçrdernd wirkt und dass es nicht ber Gebhr zu Geltung kommt. Und sich des Strebens nach etwas vollstndig enthalten, aber nichts ablehnen, was in unserer Macht steht.820
816 817 818 819
M. Aur. Med. 9, 6. lgd³ to?r peqikakoOsi taw´yr sucjatat¸heshai. M. Aur. Med. 1, 7.
M. Aur. Med. 5, 10. Mit hnlichem Tenor argumentiert auch Kap. 2, 17. ja· koip¹m fsa peq· pºmou ja· Bdom/r !j¶joar ja· sucjat´hou. Siehe fr den bemerkenswerten Kontext nochmals insgesamt das oben bereits zitierte Kapitel M. Aur. Med. 4, 3. 820 M. Aur. Med. 11, 37.
568
4. Logik – Vernunftgebrauch
Es handelt sich hier insgesamt um einen deutlichen Anklang an Epiktet.821 Sowohl der Selbstdialog als auch Marc Aurels analytische Methode, die Gegenstand der folgenden Kapitel sind, kçnnen als ein Teil zu einer solchen t´wmg verstanden werden. Wenn Marc Aurel das Wissen zur Voraussetzung fr jat\kgxir macht,822 ließe sich das vielleicht als Hinweis auf so etwas wie ein Kriterium der Wahrheit verstehen, was aber unwahrscheinlich ist, denn Marc Aurel thematisiert hier nicht eine Entscheidung des Hegemonikons ber Vorstellungen, sondern etwas ußeres: die Handlung eines anderen Menschen. Es besttigt sich jedoch, dass er der Ansicht ist, dass zutreffende und erfassende Urteile mçglich sind. Auf Marc Aurels Ansichten, mit welcher Methode das erfassende Urteil oder die erfassende Vorstellung sicher erreicht oder ausgemacht werden kann, wird im nchsten Unter-Kapitel eingegangen. Marc Aurel betont aber nicht nur die Mçglichkeit, etwas korrekt zu erfassen, sondern auch, dass dieses Erfassen erstens etwas mit sprachlichen Ausdrcken zu tun hat und zweitens Auswirkungen auf die Lebensqualitt hat.823 4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung Im diesem Kapitel ist der Prozess, in dem der fhrende Seelenteil die Vorstellungen prft und ihnen gegebenenfalls die Zustimmung erteilen oder verweigern soll, zu beschreiben. In diesem Punkt kann an ein frheres Kapitel aus dem ersten Teil angeknpft werden, dasjenige ber den Selbstdialog.824 In diesem Kapitel wurde der Selbstdialog als ein formaler Aspekt beschrieben, der wesentlich dazu half, um Teile der Selbstbetrachtungen, aber gerade auch den Text als Ganzes zu verstehen. Nach der im ersten Teil vorgenommenen Beschreibung der formalen und funktionalen Vielfltigkeit des Selbstdialoges sind 821 Whrend Farquharson in seinem Kommentar (ad. loc.) von einer Zusammenfassung eines Epiktetkapitels oder einem Zitat aus einem verlorengegangenen Buch der Aufzeichnungen von Arrian spricht, wird neuerdings auf ein Fragment (fr. 27 Schenkel) verwiesen (vgl. Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 38 f.). 822 „Und berhaupt muss man vieles vorher wissen, um ber die Handlungsweisen eines anderen ein zutreffendes Urteil abgeben zu kçnnen.“ M. Aur. Med. 11, 18. 823 Siehe M. Aur. Med. 7, 13. 824 Siehe Kap. I 4.2.
4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung
569
jetzt das Hegemonikon und sein Selbstdialog ausschließlich in seiner epistemologisch-methodischen Bedeutung zu untersuchen, als das Medium bzw. die Methode der Kontrolle der Vorstellungen. Diese Darstellung gliedert sich wie folgt: Erstens ist die praktische Absicht und Bedeutung dieses Anliegens zu schildern. Zweitens soll das Hegemonikon in seiner Doppelrolle als Agent und Objekt beschrieben werden. Drittens ist auf den Aspekt der Selbstdialogizitt und besonders die Bedeutung des Frage-Antwort-Schemas einzugehen. Da Marc Aurel den Vorstellungen einen propositionalen Charakter zuspricht, kçnnen der Umgang des Hegemonikons mit den Vorstellungen und die Selbstreflexivitt diese Struktur haben. Von der praktischen Bedeutung des Umgangs mit den Vorstellungen im Rahmen eines Selbstdialoges kann in zweierlei Hinsicht gesprochen werden. Erstens ist die Prfung der Vorstellung entscheidend fr das Erlangen des Glckes. Neben diesem teleologischen Aspekt gibt es in methodischer Hinsicht wichtige praktische Momente, denn der Umgang mit den Vorstellungen muss bestndig gebt und praktiziert werden. Als Ziel des Umganges mit den Vorstellungen nennt Marc Aurel, sich „Ruhe vor allen anderen Vorstellungen zu verschaffen.“825 Neben Unruhe fhren entsprechende Vorstellungen auch zu ablenkenden Handlungen.826 Marc Aurel betont die Wichtigkeit der „kritische[n] Analyse der berzeugend erscheinenden Vorstellungen“827 Denn ohne vorherige Prfung soll man nicht handeln.828 Marc Aurel spricht von der gçttlichen Kraft in ihm, die die Vorstellungen prft (da¸lomor …t±r vamtas¸ar 1net²fomtor).829 Sollten Vorstellungen dieser kritischen Analyse nicht standhalten und nicht zustimmungsfhig sein, kçnnen sie offenbar ganz „fortgewischt“830 werden. Diese Mçglichkeit des fhrenden Seelenteils, sich Ruhe von den Vorstellungen zu verschaffen, bezeichnet seine vçllige Autarkie bis hin zur Erreichung der Seelenruhe, die im ganzen Hellenismus mit dem Glck identifiziert 825 826 827 828
M. Aur. Med. 2, 5. Siehe M. Aur. Med. 4, 24.
di²jqisir t_m piham_m vamtasi_m. M. Aur. Med. 8, 26. „Du sollst weder gegen deinen Willen noch zum Schaden der menschlichen Gemeinschaft, noch ohne vorherige Prfung (l¶te !men´tastor), noch aus innerer Unsicherheit handeln.“ M. Aur. Med. 3, 5. 829 M. Aur. Med. 3, 6. 830 Siehe nochmals M. Aur. Med. 3, 16.
570
4. Logik – Vernunftgebrauch
wird:831 „Wie leicht es ist, jede Vorstellung fortzustoßen und abzuwischen,832 wenn sie stçrt und unangebracht ist, und sofort in vçlliger Seelenruhe zu sein.“833 Die Erreichung des Glckes fhrt also ber die Kontrolle der Vorstellungen und der daraus resultierenden Urteile. Dieser Zusammenhang wird wiederum mit der spezifischen Natur des Menschen als vernunftbegabtem Wesen begrndet: „Jede Natur ist mit sich selbst zufrieden, wenn es ihr gut geht. Einer vernnftigen Natur geht es gut, wenn sie weder einer falschen noch unklaren Vorstellung ihre Zustimmung gibt …“834 Marc Aurel verfolgt hier ganz ein Anliegen Epiktets, der von der Kontrolle gegenber jeder rgerlichen Vorstellung spricht: Bemhe dich daher, jedem rgerlichen Eindruck sofort entgegenzuhalten: ,Du bist nur ein Eindruck, und ganz und gar nicht das, was du zu sein scheinst.‘ Dann prfe und begutachte den Eindruck nach den Regeln, die du kennst.835
Auch Epiktet will Vorstellungen nicht vollstndig kritisieren oder abschaffen, sondern kontrollieren.836 Vorstellungen bestimmen, so Marc Aurel, das Denken, so dass man es durch bestimmte Vorstellungen prgen kann: Wie du dir gewçhnlich deine Vorstellungen bildest, so wird dein Denken sein. Die Seele wird von den Vorstellungen gefrbt. Frbe sie also durch die ununterbrochene Aneinanderreihung beispielsweise folgender Vorstellungen: Wo es mçglich ist zu leben, da kann man auch gut leben. Am Kaiserhof kann man leben, also kann man am Kaiserhof gut leben.837
Vielleicht ist es fr einige Leser (wie J. Barnes) berraschend, dass Marc Aurel mit Vorstellungen in Form eines Syllogismus sein Denken und seine Seele beeinflussen mçchte. Darauf wird gleich noch einzugehen sein. Daneben ist interessant, dass er hier den Ausdruck des Frbens verwendet, den er auch anderenorts in platonischer Tradition,838 d. h. fr praktische Belange benutzt.839 831 832 833 834 835 836 837 838 839
Siehe dazu Hossenfelder, M.: Stoa, Epikureismus und Skepsis, a.a.O., S. 24 f. Zur „Reinigung der Meinung“ siehe z. B. Arr. Epict. diss. 4, 1, 110. M. Aur. Med. 5, 2. Zur Verbindung von Daimon und Glck siehe auch 7, 17. M. Aur. Med. 8, 7. eqh»r owm p²s, vamtas¸ô tqawe¸ô lek´ta 1pik´ceim fti ‘vamtas¸a eW ja· oq p²mtyr t¹ vaimºlemom’. 5peita 1n´tafe aqtμm ja· doj¸lafe to?r jamºsi to¼toir oXr 5weir. Arr. Epict. ench. 1. Siehe dazu ingesamt Arr. Epict. diss. 2, 18. M. Aur. Med. 5, 16. Siehe Pl. Resp. 430a-b. Siehe M. Aur. Med. 5, 16 und 6, 30 (zum Hintergrund siehe Sen. Ep. 71, 31).
4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung
571
Marc Aurel betont dabei, dass die Arbeit mit den Vorstellungen ein ununterbrochen nçtiger Akt ist. Die berprfung der Vorstellungen muss ununterbrochen und fr jede Situation durchgefhrt werden.840 Nicht nur wegen der großen, fast alleinigen Bedeutung handelt es sich bei der Kontrolle der Vorstellungen um ein zentrales Stck der Philosophie Marc Aurels. Anders als bei vielen situativ angelegten Kapiteln und deren daher notwendig speziellere Empfehlungen, die z. B. Krankheit, Todesangst, morgendliche Unlust etc. betreffen, handelt es sich bei der berprfung der Vorstellungen um eine Technik, deren Anwendung Marc Aurel universell fordert. Sowohl in temporrer als auch situativer Hinsicht erstreckt sie sich ohne Ausnahme auf das ganze Leben. Einen guten Einblick in die Ttigkeit des Hegemonikons beim Umgang mit den Vorstellungen gibt folgender Kapitel-Anfang: Vergeude nicht den Rest deines Lebens mit Gedanken ber andere Menschen, wenn du dies nicht im Blick auf das Gemeinwohl tust. Sonst wird du nmlich von einer anderen Ttigkeit abgehalten, wenn du dir darber Gedanken machst, was dieser oder jener tut und weshalb er es tut und was er sagt, was er denkt, was er treibt und was sonst noch dazu fhrt, dass du von der Beobachtung und Erforschung der hçchsten Instanz in dir selbst, der ,herrschenden Vernunft‘, abgebracht wirst.841
Neben dem Umstand, dass hier die zentralen Termini (rpoke_py, vamtas_a, vamt\fy und Bcelomij|m) vereint genannt werden, was selten ist, sind folgende Aspekte bemerkenswert: (i) Das Denken an die Mitmenschen wird hier nicht vollstndig abgelehnt,842 sondern nur dann, wenn es nicht am Gemeinwohl orientiert ist. Es werden also nur bestimmte Motive oder Absichten, sich mit anderen Menschen zu beschftigen, abgelehnt.843 Die negative Bewertung gilt nur einem bestimmten neugierigen und von verwerflichem Bestreben getragenen Interesse fr die anderen. Die grundstzliche Gemeinschaftorientierung bei Marc Aurel spricht gegen eine 840 „berall und ununterbrochen liegt es bei dir, …, dich mit der jeweils vorhandenen Vorstellung aufmerksam auseinanderzusetzen, damit sich nichts einschleicht, was du noch nicht begriffen hast.“ M. Aur. Med. 7, 54. 841 Lμ jatatq¸x,r t¹ rpokeipºlemom toO b¸ou l´qor 1m ta?r peq· 2t´qym vamtas¸air, bpºtam lμ tμm !mavoq±m 1p¸ ti joimyvek³r poi07 t¸ c±q %kkou 5qcou st´q,, tout´sti vamtafºlemor t¸ b de?ma pq²ssei ja· t¸mor 6mejem ja· t¸ k´cei ja· t¸ 1mhule?tai ja· t¸ tewm²fetai ja· fsa toiaOta poie? !poqq´lbeshai t/r toO Qd¸ou BcelomijoO paqatgq¶seyr. M. Aur. Med. 3, 4.
842 Siehe auch M. Aur. Med. 8, 55. 843 Siehe dazu auch M. Aur. Med. 6, 55 (siehe Kap. II 3.2).
572
4. Logik – Vernunftgebrauch
asoziale Isolierung von anderen Menschen. Dies gilt auch fr den epistemischen Bereich: „Eindringen in das leitende Prinzip eines jeden Menschen, aber auch jedem anderen die Mçglichkeit geben, in das eigene leitende Prinzip einzudringen.“844 Denn das „leitende Prinzip meiner Seele … ist doch wohl nicht ohne Geist, losgelçst und abgerissen von der Gemeinschaft“.845 (ii) Marc Aurel mahnt nicht nur einfach den Rckzug, die Anachorese an, sondern spezifiziert ihn als eine Ttigkeit (5qcom). (iii) Diese Ttigkeit wird als Erforschung und Beobachtung charakterisiert, wiederum wird das Kunstgemße und Methodische (siehe tewm\fy) betont. Auf diesen Punkt wird das nchste Kapitel ausfhrlicher eingehen. (iv) Es ist bemerkenswert, dass das Bcelomij|m hier als Objekt der untersuchenden Ttigkeit genannt wird. Auf das Hegemonikon ist nun nher einzugehen. Im letzten Zitat wurde der fhrende Seelenteil als Objekt genannt. Da es außer ihm keine Instanz gibt, die als Subjekt, als Agent der Prfung, in Frage kommt, handelt es sich bei der methodischen Ttigkeit um etwas Selbstreflexives: „Wie geht das leitende Prinzip der Seele mit sich selbst um? Denn in ihm liegt alles. Das brige ist dem Willen nicht zugnglich, tot und Rauch.“846 Die selbstreflexive Ttigkeit des fhrenden Seelenteils ist ferner durch Autarkie gekennzeichnet, er ist frei: Der fhrende Teil der Seele ist der Teil, der sich selbst weckt, sich seine eigene Richtung gibt und sich selbst zu dem macht, was er jeweils will, und der es bewirkt, dass ihm alles, was geschieht, so erscheint, wie er es will.847
Damit ist auch die Kontrollfunktion des Hegemonikons genauer gekennzeichnet. Es bestimmt ber seine eigenen Vorstellungen und es bestimmt darber vollkommen frei. Es ist genau diese autarke Sphre, die hinreichend fr das angestrebte Glck ist.848 844 M. Aur. Med. 8, 61 (hnlich 8, 62 und 9, 18; 9, 34). 845 M. Aur. Med. 10, 24. 846 M. Aur. Med. 12, 33. Ein anderes Kapitel besttigt dies: „Bei jeder Gelegenheit muss man sich dies fragen und prfen: Was geschieht bei mir in dem Teil der Seele, den man den fhrenden Teil nennt… (paq’ 6jasta toOto 1pameqyt÷m 2aut¹m ja· 1net²feim t¸ lo¸ 1sti mOm 1m to¼t\ t` loq¸\, d dμ Bcelomij¹m jakoOsi).“ M. Aur. Med. 5, 11. 847 M. Aur. Med. 6, 8. 848 „Konzentriere dich auf dich selbst. Der vernunftbegabte leitende Seelenteil hat die natrliche Fhigkeit, mit sich selbst zufrieden zu sein, wenn er gerecht handelt und
4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung
573
Deutlich unterscheidet Marc Aurel etwa zwischen Sinneseindrcken, die den Kçrper betreffen, und der Seele bzw. dem fhrenden Teil, der davon nicht betroffen ist.849 Diese Freiheitssphre des fhrenden Seelenteils ist fr Marc Aurel ein Spezifikum der menschlichen Natur.850 Die Aktualisierung dieser Freiheit und die Mçglichkeit zu einem eigenstndigen Urteil851 durch eine entsprechende Lebensfhrung ist Marc Aurel zufolge aber nur einigen wenigen Philosophen, wie Heraklit, Sokrates und Diogenes, geglckt.852 Marc Aurel bndelt in der durch P. Hadots deutschen Buchtitel berhmt gewordenen Metapher von der inneren Burg seine Auffassungen vom fhrenden Seelenteil.853 Insgesamt ist das Hegemonikon alleinige Quelle von Urteilen und Wissen: Die Dinge stehen ganz fr sich draußen vor der Tr und wissen weder etwas ber sich noch geben sie Auskunft. Wer also kann Auskunft ber sie geben? Das leitende Prinzip der Seele.854
849
850
851 852 853
854
eben dadurch innere Ruhe und Heiterkeit genießt.“ M. Aur. Med. 7, 28 (siehe ganz hnlich auch 7, 33). „Das leitende Prinzip der Seele belstigt sich nicht selbst, so reizt es nicht selbst dazu an, etwas zu begehren. Wenn aber jemand anders fhig ist, das leitende Prinzip der Seele zu verunsichern oder zu betrben, dann soll er es tun. Denn selbst wird es sich aufgrund seiner eigenen Annahme nicht auf derartige Wege begeben. Der Leib soll, wenn er kann, alles daransetzen, dass er nichts erleidet, und er soll es ruhig sagen, wenn ihm etwas wehtut. Die Seele aber, die in der Lage ist, sich zu frchten, zu trauern und berhaupt in dieser Hinsicht etwas aufzunehmen, soll nicht erwarten, dass sie etwas erleidet. Denn sie hat nicht die Fhigkeit zu einem entsprechenden Urteil.“ M. Aur. Med. 7, 16 (zur Selbstgengsamkeit siehe auch 9, 26). „Die dritte Eigenschaft der vernunftbestimmten Natur des Menschen besteht darin, sich nicht zu etwas hinreißen zu lassen. Wenn sich das leitende Seelenprinzip daran hlt, kann es ohne Umwege auf sein Ziel losgehen, und es behlt seine Eigentmlichkeit.“ M. Aur. Med. 7, 55. Siehe M. Aur. Med. 8, 56. Siehe M. Aur. Med. 8, 3. „Erinnere dich daran, dass das leitende Prinzip der Seele unbezwingbar ist, wenn es in sich selbst zurckgezogen mit sich selbst zufrieden ist, weil es nichts tut, was es nicht will, auch wenn es ohne besonderen Grund Widerstand leistet. Was ist dann aber, wenn es auch mit einem vernnftigen Grund umsichtig ber etwas urteilt? Darum ist die von Leidenschaften freie Vernunft eine Burg (di± toOto !jqºpok¸r 1stim B 1keuh´qa pah_m di²moia). Denn der Mensch besitzt nichts, was noch strker ist. Wenn der Mensch dort seine Zuflucht sucht, drfte er in Zukunft unbesiegbar sein. Wer dies aber nicht sieht, ist ein Tor. Wer es aber sieht, ohne dort Zuflucht zu suchen, verpasst jede Chance.“ M. Aur. Med. 8, 48. M. Aur. Med. 9, 15.
574
4. Logik – Vernunftgebrauch
Hier wird nochmals deutlich, dass die Sinneseindrcke einerseits nicht verworfen werden, aber andererseits auch nicht notwendig und vor allem nicht fr sich genommen ausreichen, denn ohne eine ber die Urteile entscheidende Instanz, das Hegemonikon, gibt es kein Wissen. Neben den Aussagen ber Dinge und den ihnen naturgemßen Urteilen besteht die zweite wesentliche Aufgabe des Hegemonikons darin, zu entscheiden, welche Urteile sich gar nicht auf die natrlich bestehenden Dinge beziehen. Dabei handelt es sich bereits um die Urteile, die entscheiden, ob etwas gut ist. In einem Kapitel fast unmittelbar vor dem gerade zitierten heißt es: „Heute habe mich aus jedem Luxus befreit, nein, vielmehr habe ich jeden Luxus von mir geworfen. Denn er war nicht außerhalb, sondern in mir, in meinen Urteilen.“855 Der Umgang mit den Vorstellungen wird von der Instanz geleitet, die Marc Aurel Bcelomij|m nennt. Da er jedoch fr den fhrenden Seelenteil auch andere Ausdrcke gebraucht, ist auffllig, dass er Bcelomij|m offenbar spezifisch verwendet. Zwei Beobachtungen sprechen dafr. Erstens taucht der Ausdruck nur selten in anderen Kontexten, die es nicht mit der Kontrolle von Vorstellungen zu tun haben, auf.856 Zweitens und viel entscheidender scheint es zu sein, dass Marc Aurel das Bcelomij|m zwar mit dem inneren da_lym857 identifiziert, die beiden Ausdrcke jedoch in der Regel in unterschiedlichen Zusammenhngen verwendet. An Marc Aurels Gebrauch des Ausdrucks da_lym ist in formaler Hinsicht bemerkenswert, dass er auf das dritte Buch konzentriert ist. Inhaltlich ist entscheidend, dass er da_lym, abgesehen von zwei Ausnahmen, nie verwendet, wenn es um den Umgang mit den Vorstellungen geht.858 Das ist Sache des Bcelomij|m. Nach dem Hegemonikon als Instanz, die prft und geprft wird, die sich auf sich selbst konzentriert und dabei frei entscheiden kann, ist nun der Modus dieses Selbstbezuges zu schildern, der Selbstdialog. Die Kontrolle 855 ¶leqom 1n/khom p²sgr peqist²seyr, l÷kkom d³ 1n´bakom p÷sam peq¸stasim7 5ny c±q oqj Gm, !kk± 5mdom 1m ta?r rpok¶xesim. M. Aur. Med. 9, 13. 856 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 2; 3, 9; 5, 26. 857 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 13; 2, 17; 3, 3; 3, 7; 3, 12; 5, 10; 5, 27; 8, 45; 10; 12, 3; 13. 858 Siehe erstens M. Aur. Med. 3, 6: Hier spricht er von der inneren gçttlichen Kraft, die die Vorstellungen prft: eQ d³ lgd³m jqe?ttom va¸metai aqtoO toO 1midqul´mou 1m so· da¸lomor, t²r te Qd¸ar bql±r rpotetawºtor 2aut` ja· t±r vamtas¸ar 1net²fomtor ja· t_m aQshgtij_m pe¸seym… Siehe zweitens M. Aur. Med. 7, 16: Eqdailom¸a 1st· da¸lym !cah¹r C !cahºm. t¸ owm ¨de poie?r, § vamtas¸a. !p´qwou, to»r heo¼r soi, ¢r Gkher7 oq c±q wq-fy sou. 1k¶kuhar d³ jat± t¹ !qwa?om 5hor. oqj aqc¸fola¸ soi7 lºmom %pihi.
4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung
575
der Vorstellungen vollzieht sich formal durch Fragen und kann sich inhaltlich auf alle Philosophiebereiche erstrecken: „Ununterbrochen und bei jeder Vorstellung, wenn es mçglich ist, naturphilosophische, ethische und logische Fragen stellen.“859 Fragen sind ein wichtiges Moment der Auseinandersetzung, denn zum einen werden, wie Epiktet meint, durch die Vorstellungen Fragen gestellt, die das Hegemonikon beantworten muss, um die Vorstellungen zu kontrollieren, und zum anderen vollzieht sich diese Prfung, wie das Zitat deutlich macht, selber indem seitens des Hegemonikons Fragen gestellt werden. Es handelt sich also in der Tat um einen Dialog mit den Vorstellungen, wie die vielen Ansprachen deutlich machen.860
Bemerkenswert ist hier das Vokabular (z. B. !cc]kky, k]cy, !macc]kky), das Marc Aurel hier verwendet. Es verweist erstens auf den propositionalen Gehalt der Vorstellungen und ist zweitens auch ein Indiz dafr, dass die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen als dialektisches Gesprch stattfinden kann. Die Forderung nach permanenter Prfung verbindet sich mit dem Hinweis, dass Vorstellungen Propositionales, Meinungen implizieren. Die richtigen Vorstellungen stehen dann mit den wichtigen Dogmen, die der Lebensfhrung zugrunde liegen, in Verbindung.861 Die These, dass die Vorstellungen Fragen stellen und somit einen Selbstdialog initiieren, findet sich bereits bei Epiktet: Wie wir uns gegen die verfnglichen Fragen der Sophistik ben, so sollten wir uns auch alle gegen die sinnlichen Vorstellungen ben. Denn diese geben uns 859 Digmej_r ja· 1p· p²sgr, eQ oXºm te, vamtas¸ar vusiokoce?m, pahokoce?m, diakejtije¼eshai. M. Aur. Med. 8, 13. 860 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 49. 861 „Deine Grundstze sind lebendig. Denn wie kçnnen sie anders vernichtet werden als dadurch, dass die ihnen entsprechenden Vorstellungen ausgelçscht werden? Es liegt bei dir, sie ununterbrochen wieder anzufachen. Ich kann mir ber das unabnderliche eine Meinung bilden. Wenn ich es also kann, warum lasse ich mich dann aus der Ruhe bringen? Was außerhalb meines Denkens liegt, ist fr mein Denken vçllig belanglos. Begreife das und du siehst die Dinge richtig.“ F0 t± dºclata7 p_r c±q %kkyr d¼matai mejqyh/mai, 1±m lμ aR jat²kkgkoi aqto?r vamtas¸ai sbesh_sim, $r digmej_r !mafypuqe?m 1p· so¸ 1stim. d¼malai peq· to¼tou d de? rpokalb²meim7 eQ d¼malai, t¸ taq²ssolai. t± 5ny t/r 1l/r diamo¸ar oqd³m fkyr pq¹r tμm 1lμm di²moiam. toOto l²he ja· aqh¹r eW. M. Aur. Med. 7, 2. Auf dieses Kapitel wird im Rahmen der Imaginationsbungen des positiven Gebrauchs noch einzugehen sein.
576
4. Logik – Vernunftgebrauch
Fragen auf. Diesem ist ein Sohn gestorben. Was denkst du darber? Antworte862 darauf: Nicht vom Willen abhngend, als kein bel.863
Bei Epiktet werden im Selbstdialog nicht nur die vamtas¸ai in ihren beiden Bedeutungen behandelt. Sowohl pq|kgxir als auch rp|kgxir sollen durch den Selbstdialog gebildet werden,864 so dass dieser bei der Konstitution aller wichtigen Seelenvermçgen beteiligt ist. Wie bei Platon ist auch bei Epiktet Denken zu einem guten Teil ein Selbstgesprch. Das Denken ist dabei nicht nur als Selbstdialog gekennzeichnet, sondern verfolgt mit der bergeordneten praktischen Ausrichtung ein selbstreflexives Anliegen: die Selbsterkenntnis.865 Marc Aurels Auseinandersetzung knpft damit an die zwei Bedeutungen von vamtas_a bei Epiktet an. Denn bei Epiktet meint vamtas_a einen durch die Sinne vermittelten Eindruck und ein Urteil ber die vorgestellten Dinge, an dem die di²moia beteiligt ist.866 Eine vamtas_a in der ersten Bedeutung ist Anlass fr eine Selbstprfung. Ihr kann die Zustimmung erteilt oder verweigert werden, aber sie kann nicht gendert 862 Die eigentliche Bedeutung des Antwortens (!pojq¸meshai) bei Epiktet ist umstritten. Rabbows Interpretation, die es ausschließlich mit Mysterienkulten in Verbindung bringt, unterschlgt die epistemische Bedeutung (vgl. Rabbow, P.: Seelenfhrung, a.a.O., S. 348 f.). Wehner bringt mit Verweis auf Epiktet 3, 8, 1 ff. das !pojq¸meshai in Verbindung mit allgemeinen Prfungssituationen und besonders den sophistischen Fragen (vgl. Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 86, Anm. 25). Neben sophistischen und rhetorischen Herausforderungen (siehe z. B. Epiktet 2, 16, 2) werden aber auch „pyrrhonische oder akademische Trugschlsse, die uns plagen“ (Arr. Epict. diss. 1, 27, 2) genannt. Fragen und Antworten, gerade im Selbstdialog, sind fr Epiktet viel wahrscheinlicher ein Selbstprfungsverfahren, das er expressis verbis auf Sokrates zurckfhrt (siehe Arr. Epict. diss. 2, 1, 32 – 33). 863 Arr. Epict. diss. 3, 8, 1. 864 Fr die bung der pq|kgxir siehe Arr. Epict. diss. 4, 4, 26 und 1, 22, 5 – 8, fr die rp|kgxir Arr. Epict. diss. 3, 16, 15. Beide bungen sind also nicht vom Selbstdialog getrennte bungsfelder, sondern kçnnen durch den Selbstdialog bernommen werden. Eine teilweise Trennung nimmt Wehner an (Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in den Diatriben Epiktets, a.a.O., S. 81). 865 „Mensch, wenn anders du einer bist, so musst du allein spazieren gehen und mit dir selbst reden und dich nicht unter dem Chor verbergen. Lass dich einmal in eine Untersuchung ein, beschaue etwas von allen Seiten, schttle dich durch, damit du erkennst, was an dir ist.“ Arr. Epict. diss. 3, 14, 2 – 3. Fr diese Bedeutung des Selbstdialoges fr die Selbsterkenntnis, Selbstkonstitution, allgemein das Menschsein, siehe auch Arr. Epict. diss. 3, 14, 2 – 3 und 3, 3, 6 – 7. 866 Siehe zum Hintergrund mit vielen Belegstellen Bonhçffer, A.: Epictet und die Stoa, a.a.O., S. 139 f. und Billerbeck, M.: Epiktet. Vom Kynismus, a.a.O., S. 74.
4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung
577
werden. Die vamtas_a als Urteil hngt von uns ab, und zwar ganz von uns. Fr diese zweite Bedeutung von vamtas_a bei Epiktet verwendet Marc Aurel eher rpºkgxir. Im Kontext der Bedeutung der fragenden Prfung von Vorstellungen ist kurz auf Marc Aurels Verwendung von Ausdrcken wie diak´ceshai und diakejtij|r einzugehen.867 Erstens wird diak´ceshai umgangssprachlich als ,Reden halten‘ verwandt.868 Zweitens wird auf das Wortfeld fr die Kennzeichnung des Diskutierens zurckgegriffen. Dabei wird die Verbindung mit Fragen betont,869 dann der Unterschied zum Handeln aufgezeigt870 und schließlich ein klarer Bezug zu Sokrates’ Gesprchen hergestellt.871 Drittens verwendet Marc Aurel den Ausdruck spezifischer, d. h. zur Kennzeichnung eines bestimmten Gegenstandsbereiches. So gibt Marc Aurel an, dass er die Hoffnung, ein Dialektiker und Physiker werden zu kçnnen, aufgeben musste, aber dass man dennoch ein gutes Leben fhren kçnne.872 Dazu passt, dass Marc Aurel „dialektisch“ in dem bereits zitierten Kapitel 8, 13 wohl ebenfalls von physiologischen (und praktischen) Fragen unterscheidet. Neben der damit offenbar implizierten Unterscheidung von Gegenstandsbereichen (Logik und Naturlehre) verwendet er diakejtij|r wegen der Unterscheidung von einem Physiker als Bezeichnung fr einen professionellen Philosophen. Marc Aurel thematisiert die Selbstprfung nicht nur. In einigen Kapiteln hat er einen solchen epistemologisch relevanten Selbstdialog verschriftlicht: Glck ist ein guter gçttlicher Geist oder ein gutes leitendes Prinzip. Was tust du also hier, meine Vorstellung? Geh fort, um Gottes willen, wie du gekommen bist. Denn ich brauche dich nicht. Aber du bist hergekommen nach alter Gewohnheit. Ich bin dir nicht bçse. Nur verschwinde jetzt.873 Lçsch deine Vorstellungen aus, indem du fortwhrend zu dir sagst: ,Es liegt jetzt an mir, dass in dieser Seele keine Schlechtigkeit, keine Begierde und 867 Siehe dazu die genauere Analyse bei Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 71 ff. Giavatto erforscht auch das weitere lexikalische Umfeld z. B. !pqoptys_a. 868 Siehe M. Aur. Med. 1, 7. 869 Siehe M. Aur. Med. 12, 5. Es geht in diesem Kapitel aber nicht um die Diskussionen von oder mit Vorstellungen. 870 Siehe M. Aur. Med. 10, 5. 871 Siehe M. Aur. Med. 6, 67. 872 „Und es ist nicht zu befrchten, dass du deswegen, weil du die Hoffnung aufgeben musstest, ein Dialektiker oder Physiker (diakejtij¹r ja· vusij¹r) zu werden, nicht darauf zu verzichten brauchst, ein innerlich unabhngiger, rcksichtsvoller, solidarisch handelnder und gottesfrchtiger Mensch zu werden.“ M. Aur. Med. 7, 67. 873 M. Aur. Med. 7, 17.
578
4. Logik – Vernunftgebrauch
berhaupt keine Beunruhigung ist. Whrend ich vielmehr alles so sehe, wie es ist, gebrauche ich jedes einzelne so, wie es ihm entspricht.‘ Sei dir dieser naturgegebenen Macht und Mçglichkeit bewusst.874
Natrliche Vorstellungen halten einer fragenden Prfung stand, wie die Fortsetzung des bereits zitierten Anfanges des Kapitels 3, 4 zeigt: Man muss also sowohl das Planlose als auch das Zweckslose in der Abfolge seiner Vorstellungen vermeiden, vor allem aber auch das, was einen nichts angeht und was von einem blen Charakter zeugt. Und man muss sich daran gewçhnen, nur solche Vorstellungen zu haben, bei denen man, wenn man plçtzlich gefragt wrde: ,Was denkst du?‘ ganz offen und ohne lange nachzudenken antworten kçnnte: ,Dies und das‘, so dass sofort von selbst klar ist (¢r 1n aqt_m eqh»r d/ka eWmai), dass alles, (was man denkt), einfach und gut und Ausdruck eines um das Wohl der Gemeinschaft bemhten Wesens ist, das lusterweckende oder berhaupt auf Genuss gerichtete Vorstellungen oder irgendwelchen Ehrgeiz, Neid und Argwohn oder andere Empfindungen nicht zulsst, fr die man sich schmen msste, wenn man erzhlte, dass man sie htte.875
In diesem Kapitel beschreibt Marc Aurel das Ergebnis des prfenden Prozesses, einen Menschen, der nur natrliche und daher auch gemeinschaftsfçrderliche Vorstellungen hat. Die Fragen fungieren hier nicht als Test fr die Filterung dieser Vorstellungen, sondern erfllen offenbar einen anderen Zweck. Wer sofort auf die Frage, was er gerade denkt, was er gerade fr Vorstellungen hat, klar antworten kann, ist sich seiner eigenen Vorstellungen dauernd bewusst. Die von Marc Aurel geforderte Permanenz der Vorstellungskontrolle bezieht sich also nicht nur auf die inhaltliche Auslese bestimmter Vorstellungen, sondern sichert auch ein kontinuierliches Bewusstsein der eigenen Gedanken. Unbewusstes gibt es fr einen solchen Menschen offenbar nicht. Ein weiteres Moment des Umganges mit den Vorstellungen bei Marc Aurel ist keineswegs nur auf Elimination falscher oder Kontrolle bestehender Vorstellungen beschrnkt. In einigen Kapiteln fordert er sich zu einem kreativen Umgang mit Vorstellungen auf. Grundstzlich ist dies 874 M. Aur. Med. 8, 29. 875 wqμ l³m owm ja· t¹ eQj0 ja· l²tgm 1m t` eRql` t_m vamtasi_m peqi¸stashai, pok» d³ l²kista t¹ peq¸eqcom ja· jajºgher, ja· 1hist´om 2aut¹m lºma vamt²feshai, peq· ¨m eU tir %vmy 1pam´qoito7 t¸ mOm diamo0. , let± paqqgs¸ar paqawq/la #m !pojq¸maio fti t¹ ja· tº7 ¢r 1n aqt_m eqh»r d/ka eWmai fti p²mta "pk÷ ja· eqlem/ ja· f]ou joimymijoO ja· !lekoOmtor Bdomij_m C jah²pan !pokaustij_m vamtasl²tym C vikomeij¸ar tim¹r C basjam¸ar ja· rpox¸ar C %kkou timºr 1v’ è #m 1quhqi²seiar 1ngco¼lemor, fti 1m m` aqt¹ eWwer. M. Aur. Med. 3, 4.
4.2 Das Hegemonikon und sein Umgang mit der Vorstellung
579
mçglich, weil das Hegemonikon als fhrender Teil der Seele „bewirkt, dass ihm alles, was geschieht, so erscheint, wie er es will.“876 Marc Aurel fordert sich auf, Vorstellungen anzufachen (!mafypuqe?m).877 Das Hegemonikon soll Vorstellungen entwickeln, die offenbar gegen andere Vorstellungen ins Feld gebracht werden sollen, um so bestimmte Emotionen zu verhindern bzw. andere hervorzurufen. Besonders deutlich wird dies in den Kapiteln, in denen Marc Aurel sich mit einem Imperativ auffordert, etwas vorzustellen (vamt²fou):878 Wenn du Satyron siehst, stell dir Socraticus, Eutyches oder Hymen vor, und wenn du Euphrates siehst, stell dir Eutychion oder Silvanus vor, wenn du Alkiphron siehst, stell dir Tropaiophoros vor, wenn du Xenophon sieht, stell dir Kriton oder Severus vor und wenn du auf dich selbst blickst, stell dir irgendeinen der Kaiser vor und bei jedem entsprechendes. Dann soll dir zugleich in den Sinn kommen: Wo sind denn jene? Nirgends oder nirgendwo. Denn so wirst du das Menschliche andauernd als Rauch und als das Nichts betrachten, besonders, wenn du außerdem noch daran denkst, dass das, was sich einmal verwandelt hat, nicht mehr sein wird in der unendlichen Zeit. Warum strengst du dich also an? Warum gengt es dir nicht, diese kurze Zeitspanne mit Anstand zu verbringen? Welchem Stoff und welchem Vorhaben entziehst du dich? Was ist denn dies alles anderes als ein bungsfeld des Geistes (culm²slata kºcou), der die Dinge des Lebens genau und unter naturwissenschaftlichen Aspekten betrachtet hat? Bleib also, bis du dir auch das einverleibt hast, wie der starke Magen sich alles einverleibt oder wie das Feuer aus allem, was du hineinwirfst, Flamme und Licht werden lsst.879
Die Erzeugung von Vorstellungen zu praktischen Zwecken gehçrt, wie Marc Aurel klar macht, zu den bungen des Geistes (culm²slata kºcou). Vorstellungen kçnnen helfen, bestimmte Werturteile ber Gutheit oder Berhmtheit aufzuheben, indem eine Entwertung vorgenommen wird oder der vermeintlich große Wert einer Sache zumindest relativiert wird. Anhand der vom Hegemonikon generierten Vorstellungen lassen sich zwei Arten von Imaginationsbungen unterscheiden.
876 M. Aur. Med. 6, 8. 877 Siehe M. Aur. Med. 7, 2. Auch hier wird die Aufnahmefhigkeit ins Spiel gebracht: „Erinnere dich allerdings auch daran, dass du dazu fhig bist, alles zu ertragen, wo deine Aufnahmefhigkeit in der Lage ist, es ertrglich und annehmbar zu machen durch die Vorstellung, dass es dir ntzt oder dass es deine Pflicht ist, es zu tun.“ M. Aur. Med. 10, 3. 878 Fr die Verwendung von vamt²fou siehe auch M. Aur. Med. 10, 28; 10, 31. 879 M. Aur. Med. 10, 31.
580
4. Logik – Vernunftgebrauch
Im Falle der ersten Art stehen die vom Hegemonikon generierten Vorstellungen in enger Verbindung mit natrlichen Vorgngen und daher physiologischen berlegungen.880 Bei der anderen, zweiten Art spielt der Umstand, dass die Vorstellungen zutreffend sind, keine Rolle. In einigen Kapiteln verwendet Marc Aurel Imaginationen, deren Inhalte ganz bewusst nicht ein korrektes oder gerade bestehendes Bild der Welt zeichnen. Die Vorstellungen, die im Rahmen dieser Imaginationsbungen verwandt werden, sind also nicht notwendig ursprngliche, natrliche oder durch die Sinne vermittelte Vorstellungen. Besonders deutlich wird dies in einem Kapitel, in dem Marc Aurel – wie çfter – gegen die Ruhmsucht argumentiert und dazu die Vorstellung der Unsterblichkeit bemht: Stell dir aber einmal vor, dass diejenigen, die sich erinnern, und die Erinnerung unsterblich wren. Wie kçnnte dich das berhren? Und ich sage nicht, dass es dem Toten nichts bedeuten wrde. Aber was hat der Lebende vom Ruhm? Abgesehen von bestimmten materiellen Vorteilen? Lass jetzt zur unrechten Zeit ab von dem aufgeblasenen Geschenk (des Nachruhms), das doch nur auf dem Gerede irgendeines anderen beruht.881
Nach dem Hegemonikon als zentraler Instanz des Umganges mit den Vorstellungen ist nun auf methodische Aspekte einzugehen. 4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit Im diesem Kapitel ist etwas, das fr Marc Aurel typisch, vielleicht sogar spezifisch ist, zu schildern: Marc Aurel beschreibt eine analytische Methode, die helfen soll, naturgemße Vorstellungen als solche auszumachen und zu naturgemßen Definitionen zu kommen. Dieses Verfahren nimmt fr Marc Aurel einen großen Stellenwert ein, es gehçrt zum Problemkreis der stoischen Erçrterung ber das Kriterium der Wahrheit, den Marc Aurels aber nicht eingehend behandelt. Die Untersuchung gliedert sich wie folgt: Zuerst ist kurz zu schildern, was Marc Aurel ber Definitionen und Wahrheit sagt. Zweitens soll auf seine Aussagen ber den technischen Charakter eingegangen werden, und 880 „Die Bahnen und Sterne beobachten, als ob man sich mit ihnen bewegte, und die Verwandlung der Elemente ineinander ununterbrochen bedenken. Denn die Vorstellungen ber diese Vorgnge reinigen das irdische Leben von seinem Schmutz.“ M. Aur. Med. 7, 47. 881 M. Aur. Med. 4, 19.
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
581
schließlich ist dann diese Kunst selbst, seine analytische Methode zu erlutern. ber Definitionen ußert sich Marc Aurel nur einmal, betont aber deren Bedeutung: Man muss sich immer eine Definition oder einen Begriff (rpocqav^) von dem Gegenstand bilden, der einem vor Augen tritt, so dass man ihn in seiner Beschaffenheit ganz unverhllt und in allen Einzelheiten sieht und den ihm gehçrenden Namen und die Namen der Teile, aus denen er zusammengesetzt ist und in die er wieder aufgelçst werden wird, sich selbst nennen kann.882
Zwar spricht Marc Aurel noch in zwei anderen Kapiteln von fqor,883 doch geht es ihm dort weniger um Definitionen,884 vielmehr verwendet er den Ausdruck in der nicht- technischen Bedeutung. Viel hufiger erwhnt Marc Aurel !k^heia. In ber 60 Kapiteln wird der Ausdruck Wahrheit herangezogen, wobei verschiedene Verwendungsweisen ausgemacht werden kçnnen. Sie betreffen885 (i) ethische Aspekte, (ii) ontologische Aspekte, (iii) logische und epistemologische Aspekte. Ad (i) !k^heia als Tugend der Wahrhaftigkeit. Bei dieser praktisch-moralischen Bedeutung von !k^heia handelt es sich um den schwierigsten, das heißt unsichersten Aspekt, denn zunchst weicht diese Bedeutung vom Standardverstndnis von !k^heia ab. Brunt hat bereits festgestellt: „The 882 t¹ fqom C rpocqavμm !e· poie?shai toO rpop¸ptomtor vamtastoO, ¦ste aqt¹ bpo?ºm 1sti jat’ oqs¸am, culmºm, fkom di’ fkym di,qgl´myr bk´peim ja· t¹ Udiom emola aqtoO ja· t± amºlata 1je¸mym, 1n ¨m sumejq¸hg ja· eQr $ !makuh¶setai, k´ceim paq’ 2aut`. M. Aur. Med. 3, 11. Zum Hintergrund siehe Diogenes Laertius: „Definition (fqor) ist, wie Antipater im ersten Buche von den Definitionen sagt, eine Rede, die eine pnktliche Analyse (der Merkmale) gibt, oder, wie Chrysipp in seiner Schrift ber die Definitionen sagt, auch eine Wiedergabe (des Eigentmlichen). Abriss (rpocqav^) ist eine Rede, die eine summarische bersicht ber die Dinge gibt, oder eine Definition, die auf einfachere Weise die Bedeutung der Definition zum Ausdruck bringt.“ Diog. Laert. 7, 60. 883 Siehe M. Aur. Med. 5, 33 und 7, 64. 884 So das Ergebnis der Untersuchung von Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 6 f. 885 Eine erste ausfhrliche Untersuchung der relevanten Passagen hat Brunt vorgelegt (Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 8 f.). Die hier vorgelegte Dreiteilung orientiert sich an Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 89 – 109.
582
4. Logik – Vernunftgebrauch
words !k^heia, !kgh^r are used by Marcus to characterize both things as they really are and the mind that understands them aright.“886 Wahrheit als Wahrhaftigkeit wird von Platon genannt,887 von Aristoteles als namenlose Tugend bezeichnet,888 darber hinaus handelt es sich aber um keine besonders weit verbreitete Verwendungsform. Marc Aurel erwhnt !k^heia sehr hufig im Rahmen von Tugendlisten.889 Auch wenn – wiederum von Brunt – vermutet worden ist, Marc Aurel kçnne auch dabei die Standard-Bedeutung meinen, gibt es viele Kapitel, die Wahrhaftigkeit, also die Tugend, wahr zu sprechen, behandeln, z. B.: Auch wer lgt, frevelt gegen dieselbe Gottheit. Denn die Natur des Weltganzen ist die Natur des Seienden, das Seiende aber ist mit allem Vorhandenen eng verwandt. Darber hinaus wird sie aber auch Wahrheit genannt und ist die erste Ursache alles Wahren (ja· )k¶heia aqt` amol²fetai ja· t_m !kgh_m "p²mtym pq¾tg aQt¸a 1stim). Wer also mit Absicht lgt, frevelt, indem er durch Betrug Unrecht tut.890
Wahres in der gngigen Bedeutung wird hier eng mit Sagen des Wahren als ethischer Tugend in Verbindung gebracht. Entsprechende Mahnungen, Wahres zu sagen, finden sich sehr hufig in den Selbstbetrachtungen. 891 In vielen Fllen ist die Mahnung praktisch-ethisch gefrbt und nicht rein epistemisch begrndet. Das wird besonders dort deutlich, wo die Mahnung Wahres zu sagen mit anderen Forderungen verknpft wird oder durch entsprechende Attribute als ethische Forderung gekennzeichnet ist. Oder es wird eine Aufforderung fr eine Handlung durch ein Adverb bestimmt: „Pass dich den Situationen an, denen du durch das Los zugewiesen wurdest, und liebe die Menschen, die dir vom Schicksal zugeteilt sind, aber aufrichtig (!kghim_r).“892 In einigen Fllen wird Wahrhaftigkeit nicht nur zum Charakteristikum des Sprechens, sondern auch des Handelns: „Die Seele des Menschen 886 Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, a.a.O., S. 8. 887 Siehe Pl. Hp. mi. 365b, 369b, 370e (siehe dazu Szaif, J.: Die Aletheia in Platons Tugendlehre, in: van Ackeren, M. (Hg.): Platon Verstehen, Darmstadt 2004, S. 183 – 209). 888 Arist. Eth. Nic. 1127a13 ff. und 1108a20. 889 Siehe M. Aur. Med. 1, 14; 3, 6; 3, 11; 5, 33; 6, 47; 10; 10, 8; 11, 1; 12, 1; 13. 890 M. Aur. Med. 9, 1. 891 Siehe M. Aur. Med. 2, 16; 2, 17; 3, 4; 3, 12; 3, 16; 4, 33; 4, 49; 6, 47; 9, 2; 10, 32; 11, 19; 12, 1; 12, 3; 12, 17; 12, 29. 892 OXr sucjejk¶qysai pq²clasi, to¼toir sum²qlofe seautºm, ja· oXr sume¸kgwar !mhq¾poir, to¼tour v¸kei, !kk’ !kghim_r. M. Aur. Med. 6, 39.
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
583
schdigt und misshandelt sich selbst am meisten … wenn sie sich verstellt und unter Vortuschung falscher Tatsachen etwas tut oder sagt.“893 Ad (ii) Wahres und Wirkliches. Marc Aurel spricht von der Wahrheit auch zur Bezeichnung von Realitt. Deutlich wird dies im gerade zitierten Kapitel 9, 1, denn dort gibt er an: „die Natur des Weltganzen ist die Natur des Seienden,“ und wird „auch Wahrheit genannt und ist die erste Ursache alles Wahren“, denn das Seiende „ist mit allem Vorhandenen eng verwandt“, und Wissen von der Idee des Guten fhrt so zur Fhigkeit, das Falsche vom Wahren zu unterscheiden.894 Im Kapitel 9, 1, das verschiedene Bedeutungen von !k^heia, !kgh^r enthlt, wird so auch deutlich, wie wenig diese Bedeutungen von einander zu trennen sind. Wahrheit ist etwas, das gesucht, gesehen, also erkannt werden kann.895 Der Gedanke der Wahrheit als Realitt, die erkannt werden kann, steht in enger Verbindung mit dem Einheitsgedanken.896 Eine andere Verwendung liegt vor, wenn Marc Aurel ausdrcken mçchte, dass etwas wahrhaft, also wirklich ist. So spricht er von „wahren
893 M. Aur. Med. 2, 16. 894 M. Aur. Med. 9, 1: j !dij_m !sebe?7 t/r c±q t_m fkym v¼seyr jatesjeuaju¸ar t± kocij± f`a 6mejem !kk¶kym, ¦ste ¡veke?m l³m %kkgka jat’ !n¸am bk²pteim d³ lgdal_r, b t¹ bo¼kgla ta¼tgr paqaba¸mym !sebe? dgkomºti eQr tμm pqesbut²tgm t_m he_m. B c±q t_m fkym v¼sir emtym 1st· v¼sir7 t± d´ ce emta pq¹r t± rp²qwomta p²mta oQje¸yr 5wei. 5ti d³ ja· b xeudºlemor [d³] !sebe? peq· tμm aqtμm heºm7 ja· )k¶heia avtg amol²fetai ja· t_m !kgh_m "p²mtym pq¾tg aQt¸a 1stim. b l³m owm 2j½m xeudºlemor !sebe?, jahºsom 1napat_m !dije?7 b d³ %jym, jahºsom diavyme? t0 t_m fkym v¼sei ja· jahºsom !josle? lawºlemor t0 toO jºslou v¼sei7 l²wetai c±q b 1p· t!mamt¸a to?r !kgh´si veqºlemor paq’ 2autºm7 !voql±r c±q pqoeik¶vei paq± t/r v¼seyr, ¨m !lek¶sar oqw oXºr t´ 1sti mOm diajq¸meim t± xeud/ !p¹ t_m !kgh_m. 895 fgt_ c±q tμm !k¶heiam. M. Aur. Med. 6, 21.
896 Siehe nochmals: „Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist etwas Heiliges, und das eine ist dem anderen kaum fremd. Denn es ist zusammengefgt und bildet gemeinsam denselben Kosmos. Es gibt nmlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit unter der Voraussetzung, dass es auch nur eine Vollkommenheit der Wesen gibt, die alle diese Herkunft haben und an derselben Vernunft teilhaben.“ M. Aur. Med. 7, 9.
584
4. Logik – Vernunftgebrauch
Philosophen“,897 den „wirklichen Mulern wilder Tiere“898 oder dem, was „wirklich bçse“ ist.899 Ad (iii) Wahre Stze und Gedanken. Was jemand sagt, kann wahr (oder falsch) sein. Und wahr reden heißt, gemß der Natur reden (jat± v¼sim kake?m).900 Zur wahren Rede gehçrt fr Marc Aurel auch eine Reflexion ber die Bedeutung von Wçrtern.901 Bedeutungen kann man nicht sehen wie die mit den Augen sichtbaren Objekte, sondern dazu braucht es Vernunft.902 Die wahre Rede setzt das Erkennen, auf das Marc Aurel hier mit dem „anderen Sehvermçgen“ anspielt, voraus. Man muss richtig, d. h. wahr sehen oder wahr einschtzen, wie die Dinge wirklich liegen.903 Das Erkennen der Dinge, wie sie wirklich sind, ist eine hufige Formulierung,904 gemeint ist eine Erforschung der Wahrheit (B Rstoq¸a t/r !kghe¸ar).905 Dieses Erkennen erfordert Marc Aurel zufolge eine Methode, die analytische Methode genannt werden kann. Welches Instrumentarium steht nach Marc Aurel fr die „kritische Analyse der berzeugend erscheinenden Vorstellungen (di²jqisir t_m piham_m vamtasi_m)“906 und diese Erforschung der Wahrheit bereit? Bei dieser Methode handelt es sich wohl um den interessantesten Aspekt der „Logik“ Marc Aurels. Er beschreibt sie nicht nur ausfhrlich, 897 Von Pius sagt Marc Aurel: pq¹r to¼toir d³ ja· t¹ tilgtij¹m t_m !kgh_r vikosovo¼mtym, to?r d³ %kkoir oqj 1nomeidistij¹m oqd³ lμm eqpaq²cycom rp’ aqt_m7 5ti d³ t¹ eqºlikom ja· euwaqi oq jatajºqyr. M. Aur. Med. 1, 16. 898 hgq¸ym !kgh/ w²slata. M. Aur. Med. 3, 2. 899 jat’ !k¶heiam jaj|r. M. Aur. Med. 2, 11. 900 Siehe M. Aur. Med. 8, 30 und 4, 51. 901 „Der Mensch trgt seine Frucht ebenso wie Gott und der Kosmos. Alles trgt seine Frucht zu seiner Zeit. Wenn aber der gewçhnliche Sprachgebrauch das Wort ,Frucht‘ im eigentlichen Sinne nur beim Weinstock und hnlichem zulsst, so bedeutet dies nichts. Die Vernunft hat sowohl eine allgemeine als auch eine besondere Frucht, und es entsteht aus ihr noch anderes von der Art, wie die Vernunft selbst ist.“ M. Aur. Med. 9, 10. 902 „Sie wissen nicht, was Stehlen, Sen, Kaufen, Ruhen und Sehen, was zu tun ist, alles bedeuten kann, was brigens nicht mit den Augen, sondern mit einem anderen Sehvermçgen geschieht.“ M. Aur. Med. 3, 15. 903 Siehe M. Aur. Med. 8, 1; 7, 68. 904 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 11: „Fass die Dinge nicht so auf, wie derjenige sie beurteilt, der dich beschimpft, oder wie du sie seiner Meinung nach beurteilen sollst, sondern sieh sie nur so, wie sie sind (bpo?a jat’ !k¶hei²m 1stim).“ 905 M. Aur. Med. 4, 21. 906 M. Aur. Med. 8, 26.
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
585
sondern gibt in den Selbstbetrachtungen auch einen Einblick in ihre Anwendung. Diese Methode ist Teil der Ehrbezeugungen, die Marc Aurel mehrfach fordert: er spricht von der „Verehrung der Vernunft“907, dem Ehren der Fhigkeit, die Dinge ins Bewusstsein aufzunehmen908 oder dem wirklichen Ehren und Dienen des Geistes in uns.909 hnlich wie bei den Kapiteln, in denen Marc Aurel das Hegemonikon als Daimon auffasst, wird das Ehren mit Religiositt in Verbindung gebracht, da in jedem Kapitel, in dem es erwhnt wird, auch die Gçtter auftauchen. Angelo Giavatto spricht von einem „culto della ragione“.910 Bei diesen „Ehren“ handelt es sich aber nicht einfach nur um etwas Religiçses, sondern zugleich um etwas Technisches, eine Methode. Vor dem stoischen Hintergrund berrascht eine solche Einordnung nicht. Der Umgang mit den Vorstellungen ist bei Stoikern schon immer eine Kunst (t]wmg). Der t]wmg-Gedanke dient den Stoikern auch zur Charakterisierung der Entwicklung des Feuers im Kosmos.911 Zenon definierte die Natur als kunst(techne)-gemßes Feuer, das methodisch verfhrt und zeugt und schafft.912 Auch die Kontrolle der Vorstellungen muss dem Kunst-Kriterium gengen.913 Und Kunst selber wird durch das Erfassen bestimmt: Die Stoiker wiederum sagen, seelische Gter seien bestimmte Techniken, nmlich die Tugenden. Die Technik aber sei ein System zusammen eingebter Erkenntnisse, und die Erkenntnisse entstnden im Zentralorgan.914
Auch Marc Aurel spricht von t]wmg grundstzlich positiv: „Keine Ttigkeit soll planlos oder anders als nach den Regeln der Kunst ausgebt werden.“915 907 „In zehn Tagen wirst du denjenigen ein Gott zu sein scheinen, denen du jetzt als ein wildes Tier oder ein Affe erscheinst, wenn du dich wieder auf die Leitstze der Philosophie und auf die Verehrung der Vernunft besinnst. (1±m !maj²lx,r 1p· t± dºclata ja· t¹m sebasl¹m toO kºcou).“ M. Aur. Med. 4, 16. 908 Tμm rpokgptijμm d¼malim s´be. M. Aur. Med. 3, 9. 909 Marc Aurel ermahnt sich, fti !qje? pq¹r lºm\ t` 5mdom 2autoO da¸lomi eWmai ja· toOtom cmgs¸yr heqape¼eim. M. Aur. Med. 2, 13. 910 Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso, a.a.O., S. 83 f. 911 Siehe Diog. Laert. 7, 148 und 156. Zum Hintergrund siehe etwa Watson, G.: The Stoic Theory of Knowledge, a.a.O., S. 1 – 4. 912 Siehe dazu Cic. De nat. deor. 2, 57 und hnlich 7, 156 und 7, 148. 913 Siehe Sext. Emp. Math. 7, 250 ff. 914 Sext. Emp. Pyr. 3, 188 (siehe auch Diog. Laert. 7, 54). 915 Lgd³m 1m´qcgla eQj0 lgd³ %kkyr C jat± he¾qgla sulpkgqytij¹m t/r t´wmgr 1meqce¸shy. M. Aur. Med. 4, 2.
586
4. Logik – Vernunftgebrauch
Er verweist auf Epiktets Forderung nach einer Kunst der Zustimmung916 und spricht von einem geschulten Geist (kocisl¹r succeculmasl´mor), der vor allem unterscheiden kann und dabei exakt ist.917 Einen guten Einblick in die angesprochene Methode gibt die Fortfhrung des Kapitels 3, 11, dessen Anfang bereits zitiert wurde: Nichts trgt nmlich so sehr dazu bei, innere berlegenheit zu erzeugen, wie die Fhigkeit, methodisch konsequent und wirklichkeitsgerecht jeden im Leben vorkommenden Sachverhalt zu durchleuchten und zu klren, und die Gewohnheit, die Dinge stets so zu betrachten, dass man gewahr wird, welcher Art von Welt die Sache welchen Nutzen bringt und welchen Wert sie einerseits fr das Ganze und andererseits fr den Menschen als Brger des obersten Gemeinwesens hat, …, ferner, (dass man sich bewusst ist), was das ist, das bei mir jetzt die Vorstellung erzeugt, und woraus es zusammengesetzt ist und wie lange es seiner Natur nach erhalten bleiben kann und welche Qualifikation dafr erforderlich ist … Daher muss man sich bei jedem einzelnen Vorgang sagen: Dies ist von Gott gekommen, das geschieht durch schicksalshafte Verkettung, schicksalsbedingte Zusammenfgung, durch ein entsprechendes Zusammentreffen und durch Zufall, jenes aber wurde von meinem Mitbrger, von meinem Verwandten, von meinem Partner verursacht, der allerdings nicht weiß, was seiner Natur gemß ist.918
In diesem Passus wird eine ganze Reihe von Aspekten angesprochen, die fr Marc Aurels Methode charakteristisch sind: (i) Praktische Aspekte. Denn es geht um innere berlegenheit (lecakovqos}mg), einen bestimmten Umgang mit den im Leben vorkommende Sachverhalten und ein Verstndnis fr eventuelles Fehlverhalten der Mitmenschen. (ii) Die Forderung nach universaler Anwendung der Methode wird bereits angedeutet, weil jeder im Leben vorkommende Sachverhalt durchleuchtet werden soll. (iii) Bei dieser Prfung ist eine Orientierung an der Wahrheit (!k^heia) vorrangig, aber als Kriterien werden der Kosmos (j|slor) und das Ganze (fkom) genannt. (iv) Geprft wird eine Vorstellung (vamtas_a). (v) Geprft wird auch das, was sie erzeugt (t¹ tμm vamtas¸am loi mOm poioOm). (vi) Das methodisch prfenden Vorgehen wird betont (1k´cweim bd`). 916 „Er sagt: ,Fr die Zustimmung muss man eine Kunst finden‘ (T´wmgm, 5vg, de? peq· t¹ sucjatat¸heshai erqe?m).“ M. Aur. Med. 11, 37. 917 Siehe die Verben diaqhq]y, !jqib|y in M. Aur. Med. 3, 1. 918 M. Aur. Med. 3, 11.
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
587
(vii) Angedeutet ist ebenfalls, dass man sich die entscheidenden Stze selber sagen kann, also ber sie bestimmen kann. Die Methodik aktualisiert die Freiheitssphre des leitenden Seelenteils. (viii) Die Unterscheidung bzw. Analyse von verschiedenen Aspekten der untersuchten Sache wird erwhnt. Dabei wird einerseits die Zusammensetzung des Dinges, andererseits die Kausalitt bercksichtigt. Besonders der letztgenannte Punkt, die eigentliche Analyse, bedarf weiterer Erluterung, doch zunchst ist kurz auf die zuvor genannten Punkte einzugehen. Praktische Aspekte (i) spielen auch bei diesem Thema eine große Rolle. Es lassen sich verschiedene Momente unterscheiden. Natrlich soll die Methode (a) helfen, gemß der Natur glcklich zu leben. (b) Die Methode ist im engeren Sinne ethisch relevant, weil sie dabei untersttzen soll, falsche Wertungen zu korrigieren bzw. aufzuheben. Besonders hufig wird die analytische Methode fr eine konsolatorische Behandlung des Todes angewandt. (c) Schließlich ist die Anwendung der Methode selber eine Praxis, die bestndig ein- und ausgebt werden muss.919 Das betrifft den nchsten Punkt, die universelle Bedeutung der Methode (ii). Auch hier sind verschiedene Hinsichten zu unterscheiden: Die Methode soll (a) in jedem Moment des Lebens ausgebt werden.920 Auch dem Gegenstandsbereich (b) nach ist die Methode universell, denn sie soll auf alles angewandt werden, wobei Marc Aurel ausdrcklich nicht nur Dinge, sondern auch Handlungen mit einbezieht.921 Schließlich (c) ist das Leben in seiner Gesamtheit Gegenstand der Analyse: „Wende dasselbe Verfahren auch auf das Leben als Ganzes an.“922 Wie gleich noch anhand zahlreicher Beispiele fr die verschiedenen Varianten der Analyse zu zeigen ist, verknpft das Verfahren zwei Anliegen, die im stoischen Denken untrennbar miteinander verbunden sind: Wer erkennt, wie die Dinge wirklich sind, erkennt auch ihren wahren Wert bzw. ihre Wertlosigkeit. In den Selbstbetrachtungen fllt auf, wie viele Formulierungen indizieren, dass Marc Aurel davon ausgeht, dass die Vorstellung von dem, was etwas wirklich ist bzw. was es wirklich wert ist, von falschen 919 „Eigne dir eine wissenschaftliche Methode an, um zu durchschauen, wie sich alles ineinander verwandelt, richte deine Aufmerksamkeit ununterbrochen darauf und be dich zugleich auf diesem Gebiet.“ M. Aur. Med. 10, 11. 920 Siehe M. Aur. Med. 6, 13. 921 Siehe M. Aur. Med. 11, 2 und 7, 4. 922 M. Aur. Med. 11, 2 (siehe ebenso 8, 36).
588
4. Logik – Vernunftgebrauch
Vorstellungen berlagert wird. So spricht er sehr hufig davon, dass die Dinge nackt (culm|r923) betrachtet werden sollen, aber dafr „entblçßt“ werden mssen: wie man diese Vorstellungen gewinnt, die den Kern der Sache treffen und ihren eigentlichen Gehalt bewusst machen, so dass man sehen kann, um was es sich in Wirklichkeit handelt … wo einem die Dinge allzu seriçs vorkommen, muss man sie entblçßen (!poculmoOm), ihre Wertlosigkeit erkennen und ihr hohes Ansehen zerstçren …924
Mit dem Sehen der nackten Dinge ist auf das Verstndnis der Wahrheit als dem Unverhllten angespielt. Zunchst (vii) wird auch die Freiheitssphre des Hegemonikons betont, denn der fhrende Seelenteil ist Agent und Gegenstand der Methode: Das schçnste Leben fhren: diese Mçglichkeit (d}malir) liegt in der Seele, wenn einem die gleichgltigen Dinge gleichgltig sind. Sie werden einem gleichgltig sein, wenn man jedes gleichgltige Ding in seine Einzelheiten zerlegt und als Ganzes betrachtet und daran denkt, dass uns keines von ihnen eine Auffassung ber sich aufzwingt und auch nicht auf uns zukommt, sondern dass die Dinge ohne Bewegung bleiben und wir selbst diejenigen sind, die die Urteile ber sie erzeugen und gleichsam in uns selbst aufschreiben, obwohl es einerseits mçglich ist, nichts zu schreiben, andererseits aber auch mçglich ist, alles sofort wieder fortzuwischen, wenn es aus Versehen hineingekommen ist.925
Grundlage dieser berlegungen ist ein fr Epiktet wesentlicher Unterschied, nmlich einerseits von Dingen, die nicht in unser Macht stehen und weder gut noch schlecht sind und andererseits der Mçglichkeit des Menschen, sich vçllig frei Urteile bilden zu kçnnen darber vollstndig Macht zu haben..926 Der von Marc Aurel erwhnte Rckzug (!maw~qgsir)927 ist demnach etwas, dass durch die Anwendung der analytischen Methode erreicht wird. Das aber heißt auch, dass der Rckzug nicht einfach durch eine Abwendung von Dingen erreicht wird, sondern gerade durch die analysierende 923 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 11; 9, 34; 11, 27; 12, 2. Die isolierende Betrachtungsweise macht etwas zur Kleinigkeit: „Dieses aber verliert an Bedeutung, wenn du es isoliert betrachtest und deine Seele zurechtweist, falls sie nicht in der Lage ist, dieser Kleinigkeit standzuhalten. (toOto d³ jataslijq¼metai, 1±m aqt¹ lºmom peqioq¸s,r ja· !pek´cw,r tμm di²moiam, eQ pq¹r toOto xik¹m !mt´weim lμ d¼matai.)“ M. Aur. Med. 8, 36. 924 M. Aur. Med. 6, 13. 925 M. Aur. Med. 11, 16. 926 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 1; Arr. Epict. ench. 1 und 5. 927 Siehe M. Aur. Med. 4, 3; 11, 28.
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
589
Beschftigung mit ihnen. Denn erst so kann erkannt werden, von welchen Dingen man sich zurckziehen muss und warum. Nur was wertende Urteile angeht, wird Zurckhaltung gefordert. So erklren sich auch die unzhligen Kapitel, in denen Marc Aurel sich zu einer epistemischen Beschftigung mit den Dingen auffordert. Nun aber zum Kern der Methode, der Analyse (viii). Folgendes Kapitel gewhrt einen ersten Eindruck ber wichtige Aspekte: Angenehmen Gesang, Tanz und eine Sportvorfhrung wirst du verachten, wenn du die Melodie in ihre einzelnen Tçne zerlegst und dich bei jedem einzelnen fragst, ob du von ihm berwltigt bist. Du wirst dich nmlich schmen. Bei einer Tanzvorfhrung (wird es dir genauso gehen), wenn du entsprechend verfhrst und das Ganze in seine einzelnen Bewegungsablufe und Stellungen zerlegst, und ebenso auch bei der Sportveranstaltung. Denk also grundstzlich – außer bei der Tugend und ihren Folgen – daran, zu den Einzelheiten vorzudringen und durch ihre Zerlegung dazu zu kommen, die Dinge gering zu schtzen. Wende das Verfahren auch auf das Leben als ganzes an.928
In vielen Kapiteln bezieht sich die von Marc Aurel geforderte Analyse auf temporale Aspekte und auf die Zusammensetzung des Analysierten.929 Temporale Aspekte. P. Hadot hat zur Recht darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Verfahren der Zergliederung auch einen temporalen Aspekt haben kann, denn hier wird eine zeitliche Abfolge der Tçne oder Bewegungen in seine Einzelelemente zerlegt.930 Hadot bringt diese Zergliederung einer temporalen Sequenz mit Marc Aurels Absicht der Entwertung in Verbindung, indem er auf die geforderte Konzentration auf die Gegenwart hinweist: „Teile die dir verfgbare Zeit genau ein.“931 Die geforderte Anwendung auf das ganze Leben bringt Entlastung, weil nur die Gegenwart in unserem Verfgungsbereich liegt, alles außerhalb kann weder ein Gut noch ein bel sein. Durch Zergliederung und Segmentierung werden auch die vermeintlichen Probleme verkleinert.932 928 M. Aur. Med. 11, 2. 929 In vielen anderen Kapiteln erwhnt Marc Aurel beide Aspekte zusammen (siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 4; 3, 11). 930 Siehe Hadot, P.: Philosophie als Lebensform, a.a.O., S. 74. 931 peq¸cqaxom t¹ 1mest½r toO wqºmou. M. Aur. Med. 7, 29. 932 „Die Vorstellung von deinem gesamten Leben darf dich nicht beunruhigen. Stell dir nicht gleichzeitig vor, welche Last auf dir liegt und wie viel hçchstwahrscheinlich noch hinzukommen wird, sondern frag dich in jedem Einzelfall: ,Was ist an der Sache unertrglich und nicht auszuhalten?‘ Du wirst Dich nmlich schmen, etwas zuzugeben. Dann erinnere dich, dass dich weder das Zuknftige noch
590
4. Logik – Vernunftgebrauch
Hintergrund dieser berlegung ist nicht nur die Annahme, dass das Vergangene und Zuknftige als etwas, das außerhalb unseres Verfgungsbereiches liegt, nur etwas Indifferentes sein kann. Die Konzentration auf die Gegenwart ist auch deshalb hinreichend, weil sich in ihr gewissermaßen die ganze Welt manifestiert.933 Marc Aurel fordert sich bei jedem Ding auf: „bestimme auch die Zeit, die es seiner Natur nach hçchstens zur Verfgung hat, um in seiner spezifischen Eigenschaft zu bestehen.“934 Dabei handelt es sich um eine zweite Bedeutung der temporalen Analyse, denn die Bestimmung des Zeitraums, in dem ein Ding in der Zusammensetzung besteht, die es ausmacht, ist sehr begrenzt: „Alles Materielle verschwindet sehr bald im Sein des Ganzen, jede Ursache geht sehr bald wieder in die Vernunft des Ganzen ein …“.935 Mit der Bestimmung der Zeit ist also auf den schnellen Wandel verwiesen, dem alles im Kosmos unterliegt. Auch daraus resultiert ein konsolatorischer Effekt, denn wenn kein Ding Bestand hat, kann es genauso wenig dauerhaft ein Gegenstand von Hoffnungen oder ngsten sein.936 Von konsolatorischer Bedeutung ist der Zeitfaktor, weil er eine wichtige Eigenschaft des universalen Wandels ist.937
933
934 935 936 937
das Vergangene belasten wird, sondern immer nur das Gegenwrtige. Dieses aber verliert an Bedeutung, wenn du es isoliert betrachtest und deine Seele zurechtweist, falls sie nicht in der Lage ist, dieser Kleinigkeit standzuhalten.“ M. Aur. Med. 8, 36. „Denk darber nach, wie viele kçrperliche und seelische Vorgnge sich zugleich in demselben kurzen Moment bei jedem von uns ereignen. Und so wirst du dich nicht wundern, wenn viel mehr noch oder besser: alles gleichzeitig abluft, was in dem Einen und dem Ganzen geschieht, das wir Kosmos nennen.“ M. Aur. Med. 6, 25. M. Aur. Med. 9, 25 (siehe auch 8, 11: „Was ist dieses Ding an sich und seiner individuellen Natur nach? Was ist seine Substanz und sein Stoff ? Was ist seine Ursache? Was bewirkt es im Kosmos? Wie lange besteht es?“). M. Aur. Med. 7, 10. „Dies alles ist durch Erfahrung vertraut, aber kurzlebig in zeitlicher Hinsicht und schmutzig aufgrund seines Stoffes.“ M. Aur. Med. 9, 14. „Alles, was du siehst, wird die Natur, die das Weltganze durchwaltet, bald verndern und sie wird anderes aus ihrem Sein erzeugen und wiederum anderes aus dem Sein jener anderen Dinge, damit der Kosmos immer wieder neu ist.“ M. Aur. Med. 7, 25. Die temporale Analyse zielt, wie die anderen gleich zu beschreibenden AnalyseVarianten, vor allem auf den Tod ab: „Blick doch zurck in die Unendlichkeit der verflossenen Zeit und nach vorn in die Grenzenlosigkeit der Zukunft. Wie unterscheidet sich darin das Leben eines drei Tage alt gewordenen Kindes vom Leben eines ,dreifachen‘ Nestors?“ (M. Aur. Med. 4, 50).
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
591
Zusammensetzung. Diese Bedeutung der temporalen Analyse verweist auf den zweiten Aspekt, auf den sich die Analyse bezieht, denn sie untersucht auch die Zusammensetzung eines Dinges. Gemeint ist die Forderung, ununterbrochen zu beobachten, um zu erkennen, dass sich alles immer wandelt, also seine Zusammensetzung sich immer ndert, und zwar sehr schnell. Daher ist es nicht von Wert, weil es keinen Bestand hat.938 Die Existenz eines Menschen und die Begrenzung seines Lebens durch den Tod ist nur Teil der andauernd sich wandelnden Manifestationen der Vernunft in der Materie: Die Natur des Weltganzen hat aus dem gesamten Sein wie aus Wachs gerade ein Pferd gebildet,939 dann aber lçste sie es auf und gebrauchte seine Materie fr einen Baum, dann fr einen Menschen und dann fr etwas anderes.940
Auch bei der Analyse der Zusammensetzungen kçnnen zwei argumentative Strnge unterschieden werden. Der erste knpft an die temporale Analyse an, die zeigte, dass ein Ding nur kurzen Bestand hat. Denn dass alles im Kosmos nur fr sehr kurze Zeit besteht und dann aufhçrt zu existieren, heißt, dass es in die Bestandteile, aus denen es besteht, aufgelçst wird. Bei jedem Ding ist es wichtig zu wissen: „aus welchen Einzelelementen seine Verbindung besteht und in welche Elemente seine Auflçsung erfolgt.“941 Auch diese Analyse-Form verwendet Marc Aurel fr konsolatorische Zwecke, wobei wiederum zwei Argument-Varianten unterschieden werden kçnnen. Zunchst argumentiert Marc Aurel, dass der Tod als Auflçsung in die Grundbestandteile etwas Natrliches ist.942 Ferner dient die Vorstellung vom Tod als Auflçsung in die Grundbestandteile dazu, sich klar zu machen, dass der Tod keine Vernichtung darstellt, sondern eben nur eine Auflçsung.943 938 Siehe M. Aur. Med. 4, 16. 939 Siehe die Parallele Chalc. In Tim. 292 (=LS 44 D). Marc Aurel vertritt hier, wenn wir spteren Berichten glauben drfen, sogar die die Wachsmetaphorik einschließende, altstoische Position. 940 M. Aur. Med. 7, 23. Auch hier geht Marc Aurel wieder zu Fragen der Bewertung ber, denn der Eintrag fhrt fort: „Es ist aber fr einen Kasten ebenso wenig furchtbar, auseinandergenommen wie zusammengefgt zu werden.“ 941 M. Aur. Med. 12, 24. 942 Siehe M. Aur. Med. 4, 6. 943 „Was gestorben ist, fllt nicht aus der Welt. Wenn es hier bleibt, verwandelt es sich auch hier und lçst sich in seine Bestandteile auf, die die Elemente des Kosmos und deine eigenen sind. Auch sie verwandeln sich und klagen deshalb nicht.“ M. Aur.
592
4. Logik – Vernunftgebrauch
Bei der gesamten analysierenden Auseinandersetzung mit dem Tod betont Marc Aurel, dass es darum geht, die Dinge „nackt“ zu betrachten, also nur zu sehen, was daran natrlich ist. Marc Aurel fordert sich auf zu betrachten, was das Sterben ist und dass man, wenn man es fr sich allein betrachtet und die ihm anhaftenden Vorstellungen mit analytischem Verstand auflçst, annehmen wird, dass es nichts anderes ist als ein natrlicher Vorgang. Wenn aber jemand einen natrlichen Vorgang frchtet, ist er ein Kind. Das Sterben ist freilich nicht nur ein natrlicher Vorgang, sondern auch ntzlich fr die Natur.944
Auffllig ist, dass Marc Aurel diese Analyseform vornehmlich auf sich selbst und sein eigenes Schicksal anwendet. Neben den Untersuchungen zum Tod finden sich in diesem Zusammenhang auch die auf die Natur des Menschen bezogenen Kapitel, beispielhaft ist das Folgende: „Was ich eigentlich bin, ist ein bisschen Fleisch, ein wenig Atem und das leitende Prinzip meiner Seele …“945 Die zweite Analyse-Form, die sich auf die Zusammensetzungen bezieht, richtet sich der Sache nach weniger reflexiv auf den Analysierenden selbst, sondern auf Gegenstnde und verfolgt der Absicht nach weniger das Anliegen der Konsolatorik, sondern zielt auf falsche Wertzuschreibung ab.946 In einer Vielzahl von Kapiteln mit rauen kynischen Formulierungen947 verbinden sich diese mit einer solchen Analyse insbesondere kçrperlicher Vorgnge. Das Kynische in den Formulierungen drckt die angestrebte und wohl erreichte Entwertung aus und ist als solches vielmehr Ergebnis der Analyse, statt sie zu ersetzen.948
944 945 946
947 948
Med. 8, 18. Diesen Gedanken verwendet Marc Aurel hufiger: „Denn nichts kommt aus dem Nichts, wie es auch nicht in das Nichts verschwindet.“ M. Aur. Med. 4, 4 (siehe ebenfalls dazu 4, 21). t¸ 1sti t¹ !pohame?m, ja· fti, 1²m tir aqt¹ lºmom Ud, ja· t` leqisl` t/r 1mmo¸ar diak¼s, t± 1lvamtafºlema aqt`, oqj´ti %kko ti rpok¶xetai aqt¹ eWmai C v¼seyr 5qcom7 v¼seyr d³ 5qcom eU tir vobe?tai, paid¸om 1st¸. M. Aur. Med. 2, 12. M. Aur. Med. 2, 2 (siehe auch 5, 13 und 5, 24). „Der faulige Rest der Materie aus der alles besteht: Wasser, Staub, Knochen, Gestank. Andererseits sind auch Marmorblçcke nur Verhrtungen der Erde, Gold und Silber nur ihr Bodensatz, die Kleidung nur Haare, der Purpur nur Blut, und fr alles andere gilt entsprechendes.“ M. Aur. Med. 9, 36. Siehe M. Aur. Med. 11, 15; 6, 16; 8, 37; 10, 19 und ferner: 6, 28 und 36; 9, 36; 11, 1 und 4, 48, 2 (mit verbaler Parallelle zu 6, 13). Siehe M. Aur. Med. 5, 12; 5, 28; 11, 15; 8, 24; 10, 19; 5, 10, 2; 4, 39.
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
593
Insgesamt verfolgt diese Methode das Ziel, nicht nur ein „tieferes Verstndnis fr das Geschehen im Weltganzen“949 zu bekommen, sondern auch in praktischer Absicht etwas ber die genaue Zusammensetzung von Dingen zu wissen. Die von Marc Aurel zur Grundlage erklrte Naturerkenntnis nimmt also nicht nur die große kosmische Perspektive des Ganzen ein, sondern auch die einzelnen Dinge werden in ihrer Zusammensetzung analysiert. Dabei werden diese sowohl in den grçßeren Kontext des Kosmos’ einsortiert, als auch auf ihre innere Beschaffenheit hin untersucht. Neben dem makroskopischen Wissen vom Ganzen hilft also auch das mikroskopische Wissen von der Zusammensetzung der Elemente in den Dingen, um entsprechend zu leben. Die Aufforderung zu analysieren, hier die Zusammensetzung der Elemente zu unterscheiden, verfolgt dabei dieselben Zwecke wie die Einordnung in den kosmischen Gesamtzusammenhang. Es ist nicht berraschend, dass sowohl der Blick von kosmischer Warte wie auch die Analyse einzelner Vorgnge dieselben Ergebnisse erzielt. Nach stoischer Lehre wird alles durch dieselben Prinzipien bestimmt. Verschiedene Perspektiven betrachten daher immer notwendig dasselbe. Die Forderung zu analysieren, trgt der Physik Rechnung. Ein Ding besteht aus einer Verbindung, die dem schnellen Wandel unterworfen ist. Es besteht nur als ußerst kurzdauernde Zusammensetzung. Schon aus diesem Grund muss es dementsprechend analysiert werden, weil die Lysis des Dinges sein natrliches Schicksal ist. Die epistemologische Forderung, ein Ding auf diese Weise zu analysieren, nimmt damit auf epistemologischem Gebiet vorweg, was dem Ding physikalisch-ontologisch natrlicherweise passieren wird. Aus diesem Grund trgt die Analyse dazu bei, natrliche Vorstellungen zu erzielen bzw. von nicht-natrlichen zu unterscheiden. Nach der Analyse von temporalen Aspekten und der Zusammensetzung eines Dinges zielt eine dritte Analyse-Form auf die stoische Prinzipienlehre: „Unterscheide und unterteile das Gegebene in das Verursachende und das Stoffliche.“950 Marc Aurel nennt die Unterscheidung von Urschlichem und Hyletischem mehrfach, wobei je verschiedene Aspekte betont werden. Zunchst wird die große praktische Bedeutung betont: „Das Heil unseres Lebens beruht darauf, dass wir ganz durchschauen, was das Wesen jeder einzelnen 949 oxtor d³ ja· hgq¸ym !kgh/ w²slata oqw Hssom Bd´yr exetai C fsa cqave?r ja· pk²stai lilo¼lemoi deijm¼ousim. M. Aur. Med. 3, 2. 950 M. Aur. Med. 7, 29.
594
4. Logik – Vernunftgebrauch
Sache ist, worin ihr stofflicher Gehalt besteht und was sie verursacht hat.“951 Dann wird die speziellere Verwendung der Unterscheidung im Kontext der Konsolation behandelt, die auch hier wieder großen Raum einnimmt. Diese Analyse wird zunchst wieder auf den Menschen angewandt, um dann abermals festzustellen, dass der Tod nicht Vernichtung, also nicht zu frchten ist.952 Die Unterscheidung hilft dabei, den Geist als Fllung des materiellen Gefßes zu fassen. Der Kçrper wird auch so entwertet, im Vordergrund der berlegung steht aber der Gedanke, dass wegen des Verhltnisses von gçttlicher Vernunft und Materie im Menschen, also dem fhrenden Seelenteil und dem Kçrper, der Tod nichts Furchtbares ist.953 Schließlich ist die Unterscheidung von Ursache und Stoff fr Marc Aurel zugleich Grundlage jeder wahren Aussage: Worauf beruht in diesem Falle die Erforschung der Wahrheit? Auf der Unterscheidung des Stofflichen und des Verursachenden (T¸r 1p· to¼tou B Rstoq¸a t/r !kghe¸ar. dia¸qesir eQr t¹ rkij¹m ja· eQr t¹ aQti_der).954 951 M. Aur. Med. 12, 29. Das Unterscheiden von hyletischen und kausalen Prinzipien ist fr Marc Aurel offensichtlich Teil der Affekttherapie: „Ich habe genug von dem elenden Leben, dem Widerwillen und dem affenartigen Gebaren. Warum regst du dich auf ? Was ist denn neu daran? Was bringt dich aus der Fassung? Die Ursache? Sieh sie dir an. Außerhalb von Ursache und Materie gibt es nichts. Doch, bei den Gçttern, werde nun endlich einfach und besser.“ M. Aur. Med. 9, 37. 952 „Ich bestehe aus einer verursachenden Form und aus Materie. Weder Form noch Materie werden in das Nichts vergehen.“ M. Aur. Med. 5, 13 (siehe auch 11, 20). Die Unterscheidung wird noch in anderem Sinne konsolatorisch verwandt: „Wenn du in ein anderes Leben bergehst, dann ist auch dort alles von Gçttlichem erfllt. Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhçren, Schmerzen und Freuden zu haben und dem Gefß zu dienen, das so viel weniger wert ist als das, dem es dient. Dieses nmlich ist Geist und gçttliche Kraft, jenes aber nur Erde und Blut.“ M. Aur. Med. 3, 3. 953 Eine Anwendung der Unterscheidung von hyletischen und kausalen Faktoren fr die Entwertung bietet M. Aur. Med. 10, 26: „Er senkte seinen Samen in den Mutterleib und ging fort. Darauf bernimmt diesen eine andere verursachende Kraft, wirkt auf ihn ein und vollendet das Kind. Was fr ein Ergebnis aus welchem Anfang. Das Kind wiederum ließ durch seine Speiserçhre Nahrung in sich hineinfließen, und daraufhin nimmt eine andere verursachende Instanz die Nahrung auf und erzeugt das Wahrnehmungsvermçgen, das Wollen und berhaupt das Leben und die Lebenskraft und was sonst noch dazugehçrt. Diese Vorgnge, die in solcher Verhllung geschehen, aber so betrachten, und die Kraft so ansehen, wie wir die Schwerkraft und die Kraft des Auftriebes sehen, nicht mit den Augen, aber nicht weniger deutlich.“ 954 M. Aur. Med. 4, 21.
4.3 Die analytische Methode, Definitionen und Wahrheit
595
Insgesamt erfllt die analytische Methode bei Marc Aurel die Anforderungen, die im Rahmen der stoischen Diskussion an die Kriterien der Wahrheit gestellt werden. Sie stellt sicher, dass eine Vorstellung zustande kommt und ihr zugestimmt wird, die „sowohl von etwas Bestehendem ausgeht als auch nach Maßgabe des Bestehenden selbst existiert“.955 Die Analyse stellt ferner sicher, dass Marc Aurel die Vorstellungen nur als natrliche oder ursprngliche akzeptieren kann, die dem auch von Diogenes Laertius beschriebenen Kriterium entsprechen: Die erkenntnistaugliche Vorstellung ist, so sagen sie [die Stoiker], das Kriterium fr die Sachen; sie bildet sich von etwas Existierendem her, hat sich in bereinstimmung mit eben dieser Grundlage siegelartig in unserem Geist eingedrckt und ihm eingeprgt.956
Abschließend lsst sich noch kurz auf eine von prominenter Seite vertretene These eingehen. R. Sorabji hat dafr argumentiert, dass im Falle der rçmischen Stoa besondere „attitudes to past, present and future“ vorliegen. Genau genommen argumentiert er fr eine zweiteilige These: (i) R. Sorabji meint, dass die These, die Stoiker wrden nur eine Konzentration auf die Gegenwart empfehlen, falsch ist.957 (ii) R. Sorabji ist dann folgender Ansicht: Whrend einige rçmische Stoiker, Seneca und Epiktet, vielfltige Auseinandersetzungen auch mit Vergangenheit und Zukunft kennen wrden, vertrete nur Marc Aurel wirklich eine Konzentration auf die Gegenwart.958 Obschon es sich nur um ein kurzes Argument von Sorabji handelt, sind seine Quellenangaben zunchst berzeugend. Denn in der Tat empfiehlt Marc Aurel oft die Konzentration auf die Gegenwart.959 Und Seneca kritisiert diejenigen, die sich aus Angst vor ihren Erinnerungen vor der Vergangenheit frchten, whrend der ruhige und gelassene Geist jeden Teil der Zeit und des Lebens betrachten kçnne.960 Dann empfiehlt Seneca die 955 Chalcid. In Tim. 293 (=LS 40 E). 956 Diog. Laert. 7, 54. 957 Nicht ganz klar im Argument von Sorabji wird, ob er meint, dass bereits in frheren Jahrhunderten der stoischen Tradition eine solche Konzentration nicht vorhanden war, oder ob es sich um eine Neuerung der rçmischen Stoa handelt. 958 Siehe Sorabji, R.: What is new on emotion in Stoicism after 100 BC?, in: Sorabji, R./Sharples, R. (Hg.): Greek and Roman Philosophy 100 BC-200 AD, a.a.O., S. 172 – 4. 959 Sorabji sttzt sich auf folgende Kapitel: M. Aur. Med. 2, 14; 3, 16; 6, 32; 7, 29; 12, 1; 12, 3. 960 Sorabji erwhnt hier Sen. Brev. 10, 36.
596
4. Logik – Vernunftgebrauch
Vorstellung von Vergangenem zum Zwecke der Affekt- und Schmerztherapie.961 Aber Marc Aurels Auffassung ist nicht so „sweeping“, wie Sorabji sie nennt und sieht. Neben den von ihm erwhnten Kapiteln, die eine Konzentration auf die Gegenwart fordern, gibt es mindestens drei Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder Zukunft in den Selbstbetrachtungen: (i) Zu den bereits beschriebenen Imaginationsbungen gehçren auch solche, in denen Marc Aurel sich auffordert, die Vergangenheit zu bedenken.962 Marc Aurel erwhnt z. B. sehr hufig Kaiser vor ihm, und betont dann, dass auch fr sie der Ruhm nichts Gutes war, weil er verblasste.963 Hier hat die Vorstellung von Erinnertem die Aufgabe, bestimme konventionelle Gtervorstellung zu hinterfragen und Entwertungen herbeizufhren.964 (ii) Die Erinnerung an paradigmatische Personen, lebende Exempel der Tugend, ist ein wichtiges Moment, sich in der Tugend zu ben.965 Hier dient die Erinnerung ebenfalls der Parnese, aber mahnt an ein wirkliches Gut, die Tugend. (iii) Wie von Seneca gefordert, beschftigt sich Marc Aurel auch mit der eigenen Vergangenheit. Wiederum gibt es zwei Varianten: die Erinnerung bezieht sich entweder auf schlechtes Verhalten966 und wirkt abmahnend, oder aber bezieht sich auf gutes Verhalten und wirkt besttigend: Erinnere dich aber auch daran, was du durchgemacht hast und was du zu ertragen imstande warst und dass die Geschichte deines Lebens schon erfllt und dein Dienst beendet ist, wie viel Schçnes du gesehen, ber wie viel Freuden und Schmerzen du hinweggesehen hast, wie viele Gelegenheiten dich auszuzeichnen, du nicht wahrnahmst und wie vielen lieblosen Menschen du begegnet bist.967
Hier erfllt Marc Aurel genau das, was Seneca theoretisch fordert. Die Stelle zeigt daher, dass Marc Aurel nicht nur pessimistisch mit der Welt und 961 Sorabji erwhnt hier Sen. Ep. 10, 3 – 6. Fr Epiktet verweist er auf Arr. Epict. diss. 3, 24, 88. 962 Siehe z. B. nochmals M. Aur. Med. 10, 31. 963 Siehe z. B. die Erinnerung an Augustus in M. Aur. Med. 4, 33; 8, 31; 8, 5. 964 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 48. 965 Siehe z. B. Pius in M. Aur. Med. 1, 16 und 6, 30. 966 Siehe z. B. „Erinnere dich daran, seit wann du dies aufschiebst und wie oft du von den Gçttern Termine bekamst, ohne sie zu nutzen.“ M. Aur. Med. 2, 4. 967 M. Aur. Med. 5, 31.
4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik
597
sich umgeht, sondern dass er auch ein positiv gefrbtes Bild von seiner Vergangenheit hat, und nochmals, dass die Selbstbetrachtungen das praktisch umsetzen, was bei anderen Stoikern und im Text der Selbstbetrachtungen gefordert bzw. beschrieben wird. Schließlich gilt eine Variante der analytischen Methode nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit und Zukunft eines Dinges: Blick doch zurck in die Unendlichkeit der verflossenen Zeit und nach vorn in die Grenzenlosigkeit der Zukunft. Wie unterscheidet sich darin das Leben eines drei Tage alt gewordenen Kindes vom Leben eines ,dreifachen‘ Nestors?968
Die Vorstellung, wie lange etwas Bestand haben wird, also seine Zukunft, dient ebenfalls der Entwertung.969 Marc Aurel bietet also kein minder differenziertes Bild als die anderen Stoiker. Die Selbstbetrachtungen haben aber darber hinaus den Vorteil, dass sie die konkrete praktische Anwendung der gelegentlich ber die Gegenwart hinausgehenden Vorstellungen auch in sprachlicher Form gut dokumentieren. Auffllig ist, wie viel Raum Marc Aurel der Kontrolle falscher Wertzuschreibungen einrumt und wie wenig er sich dabei um die mit der stoischen Theorie verbundenen epistemologischen Schwierigkeiten bemht. Dafr aber interessiert ihn der damit verbundene Gebrauch der Wçrter sowohl theoretisch als auch praktisch mehr. Darauf ist nun einzugehen. 4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik Nach stoischer Lehre zerfllt die Logik in zwei Teile: Dialektik und Rhetorik. Letztere sei, so berichtet Diogenes Laertius, die „Wissenschaft vom guten Reden bei zusammenhngenden Ausfhrungen“.970 Von den drei Teilen der Rhetorik, die Diogenes Laertius nennt, die (politische) Beratung, die Rechtssprechung und die Lobrede,971 wird keiner in nennenswerter weise von Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen thematisiert.
968 969 970 971
M. Aur. Med. 4, 50. Siehe M. Aur. Med. 9, 25; 8, 11; 7, 10. Diog. Laert. 7, 42 (=LS 31 A (4)). Siehe Diog. Laert. 7, 42 – 43 (=LS 31 A (6)).
598
4. Logik – Vernunftgebrauch
Dennoch reflektiert Marc Aurel im Sinne von Diogenes’ allgemeiner Bestimmung der Rhetorik ber das „gute Reden“. Es finden sich zahlreiche Ausfhrungen zur Rhetorik, die keineswegs rein sthetischer Natur sind. ber die zahlreichen Kapitel hinaus, in denen Marc Aurel das wahre Reden als tugendgemße Handlung beschreibt, finden sich Bestimmungen, in denen er ber sprachliche Ausdrucksformen rsoniert. Diese sollen entweder helfen, die bereits beschriebenen epistemischen Prozesse zu untersttzen, oder deren Ausdruck sein. Bei den folgenden kurzen Ausfhrungen handelt es sich also nicht notwendig oder vollumfnglich um eine Besprechung von Themen, die die antiken Stoiker dem Bereich der Rhetorik zurechnen wrden. Dennoch steht Marc Aurels Behandlung von rhetorischen Fragen dem logischen Bereich so nahe, dass es gerechtfertigt erscheint, sie im Rahmen dieses Kapitels zu analysieren. Andererseits gibt es auch – wenige – Quellen zur stoischen Rhetorik, die zeigen, wie breit das Themenfeld der stoischen Rhetorik ist. Diese kçnnen als Anknpfungspunkt fr die folgende Untersuchung dienen. Bezeichnend ist etwa die Auffassung Chrysipps im Bericht von Plutarch: Die Rhetorik definiert er als die Kunst in Bezug auf Ordnung und Abfolge der Vortragsrede. Darber hinaus hat er im ersten Buch sogar dies geschrieben: ,Ich meine, man sollte seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die zwang- und affektlose Ordnung richten, sondern außer auf die Sprache auch auf die passenden Deklamationsformen in Bezug auf die geeigneten Stimmmodulationen, den Gesichtsausdruck und die Gesten der Hnde.‘ Doch nachdem er an dieser Stelle so zu einem Eiferer der Rede geworden ist, sagt er wieder in demselben Buch nach seinen Bemerkungen ber den Hiat, dass wir uns an das zu halten haben, was besser ist, und deswegen nicht nur den Hiat zulassen mssen, sondern auch bestimmte Arten der Unklarheit, Ellipsen und – in Gottes Namen – Solçzismen, deren sich nicht wenige andere Leute schmen wrden.972
Bemerkenswert an Chrysipps Auffassung ist nicht nur die Bandbreite an Themen, sondern auch die Disparitt der Positionen. Zur gelungenen Rede gehçrt fr ihn also nicht nur der Text der Rede, sondern auch ein bestimmter Einsatz nonverbaler Mittel. Plutarch scheint mit seinem Bericht auch mitteilen zu wollen, dass Chrysipps Behauptung, Zweideutigkeiten, Auslassungen und Fehler kçnnen besser sein, erstaunlich, wenn nicht sogar problematisch und kritikwrdig ist. Dabei ist auffllig, dass Marc Aurels Selbstbetrachtungen dem letztgenannten Punkt entsprechen. Erstens enthlt die von Marc Aurel selber 972 Plut. De stoic. repugn. 28, 1047 A-B (=LS 31 H).
4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik
599
verwandte Rhetorik einige Elemente, die Chrysipp erwhnt, denn die Kapitel der Selbstbetrachtungen bieten reichlich Unklarheiten, Ellipsen und Solçzismen.973 Zweitens finden sich bei Marc Aurel Begrndungen fr solche rhetorischen Mittel. Auch in diesem Punkt sind die Selbstbetrachtungen eine interessante Quelle. Sie bieten zwar keine geordnete Abhandlung zum Thema, und Marc Aurels Argumente mssen nicht notwendig originell sein, aber in Anbetracht der in diesem Punkt ganz besonders drftigen Quellenlage ist nicht einmal das sicher zu entscheiden.974 Neben Reflexionen ber Rhetorisches im epistemischen Kontext gibt es eine andere Erçrterung, die ebenfalls die Aktivitt des leitenden Seelenteils betrifft, aber nicht auf die rhetorischen Aspekte abzielt. Die Wissenssuche selbst wird hier begrenzt, weil die Auseinandersetzung mit bestimmten Gegenstandsbereichen oder ein bestimmter Genauigkeitsgrad fr unntz, d. h. nicht glcksfçrderlich, erklrt wird. Im Folgenden werden diese Themen, die den Vernunftgebrauch betreffen, vorgestellt. Bereits das erste Buch enthlt eine ganze Reihe von entsprechenden Bemerkungen. Von Diognetos lernte Marc Aurel „ein offenes Wort zu vertragen… und schon als Kind Dialoge zu schreiben.“975 Von Rusticus lernte er, „nicht ber die Knste und Wissenschaften zu schreiben, keine Mahnreden zu halten oder unter Vortuschung falscher Tatsachen den Asketen oder den Wohltter der Menschheit zu spielen“.976 Von Sextus wurden Marc Aurel folgende Eigenschaften vorgelebt: „Toleranz gegenber den Einfaltspinseln und solchen, die Vermutungen anstellen ber das Unerforschliche.“977 Von Alexandros lernte er, darauf zu verzichten, mit Worten um mich zu schlagen und auf beleidigende Weise auf diejenigen loszugehen, die fremdartige, fehlerhafte oder hsslich 973 Siehe dazu Kap. I 5. 974 Auch die Forschungslage ist drftig. Hinweise liefert Nussbaum, M. C. (Hg.): The Poetics of Therapy. Hellenistic Ethics and its Rhetorical and Literary Context (=Apeiron 23, 1990), Edmonton 1990. Obschon im Band eher das Verhltnis von Ethik und Rhetorik untersucht wird, behandeln etwa die Beitrge von B. Inwood (Rhetorica Disputatio, The strategy of De Finibus II, a.a.O., S. 143 – 164) und T. C. Rosenmeyer (Decision-Making, a.a.O., S. 187 – 218) auch Aspekte, die hier wichtig sind. 975 M. Aur. Med. 1, 6. 976 M. Aur. Med. 1, 7. 977 M. Aur. Med. 1, 9.
600
4. Logik – Vernunftgebrauch
klingende Worte gebrauchten, sondern einfach eben jenes Wort, das man htte benutzen mssen, geschickt ins Gesprch zu bringen – in Form einer Antwort, Besttigung oder einer gemeinsamen berlegung ber die Sache selbst, nicht ber die Formulierung, oder mit Hilfe einer anderen beilufigen, aber angemessenen Bemerkung dieser Art.978
Marc Aurel hlt insgesamt Ungeknsteltheit und Einfachheit (%pkastor979 oder blak^r980) fr paradigmatisch, und speziell in Reden soll man klar und erkennbar (d/kor) sein.981 Schließlich war ihm Pius Vorbild, weil er kein Sophist (sovist^r), kein Spaßvogel (oqeqm²jkor) und kein „weltfremder Gelehrter (swokastijºr)“ war.982 Alles in Pius’ Leben war „in seinen Einzelheiten durchdacht wie bei einem wissenschaftlichen Vortrag, ohne Unruhe, gut geordnet, kraftvoll und in sich widerspruchslos.“983 An die Gçtter gerichtet schreibt Marc Aurel den Dank dass ich keine nennenswerten Fortschritte in der Rhetorik, der Dichtkunst und den anderen Ttigkeiten erzielte. … Dank auch dafr, dass ich, als ich mich mit der Philosophie beschftigen wollte, nicht an irgendeinen Sophisten geriet und mich nicht dazu herabließ, Gemeinpltze zu verfassen, Syllogismen aufzulçsen oder meteorologische Fragen zu klren.984
Im ersten Buch erwhnt Marc Aurel Exempla. Sie sollen ihn an durch bestimmte Personen verkçrperte Eigenschaften und Tugenden erinnern. Wie auch bei anderen Themenfeldern verwendet das erste Buch beim Thema des Vernunftgebrauches eine gesonderte formale Technik, die es von den anderen Bchern absetzt. Die dort exemplifizierten Eigenschaften und Themen greift Marc Aurel jedoch in den anderen Bchern wieder auf. In Bezug auf die hier interessierenden beiden Themen, Vernunftgebrauch und Rhetorik, nennt das erste Buch drei Themenkreise, die in den folgenden Bchern wiederholt angesprochen werden und daher auch die hier vorzunehmende Analyse leiten kçnnen: (i) Beschrnkung der Epistemologie. Offensichtlich spricht sich Marc Aurel bereits im ersten Buch gegen eine Beschrnkung des Wissensstrebens aus. Zwei Hinsichten sind zumindest angedeutet: (a) werden dem Ge978 979 980 981 982 983 984
M. Aur. Med. 1, 10. M. Aur. Med. 1, 9. M. Aur. Med. 1, 14. M. Aur. Med. 1, 14. M. Aur. Med. 1, 16. M. Aur. Med. 1, 16. M. Aur. Med. 1, 17.
4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik
601
genstandsbereich nach bestimmte epistemische Felder, z. B. die Syllogismen oder die Meteorologie ausgeschlossen, und (b) sollte Wissen bezglich des Genauigkeitsgrades bzw. der Ausdifferenziertheit ein bestimmtes Maß nicht berschreiten. Prima facie ließe sich Marc Aurel damit ein antitheoretischer oder gar antiphilosophischer Impetus zusprechen. Aber er argumentiert auch im ersten Buch nicht gegen das Vielwissen als solches, denn von Rusticus lernte er, „eine Flle von Wissen zu haben, ohne damit aufzutrumpfen“.985 Marc Aurel vertritt eine Kritik am nutzlosen Wissen, die damit zusammenhngt, dass er die Wissenssuche und deren Ausdrucksformen ganz dem Kriterium der Glcksdienlichkeit unterordnet. Daraus folgen die anderen beiden Themenfelder. (ii) Rhetorische Untersttzung der Epistemologie. Das Wissen muss, wie das erste Buch nur sehr schwach andeutet, eine bestimmte Form haben. Es muss einfach und schlicht sein. Denn sonst wre es nicht gut zu erinnern. Und die entscheidenden Lehrstze, die das Handeln leiten sollen, muss der Mensch immer zur Hand haben, also leicht ins Gedchtnis rufen kçnnen. Daraus folgen bestimmte rhetorische Regeln. Sie sollen epistemische Prozesse untersttzen. (iii) Der rhetorische Umgang mit epistemischen Inhalten. Mit Wissen muss in einer bestimmten Weise umgegangen werden, man soll weder wissentlich die Unwahrheit sagen, noch mit dem Wissen auftrumpfen. In diesem Falle gelten bestimmte rhetorische Regeln fr den Umgang mit epistemischen Inhalten, wobei die Kriterien fr die Regeln ethischer Natur sind. Diese verschiedenen Momente werden von Marc Aurel nur selten getrennt behandelt, vielmehr vermischen und bedingen sie sich in den Kapiteln. Die gesamten Erçrterungen kçnnen unter ein Schlagwort zusammengefasst werden: „Schmcke dich mit Einfachheit“.986 Die Forderung nach Einfachheit ("pkºtgr) taucht in den Selbstbetrachtungen sehr hufig auf und betrifft alle Bereiche: Denken, Sprache, Handlung, Seele.987 Die gesamte Philosophie wird durch ihre Einfachheit
985 M. Aur. Med. 1, 9. 986 M. Aur. Med. 7, 31. 987 Siehe M. Aur. Med. 3, 4; 3, 6; 3, 16; 4, 26; 4, 37; 5, 7; 6, 30; 7, 31; 8, 51; 9, 29; 9, 37; 10, 1; 10, 8; 10, 9; 10, 32; 11, 15.
602
4. Logik – Vernunftgebrauch
charakterisiert: „Schlicht und bescheiden ist das Werk der Philosophie ("pkoOm 1sti ja· aQd/lom t¹ vikosov¸ar 5qcom).“988 Im Gegenzug – und daher nicht berraschend – lehnt Marc Aurel das Knstliche (jolx|r)989 und Spitzfindige ab. Es ist nicht natrlich und daher unnçtig.990 Insgesamt ist der Nutzen, das, was besser fr die Lebensfhrung, also das Glck ist, Kriterium fr die Beurteilung von dem, was einfach, natrlich und notwendig ist: Du aber, sage ich, entscheide dich ganz einfach und zwanglos fr das Bessere und halte daran fest. ,Besser ist das Ntzliche.‘ Wenn es das fr dich als vernunftbegabtes Wesen Ntzliche ist, dann bewahre es dir. Wenn es aber nur das fr dich als einfaches Lebewesen Ntzliche ist, dann bekenne dich dazu und halte schlicht und einfach an deinem Urteil fest. (Wichtig ist nur), dass du deine Prfung durchfhrst, ohne den Boden unter den Fßen zu verlieren.991
Marc Aurel pldiert nicht schlichtweg fr Einfachheit. Mit dem analytischen Verfahren wollte er vor allem falsche, unnatrliche Vorstellungen zurckdrngen. Die Einfachheit der Gedanken und des Ausdrucks muss also erst erreicht werden, indem viel berflssiges unterlassen und unterbunden wird. Viele Kapitel richten sich gegen eine falsche, nichtntzliche, Verwendung des fhrenden Seelenteils. Dabei liegt der Akzent auch auf der verbalen Reduktion und Konzentration: „Du sollst nicht viele Worte machen und dich nicht mit allem und jedem abgeben (l¶te pokuqq¶lym l¶te pokupq²clym 5so).“992 Insgesamt kçnnen verschiedene Hinsichten unterschieden werden, nmlich (a) Vernachlssigung bestimmter Wissensgebiete, (b) Reduktion auf wenige Stze, Theoreme und (c) Reduktion und Einfachheit im Ausdruck, damit diese gut erinnert werden kçnnen. Von den genannten Punkten ist (a) besonders interessant, weil folgenreich: Beschftige dich nur mit wenigem, wenn du heiter sein willst, sagt der Philosoph. Ist es nicht besser, dass man sich nur mit dem Notwendigen beschftigt und mit allem, was die Vernunft eines seiner Natur nach auf die Gemeinschaft 988 M. Aur. Med. 9, 29. 989 M. Aur. Med. 3, 8. 990 „Du sollst weder gegen deinen Willen noch zum Schaden der menschlichen Gemeinschaft, noch ohne vorherige Prfung, noch aus innerer Unsicherheit handeln. Deine Gedanken sollen sich nicht mit Spitzfindigkeiten (jolxe_a) schmcken.“ M. Aur. Med. 3, 5. 991 M. Aur. Med. 3, 6. 992 M. Aur. Med. 3, 5.
4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik
603
ausgerichteten Wesens bestimmt? Denn das erzeugt die Heiterkeit des Herzens, die nicht nur vom richtigen Handeln, sondern auch von einer Beschftigung mit Wenigem abhngt. Wenn wir nmlich das meiste von dem, was wir sagen und tun, unterlassen, weil es sowieso nicht notwendig ist, wird mehr Zeit und innere Ruhe sein. Deshalb muss man sich in jeder Lage die Frage ins Bewusstsein rufen: Ist dies wirklich notwendig? Man muss aber nicht nur die nicht notwendigen Handlungen unterlassen, sondern auch entsprechende Vorstellungen und Gedanken unterdrcken. Denn auf diese Weise folgen darauf auch keine ablenkenden Taten.993
Marc Aurel spricht sich damit fr einen Minimalismus, eine Reduktion in der Philosophie aus. Im ersten Buch hatte Marc Aurel sich bereits gegen Dichtkunst, Sophismen, weltfremde Gelehrsamkeit, Meteorologie, Logeleien usw. gewandt. Und auch in den folgenden Bchern betont er mehrfach, dass es bestimmte Wissensbestnde gibt, die fr eine gelingende Lebensfhrung unnçtig sind.994 Wie im ersten Buch haben diese Argumente zum Teil autobiographische Aspekte, denn Marc Aurel gibt an, kein professioneller Philosoph geworden zu sein.995 Neben dem praktischen Argument, bestimmte Wissensbereiche seien nicht glcksrelevant, gibt es eine theoretische, physikalische Begrndung fr die Konzentration auf weniges Sachwissen. Das Argument kann wie folgt zusammengefasst werden: Alle Entitten im Kosmos sind eines, da sie gleiche Teile des einen kausalen Nexus sind.996 Wissen von diesem kausalen Geflecht, der Pronoia, impliziert, dass erkannt wird, dass alles miteinander verwandt ist. Nach stoischer Theorie ist eine Verursachung etwas Relatives. Aber ber eine bloße Verbindung hinausgehend, die durch die Kettenmetapher nahe 993 M. Aur. Med. 4, 24. 994 Gegen das rein logische Denken siehe M. Aur. Med. 8, 1. Ferner: „Liebe das bisschen Sachwissen, das du erworben hast, ruhe dich bei ihm aus.“ M. Aur. Med. 4, 31. 995 „Daran denke immer und auch noch daran, dass das glckliche Leben ganz wenige Voraussetzungen hat. Und es ist nicht zu befrchten, dass du deswegen, weil du die Hoffnung aufgeben musstest, ein Dialektiker oder Physiker zu werden, nicht darauf zu verzichten brauchst, ein innerlich unabhngiger, rcksichtvoller, solidarisch handelnder und gottesfrchtiger Mensch zu werden.“ M. Aur. Med. 7, 67 (siehe dazu auch 8, 1). Gegen professionelle Philosophie, Schulphilosophie, ist vielleicht auch Folgendes gerichtet: „Es ist mir nicht mçglich zu lesen. Aber es ist mçglich, bermut zu bndigen.“ M. Aur. Med. 8, 8. 996 Siehe dazu ausfhrlich Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 16 – 59.
604
4. Logik – Vernunftgebrauch
gelegt wird, ist eine Verursachung nicht nur mit zwei weiteren verbunden (logisch und zeitlich vor und nach ihr),997 sondern alles hilft alles andere zu verursachen.998 Daher bezeichnet Marc Aurel alle Dinge als bloeid´r999 und blocem´r.1000 Fr diese erstaunliche Behauptung1001 kçnnen bei Marc Aurel vier Argumente ausgemacht werden: (i) Er glaubt, „alles ist in seinem Auf und Ab dasselbe und aus demselben.“1002 (ii) Alle Dinge sind gleichermaßen durch die providentielle Vernunft bestimmt.1003 Daher ist jedes Ding ein gleicher Teil des kausalen Nexus und gleichermaßen dazu geeignet, das Wohlergehen des Kosmos zu sichern.1004 Auch in dieser Hinsicht gibt es nichts Neues oder Anderes. Und außerhalb des Kosmos gibt es nichts.1005 (iii) Nach der Theorie der Ekpyrosis ist nichts im Kosmos neu, weil der Kosmos selbst nicht neu ist. Der Kosmos und jeder Teil und Aspekt in ihm ist absolut nicht von dem vor ihm existierenden Kosmos und dem Kosmos davor zu unterscheiden. Marc Aurel ermahnt sich immer zu bedenken, „dass alles seit Ewigkeiten gleichartig ist und sich in stndigem Kreislauf wiederholt“1006 und „dass alles, was geschieht,
997 Diogenes Laertius erwhnt die stoische Auffassung, die eRlaql]mg sei die verbindende Ursache der Dinge (aQt_a t_m emtym eQqol]mg) (Diog. Laert. 7, 149). Sptere Quellen verweisen auf die Erklrung der eRlaql]mg als Ursachenkette. Siehe zum Beispiel Nemesios (108, 15 – 17: d³ eRlaql]mg eRql|r tir owsa aQti_m…). Bobzien betont, dass mit Ausnahme von Calc. In Tim. 144, es keine Belege dafr gibt, dass die zweite Etymologie, das Bild von der Kette, auf Chrysipp zurckgeht, und argumentiert in Folge, dass es wenig geeignet sei, die Theorie darzustellen, weil es insinuiere, die Ketten seien getrennt und isoliert (siehe Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 50 ff.). 998 Siehe z. B. M. Aur. Med. 10, 5: „Alles, was dir passiert, ist dir seit Ewigkeit vorbestimmt, und die Verkettung der Ursachen verknpfte deine Existenz mit dem Eintreffen dieses Ereignisses.“ 999 Siehe M. Aur. Med. 2, 14; 6, 37; 6, 46; 10, 27; 11, 1. 1000 Siehe M. Aur. Med. 5, 21; 6, 36; 7, 9; 10, 6. 1001 Siehe Kap. II 2. 1002 P\mta c±q %my j\ty t± aqt± ja· 1j t_m aqt_m. M. Aur. Med. 6, 46. Siehe auch: „Denn alles ist miteinander verwandt und gleichartig (p\mta c±q blocem/ ja· bloeid/).“ M. Aur. Med. 6, 37. 1003 Siehe M. Aur. Med. 7, 9. 1004 Siehe M. Aur. Med. 7, 10. 1005 Siehe M. Aur. Med. 8, 50. 1006 M. Aur. Med. 2, 14.
4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik
605
schon immer so geschah und geschehen wird und im Augenblick berall geschieht“.1007 (iv) Alles ist durch die gçttliche Vernunft bestimmt, und der leitende Seelenteil ist ein Teil davon. Da der kausale und logische Determinismus absolut ist und keine Ausnahmen kennt, ist alles vollstndig intelligibel. Das Wissen dieser bergeordneten Perspektive1008 enthlt die herakliteische Maxime, dass alles eines und dasselbe ist. Daher weiß, wer eines weiß, auch alles. Aus dieser Grundlegung folgt eine Begrenzung des Wissens, denn es gibt nichts Neues. Die vernnftige Natur umkreist … den ganzen Kosmos, …, dehnt sich aus in die Unendlichkeit der Ewigkeit, umfasst und reflektiert die periodische Wiederentstehung des Weltganzen und sieht, dass diejenigen, die nach uns kommen, nichts Neues erblicken werden … dass der Vierzigjhrige, wenn er nur ein bisschen Verstand hat, gewissermaßen schon alles, was gewesen ist und was sein wird, aufgrund seiner Gleichartigkeit, gesehen hat.1009
Angesichts dieser Argumente erklrt sich auch Marc Aurels Ablehnung gegen intellektuelle Vielgeschftigkeit, theoretische Neugier und vor allem gegen das Staunen. Marc Aurel formuliert das Ziel eines Lebens in bereinstimmung mit der Natur auch im Hinblick auf das nicht mehr nçtige Staunen. Er mçchte ein Mensch sein, wrdig des Kosmos, der dich erzeugte, und aufhçren, ein Fremder in deinem Vaterland zu sein, dich ber die Dinge, die tglich geschehen, zu wundern (haul²fym), als ob sie unvorhersehbar seien, und von allem Mçglichen abhngig zu sein.1010
Epistemische Bemhungen ber einen bestimmten Punkt hin auszudehnen bringt also nicht nur kein Mehr an Glck. Fortgesetzte Forschung wird, so Marc Aurel, auch keine neuen Erkenntnisse liefern und ist daher
1007 M. Aur. Med. 12, 26. 1008 Marc Aurel beschreibt dann auch einen Perspektivwechsel, nmlich zu sehen, dass „du alles Menschliche und seine Vielfalt, wenn du plçtzlich in die Hçhe gehoben wrdest und es von oben herab betrachten kçnntest, gering schtzen wirst, nachdem du zugleich gesehen hast, wie zahlreich die Erscheinungen sind, die die Luft und den Himmel ringsum bevçlkern; und dass du, sooft du emporsteigst, dasselbe sehen wirst: das Gleichartige, das Kurzlebige.“ (M. Aur. Med. 12, 24). 1009 M. Aur. Med. 11, 1 (siehe nochmals 2, 14; 6, 37). 1010 M. Aur. Med. 12, 1. Siehe auch 8, 15 und 8, 19.
606
4. Logik – Vernunftgebrauch
schon von einem rein epistemischen Standpunkt aus irrelevant.1011 In diesem Zusammenhang thematisiert Marc Aurel auch die analytische Methode, genauer, die Variante, die materielle und kausale Faktoren unterscheidet. Sie fhrt zu einer vollstndigen Analyse.1012 Der Anspruch der analytischen Methode ist, wie gezeigt, umfassend, weil die Methode alles erfasst, und zwar jeden Aspekt von jedem Ding. Obschon die Methode also alles erfasst, zielt sie nicht auf epistemische Zerstreuung ab, sondern ebenfalls auf Einfachheit. Das liegt daran, dass sie zwar zu einem Wissen von allem, aber nicht zu viel Wissen fhrt. Denn wenn die Wissensgegenstnde von wenigen Prinzipien bestimmt sind und es wenig oder nichts Neues gibt, kann auch der Bestand an Wissen in diesem Sinne „einfach“ sein. Marc Aurel betont die Konzentration auf wenig Sachwissen, das in Form von wenigen Stzen, zentralen Thesen oder Kernbereichen ausgedrckt wird: dºclata,1013 jev\kaia,1014 heyq¶lata,1015 paqast¶lata1016 oder paqap¶la.1017 Trotz des Anspruches, dass alles wissbar ist, erfolgt in mehrerlei Hinsicht eine Reduktion bzw. Konzentration: Bestimmte Forschungsgebiete werden ausgeschlossen, das Wissen ist dem Umfang nach reduziert und wird in Form weniger Lehrstze und Grundberzeugungen ausgedrckt. Diese Reduktionen dienen der Untersttzung eines epistemischen Prozesses. Die rhetorische Einfachheit untersttzt ferner eine Mnemotechnik. Ein Kapitel erwhnt zwei entsprechende Forderungen: „Lass dich
1011 „Daher ist es auch egal, ob man das menschliche Leben ber vierzig oder ber zehntausend Jahre hin erforscht. Denn was kannst du noch mehr sehen?“ M. Aur. Med. 7, 49 (siehe auch 8, 6). 1012 „Warum regst du dich auf ? Was ist denn neu daran? Was bringt dich aus der Fassung? Die Ursache? Sieh sie dir an. Außerhalb von Ursache und Materie gibt es nichts. Doch, bei den Gçttern, werde nun endlich einfach und besser. Es ist gleichgltig, ob man dies ber hundert oder drei Jahre hin untersucht.“ M. Aur. Med. 9, 37. 1013 Siehe M. Aur. Med. 2, 3; 3, 13; 3, 16; 4, 16; 7, 2; 8, 2; 8, 14; 9, 3; 10, 9; 10; 11; 23. 1014 Siehe M. Aur. Med. 11, 18. 1015 Siehe M. Aur. Med. 1, 7 und 8; 4, 2; 11, 5. 1016 Siehe M. Aur. Med. 3, 11. 1017 Siehe M. Aur. Med. 9, 3.
4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik
607
also auf diese wenigen Begriffe ein1018 … Es wird dir freilich sehr helfen, die Begriffe im Gedchtnis zu behalten …“.1019 An diesem Punkt kçnnen die rhetorischen berlegungen anknpfen, denn die Konzentration auf wenig Sachwissen, auf wenige Dogmen, sorgt auch fr eine sprachliche Konzentration, die selber wieder einen epistemischen Prozess untersttzen soll: Die wichtigsten Lehren sollen erinnert werden kçnnen und so jederzeit Fhlen und Handeln leiten kçnnen. Die Rhetorik hat erstens die Aufgabe, die Stze gut erinnerbar zu machen, und zweitens sollen die Formulierungen so gewhlt sein, dass sie motivierend sind. Warum ist die Erinnerbarkeit so wichtig? Wie oben bereits angedeutet, mssen die Grundberzeugungen schnell abrufbar sein, jeder Zeit zur Hand (pq|weiqor) sein. Zwei aufeinander folgende Kapitel behandeln diesen wichtigen Aspekt: Wie die rzte stets ihre Instrumente und Messer fr plçtzlich notwendige Behandlungen zur Hand haben (pq|weiqom), so sollst du deine berzeugungen bereithalten, um die gçttlichen und menschlichen Dinge zu begreifen…1020 Handle nicht mehr planlos. Denn du hast weder Gelegenheit, deine Notizen zu lesen noch die Taten der alten Rçmer und Griechen und die Auszge aus ihren Schriften, die du dir fr dein Alter fortgelegt hast. Beeile dich also ohne schweres Gepck, gib die leeren Hoffnungen auf und hilf dir selbst, wenn dir etwas an dir liegt, solange es mçglich ist.1021
Da die wichtigen Lehren die Lebensqualitt bestimmen sollen, mssen sie in jeder Situation des Lebens ihre Anwendung finden kçnnen: Bei der Anwendung der Grundberzeugungen muss man einem Boxer, nicht einem Gladiator gleichen. Denn dieser legt das Schwert, das er fhrt, beiseite und wird getçtet. Jener aber hat seine Faust immer zur Verfgung und braucht nichts anderes zu tun, als sie zu ballen.1022
1018 Siehe auch die Begrenzung auf 9 – 10 Grundstze im Kap. M. Aur. Med. 11, 18. Dem stehen auch wenige Irrwege gegenber, im anschließenden Kapitel 11, 19 sind es vier. 1019 1lb¸basom owm 2aut¹m eQr t± ak¸ca taOta amºlata … pq¹r l´mtoi t¹ lelm/shai t_m amol²tym lec²kyr sukk¶xeta¸ soi t¹ lelm/shai. M. Aur. Med. 10, 8. 1020 M. Aur. Med. 3, 13 (siehe ferner 2, 1; 4, 3; 4, 49. Negativ, von den Folgen des Vergessens handelt z. B. 12, 26). 1021 M. Aur. Med. 3, 14. 1022 M. Aur. Med. 12, 9.
608
4. Logik – Vernunftgebrauch
Doch bis die Grundberzeugungen bestndig zur Hand sein kçnnen, mssen sie wiederholt werden.1023 Die Erinnerbarkeit der entscheidenden Stze kann durch zwei weitere rhetorische Mittel erreicht werden. Sie mssen erstens kurz,1024 mit wenigen Worten formuliert sein.1025 Zweitens mssen sie so formuliert sein, dass sie motivierend wirken. Marc Aurel spricht davon, dass die Grundstze das „Herz ergreifen“ sollen: „Wenn du aber eine gewçhnliche, herzergreifende Regel wnschst (eQ d³ ja· Qdiytij¹m paq²pgcla "xij²qdiom h´keir) …“.1026 Beide Kriterien, leichte Erinnerbarkeit und motivationale Kraft, erfllt insbesondere die Krze des Ausdrucks.1027 Krze ist, nach Marc Aurel, nicht nur naturgemß, sondern die Natur ist das Kriterium fr die Krze. Denn erstens fhrt kein anderer Weg zum Ziel, und zweitens ist mit der Natrlichkeit alles berflssige in Gedanken und Reden ausgeschlossen: Nimm stets den kurzen Weg. Kurz aber ist der Weg, der mit der Natur bereinstimmt; das hat zur Folge, dass du alles auf die gesndeste Weise sagst und tust. Denn ein solcher Vorsatz bewahrt dich vor Großsprecherei, bertreibung, ungenauen Formulierungen und Spitzfindigkeit.1028
Damit ist die Untersuchung bei Marc Aurels Ausfhrungen ber Wortbedeutungen angekommen. Auf der rhetorischen Ebene verbindet sich die Forderung nach Einfachheit1029 mit der nach Offenheit (paqqgs_a)1030 und klaren (d/kor) Gedanken und Reden.1031 Man soll, so Marc Aurel, nicht nur „niemals lgen“,1032 sondern die Rede soll so einfach sein wie die Wahrheiten, die sie ausdrckt, sie soll jat± xik¹m sein.1033 Diese Redeweise wird auch als die gesunde bezeichnet.1034 Die Opposition von Einfachheit und Geknsteltem dient auch zu Un1023 Siehe nochmals M. Aur. Med. 5, 16 wo die Mnemotechnik durch die Metapher des Frbens von Wolle beschrieben wird (siehe Sen. Ep. 71, 31). 1024 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 3 und 5, 1. 1025 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 5. 1026 M. Aur. Med. 9, 3. 1027 „Es sollen aber kurze und elementare Grundstze sein, die dir in dem Moment, in dem sie dir eingefallen sind, ausreichen, jeden Schmerz aufzuheben und dich vom rger ber jene Dinge freizuhalten, denen du dich anschließend wieder zuwenden musst.“ M. Aur. Med. 4, 3. 1028 M. Aur. Med. 4, 51. 1029 Siehe z. B. M. Aur. Med. 8, 5. 1030 Siehe z. B. M. Aur. Med. 11, 6. 1031 Siehe z. B. M. Aur. Med. 1, 14; 2, 15; 3, 4; 8, 1; 9, 1. 1032 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 33. 1033 Siehe M. Aur. Med. 6, 14. 1034 rcie? kºc\ wq/shai (M. Aur. Med. 8, 30 und 4, 51).
4.4 Vernunftgebrauch und Rhetorik
609
terscheidung und Bewertung von Theaterstcken und Stilen, insbesondere den dort verwendeten Sprachformen.1035 Entsprechend rsoniert Marc Aurel ber die Verwendung einzelner Worte und deren Bedeutung.1036 Trotz dieser Reflexion ber Worte und trotz den allgemeinen Bestimmungen ber die Krze und Einfachheit der Wortwahl sind Worte alleine nicht entscheidend, sondern das, was man damit verbindet.1037 Marc Aurels Interesse fr Wortbedeutungen bercksichtigt Konventionalismus, da er darber reflektiert, wie die Worte von der Mehrzahl der Menschen verstanden werden, und es zugleich große Unterschiede im Begriffsverstndnis geben kann.1038 Ihm liegt daran, dass er bestimmten Ausdrcken entspricht, wobei er die Wortbedeutungen fr sich festlegt. 1035 „Nach der Tragçdie wurde die Alte Komçdie eingefhrt, die eine erzieherisch wirkungsvolle Offenheit zeigte und in ihrer sprachlichen Direktheit die Tugend der Bescheidenheit auf geschickte Weise zu Bewusstsein brachte. Deshalb eignete sich auch Diogenes die Sprache der Komçdie an. Wozu nach der Alten die Mittlere und spter die Neue Komçdie eingefhrt wurde, die infolge ihrer Nachahmung (des Lebens) allmhlich zur Knstelei verkam, darber muss man nachdenken. Dass auch von ihren Autoren einiges Ntzliche gesagt wurde, weiß man. Aber welches Ziel hatte die ganze Konzeption einer poetischen und dramatischen Kunst dieser Art?“ M. Aur. Med. 11, 6. 1036 Siehe M. Aur. Med. 7, 13 (siehe auch 2, 1: „Denn wir sind da, um zusammenzuarbeiten, wie die Fße, Hnde, Augenlider oder die Reihen der oberen und unteren Zhne. Gegeneinander zu arbeiten, wre gegen die Natur.“). 1037 „Was die Masse fr gut und wertvoll hlt, kçnntest du folgenden Beobachtungen entnehmen: Wenn nmlich jemand ber tatschlich existierende echte Werte nachdchte, wie z. B. ber Einsicht, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit und Tapferkeit, dann kçnnte er, nachdem er zuvor darber nachgedacht htte, die Wendung ,vor lauter guten Dingen‘ nicht mehr hçren. Sie wird dann nmlich nicht mehr passen. Wenn man aber zuvor an die Dinge gedacht hat, die der Masse als Werte vorschweben, dann wird man sich das Wort des Komçdiendichters anhçren und ohne weiteres als zutreffend hinnehmen. So kann sich auch die Masse den Unterschied vorstellen. Denn sonst wre es nicht mçglich, dass dieses Wort einerseits Anstoß erregte und abgelehnt wrde, und dass wir es andererseits, wenn es auf den Reichtum und auf die dem Luxus oder Ansehen dienenden Glcksgter angewandt wrde, als treffende und witzige Formulierung akzeptieren. Geh nun noch einen Schritt weiter und frage, ob solche Dinge wirklich zu schtzen und als Gter anzusehen sind, auf die man, wenn man sie sich vorgestellt hat, folgendes Wort anwenden kçnnte: Vor lauter berfluss weiß ihr Besitzer nicht mehr, ,wo er hinscheißen soll‘.“ M. Aur. Med. 5, 12. 1038 „Wenn du dich selbst mit Begriffen wie ,gut‘, ,zurckhaltend‘, ,wahrheitsliebend‘, ,klug‘, ,gleichmtig‘ und ,berlegen‘ bezeichnest, dann achte darauf, dass du auch einmal umbenannt werden kannst, und wenn du diese Bezeichnungen verlierst, dann komm schnell zu ihnen zurck. Denk aber auch daran, dass das Wort ,klug‘ das genaue Erfassen aller Einzelheiten und die grndliche berlegung bezeichnet,
610
5. Ethik
Schließlich finden sich einige Kapitel, in denen Marc Aurel, hnlich wie Chrysipp im eingangs zitierten Bericht bei Plutarch, Anweisungen fr den interpersonalen Dialog gibt: „Im Senat und zu jedem anderen maßvoll und sehr klar sprechen, eine gesunde Ausdrucksweise verwenden.“1039 Und wie Chrysipp beschrnkt sich Marc Aurel nicht auf die rein verbale Ebene: „Die Stimme muss von vorneherein einen entsprechenden Klang haben.“1040 Marc Aurels Behandlung des Vernunftgebrauches und dessen Beziehung zu rhetorischen Elementen ist erstaunlich vielfltig. Sie betrifft rein epistemische Prozesse, z. B. Mnemotechnik oder den Selbstdialog, aber auch den Umgang mit anderen Menschen. Damit spielen diese Aspekte auf allen Ebenen seines Denkens eine Rolle. Nach gngigen stoischen Vorstellungen sind sie nicht zentraler Bestandteil der Logik. Fr Marc Aurel sind das Sprechen und dessen Form aber schon insofern zentral, weil er den fhrenden Seelenteil mit Sprache identifiziert: „Denk daran, dass es jene in uns verborgene Macht ist, die uns wie Marionetten bewegt. Jene Macht ist unser Sprechen …“.1041 Nach der nur sehr eingeschrnkt vorhandenen Beschftigung mit der Logik bei Marc Aurel kçnnen nun Themen und Argumente behandelt werden, die sich dem wichtigsten Philosophieteil der Stoa zuordnen lassen: der Ethik.
5. Ethik Die Ethik ist fr die Stoiker ein besonders wichtiger Teil der Philosophie. Stoischer Philosophie geht es um Argumente und theoretische Grundlegungen. Aber Stoiker beschreiben dabei eine bestimmte Lebensform, und kein geringer Teil der Argumente betrifft Aufforderungen, entsprechend zu das Wort ,gleichmtig‘ die freiwillige Hinnahme der Dinge, die dir von der allgemeinen Natur zugewiesen werden, das Wort ,berlegen‘ die Erhebung des denkenden Seelenteils ber die glatte und raue Bewegung des Fleisches, den Ruhm, den Tod und anderes dieser Art. Wenn du dich nun dieser Bezeichnungen als wrdig erweisen willst, ohne dich ausdrcklich darum zu bemhen, von anderen Menschen in diesem Sinne bezeichnet zu werden, dann wirst du ein anderer Mensch sein und in ein anderes Leben eingehen.“ M. Aur. Med. 10, 8. 1039 M. Aur. Med. 8, 30 (siehe ferner 8, 5 und 4, 51). 1040 M. Aur. Med. 11, 15. 1041 L´lmgso fti t¹ meuqospastoOm 1stim 1je?mo t¹ 5mdom 1cjejqull´mom7 1je?mo Ngtoe¸a. M. Aur. Med. 10, 38. Der Text (das letzte Wort) ist umstritten und nicht ganz sicher (siehe die Anmerkungen in Dalfens Apparat).
5. Ethik
611
leben, und die Analyse dieses Lebens und seiner Grundlagen, etwa in Form von Tugenden. Doch gerade diese Bedeutung der Ethik fr ihre gesamte Philosophie, ihre praktische Ausrichtung, erklrt, warum sich die Stoiker ethischen Fragen auch mit besonderer theoretischer Grndlichkeit gewidmet haben. Im Rahmen ihrer Ethik behandeln sie eine außerordentliche Vielzahl von Themen, zu denen sie zum Teil sehr originre Thesen vertreten haben. Neben den einzelnen Themen und Thesen ist insbesondere deren Verknpfung spezifisch stoisch. Schon eine sehr kurze Beschreibung der stoischen Ethik kann dies verdeutlichen: Stoiker nehmen an, dass alle Menschen glcklich sein wollen und dass das Glck fr alle dasselbe und zugleich das Ziel jedes Menschen ist, um dessen willen er alles andere tut. Glcklich ist aber derjenige, der in bereinstimmung mit der Natur lebt, und das heißt, ihr zu folgen. Unter Natur ist sowohl die umfassende allgemeine Natur des Kosmos zu verstehen als auch die eigene Natur des Menschen. Der Natur zu folgen heißt, tugendhaft zu sein. Also ist Tugend dasjenige, was uns glcklich macht. Dem entspricht einerseits die Vorstellung, dass Menschen ein Bestreben haben, der Natur zu folgen und glcklich zu sein, und andererseits die berzeugung, dass nur die Tugend gut ist (weswegen sie glcklich macht) und nur die Untugend schlecht ist. Alles andere ist indifferent. Bei den indifferenten Dingen unterscheidet die Mehrzahl der Stoiker solche, die naturgemß und daher vorzuziehen sind, von denen, die nicht naturgemß und daher eher zu vermeiden sind. Andererseits betonen die Stoiker, dass falsche Vorstellungen ber den Wert von Dingen und Handlungen auch zu unangemessenen Leidenschaften fhren. Wer aufgrund von mangelndem Wissen nicht in bereinstimmung mit der Natur leben kann, wird also beunruhigt und kann nicht erkennen, was eine zukommende und angemessene Handlung ist. Er wird dazu angetrieben, falsch und nicht tugendgemß zu handeln. Die stoische Auffassung von der allgemeinen Natur des Kosmos und der speziellen menschlichen Natur fhrt zur Annahme, dass der Kosmos als Polis aufzufassen ist, in der alle Vernnftigen, mit gleichen Rechten ausgestattet, zusammen und freinander agieren sollen. Schließlich nehmen die Stoiker an, dass nur ein Weiser Wissen, Tugend und damit Glck erreichen kann, whrend alle anderen, und das meint alle real existierenden Menschen, noch Toren sind, die gleichermaßen untugendhaft und daher unglcklich sind. Dabei nehmen die Stoiker zugleich an, dass es so etwas wie moralischen Fortschritt geben kann. Spezifisch an der stoischen Ethik sind daher nicht nur einzelne Theoreme, wie die Gterlehre, sondern auch deren Verbindung. Beide
612
5. Ethik
Momente werden in der Schultradition der Stoa wohl von Anfang an diskutiert. Es gibt dazu aber leider nur drei Hauptfundquellen.1042 Diese Quellen bieten je eine Einteilung von Themen in der Ethik. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine Auflistung, sondern es wird in allen Fllen betont, dass die stoische Ethik systematischen Charakter hat. Dieser systematische Zug wird vor allem mit Chrysipp in Verbindung gebracht.1043 Obschon diese Einteilung zum Teil noch fr heutige Darstellungen verwandt wird,1044 sind die drei Darstellungen nicht ganz einheitlich oder unproblematisch.1045 Diese Einteilung der Ethikthemen ist – anders als die Dreiteilung der Philosophie – auch nicht kanonisch geworden. Bereits in der rçmischen Stoa zeichnet sich bei Seneca1046 und Epiktet1047 erstens eine Reduktion der 1042 Siehe Diog. Laert. 7, 84 – 131; Stob. Ecl. 2, 57 – 116 (im Hintergrund wahrscheinlich Arius Didymus) und Cic. Fin. 3, 16 – 76. Siehe dazu Schofield, M.: Stoic Ethics, in: Inwood, B. (Hg): Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 233 – 256, hier: S. 236 ff., und Long, A. A.: Arius Didymus and the exposition of Stoic Ethics, in: ders.: Stoic Studies, a.a.O., S. 107 – 133. 1043 Siehe besonders zur Ethik Cic. De fin. 3, 74. Insgesamt zur Systematik bei den Stoikern siehe die Quellen Diog. Laert. 7, 199 – 200 (=LS 32 I) und 7, 60 – 62 (=LS 32 C). 1044 So nehmen Long und Sedley sie als Grundlage fr ihre Gruppierung der stoischen Quellen, wobei sie die Einteilung, aber nicht die antike Sequenz akzeptieren. Andere Darstellungen stoischer Ethik weichen davon ab und kçnnen dies auch begrnden (z. B. Brennan, T.: The Stoic Life, a.a.O.). 1045 Schofield etwa vermutet, es handele sich mehr um den Versuch, zwei konkurrierende Systematiken in einer Ordnung zusammenzufassen (vgl. Schofield, M.: Stoic Ethics, a.a.O., S. 237). Weitere Probleme mit der Einteilung werden im Kommentar von Long und Sedley zu LS 56 aufgelistet. 1046 ’„Weil die Philosophie also drei Teile hat, wollen wir zuerst damit anfangen, den ethischen Teil zu gliedern. Fr ihn hat man wiederum eine Einteilung in die Teile festgelegt … Das erste ist nmlich, dass du dir ein Urteil ber den Wert einer jeden Sache bildest, das zweite, dass du fr dein Verlangen danach Ordnung und Maß erreichst, und das dritte, dass zwischen deinem Trieb und deiner Handlung bereinstimmung herrscht, so dass du in allen diesen Fragen mit dir selbst einig bist.“ Diog. Laert. 56 B. 1047 „Es gibt drei Gebiete, in denen der angehende rechtschaffende und gute Mensch gebt sein muss. Das Gebiet des Verlangens und der Aversionen, um sicherzustellen, dass er bekommt, wonach er verlangt, und dass er nicht auf das stçßt, was er zu vermeiden sucht. Das Gebiet der Antriebe und Abneigungen und berhaupt das der zukommenden Funktionen, damit er ordnungsgemß, damit er wohlbegrndet und damit er nicht gedankenlos handelt. Das dritte Gebiet ist das von der Nicht-Tuschbarkeit und Nchternheit und berhaupt von den Zustimmungen. Das wichtigste und dringlichste dieser Gebiete ist das von den Passionen (Leidenschaften). Eine Passion (Leidenschaft) kommt nmlich nur dann auf, wenn ein
5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur)
613
Themen auf drei ab, und zweitens wird weniger das komplizierte Geflecht verschiedener Teile betont, sondern deren Einheit. Diese Einheit kann aber noch als Sequenz, nmlich als erzieherischer Fortschritt aufgefasst werden.1048 Bei Marc Aurel findet sich nicht einmal der Versuch, Ethik-Teile zu unterscheiden und in irgendeine Systematik zu bringen. Das folgende Kapitel wird demnach eine Struktur haben, die nicht auf Marc Aurel selbst zurck geht. Als Einteilung der Themen bieten sich die oben erwhnten gngigen stoischen Einteilungen an, wobei modifiziert werden kann, so dass Schwerpunktsetzungen, die Marc Aurel bei der Behandlung bestimmter Fragen vornimmt, deutlicher werden. Was die Abfolge der Themen angeht, folgt die Darstellung dem gerade erfolgten Abriss der stoischen Ethik. Von der stoischen Formel ausgehend kann die Vorstellung des Zieles und damit des Glckes erlutert werden. Anschließend kann Marc Aurels Auffassung vom Gut bzw. Wert und der Tugend untersucht werden. Auf die Besprechung seiner Behandlung des Handlungsantriebes, der Leidenschaften und positiven Affekte kann dann die Klrung wesentlicher Aspekte von Handlungen selbst folgen. 5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur) Die Stoiker gehen, wie alle antiken Philosophen, davon aus, dass das menschliche Leben ein Ziel hat, nmlich das glckliche Leben: Sie [die Stoiker] sagen, dass glcklich zu sein das Ziel ist, um dessentwillen alles getan wird, das aber selbst nicht um irgendeines anderen willen getan wird. Es besteht darin, tugendgemß zu leben, darin in bereinstimmung zu leben, oder – was dasselbe ist – darin, in bereinstimmung mit der Natur zu leben. Verlangen nicht bekommt, wonach man verlangt, oder eine Aversion auf das stçßt, [was man zu vermeiden sucht]. Dies ist das Gebiet, welches Erschtterungen und Verwirrungen, Missgeschicke und Desaster, Kummer, Wehklagen, Neid … zur Sprache bringt, durch die wir noch nicht einmal in der Lage sind, ein Argument anzuhçren. Das zweite Gebiet ist das von der zukommenden Funktion; ich darf nmlich nicht unempfindlich wie eine Statue sein, sondern muss auch meine natrlichen und erworbenen Beziehungen pflegen, als religiçser Mensch, als Sohn, als Bruder, als Vater, als Brger. Das dritte Gebiet geht diejenigen an, die schon Fortschritte machen, und betrifft die Sicherheit in eben diesen erwhnten Dingen, damit selbst in Trumen oder im Rausch oder in der Depression keine Vorstellung unbemerkt und ungeprft durchschlpfen kann.“ Arr. Epict. diss. 3, 2, 1 – 5 (=LS 56 C). 1048 Siehe Long und Sedley in ihrem Kommentar zu LS 56.
614
5. Ethik
Zenon definierte das Glck folgendermaßen: ,Glck ist ein guter Fluss des Lebens‘. Auch Kleanthes hat in seine Schriften von dieser Definition Gebrauch gemacht, ebenso auch Chrysipp und alle ihre Nachfolger, die sagten, dass das Glck nichts vom glcklichen Leben Verschiedenes ist.1049
Die Stoiker bestimmen das Ziel, das glckliche Leben, durch einschlgige Formeln. Von diesen Formeln gibt das Zitat nur zwei wieder. Es gibt weitere, z. B. die Bestimmung des Glckes als Leben in bereinstimmung mit der Tugend.1050 Bereits aus dem gerade zitierten Bericht von Stobaios ergeben sich einige Aspekte bzw. Fragen, die einerseits eine umfassende und wegen der Quellenlage notorisch schwierige Diskussion ber die frhstoische Position evoziert haben. Neben diesen Debatten, die hier nicht im Detail verfolgt werden kçnnen, sind diese zentralen Aspekte fr den hiesigen Kontext von Belang, da sie helfen kçnnen, die Darstellung der Position von Marc Aurel zu strukturieren und besser einzuschtzen. Interessant sind also folgende Momente: (i) Was meint blokocoul´myr ? (ii) Mit welcher Natur soll in bereinstimmung gelebt werden? (iii) Wie ist das Verhltnis der beiden Formeln? (iv) Was verstehen die Stoiker unter dem glcklichen Leben? Beide Telos-Formeln (‘t¹ blokocoul´myr f/m’ und ‘blokocoul´myr t0 v¼sei f/m’) drften auf Zenon zurckgehen.1051 Einige Autoren argumentieren fr die These, die kurze Formel sei mit der langen Version absolut bedeutungsgleich, weil es sich im ersten Falle um eine elliptische Formulierung handele. Die Forderung, „in bereinstimmung“ zu leben, werde demnach in der lngeren Version nur um die Angabe der Natur als demjenigen ergnzt, mit dem man bereinstimmend leben soll. Wer diese Angabe mit dem blokocoul´myr selbststndig verknpfe und mitdenken kçnne, dem reiche die kurze Version. Fr andere 1049 T´kor d´ vasim eWmai t¹ ox 6meja p²mta pq²ttetai, aqt¹ d³ pq²ttetai l³m oqdem¹r d³ 6meja7 toOto d³ rp²qweim 1m t` jat’ !qetμm f/m, 1m t` blokocoul´myr f/m, 5ti, taqtoO emtor, 1m t` jat± v¼sim /m. Tμm d³ b F¶mym ¢q¸sato t¹m tqºpom toOtom7 eqdailom¸a d’ 1st·m euqoia b¸ou. J´wqgtai d³ ja· Jke²mhgr t` fq\ to¼t\ 1m to?r 2autoO succq²llasi ja· b Wq¼sippor ja· oR !p¹ to¼tym p²mter, tμm eqdailom¸am eWmai k´comter oqw 2t´qam toO eqda¸lomor b¸ou.
Stobaios 2, 77, 16 – 27 (=LS 63 A (1 – 2)). 1050 Siehe Diog. Laert. 7, 87. 1051 Anders nur Stobaios (siehe den Ausschnitt 2, 75, 11 – 76, 8 (=LS 63 B)). Siehe die Argument- und Literaturbersicht bei Steinmetz, P.: Die Stoa, a.a.O., S. 526 f. und 541 f.
5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur)
615
Adressaten scheint die lngere Version prziser zu sein und dabei zu helfen, Missverstndnisse zu vermeiden. Letztgenannte Interpretation scheint u. a. die von M. Forschner prferierte zu sein. Ihm zufolge „wird der Begriff der Homologia dort, wo er eine bedeutende Rolle spielt (wie etwa in Ciceros De finibus III), als gleichbedeutend mit dem Begriff der bereinstimmung mit der Allnatur behandelt.“1052 Forschners Interpretation ist aus drei Grnden zu kritisieren, (a) wegen seiner Interpretation der Cicero-Stelle, (b) seiner Angabe, der Ausdruck blokocoul´myr sei immer als „bereinstimmung mit der Natur“ zu verstehen und (c) der Annahme, mit Physis sei immer Allnatur gemeint. Cicero erwhnt blokoc¸a nicht nur als Kurzformel fr die „bereinstimmung mit der (All-)Natur“, sondern auch als Ordnung und Konsistenz.1053 Der Ausdruck blokoc¸a und damit die kurze Variante kann eigenstndig sein. M. Frede hat darauf anhand genau dieser Cicero-Passage hingewiesen: But it does spring to mind that Zeno also talked of ‘homologia’ tout court – that is, of consistency, as what we should aim at – assuming, it seems, that being consistent and acting in accordance with nature amounted to the same thing, since the only way to be consistent is to act in accordance with nature. It is also conspicuous that Cicero does not talk of concord and agreement with nature, but simply of concord and of agreement or consistency. And when he talks of the order and the concord of appropriate actions, he is naturally understood to refer, not to the agreement of the actions with nature, but rather to their internal order and consistency. Moreover, it is natural to 1052 Forschner, M.: Die stoische Ethik, 2. Aufl., Darmstadt 1995. 1053 Cic. Fin. 3, 20 – 21: primum est officium – id enim appello jah/jom —, ut se conservet in naturae statu, deinceps ut ea teneat, quae secundum naturam sint, pellatque contraria. qua inventa selectione et item reiectione sequitur deinceps cum officio selectio, deinde ea perpetua, tum ad extremum constans consentaneaque naturae, in qua primum inesse incipit et intellegi, quid sit, quod vere bonum possit dici. prima est enim conciliatio hominis ad ea, quae sunt secundum naturam. simul autem cepit intellegentiam vel notionem potius, quam appellant 5mmoiam illi, viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam, multo eam pluris aestimavit quam omnia illa, quae prima dilexerat, atque ita cognitione et ratione collegit, ut statueret in eo collocatum summum illud hominis per se laudandum et expetendum bonum, quod cum positum sit in eo, quod blokoc¸am Stoici, nos appellemus convenientiam, si placet,—cum igitur in eo sit id bonum, quo omnia referenda sint, honeste facta ipsumque honestum, quod solum in bonis ducitur, quamquam post oritur, tamen id solum vi sua et dignitate expetendum est; eorum autem, quae sunt prima naturae, propter se nihil est expetendum.
616
5. Ethik
understand the order to consist in the way these actions are related to each other in such a way as jointly to favour the survival of the individual, if not in a more complex ordering according to which some ‘officia’ are basic and others more and more derivative. Also, surely it is no accident that when Cicero describes the emergence of the pattern of behaviour, reflection on which leads to the discovery of the good, it is characterized by the fact that the person becomes more and more consistent and unwavering in his choices. In any case, the fact that Zeno also sometimes defines the end as ‘living consistently [homologoumen s zÞn] guarantees that ‘consistency’ too, is a legitimate Stoic answer as to why one should act appropriately or according to nature. And so the person, having come to act consistently, may well, on reflection upon his pattern of behaviour, come to think that it was good to behave this way if one did it for the reason that in this way one maintained consistency in one’s behaviour.1054
Darber hinaus gibt es andere Quellen, die die Deutung untersttzen, blokoc¸a meine Konsistenz: Zenon gab das Ziel so wieder: ,in bereinstimmung leben‘. Das heißt: in bereinstimmung mit einem einzigen, zusammenklingenden Vernunftprinzip; denn die, welche im Konflikt leben, sind unglcklich.1055
Das Zitat enthlt zwei Besttigungen, nmlich eine direkte, indem blokoc¸a als bereinstimmung mit einem einzigen kºcor, der harmonisch ist, verstanden wird. Die andere ist indirekt, weil Menschen, die im Konflikt leben, als unglcklich bezeichnet werden.1056 In beiden Fllen fehlt eine Referenz zur Natur. Fhrt diese Deutung von blokoc¸a nun zur Annahme, die beiden Telos-Formeln laufen doch nicht auf dasselbe hinaus, sondern stellen eine Entwicklung dar, derzufolge die lngere Version die sptere ist und eine 1054 Frede, M.: On the Stoic Conception of the Good, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, a.a.O., S. 82. 1055 Das vollstndige Zitat lautet: T¹ d³ b l³m ovtyr !p´dyje7 ‘t¹ blokocoul´myr f/m’7 toOto d’ 1st· jah’ 6ma kºcom ja· s¼lvymom f/m, ¢r t_m lawol´myr f¾mtym jajodailomo¼mtym. OR d³ pqosdiaqhqoOmter ovtyr 1n´veqom ‘blokocoul´myr t0 v¼sei f/m’ rpokabºmter 5kattom eWmai jatgcºqgla t¹ rp¹ toO F¶mymor Ngh´m. c±q pq_tor diaden²lemor aqtoO tμm aVqesim pqos´hgje ‘t0 v¼sei’ ja· ovtyr !p´dyje7 ‘t´kor 1st· t¹ blokocoul´myr t0 v¼sei f/m’. npeq b sav´steqom boukºlemor poi/sai, 1n¶mecje t¹m tqºpom toOtom7 ‘f/m jat’ 1lpeiq¸am t_m v¼sei sulbaimºmtym’. Stobaios 2, 75, 11 – 76, 8 (=LS 63 B). Wenn Stobaios ber die lngere Version schreibt, „Zenons Nachfolger verdeutlichten dies weiter … wobei sie annahmen, dass das von Zenon Gesagte ein unvollstndiges Prdikat sei“, gibt er offensichtlich eher seine Meinung wieder. 1056 Siehe dazu auch Arr. Epict. diss. 2, 26, 1.
5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur)
617
evtl. notwendige Erweiterung oder nderung der stoischen Position darstellt?1057 Das Problem stellt sich nur, wenn man die Bedeutung von blokoc¸a in der kurzen Version als eine rein formale Konsistenz ansieht. Demzufolge wrde die kurze Version etwas Formales zum Kriterium machen, whrend die lngere Variante mit der Natur ein Objekt zum inhaltlichen Orientierungspunkt fr das Leben nennt. In der Tat ist es zunchst fraglich, warum beide Formeln nur eine Lebensfhrung beschreiben sollten: „It is evident neither that following nature will lead to a harmonious life nor that consistency and harmony could be achieved only by following nature.“1058 Wie also kann es sein, dass die beiden Formeln zwar einerseits unterschiedliche Aspekte betonen, aber beide andererseits erstens dieselbe Art von Glck und gelingendem Leben beschreiben und dabei zweitens einander nicht notwendig als Ergnzung bedrfen, um das eine Ziel zu beschreiben?1059 Die Frage soll von der krzeren und evtl. auch frheren Formel aus beantwortet werden. Da die lngere Formel die auch in der Antike verbreitetere war, scheint es sinnvoll zu sein zu zeigen, dass die krzere eigenstndig ist und ohne Hinzunahme der lngeren dasjenige Lebensziel beschreiben kann, das auch die lngere meint. Damit wird man, wie erwhnt, nur dann Probleme haben, wenn man die Bedeutung von blokoc¸a in der krzen Formel rein formal versteht und damit insbesondere von der Physik ganz trennt. Es spricht allerdings einiges fr die These, dass das nicht von den Stoikern gemeint sein kann. Die kurze Formel ist mit den sokratisch-kynischen Wurzeln der Stoa in Verbindung gebracht worden.1060 Naheliegend wre auch eine Referenz auf Platon, insbesondere auf die Politeia. 1061 1057 Eine andere Variante des Gedankens, dass die beiden Formeln unterschiedliche Positionen in der Entwicklung Zenons markieren, stammt von Rist. Fr ihn ist die kurze Variante Ausdruck der kynischen Orientierung des jngeren Zenons, der mit der lngeren Version davon abrcke und so die eigentliche stoische Position markiere (Rist, J. M.: Zeno and Stoic Consistency, in: Phronesis 22 (1977), S. 161 – 172). 1058 Striker, G.: Following Nature: A Study in Stoic Ethics, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 9 (1991), S. 1 – 73, hier: S. 4. 1059 Die berwiegende Anzahl an Quellen betont genau diese Kohrenz der beiden Formeln. 1060 Siehe Steinmetz, P.: Die Stoa, a.a.O., S. 526, und Rist, J. M.: Zeno and Stoic Consistency, a.a.O.
618
5. Ethik
Auffllig ist, dass im Rahmen der Erçrterung der Bedeutung der stoischen Formeln zwar – zu Recht – auf Sokrates verwiesen wird, aber einige Autoren die stoische Heraklit-Rezeption gerade hier nicht erwhnen.1062 Die große Bedeutung Heraklits fr die Stoiker hat A. A. Long nachgewiesen.1063 Obschon seine Untersuchung vorrangig Kleanthes gilt, ist sie in zweierlei Hinsicht fr die hiesigen Belange relevant. Denn erstens hat Kleanthes generell auf alle anderen Stoiker gewirkt,1064 und zweitens weist A. A. Long im letzten Absatz seiner Studie besonderes eindrcklich darauf hin, dass speziell Marc Aurel der zweite Stoiker ist, der Heraklit in großem Maße rezipiert hat.1065
1061 Einerseits wird dort eine bestimmte Konsistenz des Verhaltens durch die vereinheitlichende Kraft der Gerechtigkeit in der Seele erzeugt. Aber andererseits geht Platon dabei, ganz anders als die Stoiker, davon aus, dass die Seele nicht materiell ist und einen irrationalen Teil hat. Die Stoiker kçnnen daher auf Sokrates zurckgehen, der (gerade auch in den dialogischen Darstellungen Platons) im Rahmen seines elenktischen Verfahrens auf Konsistenz wert legt. Fr Sokrates indizieren inkonsistente Aussagen zum einen, dass jemand, der sich selbst tuscht, keine Selbsterkenntnis hat, kein Fachmann oder auch Weiser sein kann. Zum anderen scheint er der berzeugung zu sein, dass die Vermeidung von Inkonsistenzen ein gangbarer Weg zur Weisheit ist. Zu diesem Zusammenhang von stoischer und platonischer sowie sokratischer Inkonsistenz-Konzeptionen siehe Frede, M.: On the Stoic Conception of the Good, a.a.O., S. 82 f. 1062 Siehe die gerade erwhnten Arbeiten von Rist, Steinmetz und Frede. 1063 Siehe Long, A. A.: Heraclitus and Stoicism, in: ders.: Stoic Studies, a.a.O., S. 35 – 57. Long wendet sich damit zu Recht gegen eine Reihe von lteren Auffassungen, denen zufolge Heraklit und die Stoa nicht zusammenpassen oder -gehçren. Allerdings hat bereits O. Gigon in einer Reihe von Arbeiten, die in der Regel von Heraklit ausgehen, den Zusammenhang klar gesehen: „Aber dass die Stoa gewisse Anschauungen, die an solche Heraklits anklingen, in ihr System hat aufnehmen kçnnen, widerlegt noch nicht gengend die Mçglichkeit, dass jene Anschauungen sich wirklich bei Heraklit fanden.“ Gigon, O.: Der Ursprung der griechischen Philosophie, a.a.O., S. 215 (siehe auch bereits ders.: Untersuchungen zu Heraklit, a.a.O.). 1064 „Kleanthes’ interest in Heraclitus, probably stimulated by Zeno, was so strongly imprinted in what he wrote that later Stoics inevitably accepted Heraclitus as precursor of comparable stature to Socrates or Diogenes of Sinope. Thus the Stoics themselves helped to propagate that confused amalgam of Stoic and Heraclitean notions which permeates the later Greek tradition of the history of philosophy.“ Long, A. A.: Heraclitus and Stoicism, in: ders.: Stoic Studies, a.a.O., S. 35 – 57, hier: S. 56. 1065 Siehe ebd., S. 56 f.
5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur)
619
Statt einer umfassenderen Erçrterung1066 dieser Rezeption ist hier auf zwei auch von Long gar nicht oder nur unzureichend erwhnte Aspekte hinzuweisen, die die Stoiker mit Heraklit verbinden und die helfen, die Bedeutung der kurzen stoischen Telos-Formel und ihr Verhltnis zur lngeren zu klren, und zwar (i) die Bedeutung des Wortes kºcor bei Heraklit und (ii) bestimmte Aufforderungen, die der praktischen Orientierung der stoischen Telos-Formeln sehr nahe kommen. Ad (i). Heraklit war der erste reflektierende Philosoph, er dachte ber das Denken nach. Denn mit kºcor bezeichnet Heraklit nicht nur ein monistisches Prinzip der Welt, etwas, das alles bestimmt,1067 sondern auch etwas, das Menschen haben.1068 Und fr diese letztgenannte Bestimmung sind Aspekte wie Harmonie, Konsistenz und allgemeine Beziehungen zentral.1069 Ferner meint Heraklit, dass es eine Korrespondenz des kºcor der menschlichen Seele mit dem kosmischen kºcor geben soll. Und diese Korrespondenz bezeichnet er u. a. als syvqome?m.1070 Damit verwendet er genau die Vokabel, die auch Zenon im Bericht von Stobaeus verwendet, wenn er die Homologie erlutert.1071 Ad (ii). In einigen Fragmenten erwhnt Heraklit, dass man dem Allgemeinen oder der Wahrheit folgen oder entsprechend handeln soll.1072 1066 Siehe fr eine ausfhrliche entsprechende Heraklit-Interpretation van Ackeren, M.: Heraklit, a.a.O. 1067 Siehe z. B. Heraklit DK 22 B 1, 30 – 31. 1068 Siehe z. B. Heraklit DK 22 B 39, 45, 113, 115 und 116. 1069 Heraklit bekrftigt, dass die korrekte Ausdrucksform des Logos eine Bercksichtigung des Verhltnisses der Dinge zueinander einschließen muss oder sogar erst dadurch zustande kommt: „Auch ist unbersehbar, dass hier die herakliteische Vorstellung ,nach seiner Natur ein jegliches zerlegend‘ die Konzeption der platonischen Dialektik beeinflussen wird: ,zerlegen‘ (diaiqe?m) und ,zusammenfhren‘ (sumacyce?m) sind hier Schlsselbegriffe einer Betrachtungsweise, fr die die begrifflichen Gehalte nicht isoliert im logischen Raum stehen, sondern in oder gar als Beziehungen aufgebaut werden.“ Graeser, A.: Heraklit, in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. Antike, Stuttgart 1993, S. 46. 1070 „Verstndiges Denken ist hçchste Tugend, und die Weisheit ist, Wahres zu sagen und zu tun nach dem Wesen der Dinge, auf sie hinhorchend.“ syvqome?m !qetμ lec¸stg, ja· sov¸g !kgh´a k´ceim ja· poie?m jat± v¼sim 1paýomtar. Heraklit DK 22 B 112. 1071 Siehe nochmal Stobaios 2, 75, 11 – 76, 8 (=LS 63 B) bzw. vgl. mit Herkalit DK 22 B 50. 1072 Siehe DK 22 B 2 und 112 (siehe zu den praktischen Aspekten der Philosophie Heraklits van Ackeren, M.: Heraklit, a.a.O., Kap. 5).
620
5. Ethik
Konsistenz und Korrespondenz mit einem monistischen Prinzip oder allgemein der Physis, sind also bereits bei ihm Bestimmungsmerkmale von Tugend und Signum von Praxis. Vor diesem Hintergrund lsst sich der blokoc¸a der kurzen TelosFormel der Stoiker neben der vermeintlich nur formalen Bedeutung (Konsistenz) ein weiterer Sinn abgewinnen, demzufolge die Formel erstens fr sich alleine stehen kann und zweitens dennoch auf dasselbe wie in der lngeren Fassung hinaus luft. Fr die Stoiker ist die bereinstimmung mit einem vernnftigen harmonischen kºcor nicht nur eine Frage der formalen Konsistenz. Da sie mit dem kºcor auch das aktive Prinzip meinen, das alles bestimmt, ist ein Leben in bereinstimmung mit dem Logos auch notwendig ein Leben in bereinstimmung mit der Natur. Aber es gilt auch der umgekehrte Fall: Wer in bereinstimmung mit der Natur lebt, lebt auch in bereinstimmung mit der Vernunft, die die Natur bestimmt. Daher ist die kurze Formel eigenstndig, und wer mit der Natur in bereinstimmung leben mçchte, kann sich auch an der ersten orientieren. Nur vor dem Hintergrund der stoischen Prinzipienlehre ist aber verstndlich, warum die beiden Telos-Formeln zwar nicht notwendig dasselbe meinen, aber auf dasselbe hinaus laufen. Damit ist auch schon ein entscheidender Hinweis gegeben, der hilfreich ist, um die Frage zu beantworten, was mit der Natur gemeint ist, mit der in bereinstimmung gelebt werden soll. Was also meint die zweite, etwas lngere Telos-Formel genau? Diogenes Laertius gibt eine Erklrung von Chrysipp wieder: … unsere eigenen Naturen sind Teile der Natur des Ganzen. In bereinstimmung mit der Natur zu leben kommt deshalb als Endziel heraus, nmlich sowohl in bereinstimmung mit der Natur von einem selbst als auch in bereinstimmung mit der Natur von allem … Unter der Natur aber, in bereinstimmung mit der man leben soll, versteht Chrysipp sowohl die allgemeine als auch insbesondere die menschliche Natur.1073
Es muss betont werden, dass es nicht ausreichend ist, unter Physis die Allnatur zu verstehen und dabei anzumerken, dass die spezielle menschliche Natur ein Teil davon sei. Diogenes betont, dass mit Physis sowohl die allgemeine Natur als auch die spezielle Natur gemeint ist. Dass die beiden Referenzobjekte der beiden Bestimmungen in einer Teil-Ganzes-Relation 1073 Diog. Laert. 88 – 89 (=LS 63 C (3 – 5)). Diogenes berichtet weiter (direkt im Anschluss): „Kleanthes dagegen lsst allein die allgemeine Natur als diejenige zu, der man folgen soll, und nicht lnger die partikulre.“
5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur)
621
stehen, macht den Hinweis nicht berflssig. Die lngere Telos-Formel enthlt also zwei Bestimmungen, wobei wiederum betont wird, dass ein Endziel dabei herauskommt. Die Untersuchung Marc Aurels wird diese erste Einschtzung besttigen und zeigen, inwiefern er diese stoische Position untersttzt. Zuvor ist aber noch auf die Bestimmung des Glckes als Ziel des Lebens einzugehen. Die Stoiker unterscheiden sich von anderen griechischen Philosophiestrçmungen nicht durch die Angabe des Glckes als Ziel des Lebens, weil man alles um seinetwillen tut, sondern durch ihre Auffassung davon, was das Glck ausmacht. Die stoische Lehre vom Glck kann als Zusammenfassung anderer Themen, die sie im Rahmen ihrer Ethik abhandeln, verstanden werden. Fr die Bezeichnung des Zieles kennen die Stoiker neben den beiden erwhnten Formeln noch die, wie sie meinen, quivalente Beschreibung des tugendgemßen Lebens.1074 Das Glck ist daher das gemeinsame Ziel aller Tugenden, auch wenn sie es auf verschiedene Weisen erreichen.1075 Die Rolle der Tugenden ist deswegen von so herausragender Bedeutung fr das Glck, weil gemß der stoischen Gterlehre, die Tugend und nur die Tugend ein Gut ist. Andere Beschreibungen reihen viele Aspekte auf, so gibt Cicero folgende Verteidigung der stoischen Ethik wieder: Eine Eigentmlichkeit des Weisen ist nmlich, nichts zu tun, was er bereuen kçnnte, nichts gegen seinen Willen zu tun, sondern alles großartig, bestndig, wrdig und rechtschaffen zu tun, nichts so zu erwarten, als werde es sicher eintreten, von nichts, wenn es geschieht, schockiert zu werden unter der Vorstellung, es ereigne sich etwas Unerwartetes und Neues, alles auf sein eigenes Urteil zurckzubeziehen, bei seinem Urteil zu bleiben. Etwas Glcklicheres kann ich mir nicht vorstellen. .. . Darauf folgt notwendig, dass das glckliche Leben in der Macht dessen steht, in dessen Macht das hçchste Gut steht. Das Leben des Weisen ist daher immer glcklich.1076
1074 Siehe ebd. 1075 Siehe Stobaios’ Bericht: „genauso setzten auch alle Tugenden sich zum Ziel das Glcklichsein, welches darin besteht, in bereinstimmung mit der Natur zu leben; sie erreichen das Ziel aber jeder auf eine andere Art.“ Stobaios 2, 66, 14 – 67, 4 (=LS 63 G). 1076 Cic. Tusc. 5, 81 – 82 (=LS 63 M (1 – 2 und 4)). Siehe dazu auch Ciceros Bericht: „Meiner Meinung nach sind tugendhafte Leute auch hçchst glcklich.“ Cic. Tusc. 5, 40 (=LS 63 L (1)).
622
5. Ethik
Dieser kurze Ausschnitt verdeutlicht, dass die stoische Vorstellung vom Glck aus einer ganzen Reihe von spezifischen Auffassungen resultiert.1077 So erwhnt das Zitat ber (i) die Tugenden und (ii) die Gterlehre hinaus (iii) die grundstzliche Bedeutung der Vorstellungen und Urteile, (iv) der richtigen und zukommenden Handlungen und Handlungsabsichten, bei (v) gleichzeitigem Wissen, das Handlungsziel kçnne nicht erreicht werden, (vi) die Bedeutung der Frage nach den Leidenschaften und (vii) der Frage nach der Erreichbarkeit und Bestndigkeit des Glckes. Bedenkt man darber hinaus die Implikationen der Telos-Formeln, dass das glckliche Leben der menschlichen Natur gemß sein muss, und die stoische Auffassung von Handlungen, derzufolge der Antrieb wesentlich fr das Handeln und bestimmte Antriebe spezifisch fr den Menschen sind, kann die Liste erweitert werden, und zwar um (viii) die Antriebe. Der teleologische Charakter der stoischen Glckskonzeption umfasst demnach die zentralen Themenbereiche der stoischen Ethik und kann so nochmals die Einteilung des vorliegenden Ethikkapitels besttigen. Daraus ergibt sich auch, dass Marc Aurels Vorstellungen ber das Glck nur im Rahmen der verschiedenen Teilkapitel zur Ethik in Spezifitt deutlich werden. Das ist durchaus im Einklang mit der stoischen Tradition. Denn wie auch A. A. Long und D. Sedley in ihrem Kommentar zu den stoischen Texten zum Ziel und dem Glck feststellen, sind detaillierte und vor allem eigenstndige Auffassungen der Stoiker nicht berliefert.1078 Was fr das Glck gilt, trifft nicht auf die Telos-Formeln zu. Nun soll dargestellt werden, ob Marc Aurel von der traditionellen stoischen Bestimmung abweicht. Auffllig ist zunchst, dass Marc Aurel von den Telos-Formeln in beiden bekannten Varianten (blokocoul´myr f/m und blokocoul´myr t0 v¼sei f/m) keinen Gebrauch macht. Es findet sich berhaupt nur eine Stelle, in der er das Wort blokocoul´myr gebraucht, und zwar zur Charakterisierung der Menschen, auf deren Meinung man zhlen kann. Marc 1077 Siehe auch Sen. Ep. 92, 3. 1078 Siehe den Kommentar von Long und Sedley zu LS 63.
5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur)
623
Aurel erinnert sich, „dass man aber auf die Meinung aller Menschen keine Rcksicht nehmen darf, sondern nur auf die Meinung der Menschen, die in bereinstimmung mit der Natur leben.“1079 Es finden sich aber zahlreiche Kapitel, in denen er von naturgemßem Fhlen, Denken und Handeln spricht.1080 Wie ist dieses Ungleichgewicht bei den Nennungen zu erklren? Drei Deutungen scheinen mçglich: Erstens Marc Aurel erwhnt blokocoul´myr sehr viel seltener als den Bezug zur Natur, weil er der Bedeutung der kurzen stoischen Formel (blokocoul´myr f/m) in ihrem eigenstndigen Sinne als Konsistenz weniger Gewicht einrumt als der Orientierung an der Natur. Dieser Interpretation nach wre Rationalitt als widerspruchsfreie Ordnung fr ihn nicht sonderlich wichtig. Zweitens M. Forschner hat dafr pldiert, dass die beiden Varianten der blokocoul´myr-Formeln, anders als die Forderung, ein Leben jat± v¼sim zu fhren, vorrangig einen Bezug zur Allnatur htten, whrend die jat± v¼sim-Formel immer auf die spezielle Natur des Menschen rekurriere und nie die Allnatur meine.1081 In Anlehnung an diese Deutung kçnnte man fragen, ob auch Marc Aurel die Allnatur zum vorrangigen oder gar alleinigen Orientierungspunkt erklren mçchte? Drittens Es kçnnte sich einfach um eine elliptische Formulierung handeln.1082 Marc Aurel drckt dieser Interpretation zufolge keine inhaltliche Gewichtung aus, wenn er blokocoul´myr nur einmal erwhnt. Gegen die Interpretation (i), dass Marc Aurel auf Konsistenz bei der Bestimmung des glcklichen Lebens weniger Wert legt, sprechen eine ganze Reihe von Kapiteln. Denn bereits im ersten Buch wird die Ordnung von Leitideen1083 hervorgehoben und gute Ordnung wird auch bei Pius gelobt.1084 Die Bedeutung der Konsistenz fr das Glck wird ferner in 1079 !kk± t_m blokocoul´myr t0 v¼sei bio¼mtym lºmym. M. Aur. Med. 3, 4. 1080 Siehe z. B. M. Aur. Med. 1, 9; 3, 9; 3, 12; 4, 1; 5, 3; 5, 4; 7, 11; 7, 56; 7, 74; 8, 29; 10, 33; 12, 1. 1081 „Die Rede vom jat± v¼sim b¸or im Unterschied zum blokoco¼lemor b¸or bezieht sich eindeutig auf die menschliche Natur.“ Forschner, M.: Die stoische Ethik, a.a.O., S. 217. 1082 So etwa auch Sellars, J.: The Art of Living, a.a.O., S. 150. 1083 Siehe M. Aur. Med. 1, 9. 1084 Siehe M. Aur. Med. 1, 26.
624
5. Ethik
anderen Kapiteln betont: „Unter ,Ausgeglichenheit‘ verstehe ich nichts anderes als ,innere Ordnung‘.“1085 Die Bezeichnung Ordnung verwendet Marc Aurel fr die Abfolge von Handlungen sowie fr die Beziehung bzw. Abfolge von Vorstellungen. Marc Aurel betont, dass der Mensch sich schdigt, wenn er seine Aktivitten und Absichten nicht auf ein bestimmtes Ziel richtet, sondern planlos und inkonsequent handelt, obwohl es doch notwendig ist, dass selbst das Unbedeutendste zu einem bestimmten Zweck geschieht. Das Ziel aber aller vernnftigen Lebewesen ist es, der Vernunft und dem Gesetz des ltesten und ehrwrdigsten ,Staates‘ zu folgen.1086
Hier verwendet Marc Aurel die fr die stoischen Formeln typischen Ausdrcke t]kor und sjop|r,1087 um die praktische Ordnung der Ttigkeiten zu einander durch die Relation zu einem einzigen Ziel, das selber wieder durch die Natur bestimmt ist, zu beschreiben. Damit stehen die zahlreichen Aufforderungen, nicht planlos zu handeln, in Verbindung.1088 Marc Aurel verwendet diese Ausdrcke aber nicht nur zur Kennzeichnung einer geordneten Praxis, sondern auch fr die Beschreibung der seelischen, weil epistemischen Seite, womit er den beiden Aspekten der Konsistenz, die auch die frheren Stoiker als Homologie aufgefasst haben, Ausdruck verleiht. Wie die Ordnung von Handlungen wird auch diejenige von Vorstellungen als Abfolge verstanden, die durch die gemeinsame Ausrichtung der Vorstellungen auf ein Ziel konsistent wird. Die Elemente der Abfolge sind so auf einen Orientierungspunkt und auch in Beziehung zu einander geordnet: „Man muss also sowohl das Planlose als auch das Zwecklose in der Abfolge seiner Vorstellungen vermeiden“.1089 Dass Marc Aurel die Konsistenz hier vorrangig unter dem Aspekt der Koordination auf ein Ziel hin thematisiert, besttigt andere Einschtzungen zur stoischen Ethik. Eine Bndelung auf ein Ziel wird auch fr die Tugenden festgestellt.1090 1085 tμm d³ eql²qeiam oqd³m %kko k´cy C eqjosl¸am. M. Aur. Med. 4, 3. 1086 ftam pq÷n¸m tima 2aut/r ja· bqlμm 1p’ oqd´ma sjop¹m !vi0, !kk’ eQj0 ja· !paqajokouh¶tyr btioOm 1meqc0, d´om ja· t± lijqºtata jat± tμm 1p· t¹ t´kor !mavoq±m c¸meshai7 t´kor d³ kocij_m f]ym t¹ 6peshai t` t/r pºkeyr ja· pokite¸ar t/r pqesbut²tgr kºc\ ja· hesl`. M. Aur. Med. 2, 16. 1087 Siehe z. B. Stobaios 2, 7716 – 27 (=LS 63 A (3)). 1088 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 17. 1089 M. Aur. Med. 3, 4. 1090 So schreibt Stobaios: „Alle Tugenden, die Wissenschaften und Knste sind, teilen ihre Theoreme und haben, wie gesagt, ein Ziel. Wer nmlich eine von ihnen hat,
5.1 Das Ziel: Ein Leben in bereinstimmung (mit der Natur)
625
Fr Marc Aurel hngt das Glck ganz vom fhrenden Seelenteil ab, wobei er es als einen Zustand desselben bestimmt: „Glck ist ein guter gçttlicher Geist oder ein gutes leitendes Prinzip.“1091 Daher berrascht es nicht, dass sich die Konsistenz nicht nur auf die Ordnung von Handlungen bezieht, sondern auch auf die Vorstellungen und Urteile. Die Konfliktfreiheit des fhrenden Seelenteils wird von Marc Aurel vorrangig als fehlende Behinderung gedeutet. Der fhrende Seelenteil hat die Fhigkeit, sich nicht durch die ußeren Dinge und anderes behindern zu lassen. Marc Aurel betont jedoch die Mçglichkeit, dass das Hegemonikon mit sich selbst in Konflikt gert1092 oder aber mit sich selbst frei und selbstbestimmt umgeht, „sich seine eigene Richtung gibt, und sich selbst zu dem macht, was er jeweils will …“.1093 Die Frage, ob Marc Aurel sich strker an der bereinstimmung mit der allgemeinen als der spezifisch menschlichen Natur orientiert, ist eindeutig zu beantworten. Eine solche Fokussierung auf die allgemeine Natur wrde berraschen, schon weil Marc Aurel der Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur bzw. anthropologischen Themen doch sehr viel Raum gibt.1094 Die menschliche Natur wird nicht signifikant seltener erwhnt als die Allnatur. Mich beschftigt nur das eine, dass ich selbst nichts tue, was die spezifische Verfassung des Menschen nicht erlaubt oder wie sie es nicht erlaubt oder was sie jetzt nicht erlaubt.1095
Marc Aurel thematisiert einerseits, dass sich die spezifische Natur des Menschen zur kosmischen Allnatur wie ein Teil zum Ganzen verhlt.1096 Andererseits macht er in vielen Kapiteln deutlich, dass beide Naturen einen Orientierungspunkt darstellen.1097 Das Verhltnis von ußerer, allgemeiner Natur und innerer Verfasstheit thematisiert Marc Aurel auch als Problem der Abhngigkeit von Ordhat sie alle; und wer in bereinstimmung mit einer handelt, handelt in bereinstimmung mit allen.“ Stobaios 2, 63, 6 – 24 (=LS 61 D). 1091 Siehe M. Aur. Med. 7, 17 (siehe auch 2, 17). 1092 Das Hegemonikon, schreibt er, ist „nicht zu stçren und zu behindern, falls es sich nicht selbst stçrt oder behindert.“ (M. Aur. Med. 7, 16). Zur Selbstzufriedenheit des Hegemonikons siehe auch M. Aur. Med. 8, 48. 1093 Siehe M. Aur. Med. 6, 8 (siehe auch 7, 16 und 7, 55). 1094 Siehe rckblickend Kap. II 3. 1095 M. Aur. Med. 7, 20. 1096 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 9 oder 5, 24. 1097 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 25; 6, 48; 7, 55; 11, 13; 12, 31.
626
5. Ethik
nungen, nmlich der ußeren und inneren.1098 Die Frage nach der Bedeutung der jat± v¼sim-Formel fhrt so noch einmal zurck zur Bedeutung der bereinstimmung als Ordnung, Konsistenz. Die Aufforderung, gemß der Natur zu leben, bezieht sich sowohl auf die allgemeine Natur als auch auf eine je ausschlaggebende spezielle Natur: „geh ohne Umweg auf dein Ziel zu, indem du deiner individuellen und der allgemeinen Natur folgst. Aber beide haben nur einen Weg.“1099 Damit drckt Marc Aurel aus, was spter auch Diogenes Laertius formulieren wird: In bereinstimmung mit der Natur zu leben, kommt deshalb als das Endziel heraus, nmlich sowohl in bereinstimmung mit der Natur von einem selbst als auch in bereinstimmung mit der Natur von allem insgesamt.1100
Auch bei der Bestimmung des Glckes ist Marc Aurel nicht ganz auf eine kosmische Perspektive zu reduzieren.1101 Der „point of view of the cosmos“1102 ist demnach nicht die einzige oder allein entscheidende Perspektive. Die perspektivische Vielfalt, die in etwa schon bei der Behandlung der analytischen Methode klar wurde, zeigt sich nun auch in der Ethik. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr die Philosophieteile auch bei Marc Aurel ineinandergreifen und ihre Theoreme sich beeinflussen. So hat etwa Marc Aurels Auffassung vom Zusammenhang aller Dinge im Kosmos Auswirkungen auf seine Vorstellung vom Menschen als einem Gemeinschaftswesen, die ihrerseits einen großen Einfluss auf die Ethik hat. Die folgenden Abschnitte zur Ethik werden daher stark auf bisherige Kapitel der Untersuchung aufbauen. 5.2 Gter, Nutzen und Gutes Plutarch gibt folgenden Passus aus Chrysipps Physikalischen Thesen wieder: ,Es gibt keinen anderen oder angemesseneren Weg, sich der Lehre von den Gtern und den beln oder den Tugenden oder dem Glck zu nhern, als von der allgemeinen Natur und der Verwaltung der Welt her.‘ Ein Stck weiter 1098 Siehe M. Aur. Med. 4, 27 (siehe auch 7, 28). 1099 M. Aur. Med. 5, 3. 1100 Siehe nochmals Diog. Laert. 7, 87 – 89 (=LS 63 C). 1101 So aber – zumindest tendenziell – Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 185 ff., 251 ff.; hnlich Sellars, J.: The Art of Living, a.a.O., S. 153. 1102 Sellars, J.: The Art of Living, a.a.O., S. 153.
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
627
heißt es: ,Die Lehre vom Guten und Schlechten muss daran nmlich angefgt werden, weil es keinen anderen Ausgangs- oder Bezugspunkt fr die Theorie der Natur gibt und keiner anderen Absicht willen anzueignen ist als zum Zweck der Unterscheidung guter und schlechter Dinge.‘1103
Hier werden fnf wichtige Momente der stoischen Ethik miteinander in Beziehung gesetzt: die Lehre vom Guten und Schlechten, dann diejenige ber die Gter, die Tugend, die Vorstellung vom Glck und der allgemeinen Natur. Letztere wird zum Ausgangspunkt fr die weiteren berlegungen erklrt. Und da Glck nur angemessen beschrieben und verstanden werden kann durch die Tugend, die Gterlehre und die Auffassung vom Guten und Schlechten, sind diese drei Momente in den folgenden Abschnitten zu behandeln. Folgende Grnde sprechen dafr, diese drei Momente hier zusammen zu erçrtern: Erstens hngen fr die Stoiker diese Themenfelder aufs engste miteinander zusammen. Zweitens handelt sich dabei gerade in ihrer Verbindung um das Zentrum der stoischen Ethik, wenn nicht sogar ihrer gesamten Philosophie. Zumindest unterscheiden sie sich gerade hierin von anderen philosophischen Strçmungen. Denn die Stoiker behaupten zwar, wie viele andere griechische Philosophen, dass das, was gut ist, auch ntzlich ist, verwenden aber den Ausdruck ausschließlich in Bezug auf die Tugend, nur sie gilt ihnen als ein Gut. Weiterhin unterscheiden die orthodoxen Stoiker neben diesen guten Dingen noch schlechte und indifferente. Bedenkt man, dass sie eine große Anzahl an Dingen, wie Reichtum, Gesundheit, Lust usw., die den anderen Philosophen oder dem Alltagsdenken als Gter gelten, als indifferent bezeichnen, versteht man zum einen die Besonderheit ihrer ethischen Position und zum anderen ihre sokratisch-kynischen Wurzeln, denn auch sie streben eine weitgehende Umwertung der konventionellen Wertvorstellungen an. Ein dritter Grund bezieht sich auf die Relevanz des aus diesen drei Momenten bestehenden Themenfeldes fr die vorliegende Untersuchung. Marc Aurel beschftigt sich mit den genannten Punkten nicht nur sehr intensiv, sondern vertritt dabei eine besondere Position, die Aufschlsse ber die Entwicklung der Ethik in der stoischen Tradition erlaubt. Wie kaum anerkannt wurde, greift er auf Ariston von Chios zurck und setzt so eine alte stoische Tradition fort.
1103 Plut. De stoic. repugn. 9, 1035C-D (LS 60 A).
628
5. Ethik
An diesem letztgenannten Punkt soll nun angesetzt werden, um daraufhin Marc Aurels allgemeinere Beschreibung des Verhltnisses der Begriffe „gut“ und „ntzlich“ zur Natur darzustellen. Wie oben bereits gezeigt, gibt es bei den Stoikern eine grundstzliche Einteilung aller Dinge in drei Wert-Gruppen. Dabei ist die Bestimmung der drei Gruppen (Gutes (!cah±), Schlechtes (jaj±), Indifferentes (!di²voqa)) genauso bemerkenswert wie die Bestimmung, was jeweils zu einer der Gruppen gehçrt: Das Seiende, behaupten sie, sei teils gut, teils schlecht, teils keines von beidem. Gut seien die Tugenden, die Einsicht, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhaltung und so weiter. Schlecht das Entgegengesetzte: Unverstand, Ungerechtigkeit und so weiter; keines von beiden aber, was weder ntzt noch schadet, z. B. Leben, Gesundheit, Lust, Schçnheit, Kraft und Reichtum, Ruhm, hohe Geburt und so auch das Entgegengesetzte: Tod, Krankheit, Schmerz, Hsslichkeit, Schwche, Armut, Ruhmlosigkeit, niedere Geburt und was dem hnlich, wie Hakton sagt im siebten Buch seiner Schrift ber das Endziel, und Apollodor in seiner Ethik und Chrysipp. Das seien nmlich keine Gter, sondern an sich gleichgltige Dinge.1104
Gerade was die indifferenten Dinge angeht, ist Marc Aurel ein interessanter Autor. Denn in diesem Punkt unterscheidet er sich von der großen Mehrzahl der vorherigen Schulanhnger. Fr die Stoiker gibt es einige indifferente Dinge, die zwar nicht notwendig sind, um glcklich zu werden, die aber gemß der (individuellen) Natur in Bezug auf den Antrieb sind1105 und daher vorzuziehen sind. Im Gegenzug gibt es indifferente Dinge, die gegen die Natur und zu vermeiden sind. Schließlich gibt es Dinge, die so indifferent sind, dass man sie weder whlen noch vermeiden soll. Anders als bei der Tugend, bei der es keine graduellen Abstufungen zwischen Tugend und Untugend gibt, kann eine indifferente Sache mehr oder weniger Wert haben.1106 1104 Diog. Laert. 7, 101 – 102. 1105 Siehe Stobaios 2, 79, 18 – 80; 82, 201 (=LS 58 C). 1106 Siehe Stobaios 2, 83, 10 – 84, 2 (=LS 58). Grundstzlich ist der Wert einer Sache davon abhngig, ob sie in bereinstimmung mit der Natur ist. Darber hinaus gibt Stobaios noch weitere Bedeutungen von Wert (axia): „Vom Wert spricht man in dreierlei Sinn und meint damit erstens die Gabe und den Preis per se, zweitens die Einschtzung des Experten und drittens das, was Antipater den Auswahl-Sinn nennt: danach whlen wir, wenn es die Umstnde erlauben, lieber diese Dinge als jene, zum Beispiel lieber Gesundheit als Krankheit, lieber Leben als Tod, lieber Reichtum als Armut. Analog, sagen sie, spricht man auch von Unwert in dreierlei Sinn.“ Stobaios 2, 83, 10 – 84, 2 (=LS 58 D).
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
629
Diese Position wurde gngige stoische Lehre, allerdings gibt es eine wichtige Ausnahme. Ariston von Chios, ein Schler Zenons, forderte, dass man sich gleichermaßen indifferent gegenber allem Indifferenten zu verhalten habe,1107 also keines der gleichgltigen Dinge zu bevorzugen noch zu vermeiden habe.1108 Man kann Ariston mit Diogenes Laertius1109 als Sektenstifter oder Hretiker bezeichnen.1110 Erstens verschleiern solche Bezeichnungen den Blick dafr, dass Ariston mit seiner Position eine sokratisch-kynische Tradition fortschreibt, auch wenn er sehr wahrscheinlich modifiziert: Schon in Platons Euthydemos argumentiert Sokrates fr die These, dass nur die Tugend (in diesem Fall: die Weisheit) ein Gut sei und alle anderen Dinge erst durch den rechten Gebrauch ntzlich wrden oder, wenn sie unwissend gebraucht wrden, schaden wrden.1111
1107 „Ariston von Chios … erklrte, das Endziel bestehe darin, in vçlliger Indifferenz gegen das zu leben, was zwischen Tugend und bel in der Mitte liegt, und innerhalb dieser Dinge berhaupt keinen Unterschied festzuhalten, sondern sich ihnen allen gegenber gleich zu verhalten. Denn der Weise gleiche dem Schauspieler, der jede Rolle trefflich spielt, ob er nun die Maske des Tersites oder die des Agamemnon bernimmt.“ Diog. Laert. 7, 10 (=LS 58 G). 1108 „Ariston von Chios bestritt, dass die Gesundheit und alles, was ihr hnlich ist, etwas Vorgezogenes Indifferentes sei. Denn es als etwas vorgezogenes Indifferentes zu bezeichnen ist das gleiche, wie es fr etwas Gutes zu erklren, und unterscheidet sich davon praktisch nur dem Namen nach. Allgemein weise nmlich das zwischen Tugend und Schlechtigkeit angesiedelte Indifferente keinerlei Differenzierung auf, auch werde von Natur aus nichts davon vorgezogen; sondern angesichts der von Situation zu Situation verschiedenen Umstnde stelle sich heraus, dass weder das allemal vorgezogen wird, wovon es heißt, es werde vorgezogen, noch dass das notwendigerweise nicht vorgezogen wird, wovon es heißt, es werde nicht vorgezogen.“ Sext. Emp. Math. 11, 64 – 67 (=LS 58 F). Aristons Argument lsst sich sicherlich kritisieren. Er argumentiert, was vorgezogen wird, hnge von den Umstnden ab und stehe nicht qua Natur fest. Damit argumentiert er zunchst gar nicht gegen die Existenz von Vorzugsgtern, sondern nur fr die orthodox stoische Bestimmung. Anschließend ließe sich die stoische Position vielleicht auch wie folgt verteidigen: Dass in bestimmten Umstnden etwas Bestimmtes vorgezogen wird, schließt keineswegs einen begrndenden Rekurs auf die Natur aus. Im Gegenteil mag es in einer bestimmten Situation (etwa auf Grund der eigenen Natur) natrlich sein, etwas Bestimmtes vorzuziehen. 1109 Siehe Diog. Laert. 7, 161. 1110 So Forschner, M.: Die stoische Ethik, a.a.O., S. 65. 1111 Siehe Pl. Euthyd. 278 – 181 (dazu van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten, a.a.O., Kap. I 5). Platons Position, die sich auch im Menon und im Gorgias findet,
630
5. Ethik
Zweitens hat D. Sedley darauf aufmerksam gemacht, dass abwertende Beurteilungen von Aristons These allenfalls aus einer bestimmten, zurckblickenden Perspektive Gltigkeit beanspruchen kçnnen: Among the first-generation Stoics, Zeno’s most notable colleague was Aristo of Chios. … It was probably only after Zeno’s death, with the consequent canonisation of his thought that Aristo’s independence began to look like heresy. It may well have been at this stage that he went so far as to set up his own school … The later Stoic tradition chose to revere Zeno but not Aristo, and, because history is written by the winners, Aristo has come to be seen with hindsight as a marginal and heretical figure. This was not so in his own day, when his impact at Athens was enormous. For example, Arcesilaus, who led the Academy into its sceptical phase, appears to have engaged in debate with Aristo at least as much as with Zeno. Aristo’s own pupils included a leading Stoic, Apollophanes, and the celebrated scientist Erotosthenes.1112
Aristons Position bezglich der indifferenten Dinge wurde heftig kritisiert.1113 Nach Zenon wurde seit Chrysipp die Unterscheidung von zu whlenden und zu vermeidenden indifferenten Dingen ein ebenso wichtiges wie bestndiges Element der stoischen Ethik.1114 Im Folgenden soll eine dreiteilige These vertreten werden: Marc Aurel vertritt erstens wieder die Position Aristons, er unterscheidet sich dabei zweitens vielleicht sogar von Epiktet, der die orthodoxe stoische Auffassung vertrat. Diese Position Marc Aurels ist drittens durch eine direkte Rezeption zu erklren. Die letztgenannte These ist schnell zu belegen, denn, wie aus dem Briefwechsel mit seinem Lehrer Fronto hervorgeht, hat Marc Aurel Ariston offenbar schon sehr frh gelesen, er schreibt seinem Lehrer, er habe statt lateinische Schreibbungen anzufertigen, die griechischen Schriften des Stoikers Ariston von Chios gelesen.1115 Obschon mittlerweile unumstritten ist aber nicht notwendig deckungsgleich mit der stoischen Position (siehe dazu Brennan, T.: The Stoic Life, a.a.O., S. 119 ff.). 1112 Sedley, D.: The Soul, from Zeno to Arius Didymus, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 7 – 32, hier: S. 14. 1113 Siehe z. B. Cic. Fin. 3, 40. 1114 Siehe etwa Plut. De stoic. rep. 30, 1048a; Cic. Fin. 3, 50. 1115 Vgl. Fronto Ep. 1, 214. Im Brief ist nur von Ariston die Rede. Es hat einen Versuch gegeben, aus Marc Aurels hier erstmals geußertem Bekenntnis fr die Philosophie, eines fr die Rechtswissenschaft zu machen. Champlin wollte zeigen, dass mit dem Erwhnten nicht der stoische Philosoph, sondern der Rechtswissenschaftler Titius Aristo gemeint sei (vgl. Champlin, E.: The Chronology of Fronto, a.a.O., S. 144). Mittlerweile ist aber gut besttigt, dass Ariston von Chios gemeint ist (vgl. Farquharson, A. S. L.: The Meditations of the Emperor Marcus Aurelius, a.a.O., Bd.
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
631
ist, dass Marc Aurel Ariston gelesen hat, ist umstritten, ob er ihn rezipierte.1116 Nachdem Hadot in frheren Arbeiten einen Einfluss von Ariston auf Marc Aurel festgestellt hat,1117 bilanziert er in seiner großen Marc AurelStudie: „Somit muss man zu dem Schluss kommen, dass sich in den Ermahnungen an sich selbst nicht die geringste Spur der Doktrin Aristons findet.“1118 Dabei ist bemerkenswert, dass Hadot annimmt, Aristons Position laufe „Gefahr zur skeptischen Haltung eines Pyrrhon zu werden“.1119 Dann folgert er aus dem Umstand, dass Marc Aurel wie Epiktet fr jah¶jomta pldiere, dass Marc Aurel nicht Aristons Lehre von der vçlligen Unterschiedslosigkeit der indifferenten Dinge vertreten haben kçnne. Das Argument Hadots ist in mehrfacher Hinsicht fragwrdig. Richtig ist, dass Marc Aurel und Epiktet fr die Lehre von den jah¶jomta pldiert haben, Marc Aurel aber dennoch in vielen Kapiteln eindeutig Aristons Lehre vertreten hat, whrend Epiktet genau das nicht tat. Die Vereinbarkeit beider Positionen ist ein großes Problem, das bereits anklang.1120 Entscheidend ist zunchst, dass von Hadot, wie von vielen anderen, die große Anzahl an Kapiteln bersehen wird, in denen Marc Aurel sich I, S. XII; Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 106, Anm. 41; Asmis, E.: The Stoicism of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 2232; Gçrgemanns, H.: Der Bekehrungsbrief Marc Aurels, a.a.O., S. 97 und Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 29 – 34). Im Brief bringt Marc Aurel die Lektre mit einer Klage in Verbindung: Er habe bislang noch keine heilsamen Dogmen und reinen Gedankengnge kennen gelernt, so dass er zwischen seiner inneren Verfassung und dem Ideal in den erwhnten Texten noch eine große Diskrepanz sieht. Thema und Formulierung dieser Stze sind eindeutig philosophischer und nicht juristischer Natur. Gegen Champlin und fr die Identifikation mit dem Stoiker Ariston siehe die weiteren Grnde bei Gçrgemanns, H.: Der Bekehrungsbrief Marc Aurels, a.a.O.; Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 106, Anm. 41; Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 29 – 34. 1116 Fr einen Einfluss pldieren Grimal, P.: Marc Aurle, Paris 1991, S. 84 – 8 und der frhe Hadot, P.: La physique comme exercise spirituel ou pessimisme et optimisme chez Marc Aurle, in: Revue de Thologie et de Philosophie 102 (1972), S. 225 – 239, und jngst Roskam, G.: On the Path to Virtue. The Stoic Doctrine of Moral Progress and its Reception in (Middle-)Platonism, Leuven 2005, S. 130 f. 1117 Siehe Hadot, P.: La physique comme exercise spirituel ou pessimisme et optimisme chez Marc Aurle, a.a.O., S. 225 – 239. 1118 Hadot, P.: Die innere Burg, S. 112. 1119 Ebd., S. 112. 1120 Siehe Kap. II 3.2.4.
632
5. Ethik
eindeutig gegen eine Unterscheidung der indifferenten Dinge ausspricht. Er geht sogar so weit zu behaupten, die Gerechtigkeit wrde im Falle dieser Unterscheidung zerstçrt: „Denn die Gerechtigkeit wird nicht erhalten bleiben, wenn wir die mittleren [d.h. gleichgltigen] Dinge unterscheiden…“.1121 In allen anderen Kapiteln, die die indifferenten Dinge allgemein erwhnen, differenziert er sie nicht weiter.1122 Auch in den vielen Kapiteln, in denen er die konkreten Dinge auflistet, die vorherige Stoiker zu indifferenten Gtern gezhlt und zugleich mit Blick auf die Whlbarkeit unterschieden haben, erwhnt Marc Aurel nie, dass einiges davon unter bestimmten Umstnden vorzuziehen sei.1123 Ganz przise fordert er sich zur quidistanz gegenber allen indifferenten Dingen auf: „Schmcke dich mit Einfachheit, Zurckhaltung und Gleichgltigkeit gegenber allem, was zwischen Tugend und Schlechtigkeit ist.“1124 Es gibt nur ein einziges Kapitel, dass Zweifel dahingehend aufkommen lassen kçnnte, Marc Aurel sei nicht konsequent bei der Einhaltung oder Verteidigung dieser Position. Zunchst fordert er sich auf, dass jedes gleichgltige Ding durch die analytische Methode entwertet werden soll: Das schçnste Leben fhren: diese Mçglichkeit (d}malir) liegt in der Seele, wenn einem die gleichgltigen Dinge gleichgltig sind. Sie werden einem gleichgltig sein, wenn man jedes gleichgltige Ding in seine Einzelheiten zerlegt und als Ganzes betrachtet…1125
Keines der indifferenten Dinge ist von dem entwertenden Verfahren der Analyse ausgenommen. Marc Aurel fhrt fort und betont, „dass derartige Dinge nur fr kurze Zeit Beachtung finden und das Leben in nherer Zukunft enden wird“.1126
1121 oq c±q tgqgh¶setai t¹ d¸jaiom, 1±m Etoi diaveq¾leha pq¹r t± l´sa C eqenap²tgtoi ja· qoptytijo· ja· letaptytijo· §lem. M. Aur. Med. 11, 10 (bersetzung weicht von Nickels ab). Auf dieses Kapitel macht G. Roskam in seinem Kapitel zu Marc Aurel aufmerksam (Roskam, G.: On the Path to Virtue, a.a.O., S. 131, Anm. 626). 1122 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 12 oder 6, 32. 1123 Siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 41; 2, 11; 2, 12. 1124 M. Aur. Med. 7, 31. 1125 M. Aur. Med. 11, 16 (Kursivierung M.v.A.). 1126 M. Aur. Med. 11, 16.
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
633
Schließlich unterscheidet er aber innerhalb der indifferenten Dinge solche, die naturgemß sind: Warum bist du denn so unzufrieden mit diesen Dingen? Wenn sie naturgemß sind, freue dich darber und lass sie dir leicht sein. Wenn sie aber unnatrlich sind, dann frag dich, was deiner Natur entspricht, und dem wende dich mit Eifer zu, auch wenn es niemandem auffllt.1127
Zwar unterscheidet Marc Aurel hier naturgemße und naturwidrige Dinge, aber er fordert sich nur auf, sich ber die naturgemßen zu freuen oder sich ihnen zuzuwenden, wenn er insgesamt mit den gleichgltigen Dingen unzufrieden ist. Damit werden diese Dinge aber nicht zu vorzuziehenden Gtern im Sinne der orthodoxen stoischen Auffassung, sie haben weiterhin keinen Wert. Dass Marc Aurel zu Aristons Position zurckfindet, wurde erstens nicht oft bemerkt.1128 Zweitens ist bersehen worden, dass Marc Aurel hier evtl. nicht auf Epiktet aufbaut,1129 sondern sehr wahrscheinlich auf Grund eigener Lektre oder berlegung absolute Gleichgltigkeit gegenber den indifferenten Dingen fordert. Die Frage, ob Marc Aurel eigenstndig zu Aristons Position findet oder durch Epiktet vermittelt, ist nicht leicht zu klren. Eine Antwort setzt die Klrung der Position von Epiktet voraus. Das aber ist keine einfache Aufgabe. Fr die These, dass Epiktet vor Marc Aurel die Position Aristons wieder vertreten hat, spricht der Umstand, dass Epiktet zwar offensichtlich Chrysipps Unterscheidung der indifferenten Gter in pqogcl´ma und !pqogcl´ma kannte, aber die Unterscheidung niemals selber in Anschlag bringt. Gegen die These spricht, dass er erstens an einer Stelle durchaus die orthodoxe stoische Auffassung von Chrysipp verteidigt.1130 Er unter1127 M. Aur. Med. 11, 16. 1128 Auch in den Arbeiten von Sedley, Gill und Schofield findet sich kein Hinweis (vgl. Sedley, D.: The Soul, from Zeno to Arius Didymus, a.a.O., S. 14; Schofield, M.: Stoic Ethics, a.a.O., und Gill, Ch.: The School in the Roman Imperial Period, a.a.O.). 1129 Bemerkenswerterweise argumentiert Hadot dafr, dass Marc Aurel mit Epiktet Vorzugsgter kenne, weil er jah¶jomta kenne (vgl. Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 110 f.), whrend Roskam dafr argumentiert, auch Marc Aurel folge Epiktet, der bereits Aristons Position wieder vertreten habe (vgl. Roskam, G.: On the Path to Virtue, a.a.O., S. 131, siehe auch sein Epiktet-Kapitel). 1130 „Deshalb hatte Chrysipp recht, als er sagte: ,Solange das Zuknftige mir verborgen ist, werde ich mich immer an das halten, was besser geeignet ist, um das zu be-
634
5. Ethik
scheidet die indifferenten Gter danach, ob sie paq± bzw. jat± v¼sim sind und spricht ihnen dann entsprechend mehr oder weniger Wert zu (5wei !n¸am, !pan¸am 5wei).1131 Dennoch haben viele Interpreten Epiktet die Position Aristons zugesprochen.1132 Die Vertreter dieser Auffassung kçnnen sich in der Tat auf weitere Passagen sttzen, in denen Epiktet davor warnt, bei Handlungen nicht den Wert dieser indifferenten Gter zu kalkulieren und handlungsentscheidend werden zu lassen. Ein solcher Mensch, so Epiktet, habe vergessen, um was es sich bei den indifferenten Dingen handelt.1133 Diese Aussage kann, wie von G. Roskam, durchaus als Absage an die Unterscheidung von Wert innerhalb der Gruppe der indifferenten Dinge gelesen werden. Aber es kçnnte ebenso gut gemeint sein, dass Epiktet darauf hinweisen mçchte, dass man nicht den Fehler machen sollte, indifferente Dinge, wenn sie jat± v¼sim sind und daher Wert haben, fr etwas Gutes zu halten. Er meint damit die Aufhebung der Unterscheidung von werthaften indifferenten Dingen und dem Guten, und nicht die zwischen werthaften und wertlosen indifferenten Dingen. Vor diesem Hintergrund drfte Epiktets Position in dem Falle als nicht ganz eindeutig gelten. Was folgt daraus fr die Beurteilung von Marc Aurel? Wenn Epiktet bereits Aristons Position vertreten hat, sie aber nicht ganz klar macht, dann ist Marc Aurel jemand, der sie hinreichend klar vertritt, weil er keine Unterscheidung zwischen paq± bzw. jat± v¼sim einerseits und 5wei !n¸am bzw. !pan¸am 5wei innerhalb der Gruppe der indifferenten Gter erwhnt. Wenn Epiktet noch schwankt, dann wre von den beiden erst Marc Aurel derjenige, der sich wieder ganz Aristons Position nhert. In beiden Fllen handelt es sich um eine interessante Beobachtung. Nach der Schilderung der spezifisch stoischen Gterlehre ber die indifferenten Gter und der besonderen Rolle, die Marc Aurel innerhalb der stoischen Tradition nach Ariston wieder einnimmt, kann nun die fr die Ethik zentrale Bedeutung der Ausdrcke „gut“ und „ntzlich“ erlutert kommen, was der Natur entspricht; denn Gott selbst hat mich so gemacht, dass ich disponiert bin, diese Dinge zu whlen. Aber wenn ich wirklich wsste, dass es mir vom Schicksal bestimmt war, jetzt krank zu sein, dann htte ich auch einen Antrieb, krank zu sein. Auch mein Fuß htte ja, wenn er Einsicht besße, einen Antrieb, schmutzig zu werden.‘“ Arr. Epict. diss. 2, 6, 9 (=LS 58 J). 1131 Siehe Arr. Epict. ench. 36; Arr. Epict. diss. 1, 2, 7; 1, 2, 10; 2, 23, 6. 1132 Jngst, mit Nennung vieler frherer Autoren, hat so argumentiert: Roskam, G.: The Path to Virtue, a.a.O., S. 112 ff. 1133 Siehe Arr. Epict. diss. 1, 2, 14.
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
635
werden. Dabei ist neben dem Verhltnis der beiden Ausdrcke vor allem die Begrndung der Vorstellungen von „gut“ und „ntzlich“ durch den Rekurs auf „Natur“ bei Marc Aurel interessant. Marc Aurel versteht das Gute zunchst als etwas, das auch schçn ist.1134 Das ist eine lange und weit verbreitete griechische Tradition.1135 Abgesehen von dieser sehr rudimentren Einstellung, der Marc Aurel auch nicht sonderlich viel Raum gibt, unterscheidet sich die stoische Ethik Marc Aurels sehr von gngigen Vorstellungen. So betont Marc Aurel, dass die „Masse“ vçllig falsche Gtervorstellungen habe.1136 Dieser Umstand ist nicht vçllig trivial. Zum einen zeigt sich daran, dass Marc Aurel ein Bewusstsein fr das hat, was man auch als kynisches Erbe verstehen kann, nmlich, dass die stoische Ethik nichts weniger als eine vçllige Umwertung der Werte anvisiert. Zum anderen verweist Marc Aurels Bewusstsein davon, dass die Mehrheit der Menschen vçllig andere Wertvorstellungen als die Stoiker haben, auf folgendes Problem der stoischen Ethik: Die Stoiker geben einerseits an, dass das, was gut ist, ganz durch die Natur bestimmt ist. Diese naturalistische Gterlehre steht aber im offenkundigen Gegensatz zu dem, was die Mehrheit der Menschen natrlicherweise glaubt. Folglich haben die Menschen zwar eine Natur, aber nicht notwendig eine korrekte Auffassung davon, was wiederum dazu fhrt, dass sie nicht wissen, was gemß ihrer Natur gut ist. Menschen haben demzufolge einerseits natrlicherweise Vorstellungen ber das, was gut ist. Zugleich enthlt ihre Natur andererseits noch nicht das Wissen, sondern nur die Mçglichkeit, die eigene und allgemeine wirkliche Natur zu erkennen. Deswegen betonen die Stoiker und auch Marc Aurel die Bedeutung der Erkenntnis.1137 Die Erkenntnis von dem, was gut, schlecht oder indifferent ist, knpft vielleicht, wie Chrysipp meint, an die angeborenen Vorbegriffe an,1138 muss sich in jedem Falle aber erst entwickeln. Mit der Annahme, die Erkenntnis des Guten entwickele sich aus den Anlagen, ist sichergestellt, dass die Erkenntnisfhigkeit genauso natrlich
1134 Siehe M. Aur. Med. 2, 1. 1135 Siehe etwa die Diskussion von Sokrates mit Polos in Platons Gorgias. 1136 Siehe z. B. M. Aur. Med. 5, 12. 1137 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 1; 2, 13; 4, 29. 1138 Siehe Cic. De fin. 3, 33 – 34 (=LS 60 D) und Sext. Emp. Math. 7, 247 – 252 (=LS 39 E).
636
5. Ethik
ist wie ihre Inhalte. Der Mensch hat also nicht nur eine natrliche Affinitt zum Guten, sondern auch zur dafr nçtigen Erkenntnis. Eine andere Variante der stoischen Telos-Formel bringt den Umstand, dass die Erkenntnis des Guten zwar auf die Natur rekurriert, sich aber aus einer natrlichen Disposition heraus erst im Laufe des Lebens entwickeln muss, zum Ausdruck: Hinwiederum ist, im Einklang mit der Natur zu leben, dasselbe wie in bereinstimmung mit der Erfahrung zu leben, was durch die Natur geschieht, wie Chrysipp im ersten Buch ber Ziele sagt.1139
Diese berlegungen drckt auch Marc Aurel aus. Dazu gehçren insbesondere die Kapitel, in denen nicht begrifflich oder von philosophischen Prinzipien aus eine Aussage ber Gter deduziert wird,1140 sondern Erfahrungen verallgemeinert werden, etwa die, dass bis dato noch jede Berhmtheit in der Geschichte (ob Philosoph oder Kçnig) gestorben und vergessen wurde.1141 Es gibt andere Kapitel, in denen er an die fr jeden Menschen gegebene Erfahrung appelliert, dass alles dem Wandel unterliegt und nicht lange Bestand hat, so dass man z. B. auf das Leben, den Ruhm und die Ehre eben keinen Wert legen darf.1142 Die Bedeutung der Tugenden fr das Glck, also ihre Ntzlichkeit und Gutheit, betont Marc Aurel in folgendem Kapitel eindrucksvoll: Wenn du etwas Besseres im menschlichen Leben findest als Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung, Tapferkeit und – kurz gesagt – Zufriedenheit deines Denkens mit sich selbst, soweit es dich im Sinne der richtigen Vernunft handeln lsst, und Zufriedenheit mit dem Schicksal in allen Dingen, die ohne deinen Einfluss und Willen vorherbestimmt werden – wenn du, so sage ich, etwas Besseres siehst, dann wende dich jenem mit ganzer Seele zu und genieße das, was sich dir als das Beste erweist. Wenn sich aber nichts Besseres zeigt als die in dir wohnende gçttliche Kraft, die sich dein Wollen unterworfen hat, deine Vorstellungen prft, sich von den sinnlichen Leidenschaften, wie Sokrates sagte, entfernt hat, sich den Gçttern unterstellte und sich vorrangig um die Menschen kmmert – wenn du alles andere fr weniger bedeutend und weniger wertvoll hltst als dies, dann lass nichts anderes mehr zu; denn wenn du dich diesem einmal berlassen und hingegeben hast, wirst du nicht mehr 1139 Diog. Laert. 7, 87 – 89 (=LS 63 C). 1140 So fordert Marc Aurel sich etwa in Kapitel 4, 36 auf, sich durch ununterbrochene Beobachtung daran zu gewçhnen „zu bedenken, dass die Natur des Weltganzen nichts so sehr liebt, wie das Seiende zu verwandeln…“. 1141 Siehe fr die Philosophen M. Aur. Med. 3, 3 und fr die Kçnige bzw. Kaiser z. B. M. Aur. Med. 4, 32 und 4, 33. 1142 Siehe z. B. M. Aur. Med. 2, 12.
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
637
ungehindert jener hçchsten Qualitt, die dir eigen ist und dir gehçrt, den Vorrang einrumen kçnnen. Es ist nmlich nicht recht, dem vernunftbestimmten und gemeinschaftsbezogenen hçchsten Wert irgendeinen anderen Wert vorzuziehen, wie zum Beispiel die Anerkennung in der großen ffentlichkeit, hohe mter, Reichtum oder Lustgewinn. Alle Dinge dieser Art haben den Menschen immer schon plçtzlich berwltigt und mit sich fortgerissen, wenn sie sich auch nur fr kurze Zeit in das Leben einzufgen schienen. Du aber, sage ich, entscheide dich ganz einfach und zwanglos fr das Bessere und halte daran fest. ,Besser ist das Ntzliche.‘ Wenn es das fr dich als vernunftbegabtes Wesen Ntzliche ist, dann bewahre es dir. Wenn es aber nur das fr dich als einfaches Lebewesen Ntzliche ist, dann bekenne dich dazu und halte schlicht und einfach an deinem Urteil fest.1143
Bemerkenswert ist hier die rhetorisch wirkungsvolle Akzentuierung der Kriterien „gut“ und „ntzlich“ in Kombination mit dem Umstand, dass die Tugenden genau diesen Kriterien entsprechen.1144 Diese Behauptung entspricht genauso gngiger stoischer Lehre1145 wie die Annahme, dass es eine Reihe von Tugenden gibt.1146 Die Stoiker erwhnen die vier zentralen Tugenden aus Platons Politeia, die dann als Kardinaltugenden kanonisch wurden: Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Nicht nur wenn man die Hufigkeit der Nennung vergleicht, fllt auf, dass Marc Aurel der Gerechtigkeit einen besonderen Stellenwert einrumt.1147 Wie lsst sich diese herausragende Rolle verstehen? Einerseits hlt Marc Aurel wie Platon in der Politeia Gerechtigkeit fr die basale 1143 M. Aur. Med. 3, 6. 1144 Zum Verhltnis von Tugend und Nutzen siehe auch M. Aur. Med. 3, 7. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch eines der Kapitel, in denen Marc Aurel einen fremden Text exzerpiert. Im Zitat, das das Kap. 7, 44 ausmacht, wird der Hinweis, nur die Tugend sei ntzlich, damit verquickt, man solle sich nie an etwas anderem orientieren. Es handelt sich dabei um einen Abschnitt aus Platons Apologie des Sokrates (Pl. Ap. 28b-c). 1145 Siehe dazu z. B. Atios 1, Proem. 2 (=LS 26 A) oder Sext. Emp. Math. 11, 22 – 25 (=LS 60 G). 1146 Siehe etwa die Tugendliste M. Aur. Med. 3, 11 (darber hinaus 6, 50). Siehe dazu Zenons Position (siehe Plut. De stoic. repugn. 7, 1034 C-E (=LS 61 C) und zugleich Chrysipps Verteidigung der These, dass die Tugenden nicht getrennt vorliegen kçnnen, siehe Cic. De fin. 3, 33 – 34 (=LS 60 D). Die Tugenden unterscheiden sich evtl. nur durch eine bestimmte Perspektive fr einen entsprechenden Lebensbereich. 1147 Siehe z. B. M. Aur. Med. 3, 4; 3, 6; 4, 3; 5, 12; 6, 47; 7, 54; 8, 39; 10, 11; 11, 1; 11, 10; 11, 20; 12, 1; 12, 14. Hinzu kommen die vielen Passagen, wo Marc Aurel „gerecht“ als Adjektiv oder Adverb verwendet.
638
5. Ethik
Tugend: „von ihr aber gehen die brigen Tugenden aus“.1148 Das erklrt, warum vorrangig die Gerechtigkeit erwhnt wird. Andererseits folgt Marc Aurel Platons Bestimmung in den Bchern II-IV der Politeia nur sehr eingeschrnkt. Platon hatte die Gerechtigkeit dort als Kraft in der Seele aufgefasst, derzufolge jeder Seelenteil das Seinige tut, und die somit die Kraft ist, die die anderen Tugenden schafft. Platon versteht sie daher nicht unmittelbar (aber natrlich mittelbar) als Tugend, die den Umgang mit anderen Menschen oder eine Gemeinschaft betrifft. Fr Marc Aurel hingegen ist Gerechtigkeit als Tugend viel strker politisch-praktisch auf die Gemeinschaft und den Umgang mit anderen Menschen bezogen.1149 Es ist also wahrscheinlich, dass seine ber andere Stoiker hinausgehende Wertschtzung der Gerechtigkeit kein platonisches Einsprengsel ist, sondern ebenfalls seiner Akzentuierung des Gemeinschaftsgedankens geschuldet ist und sonach anzeigt, dass seine Ethik als Sozialethik verstanden werden kann. Ganz ohne jede Abweichung von der stoischen Orthodoxie und im Einklang mit deren technischem Vokabular ist bei Marc Aurel demgegenber wieder die Bestimmung der Tugend als ein vernnftiger Charakter (kocijμ di\hesir).1150 Den Ausdruck di\hesir gebraucht Marc Aurel nicht nur sehr hufig,1151 sondern auch wie eine der Telos-Formeln.1152 Der Charakter und damit die Lebensqualitt,1153 so betont Marc Aurel, hngen von den richtigen Urteilen ab.1154 Jetzt aber ist dem Verhltnis des zentralen Begriffspaares „gut“„ntzlich“ nachzugehen. Marc Aurel setzt voraus, dass „gut“ und „ntzlich“ dasselbe meinen. In anderen Kapiteln wird diese Auffassung explizit: „Das Gute aber muss etwas Ntzliches sein“.1155 Obschon sich Marc Aurel fr diesen Zusammenhang von Gutheit und Nutzen deutlich ausspricht, argumentiert er nicht eingehend dafr. Dieser Umstand lsst sich nicht nur dadurch erklren, dass er solche Begrn1148 M. Aur. Med. 11, 10. 1149 Siehe z. B. M. Aur. Med. 4, 33. 1150 Siehe dazu M. Aur. Med. 6, 48 in Verbindung mit 5, 28. 1151 Siehe M. Aur. Med. 4, 25; 5, 20; 5, 25; 6, 30; 7, 66; 9, 42. 1152 Siehe M. Aur. Med. 9, 6. 1153 Zur Bedeutung des richtigen Charakters fr das Glck siehe M. Aur. Med. 5, 34; zum Charakter als positiv erlebten Zustand siehe M. Aur. Med. 10, 1. 1154 Siehe M. Aur. Med. 8, 47. 1155 M. Aur. Med. 8, 10.
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
639
dungen in einer selbstadressierten Schrift nicht nçtig hat. Vielmehr kann er bei dieser Gleichsetzung auf eine lange stoische Tradition zurckgreifen.1156 hnlich wie im Falle der natrlichen Anlage fr die Erkenntnis betont Marc Aurel, dass das Gute und Ntzliche nicht nur durch die Natur bestimmt ist,1157 sondern dass der Mensch einen natrlichen Antrieb hat, dem Nutzen zuzustreben. Damit verweist die Vorstellung des Guten bereits erstmalig auf die menschliche Natur und einen wichtigen Aspekt derselben: die menschlichen Bestrebungen. Nach stoischer Auffassung ist der Mensch also dazu gemacht und von sich aus bestrebt, gut zu sein.1158 Die Tugend ist sein spezifisches Werk: Zu welchem Zweck ein jedes Wesen ausgerstet ist, und wofr es ausgerstet ist, dahin strebt es. Wohin es aber strebt, dort liegt sein Ziel. Wo aber sein Ziel ist, da liegen der Nutzen und das Gute eines jeden Wesens. Das Gute also des vernunftbegabten Lebewesens ist die Gemeinschaft. Denn dass wir fr die Gemeinschaft geschaffen sind, ist seit langem offenkundig.1159
Dieses Kapitel ist nicht nur wegen der Bestimmung des Nutzens als den einem Lebewesen natrlicherseits vorgegebenen Zweck interessant. Denn Marc Aurel bestimmt hier den Zweck, das fr den Menschen Gute, inhaltlich durch die Gemeinschaft. Die fr Marc Aurels Philosophie typische Betonung des Gemeinschaftsgedankens prgt inhaltlich auch seine Vor1156 „Die Stoiker also klammern sich sozusagen an die allgemeinen Begriffe und definieren das Gute folgendermaßen: ,Das Gute ist Nutzen oder nichts anderes als Nutzen‘, wobei sie mit ,Nutzen‘ die Tugend und die tugendhafte Handlung meinen und mit ,nichts anderes als Nutzen‘ den tugendhaften Menschen und seinen Freund. Denn die Tugend – sie besteht in einer Disposition des Zentralorgans – und die tugendhafte Handlung – sie ist eine Ttigkeit in bereinstimmung mit der Natur – sind geradewegs Nutzen.“Arr. Epict. diss. 3, 3, 2 – 4 (=LS 60 F). Diese stoische Verquickung der Begriffe hat erhebliche Kontroversen hervorgerufen bzw. wurde als logisch problematisch kritisiert (vielleicht zu kritisch: Graeser, A.: Zur Funktion des Begriffes „gut“ bei den Stoikern, in: Zeitschrift fr philosophische Forschung 26 (1972), S. 417 – 425 gegen Long, A. A.: The Logical Basis of Stoic Ethics, in: ders.: Stoic Studies, a.a.O., S. 134 – 155). Ob die Gleichsetzung von „gut“ mit „ntzlich“ von jedem Griechen geteilt worden wre, wie A. A. Long und D. Sedley in ihrem Kommentar zu LS 60 angeben, wre zu prfen, zumindest anhand von Aristoteles’ Protreptikos ergeben sich Verdachtsmomente, die Gleichsetzung werde nicht von jedem Philosophen in der Antike geteilt. 1157 Siehe die grundstzlichen Erçrterungen zur Verbindung von „gut“ und „natrlich“ in M. Aur. Med. 12, 2. 1158 Zum natrlichen Antrieb des Menschen siehe z. B. M. Aur. Med. 6, 27; 5, 16 und 10, 6. 1159 M. Aur. Med. 5, 16.
640
5. Ethik
stellung vom Guten und vom Nutzen. Sie wird besonders deutlich, wenn man andere Quellen vergleichend heranzieht, etwa Sextus Empiricus’ Bericht, in dem nur der Freund ohne weitere Erklrung erwhnt wird, nicht jedoch die Gemeinschaft.1160 Fr Marc Aurel ist Gemeinschaftsorientierung das dominierende Gut, das der menschlichen Natur entspricht: Ntzlich aber ist fr jeden, was seinen Fhigkeiten und seiner Natur entspricht. Ich habe eine vernnftige und auf die staatliche Gemeinschaft bezogene Natur. Die staatliche Gemeinschaft und das Vaterland ist fr mich als Antoninus Rom, fr mich als Menschen der Kosmos. Was diesen Gemeinschaften ntzlich ist, das allein ist fr mich gut.1161
Wenig berraschend ist, dass Marc Aurel das Gute oder Ntzliche durch Bezge zur Natur bestimmt. Entsprechend der Bedeutung von „Natur“ in der Telos-Formel rekurriert er dabei auf die allgemeine und die individuelle Natur. Es handelt sich aber nicht um zwei getrennte Referenzobjekte, die zwei Kriterien darstellen. Marc Aurel thematisiert daher auch vor allem das Verhltnis von allgemeiner und individueller Natur: Ob Atome oder Natur, zuerst soll gelten, dass ich ein Teil des von der Natur durchwaltenden Ganzen bin. Dann, dass ich eine innere Beziehung zu den verwandten Teilen habe. Denn wenn ich mich daran erinnere, werde ich, insofern ich ein Teil bin, nichts von dem, was mir aus dem Ganzen zugeteilt worden ist, ungern annehmen. Denn nichts ist dem Teil schdlich, was dem Ganzen ntzt. Das Ganze hat nmlich nichts, was ihm selbst nicht ntzlich ist…1162
Prima facie lsst sich aus der Aussage, dass fr den Teil gut ist, was dem Ganzen ntzlich ist,1163 eine klare Orientierung an der Natur des Ganzen ableiten. Untersttzt wird dies durch Marc Aurels Annahme, „dass das Vorherbestimmte gut ist.“1164 Von der Vorsehung, der Vernunft der allgemeinen Natur, ist das Gute als Ziel der Handlung und Lebensfhrung entwickelt.1165 Aber diese Bestimmung betrifft den Menschen und damit einen bestimmten Teil der allgemeinen Natur.
1160 Siehe nochmals Sext. Emp. Math. 11, 22 – 25 (=LS 60 G). 1161 M. Aur. Med. 6, 44 (siehe auch 3, 4 und 5, 16). 1162 M. Aur. Med. 10, 6. 1163 Siehe M. Aur. Med. 5, 8. 1164 M. Aur. Med. 3, 4. 1165 Siehe M. Aur. Med. 4, 10; 4, 17.
5.2 Gter, Nutzen und Gutes
641
Die individuelle Natur ist jedoch nicht nur als Teil mit dem Ganzen mit genannt bzw. von den Bestimmungen des Ganzen als Teil betroffen.1166 Denn zum einen ist auch das, was dem einzelnen ntzt, dem Ganzen oder den anderen Menschen ntzlich.1167 Viel entscheidender ist, dass der Rekurs auf die individuelle Natur des Menschen Bestimmungen fr das Gute oder Ntzliche erlaubt, die durch den Hinweis auf die allgemeine Natur nicht mçglich wren: Beachte, was deine Natur von dir als einem nur von der Natur regulierten Wesen verlangt. Dann tu es und akzeptiere es, wenn nicht deine Natur als Natur eines Lebewesens dadurch in einen schlechteren Zustand versetzt wird. Anschließend musst du darauf achten, was deine Natur als Natur eines Lebewesens verlangt, und alles das musst du auf dich nehmen, wenn nicht deine Natur als Natur eines vernunftbegabten Lebewesens dadurch in einen schlechteren Zustand versetzt wird.1168
Erstens wird in diesem Kapitel deutlich, dass sich das Nutzenkriterium an der Verbesserung oder Verschlechterung der Natur des Lebewesens bemisst, nicht etwa auch daran, was mit seinem Kçrper o. passiert. Der Kçrper gehçrt nicht zur individuellen Natur, die durch die Vernunft, also die Freiheitssphre, bestimmt ist. Außerhalb des eigenen Verfgungsbereiches1169 liegt auch das, was dem Kçrper geschieht, weswegen dieses Erleiden des Kçpers nichts Gutes oder Schlechtes sein kann.1170 Grundstzlich gilt, dass das Gute nur etwas sein kann, was in der Macht des Menschen steht.1171 Zweitens macht Marc Aurel in dem zuletzt zitierten Kapitel auf zwei Grundthemen der Ethik aufmerksam: Es geht ihm um die angemessene Reaktion gegenber Dingen (oder Handlungen anderer Menschen), auf
1166 Siehe insgesamt zum Verhltnis von allgemeiner und individueller Natur in Bezug auf die Bestimmung des Guten und der Tugend M. Aur. Med. 6, 54; 10, 20; 2, 3; 11, 13; 12, 23. 1167 Siehe M. Aur. Med. 6, 45. 1168 M. Aur. Med. 10, 2. 1169 Siehe dazu M. Aur. Med. 6, 41. 1170 Siehe dazu M. Aur. Med. 4, 39. 1171 „Keines von den Dingen, die einem Menschen, sofern er ein Mensch ist, nicht zustehen, darf ein Mensch beachten. Der Mensch hat keinen Anspruch auf diese Dinge. Sie gehçren nicht zum Programm der menschlichen Natur, und in ihnen liegt auch nicht die Vollendung der menschlichen Natur. Darin besteht also auch nicht das Ziel des Menschen und das, was das Ziel erreichen hilft, das Gute.“ M. Aur. Med. 5, 15.
642
5. Ethik
die man keinen Einfluss hat.1172 Neben diesen Forderungen nach einer emotional positiv erlebten Passivitt fordert er auch eine bestimmte Aktivitt. Das Zielfhrende und Handlungsleitende hat direkt mit den Bestrebungen zu tun, die qua eigener Natur gegeben sind und ihr auch entsprechen sollen. Die individuelle Natur ist somit durch die natrlichen Bestrebungen Motivation und zugleich Kriterium. Die Reaktion auf Dinge, auf die man keinen Einfluss hat, und die Handlungen sollen naturgemß sein. Die Ethik fordert also eine bestimmte Passivitt und eine Aktivitt und spiegelt so die beiden Grundprinzipien der stoischen Physik wieder. Hierin zeigt sich ebenfalls eine konsequente Verfolgung des Gedankens, dass die einzelne Natur Teil der Allnatur ist. 5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^) Die Stoiker haben mit ihren Vorstellungen von Antrieb oder Impuls (bql^) und Oikeiosis (oQje¸ysir)1173 zwei anspruchsvolle Theorien vorgelegt, die je fr sich genommen wichtige Elemente darstellen und entsprechend die Aufmerksamkeit der Forschung erhalten haben.1174 Ihre Vorstellung vom Antrieb ist nicht nur ein zentrales Moment ihrer Handlungstheorie, sondern zugleich auch eines, das sie von anderen antiken Strçmungen, etwa des Aristoteles, unterscheidet. Die Vorstellung von Antrieben, die Akte des fhrenden Seelenteils und nicht „blinde“, willkrliche Triebe sind, die ihren Sitz oder Ausgang in einer anderen Seelenentitt oder -aktvitt haben, ist nicht nur fr die Handlungstheorie selbst wichtig. Die Stoiker kçnnen so auch Handlungsmotivationen mit ihrer Auffassung von der menschlichen Natur verbinden, und diese Verbindung ist wichtig fr ihr Konzept einer guten Handlung.
1172 Fr Marc Aurel „liegt die spezifische Eigenschaft des guten Menschen nur noch darin, alles, was ihm passiert und bestimmt ist, zu lieben und gern anzunehmen“. M. Aur. Med. 3, 16 (siehe auch 2, 11; 4, 25; 5, 36; 6, 44). 1173 Wegen der notorischen bersetzungsschwierigkeit bleibt der Ausdruck hier unbersetzt. Das Griechische hat sich zudem hinreichend als Ausdruck durchgesetzt und Bekanntheit erreicht. 1174 Siehe fr bql^ z. B. Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985 und fr oQje¸ysir Engberg-Pedersen, T.: The Stoic Theory of Oikeiosis, a.a.O.
5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^)
643
Da der Antrieb auf den fhrenden Seelenteil und keine andere Instanz oder Aktivitt der Seele zurckgefhrt wird, steht er auch mit dem anderen, bereits erwhnten Theorieelement in Verbindung, der Oikeiosislehre. Da ein Antrieb als eine Bewegung der Seele auf etwas hin verstanden wird, handelt es sich beim Antrieb auch um ein zentrales Moment der Oikeiosis-Lehre, die, wie oben besprochen, einen Prozess beschreibt, bei dem ein Mensch sich mit sich selbst vertraut macht und einig wird, aber zugleich fortschreitend andere Menschen mit einbezieht und die Beziehungen zu sich als Teil dieses Prozesses versteht. Dass die Stoiker eine Philosophie entwickelt haben, die sowohl was die Theorie angeht als auch bei deren Umsetzung in der Praxis Kohrenz betont, wird auch anhand dieser beiden Themen deutlich. Neben dieser sachlichen Nhe und Verbindung bei frheren Stoikern gibt es einen zweiten Grund, den die beiden Themen in Bezug auf Marc Aurel gemeinsam haben: Marc Aurel geht auf sie nur hçchst selektiv ein, wobei seine Auffassung von bql^ deutlicher ist, schon weil er den Ausdruck hufiger gebraucht. Der Ausdruck Oikeiosis taucht in den Selbstbetrachtungen, wie bereits erwhnt, nicht auf. Er verwendet den Ausdruck bql^, wie zu zeigen sein wird, nicht zur Explikation einer Handlungstheorie, die sich bei ihm generell nicht findet. In beiden Fllen handelt es sich also um stoische Theorien, die Marc Aurel gekannt hat, aber nur selektiv anspricht. Von einem schulphilosophisch orientierten systematischen Standpunkt aus ist dies nur eine weitere Enttuschung. Aber die Untersuchung, welche Aspekte Marc Aurel auswhlt, ist bezeichnend fr seinen Stoizismus und daher lohnend. Fr P. Hadot ist Marc Aurel hinsichtlich dieses Themas ein besonders wichtiger Autor innerhalb der stoischen Tradition. Denn die alte Stoa habe nur bql^ und den fhrenden Seelenteil unterschieden. Dann, so Hadot weiter, finde sich bei Epiktet erstmalig eine Unterscheidung von Antrieb, Begehren und Bestreben. Und schließlich gebe Marc Aurel eine systematische Beschreibung der Wirklichkeit, die jenen Gegensatz zwischen Begehren und Antrieb viel prziser rechtfertigt, als es die in den von Arrian berlieferten Unterredungen des Epiktet tut.1175
Hadots These ist in dreierlei Hinsicht fragwrdig, abgesehen davon, dass er keine Kapitel zitiert oder auf eines verweist, um seine These zu belegen. (i) Trotz (oder wegen) der Krze seiner Aussagen ber die frhe stoische Position besteht der Verdacht, er unterscheide das stoische Konzept 1175 Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 185.
644
5. Ethik
von bql^ nicht hinreichend von der aristotelischen eqenir oder interpretiert die frhstoische bql^ nicht als Akt des Hegemonikon. (ii) Die Marc Aurel zugeschriebene Unterscheidung von bql^ und eqenir ist im Text nicht leicht zu belegen. (iii) Die Unterscheidung, die er Epiktet und vor allem Marc Aurel zuschreibt, ist nicht leicht zu verstehen und scheint die bemngelte falsche Auffassung der stoischen bql^ als Trieb, Begierde, Impuls und nicht als Urteil aufzufassen.1176 Marc Aurel verwendet den Ausdruck bql^ hufig. Wie also steht es um Marc Aurels Auffassung bzw. Rezeption der stoischen Vorstellung von bql^? Wie wenig sich Marc Aurel fr die Explikation einer Theorie der bql^ interessiert, zeigt sich zunchst daran, dass es keineswegs klar ist, ob und wie er bql^ und eqenir trennt. Es gibt berhaupt nur zwei Kapitel, in denen beide Ausdrcke zusammen genannt werden. In beiden Fllen handelt sich um Reihungen, bei denen allenfalls eine Unterscheidung vorausgesetzt wird, aber kein Versuch unternommen wird, eine angebliche Distinktion zu beschreiben oder gar zu erlutern: Jedes Urteil, jeder Wunsch, jedes Verlangen und jede Ablehnung entsteht in uns, und nichts kommt von außen herein.1177
1176 Hadots vollstndige Analyse lautet: „Begehren und Handlungsantrieb stellen eine Spaltung bzw. Verdopplung des Willens dar: Das Begehren ist gleichsam ein unwirksamer Wille, der Handlungsantrieb (oder das Streben) dagegen ein Wille, der eine Tat bewirkt. Das Begehren bezieht sich auf die Affektivitt, das Streben auf die Bewegung zur Ttigkeit hin. Das erste liegt im Bereich dessen, was wir empfinden, der Lust und des Schmerzes, und dessen, was wir zu empfinden wnschen: es ist dies der Bereich der Leidenschaft zugleich im Sinne eines Seelenzustandes und einer Passivitt gegenber einer ußeren Kraft, die sich uns aufdrngt. Das zweite dagegen liegt im Bereich dessen, was wir tun oder nicht tun wollen: es ist dies der Bereich der Handlung, der Initiative, mit der Idee einer uns innewohnenden Kraft, die sich bettigen will.“ Fraglich ist zum einem, ob Hadots Unterscheidung konsequent durchgefhrt wird, denn er ordnet sowohl die menschliche Fhigkeit, Lust und Schmerz zu erleben, als auch die menschliche Fhigkeit, etwas in dieser Hinsicht zu wnschen, dem passiven Bereich zu. Weder ist ein Wunsch, Lust zu empfinden, dasselbe wie das Empfinden von Lust noch ist er etwas rein Passives. Zum anderen ist fraglich, ob nicht das, was er unter der Aktivitt im Bereich der Handlungen versteht, nicht bereits bei frheren Stoikern als bql^ aufgefasst wurde. 1177 p÷sa c±q jq¸sir ja· bqlμ ja· eqenir ja· 5jjkisir 5mdom ja· oqd³m jaj¹m ¨de !maba¸mei. M. Aur. Med. 8, 28.
5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^)
645
Die Einbildung fortwischen, die Bedrfnisse einstellen, das Streben auslçschen, das leitende Prinzip der Seele in deiner Gewalt haben.1178
Die beiden Reihungen fhren zu einem weiteren Problem bei der Unterscheidung von bql^ und eqenir, nmlich der Frage, ob diese Unterscheidung evtl. anhand einer Bewertung vollzogen wird, derzufolge der Unterschied darin besteht, dass eine Seelenaktivitt von Marc Aurel positiver bewertet wird oder einen anderen Umgang erfordert. Die beiden Zitate geben auch darber nicht klar Auskunft. Es kçnnte sein, dass Marc Aurel im zweiten Zitat meint, den fhrenden Seelenteil in seiner Gewalt zu haben, hieße eben, Einbildung, Bedrfnisse und Streben zu eliminieren. Oder aber er meint, die Kontrolle ber den fhrenden Seelenteil sei etwas anderes, als Einbildung, Bedrfnisse und Streben zu eliminieren. Dieser Lesart zufolge werden hier alle vier empfohlen. Gegen diese zweite Deutung spricht das erste Zitat, denn dort sagt Marc Aurel recht klar, dass sowohl bql^ als auch eqenir nicht zwanghaft von außen bestimmt sind, sondern, wie Marc Aurel meint, zur Freiheitssphre des fhrenden Seelenteils gehçren. Aber auch im Falle der ersten Lesart ist irritierend, dass sowohl bql^ als auch eqenir eliminiert werden sollen und scheinbar ganz von der Freiheitssphre des fhrenden Seelenteils getrennt werden, als ob es sich nicht um Aktivitten desselben handeln wrde. In jedem Fall ist diese negative Einschtzung erstens nicht fr eine Unterscheidung von bql^ und eqenir hilfreich. Zweitens und schwerer wiegt, dass sie nicht ganz in bereinstimmung mit den Aussagen der anderen Kapitel steht. Denn Orexis wird negativ genannt,1179 aber eben auch positiv.1180 Da dies ebenfalls fr den Ausdruck bql^ gilt, selbst wenn hier wiederum die Nennungen berwiegend positiv sind, ist auf diese Diskrepanzen gleich einzugehen. Bevor Marc Aurels Behandlung der bql^ ausfhrlicher zu schildern ist, kann jedoch festgehalten werden, dass eine Trennung von bql^ und eqenir bei Marc Aurel weder begrndet noch offenkundig in signifikanter Weise verwendet wird. Marc Aurel kannte offenbar die Bedeutung des Konzeptes von bql^ fr die stoische Handlungstheorie. Dennoch scheint die Handlungstheorie ihn 1178 9nake?xai vamtas¸am7 st/sai bql¶m7 sb´sai eqenim7 1v’ 2aut` 5weim t¹ Bcelomijºm. M. Aur. Med. 9, 7. 1179 So auch das Epiktet-Zitat, das Kapitel M. Aur. Med. 11, 37 ausmacht. 1180 So fordert sich Marc Aurel auf, Dinge zu begehren, „die in unserer Macht liegen“ (M. Aur. Med. 8, 7; positiv auch 5, 34).
646
5. Ethik
nicht sonderlich zu interessieren, er expliziert sie nicht und macht davon offensichtlich keinen umfangreichen Gebrauch. Das wiegt schwer, gerade im Falle des dafr zentralen Terminus bql^. Denn die stoische Handlungstheorie, und nur sie, kann erklren, warum bql^ ein viel weiterer Ausdruck als Trieb, Verhaltensmuster oder Disposition ist.1181 Was also kçnnen wir ohne Explikation einer Handlungstheorie ber Marc Aurels Vorstellung von bql^ sagen? Wenn er keinen theoretischen Kontext mitliefert, kann untersucht werden, was Marc Aurel ber bql^ sagt, also welche Aspekte er auswhlt. Zu behandeln sind: (i) Die Hinweise dazu, was Marc Aurel an Wissen ber stoische Handlungstheorie und bql^ voraussetzt. (ii) Eine Beschreibung und Erklrung seiner prima facie widersprchlichen positiven und negativen Aussagen ber bql^. (iii) Die ethische Bedeutung seiner Vorstellung von bql^. (iv) Die epistemischen und grammatikalischen Aspekte der Konzeption der bql^. Diese tragen auch zur Erklrung der Form der Selbstbetrachtungen bei. Ad (i) Zum Hintergrund der stoischen Handlungstheorie bei Marc Aurel. Fr die Stoiker ist bql^ der zentrale Terminus ihrer Handlungstheorie, weil damit erstens nicht nur ein blinder Trieb oder eine Disposition gemeint ist. Zweitens bezeichnen die Stoiker damit mehr als nur eine Willensentscheidung oder eine Handlungsintention. Dass auch Marc Aurel bql^ als Ursache fr eine Handlung betrachtet, wird etwa deutlich, wenn er ber bql^ genauso spricht wie ber Handlungen. Von der bql^ zu sprechen, heißt, von einer Handlung zu sprechen.1182 Den Ausdruck bql^ verwenden die Stoiker vielleicht aus diesem Grunde viel hufiger als den der Handlung (pq²tteim). Fr die Stoiker ist der Antrieb selbst ganz von der freien Zustimmung abhngig. Diese Theorie scheint Marc Aurel zu kennen, denn er schreibt: Denk daran, dass es gleichermaßen Zeichen innerer Unabhngigkeit ist, seine Meinung zu ndern, wie dem zu folgen, der uns auf den richtigen Weg zu-
1181 Inwood stellt zu Recht fest: „hormÞ is a theoretical term in the analysis of action. This analysis gives hormÞ a much wider role.“ Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 45. 1182 In einem Atemzug nennt Marc Aurel Antrieb und Handlung etwa in M. Aur. Med. 8, 1.
5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^)
647
rckbringt. Denn es ist dein eigenes Handeln, wenn du es deinem Antrieb und Urteil und so denn auch deiner Vernunft entsprechend vollziehst.1183
Statt die Handlungstheorie zu explizieren, erwhnt Marc Aurel diesen einen Umstand immer wieder. Die Behandlung des folgenden Punktes (ii) macht deutlich, warum. Denn Marc Aurel scheint noch auf eine weitere stoische Lehre, die mit der stoischen Auffassung von bql^ in Verbindung steht, zurckzugreifen. Dies kçnnte auch zur Erklrung eines weiteren Kapitels hilfreich sein, in welchem Marc Aurel scheinbar deutlich von der stoischen Lehre abweicht, indem er, die bql^ der Seele zuordnet, dem Geist die berzeugungen.1184 Dass klingt nicht wie die frhstoische HormÞlehre, der zufolge ein Antrieb ein vernnftiger Akt des fhrenden Seelenteils ist. Auch fr dieses Problem gibt es vielleicht im folgenden Abschnitt eine Lçsung. Ad (ii) Sind Marc Aurels Aussagen ber die bql^ widersprchlich? Marc Aurels Aussagen ber die bql^ wirken widersprchlich, weil er sich darber sowohl sehr negativ als auch positiv ußert. Negativ schreibt Marc Aurel ber bql^ etwa, wenn er sich auffordert, die Bedrfnisse einzustellen,1185 oder dafr Sorge tragen will, dass sein leitendes Seelenvermçgen „nicht mehr in Abhngigkeit von einem egoistischen Trieb hin und her gerissen“1186 ist. In positivem Ton hingegen verwendet Marc Aurel den Ausdruck bql^, wenn er davon spricht, dass auch der Kosmos seine Entstehung einem solchen Antrieb verdankt.1187 Darber hinaus fordert er sich auf, bql^ zu haben, und zwar einen Antrieb, der vom Hegemonikon kontrolliert wird und so von Grundstzen ausgeht,1188 der also die Handlung auf ein wohl
1183 sμ c±q 1m´qceia, jat± tμm sμm bqlμm ja· jq¸sim ja· dμ ja· jat± moOm t¹m s¹m peqaimol´mg. M. Aur. Med. 8, 16 (Die bersetzung von hormÞ weicht von der Nickels (,Wille‘) ab); (siehe auch 8, 1 oder 7, 4; 7, 62). 1184 Siehe M. Aur. Med. 3, 16. 1185 Siehe das bereits zitierte Kapitel M. Aur. Med. 9, 7. 1186 tq¸tom owm 1sti t¹ Bcelomijºm. %ver t± bibk¸a7 lgj´ti sp_7 oq d´dotai. !kk’ ¢r Edg !pohm-sjym ¨de 1pimo¶hgti7 c´qym eW7 lgj´ti toOto 1²s,r doukeOsai, lgj´ti jah’ bqlμm !joim¾mgtom meuqospastgh/mai. M. Aur. Med. 2, 2 (siehe ebenso 6, 16). 1187 Siehe M. Aur. Med. 4, 40 oder 9, 1. 1188 Siehe M. Aur. Med. 3, 6; 8, 1.
648
5. Ethik
berlegtes Ziel ausrichtet,1189 nmlich auf ein gerechtes und gemeinschaftsbezogenes Handeln.1190 Lassen sich diese negativen und positiven Bewertungen durch eine einheitliche Position erklren? Und wenn ja, ist fraglich, ob diese Position im Einklang mit der stoischen Tradition steht. Eine erste Erklrung fr diesen Textbefund basiert auf der eklektizistischen Gesamtinterpretation Marc Aurels. In Bezug auf die bql^ sei es so, dass Marc Aurel in den Kapiteln 9, 7 und 3, 16 (platonisierend) die bql^ von der Vernunftbegabung des Menschen trennt und in Folge als triebhafte Regung eines von der Vernunft unterschiedenen Seelenvermçgens ablehnt. In den anderen Kapiteln wrde Marc Aurel dann wieder die stoische Position vertreten. Es gibt aber eine andere Deutung, die die Gesamtheit der Kapitel ber die bql^ bei Marc Aurel auf Grundlage der stoischen Lehre versteht. Denn die Stoiker kennen zwei Arten von bql^, eine bei nicht-rationalen und eine bei rationalen Lebewesen.1191 Das Verhalten von nicht-rationalen Lebewesen, Tieren, erklrt sich wie das der Menschen vollstndig durch bql^. Tiere haben auch einen fhrenden Seelenteil,1192 der aber nicht rational ist. Aufgrund dieses Unterschiedes verfgen Tiere nicht ber die Fhigkeit zur Zustimmung.1193 Der Antrieb eines Tieres folgt daher notwendig auf den Stimulus der Vorstellung. Die bql^ des Menschen hingegen existiert nicht ohne die Zustimmung der Vernunft, die seinen fhrenden Seelenteil auszeichnet. Diese Unterscheidung hat Marc Aurel gekannt. Die bql^ von nichtrationalen Lebewesen thematisiert er im Rahmen einer scala naturae.1194 Wenn Marc Aurel diese Unterscheidung gekannt hat, hilft sie, zu erklren, 1189 „Denn auch diejenigen sind tçricht in ihrem Tun, die vom Leben erschçpft sind und kein Ziel haben, auf das sie jeden inneren Antrieb und berhaupt jede Vorstellung richten kçnnen.“ M. Aur. Med. 2, 7 (siehe auch 2, 16). 1190 Siehe M. Aur. Med. 4, 22; 8, 7. 1191 Fr diese Unterscheidung siehe Sandbach, F. H.: The Stoics, a.a.O., S. 60, und Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 72 – 78. 1192 Inwood nennt ihn sowohl hegemonikon als auch, um ihn vom fhrenden Seelenteil mit Vernunft zu unterscheiden, quasi-hegemonikon (siehe Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 72 und 75). 1193 Die Darstellung hier folgt Sandbach und Inwood. Fr eine gegenteilige Auffassung siehe Long, A. A.: Body and Soul, in: Phronesis 27 (1982), S. 34 – 58, hier: S. 50 und Anm. 41. Aber auch Long spricht Tieren die Fhigkeit zur Zustimmung zu, aber unterscheidet diese Zustimmung von der der Menschen, so dass grundstzlich ein Unterschied gewahrt bleibt. 1194 Siehe M. Aur. Med. 6, 16.
5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^)
649
warum er in einigen Kapiteln bql^ ablehnt. Negativ ist seine Haltung immer dann, wenn er diese nicht-rationale, weil ohne Zustimmung zustande gekommene bql^ meint. In keinem der ablehnenden Kapitel wird die Kontrolle und Bedeutung eines rationalen fhrenden Seelenteils erwhnt. Ad (iii) Ethische Aspekte der bql^-Konzeption bei Marc Aurel. Indem Marc Aurel betont, dass der Antrieb eine Vernunftentscheidung ist, die die Handlung bestimmt, gibt er die stoische Handlungstheorie wieder, die ja nicht nur Handlungen beschreiben und erklren mçchte, sondern zugleich die Verantwortlichkeit des Menschen angesichts der kosmischen Bestimmtheit durch die Vorsehung begrnden und betonen mçchte. Mit dieser Verantwortlichkeit des rationalen Menschen fr sein Handeln wird auch ein weiterer Aspekt deutlich, der die stoische Handlungstheorie von anderen Handlungstheorien unterscheidet. Denn ohne Verantwortung fr das Handeln gibt es keine ethische Bedeutung. Die Verbindung wird in folgendem Kapitel deutlich. Marc Aurel stellt darin die Frage nach dem guten Leben: Wo ist es denn? In der Ausfhrung dessen, was die Natur verlangt. Wie wird er das ausfhren? Wenn er Grundstze hat, von denen die Wnsche und Handlungen ausgehen. Was sind das fr Grundstze? Es sind Grundstze ber das Gute und das Schlechte…1195
Der Zusammenhang von der vernnftigen Natur des Menschen, seiner Fhigkeit zur Zustimmung, dem entsprechenden Antrieb und den ethischen Zielen macht Marc Aurel wie folgt deutlich: Jede Natur ist mit sich selbst zufrieden, wenn es ihr gut geht. Einer vernnftigen Natur geht es gut, wenn sie weder einer falschen noch unklaren Vorstellung ihre Zustimmung gibt, ihr Wollen allein auf gemeinschaftsfçrdernde Werke richtet…1196
Wenn ein Antrieb ein Vernunftakt ist, berrascht es nicht, dass Marc Aurel auch bei der Behandlung der bql^ die Gemeinschaftsorientierung, die Gerechtigkeit und soziale Tugenden betont.1197 1195 poO owm 1stim. 1m t` poie?m $ 1pifgte? B toO !mhq¾pou v¼sir. p_r owm taOta poi¶sei. 1±m dºclata 5w, !v’ ¨m aR bqla· ja· aR pq²neir. t¸ma dºclata. t± peq· !cah_m ja· jaj_m… M. Aur. Med. 8, 1. 1196 )qje?tai p÷sa v¼sir 2aut0 eqodo¼s,, v¼sir d³ kocijμ eqode? 1m l³m vamtas¸air l¶te xeude? l¶te !d¶k\ sucjatatihel´mg, t±r bql±r d³ 1p· t± joimymij± 5qca lºma !peuh¼mousa. M. Aur. Med. 8, 7. 1197 Siehe M. Aur. Med. 4, 22.
650
5. Ethik
Die Konzeption des Antriebes ist der Nexus, an dem die Handlungstheorie zwei grundlegende Ambitionen der Stoa vereinigt. Einerseits ist die Handlung ganz durch Urteile des Menschen bestimmt. Neben dem intellektualistischen Aspekt in der Ethik wird damit zugleich die Freiheit und Verantwortung des Menschen in einem von der Vorsehung bestimmten Kosmos betont. Zum anderen wird so die ethische Bedeutung der Urteile unterstrichen, denn nach stoischer Lehre fhren Urteile notwendig zu Handlungen, und deren ethische Bedeutung wird bereits durch die ihnen zugrunde liegenden Urteile vollumfnglich bestimmt. Ad (iv) Marc Aurels Auffassung von der bql^ und die Form der Selbstbetrachtungen. Dass eine Zustimmung einer bql^ vorausgehen muss und sie bestimmt, ist noch in einer anderen Hinsicht bedeutsam, denn das zugrunde liegende Urteil muss eine besondere Form haben. Es muss ein Urteil sein, das nicht etwa zu einem weiteren Urteil fhrt, sondern zu einem Antrieb, also eine praktische Zielgerichtetheit zur Folge hat.1198 Zustimmung ist fr die Stoiker immer an Aussagen gebunden, die eine bestimmte Grammatik haben, und Zustimmungen, die zur praktischen Zielgerichtetheit, bql^, und dann zu Handlungen fhren, drften eine bestimmte grammatische Form haben. B. Inwood beschreibt dies wie folgt: How are we to understand the report that Chrysippus described impulse as ‘the reason of man commanding him to act’?1199 Such a statement, which immediately brings to mind recent imperatival theories of the will, suggests that an imperative rather than an indicative mood suggested by ‘assent’ is the grammatical correlative of impulse.1200
Inwood verfolgt diese Gedanken nicht weiter, was sicher auch mit der Quellenlage zur frhen Stoa, auf die seine Untersuchung konzentriert ist, zu tun hat. Es mag aber auch daran liegen, dass die Texte der frhen Stoa theoretische Texte sind, insofern sie eine stoische Theorie ber bql^ und die zugrunde liegende Zustimmung darlegen und weniger solche Urteile im Wortlaut wiedergeben. Inwoods Beobachtung ist aber auch fr die hiesige Untersuchung ußerst wertvoll, denn sie hilft, die besondere Form der Selbstbetrachtungen zu erklren. Die vielen Imperative, die den Grundton der Kapitel bestimmen, lassen sich also nicht nur durch Marc Aurels Fortfhrung der Tradition der 1198 Siehe dazu Brennan, T.: The Stoic Life, a.a.O., S. 84 ff. 1199 B. Inwood zitiert hier SVF 3, 175. 1200 Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 46 f.
5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^)
651
Literaturform Parnese erklren. Auch die stoische Theorie der bql^ trgt zum Verstndnis der Textform der Selbstbetrachtungen bei. Wenn es so ist, dass Marc Aurel erstens positiv auf bql^ rekurriert, und zwar immer dann, wenn diese nach freier Zustimmung auf vernnftige Dogmen des fhrenden Seelenteils beruhen, und wenn zweitens diese Urteile schließlich ihrer grammatischen Form nach den Imperativ verlangen, dann kçnnen wir die vielen Kapitel, in denen Marc Aurel sich auffordert, als Ausdruck einer bql^ lesen. Indem Marc Aurel sich schriftlich zu etwas auffordert, drckt er einen vernunftbasierten Antrieb aus. Der Text der Selbstbetrachtungen lsst sich demnach als Selbstdialog auffassen, und zudem kçnnen die auffordernden Kapitel durch einen bestimmten Antrieb verstanden werden, der bereits nach altstoischer Theorie eine sprachliche Form hatte. Marc Aurel schreibt mit den Selbstbetrachtungen genau das auf. Diese Interpretation der vielen Imperative schließt alle grammatischen Formen ein (Du-Form, Ich-Form, Imperativ mit Infinitivform). Schließlich wre diese Deutung der adhortativen Kapitel ein weiteres Indiz fr die These, dass Marc Aurels Selbstbetrachtungen stoische Philosophie nicht nur thematisieren, also im Rahmen eines Gegenstandsverhltnisses behandeln mçchten. Neben und mit der Reflexion findet sich die Aktualisierung. Wenn den parnetischen Kapiteln eine bql^ und entsprechende Urteile zugrunde liegen, gibt es mehr Kapitel, die durch die Anwendung der bql^-Konzeption praktisch bestimmt sind als solche, die eine bql^-Konzeption theoretisch explizieren. An dieser Stelle kçnnte sich ein Vergleich mit Epiktet anschließen. Denn Epiktet unterscheidet bql^ und eqenir in Abweichung von der stoischen Tradition. Fraglich ist daher, ob Marc Aurel Epiktet folgt und ob dies weitergehende Spuren in seinem Denken hinterlassen hat. Da Epiktets Unterscheidung von bql^ und eqenir mit seiner Auffassung von jah^jomta einhergeht und letztere maßgeblich ndert, soll dieser kurze Vergleich am Ende der Untersuchung von Marc Aurels Auffassungen der jah^jomta stehen.1201
1201 Siehe Kap. II 5.5.1.
652
5. Ethik
5.3.1 Marc Aurels Vorstellung von der bql^ im Lichte der Oikeiosis-Lehre An dieser Stelle kann noch einmal kurz auf die von Marc Aurel nicht erwhnte, aber ihm sicher bekannte und von ihm verwandte Oikeiosis-Lehre eingegangen werden. Sie wurde bereits im Kapitel ber die politische Natur des Menschen eingehender erwhnt.1202 Die Oikeiosis-Lehre setzt voraus, dass Menschen eine natrliche Anlage zur Selbsterhaltung haben. Demzufolge kann die Sorge dann nicht nur, wie bei Tieren, auf die Nachkommen, sondern – idealerweise – auf alle Menschen ausgedehnt werden. Diesen ußerst anspruchsvollen Forderungen muss die Handlungstheorie entsprechen und konzeptionell Handlungsmotivationen und -antriebe beinhalten, die dies leisten. Nach der Behandlung von Marc Aurels Vorstellung von bql^ kann nun untersucht werden, ob sie seine Vorstellung vom Menschen als Brger des Kosmos untersttzen hilft. Mit diesem Zusammenhang von bql^ und Oikeiosis-Lehre bei Marc Aurel beschftigt sich bereits eine Deutung von P. Hadot. Er nimmt an, dass bei Marc Aurel die gute Handlung erstens natrlich, und das hieße, unwissend und unreflektiert vollzogen werden solle, und zweitens, gegen das eigene Interesse, vollkommen selbstlos sein solle. Marc Aurel lçse sich damit von der stoischen Lehre und vertrete eine Position wie Jesus und Plotin.1203 Dem widerspricht aber, dass sich Marc Aurel mehrfach dazu auffordert, die bql^ und damit die Handlungen an Grundstzen auszurichten, also durch die freie Ausbung der Vernunft bestimmen zu lassen. Diese erfordert aber die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen und schließlich Zustimmung. Indem Hadot angibt, die „wahre Wohltat soll wie der tierische Instinkt spontan und unreflektiert sein“,1204 wird ferner Marc Aurels Unterscheidung einer unreflektierten bql^, die er ablehnt, und einer reflektierten, weil vernunftabhngigen, die er ausdrcklich befrwortet, missachtet. Hadot bersieht also, dass Marc Aurel hier in der Tat auf stoisches Gedankengut zurckgreift. Gerade seine Unterscheidung animaler, nichtreflektierter bql^ von derjenigen, die durch Vernunft bestimmt wird, hilft zu verstehen, wie wichtig die Auffassung von bql^ fr die Oikeiosislehre der Stoiker ist. Die Auffassung von bql^ stellt nicht nur das Zentrum der 1202 Siehe Kap. II 2.2. 1203 Siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 280 f. 1204 Ebd., S. 280.
5.3 Handlungen und ihr Antrieb (bql^)
653
Handlungstheorie dar, sondern auch der Vorstellung, dass die Sorge um Selbsterhaltung und das eigene Wohl auf andere Menschen ausgedehnt wird. Diogenes Laertius referiert die Position der Stoiker: Sie sagen, der erste Trieb eines Lebewesens richte sich darauf, sich selbst zu erhalten, weil die Natur es von Anfang an sich zu eigen mache, wie Chrysipp im ersten Buch seiner Schrift ber die Endziele sagt. Fr jedes Lebewesen, so erklrt er, ist das erste ihm Eigene seine eigene Konstitution und das Bewusstsein davon. Denn es stnde der Natur weder an, sich das Lebewesen selbst zu entfremden noch, es zwar zu schaffen, dann aber weder zu entfremden noch sich zueigen zu machen. Es bleibt also brig zu sagen, dass die Natur, als sie es konstruierte, es sich selbst zueigen machen wollte. So nmlich erklrt sich, dass das Lebewesen das abwehrt, was schdlich ist, und das akzeptiert, was ihm zueigen ist […].1205 Die Natur, sagen sie, ist in Bezug auf die Pflanzen und Tiere nicht verschieden zu der Zeit, wenn sie sie ohne Trieb und Sinneswahrnehmung einrichtet (und lenkt) und wenn bei uns bestimmte Prozesse vegetativer Art stattfinden. Weil die Tiere aber zustzlich mit einem Trieb ausgestattet sind, durch dessen (zustzlichen) Gebrauch sie sich auf die Suche nach dem machen, was ihnen zu eigen ist, deshalb ist es fr sie naturgemß, in bereinstimmung mit ihrem Trieb verwaltet zu werden. Und weil aufgrund eines vollendeteren Managements den vernunftbegabten Lebewesen die Vernunft verliehen wurde, deshalb ergibt sich fr diese, dass es fr sie naturgemß ist, in bereinstimmung mit der Vernunft richtig zu leben. Die Vernunft kommt nmlich als kunstverstndige Kçnnerin zum Trieb hinzu.1206
Diese Vorstellung findet sich auch bei Marc Aurel, wenn er im Rahmen einer scala naturae Tiere und Menschen unterscheidet und auch den Tieren bql^ zuspricht.1207 Fr die Stoiker ist nun aufgrund ihrer Handlungstheorie wichtig, dass auch die kosmopolitisch orientierten Handlungen aufgrund einer bql^ vollzogen werden. Es gibt also im Stufenmodell eine Kontinuitt, denn Tiere und Menschen handeln jeweils aufgrund einer bql^. Da der Mensch ber Vernunft verfgt, kann er diese Vernunft qua Zustimmung seiner Antriebe so ausweiten, dass die Selbstsorge nun zur Sorge fr alle Menschen wird. Dieser Punkt ist sehr entscheidend fr die stoische Oikeiosislehre. Denn ohne eine bql^ bleiben die gemeinschaftsorientierten Handlungen ohne Grund und Erklrung. Nur eine bql^ kann die Motivation dazu erklren. Gleichzeitig gewhrt der bql^-Begriff die Gemeinsamkeit, die 1205 Diogenes schildert dann das Argument der Stoiker gegen die Vorstellung der Epikureer, der Antrieb nach Lust sei primr. 1206 Diog. Laert. 7, 85 – 86 (=LS 57 A). 1207 Siehe nochmals M. Aur. Med. 6, 16.
654
5. Ethik
zwischen Tieren und Menschen herrscht: Die allgemeine Natur will, dass die speziellen Naturen nach Selbsterhalt streben. Die spezifische Differenz besteht eben darin, dass Tiere ohne Zustimmung unreflektiert ihren Antrieben nachgeben, whrend Menschen ihre Antriebe durch Vernunftgebrauch bestimmen und dem Inhalt nach auf alle Menschen erstrecken kçnnen. Fr diese entscheidende Grundlage der stoischen Oikeiosislehre finden wir gerade bei Marc Aurel Textbelege.1208 Htte Hadot mit seiner These Recht und Marc Aurel wrde in der Tat vçllig selbstlose Handlungen fordern, die gegen das eigene Interesse verstoßen, so wrde Marc Aurel die Tradition der Oikeiosislehre nicht fortsetzen, sondern damit brechen. Fr Hadot gibt es keine Kontinuitt in der Entwicklung des ersten Antriebs bis hin zur Ausweitung des eigeninteressierten Antriebs auf das Gemeinwohl, sondern einen radikalen Bruch zwischen animalem Eigeninteresse und vernnftiger Selbstlosigkeit. Marc Aurel erinnert sich aber mehrfach daran, dass die gemeinschaftsorientierten Handlungen im eigenen Interesse stehen und dem eigenen Glck dienen, und zwar dann, wenn man seine eigene politische Natur erkannt hat: „Habe ich solidarisch gehandelt? Also habe ich etwas gewonnen.“1209 Der Stufung der bql^ entspricht die Stufung der Oikeiosis. Der vernunftlosen unreflektierten bql^ der Tiere entspricht die Selbstwahrnehmung, Selbsterhaltung und bereits die Frsorge fr die Nachkommen. Mit der Vernunftbegabung ist auch die Fhigkeit gegeben, die bql^ gemß dem erweiterten Verstndnis des Eigenen auf alle anderen Menschen zu beziehen.1210 Wegen dieser Abhngigkeit der gemeinschaftsorientierten Antriebe von der Reflexion der Vernunft ist Hadots Interpretation problematisch, Marc Aurel wende sich von der Stoa ab und fordere wie Jesus oder Plotin ein gleichsam unbewusstes Handeln.1211 Abgesehen davon, dass Hadot
1208 Siehe nochmals M. Aur. Med. 4, 22 oder 8, 7. 1209 M. Aur. Med. 11, 4 (siehe auch das bereits zitierte Kapitel 7, 13). 1210 Siehe rckblickend noch einmal das Kapitel II 3.2.5. 1211 Hadot zitiert Jesus („Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine Rechte tut.“) und Plotin („Ebenso wenig muss der Tapfere wissen, dass er tapfer ist und der Tugend der Tapferkeit gemß handelt … man kçnnte sogar sagen, dass das Bewusstsein die Handlung derer es gewahr wird, zu trben und zu schwchen scheint“). Beide Zitate nach Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 280.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
655
keine Marc-Aurel-Zitate fr seine These anfhrt,1212 zeigen die Kapitel, in denen Marc Aurel permanente Vorstellungs- und Urteilskontrolle fordert, dass ein solches unbewusstes Agieren nicht sein Anliegen sein kann. Mit dem Handlungsantrieb und seiner Bedeutung fr die Oikeiosislehre ist beschrieben, was nach stoischer Auffassung vor einer Handlung im Agenten geschieht und die Handlung bestimmt. Nun ließe sich nach wichtigen Aspekten der Handlung selbst fragen: Wann sind Handlungen angemessen, und wie reagiert die stoische Philosophie in Theorie und Praxis auf den Umstand, dass Handlungen nicht notwendig so verlaufen, wie sie vom Handelnden geplant wurden? Zuvor aber ist noch einmal auf die Konzeption der bql^ einzugehen, denn die Leidenschaften, um die es im folgenden Kapitel gehen wird, versteht Marc Aurel, wie die Stoiker generell, als eine besondere Form des Antriebes. Als Handlungsantrieb sind Leidenschaften etwas, das Handlungen vorausgeht. Danach sollen dann die erwhnten beiden Aspekte der Handlungen, ihre Angemessenheit und der Umgang mit ihrer Kontingenz, behandelt werden. 5.4 Leidenschaften und positive Affekte Die Untersuchung der Leidenschaften1213 und positiven Affekte knpft an zwei vorherige Kapitel an. Zum einen wird das Kapitel ber Antriebe fortgesetzt oder erweitert, da die Leidenschaften von den Stoikern als eine besondere Art von Antrieben aufgefasst werden. Zum anderen werden berlegungen aus dem Kapitel ber die politische Natur des Menschen aufgenommen. Denn dort deutete sich bereits an, dass Marc Aurel durchaus intensive soziale und politische Bindungen zu Mitmenschen von 1212 Das notorisch schwierige Kapitel M. Aur. Med. 5, 6 bietet, wie auch Hadot zugesteht, keine Lçsung des Problems. 1213 Die bersetzung und Wortwahl ist auf diesem Feld besonders schwierig, weil einige Ausdrcke wie „Emotion“ durch sptere philosophische Entwicklungen geprgt sind. Zugleich ist der Ausdruck „Emotion“ angesichts umfangreicher moderner Forschungen fr viele Begriffe verwandt worden. Im Rahmen der folgenden Ausfhrungen wird „Leidenschaften“ fr den von den Stoikern sehr eng gefassten Ausdruck p\hg verwendet. Daneben wird von „positiven Affekten“ die Rede sein. Der Ausdruck bezieht sich auf mehr als auf die wenigen von Stoikern erwhnten eqp²heiai. Von Affekten ist hier also als oberster Gattung die Rede, um die Rede von Emotionen zu vermeiden. Wenn der Ausdruck Emotionen verwandt wird, dann um auf Positionen in der Forschung hinzuweisen.
656
5. Ethik
sich forderte. Wegen dieser Betonung des Gemeinschaftsgedankens wurde fraglich, ob und wenn ja, welche Leidenschaften, Gefhle oder Affekte diese politischen und sozialen Beziehungen motivieren, begleiten oder zur Folge haben. Neben diesen beiden Anschlssen an bereits behandelte Themen gibt es zwei weitere Grnde, die Leidenschaften in den Selbstbetrachtungen zu untersuchen: Erstens ist das Thema von allgemeiner Bedeutung. Die Stoiker haben sich intensiv darum gekmmert, und zugleich handelt es sich um einen Teil ihrer Philosophie, der besonders originell sein drfte. Von den vielen Aspekten der stoischen Philosophie wurde die Theorie der Leidenschaft besonders hufig und ausgiebig erforscht.1214 Dabei hat natrlich gerade die frhstoische Position viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So hat es etwa wegen der Quellenlage ußerst schwierige Rekonstruktionen der Position von Chrysipp gegeben, die beachtliche Ergebnisse erzielt haben.1215 Seit einiger Zeit mehren sich auch die Forschungen zur rçmischen Stoa und der Rezeption der stoischen Position insgesamt bei Galen.1216 Marc Aurel hingegen wird bei diesen Forschungsarbeiten randstndig und oft nur zu Zwecken der Exemplifikation angefhrt. Eine einsame Ausnahme und nicht nur daher wertvoll ist ein Artikel von Troels Engberg-Pedersen,1217 der Marc Aurel als einem Autor, der ber Leidenschaften schreibt, ein eigenstndiges Interesse entgegenbringt. Besonders frappierend ist, dass 1214 Siehe Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 127 – 180; Brennan, T.: The Old Stoic Theory of the Emotions, in: Sihvola, J./EngbergPedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, Dordrecht 1998, S. 21 – 70; ders.: Moral Psychology, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, a.a.O., S. 257 – 294; ders.: The Stoic Life, a.a.O., S. 82 – 113. 1215 Siehe Tieleman, T.: Chrysippus’ On Affection. Reconstruction and Interpretation, a.a.O. 1216 Siehe vor allem die Arbeiten von Sorabji, R.: Emotions and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation, a.a.O., und ders.: What is new on emotion in Stoicism after 100 BC?, a.a.O. Sorabji erwhnt Marc Aurel nicht im Zusammenhang mit Leidenschaften. Siehe speziell zu Galen Gill, Ch.: Did Galen understand Platonic and Stoic Thinking on Emotions?, in: Sihvola, J./EngbergPedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, a.a.O., S. 113 – 148 und Christopher Gills demnchst erscheinendes Buch ber Galen bei Oxford University Press. 1217 Siehe Engberg-Pedersen, T.: Marcus Aurelius on Emotions, in: Sihvola, J./Engberg-Pedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, a.a.O., S. 305 – 338.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
657
P. Hadot in seiner großen Marc-Aurel-Studie dem Thema kaum Aufmerksamkeit schenkt. Diese Vernachlssigung von Marc Aurel ist aber auch deswegen so bemerkenswert, weil sie den zweiten Punkt betrifft, der eine Untersuchung der Selbstbetrachtungen interessant macht: Marc Aurel ist immer wieder dann zitiert worden, wenn es darum ging, die stoische Position zu kritisieren. Ihm wird dabei, wie gerade erwhnt, kein eigenstndiges Interesse entgegengebracht, so dass unberprft bleibt, ob er eine von der stoischen Tradition abweichende Position vertritt. Er wird vielmehr gerne als bekannte stoische Figur erwhnt. Das betrifft vor allem Interpreten, die umfassendere und moderne Theorien von Emotionen im Blick haben. Die stoische Theorie steht gerade wegen ihrer Aussagen zu Leidenschaften in dem Ruf, „inhuman“ zu sein, und bei diesem Vorwurf 1218 wird besonders gerne auf Marc Aurel verwiesen.1219 Was Affekte allgemein angeht, wird Marc Aurel auf zwei Ebenen kritisiert: Einerseits seien die Selbstbetrachtungen Ausdruck von bestimmten und darber hinaus ganz unphilosophischen Affekten oder Einstellungen, wie Verzweiflung und Pessimismus. Andererseits empfehle er eine idealisierte Lebensfhrung, in der ein Mensch apathisch, innerlich unbewegt wie ein Toter lebe.1220 Insbesondere M. Nussbaum hat Marc Aurel diesbezglich kritisiert. Schon um Marc Aurels Position prziser zu beschreiben, wird es sich lohnen, gerade auf ihre Kritik nher einzugehen. Die beiden Aspekte, die Beschreibung der Position bei Marc Aurel einerseits und die Bewertung bzw. Kritik andererseits, bedingen sich wechselseitig besonders stark. Im Folgenden werden diese Momente daher nicht vçllig zu trennen sein. Es erscheint sinnvoll, vorab kurz auf einige wenige Aspekte, die fr diese Verquickung von Beschreibung und Be1218 Siehe dazu die gute Diskussion bei Irwin, T.: Stoic Inhumanity, in: Sihvola, J./ Engberg-Pedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, a.a.O., S. 219 – 242. 1219 Siehe Nussbaum, M. C.: „Finely Aware and Richly Responsible“: Literature and Moral Imagination, in: dies. (Hg.): Love’s Knowledge, Oxford 1990, S. 148 – 167; dies.: Love, Literature and Human Universals, in: Kallhoff, A. (Hg.): M. C. Nussbaum. Ethics and Political Philosophy, a.a.O., S. 129 – 152; dies.: The Transfiguration of Everyday Life, a.a.O. Positiver ber Marc Aurel, aber nur in Bezug auf die kosmopolitische Grundhaltung ist Nussbaum, M. C.: Patriotism and Cosmopolitanism, in: dies.: For Love of Country, a.a.O., S. 3 – 20. 1220 Siehe Nussbaum, M. C.: Kosmopolitismus heute: Tatschliche Chancen aller auf ein vollauf gutes Leben. Interview mit Martha C. Nussbaum. Angela Kallhoff, a.a.O.
658
5. Ethik
wertung relevant sind und bei der Untersuchung des Textmaterials wiederkehren werden, kurz getrennt einzugehen. Denn es gibt Missverstndnisse, die die stoische Auseinandersetzung mit den Leidenschaften vorschnell in ein falsches Licht rcken. Worum geht es den Stoikern, wenn sie, wie viele antike Ethiken, die Auseinandersetzung mit den Leidenschaften als ein zentrales Moment einer gelingenden Lebensfhrung erachten? Die Missverstndnisse betreffen erstens die Bestimmung dessen, was Leidenschaften sind, und zweitens die spezifische Stoßrichtung der stoischen Debatte. Erstes Missverstndnis: Die Stoiker reden von p\hg. Vielleicht nicht ganz unabhngig von den gngigen bersetzungen („Passionen/passions“, „Leidenschaften“, „Emotionen/emotions“) ist der Eindruck entstanden, dass die Stoiker von etwas sprechen, das, wie die Emotionen bei Hume, nicht auf Urteilen basiert1221 und daher nicht falsch oder richtig sein kann. Neben den modernen bersetzungen ist die sachliche Auffassung der Stoiker an einem solchen Verstndnis nicht ganz unschuldig, zumindest dann, wenn sie z. B. Schmerz als p\hor beschreiben. Aber fr die Stoiker basieren alle p\hg nicht nur auf einem Urteil, sondern auch auf einem falschen. Zweites Missverstndnis: Den Stoikern geht es in ihrer Theorie der p\hg weniger um eine Theorie der Gefhle, besonders dann nicht, wenn man darunter auch eine Theorie versteht, in der behandelt wird, wie sich Gefhle anfhlen, wie sie erlebt werden. Wie sich p\hg anfhlen, ob so etwas wie Qualia im Spiel sind, ist nicht das, was die Stoiker behandeln wollten. An p\hg interessiert sie vorrangig das Verstndnis der Relation von falschen Urteilen und falschen Handlungen und dem daraus resultierenden Unglck.1222 Diese letztgenannte Deutung ist nicht ganz unumstritten, denn die Stoiker sprechen hufig genug ber mentale Zustnde, die wir deutlich mit positiven Affekten und einem bestimmten Erleben in Verbindung bringen, wie z. B. Ruhe oder Freude. Diese Interpretation wird also genauer zu diskutieren sein und entscheidende Hinweise auf die Frage nach der Bewertung liefern. Beide Missverstndnisse bercksichtigen unzureichend, was fr die Stoiker p\hg sind und welche Funktion sie im Rahmen der Theorie haben. 1221 Oder ihnen nicht einmal zugnglich ist. 1222 Diese Deutung ist nicht ganz unumstritten. Sie ist in jngster Zeit vor allem von T. Brennan vertreten worden (siehe Brennan, T.: Moral Psychology, a.a.O.; ders.: The Stoic Life, a.a.O., S. 82 – 113).
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
659
Auch ein angemessenes Verstndnis der Aussagen Marc Aurels ber Leidenschaften wird daher bei der grundstzlichen Bestimmung einer Leidenschaft als besonderer Form des Antriebes ansetzen. Ein solches Vorgehen ist nicht neu. Seit der bahnbrechenden Arbeit von B. Inwood und Folgearbeiten von Brenann ist nicht nur die Begrifflichkeit bql^ im stoischen System besser verstanden, sondern auch erkannt worden, dass sich so das Denken der Stoiker ber praktische und ethische Fragen angemessener verstehen lsst. Dennoch ist ein solcher Ansatz bis dato noch nicht fr Marc Aurel fruchtbar gemacht worden. Gerade hierin besteht die Differenz zu der bisher einzigen Arbeit von Troels EngbergPedersen, die sich dezidiert den Leidenschaften bei Marc Aurel annimmt, denn dort wird die Ansicht vertreten: „Forgetting about orthodox Stoicism, we must try to form a picture of the exact character of this type of emotion within Marcus’ own way of thinking.“1223 Bereits im ersten Buch der Selbstbetrachtungen findet sich ein fr die gesamte Diskussion wegweisendes Kapitel. So bewundert Marc Aurel an Sextus folgende Eigenschaften: niemals den Anschein von Zorn oder irgendeiner anderen Leidenschaft zu erwecken, sondern einerseits zwar vçllig frei von Leidenschaft, andererseits aber ein ußerst liebevoller Mensch zu sein …1224
Marc Aurel macht hier erstens deutlich, dass er, wie die Stoiker vor ihm, die p\hg vollstndig ablehnt. Zugleich pldiert er fr vi˘kostoqc_a und steht somit bestimmten Affekten durchaus positiv gegenber. Diese von Marc Aurel selbst empfohlene Balance, apathisch und liebevoll zugleich zu sein, durchzieht die ganzen Selbstbetrachtungen. Die folgende Untersuchung kann also anhand der folgenden drei Aspekte gegliedert werden: (i) Wie fasst Marc Aurel p\hg auf und warum kritisiert er sie? (ii) Welche Art von Affekten empfiehlt Marc Aurel und warum? (iii) Ist (ii) mit seiner stoischen Grundhaltung (i) vereinbar, und wie ist seine Position insgesamt zu bewerten? 1223 Engberg-Pedersen, T.: Marcus Aurelius on Emotions, a.a.O., S. 322. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Engberg-Pedersen von den Arbeiten Inwoods und Brennans keinerlei Gebrauch macht, aber in zwei Hinsichten zu hnlichen Ergebnissen kommt, wie die hiesige Arbeit: Marc Aurels Behandlung ist (i) konsistent mit der Position der frheren Stoa und (ii) etwas anders zu bewerten als Nussbaum es getan hat. 1224 ja· t¹ lgd³ 5lvas¸m pote aqc/r C %kkou tim¹r p²hour paqaswe?m, !kk± ûla l³m !pah´statom eWmai, ûla d³ vikostoqcºtatom. M. Aur. Med. 1, 9.
660
5. Ethik
5.4.1 Marc Aurel ber p\hg Von den p\hg spricht Marc Aurel erwartungsgemß negativ, aber nicht immer erlutert er warum. Daher ist folgendes Kapitel besonders aufschlussreich: Willst du nicht aufhçren, noch vieles andere fr wertvoll zu halten? Andernfalls wirst du weder frei und unabhngig noch leidenschaftslos sein (!pah^r). Denn in diesem Falle ist es unausweichlich, dass du Neid, Eifersucht und Misstrauen gegenber denen empfindest, die dir jene Dinge wegnehmen kçnnen, und dass du denjenigen Fallen stellst, die das besitzen, was du fr wertvoll hlst.1225
Das Kapitel enthlt eine ganze Reihe von Elementen, die fr die stoische Auffassung typisch sind: Erstens werden p\hg auf Urteile zurckgefhrt.1226 Zweitens ist damit der psychische Monismus in seiner Bedeutung fr die Konzeption der p\hg bei Marc Aurel nachgewiesen.1227 Drittens betreffen (schwache) Meinungen den Wert oder die Gutheit einer Sache.1228 Viertens macht Marc Aurel in dem Zitat klar, dass die Urteile zu Handlungen fhren.1229 Fnftens ist damit etabliert, dass p\hg eine besondere Gruppe der bql^ sind.1230 Mit diesen fnf Aspekten drfte hinreichend gesichert sein, dass Marc Aurel nicht nur stoisch „denkt“, sondern dies auch deutlich zum Ausdruck bringt. Einzelne Momente bedrfen jedoch noch weiterer Erluterung. Zunchst ist etwas zum psychischen Monismus zu sagen: Die p\hg haben keine andere Quelle als das leitende Seelenvermçgen. In Platons Psychologie haben Leidenschaften eine Quelle in einer von der Vernunft unabhngigen Entitt in der Seele. Die Auseinandersetzung von Vernunft und Leidenschaften ist somit eine Auseinandersetzung von verschiedenen Seelenteilen. Das daraus resultierende Problem der st\sir kennen die Stoiker aufgrund der fehlenden Seelenteilung in ihrer Konzeption so nicht. Dieser Unterschied zu Platon ist gerade bei Marc Aurel interessant, da er Aussagen ber die Seele des Menschen gerne platonisch formuliert.1231 Hier besttigt sich noch einmal, dass es sich bei den entsprechenden Kapiteln um eine platonisch gefrbte Sprache handelt. Aber gerade was die 1225 M. Aur. Med. 6, 16. 1226 Siehe Diog. Laert. 7, 111. 1227 Siehe Hierokles bei Stobaios 6, 671, 7 – 673, 11 (=LS 57 G). 1228 Siehe Sen. Ep. 121, 6 – 15. 1229 Siehe Diog. Laert. 7, 85 – 86. 1230 Siehe Stobaios 2, 88, 8 – 90, 6 (=LS 65 A). 1231 Siehe Kap. II 3.1.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
661
Bedeutung der Meinungen fr die p\hg angeht, ist er ganz Stoiker: Der leitende Seelenteil ist nicht nur Ursprung der p\hg, sondern der Ort, wo die Auseinandersetzung mit den p\hg erfolgen muss. Die Heilung, die Freiheit von den Leidenschaften ist eine Angelegenheit, die der fhrende Seelenteil mit sich selber ausmachen muss.1232 Das ist nicht nur ein abermaliger Hinweis auf die Bedeutung des Selbstdialoges. Da die Leidenschaften nur auf Urteilen basieren, denen aufgrund einer mangelhaften Kontrolle und Prfung der Vorstellungen eine Zustimmung erteilt wurde, wird auch im Falle der Leidenschaften der Bedeutung der Vorstellung nachzugehen sein. Ein Kapitel, das eine der platonisch anmutenden Formulierungen enthlt, lautet: Wenn du dich aber im Zustand der Empfindungslosigkeit befindest, wirst du aufhçren, Schmerzen und Freuden zu haben und dem Gefß zu dienen, das so viel weniger wert ist als das, dem es dient.1233
Untersucht man den Zusammenhang von Leidenschaften und Kçrper bei Marc Aurel genauer, zeigt sich deutlich die stoische Position. Ferner macht dieser Zusammenhang auch die Bedeutung des Umganges mit den Vorstellungen klar. Marc Aurels Kritik an den p\hg, insbesondere der Lust, scheint zunchst eine Kritik an reiner Passivitt (pe?sir) zu sein, auf die Marc Aurel die Lust zurckfhrt, um sie dann der (tugendgemßen) Aktivitt (1m]qceia) entgegenzustellen.1234 Mit Passivitt ist zunchst gemeint, dass die Sinne1235 von außen etwas an die Seele herantragen: Was es auch sei, es mag die Dinge von außen treffen, die aufgrund dessen leiden kçnnen. Die davon betroffenen Dinge werden sich, wenn sie wollen, beklagen, ich aber habe noch keinen Schaden erlitten, wenn ich nicht in mein Bewusstsein aufnehme, dass das Ereignis ein bel ist. Es ist mir aber mçglich, dies nicht in mein Bewusstsein aufzunehmen.1236
Engberg-Pedersen hat diese Passagen dahingehend interpretiert, dass fr Marc Aurel die Passivitt, das durch die Sinne von außen Kommende, das 1232 Siehe zum Hintergrund Plutarchs Bericht Plut. De virtute morali 7, 446F-447 A (=LS 65 G). 1233 M. Aur. Med. 3, 3. 1234 So etwa M. Aur. Med. 5, 1: „bin ich dazu bestimmt, dass ich im Bett liegen bleibe und mich wrme? – ,Aber das ist doch angenehmer.‘ – Bist du zum Genießen da? Und berhaupt: Bist du zum Empfinden oder zum Ttigsein geschaffen?“ (siehe ebenso 6, 51; 9, 16 und 12, 32 und zur pe?sir allgemein 3, 6). 1235 Siehe auch den Ausdruck aQshgtij^ pe?sir (M. Aur. Med. 3, 6). 1236 M. Aur. Med. 7, 14 (siehe auch 5, 26; 7, 66; 8, 41).
662
5. Ethik
Problem mit den p\hg, die er kritisiert, sei und dass seine Lçsung darin bestehe, die Trennung des fhrenden Seelenteils von sinnlichen Wahrnehmungen zu empfehlen.1237 Diese Interpretation Marc Aurels ist aber vielleicht zu platonisch, im Sinne der Trennung von Kçrper und Seele, die im Phaidon gefordert wird. Im letzten Zitat ist jedoch der entscheidende Hinweis enthalten, dass Marc Aurel das fr jede antike Ethik wichtige Problem der p\hg auf stoische Weise angeht. Dass Marc Aurel empfiehlt, den fhrenden Seelenteil frei von Leidenschaften zu halten,1238 und angibt, dass die Dinge die Seele nicht berhren, heißt aber nicht, dass die Leidenschaften nur aufgrund einer Vorstellung und passiv entstehen. Im Gegenteil macht Marc Aurel deutlich, dass die Leidenschaften nicht nur auf eine Vorstellung zurckgehen, sondern durch eine Meinung (die Aufnahme ins Bewusstsein), etwas sei gut oder schlecht. Zwar kann von den Sinnen eine raue Bewegung des Fleisches ausgehen, jedoch darf der leitende Seelenteil in seinem Urteil nicht darber hinausgehen.1239 Damit sind die p\hg nicht ganz durch Passivitt zu erklren, denn sie haben einen aktiven Teil: Sie sind durch Zielgerichtetheit bestimmt, die durch eine Meinung zustande kommt, etwas sei gut oder schlecht. Da dieses falsche Urteil nicht in der sinnlichen Wahrnehmung enthalten ist, ist es ein Zusatz des Hegemonikons, etwas Aktives. Besonders deutlich wird dies in folgendem, bereits bei der Besprechung der Vorstellungen herangezogenen Kapitel: Sag zu dir nichts weiter als das, was dir die ursprnglichen, ungetrbten Vorstellungen anzeigen. Es wurde dir angezeigt, dass dieser oder jener schlecht ber dich redet. Das ist dir angezeigt worden. Dass du dadurch geschdigt worden bist, ist dir aber nicht angezeigt worden. Ich sehe, dass das Kind krank ist. Ich sehe es. Dass es aber in Lebensgefahr ist, sehe ich nicht. So bleib also bei den ersten Vorstellungen und deute dir nichts hinein, dann geschieht dir nichts. Interpretiere es vielmehr wie jemand, der alles, was im Kosmos geschieht, genau kennt.1240
1237 Siehe Engberg-Pedersen, T.: Marcus Aurelius on Emotions, a.a.O. 1238 „Ihn in Ehren zu halten, bedeutet, ihn rein zu halten von Leidenschaft, Unbesonnenheit und Unzufriedenheit mit allem, was von Gçttern und Menschen ausgelçst wird.“ M. Aur. Med. 2, 13 (siehe auch 8, 48). 1239 Siehe M. Aur. Med. 7, 16; 7, 33 und 8, 40. 1240 M. Aur. Med. 8, 49.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
663
Marc Aurel greift damit vielleicht die stoische Lehre von der „frischen Meinung“ auf, denn er behauptet, dass man nicht sofort den sinnlich vermittelten und gerade aktuell erlebten Vorstellungen, die ein Werturteil nahe legen, zustimmen soll. Zu p\hg kommt es also nur, wenn der fhrende Seelenteil aktiv wird und unklaren oder falschen Ansichten seine Zustimmung gibt.1241 Der Schmerz ist entweder fr den Kçrper ein bel – dann soll er es zeigen – oder fr die Seele. Doch sie hat die Mçglichkeit, sich die ihr eigentmliche Heiterkeit und Ruhe zu bewahren und nicht anzunehmen, dass er ein bel ist. Jedes Urteil, jeder Antrieb, jedes Verlangen und jede Ablehnung entsteht in uns, und nichts kommt von außen herein.1242
Daraus folgt, dass die allzu strikte Trennung von Passivitt und Aktivitt, die Engberg-Pedersen zugrunde legt, durch die stoische Auffassung der p\hg als Urteile unterlaufen wird und daher nicht ganz zur Erklrung der Kritik an den p\hg hinreichend ist. Bevor die damit verbundene Einordnung der p\hg als besondere Form der großen Gattung bql^ bei Marc Aurel weiter erlutert werden kann, ist noch kurz auf die kognitiven Aspekte einzugehen. Denn auch bei Marc Aurel sind die Urteile, die zu Leidenschaften fhren, Urteile besonderen Inhalts, nmlich solche ber den Wert einer Sache bzw. ihre Gutheit. Deutlich wird dies auch dort, wo Marc Aurel von jatavqome?m als dem richtigen kognitiven Erfassen des wahren Wertes der Dinge spricht, das dann auch hilft, keine Leidenschaften aufkommen zu lassen.1243 Was diese Beurteilung des Wertes von etwas angeht, ist Marc Aurels Position gegenber der orthodoxen stoischen Lehre radikalisiert, weil er mit Ariston von Chios eine weitere Unterscheidung der indifferenten Gter ablehnt. Schließlich ist noch zu zeigen, dass Marc Aurel p\hg als eine besondere Form der bql^ versteht. Marc Aurel ermahnt sich mit Bezug auf das leitende Prinzip seiner Seele: lass es keine Sklavin mehr sein, lass es nicht mehr in Abhngigkeit von einem egoistischen Antrieb hin und her gerissen sein, lass nicht mehr zu, dass es mit dem Unausweichlichen unzufrieden ist, wenn es da ist, oder ihm ngstlich entgegensieht, wenn es noch bevorsteht.1244 1241 Siehe M. Aur. Med. 2, 5. Hier macht Marc Aurel auch Anleihen bei Epikur. Siehe M. Aur. Med. 8, 41. 1242 M. Aur. Med. 8, 28 (bersetzung von hormÞ abweichend von Nickel). 1243 Siehe M. Aur. Med. 2, 2; 2, 12 (allgemein auch 11, 2; 12, 24). 1244 lgj´ti jah’ bqlμm !joim¾mgtom meuqospastgh/mai, lgj´ti t¹ eRlaql´mom C paq¹m dusweq÷mai C l´kkom rpid´shai. M. Aur. Med. 2, 2.
664
5. Ethik
Hier bezeichnet Marc Aurel Angst (vor Zuknftigem) und Unwillen (ber bereits Gegebenes) als egoistischen Antrieb, der das Seelenvermçgen unnçtig in Bewegung versetzt. Das ist kein Zufall, denn oft whlt Marc Aurel zur weiteren Kennzeichnung der p\hg eine Formulierung, die er hier fr bql^ verwendet: meuqospaste?m/ meuqospaste?shai.1245 Die Stoiker verwenden den Ausdruck p\hg in einem sehr spezifischen Sinne, was schon daran ersichtlich ist, dass fr sie alle p\hg als p\hg in einem epistemischen und ethischen Sinne falsch sind.1246Versteht man die stoische Auseinandersetzung mit den p\hg bei Marc Aurel einfach als eine Abhandlung ber alles das, was wir mit dem Ausdruck Emotionen verbinden, wird erstens eine These unterstellt, die von Stoikern nicht vertreten wurde, und zweitens wird die These durch dieses Missverstndnis besonders abstrus, denn dann wrden die Stoiker behaupten, dass alle Emotionen, schon weil sie Emotionen sind, falsch und schlecht sind. Nach dieser Darstellung der p\hg-Konzeption kann nun Marc Aurels Wertschtzung von Affekten geschildert werden. 5.4.2 Positive Affekte Bereits im ersten Buch erwhnt Marc Aurel eine Balance zwischen Freiheit von den p\hg und anderen Affekten.1247 Wie so oft kommt er in den spteren Bchern auf die im ersten Buch durch erinnerte Personen exemplifizierten Eigenschaften zurck. So schreibt er in einem spteren Kapitel: Wenn du aber zornig bist, dann halte dir vor Augen, dass nicht die Wut ein Zeichen von Mnnlichkeit ist, sondern die Freundlichkeit und Milde, dass diese Haltung nicht nur menschlicher, sondern auch mnnlicher ist und dass sie mit Strke, Spannkraft und Tapferkeit verbunden ist, die der Aufregung und dem rger fehlen. Je mehr sich diese Haltung der Freiheit von Affekten annhert, desto kraftvoller ist sie.1248
1245 Siehe M. Aur. Med. 2, 2; 3, 16; 6, 16 (ferner zur Formulierung: 10, 38; 12, 19; 7, 3). 1246 In einigen Quellen zu Zenon wird ihm auch die Ansicht zugeschrieben, er habe die p\hg als bestimmte Form der Meinung beschrieben (siehe Cic. Tuscul. 3, 74 f.). Die bersetzung morbus wrde aber, laut Inwood, korrekter die Disposition wiedergeben, die einer Leidenschaft zugrunde liegt, und nicht sie selbst (siehe dazu Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 128). 1247 Siehe M. Aur. Med. 1, 9. 1248 M. Aur. Med. 11, 18.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
665
Offenbar ist die Apathie nicht das einzige, was Marc Aurel ber Affekte oder Emotionen zu sagen hat. Statt einer notwendig falschen und exzessiven bql^ empfiehlt Marc Aurel andere Zustnde, die affektive Aspekte bezeichnen. In den Selbstbetrachtungen finden sich viel mehr Kapitel, die solche Affekte positiv erwhnen als solche, die p\hg kritisieren. Auch im Verhltnis zur Gesamtzahl der Kapitel ist die Anzahl der positiv gemeinten Nennungen von Gefhlen erstaunlich. Es finden sich mindestens vierzig eindeutige Bezugnahmen auf positive Affekte. Neben der Hufigkeit wird dabei eine erstaunliche Breite erzielt. So nennt Marc Aurel (Menschen-)Liebe, (vi˘kostoqc_a),1249 Frçhlichkeit (hulgd¸a),1250 Heiterkeit oder Sonnigkeit (Fkior),1251 Genießen (t´qpeshai),1252 Anmut oder Dank (w\qir),1253 Gemtsruhe (!ta˘ qan_a),1254 Stille oder Gltte der Seele (cak^mg),1255 gute Gedanken, Freude (eqvqos¼mg),1256 Helligkeit oder Klarheit (aQhq_a),1257 Vorsicht (eqkabe?shai),1258 Leichtigkeit (eql\qeia),1259 Wohlwollen oder Gutgesinntheit (eql]meia),1260 eqhul¸am,1261 Wohlfluss (eqqoe?a) des Lebens.1262 Kurzum: Marc Aurel meint, der Mensch brauche keine schlechte Laune zu haben.1263 Diese Auflistung zeigt zunchst eines: Neben den vielen Kapiteln, in denen ein angeblicher Pessimismus zu Tage tritt, der sich bei genauerer Betrachtung als eine affekttherapeutische Entwertung konventioneller Gter gemß der stoischen Gterlehre entpuppte, gibt es zahlreiche Kapitel, die positive Affekte oder eine positive Stimmung erwhnen. Es ist seltsam, dass diese Kapitel von der Forschung nicht so gesammelt wurden, wie diejenigen, in denen ein angeblich depressiver Marc Aurel schreibt. Der
1249 Siehe M. Aur. Med. 1, 9; 1, 17; 2, 5; 6, 30; 11, 18. 1250 Siehe M. Aur. Med. 7, 68. 1251 Siehe M. Aur. Med. 5, 20; 6, 43; 8, 19; 8, 57; 12, 30. 1252 Siehe M. Aur. Med. 6, 7. 1253 Siehe M. Aur. Med. 1, 9; 4, 48. 1254 Siehe M. Aur. Med. 4, 24; 9, 31; 12, 3 (!t\qawor : 1, 16; 4, 37; 7, 16). 1255 Siehe M. Aur. Med. 5, 2; 7, 28; 7, 33; 7, 68; 8, 28; 9, 30; 12, 22; 7, 75. 1256 Siehe M. Aur. Med. 8, 26. 1257 Siehe M. Aur. Med. 8, 28. 1258 Siehe M. Aur. Med. 3, 7. 1259 Siehe M. Aur. Med. 1, 16; 4, 3. 1260 Siehe M. Aur. Med. 7, 63; 9, 11; 11, 9. 1261 Siehe M. Aur. Med. 4, 24. 1262 Siehe M. Aur. Med. 5, 34; 10, 6. 1263 5ti owm dusjoka¸my… M. Aur. Med. 5, 1.
666
5. Ethik
letzte Satz der Selbstbetrachtungen lautet: „Geh jetzt mit heiterem Herzen. Denn auch er, der dich entlsst, ist heiter und freundlich.“1264 Neben dieser Auflistung verdient ein Kapitel komplett zitiert zu werden: Wirst du irgendwann einmal, meine Seele, gut und einfach, eins mit dir selbst und unverhllt sein, offener als der Kçrper, der dich umgibt? Wirst du irgendwann einmal den Zustand der Liebesfhigkeit und Liebesbereitschaft genießen? Wirst du irgendwann einmal satt und bedrfnislos sein und nichts ersehnen und verlangen, weder Beseeltes noch Unbeseeltes, zur Befriedigung irgendwelcher Lste? Auch nicht die Zeit, die deinem Genießen lngere Dauer verleihen kçnnte, auch nicht die Annehmlichkeit eines Ortes, eines Landes oder Klimas und auch nicht die Zuneigung eines Menschen? Wirst du stattdessen zufrieden sein mit deinem gegenwrtigen Zustand und dich freuen ber alles Vorhandene und dich davon berzeugen, dass dir alles gut gelingt, von den Gçttern gewhrt wird und gut gelingen wird, was ihnen lieb ist und was sie zum Wohl des vollkommenen Wesens geben werden, des guten, gerechten und schçnen, das alles hervorbringt, zusammenhlt, umgreift und umschließt, was sich zur Erzeugung anderer Wesen hnlicher Art wieder auflçst? Wirst du irgendwann einmal die Qualitt haben, dass du mit Gçttern und Menschen in einer staatlichen Gemeinschaft so zusammenleben kannst, dass man ihnen weder etwas vorwerfen noch von ihnen verachtet werden kann?1265
Das Kapitel zeigt die schon erwhnte Balance zwischen der Ablehnung bestimmter p\hg und der Bejahung anderer positiver Affekte. Neben der Ausfhrlichkeit und Intensitt mit der Marc Aurel hier einer positiven Stimmung Ausdruck verleiht, ist bemerkenswert, dass dieses positive Erleben auf zwei Bereiche konzentriert ist. Einerseits soll die Akzeptanz des Gegenwrtigen und Gegebenen nicht zhneknirschend erlebt werden, sondern als angenehm, weil die Turbulenzen der Leidenschaften ausbleiben.1266 Die Apathie ist demnach kein Zustand der absoluten Empfindungslosigkeit, vielmehr beschreibt Marc Aurel mit vielen der oben gesammelten Ausdrcke den Umstand, dass Philosophie insgesamt das Leben angenehm (pqosgm^r) macht.1267 Diese Affekte beschreiben den Zustand, der mit der Philosophie, dem Leben gemß der allgemeinen und individuellen Natur und der Abwesenheit der p\hg korrespondiert. Sie beschreiben das Erleben 1264 M. Aur. Med. 12, 36. 1265 M. Aur. Med. 10, 1. 1266 „Warum bist du denn so unzufrieden mit den Dingen? Wenn sie naturgemß sind, freue dich darber und lass sie dir leicht sein.“ M. Aur. Med. 11, 16. 1267 Siehe dazu M. Aur. Med. 5, 9 (ferner: 8, 12).
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
667
des Philosophen in seiner Beziehung zu sich selbst, seinen Vorstellungen, und dem Kosmos. Andererseits gibt es in den Selbstbetrachtungen besonders viele positive Nennungen von Affekten, die die soziale Natur des Menschen bzw. den Umgang mit Mitmenschen betreffen: Achte darauf, dass du gegenber den Unmenschen nicht dasselbe empfindest, wie die Unmenschen gegenber den Menschen.1268 Es ist eine besondere Eigenschaft des Menschen, auch die Irrenden zu lieben. Das geschieht, wenn dir dabei in den Sinn kommt, dass sie deine Verwandten sind und aus Unwissenheit und gegen ihren Willen Fehler machen und dass ihr beide in Krze tot sein werdet …1269
Die so hufig erwhnte „Liebesfhigkeit und Liebesbereitschaft“1270 und Nachsicht1271 gegenber den Mitmenschen ist Ausdruck der auf Gemeinsamkeit angelegten menschlichen Natur.1272 Gerade an diesem Punkt hat sich Kritik entzndet. Ob diese von Marc Aurel thematisierte Liebesfhigkeit emotionale Bindung an einzelne konkrete Menschen einschließe oder auch nur erlaube, wird im gleich folgenden Kapitel zu behandeln sein. Zunchst sind die Nennungen positiver Affekte noch genauer zu beschreiben. Die beiden gerade genannten Gruppen unterscheiden sich durch den Bereich, auf den sie bezogen sind oder den Kontext, in dem sie vorkommen. In beiden Fllen ist fraglich, als was die positiven Affekte hier genannt werden. Mçglich wre, dass sie (i) Ursache fr eine Handlung sind, also als Antrieb verstanden werden. Nur dass es sich im Unterschied zu den p\hg um solche handelt, die auf richtigen Urteilen basieren und nicht zu exzessiven Bestrebungen oder Vermeidungen fhren, (ii) ein emotionaler Effekt, ein Ergebnis von Kognitionen und Aktionen sind,
1268 M. Aur. Med. 7, 65. 1269 M. Aur. Med. 7, 22. Siehe auch: „Nur an einem erfreue dich und schçpfe daraus neue Kraft: Von einer gemeinschaftsfçrdernden Tat zur nchsten zu kommen in Gedanken an Gott.“ M. Aur. Med. 6, 7. 1270 M. Aur. Med. 10, 1 (siehe auch 3, 11; 11, 1; 11, 9; 11, 13). 1271 Siehe M. Aur. Med. 9, 42. 1272 „Die wichtigste Eigenschaft der spezifisch menschlichen Natur ist die Solidaritt mit den Mitmenschen.“ M. Aur. Med. 7, 55.
668
5. Ethik
(iii) als Affekt eine Stimmung oder einen Modus beschreiben, in dem bestimmte Handlungen ausgefhrt oder beschrieben werden. Es ist nicht klar, wie gut sich diese drei Aspekte unterscheiden lassen bzw. welchen die Stoiker oder hier Marc Aurel betonen wollten. Denn in der Tat lassen sich fr alle drei Flle Kapitel in den Selbstbetrachtungen finden. Auf die Unterscheidung ist aber hinzuweisen, weil sie nicht immer klar gesehen wurde.1273 Insbesondere die Kapitel, in denen von der Ruhe, dem Genießen, der Freude usw. die Rede ist, drften Zustnde beschreiben, die affektive Momente, das Erleben schildern, wenn es gelungen ist, einen philosophischen Fortschritt zu machen. Mit der Nennung solcher Zustnde wie dem Wohlfluss (eqqoe?a) des Lebens1274 oder der Ruhe (cak^mg),1275 ist der affektive Aspekt des Glckes, also der Telos-Formel, beschrieben: Zu jeder Stunde denke als Rçmer und als Mann daran, das, was dir aufgegeben ist, mit unanfechtbarer, schlichter Wrde und Menschenliebe, in Freiheit und Gerechtigkeit zu tun und dir Ruhe vor allen andern Vorstellungen zu verschaffen. Du wirst sie dir aber nur dann verschaffen, wenn du jede Handlung so vollziehst, als ob sie die letzte deines Lebens sei, frei von jeder Unbesonnenheit und ohne die durch Leidenschaft verursachte Abkehr von der klaren Vernunft, frei von Heuchelei, Selbstsucht und rger ber die Fgungen des Schicksals. Du siehst, wie wenig es ist, was man beherrschen muss, um ein glckliches und gottgeflliges Leben zu fhren.1276
Die Kapitel, in denen Marc Aurel die affektiven Komponenten der Gemeinschaftsorientierung des Menschen und seines Handelns beschreibt, sind schwerer einzuordnen, z. B. wenn er schreibt „eine besondere Eigenschaft der vernunftbegabten Seele ist aber auch die Liebe zu den Mitmenschen“.1277 Insofern Marc Aurel auch Handlungen gemß der Natur einfordert, drften solche Handlungen ein gutes Gefhl nach sich ziehen, aber eben auch motivieren. Gerade im Falle der sozial bedeutsamen Affekte scheint es nicht nur um Folgen zu gehen, sondern auch darum, dass die Liebe zu den 1273 So finden sich bei Brad Inwood folgende Aussagen: „eupatheia is simply the impulse of fully rational men“, womit angedeutet ist, dass eupatheia eine bestimmte Form des Antriebes sind, also Handlungen verursachen. Weiterhin bezeichnet er sie als „effect or product of virtue“ (Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 173). 1274 Siehe M. Aur. Med. 5, 34; 10, 6. 1275 Siehe M. Aur. Med. 5, 2; 7, 28; 7, 33; 7, 68; 8, 28; 9, 30; 12, 22; 7, 75. 1276 M. Aur. Med. 2, 5. 1277 M. Aur. Med. 11, 1.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
669
Mitmenschen eine bql^ sein kann, weil sie ein Urteil enthlt und zweitens eine Handlung erklrt. Fr letzteres sprechen einige Formulierungen, in denen die Liebe oder eqvqos¼mg den Charakter einer bql^ hat, also Handlungen begrndet oder begrnden soll. Wenn Marc Aurel sich auffordert, nicht wie die Unmenschen gegenber den Menschen zu empfinden,1278 dann mçchte er offenbar ein Handeln, das diesem unmenschlichen lieblosen Empfinden entspricht, verhindern. Schließlich spricht Marc Aurel auch von positiven Affekten, wenn sie die Art und Weise einer Handlungsausbung beschreiben, z. B.: „Zu jeder Stunde denke als Rçmer und Mann daran, das, was dir aufgegeben ist, mit unanfechtbarer, schlichter Wrde und Menschenliebe … zu tun.“1279 Hier werden positive Affekte zur genaueren Bestimmung von tugendhaften Handlungen verwandt. Dass bei Marc Aurel alle drei Momente (Ursache, Modus und Folge einer Handlung) im Spiel sein drften, wenn er von positiven Affekten spricht, belegt eher die Bedeutung der positiven Affekte als dass man ihm das als philosophische Ungenauigkeit auslegen muss.1280 Wichtig ist, dass alle drei Aspekte zeigen, wie nahe diese positiven Affekte der Tugend selber stehen, ohne selbst Tugend sein zu kçnnen, da es sich nicht um stabile Dispositionen der Seele handelt. 5.4.3 Missverstndnisse, Kritik und Bewertung Die folgenden Ausfhrungen zielen auf eine abschließende Einschtzung der Aussagen von Marc Aurel ber p\hg und andere Affekte. Dabei sind die folgenden beiden Fragen zu klren, die bereits eingangs dieses Kapitels erwhnt wurden. Erstens hat M. Nussbaum die These vertreten, dass die bei Marc Aurel deutlich werdende stoische Position inhuman ist, weil sie Gefhlen im sozialen Leben zu wenig Raum einrumt bzw. sie zu negativ bewertet. Zweitens hat T. Brennan zur Diskussion gestellt, ob die Stoiker mit ihrer Theorie der p\hg und anderer positiver Affekte berhaupt Phnomene diskutieren wollen, denen heute im Kontext einer Erçrterung von Gefhlen große Bedeutung zugesprochen wird, nmlich dem Erleben. 1278 Siehe nochmals M. Aur. Med. 7, 65. 1279 M. Aur. Med. 2, 5. 1280 Denn auch im Falle der frheren Stoa gilt die Sache als nicht leicht zu entscheiden (siehe Forschner, M.: Die stoische Ethik, a.a.O., S. 140).
670
5. Ethik
Whrend Nussbaum hufig auf Marc Aurel hinweist, um ihre Kritik zu verdeutlichen, hat Brennan seine These ohne Bezge zu Marc Aurel entwickelt. Die zweite Frage soll zuerst behandelt werden, denn wenn Brennan mit seiner These Recht hat, geben die stoischen Texte gar nicht darber Auskunft, wie Menschen etwas erleben oder erleben sollen. Die Behandlung dieser Frage wird demnach auch Hinweise fr die Auseinandersetzung mit Nussbaums Kritik liefern. Zunchst also Brennans Auffassung in seinen eigenen Worten: …what matters about emotions is how they are sensitive to one’s beliefs and how they function in the production of action. How they feel, whether as a matter of physiology or mood, is neither here nor there. Indeed, I am inclined to think that the perceptive of moral psychology is not just one among several perspectives on Stoic emotions: I think it is the characteristically Stoic perspective on Stoic emotions. The object of their theory is the range of psychological data we associate with emotions; what they care about is human action and its sources, especially as those different sources may be correlated with different ethical properties of the action, and what is of interest about them is the way they both encode conceptual errors about the value of items in the world and then in turn produce flawed actions. In this light, we should not be surprised that the Stoic theory of emotions is so unforthcoming about that what interests modern students of the emotions.1281
Brennans Interpretation ist sehr hilfreich, denn sie betont zu Recht, dass gerade die stoische Kritik an den p\hg eine Kritik im Kontext der spezifischen stoischen Verbindung von Handlungstheorie und Ethik ist. Es handelt sich in der Tat weniger um eine Theorie der Gefhle, des Erlebens. Diese stark kognitive Ausrichtung wird auch bei Marc Aurel deutlich: Wenn du dich bermßig rgerst, oder auch heftig darunter leidest, (dann erinnere dich,) dass das menschliche Leben ußerst kurz ist und wir alle nach kurzer Zeit im Sarg liegen. Siebtens: Dass uns nicht ihre Taten belasten – denn dafr sind die leitenden Prinzipien ihrer Seelen zustndig -, sondern die Art und Weise, wie wir sie in unser Bewusstsein aufnehmen. Lass doch einfach davon ab und sei bereit, dein Urteil ber eine angeblich schlimme Angelegenheit zu revidieren, und die Aufregung hat sich gelegt. Wie wirst du davon ablassen kçnnen? Indem du bedenkst, dass nichts, was dir Schande bereiten kçnnte, passiert ist. Denn wenn nicht ausschließlich das Schndliche schlecht ist, dann begehst auch du zwangslufig viele Fehler, wirst ein Ruber und ein zu allem fhiger Verbrecher.1282 1281 Brennan, T.: Stoic Moral Psychology, a.a.O., S. 276 (siehe auch ders.: The Stoic Life, a.a.O., S. 114 und ders.: The Old Stoic Theory of the Emotions, a.a.O.). 1282 M. Aur. Med. 11, 18.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
671
Marc Aurel konzentriert sich auf Fragen von Vorstellungen, Wert-Urteilen, den p\hg als besondere Form der bql^ und den handlungstheoretischen und ethischen Konsequenzen. Das gerade zitierte Kapitel ist typisch fr Marc Aurels Behandlung der p\hg und besttigt Brennans Interpretation. Die kognitiven Aspekte werden ebenfalls deutlich, wenn Marc Aurel einen positiven Affekt mit dem Kohrenz-Gedanken in Verbindung bringt: „Unter ,Ausgeglichenheit‘ (eql\qeia) verstehe ich nichts anders als ,innere Ordnung‘ (eqjosl_a).“1283 Mit „innerer Ordnung“ kann wegen des psychischen Monismus’ der Stoiker nicht ein Gefge von Seelenteilen gemeint sein, sondern die Kohrenz der Grundstze, also der Urteile, die Marc Aurel im Fortgang des Zitats erwhnt, und die dann auch zu einem kohrenten guten Agieren fhren. Fraglich aber ist, ob Brennans Deutung auch die viel zahlreicheren Kapitel verstehen hilft, in denen Marc Aurel positive Affekte behandelt. Von Brennans Deutung erfasst werden diejenigen, oben bereits beschriebenen Kapitel, in denen positive Affekte als bql^, als Antrieb fr weitere Handlungen qualifiziert werden. Aber wie steht es um die Kapitel, in denen offenbar mentale Zustnde als Resultat beschrieben werden? Bereits B. Inwood hat festgestellt, dass positive Affekte auch „effect or product of virtue“1284 sein kçnnen. Leider erlutert er dies nicht weiter. Vielleicht geben die Stoiker damit zum Ausdruck, dass die Tugend auch angenehm ist. Dass sie darber nicht viel schreiben, ließe sich mit generellen Erwgungen erklren, bspw. damit, dass es schwer sei, etwas wie Erleben zu schildern. Spezifisch stoisch wre aber eine Erklrung mit ihrer Gtertheorie, der zufolge das Erleben oder die Annehmlichkeiten des Glckes nicht notwendig das sind, was es gut macht, sondern nur ein Epiphnomen. Brennan hat gegen diese Deutung positiver Affekte als einem Resultat, das sich im Erleben manifestiert, folgendes Argument angefhrt: Er gibt an, dass fr die Stoiker nur das, was kausal effektiv ist, wirklich existiert. Er konzediert: „the primary consequence of this view is a restriction to ‘being’ to bodies“, z. B. „Winter“, „Schnee“. Aber er bertrgt diesen Gedanken dann doch auf die Vorstellungen von positiv bewerteten Affekten:1285 Auf die Gefhle als einem Erleben, das 1283 M. Aur. Med. 4, 3. 1284 Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 173. 1285 Siehe Brennan, T.: Stoic Moral Psychology, a.a.O., S. 276. Brennan rekurriert hier zu Recht auf Diog. Laert. 7, 134.
672
5. Ethik
aus einer Tugend oder Handlung folgt, angewandt folgt dann: „The Stoics need not deny that pleasure typically feels like something; they simply claim that the feeling-tone doesn’t do any work so does not deserve the name.“1286 Wenn die positiven Affekte als Resultate, die nur erlebt werden und keinen Antrieb darstellen, weder kausal aktiv sind und in diesem Sinne weder real sind noch Aufmerksamkeit finden, fragt sich, warum sie so hufig und vielfltig beschrieben werden. Gerade Ausdrcke, die Ruhe und damit auch Apathie beschreiben, wrden damit Brennan zufolge keine Informationen enthalten. Brennan verfolgt den Ansatz von Inwood, die Bercksichtigung der Handlungstheorie fr die Ethik, in diesem einen Punkt vielleicht etwas zu konsequent. Natrlich hat Brennan Recht, die Stoiker liefern mit ihrer Theorie keinen Beitrag zur Debatte um die sog. Qualia. Sie interessieren sich also wahrscheinlich nicht fr Fragen der Art wie Th. Nagel sie gestellt hat, z. B. wie es ist, eine Fledermaus zu sein und ob man darber etwas sagen kann. Aber sie interessieren sich vielleicht dafr, etwas darber zu sagen, wie es ist, ein glcklicher Weiser zu sein. Die vielen Beschreibungen von positiven Affekten als Zustnden, von denen nicht unmittelbar gesagt wird, dass sie ein Handlungsantrieb sind und die mit der Tugend einhergehen, erfllen vielleicht einen anderen Zweck, nmlich einen, der ber die Handlungstheorie hinausgeht. Vielleicht handelt es sich um Beschreibungen, die zum Umfeld der TelosFormel zu rechnen sind. Sie beschreiben bestimmte affektionale Aspekte des Glckes. Und wenn der Ausdruck „Telos“ ernst zu nehmen ist, muss daraus nicht notwendig eine weitere Handlung folgen, aber aus der Tugend folgt z. B. das Erleben von Ruhe, Freude, Gelassenheit usw. Damit ist ausdrcklich nicht behauptet, dass diese positiven Affekte eine Rolle spielen, wenn es darum geht zu erklren, warum die Tugend gut ist, warum sie anzustreben ist oder warum sie glcklich macht. Sie beschreiben, wie gesagt, nur ein Epiphnomen und auch das gelegentlich allein metaphorisch, wie z. B. im Falle der glatten Wasseroberflche. Aber es scheint eine Erklrung dafr zu sein, warum Marc Aurel solche Beschreibungen so hufig verwendet. Nun ist auf das andere Problem einzugehen, nmlich die Frage, ob die Stoiker und insbesondere Marc Aurel eine inhumane Theorie verfolgen. 1286 Brennan, T.: Stoic Moral Psychology, a.a.O., S. 277. Brennan beschreibt dann die Lust ebenfalls korrekt als Epiphnomen (vgl. Diog. Laert. 7, 85 f.).
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
673
Es ist bereits darauf hingewiesen worden,1287 dass der Vorwurf so przise ist, wie der damit verbundene und leider nicht explizierte Begriff von Menschlichkeit. Im Kontext dieser Untersuchung kann es nicht um das ganze damit angesprochene weite Feld gehen, sondern um ein zweifach begrenztes Problem: Hier interessiert die Kritik soweit sie erstens die angeblich geforderte vçllige Emotionslosigkeit betrifft und zweitens nur soweit Marc Aurel angesprochen ist. M. Nussbaum hat in mehreren Arbeiten Kritik an der stoischen Auffassung gebt. Die Stoiker, so Nussbaum, wrden alle Emotionen auslçschen wollen und insbesondere bei Marc Aurel sei deutlich, wie unmenschlich diese Auffassung sei: Die Stoiker denken folgendermaßen: Wenn wir eine kosmopolitische Moral haben wollen, dann sollten wir besser diese Gefhle loswerden, weil sie uns zu parteiischen Wesen machen. In letzter Konsequenz geht das zu weit; das schafft ein abstruses, unmenschliches Leben … Marc Aurel … versucht, einen Standpunkt der Unparteilichkeit herzustellen. Ich finde, dieser hnelt mehr dem Tod. Er sagt, man soll all die Lebenden aus der Entfernung betrachten, so als ob sie Schauspieler auf einer Bhne seien, wobei niemand wirklich zhlt. Und das wirkt in der Tat so, als ob er schon tot wre und als wrde er das Leben vom Blickwinkel eines Menschen aus betrachten, der außerhalb des Menschen steht. .. Die Frage ist, wie wir – wo wir doch alle Menschen sind, die ihre Kinder, ihr Zuhause und so weiter lieben, offensichtlich also Bindungen und Zuneigungen haben -, wie wir dennoch zugleich Weltbrger sein kçnnen.1288
In Nussbaums Kritik lassen sich folgende einzelne Aussagen erkennen:1289 1287 Siehe Irwin, T.: Stoic Inhumanity, a.a.O. 1288 Nussbaum, M. C.: Kosmopolitismus heute: Tatschliche Chancen aller auf ein vollauf gutes Leben. Interview mit A. Kallhoff, a.a.O. 1289 Es handelt sich um eine Auswahl. Nussbaum mçchte ausdrcklich den Kosmopolitismus und das kognitive Verstndnis von Emotionen bewahren (siehe etwa Nussbaum, M. C.: The Upheavals of thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001, Part I und S. 359 – 369). Nicht ganz zum hiesigen Thema der Emotion gehçrend und vçllig unverstndlich ist der Vorwurf, Marc Aurel sei herablassend (vgl. Nussbaum, M. C.: Finely Aware and Richly Responsible, a.a.O.). Den Vorwurf des herablassenden Paternalismus haben im sachlichen Kern A. Vieth und Ch. Halbig bereits entkrftet (Halbig, Ch./Vieth, A.: How (not) to Pity those far away: Universalismus and the Emotions, in: Nussbaum, M. C.: Ethics and Political Philosophy, hg. von A. Kallhoff, Mnster 2000, S. 53 – 63, hier: S. 55 f. (insbesondere Anm. 6)). Obschon das Argument von Halbig und Vieth wegen der Ausdifferenzierung von epistemischer Asymmetrie und der angeblichen Indifferenz gegenber dem Beratenen stichhaltig ist, bercksichtigen weder Nussbaum noch Halbig und Vieth hinreichend, dass die Selbstbetrachtungen
674
5. Ethik
(i) Stoiker wrden die Abschaffung aller Emotionen empfehlen. (ii) Das gelte in besonders verhngnisvoller Weise fr die persçnlichen und emotionalen Bindungen an andere einzelne Menschen. Marc Aurel empfehle mit den Stoikern „detachment“ und „self-containment“. (iii) Diese sozialen Emotionen in Bezug auf andere Menschen seien fr die Stoiker aufgrund ihrer Gterlehre, der Bestimmung der indifferenten Gter, wertlos.1290 (iv) Die Trennung und Unparteilichkeit stehe mit der bei den Stoikern anvisierten kosmischen Perspektive in Zusammenhang. Der Vorwurf (i) bercksichtigt zu wenig, dass Marc Aurel wie auch die Stoiker insgesamt mit ihrer Kritik an den p\hg etwas sehr Spezielles kritisieren, nmlich bestimmte auf falsche Meinungen gegrndete Antriebe. Sie kritisieren keineswegs die gesamte Klasse an Phnomenen, die wir als Emotionen beschreiben. Neben dem Umstand, dass sie vorrangig handlungstheoretische Aspekte im Blick haben, mssen die gerade bei Marc Aurel hufig angesprochenen positiven Affekte bercksichtigt werden. Das gilt auch fr die Beziehungen zu anderen Menschen (ii), die Marc Aurel durchaus positiv bewertet: Wenn du dich freuen willst, dann denk an die Vorzge deiner Mitmenschen. Das ist z. B. bei dem einen die Tatkraft, bei dem anderen die Zurckhaltung, bei dem nchsten die Freigebigkeit, bei einem anderen noch etwas anderes. Denn nichts macht so viel Freude, wie die Erscheinungsformen der Tugenden, die in den Charakteren unserer Mitmenschen sichtbar werden und – soweit mçglich – in großer Zahl zusammentreffen. Deshalb muss man sie auch immer zur Hand haben.1291
Marc Aurels Bestimmung der politischen Natur des Menschen wirkt vielleicht abstrakt und wenig individuell und nicht an einzelne Personen gebunden, und gelegentlich fordert er sich sogar auf, beim eigenen Verhalten nicht auf das anderer Menschen Rcksicht zu nehmen.1292 Aber die bergeordnete Perspektive ist kein Dauerzustand, zumindest nicht dann, wenn damit die von Nussbaum unterstellte Lçsung von sozialen Bezieeine selbstadressierte Schrift sind und dass Marc Aurel darin sehr selten ber andere schreibt, geschweige denn herablassend Ratschlge gibt. 1290 Vor dem Hintergrund des nicht oft bemerkten Umstandes, dass Marc Aurel mit Ariston von Chios eine besonders strenge Position vertritt, weil er gar keine Vorzugsgter in der Gruppe der indifferenten Gter anerkennt, kçnnte die Kritik hier eventuell noch harscher ausfallen. 1291 M. Aur. Med. 6, 48. 1292 Siehe M. Aur. Med. 8, 8; 9, 3.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
675
hungen gemeint ist. Im Gegenteil: Im Lichte der stoischen Philosophie sollen Bindungen gepflegt werden:1293 Wie bist du jetzt mit den Gçttern, deinen Eltern, deinen Geschwistern, deiner Frau, deinen Kindern, deinen Lehrern, deinen Erziehern, deinen Freunden, deinen Verwandten und deinen Sklaven umgegangen? Ob auch auf dich bis heute im Blick auf alle das Wort des Dichters zutrifft, dass du ,niemandem etwas Bçses getan oder gesagt‘ hast?1294
An Pius lobt Marc Aurel: Er besaß die Fhigkeit, sich seine Freunde zu erhalten, war niemals unbestndig in seinen Neigungen und hatte keine Leidenschaften. Er war in jeder Hinsicht selbstndig und unabhngig und hatte ein frçhliches Herz.1295
An diesen Kapiteln ist erstens auffllig, dass die konkreten Mitmenschen und sogar einzelne ihrer Eigenschaften mit positiven Affekten in Verbindung gebracht werden. Genau genommen entsteht fr Marc Aurel Freude dann, wenn ein Mensch gemß der stoischen Ethik liebevoll mit seinen Mitmenschen umgeht.1296 Zweitens macht besonders das erste der zitierten Kapitel deutlich, dass die Mitmenschen auch Freude machen, indem sie beim Tugenderwerb helfen, da sie paradigmatische Bedeutung haben. Das kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass Marc Aurel nicht nur die Trennung von den Mitmenschen empfiehlt, indem man einen kosmischen Standpunkt, einen Blick von oben, einnimmt (iv). In der Tat finden sich zahlreiche Kapitel, in denen Marc Aurel diese Perspektive whlt, von der aus einzelne Menschen, aus der Ferne betrachtet, weder als Individuen noch als liebenswert erscheinen. Doch handelt es sich bei dieser Perspektive nicht um einen Dauer- bzw. Endzustand, der dem Tod gleicht, und Bindungen ausschließt.1297 bersehen wird, dass Marc Aurel nicht nur 1293 hnlich auch Engberg-Pedersen, T.: Marcus Aurelius on Emotion, a.a.O., S. 331: Der Blick von oben „generates individualized, personal, and subjective pro-attitudes towards those very individuals to whom the general view from above is concretely applied“. 1294 M. Aur. Med. 5, 31. 1295 M. Aur. Med. 1, 16. 1296 Siehe nochmals M. Aur. Med. 7, 13 (dazu auch sehr passend: Engberg-Pedersen, T.: Marcus Aurelius on Emotion, a.a.O., S. 325). 1297 Prima facie wrde Nussbaums Kritik in diesem Punkt viel eher auf einige Beschreibungen zutreffen, die sich bei Platon finden. Auch dort wird ein „Blick von oben“ beschrieben und im Phaidon ruft Sokrates ausdrcklich dazu auf, im Leben zu sterben, also eine Trennung zu vollziehen. In letzter Konsequenz, so die Episode des Theaitetos, kçnnte ein Philosoph, der nur an den Ideen orientiert ist, auch keine
676
5. Ethik
einen praktischen Umgang mit anderen Menschen fordert, der liebevoll sein soll und Freude macht, sondern auch epistemisch keine dauerhafte Trennung durch eine erhobene, oder wenn man will: entrckte Position einnimmt. Nussbaums Kritik scheint auf der Annahme zu basieren, dass Marc Aurel schon auf epistemischem Gebiet eine Isolation und damit „detachment“ und „self-containment“ fordert, was sich dann auf zwischenmenschlicher Ebene auswirkt und fortsetzt. Es konnte aber gezeigt werden,1298 dass weder Anachorese noch der sog. Blick von oben eine dauerhafte Absage an die Auseinandersetzung mit konkreten Dingen oder eben Mitmenschen darstellt. Damit ist bereits auf ein weiteres Kapitel dieser Untersuchung verwiesen, die Bedeutung der Vorbehaltsklausel.1299 Auch in dem Kapitel, in dem Marc Aurel empfiehlt, man solle sein Kind kssen, in dem Wissen oder trotz des Wissens, es kçnne schon bald tot sein, wird deutlich, dass es fr einen Stoiker nicht auf den Ausgang der Handlung ankommt. Die Stoiker seien, so Nussbaum „unopen to risk“,1300 besonders, was andere Menschen angehe. Sie schlçssen die Dinge („longing, need, reverence and gratitude“) aus.1301 Diese Kritik am „self-containment“ geht davon aus, dass Marc Aurel empfiehlt, die „innere Burg“, den Bereich der eigene Machtsphre, nicht zu verlassen, keine Bindungen einzugehen, eben weil diese von unbeeinflussbaren Faktoren tangiert werden kçnnten. Doch gerade ein Philosoph bedenkt, dass nicht alles in seiner Macht steht und dass der Ausgang seiner Handlung ungewiss ist und dass es ebenso ungewiss ist, ob sein Kind nicht einen Unfall haben wird, so dass er es nicht lebend wiedersehen wird. Aus dieser Einstellung darf nun nicht geschlossen werden, dass der Stoiker wegen dieser Unverfgbarkeiten beschließt, sich nicht mehr liebevoll um sein Kind zu kmmern oder erst gar keine Ehe einzugehen oder Kinder zu zeugen. Marc Aurel rekurriert auf Epiktet:
sozialen Beziehungen mehr haben, da er nicht einmal erkennt, dass sein Nachbar ein Mensch ist. 1298 Siehe Kap. II 2.2 und 3.2 – 3.3. 1299 Siehe Kap. II 5.5.2. 1300 Nussbaum, M. C.: Political Animals: Luck, Love and Dignity, in: Metaphilosophy 19 (1998), S. 273 – 287, hier: S. 280. 1301 Siehe Nussbaum, M. C.: Eros and Wise: The Stoic Response to a Cultural Dilemma, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 13 (1995), S. 231 – 267, hier: S. 267.
5.4 Leidenschaften und positive Affekte
677
„Epiktet sagte, wenn man ein Kind ksse, msse man sich im Stillen sagen: ,Morgen bist du vielleicht schon tot.‘“1302 Tritt eine Behinderung ein oder ein Ereignis, wie der Tod des Kindes, entfaltet der Gedanke, es handele sich um etwas Indifferentes, seine beruhigende Kraft. Nirgendwo steht, dass man deshalb keine Kinder haben soll und sie nicht lieben oder kssen soll. Genau das aber scheint Nussbaum in den stoischen Texten zu erkennen. Menschen sollen andere Menschen lieben, Zuneigungen haben, aber das heißt fr die Stoiker eben nicht, dass man um sie trauern muss. Hier sieht und macht die stoische Theorie Unterschiede, die den Schluss der Kritiker problematisch erscheinen lsst. Denn sie schließen von der mangelnden Trauer oder der Empfehlung, nicht zu trauern, auf die fr sie unzureichende, ja inhumane Konzeption der Bindung bzw. darauf, dass Bindungen gar nicht vorhanden sein sollen. So als ob mit der Trauer nach der Beendigung einer Bindung durch den Tod die emotionale Qualitt der Beziehung selbst gendert wrde.1303 Besonders schwierig und ernst zu nehmen ist das Argument, andere Menschen wrden vom Weisen als wertlose indifferente Gter verstanden (iii). Fr Nussbaum ist es unerklrlich, wie eine Theorie soziale Bindung empfehlen kann, ohne externe Gter anzuerkennen.1304 Auf die fehlende Annahme externer Gter folge notwendigerweise „radical detachment“.1305 Die stoische Theorie, so eine andere Kritikerin, G. Striker, mache Menschen „indifferent to things we ought to arppreciate. Far from being a necessary condition of virtue, Stoic apatheia actually seems to be incompatible with it.“1306 1302 M. Aur. Med. 11, 34. Siehe auch Arr. Epict. ench. 3: „Wenn du dein Kind oder deine Frau ksst, so sage dir: ,Es ist ein Mensch, den du ksst.‘ Dann wirst du nmlich nicht die Fassung verlieren, wenn er stirbt.“ 1303 Es soll hier nicht entschieden werden, ob dies die stoische Position insgesamt im Lichte einer modernen Theorie der (sozial bedeutsamen) Gefhle interessanter oder anschlussfhiger macht. 1304 „My claim was that Marcus did the best with the problem of benevolence that a Stoic could do, but that failure of his account shows us that we cannot adequately motivate benevolence from a Stoic position. We cannot explain why benevolence is urgently important unless we ascribe importance to the ‘external good’ the Stoics repudiate.“ Nussbaum, M. C.: Love, Literature and Human Universals, a.a.O., S. 133. 1305 Nussbaum, M. C.: Therapy of Desire, a.a.O., S. 363. 1306 Striker, G.: Following Nature: A Study in Stoic Ethics, a.a.O., S. 71.
678
5. Ethik
Sicherlich lassen sich dafr in der stoischen Tradition und gerade auch bei Marc Aurel Belege finden. Auf die Kritik an den Stoikern, ihre Gterlehre fhre zu einer apathischen Inhumanitt, ist mit der Theorie der Vorzugsgter geantwortet worden, die es erlauben wrde, andere Menschen und damit soziale Beziehungen als wertvoll zu betrachten.1307 Aber diese Argumentationslinie kann nicht fr Marc Aurel herangezogen werden, da er keine Vorzugsgter innerhalb der indifferenten Dinge anerkennt. Dennoch gibt es auch bei ihm, wie gezeigt wurde, noch eine andere Seite. Abgesehen davon, dass Nussbaum nicht bercksichtigt, dass Marc Aurel mit den Leidenschaften nur bestimmte Antriebe fr soziale Bindungen kritisiert und positive Affekte beraus hufig erwhnt, scheint bersehen zu werden, dass die Stoiker und besonders Marc Aurel soziale Beziehungen schlichtweg als natrlich, als in bereinstimmung mit der allgemeinen und individuellen Natur erachten. Den liebevollen Umgang mit Kindern erklren die Stoiker nicht nur durch eine Werttheorie, sondern auch durch einen natrlichen Antrieb.1308 Mit der Forderung der Ausweitung des Objektkreises im Rahmen der sozialen Oikeiosislehre bleibt diese Basis fr soziale Beziehungen aber gerade erhalten. Grundlage bleibt die natrliche Anlage des Menschen zu liebevollen sozialen Bindungen. Im Rahmen der Diskussion, ob die Stoiker eine inhumane Theorie vertreten, hat T. Irwin ein Argument von R. Sorabji aufgegriffen und mit der Theorie der Vorzugsgter zu einem fr die Stoiker entlastenden Argument verknpft. Doch auch fr Marc Aurel und seine radikale Wertlehre nach dem Vorbild Aristons ist es modifizierbar. R. Sorabji vergleicht die stoische Auffassung vom Leben mit der Beteiligung an einem Spiel.1309 Fr die Stoiker geht es nicht darum, im Spiel zu punkten, einen Sieg zu erringen, sondern die Spielzge mit einer bestimmten Haltung, nmlich tugendhaft, auszufhren. Die Spielzge, die fr die Handlungen stehen, werden von Regeln bzw. der Natur vorgeschrieben. Aber ob sie zum Sieg fhren oder ob unvorhersagbare Ereignisse das Ergebnis eines Spielzuges oder einer tugendgemßen Handlung erreichen, ist nicht Teil der Tugend. Gegenber diesem Handlungsergebnis wird Indifferenz gefordert. Und 1307 So Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., S. 52 ff. und Irwin, T.: Stoic Inhumanity, a.a.O., S. 234 ff. Siehe dazu Kap. II 3.2.3 – 4. 1308 Siehe Plut. De stoic. repugn. 12, 1038 B (=LS 57 E) und Cic. De fin. 3, 62 – 68. 1309 Siehe Sorabji, R.: Animal Minds and Human Morals. The Origins of the Western Debate, London 1993, S. 140.
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
679
diese Indifferenz darf auch absolut ohne die Unterscheidung von Vorzugsgtern gelten. Dieser Vergleich von Sportplatz und Leben, den auch Marc Aurel so zieht,1310 besttigt noch einmal, was sich bereits im Kapitel ber das Kssen des Kindes zeigte. Spielzge, Handlungen und soziale Bindungen, liebevolles Kssen des Kindes sind durch die Natur vorgeschriebene Handlungen. Wie der Bogenschtze1311 auch schon dann gemß seiner Kunst agiert, wenn er ganz kunstgerecht auf die Scheibe zielt, und das wirkliche Treffen nicht mehr den Ausschlag gibt oder ein Gut darstellt, so kçnnen auch soziale Beziehungen liebevoll unterhalten werden, ohne dass Werturteile erforderlich sind, die ber die stoische Gterlehre hinausgehen. Natrlich bleibt ein Unbehagen angesichts der bei den Stoikern und gerade bei Marc Aurel vorzufindenden Gterlehre und den Vorstellungen von Affekten. Vielleicht zeigen sich gerade in diesem Punkt die Radikalitt und die kynischen Ursprnge der stoischen Philosophie. Denn hier wird nicht nur eine Neuprgung der Mnze, eine Umwertung der Werte gefordert, sondern, dass Menschen auch entsprechend leben und lieben. Sowohl die Kritik an den Leidenschaften als auch die Frage nach den sozialen Bindungen und den positiven Affekten fhrten zum Problem, dass Handlungen zwar von einer Tugend bestimmt sein kçnnen, aber ihr Ziel dennoch nicht erreichen kçnnen. Ein Teil der Strategie, nichts exzessiv zu wollen oder zu frchten bzw. zu vermeiden, besteht darin, es unter Vorbehalt anzustreben, also im Wissen, dass das Gefrchtete eintritt oder das Gewnschte ausbleibt. Im Folgenden sind daher zwei Aspekte der Handlungen selbst zu beschreiben: ihre Angemessenheit und der Umstand, dass ihr Ausgang kontingent ist. 5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen Fr die Stoiker ist ein Antrieb die notwendige und hinreichende Bedingung fr eine Handlung. Im folgenden Teil der Untersuchung kann nun Marc Aurels Vorstellung von einer Handlung, genauer, von zwei dabei zentralen Aspekten erçrtert werden. Da ist zum einen die eher inhaltlich orientierte Frage, wann eine Handlung angemessen ist, und dann die wichtige Frage, wie Marc Aurel mit der Tatsache umgeht, dass zwar oft ein 1310 Siehe M. Aur. Med. 6, 20. 1311 Siehe Cic. De fin. 3, 22.
680
5. Ethik
Antrieb fr eine Handlung besteht, diese evtl. auch begonnen wird, aber ihr Ausgang kontingent ist. 5.5.1 Die angemessenen Handlungen (jah^jomta) Marc Aurels Erwhnungen der jah^jomta sind aus zweierlei Grnden problematisch. Erstens ist seine Behandlung dieses Themas ganz besonders drftig. Bedenkt man die wichtige Bedeutung, die dem Begriff in der stoischen Ethik zukommt,1312 ist auffllig, dass Marc Aurel ihn noch beilufiger als den Ausdruck bql^ behandelt, der immerhin noch in wenigen Argumenten eine Rolle zu spielen scheint. Im Vergleich dazu scheint Marc Aurel jah^jomta nur zu erwhnen, statt sie zu einem Gegenstand oder Teil eines Argumentes zu machen. Zweitens – und das scheint die Lage noch zu verschlimmern – sieht es auf den ersten Blick so aus, als wrden diese Erwhnungen kein kohrentes Bild ergeben. In diesem Kapitel kann also nur eine kurze Darstellung der Verwendung des Ausdrucks jah^jomta bei Marc Aurel erfolgen. Dabei steht eine Erklrung der beiden gerade erwhnten Probleme im Vordergrund: Kçnnen die wenigen und vermeintlich widersprchlichen Kapitel durch eine einzige und kohrente Auffassung Marc Aurels erklrt werden? Und wenn er ein solches einheitliches Konzept hat, fragt sich umso dringlicher, warum er so wenig zu diesem Thema schreibt. Zunchst wird der Ausdruck von den Stoikern sehr breit verwandt, denn er wird, so Diogenes Laertius, auch Tieren und Pflanzen zugesprochen: Sie erstreckt sich auch auf Pflanzen und Tiere; denn auch bei ihnen sind zukommende Funktionen zu beobachten. … Die zukommende Funktion ist eine Ttigkeit, die fr natrliche Konstitutionen eigentmlich ist.1313
Allgemein bezeichnet der Ausdruck also eine Ttigkeit, die ein Lebewesen gemß seiner eigenen Natur ausfhrt. Dazu gehçren also zunchst die Wahrnehmung und die Ttigkeiten, die mit der Wahrnehmung und der
1312 Einen besonders guten berblick ber die systematische Bedeutung der Lehre von den jah^jomta und ihrem Stellenwert innerhalb der stoischen Ethik gibt die ausfhrliche Abhandlung von Brennan, T.: The Stoic Life, a.a.O., S. 182 – 231. 1313 Diog. Laert. 7, 107 – 108 (=LS 59 C).
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
681
Selbsterhaltung in Zusammenhang stehen. In diesem Sinne sind die Aktivitten eine Folge (!jokouh_a) in bereinstimmung mit der Natur.1314 In dieser sehr weiten Bestimmung ist aber bereits angelegt, was auch fr die Bedeutung des Ausdruckes in Bezug auf Menschen gilt: Erstens sind jah^jomta Aktivitten, Handlungen, nicht die sie bestimmenden Dispositionen im Agenten. Letztere beschreiben den Charakter des Handelnden, der ber die Handlungen entscheidet und sie bestimmt, weswegen die Charaktereigenschaften des Handelnden auch die der Handlungen sind. Dennoch ist der Unterschied sehr wichtig, denn, wie gleich noch zu erçrtern sein wird, kann es auch dem Weisen passieren, dass er eine Handlung beginnt, sie aber nicht gelingt oder vollzogen werden kann. Solche Situationen beziehen sich auf die Handlung und nicht den Charakter des Handelnden. Zweitens ist nur eine einzelne Handlung gemeint, nicht eine Menge oder gar die Gesamtheit der Lebensfhrung.1315 Drittens folgt aus den ersten beiden Punkten, dass nicht nur die Beziehung zur eigenen Natur und bestimmenden Disposition des Agenten eine wichtige Rolle spielt, sondern auch die Angemessenheit der Relation zur Umwelt, dem Kontext, auf den die Handlung bezogen ist.1316 Viertens wird der Ausdruck auch dann noch umfassend gebraucht, wenn die ersten drei genannten Aspekte bercksichtigt sind. Denn er bezeichnet einerseits jede Handlung, die ein Mensch aufgrund seiner spezifischen Natur und einer Vernunftentscheidung ausfhrt.1317 Das ist die allgemeine Bestimmung von jah^jomta. Andererseits bezeichnet er eine besondere Gruppe von Handlungen, nmlich die, die ein Weiser ausfhrt. Diese Handlungen entspringen nicht nur einer Vernunftentscheidung, die ja auch fehl gehen kann,1318 sondern ,richtiger‘ Vernunft.1319 Diese Handlungen sind „vollkommen“, bilden aber keinen Gegensatz zur Gruppe der jah^jomta, sondern eine Untergruppe, nmlich die Handlungen, die der Weise aufgrund seiner Tugend ausfhren wrde.1320
1314 Siehe Stobaios 2, 85, 13 – 86, 4 (=LS 59 B). 1315 Siehe Stobaios 2, 85, 13 – 86, 4 (=LS 59 B). 1316 Siehe Diog. Laert. 7, 108 – 109 (=LS 59 E) und dazu Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 84. 1317 Siehe Stobaios 2, 85, 13 – 86, 4 (=LS 59 B). 1318 Siehe Diog. Laert. 7, 177. 1319 Siehe Stobaios 2, 96, 18 – 97, 14 (=LS 59 M). 1320 Siehe Stobaios 2, 85, 13 – 86, 4 (=LS 59 B).
682
5. Ethik
Diese Unterscheidung bereitet der Forschung nicht ganz zu Unrecht Probleme.1321 Lange war die Versuchung groß, jah^jomta, angemessene Handlungen und vollkommene, weil richtige Handlungen kategorial zu unterscheiden.1322 Das aber ist nicht haltbar, schon weil jede vollkommene und richtige Handlung notwendig zur Gruppe der angemessenen Handlungen gehçren muss. Sie kçnnte richtig sein, wenn sie der spezifischen Natur des Menschen nicht entsprechen wrde.1323 Die Bercksichtigung dieses Verhltnisses der angemessenen zu den richtigen Handlungen wird gleich bei der Interpretation der wenigen Kapitel, in denen Marc Aurel von jah^jomta spricht, hilfreich sein. Darber hinaus werden bislang noch nicht genannte Aspekte der stoischen Lehre deutlich werden. Bei Marc Aurels Behandlung der jah^jomta ist zunchst auffllig, dass es ihm weniger um die Bestimmung dieser Handlungen geht, sondern darum, sich nicht von ihnen ablenken zu lassen: „Ich tue meine Pflicht; alles andere bringt mich nicht davon ab.“1324 Die Kapitel thematisieren mehrere Aspekte dieser geforderten Konzentration auf die angemessenen Handlungen. Folgendes Kapitel bndelt einige dieser Momente: Wenn dich jemand fragt, wie man den Namen Antoninus schreibt, wirst du dann etwa nicht angespannt jeden einzelnen Buchstaben nennen? Was ist aber, wenn sich die Leute darber rgern? Bist du dann etwa auch rgerlich? Wirst du dann etwa nicht mit Geduld vorgehen und jeden einzelnen Buchstaben aufzhlen? So denk auch hier daran, dass jede angemessene Handlung aus irgendwelchen ,Zahlen‘ besteht. Auf diese muss man achten, und, ohne sich stçren zu lassen und auf Unzufriedene mit Unzufriedenheit zu reagieren, Schritt fr Schritt seine Aufgabe erfllen.1325
In diesem Kapitel und den Selbstbetrachtungen insgesamt sind folgende Aspekte der Konzentration auf die angemessenen Handlungen auszumachen:
1321 Siehe besonders die Auseinandersetzung von Brennan, T.: The Stoic Life, a.a.O., S. 182 ff. 1322 Fr eine strkere Unterscheidung pldiert etwa Forschner, M.: Die stoische Ethik, a.a.O., S. 184 ff. 1323 So auch A. A. Long und D. Sedley in ihrem Kommentar zu LS 59. 1324 M. Aur. Med. 6, 22. 1325 M. Aur. Med. 6, 26 (bersetzung von kathÞkon abweichend von Nickel).
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
683
Erstens wird deutlich, dass es Marc Aurel in der Tat um die einzelne konkrete Handlung geht und nicht um die Ziele und die Gesamtheit der Lebensfhrung.1326 Zweitens soll die Handlung unabhngig von den Meinungen der anderen Menschen ausgefhrt werden und nicht davon beeinflusst sein. Drittens heißt Konzentration auf eine einzelne Handlung, sich nur auf diese und nicht die vergangenen und zuknftigen zu konzentrieren. Also fordert Marc Aurel damit auch die Konzentration auf die Gegenwart, weil nur diese zum Verfgungsbereich des Menschen gehçrt. Viertens erfordert die Konzentration auf die einzelne gerade auszufhrende Handlung eine Analyse und Zergliederung derselben, so als ob sie aus Zahlen bestnde. Das Kapitel scheint hier die analytische Methode1327 auf die angemessene Handlung anzuwenden. Jede Handlung wird wieder zerlegt, um sie bersichtlicher zu machen. Marc Aurel fordert sich also auf, nicht nur die verschiedenen Handlungen zu isolieren1328 und sich darauf zu konzentrieren, sondern auch bestimmte Elemente einer angemessen Handlung zu unterscheiden. Fnftens soll die Handlung unabhngig vom kontingenten Ausgang erfolgen. Die Konzentration liegt also ganz auf dem Beginn und der Ausbung der Handlung, nicht auf der Erreichung des Zieles.1329 Die Frage nach der Ausfhrbarkeit der Handlungen ist fr Marc Aurel sehr wichtig. Diese Frage ist daher eine etwas umfassendere Untersuchung wert.1330 In dem gerade zitierten Kapitel betont Marc Aurel auch die Ausrichtung der Handlungen auf das Gemeinwohl.
1326 Siehe auch M. Aur. Med. 6, 7. 1327 Siehe Kap. II 4.3. 1328 „Doch ber sich selbst zu verfgen, seine einzelnen Pflichten sorgfltig auseinander zu halten …“ M. Aur. Med. 3, 1. 1329 „Ist meine Denkfhigkeit damit berfordert oder nicht? Wenn sie ausreicht, gebrauche ich sie als Werkzeug, das mir von der Natur des Weltganzen gegeben wurde, zur Erfllung meiner Aufgabe. Sollte sie nicht reichen, so nehme ich die Aufgabe nicht in Angriff und berlasse sie einem anderen, der sie erfllen kann, wenn es keine andere vertretbare Lçsung gibt, oder ich tue meine Arbeit so gut ich kann, nachdem ich jemanden als Helfer herangezogen habe, der in der Lage ist, das fr die Gemeinschaft derzeit Angemessene und Ntzliche zu verrichten, in dem er sich meiner leitenden Seelenkraft bedient. Denn alles, was ich aus eigener Kraft oder mit Hilfe eines anderen tue, darf nur ein Ziel haben: den allgemeinen Nutzen und das den Umstnden Entsprechende.“ M. Aur. Med. 7, 5. 1330 Siehe das folgende Kapitel der Untersuchung.
684
5. Ethik
ber die genannten Aspekte hinaus verwendet Marc Aurel die Vorstellung von angemessenen Handlungen auch zur Affekttherapie.1331 Marc Aurel macht sich hier die Konzeption der jah^jomta zu Nutze. Da sie „folgerichtig“ sind, weil sie in bereinstimmung mit der eigenen Natur sind, stiften solche Handlungen notwendig einen Beitrag zur Erreichung des Glcks. Was mit ihnen zusammenhngt, sollte also eher begrßt als beklagt werden. Das Kapitel soll offenbar motivierend wirken. Wie auch beim letzten Zitat deutlich wurde, verwendet Marc Aurel den Ausdruck jah^jomta insgesamt vorrangig positiv. Er ußert sich aber auch in einem Kapitel negativ: Den Geist als Fhrer zu dem, was als eine angemessene Handlung erscheint, zu haben, liegt auch in der Reichweite der Leute, die nicht an die Gçtter glauben, ihr Vaterland verraten und alles Mçgliche tun, wenn sie ihre Tren geschlossen haben. Wenn also das brige den Genannten gemeinsam ist, dann liegt die spezifische Eigenschaft des guten Menschen nur noch darin, alles, was ihm passiert und bestimmt ist, zu lieben und gern anzunehmen, außerdem die in seinem Herzen wohnende gçttliche Kraft nicht zu verunreinigen oder durch eine Flle von Vorstellungen aufzuregen, … weder etwas von sich gibt, was der Wahrheit nicht entspricht, noch etwas tut, was ungerecht ist.1332
Wie ist zu erklren, dass Marc Aurel hier jah^jomta negativ erwhnt, und zwar als etwas, das auch fr ihn offensichtlich fragwrdige Menschen tun? Der Hinweis, dass der Geist diesen Menschen hilft, die jah^jomta zu bestimmen, scheint das Problem noch zu verstrken. Wieso wertet Marc Aurel dies ab, indem er sagt, dies sei keine spezifische Eigenschaft des guten Menschen? Eine Erklrung dieses Passus auf Grundlage der stoischen Theorie kçnnte auf dem oben erwhnten Verhltnis von jah^jomta und vollkommen richtigen Handlungen beruhen. Marc Aurel drfte diese Unterscheidung kennen und vielleicht macht er davon Gebrauch, indem er in diesem Kapitel die jah^jomta erwhnt, die keine vollkommen richtigen Handlungen sind. Gemß der stoischen Lehre kann der Geist nicht nur irren, sondern auch Handlungen verursachen, die von der richtigen Handlung eines Weisen nicht zu unterscheiden sind. Die einzelne konkrete Handlungsausbung unterscheidet sich nicht, denn auch ein Weiser wird 1331 „Erinnere dich allerdings auch daran, dass du dazu fhig bist, alles zu ertragen, wo deine Aufnahmefhigkeit in der Lage ist, es ertrglich oder annehmbar zu machen durch die Vorstellung, dass es dir ntzt oder dass es die dir angemessene Handlung ist.“ M. Aur. Med. 10, 3. 1332 M. Aur. Med. 3, 16. Der erste Satzteil lautet t¹ d³ t¹m moOm Bcelºma 5weim 1p· t± vaimºlema jah¶jomta (bersetzung von kathÞkonta abweichend von Nickel).
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
685
evtl. ein Kind zeugen, etwas trinken, etwas tun, um seine Gesundheit zu erhalten usw. Den Unterschied zur Handlung des Weisen kann man nicht sehen, seine Handlung wird aber von der Tugend des Weisen, seinem Antrieb, seinen Zielen, die er mit den Handlungen verbindet, bestimmt. Zu dieser Erklrung wrde passen, dass Marc Aurel nach der Erwhnung der jah^jomta, die auch von charakterlich fragwrdigen Menschen vollzogen werden kçnnen, die spezifischen Eigenschaften des guten Menschen beschreibt, die alle im Bereich der Tugend liegen, also den Charakter oder Dispositionen betreffen. Erst diese Qualitten kçnnen dafr sorgen, dass nicht nur oberflchlich eine angemessene Handlung ausgebt wird. Diese Interpretation setzt voraus, dass Marc Aurel die stoische Theorie der jah^jomta hinreichend kannte. Wenn das so ist, fragt sich aber, warum er generell ber dieses Thema so wenig schreibt. Und wenn er darber schreibt, interessiert er sich nicht fr das Konzept selbst. Typisch ist folgendes Kapitel: „Wenn es sich nicht gehçrt, dann tu es nicht.“1333 Vielleicht gibt es auch fr diesen Umstand eine Erklrung. Der Unterschied zwischen den vollkommen richtigen Handlungen und den angemessenen Handlungen ist, wie oben angedeutet, nicht sichtbar, sondern in der Disposition des Handelnden begrndet. Die Handlungen selbst geben auch keinen Hinweis darauf, ob der Agent tugendhaft ist oder nicht. Betrachtet man also nur die einzelne Handlung – und das meint der Ausdruck jah^jomta – kommt das Entscheidende, die Tugend, nicht in den Blick. Dieser Umstand hat Folgen fr die Frage, warum Marc Aurel die jah^jomta noch seltener erwhnt als die brigen Stoiker. Denn wenn die jah^jomta nur die konkrete Handlung und nicht ihre evtl. zugrunde liegende Tugend beschreiben, sieht es fr einen Betrachter oft so aus, als htten die Handlungen es mit indifferenten Dingen zu tun. Bei vielen Handlungen, die angemessen erscheinen, ist nicht klar, ob sie durch eine tugendhafte Disposition fundiert sind. Dennoch sind diese Handlungen, die die Stoiker mittlere angemessene Funktionen nennen, tugendbasiert.1334 Diese jah^jomta haben es also mit indifferenten Dingen zu tun, die zugleich als Vorzugsgter bestimmt werden. Aber eine Unterscheidung von Vorzugsgtern und zu vermeidenden Dingen innerhalb der Gruppe der gleichgltigen Dinge hatte Marc Aurel genau wie Ariston von Chios abgelehnt. Da die Tugend aber fr Marc Aurel wie fr die anderen Stoiker 1333 EQ lμ jah¶jei, lμ pq²n,r. M. Aur. Med. 12, 17. 1334 Siehe Stobaios 2, 85, 13 – 86, 4 (=LS 59 B).
686
5. Ethik
sehr selten ist, sind die jah^jomta in der Mehrzahl mittlere angemessene Handlungen. Da es aber fr Marc Aurel keine vorzuziehenden mittleren Gter gibt, die solche vorzuziehenden mittleren Handlungen konstituieren wrden, ist auch sein Desinteresse erklrt. Es wrde sich ferner nicht nur um ein theoretisches Desinteresse oder eine schulphilosophische Inkompetenz handeln, sondern Ausdruck einer bestimmten philosophischen Position sein. An dieser Stelle kann noch der bereits angekndigte kurze Vergleich mit Epiktet erfolgen.1335 Fr die ltere Stoa waren die vollkommen richtigen Handlungen eine besondere Form der angemessenen Handlungen. Und korrespondierend war eqenir eine besondere Form der bql^, nmlich eine Bewegung hin auf das Gute. Fr Epiktet hingegen handelt es sich bei eqenir und bql^ um ganz getrennte und sich ausschließende Seelenvermçgen, die die ersten beiden seiner bungsbereiche bestimmen. Diese Unterscheidung von eqenir und bql^ hat ferner Einfluss auf seine Bestimmung der jah^jomta. Er scheint sie teilweise sogar als Gegenbegriff zum Guten zu verwenden, weil sich die sie motivierende bql^ nur auf angemessene und nicht auf vollkommen richtige Handlungen bezieht. Nur die eqenir strebt nach dem Guten.1336 Prima facie spricht einiges dafr, dass Marc Aurel ganz Epiktet folgt. Er gibt nicht nur an, seine Schriften gelesen zu haben,1337 vor allem erwhnt er eqenir und bql^ in Reihungen, die eine Referenz an die drei Regeln von Epiktet darstellen kçnnten.1338 Auch bringt er, wie Epiktet, eqenir mit dem Guten in Verbindung. Aber seine Erwhnungen sind erstens nicht hinreichend, um Marc Aurel die Rezeption der Position Epiktets zuzuschreiben, denn seine Ausknfte sind auch durch die altstoische Position gedeckt. So erwhnt er eqenir und bql^ ohne jeglichen Versuch, sie so zu unterscheiden wie Epiktet.1339 Auch die bei Epiktet korrespondierende Gegenberstellung von angemessenen Handlungen und richtigen Handlungen, die er als zwei getrennte Klassen versteht, ist bei Marc Aurel nicht deutlich. Und so spricht vor allem der Umstand, dass Marc Aurel bql^ und jah^jomta vorrangig positiv verwendet, gegen die These Hadots, dass 1335 Siehe dazu Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 114 ff. 1336 Siehe z. B. Arr. Epict. diss. 3, 3, 5. 1337 Siehe M. Aur. Med. 1, 7. 1338 Siehe M. Aur. Med. 8, 27 und 9, 7. 1339 Siehe M. Aur. Med. 8, 7. Siehe dazu Kap. II 5.3.
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
687
Marc Aurel sich vçllig an Epiktet halte. Er scheint, wie bereits durch die Rezeption Heraklits und Ariston von Chios’ deutlich wurde, auch eigenstndig und unabhngig von Epiktet auf frhere Quellen zurckgegriffen zu haben. Neben der vielleicht bertriebenen Identifizierung der Philosophie Epiktets und Marc Aurels bersieht Hadot bei Epiktet zwei weitere Gesichtspunkte. Erstens verwendet Epiktet die Begriffe bql^ und eqenir sowie jah^jomta vielleicht in einer neuen Weise, aber er scheint mit neu verwandtem Vokabular die altstoische Position damit nur auf seine Weise teilen zu wollen. Zweitens ist es wichtig festzuhalten, dass Epiktet eqenir nur eingeschrnkt aufheben will, erstens soll eqenir der Sache nach auf das beschrnkt werden, was in der eigenen Machtsphre liegt1340, und zweitens sollen seine Schler eqenir mçglichst so lange vermeiden, so lange sie wissen, was gut und in ihrem Verfgungsbereich ist.1341 Dass die Stoiker die Tugend als Grundlage der vollkommenen und richtigen Handlungen betonen, hat Auswirkungen auf die Frage, ob die Handlung exakt so wie von Vernunft und Tugend richtig bestimmt ist, ausgefhrt werden muss und als solches gelingen muss. Auch in einem bereits zitierten Kapitel wurde die Frage nach dem kontingenten Handlungsablauf deutlich. Diesem Punkt ist jetzt detaillierter nachzugehen. 5.5.2 Handeln unter Vorbehalt Immer wieder fordert sich Marc Aurel auf zu akzeptieren, was die Vorsehung geschehen lsst. Wenn die Vorsehung aber alles bestimmt, muss sich auch der Handelnde darauf einstellen. Wie aber kann er das tun? Idealerweise stimmen Absicht des Handelnden und das, was die Natur des Ganzen bestimmt, berein. Denn so wird die Handlung glcken und vollkommen in bereinstimmung mit der spezifischen Natur und der Natur des Ganzen sein. Aber das setzt voraus, dass der Handelnde weiß, was 1340 Siehe Arr. Epict. ench. 2. 1341 Diese beiden Momente hat bereits Brad Inwood herausgestellt: „the changes he [Epiktet] has made are changes in terminology only, and he has made them in order to give new emphasis to a cardinal aspect of his own ethical doctrines which he shared with the old Stoics.“ Ferner: „Epictetus ordinarily tells his students to avoid orexis, the pursuit of the good, at least until they have a clear notion of what is in their power and what is not, which is a result of gaining a correct view of what is truly good.“ Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 116 und 125.
688
5. Ethik
die Natur des Ganzen vorherbestimmt hat. Das aber kann nicht einmal ein stoischer Weiser immer wissen.1342 Nach stoischer Lehre muss also selbst ein tugendhafter Weiser einerseits versuchen, seine vernnftigen Handlungsimpulse in bereinstimmung mit der gçttlichen Vorsehung zu bringen, andererseits kann er nicht mit Sicherheit wissen, wie sich der Kosmos und die Umstnde, die ber den Ausgang der Handlung entscheiden, entwickeln werden. Da der Mensch aber wissen kann, dass er ein so weitgehendes und detailreiches Wissen ber die Zukunft nicht hat, kann er sich zumindest auf die Kontingenz des Handlungsablaufes und -erfolges einstimmen. Auch der Weise wird nur unter Vorbehalt (rpena_qesir, exceptio) handeln. Kontingenz ist also ein Phnomen, das fr Menschen aufgrund ihres limitierten Wissens besteht. Im Kosmos ist alles vorherbestimmt. Kontingent ist fr Menschen der Handlungsausgang auch dann, wenn sie wissen, dass alles im Kosmos vorherbestimmt ist, denn sie wissen nicht vollumfnglich was. Diese Deutung, insofern sie voraussetzt, dass der Weise nicht alles ber den zuknftigen Verlauf des Kosmos und damit auch den der Dinge, die seine geplante und evtl. begonnene Handlung betreffen, weiß, ist nicht unumstritten. Fraglich ist, ob die Stoiker dem Weisen nicht doch ein solches alles umfassendes Wissen zusprechen. M. Forscher vertritt die These, dass die Stoiker dergleichen angestrebt haben: Eukairia meint dabei den Punkt, an dem die Handlungen eines Menschen mit dem Gesamtprozess sinnvoll zusammentreffen, derart, dass das eigene Handeln als Ursache im Verein mit den von ihm unabhngig ttigen Ursachen zu einem Ereignis bzw. einer Ereigniskonstellation fhrt, das bzw. die im Rahmen der universalen Heilsgeschichte einen sinnvollen Prozessabschnitt bildet. Das setzt ein Verstndnis des Sinnes der Geschichte im Ganzen ebenso wie der besonderen Handlungssituation und der auf sie folgenden Ereignisphase voraus. Dazu freilich ist nçtig, dass das vom Schicksal dem Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen Bestimmte in der konkreten Handlungssituation auch wirklich antizipierbar ist, d. h., dass die gegebenen Umstnde im Verein mit dem eigenen Handeln als Antecedens fr sich sicher Kommendes erkennbar und dieses als das vom Schicksal hic et nunc Gewollte deutbar ist. Die These vom Handeln unter Vorbehalt scheint die Ansicht zu enthalten, dass auch fr den Weisen erst das faktische Resultat zu erkennen, ob das von ihm aktiv Verfolgte (und nicht das lediglich in Rechnung Gestellte und Mitbejahte) auch das vom Schicksal Gewollte ist. Die These von der eqjaiq_a bzw. eqaq´stgsir seines Handelns scheint dagegen dem Weisen ein Wissen und 1342 Siehe z. B. Sen. Ben. 4, 34.
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
689
Handeln zuzusprechen, das intentione recta stets das trifft, was auch das Schicksal von ihm erwartet. Wie die Stoa aber zu einem derartigen Wissen kommen zu kçnnen glaubt, geben die berlieferten Formeln nicht genau zu erkennen. … Dass dieses Wissen eine gçttliche Sicht der Dinge und Ereignisse beinhaltet, macht die Charakterisierung des Weisen als des wahren Mantikers deutlich. Es scheint, dass die Stoa mit der Bestimmung der Handlungen des Weisen als eqjaiq¶lata und der Behauptung einer stets das jeweils Rechte treffenden vqºmgsir die Grenzen des fr Menschen Mçglichen berschritten hat.1343
Unklar an Forschners Position ist, ob der Weise nun erst nach der Handlung weiß, ob er richtig antizipiert hat, oder ob die Stoiker in Forschers Deutung ihm in der Tat bereits vor der Handlung das Wissen ber die Entwicklung des Kosmos in Bezug auf die handlungsrelevanten Umstnde zusprechen. Wenn letztere Behauptung zutrfe und der Weise weiß, dass er das sicher weiß, msste er nicht mehr unter Vorbehalt handeln. Vieles spricht dafr, dass die frhe Stoa eine etwas realistischere Position vertreten hat,1344 aber das kann und muss hier nicht entschieden werden. Denn Marc Aurel behandelt vor allem die Frage nach der Bedeutung des Vorbehaltes. Er rechnet also nicht mit dem von Forscher beschriebenen gçttlichen Wissen. Auch Seneca und Arius Didymus beschreiben den Weisen als jemanden, der bei jeder seiner Handlungen mit ungewissen Ereignissen, die den Ausgang seiner Handlungen beeinflussen oder ganz vereiteln kçnnen, rechnet.1345 Wie reagieren die Stoiker darauf, dass der Handlungsausgang kontingent ist? Das Glck, dass die Stoiker anstreben, darf weder durch die Angst vor unvorhersehbaren Ereignissen noch durch Frustration ber den Handlungsverlauf gestçrt werden. Eine Mçglichkeit wre, den Handlungsentschluss, die Zustimmung und den daraus folgenden Handlungsantrieb fr nicht fest und wohl berlegt zu erklren, sondern im Lichte des kontingenten Handlungsverlaufes, also bei sich ndernden Umstnden, als falsch zu deklarieren. Diesen Weg aber kann die stoische Theorie nicht beschreiten, weil dann zugegeben werden msste, dass die Handlung nicht einer Tugend entspringt. Stattdessen betonen die Stoiker und auch Marc Aurel, dass der Handlungsentschluss, wenn er auf eingehender berlegung beruht, nicht 1343 Forschner, M.: Die stoische Ethik, a.a.O., S. 210 f. 1344 Siehe z. B. Sen. Ep. 109, 5; De divin. 1, 127 – 8 (dazu Kerferd, G.: What does the Wise man know? in: Rist, J. M. (Hg.): The Stoics, a.a.O., S. 125 – 136). 1345 Siehe Sen. Ben. 4, 34, 4 – 5. Zu den ungewissen Ereignissen siehe Sen. Ben. 4, 33, 12 und Chrysipp bzw. Epiktet (Arr. Epict. diss. 2, 6, 9).
690
5. Ethik
einfach revidiert werden sollte. Das wird bei Marc Aurel schon im ersten Buch deutlich. So war Pius fr Marc Aurel „ein Vorbild der Nachgiebigkeit und des unbedingten Festhaltens an dem, was er nach sorgfltiger Prfung als richtig erkannt hatte“.1346 Wenn der Entschluss fr eine Handlung bestehen bleiben soll, wie kann dann die Seelenruhe gewahrt bleiben, wenn unvorhergesehene Ereignisse eintreffen? Inwiefern kann die Rede davon sein, dass dem Weisen jede Handlung gelingt, auch wenn die Handlung nicht das erreicht, was ursprnglich damit angestrebt wurde?1347 Marc Aurel schreibt: Was der vernunftbegabten Seele eigentmlich ist: … sie erreicht ihr spezifisches Ziel, wo auch immer die Grenze des Lebens gezogen wird. Es ist bei ihr nicht wie beim Tanz, beim Schauspiel oder entsprechenden Vorfhrungen, dass die Handlung unvollendet bleibt, wenn etwas dazwischen kommt. Sie erfllt vielmehr in jedem Abschnitt ihrer Existenz und berall, wo man sie packt, vollstndig und ohne Mangel alles, was ihr aufgegeben wurde, so dass sie sagen kann: ,Ich habe meine Aufgabe erfllt.‘1348
Offenbar geht Marc Aurel wie die anderen Stoiker davon aus, dass Handlungen unabhngig von den kontingenten und nicht antizipierbaren Umstnden ihr Ziel erreichen und so Zufriedenheit gewhrleisten.1349 Wie aber ist das zu verstehen, denn das Problem bestand doch gerade darin, dass auch fr den Weisen der Handlungsausgang ungewiss ist? Bei Marc Aurel finden wir zwei Strategien beschrieben, die das Glck trotz der fr den Menschen kontingenten Handlungsumstnde sicherstellen sollen. Die erste betrifft die Urteile und Antriebe, die zur Handlung fhren, denn zum einen schlagen die Stoiker, wie erwhnt, vor, mit einem Vorbehalt zu handeln. Die zweite Strategie betrifft den Fall, dass Handlungsumstnde, die widrig sind und nicht antizipiert wurden, tatschlich eingetreten sind, denn zum anderen empfehlen die Stoiker einen bestimmten Umgang mit diesen Umstnden. Die erste Strategie, mit dem beschriebenen Problem umzugehen, ist also prophylaktischer Natur, die zweite ist therapeutisch. Die beiden Aspekte sind jedoch nur fr analytische Zwecke zu trennen. Sie betreffen beide jede Handlung grundstzlich zusammen. Eine Handlung soll unter Vorbehalt angegangen werden, und die Mçglichkeit, dass
1346 M. Aur. Med. 1, 16. 1347 So Sen. Ben. 4, 34, 4 – 5. Zum Thema siehe auch Arr. Epict. diss. 2, 16, 15. 1348 M. Aur. Med. 11, 1. 1349 Siehe M. Aur. Med. 8, 32.
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
691
auf ihr Scheitern reagiert werden muss, ist ebenfalls immer zu bedenken. Darauf muss auch der Weise immer vorbereitet sein. Es berrascht daher nicht, dass Marc Aurel beide Aspekte zusammen thematisiert. Aber er betont die Reaktion auf Unvorhersehbares etwas strker, daher ist es vielleicht hilfreich, vorab etwas ber die Aspekte im Einzelnen, besonders ber den Vorbehalt, zu sagen. Die Mçglichkeit, den Handlungsimpuls mit einem Vorbehalt zu versehen, erwhnt Marc Aurel im Rahmen eines bereits mehrfach erwhnten Epiktet-Zitats.1350 Da es sich um ein bekanntes stoisches Theorieelement handelt, erçrtert er nicht genau, was damit gemeint ist. Fr die Stoiker basiert eine Handlung auf einer bql^, die ihrerseits eine besondere Form des Urteils ist und nur durch Zustimmung zustande kommt. Beim Vorbehalt (rpena_qesir) handelt es sich um einen Zusatz zum Urteil, das eine Handlung motiviert: „wenn nichts eintritt, was ein Hinderungsgrund ist“.1351 Wird eine Handlung von einem so erweiterten Urteil motiviert, hat das prophylaktische Bedeutung. Durch dieses Zusatzurteil vor den Handlungen werden, genau genommen, zwei Dinge vermieden: Irrtum und Enttuschung. Erstens ist es so, dass eine Handlung, die einen Antrieb mit Vorbehalt enthlt und scheitert, nicht auf einem falschen Urteil beruht und die die Handlung auslçsende Handlung nicht falsch werden lsst. Die Vorbehaltsklausel verhindert, dass sich der Handelnde irrt, denn er erkennt die Bestimmungen und natrlichen Vorgnge im Kosmos an. Durch die Vorbehaltsklausel wird die Zustimmung, die die Handlung begrndet, immer korrekt, weil sie in bereinstimmung mit der providentiellen Vernunft im Kosmos steht, und zwar auch dann, wenn der Handelnde deren Plne nicht vollumfnglich kennt. Wer jemanden liebt und hofft, ihn bald wiederzusehen und daher zu ihm reist, kann wissen, dass die geliebte Person sterblich ist oder dass sich die Umweltbedingungen ndern, so dass die Reise verhindert wird. 1350 Siehe M. Aur. Med. 11, 37. 1351 So eine Formulierung von Sen. Ben. 4, 34, 4 (siehe auch Sen. Tranq. 13, 2: „Denn wer viel unternimmt, bietet oft dem Schicksal Einfluss auf seine Position; das Schicksal selten auf die Probe zu stellen, ist am sichersten, im brigen aber stets daran zu denken, nichts von sich aus von seiner Zuverlssigkeit zu versprechen: ,Eine Seereise werde ich unternehmen, außer wenn sich etwas ereignet‘ und ,Prtor werde ich, außer wenn etwas mir entgegentritt‘ und ,Ein Geschft wird meine Erwartungen erfllen, außer wenn etwas dazwischen kommt‘.“).
692
5. Ethik
Die Vorbehaltsklausel ist also Ausdruck eines bestimmten Wissens ber die Natur der Dinge, die handlungsrelevant sind. Handlungen betreffen Dinge, die nicht im Machtbereich des Handelnden liegen. Epiktet schreibt: Bei allem, was deine Seele verlockt oder dir einen Nutzen gewhrt oder du lieb hast, denke daran, dir immer wieder zu sagen, was es eigentlich ist. Fang dabei mit den unscheinbarsten Dingen an. Wenn du einen Krug liebst, so sage dir: ,Es ist ein Krug, den ich liebe.‘ Dann wirst du nmlich nicht deine Fassung verlieren, wenn er zerbricht. Wenn du dein Kind oder deine Frau ksst, so sage dir: ,Es ist ein Mensch, den du ksst.‘ Dann wirst du nmlich nicht die Fassung verlieren, wenn er stirbt.1352
Damit ist das zweite Moment angesprochen, denn so vermiedene falsche Urteile fhren nicht zu Frustration und Enttuschungen, der Handelnde hat gewusst, dass seine Handlung fehl schlagen kann. Diese Behauptung bedarf weiterer Erluterung. Wenn solche widrigen Umstnde nicht zu Enttuschung oder Trauer fhren sollen, muss es eine angemessenere Reaktion auf diese Schicksalsschlge geben. Es ist eine Sache, sich prophylaktisch auf problematische Handlungsverlufe einzustimmen, indem man nicht irrigerweise glaubt, sie kommen nicht vor, aber es erfordert noch etwas mehr, damit auch umzugehen. Bevor die damit angesprochene therapeutische Seite thematisiert wird, ist auf einen Einwand einzugehen, der mit der Antizipation von widrigen Umstnden zu tun hat.1353 Fhrt die Vorbehaltsklausel nicht eher zu Beunruhigung und Angst? Kann ein Mensch glcklich leben, wenn er sich immer vor Augen fhren soll, wie widrig die Umstnde sein kçnnen? Marc Aurels Antwort auf dieses Problem ist dreiteilig. Zunchst ist festzuhalten, dass die Vorbehaltsklausel gar nicht empfiehlt, sich ein irgendwie geartetes Scheitern der Handlung vorzustellen, sondern nur allgemein fr mçglich zu erklren. Die Vorbehaltsklausel betrifft zweitens eine einzelne Handlung, nicht das ganze Leben.1354 Es gehçrt zur Konzentration auf den Verfgungsbereich, die Gegenwart, sich nur auf eine Handlung zu konzentrieren. Daher mssen in der Vorstellung nicht alle Widrigkeiten, die im Leben vorkommen kçnnen, aufgetrmt werden und so lhmend wirken. Marc Aurel schreibt:
1352 Arr. Epict. ench. 3 (siehe ausfhrlicher Arr. Epict. diss. 4, 1, 111 f.) 1353 Siehe zum folgenden Abschnitt die berzeugenden Ausfhrungen von Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 284 ff. 1354 Siehe nochmals M. Aur. Med. 6, 7.
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
693
Die Vorstellung von deinem gesamten Leben darf dich nicht beunruhigen. Stell dir nicht gleichzeitig vor, welche Last auf dir liegt und wie viel hçchstwahrscheinlich noch hinzukommen wird, sondern frag dich in jedem Einzellfall: ,Was ist an der Sache unertrglich und nicht auszuhalten?‘ Du wirst dich nmlich schmen, etwas zuzugeben. Dann erinnere dich, dass dich weder das Zuknftige noch das Vergangene belasten wird, sondern immer nur das Gegenwrtige. Dieses aber verliert an Bedeutung, wenn du es isoliert betrachtest und deine Seele zurechtweist, falls sie nicht in der Lage ist, dieser Kleinigkeit standzuhalten.1355
Das fhrt zum dritten Teil der Antwort, denn der Vorwurf, die Vorbehaltsklausel wrde zu einer lhmenden Sorge fhren, setzt voraus, dass die Sorge wirklichen beln gilt. Genau das aber ist nach stoischer Lehre nicht der Fall. Der Vorwurf basiert auf konventionellen Gtervorstellungen.1356 Nun kann die entscheidende Frage nach dem Umgang mit Handlungshemmnissen beantwort werden. Es berrascht nicht, dass Marc Aurel die Frage nach dem Scheitern von Handlungen nicht nur thematisiert, wenn es auf allgemeine, natrliche, nicht-menschliche Ursachen zurckzufhren ist. Da Marc Aurel in den Selbstbetrachtungen viel ber den rger ber andere Menschen und entsprechende stoische Gegenmittel schreibt, ist es konsequent, dass er auch die Behinderung einer Handlung durch andere Menschen erwhnt: Unter einer bestimmten Voraussetzung ist uns ein Mensch das vertrauteste Wesen, soweit man ihm Gutes tun und ihn aushalten muss. Sobald mich aber einige Menschen an der Erfllung meiner eigenen Aufgaben hindern, wird mir der Mensch zu einem der gleichgltigen Dinge wie die Sonne, der Wind oder 1355 M. Aur. Med. 8, 36 (siehe auch Sen. Ep. 98, 6). Zur Bedeutung der Konzentration auf die Gegenwart siehe auch M. Aur. Med. 7, 68. 1356 Deutlich wird dies, wenn Marc Aurel sich zu Selbstdialogen auffordert, die solche vermeintlichen bel antizipieren: „Am Morgen sollte man sich sagen: Ich werde mit einem beschrnkten, undankbaren, unverschmten, falschen, missgnstigen und unvertrglichen Kerl zusammentreffen. Alle diese Eigenschaften besitzen die Leute, weil sie nicht wissen, was gut und bçse ist. Da ich aber das Wesen des Guten erkannt habe, dass es schçn ist, und des Bçsen, dass es hsslich ist, und das Wesen dessen, der alles falsch macht, dass er mir verwandt ist – nicht weil er dasselbe Blut hat oder aus demselben Samen stammt, sondern weil er teilhat an demselben Geist und an denselben gçttlichen Gaben –, kann ich weder von einem dieser Leute geschdigt werden – denn in Hssliches wird mich niemand verstricken – noch kann ich meinem Verwandten zrnen oder sein Feind sein. Denn wir sind da, um zusammenzuarbeiten, wie die Fße, Hnde, Augenlider oder die Reihen der oberen und unteren Zhne. Gegeneinander zu arbeiten, wre gegen die Natur. Man arbeitet aber gegeneinander, wenn man rgerlich ist und sich abwendet.“ M. Aur. Med. 2, 1.
694
5. Ethik
ein Tier. Von diesen kçnnte zwar eine Ttigkeit behindert werden, es entsteht aber fr meinen Willen und meine Einstellung keine Behinderung, weil ich sie gedanklich beseitige und umdrehe. Denn die geistige Kraft verndert und verwandelt die Bedingung ganz und gar in die Sache, um die es geht, und jetzt dient dem Werk, was dieses htte aufhalten kçnnen, und es erleichtert den Weg, was diesen htte versperren kçnnen.1357
Den Umgang mit Handlungshemmnissen allgemein beschreibt Marc Aurel durch die von ihm meisterhaft verwendete Metapher des Feuers. Es handelt sich um eine Anlehnung an die herakliteisch-stoische Auffassung vom vernnftigen Feuer, dem Logos: Wenn sich die herrschende Vernunft in uns naturgemß verhlt, dann steht sie den Ereignissen so gegenber, dass sie sich auf das jeweils Gegebene stets ohne weiteres einstellen kann. Denn sie bevorzugt keine bestimmte Materie, sondern strebt zwar – mit gewissem Vorbehalt – nach den hçheren Zielen, macht aber, was sich entgegenstellt, zu ihrem Bettigungsfeld, wie es das Feuer tut, wenn es die hineinfallenden Gegenstnde verzehrt, von denen eine kleine Flamme erstickt worden wre. Das hoch lodernde Feuer macht sich sehr schnell die hineingeworfenen Dinge zu eigen, verzehrt sie und steigt gerade dadurch noch hçher empor.1358
Was ist der Sache nach gemeint? In welchem Sinne kann eine Behinderung zum Vorteil werden, welche Reaktion ist angemessen? Ein Stoiker will nicht mit dem Kopf durch die Wand, gegen den Willen der Vorsehung werden seiner Vorstellung nach keine Handlung und kein Glck mçglich sein. Der Handlungsentschluss muss nicht korrigiert werden, aber die neue, nicht antizipierte Situation behindert die Handlung. Marc Aurel empfiehlt, die neue Situation als neue Chance fr tugendgemßes Handeln aufzufassen: Versuche, die Menschen zu berzeugen, handle aber auch gegen ihren Willen, wenn der Geist der Gerechtigkeit es so verfgt. Wenn sich dir allerdings jemand unter Androhung von Gewalt in den Weg stellt, dann lass es dir gefallen, nimm keinen Anstoß daran, benutze die Behinderung zur Verwirklichung einer anderen Tugend und denk daran, dass du dich nur unter Vorbehalt in Bewegung setztest und nicht nach Unmçglichem streben wolltest. Wonach denn? Nach einer Bewegung dieser Art. Das aber hast du erreicht. Wozu wir angetrieben wurden, das geschieht auch.1359
1357 M. Aur. Med. 5, 20 (siehe auch Arr. Epict. diss. 4, 1, 100 – 102). 1358 M. Aur. Med. 4, 1 (siehe auch 10, 36) (Abweichung: In der bersetzung Nickels wird statt mit ,Vorbehalt‘ mit ,Einschrnkung‘ bersetzt). 1359 M. Aur. Med. 6, 50.
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
695
Dies entspricht der These, dass die Vorbehaltsklausel keine Angst vor drohenden beln impliziert, weil die Handelshemmnisse kein bel sind, sondern Indifferentes betreffen.1360 Durch Handlungshemmnisse wird eine ,neutrale‘, eben neue Situation geschaffen. Zu dieser kann sich ein Mensch eine tugendhafte, also gute, oder untugendhafte, also schlechte, Haltung bewahren. Nur diese Haltung macht den entscheidenden ethischen und glcksrelevanten Unterschied aus, nicht die Umstnde. Sind neue Umstnde da, muss man sie als von kosmischer Vernunft herbeigefhrt und bestimmt akzeptieren. Dass Marc Aurel die Tugenden hier erwhnt, zeigt, dass die Konzeption verschiedene wichtige Theoreme der stoischen Ethik zur Lçsung der Probleme heranzieht. Wrde sich ein Mensch darber rgern, dass sein alter Handlungsentschluss nicht verwirklicht werden kçnnte, wrde er rckwrtsgerichtet und damit ber etwas, dass er nicht beeinflussen kann, trauern. Er kann sich erstens nur auf die Gegenwart und auf gegenwrtige Handlungsumstnde beziehen. Die Vernunftbegabung und die Tugend erlauben es dem Menschen, mit jeder Situation gleichermaßen umzugehen und sich auf das bungsfeld des Geistes und auf die Tugend zu konzentrieren.1361 Mit dem Vorbehalt ist sichergestellt, dass der Stoiker ohne Irrtum auf die fr ihn kontingenten Handlungsumstnde und -erfolge reagieren kann. Er bewahrt sich so vor Fehlern und Frustrationen, und gleichzeitig ist das einzige Gut, die Tugend, vom Vorbehalt ausgenommen.1362 Denn es ist nur von der freien Vernunft abhngig und nicht von dem unverfgbaren Verlauf der Dinge im Kosmos. Diese berlegungen sind bezeichnend fr Marc Aurels Auffassung von der Bedeutung konkreter Umstnde fr das Handeln. Handlungsumstnde sind fr ihn immer Material (vkg) fr Tugend, sie sind niemals Prinzip (!qw¶) des richtigen Agierens.1363 Andererseits hat Marc Aurel sich aufgefordert, geradezu wendig neuen Handlungssituationen (t¹ paqºm), die ja mitunter schnell auftreten, mit einer neuen tugendhaften Haltung zu 1360 Siehe M. Aur. Med. 5, 20. 1361 „Welchem Stoff und welchem Vorhaben entziehst du dich? Was ist denn dies alles anderes als ein bungsfeld des Geistes, der die Dinge des Lebens genau und unter naturwissenschaftlichen Aspekten betrachtet hat? Bleib also, bis du dir auch das einverleibt hast, wie der starke Magen sich alles einverleibt oder wie das Feuer aus allem, was du hineinwirfst, Flamme und Licht werden lsst.“ M. Aur. Med. 10, 31. 1362 Siehe dazu auch Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, a.a.O., S. 124. 1363 Siehe M. Aur. Med. 4, 1; 7, 58; 8, 35; 10, 33; 5, 20; 6, 50; 8, 32.
696
5. Ethik
begegnen. Fr dieses neue erforderliche tugendhafte Verhalten ist die neue Situation ausschlaggebend, auch wenn das Verhalten von der Tugend bestimmt wird. In diesem Sinne kommt den konkreten und wandelbaren Umstnden eine große Bedeutung zu. Es wird von dieser Warte auch verstndlich, warum Marc Aurel nicht nur fr ein „kosmisches Bewusstsein“1364 pldiert, das die konkreten und so fragilen Lebensumstnde mçglichst ignoriert. Ferner ist erklrlich, warum Marc Aurel seiner analytischen Methode, dem genauen Blick fr die konkreten Umstnde und Dinge, mit denen es das Handeln zu tun hat, so viel Bedeutung zuschreibt.1365 Dass er fordert, sich immer schnell und gleich tugendhaft vernderlichen Umstnden anzupassen, kann schließlich als Applikation des fr ihn wesentlichen Gedankens des Wandels auf die Sphre der Handlung verstanden werden. Das Festhalten am Entschluss, tugendaft sein zu wollen, fhrt somit auch nicht zu einer Starre und Inflexibilitt. Auch angesichts eines Kosmos, in dem alles steter und schneller Wandel ist, kann ein Mensch gleichbleibend tugendhaft agieren. Ein Kapitel bringt das nicht nur rhetorisch besonders wirkungsvoll zum Ausdruck, sondern unterstreicht auch, dass Marc Aurel der Behinderung einer Handlung durch andere Menschen besonderes Gewicht verleiht: Was auch immer jemand tut oder sagt, ich muss gut sein, wie wenn das Gold, der Smaragd oder der Purpur stndig sagen wrden: ,Was auch immer jemand tut oder sagt, ich muss ein Smaragd sein und meine spezifische Farbe behalten.‘1366
Schließlich kann dieser Gedanke des Vorbehaltes so modifiziert werden, dass er auf das ganze Leben und vor allem auf sein Ende, den Tod, bertragen werden kann. Im letzten Kapitel der Selbstbetrachtungen verwendet Marc Aurel fr ein konsolatorisches Argument denselben Gedanken, der auch der Vorbehaltsklausel zugrunde liegt. Genau wie eine Handlung ohne Absicht und Verantwortung des Handelnden unvollstndig bleiben kann, so kann auch das Leben vermeintlich vorzeitig, d. h. zu frh, enden. Diesen Aspekt der Unvollstndigkeit des Lebens verdeutlicht Marc Aurel durch einen Vergleich mit einem vorzeitig beendeten Bhnenstck. Bemerkenswert an diesem Kapitel ist erstens, dass Marc Aurel hier die Verantwortungslosigkeit betont. Dort, wo er die Vorbehaltsklausel erwhnt, ist nur vorausgesetzt, dass der Handelnde nicht verursacht hat, dass die Handlung nicht ihr anvisiertes Ziel erreicht. Hier 1364 So der von Hadot gerne verwendete Ausdruck. 1365 Siehe z. B. nochmals M. Aur. Med. 10, 9. 1366 M. Aur. Med. 7, 15.
5.5 Die Angemessenheit und Kontingenz der Handlungen
697
wird dieser Umstand konsolatorisch verwendet. Zweitens macht der Schluss klar, dass die Anwendung des Vorbehaltes auf das Leben nicht nur der Bekmpfung der Leidenschaften dient, sondern auch positive Affekte erzielen soll. Fr die Erreichung des Zieles ist es nicht erforderlich, dass bestimmte Handlungen im Leben gelingen oder das Leben eine bestimmte Lnge hat. Die letzten Zeilen der Selbstbetrachtungen lauten: Als ob der Beamte einen Schauspieler, den er ursprnglich eingestellt hatte, aus dem Theater entließe. ,Aber ich habe noch keine fnf Akte gespielt, sondern erst drei.‘ Du hast Recht. Doch im Leben sind die drei Akte schon das ganze Drama. Denn das Ende bestimmt jener, der damals fr die Verbindung (deiner Bestandteile) und jetzt fr die Auflçsung verantwortlich ist. Du aber bist fr beides nicht verantwortlich. Geh jetzt mit heiterem Herzen. Denn auch er, der dich entlsst, ist heiter und freundlich.1367
1367 M. Aur. Med. 12, 36.
Schlussbemerkung Nach einer so umfangreichen Untersuchung scheint eine detaillierte Beschreibung und Zusammenfassung der Einzelergebnisse wenig sinnvoll. Ein kurzes Resmee soll indes im Folgenden helfen, einige Schlsse zu ziehen, die ber diese Arbeit hinausweisen. Das betrifft erstens weitergehende Untersuchungen der Philosophie Marc Aurels. Da immer wieder bestritten wurde und wird, dass die Selbstbetrachtungen Philosophie reprsentieren, soll zweitens und abschließend diesen Vorwrfen begegnet werden. Dass Marc Aurel der Status eines Philosophen abgesprochen wird, gibt nmlich Anlass zu Sorge, dass die Diskussion ber Philosophiekonzepte verarmt. Vielleicht liegt ein Beitrag dieser Arbeit genau darin, an die Vielfalt von Funktionen und Formen der Philosophie in Vergangenheit und Gegenwart zu erinnern.
1. Zusammenfassung und Ausblick Zunchst ist die Untersuchung der philosophischen Bedeutung der formalen Aspekte der Selbstbetrachtungen zu rekapitulieren. Die Analyse ging von der Beobachtung aus, dass die Form der Selbstbetrachtungen erstens einmalig ist und zweitens schon deshalb stark erklrungsbedrftig ist, weil der Text prima facie in geordneter Weise eine Vielzahl von Stilmitteln verwendet. Grundstzlich galt es, die formalen Elemente nicht nur zu beschreiben, sondern zu eruieren, in welchem Verhltnis diese besondere Form zu den damit vermittelten Inhalten steht. Die Ergebnisse in Bezug auf die Form der Selbstbetrachtungen lassen sich in Gestalt folgender schlaglichtartiger Thesen zusammenfassen: (i) Die Form der Selbstbetrachtungen ist in der Antike einmalig, das betrifft sowohl das erste Buch als auch die folgenden Bcher. (ii) Die Form der Selbstbetrachtungen zeichnet sich durch eine kunstvolle Kombination von Stilmitteln vieler bekannter Gattungen aus. (iii) Die einzelnen Stilmittel dienen verschiedenen praktischen Funktionen.
1. Zusammenfassung und Ausblick
(iv)
699
Die formale Einheit des gesamten Textes erklrt sich ebenfalls durch die philosophischen Ambitionen und ist nicht rein formal zu erklren. (v) Die Form ist Gegenstand philosophischer Reflexionen bzw. erklrt sich durch die Anwendung dieser berlegungen zur Form. (vi) Auch durch Abfassen des Textes wird durch den Autor die Philosophie aktualisiert. (vii) Von zentraler Bedeutung ist der folgende Aspekt: (viii) Die Selbstbetrachtungen sind vorrangig ein Selbstdialog. Es zeigte sich, dass der Kaiser Marc Aurel nicht nur ein ußerst selbstbewusster Autor ist, der mit großem Kçnnen vorgeht, sondern mit dem Philosophen Marc Aurel gemeinsame Sache macht. Die Fhigkeiten des Autors Marc Aurel wurden schon beim formalen Befund deutlich, denn es handelt sich bei den Selbstbetrachtungen nicht einfach um einen ungeordneten Text, sondern um die kunstvolle Zusammenfgung von vielen aus den antiken Gattungen bekannten Stilelementen. Damit wurde auch gezeigt, dass die Selbstbetrachtungen schon in formaler Hinsicht mehr sind, als eine Sammlung von Lesefrchten (wie J. Dalfen meint) oder ein Notizbchlein (im Sinne der Hypomnemata, wie P. Hadot meint). Die Wahl dieser formalen Elemente hat Marc Aurel nicht in sthetischer Absicht getroffen: Sowohl in Bezug auf die einzelnen Elemente als auch hinsichtlich des ganzen Textes als Einheit konnte gezeigt werden, dass beide an philosophische Bedeutungen und Absichten geknpft sind, die ihrerseits die Form erklren. Genau genommen wird nur so ein besseres Verstndnis des gesamten Formenbestandes durch die Philosophie Marc Aurels, hier: die praktische Absicht, ermçglicht. Ferner wurde deutlich, dass die in der Literatur oft vorzufindende Trennung von formaler und argumentativer Analyse am Text der Selbstbetrachtungen und den Intentionen des Autors und Philosophen Marc Aurels vorbeigeht. Fr das philosophische Projekt, das die Selbstbetrachtungen thematisieren und als Text reprsentieren, ist genau die in den obigen Einzelthesen zum Ausdruck kommende Verbindung von formalen und philosophischen Aspekten charakteristisch. Dass Marc Aurel an eben dieser Verbindung gelegen ist, wurde erstens an seinen hufigen Reflexionen ber die formalen Fragen deutlich. Zweitens konnte gezeigt werden, dass der Text in seiner Form das bercksichtigt, was er thematisiert. Die Abfassung des Textes in der beste-
700
Schlussbemerkung
henden Form kann damit drittens bereits als Aktualisierung der Inhalte erklrt und gewrdigt werden. Gerade die Bedeutung des Verbalisierens und Abfassens eines Textes konnte erstmalig konkret fr Marc Aurel dargelegt werden, und zwar unabhngig von der Frage, ob Marc Aurel mit eigener Hand schrieb oder diktierte. Die bisherige Forschung hat sich dem entweder gar nicht zugewandt oder basiert ganz auf den berlegungen Foucaults. Da Foucaults Analysen aber anderen Textformen, wie dem Brief, galten oder nicht auf die Selbstbetrachtungen anwendbar sind, weil sie Narration voraussetzen, waren hier neue berlegungen anzustellen. Diese enge Verbindung von der Erstellung eines Textes, seiner Form und dem Inhalt drfte in der Antike einzigartig sein. Dies gilt in besonderem Maße fr die in der Antike erstmals konsequent vorgenommene Etablierung und Beachtung der Form des Selbstdialoges eines Autors. Obschon der Text offenbar vorrangig ein Selbstdialog ist, bleibt rtselhaft, warum die Selbstadressierung noch nicht untersucht wurde. Der Forderung nach einer Erforschung der Dialogizitt bei Marc Aurel1 wurde hier also erstmalig nachgekommen. Dabei konnte der Selbstdialog zum einen von Monologen in der Antike unterschieden werden. Ferner wurde mit Blick auf den Selbstdialog bei Homer und dann vor allem Seneca und Epiktet Besonderheiten der Selbstbetrachtungen als erstem vorrangig selbstdialogischen Text deutlich. Der selbstdialogische Charakter des Textes erklrt nicht nur diverse formale Aspekte (elliptische Form, Wechsel der grammatischen Person usw.), sondern erfhlt dabei auch wesentliche philosophische Funktionen (Kontrolle der Vorstellungen, Mahnungen usw.). Bemerkenswerterweise ist Marc Aurel in der Verwendung von formalen Mitteln fr philosophische Zwecke sehr konsistent. Es zeigte sich, dass der Selbstdialog, den die Selbstbetrachtungen dokumentieren, nicht nur Ausfhrungen ber die philosophische Lebenskunst enthlt, sondern als Ganzes die Ausbung einer solchen Kunst darstellt. Indem die Selbstbetrachtungen stoische Lebenskunst nicht nur begrnden, thematisieren und reflektieren, sondern auch aktualisieren, wird hier ein besonderes Philosophiekonzept reprsentiert, nmlich eines von prinzipienbasierter und zugleich angewandter Lebenskunst. Die Selbstbetrachtungen gewhren nicht nur Einblick in die Theorie der rçmischen Stoa, sondern sie erlauben es, einem Autor bei der Ausbung der Lebenskunst ber die Schulter zu schauen. Auch das ist einmalig. Diese 1
Siehe Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, a.a.O., S. 269 f.
1. Zusammenfassung und Ausblick
701
These besagt indes nicht, dass fr Marc Aurel ausschließlich bei der Selbstbetrachtungen die stoische praktische Philosophie aktualisiert wird. Begrndet wurde nur die These, dass sich fr Marc Aurel Philosophie auch durch Verbalisieren ausben lsst, weil das Abfassen von Texten einen Teil der Philosophie realisiert. Die zahlreichen Imperative, die Selbstermahnungen, die Verwendung von Gnomen und Dialogen, die Memorierung der zentralen Lehrstze und vor allem die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen kçnnen in einem Selbstdialog ausgebt werden. Durch die Abfassung des Textes nicht umgesetzt werden kann indes die fr Marc Aurel besonders wichtige soziale Natur und die entsprechenden Tugenden, dazu bedarf es des Kontaktes zu anderen Menschen. Mit der These eines selbstdialogischen Charakters der Selbstbetrachtungen verbindet sich also nicht die These eines Rckzugs des Individuums und eine Abkehr vom Sozialen. Dass diese Charakterisierungen weder fr den Kaiser noch den Philosophen Marc Aurel zutreffen, zeigte auch die Untersuchung der Themen und Argumente. Dass es sich bei den Selbstbetrachtungen vorrangig um einen Selbstdialog als verbalisierte Form der inneren Kommunikation handelt, ist auch vor dem Hintergrund moderner, nicht-cartesianischer Konzepte interessant. Dass Marc Aurel als Stoiker nicht nur ber eine Theorie der inneren verbalisierten Kommunikation verfgt, sondern sie als Autor auch praktiziert, kann unter Zuhilfenahme moderner Theorien als Bewusstseinsbildung verstanden werden, nmlich dann, wenn die Verbalisierung den tatschlichen Vorgngen entspricht. Ob Marc Aurels Text eine Variante oder gar einen Vorlufer spterer meditativer Textformen darstellt,2 kann hier nicht entschieden werden, sondern msste in einer historisch weit ausgreifenden Untersuchung eigens eruiert werden. Eine gesonderte Forschung dazu wre auch schon deshalb nçtig, weil sich bereits im Rahmen dieser Arbeit zeigte, dass das begriffliche Instrumentarium zur Beschreibung und Beurteilung solcher Textformen nicht sonderlich gut entwickelt ist. Auch auf diesem Gebiet scheint noch Forschungsbedarf zu bestehen. ber die Grnde, warum gerade im Bereich der Philosophie eine Erçrterung von verschiedenen Textformen und Funktionen von Textualitt und Schreiben so unterentwickelt ist, kann hier nur spekuliert werden. Ob damit eine bestimmte Hegemonie von Philo2
Pro: Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., Kap. VII 4; contra: Newman, R. J.: Cotidie meditare a.a.O., S. 1473 – 1517.
702
Schlussbemerkung
sophiebegriffen und korrespondierenden Textformen zum Ausdruck kommt, wre eine weitergehende Untersuchung wert. Schließlich kann hier auch nur der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass die Bercksichtigung von Textproduktion, Textform und Vergleichen von Textformen in philosophischer Absicht von der Forschung vermehrt in den Blick genommen wird. Das gilt fr die Antike wie fr die Gegenwart. Nun zur Untersuchung der Themen und Argumente. Die Analyse des Inhalts der Selbstbetrachtungen verlangte zunchst methodische berlegungen zur Anordnung der Themen und Argumente. In seiner Studie zur Form der Selbstbetrachtungen hat R. B. Rutherford berzeugend dargelegt, dass Marc Aurel in Bezug auf die Form die Technik der Variation eines Themas verfolgt. Offenbar gilt etwas ganz hnliches fr die Themen und Argumente der Selbstbetrachtungen, denn es handelt sich um einen Text, in dem die Prsentation von Themen und Argumenten weder in einem Kapitel, einem Buch noch im Ganzen einer erkennbaren Struktur folgt, vielmehr werden bestimmte Fragen und Theoreme mit Variationen hufig wiederholt. Die bislang einzige umfassende Interpretation des Inhalts der Selbstbetrachtungen ignorierte diesen Umstand, in dem weder der Form, hier: vor allem den Wiederholungen, noch der Vielzahl der Argumente Rechnung getragen wurde. Hadot reduzierte den Inhalt der Selbstbetrachtungen auf die drei Lebensregeln nach Epiktet und ging von einer strukturierten Darlegung derselben aus.3 Diese Interpretation setzte erstens voraus, dass Marc Aurels Philosophie mit der Epiktets vçllig identisch ist,4 und zweitens, dass Marc Aurel in der Tat nur Argumente zu drei zentralen Themen kennt. Eine umfassende Untersuchung der Vielfalt an Themen und Argumenten stand also noch aus. Um diesem Desiderat der Forschung und dem schwierigen Textbefund, d. h. der fehlenden thematischen Mikro- und Makrostruktur, gerecht zu werden, wurde die Untersuchung gemß der wichtigen Themenfelder organisiert, die sich in etwa auch mit denen der Stoa generell decken. Die Ergebnisse kçnnen mit folgenden Thesen zusammengefasst werden: (i) Obschon Marc Aurel immer an der praktischen Umsetzung der Philosophie interessiert ist, reduziert er die Philosophie nicht auf Ethik. 3 4
„Wie die Darlegung der Dogmen ist auch die der Lebensregeln bei Marc Aurel stark gegliedert.“ Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 73. Siehe Hadot, P.: Die innere Burg, a.a.O., S. 126 f.
1. Zusammenfassung und Ausblick
(ii)
703
Die Themen- und Argumentvielfalt der Selbstbetrachtungen kann nicht auf Epiktet und seine drei bungsfelder reduziert werden. (iii) Marc Aurel behandelt eine bis dato nur unzureichend wahrgenommene Vielfalt an Themen und vertritt dabei durchgngig stoische Positionen. (iv) Von den vielen Einzeltheoremen seien hier folgende stellvertretend hervorgehoben: (v) Der Gemeinschaftsgedanke ist bei Marc Aurel berragend, und zwar nicht nur, weil er alle Bereiche von den Prinzipien der Physik bis zum Handeln beeinflusst. Er wird von Marc Aurel auch eingehend und zum Teil neu begrndet. (vi) Die erstmalig von Marc Aurel ausfhrlich erwogene Alternative „Vorsehung oder Atome“ kann als Diskussion des Verhltnisses von Physik und Ethik in der Stoa verstanden werden. (vii) Marc Aurel entwickelt eine komplexe „analytische Methode“, die die zentrale Aufgabe der Kontrolle der Vorstellungen bernimmt. (viii) Marc Aurels Gterlehre, die Ablehnung der Vorzugsgter im indifferenten Bereich, ist eine eigenstndige Wiederaufnahme der frhstoischen Position von Ariston von Chios. Die thematisch geordnete Darstellung der Themen und Argumente konnte zunchst zeigen, dass Marc Aurel, obgleich er zugibt und bedauert, kein professioneller Philosoph zu sein, generell an der Umsetzung der Philosophie im Rahmen einer Lebensform und -kunst interessiert ist und dabei eine ganze Reihe von klassischen Themen der stoischen Philosophie behandelt. Schon wegen der Selbstadressierung explizieren die Kapitel dabei in der Regel nicht ausfhrlich theoretische Grundlagen in systematischer Absicht. Dennoch ist auffllig, wie hufig Marc Aurel die technischen Ausdrcke der stoischen Philosophie verwendet. Trotz einer gelegentlich platonisch gefrbten Sprache vertritt Marc Aurel durchgehend stoische Positionen. Von einer Reduktion auf Ethik kann keine Rede sein, denn dazu schreibt Marc Aurel viel zu hufig ber die Natur des Ganzen, ihre Prinzipien, ber Kausalitt auf dem Gebiet der Physik und die Bedeutung der Vorstellungen und ihrer Kontrolle auf dem Gebiet der Logik. In bisherigen Darstellungen, besonders der von P. Hadot, blieb der Gemeinschaftsgedanke und damit Politisch-Soziales in den Selbstbetrachtungen weitgehend unbercksichtigt. Die vorgelegte Darstellung konnte demgegenber zeigen, dass die Vorstellung, alles im Kosmos, und besonders die vernunftbegabten Lebewesen, bilde eine Gemeinschaft, als zentrale
704
Schlussbemerkung
These verstanden werden kann. Nicht nur Marc Aurels Begrndungen fr die politische Natur des Menschen, sondern auch die Bedeutung fr die konkreten ethischen Forderungen drfte ber vieles hinausgehen, was aus frheren stoischen Texten bekannt ist. Es konnten weitere gngige Thesen ber die rçmische Stoa bzw. ber Marc Aurel widerlegt werden: (i) Aufgrund der zentralen Stellung des Gemeinschaftsgedankens kann keine Rede davon sein, dass Marc Aurel die antike Lebenskunst ihrer sozialen Komponente beraube und mit der Konzentration auf den fhrenden Seelenteil auch eine Abkehr von politischen Belangen empfehle. (ii) Genauso wenig, so zeigte die Beschreibung der analytischen Methode, empfiehlt Marc Aurel eine – vielleicht pseudo-(neu)platonische – Absage an die epistemische und praktische Auseinandersetzung mit den konkreten Dingen der Welt und damit den Belangen des Lebens. Da Marc Aurel positive Affekte nicht nur hufig thematisiert, sondern diese gerade mit sozialen Beziehungen und der Gemeinschaftsorientierung in Verbindung setzt, wird auch M. Nussbaums These, Marc Aurel sei wie ein Toter von jeglicher Humanitt entrckt, problematisch. Die an verschiedenen klassisch stoischen Themen orientierte Darstellung konnte nicht nur zeigen, dass Marc Aurel ein stoischer Philosoph ist, sondern auch, dass er als solcher Akzente setzt. Gerade weil die Darstellung keinen Vergleich (zu anderen rçmischen Stoikern) voraussetzte, werden so evtl. neue Arbeiten auf einer neuen Grundlage ermçglicht. Die hiesige Untersuchung konnte dafr bereits erste Ansatzpunkte liefern. Abgesehen davon, dass der Gemeinschaftsgedanke bei Marc Aurel besonders begrndet und ausgeprgt ist, unterscheidet sich die Religiositt, die in den Selbstbetrachtungen zum Ausdruck kommt, von der in den Lehrgesprchen Epiktets. Epiktets Gottesvorstellung scheint vorrangig monotheistisch und personalisiert zu sein. Marc Aurel verzichtet ganz auf die Schilderung religiçser Erfahrungen, fr ihn kommt Gçttliches vor allem in der Natur, als aktives Prinzip, zum Ausdruck. Die Selbstbetrachtungen kçnnen als besonders konsequente Manifestation einer pantheistischen Vorstellung gewertet werden. Weitere Anhaltspunkte fr Vergleiche zu den anderen rçmischen Stoikern konnten ebenfalls nur indiziert werden: Mit der Erwgung der Alternative „Vorsehung oder Atome“ thematisiert Marc Aurel dezidiert ein vielleicht neues Verhltnis von Physik und Ethik in der Stoa. Hier wren Vergleiche sicher ebenso instruktiv wie auf dem Gebiet des Kosmopoli-
1. Zusammenfassung und Ausblick
705
tismus, der Gterlehre und dem bei Marc Aurel ja ganz besonderen Verhltnis von Philosophie und politischer Macht. Ganz ungeklrt ist noch eine ganze Reihe von Fragen, die philosophiegeschichtliche Entwicklungen betreffen und in deren Untersuchung Marc Aurel mit einbezogen werden kçnnte. Wenn es stimmt, dass Marc Aurel Ariston rezipierte und zentrale Thesen bernahm, gibt dies Anlass zu Fragen, wie bekannt und vertreten Aristons Denken doch noch in der Stoa oder jenseits der Schulgrenzen war. D. Sedley hat ganz ohne Rekurs auf Marc Aurel in Bezug auf den Umgang der spteren Philosophie mit Ariston bemerkt, dass auch in der Philosophie die Geschichte von Siegern geschrieben wird.5 Vielleicht gibt die erst jngst6 und hier wieder angenommene Rezeption Aristons bei Marc Aurel Anlass zu Przisierungen der Geschichte der stoischen Tradition. In einer anderen wichtigen Hinsicht war die hiesige Untersuchung begrenzt. Aktuell diskutiert eine schnell grçßer werdende Gruppe von Arbeiten die Frage nach dem Selbst,7 welches im spten Hellenismus eine signifikante Stellung einnehme.8 Im Rahmen dieser Untersuchung ist davon ausgegangen worden, dass bei Marc Aurel nicht von einem Begriff 5 6 7 8
Sedley, D.: The School, from Zeno to Arius Didymus, a.a.O., S. 14. Siehe Roskam, G.: On the Path to Virtue, a.a.O., Kap. 2.7. Den aktuellen Stand der Debatte fasst zusammen Gill, Ch.: The Ancient Self – Where Now? in: Antiquorum Philosophia 2 (2008), S. 77 – 99. Siehe Foucault, M.: Sexualitt und Wahrheit, Bd. 1 – 3, a.a.O.; ders.: Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993; ders.: Hermeneutik des Subjekts, a.a.O. Siehe weiterhin Long, A. A.: Stoic Studies, Cambridge 1996, Kap. 12; Kahn, Ch.: Discovering the Will: From Aristotle to Augustine, in: Dillon, J. M./Long, A. A. (Hg.): The Question of „Eclecticism“. Studies in Later Greek Philosophy, Berkeley 1988, S. 234 – 259; Veyne, P.: Seneca: the Life of a Stoic, London 2003, S. ix-xi. Entsprechende Versuche hat es bereits fr Heraklit gegeben (so Kahn, Ch.: The Art and Thought of Heraclitus, a.a.O., S. 116; contra: Robinson, T. M.: Heraclitus, Toronto 1991, S. 146), dann fr Platon (so Baumgartner, H.-U.: Handlungstheorie bei Platon. Platon auf dem Weg zum Willen. Stuttgart/Weimar 1998; contra: van Ackeren, M.: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuitt des Tugendwissens in den Dialogen Platons, a.a.O., Kap. I 7). Jngste weitere Verçffentlichungen, die die Frage nach dem „Selbst“ diskutieren, sind: Gill, Ch.: The Structered Self in Hellenistic and Roman Thought, a.a.O., Kap. 5.2 und 5.5; Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, a.a.O., Kap. 1; Inwood, B.: Seneca – der Erfinder des Selbst?, in: van Ackeren, M./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy, a.a.O., S. 273 – 296; Sorabji, R.: What is new on the Self in Stoicism in the Imperial Period, in: Sharples, R. W./Sorabji, R. (Hg.): Greek and Roman Philosophy, 100BC-200AD, a.a.O., S. 141 – 163.
706
Schlussbemerkung
eines „Selbst“ die Rede sein kann, denn die Bezeichnung „das Selbst“ ist keine bersetzung irgendeines griechischen Ausdrucks. Bis zur Zeit Marc Aurels wird nur das Reflexivpronomen aqt|r verwandt, das weder eine bersetzung mit „das Selbst“ noch einen schnellen Schluss auf einen Begriff von einem „Selbst“ erlaubt. Bei den Analysen, die mit dem Begriff „Selbst“ operieren, handelt es sich demnach um Interpretationen, die anachronistisch vorgehen, also Begrifflichkeiten, die nach Entstehung des zu interpretierenden Textes aufgekommen sind, fr die Analyse dieses Textes verwenden. Ein solches Verfahren ist keineswegs grundstzlich abzulehnen. Aber es verlangt zweierlei: Erstens muss der Interpret erklren, was er mit dem Begriff „Selbst“ meint, denn der Ausdruck ist nicht nur Gegenstand, sondern auch Instrument der Analyse. Zweitens muss deutlich werden, worin der interpretatorische Mehrwert besteht, den die Verwendung spterer Begrifflichkeiten erzielen soll. Es kann sein, dass die Wahl bestimmter Begriffe zum Zwecke der Interpretation hilft, etwas schrfer zu sehen. Es kann aber genauso gut sein, dass die verwandten Begriffe zwar gut erlutert werden, aber dennoch fr einen bestimmen Text nicht hilfreich sind, weil sie den Blick fr dessen Eigenheiten verstellen. Viele Interpreten der kaiserzeitlichen Stoa sprechen von einem „Selbst“ in einer Weise, als wrden die besprochenen Autoren den Ausdruck selbst verwenden. Nur wenige erklren die von ihnen verwandte Begrifflichkeit von einem Selbst oder scheinen ein Bewusstsein davon zu haben, dass der Ausdruck in den Texten selbst nicht auftaucht, dennoch erzielen sie schließlich bemerkenswerte Ergebnisse.9 Fr die vorliegende Untersuchung wurde auf die Verwendung des Begriffes „Selbst“ verzichtet. Es ging vielmehr darum zu eruieren, ob auch ohne eine solche Verwendung des Begriffes tragfhige Ergebnisse erzielt werden kçnnen. Die Anwendung modernen Vokabulars bei der Analyse antiker Texte ist erstens in hçchstem Maß erluterungsbedrftig und zweitens nicht immer ein Garant fr interessante und dem Text gerecht werdende Ergebnisse.10 9 Siehe Gill, Ch.: The Structured Self, a.a.O. Fr eine weitere Debatte solcher methodischen Probleme siehe Gill, Ch.: The Ancient Self – Where Now?, a.a.O., S. 77 – 80. 10 Problematisch ist ein solches Verfahren immer dann, wenn Distinktionen an den Text angelegt werden, die der Interpretierte dezidiert nicht teilt. Fr solche misslungenen, aber auch geglckten Versuche in Bezug auf Platon siehe van
2. Marc Aurel und die Philosophie
707
Dass solche Studien dennoch mçglich sind und gute Resultate erbringen, belegen zahlreiche Untersuchungen.11 Mit der vorliegenden Arbeit und dem Verzicht auf den Begriff „Selbst“ wird also keine generelle Beschrnkung gefordert. Es handelt dabei in diesem Sinne nur um eine Vorarbeit fr zuknftige Untersuchungen, die moderne Terminologie fr eine eingehende Erforschung Marc Aurels fruchtbar verwenden. Das ist ausdrcklich erwnscht.
2. Marc Aurel und die Philosophie Abschließend soll noch einmal auf die These eingegangen werden, dass Marc Aurel kein Philosoph sei. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Vertreter dieser Auffassung die vorliegende Arbeit vollumfnglich zur Kenntnis nehmen oder, wenn sie das tun, daraufhin berzeugt sind, Marc Aurel sei ein Philosoph. Im Folgenden geht es darum zu zeigen, dass die These als solche interessante Voraussetzungen hat und verschiedene Deutungen erlaubt. Die These muss auch deshalb interpretiert werden, weil ihre Vertreter sie nur ganz selten explizieren. Erstens kçnnte sich damit eine schwache These verbinden. Demzufolge wre der Ausdruck „Marc Aurel ist kein Philosoph“ ein elliptischer Ausdruck fr die Behauptung, Marc Aurel reprsentiere einen Typus von Philosophie, der vom Aussagenden nicht prferiert oder abgelehnt wird. Solche sprachlichen Verkrzungen sind keineswegs selten und werden im Alltag auch leicht verstanden. Wer z. B. sagt „Kçlsch ist kein Bier“, „FreeJazz ist keine Musik“, oder „J. Pollock ist kein Knstler“, drckt in der Regel Prferenzen bzw. Ablehnungen aus. Nur selten wird damit der Anspruch erhoben, einen Schluss zu prsentieren, der aufgrund einer allgemeinen Begriffsbestimmung von „Bier“, „Musik“ oder „Kunst“ deduziert, das etwas (Kçlsch, Free-Jazz, Pollocks Bilder) nicht unter diesen Begriff subsumierbar ist. Mit dieser schwachen These verbindet sich also nicht das kategoriale Urteil, dass Marc Aurel in keinem Sinne ein Philosoph ist, sondern dass es viele Philosophiebegriffe gibt und Marc Aurel evtl. einen davon reprAckeren, M.: Plato and Analytical Philosophy, in: Erkenntnis 62 (2005), S. 263 – 275. 11 Siehe die berlegungen und Beispiele bei Graeser, A.: Altes und Neues, a.a.O.
708
Schlussbemerkung
sentiert, auch wenn dieser Typus vom Aussagenden nicht geschtzt wird. Der Satz drckt dann vor allem diese Nicht-Wertschtzung aus. Zweitens halten sich Philosophen – oft zu Recht – etwas darauf zugute, begriffliche Arbeit geleistet zu haben, nur begrndete Urteile zu fllen und sprachlich klar zu formulieren. Vor diesem Hintergrund ist eine andere Lesart des Satzes „Marc Aurel ist kein Philosoph“ mçglich. Mit ihr verbindet sich die strkere These, dass Marc Aurel in der Tat nicht der Kategorie Philosophie zuzurechnen ist. Diese zweite, starke, These ist in der Tat vertreten worden. J. M. Rist hat dafr pldiert, Marc Aurel zwar als Stoiker aufzufassen, aber nicht als Philosophen: For Marcus, in modern terms, if we are to call him a Stoic, then Stoicism is not a philosophy, but a religion or “philosophy of life”; and it is a religion devoid of any significant scholastic underpinnings. … Stoicism is a rather unphilosophical religion for Marcus.12
Rist identifiziert Philosophie mit Schulphilosophie, die spten Stoiker sind fr ihn „moralists or academics in the worst sense of the word. Almost certainly they had nothing philosophically new to offer“.13 Die ausschließliche Identifikation von Schulphilosophie mit der „eigentlichen“, also einzigen Philosophie, fhrt erstens dazu, die Philosophie von Marc Aurel als „philosophy of life“ oder Religion zu charakterisieren. Dabei fragt sich, ob die Ansiedlung von Religion und „philosophy of life“ auf gleicher Stufe hinreichend berechtigt oder trennscharf ist. Zweitens hat diese Arbeit gezeigt, dass die Selbstbetrachtungen auf stoischer Philosophie basieren und als ein entsprechendes Werk verstndlich sind. W. Kersting hat jngst vorrangig gegen die aktuellen Vertreter der Lebenskunst eine rhetorisch ambitionierte Polemik verfasst, die aber in der Sache ernste Probleme aufwirft. Der Autor behandelt nicht ausschließlich die antike Philosophie, aber seine Ausfhrungen sind auch diesbezglich hinreichend deutlich. W. Kersting gibt dabei bestehenden und nicht immer publizierten Vorurteilen eine Stimme. Seine Position ist in vielerlei Hinsicht extrem und kann hier – quasi als berzeichneter Idealtypus – herangezogen werden. Es kçnnen zwei Bereiche seiner allgemein ablehnenden These unterschieden werden: 12 Rist, J.: Are you a Stoic? The Case of Marcus Aurelius, a.a.O., S. 43; wiederholend ist S. 44: “But, as we have already said, in modern terms Marcus’ Stoicism is a religion rather than philosophy.” 13 Ebd., S. 44.
2. Marc Aurel und die Philosophie
709
(i) Historischer Teil der These: Fr Kersting waren die antiken Autoren, die ber Glck und Tugend geschrieben haben, Philosophen, aber sind es nicht mehr,14 da die antike praktische Philosophie heute nicht mehr als Philosophie gelten kann und soll.15 (ii) Systematischer Teil der These: Hier sind zwei Behauptungen zu unterscheiden. Zunchst (iia) behauptet Kersting, dass die antike praktische Philosophie von Aristoteles bis zu den spteren Stoikern inhaltlich betrachtet aus einem bestimmten Wissen bestehe, das er wie folgt beschreibt: Den Kern dieses Wissens bilden alltagsethische Binsenweisheiten und endlichkeitsphilosophische Gemeinpltze: das Leben ist begrenzt, nutze den Tag; pflege Freundschaften; akzeptiere Abhngigkeiten; berlege bevor du handelst; berprfe gelegentlich deine Ziele und Wichtigkeitsberzeugungen; …; usw.“16
Dann (iib) behauptet Kersting, dass die antike praktische Philosophie heute keine Philosophie mehr sei, weil die heute gltige Philosophie kategorial anders verfahre und orientiert sei: „Philosophische Rede ist begriffsgebunden und theoriezielig; ihr Lebensraum ist die Argumentation. Die Lebenskunst aber argumentiert nicht.“17 14 „Natrlich gehçren die Klassiker der Lebenskunst in die Ahnengalerie der Philosophie. Die Moralphilosophie hat als Lebensfhrungsethik, als Lebenskunst, und praktische Weisheitslehre begonnen. Die moralphilosophischen Standardtheorien der Neuzeit haben nichts mehr mit den Weisheitslehren der klassischen und hellenistischen Zeit gemein. … Ein von den Gezeiten philosophischer Moden und Methoden gnzlich unabhngiges Interesse der Menschen am Gelingen ihres gewçhnlichen Lebens hat sie [die Lebenskunst; M.v.A.] am Leben erhalten. Was Aristoteles und Seneca in ihrer Zeit lehrten war Philosophie, …, diese ethische Parametrik ist im Laufe der Entwicklung der Praktischen Philosophie unter dem Einfluss des vernderten Selbst- und Weltverstndnisses der Menschen in der Moderne verdrngt worden.“ Kersting, W.: Die Gegenwart der Lebenskunst, in: Kersting, W./Langbehn, C. (Hg.): Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 10 – 90, hier: S. 44. An der These sind noch zwei andere Dinge unklar: (i) Warum beginnt die Liste der Nicht-Mehr-.Philosophen bei Aristoteles und endet bei Seneca? (ii) Wie verhlt sich das zum Umstand, dass der Herr Kersting selbst eine Monographie zu Platon verfasst hat? 15 „es ist nicht vorstellbar, dass dieser Traditionsbruch geheilt werden und die Lebenskunst in der Moralphilosophie wieder eine konzeptionelle Heimat finden kçnnte. Das scheint aber auch nicht erforderlich.“ Kersting, W.: Die Gegenwart der Lebenskunst, a.a.O., S. 44. 16 Kersting, W.: Die Gegenwart der Lebenskunst, a.a.O., S. 42. 17 Kersting, W.: Die Gegenwart der Lebenskunst, a.a.O., S. 13.
710
Schlussbemerkung
Und so kommt Kersting in Bezug auf die Antike zu dem Schluss: „Mit Philosophie, gar einer Philosophie, hat das freilich nichts zu tun.“18 Viel interessanter fr die hiesigen Belange ist die Frage, wieso hier von einem einzigen modernen Philosophieverstndnis ausgegangen wird, das offensichtlich die ltere praktische Philosophie verdrngt habe und das konkurrenzlos und besser sei. Der Optimismus, dass sich die eine wahre Philosophie durchgesetzt habe, ist natrlich bewundernswert. Doch statt sich darber zu freuen, verliert sich Kersting in heftigen Attacken auf andere Philosophieentwrfe und seien sie noch so randstndig. Die Inbrunst, mit der anderen Philosophiebegriffen das Philosophiesein abgesprochen wird, ist schon deswegen irritierend, weil das eigene Philosophieverstndnis so wenig expliziert und begrndet wird, wie die Befolgung des eigenen Konzeptes es verlangen wrde. Unklar ist ferner, warum berhaupt verschwiegen oder explizit geleugnet wird, dass es mehrere Philosophiekonzepte gibt. Dieser Tatbestand gehçrt zu dem vielleicht unbequemsten, aber doch herausragenden Charakteristikum des Faches. Fragt man z. B. Chemiker, wie sie ihr Fach verstehen, welche Gebiete, Fragen und Methoden es gibt, werden die Antworten nicht ganz unterschiedliche Konzepte beschreiben. Mit was es die organische und anorganische Chemie jeweils zu tun hat ist z. B. ganz unstrittig. Die Vielfalt in der Philosophie ist kein historisches, berkommenes Phnomen, sie kennzeichnet die Gegenwart vielleicht sogar noch strker. Das ist kein Pldoyer fr einen Relativismus, sondern eine Bestandsaufnahme. Philosophie wird dadurch gekennzeichnet, dass sie erstens nicht nur bestimmte Sachprobleme angeht, sondern ihre eigene Methode und ihren Gegenstandsbereich bestimmt und reflektiert und zweitens dabei mehr als ein Philosophiekonzept entwickelt hat. Dieser selbstreflexive Diskurs wird vermieden oder zumindest verarmt, wenn man in disziplinierender Absicht Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Auffassung, dass Philosophie entweder eine Lehre oder aber ein Lebensmodell sei, aber immer nur eines von beiden und nie eine Kombination (so Hgli, A./Lbcke, P. (Hg.): Philosophielexikon, Reinbek bei Hamburg 1992, Eintrag „Philosophie“, S. 491 – 2). 18 Kersting, W.: Die Gegenwart der Lebenskunst, a.a.O., S. 43. Die Fehler in der Beschreibung der antiken Texte sind so gewaltig und tief greifend, dass sie hier nicht korrigiert werden kçnnen. Wer in den Texten von Aristoteles bis Seneca nur Aufforderungen zu Binsenweisheiten, aber keine Argumente entdeckt, die auch heute interessant sein kçnnen, kann nicht im Schnellkurs belehrt werden.
2. Marc Aurel und die Philosophie
711
von der einen Philosophie spricht. A. Graeser hat in Bezug auf solche Flle treffsicher formuliert: Vermutlich kommt hier ein instinktiver Absolutismus zum Tragen – dergestalt, dass man von dem Anspruch divergierender Auffassungen beunruhigt ist und Konformitt erzwingen will.19
Sicher ist Begriffsanalyse, Etablierung von Argumenten und Theorien, Schulphilosophie und die damit Usus gewordene Traktatform mittlerweile vor allem aufgrund einer Tradition das Kerngeschft der heutigen Philosophie.20 Unklar ist jedoch dabei vor allem, welche Argumente die Vertreter einer bestimmten Philosophieauffassung dafr vorbringen kçnnten, dass nur ihr Konzept dem Wesen der Philosophie entsprechen wrde, abgesehen davon, dass sie einer (derzeit dominanten) tradierten Auffassung gengen. Ein solches Argument setzt einen absoluten Standpunkt voraus, der ein dem Argument vorausgehender Vorentscheid darber ist, was gezeigt werden soll. Gerade was die grundstzliche Philosophiekonzeption und Versuche, sie als allein gltige durchzusetzen, angeht, sind vielleicht wissenssoziologische Erklrungen zu bercksichtigen oder einfach die Einsicht von James, dass „manche unserer berzeugungen mit dem zu tun haben, was uns – aus welchen Grnden auch immer – letztlich sinnvoll erscheint oder beruhigt.“21 19 Graeser, A.: Philosophie und Ethik, Dsseldorf 1999, S. 19. 20 Die meisten gngigen Bestimmungen der Philosophie sind theoretisch orientiert: generell sei Philosophie eine Lehre, und zwar (a) vom Erkennen berhaupt oder von den Prinzipien der Einzelwissenschaften, indem ihre Grundlagen und Methoden berprft und geklrt werden, (b) von einem allgemeinen Weltbild, das die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften zusammenfgt, (c) von einer Untersuchung der Normalsprache oder (d) von einer Idealsprache (vgl. Wçrterbuch der philosophischen Begriffe, begr. von F. Kirchner und C. Michaelis, fortgesetzt von Johannes Hoffmeister, vollstndig berarbeitet und neu hg. von A. Regenbogen und U. Meyer, Eintrag „Philosophie“, S. 498 – 499). Sehr hnlich werden drei Paradigmen unterschieden: (a) ontologisch, (b) linguistisch und (c) mentalistisch (vgl. Ulfig, A.: Lexikon der philosophischen Grundbegriffe, Eltville am Rhein 1992, Eintrag „Philosophie“, S. 319 – 322). Einen historischen berblick, aus dem die Tendenz zur Theoretisierung gut hervorgeht, findet sich bei Sandkhler, H. J. (Hg.): Europische Enzyklopdie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 3, L-Q, Hamburg 1997, Eintrag „Philosophie“, S. 672 – 688 und besonders ausfhrlich ders.: (Hg.): Enzyklopdie Philosophie, unter Mitwirkung von D. Ptzold, A. Regenbogen, P. Stekeler-Weithofer, Bd. 2 O-Z, Hamburg 1999, Eintrag „Philosophie“, S. 1021 – 1249). 21 Graeser, A.: Philosophie und Ethik, a.a.O., S. 23.
712
Schlussbemerkung
Das heißt nun nicht, dass diese Vorentscheide ber das Philosophieverstndnis nicht hinterfragt und diskutiert werden kçnnen, aber sie stellen eine Grundsatzentscheidung dar, die einzelne berlegungen und die Akzeptanz von Argumenten nicht unerheblich beeinflussen. Die Argumente fr ein einziges wahres Philosophieverstndnis haben Geltungsanspruch nur in Abhngigkeit von einem bestimmten Begriffssystem. Dessen alleinige Gltigkeit kann so aber nicht bewiesen werden. Man mag sicher davon sprechen, dass die gegenwrtige Philosophie mit der Konzentration auf Argumente ein Zentrum habe und das ist gut so. Aber wer nur das Zentrum, den Kern eines Konzeptes fr gltig bzw. fr real und gut erklrt, verliert mit der Peripherie auch das Ganze aus dem Blick. Zu diesem Ganzen der Philosophie gehçrt nicht zuletzt die konkrete, d. h. praktische Realisierung der Philosophie. Gerade in Bezug auf die praktische Philosophie und noch strker auf die angewandte praktische (im wçrtlichen Sinne: praktizierte) Philosophie offenbart sich ein großes Problem einer rein auf Argumente und Begriffsanalyse konzentrierten Konzeption. Denn gerade an dem Punkt, an dem beabsichtigt wird, die Begriffe und Argumente praktisch wirksam werden zu lassen,22 zeigt sich, dass korrekte Argumente, und seien sie selbst in einem starken Sinne letztbegrndet, und perfekte Begriffssysteme per se nicht handlungswirksam sind. Menschen mssen sich erst korrekte Einsichten, Definitionen und dergleichen zu Eigen machen, sie mssen sie ernst nehmen, sich fr etwas engagieren und motiviert sein – sonst wird die Philosophie nicht praktisch. Die Praxis der Philosophie verlangt mehr als die Produktion von Wissensbestnden, Begriffs- und Argumentanalysen. Natrlich mag man argumentieren, diese Umsetzung der Philosophie sei schon deshalb nicht mehr Teil der Philosophie, weil sie etwas erfordere, was nicht mehr zur Ethik, sondern z. B. zur Moralpsychologie gehçre. Aber hier wird die Rede von der angewandten Philosophie falsch verstanden oder pejorativ verwendet.23 Wer meint, die Philosophie habe ihr Ziel erreicht, wenn die Sorge um die Begriffe sich erfllt habe, und davon ausgeht, diese Begriffe mssten dann nur noch durch eine bestimmende (nicht reflektierte) Ur22 Unklar ist auch, warum die Prferenz vieler heutiger Philosophen fr Argumente und Begriffe und deren Analyse mit einer Abwertung der Praxis und des menschlichen Lebens einhergehen muss, so dass z. B., wie bei Kersting, immer von dem „gewçhnlichen“ Leben die Rede ist, ber das sich Philosophie erhebe, und zwar so, dass es eben keine Berhrungspunkte mehr gebe. 23 Siehe dazu schon Nida-Rmelin, J.: Theoretische und angewandte Ethik, in: Nida-Rmelin, J. (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 1996, S. 2 – 85.
2. Marc Aurel und die Philosophie
713
teilskraft auf bestimmte Situationen angewandt werden, indem deduziert wird, der setzt erstens bereits ein bestimmtes Verstndnis von Philosophie und zweitens vor allem ein bestimmtes Verstndnis von menschlicher Praxis voraus. In beiden Fllen ist systematische Kritik nçtig.24 Anhand der antiken Texte und besonders der Selbstbetrachtungen wird aber deutlich, dass solch eine Anwendung der Philosophie und das, was sie erfordert, traditionell zur Philosophie gezhlt wurde. Auch die aufgeregten Verteidiger der einen wahren Philosophie kçnnten angesichts der ungeliebten wohl weiter bestehenden Vielfalt von Philosophiebegriffen und den Versuchen, die Philosophie praktisch werden zu lassen, zumindest eines von Marc Aurel lernen: Gelassenheit.
24 Siehe z. B. Quante, M./Vieth, A.: Angewandte Ethik oder Ethik in der Anwendung? berlegungen zur Weiterentwicklung des principlism, in: Jahrbuch fr Wissenschaft und Ethik 5 (2000), S. 5 – 34; Siep, L.: Subjektivitt und konkrete Ethik, in: Heidemann, D. H. (Hg.): Probleme der Subjektivitt, Stuttgart 2002, S. 165 – 183; Quante, M./Vieth, A.: Konkrete Ethik, in: Gesang B. (Hg.): Biomedizinische Ethik, Paderborn 2002, S. 62 – 85.
Literaturverzeichnis Abkrzungen Die Abkrzungen fr die erwhnten antiken Autoren richten sich nach dem Oxford Classical Dictionary, hg. von S. Hornblower und A. Spawforth, 3. berarb. Auflage, Oxford 2003. Darber hinaus oder davon abweichend werden folgenden Abkrzungen verwandt: LS Long, A. A./Sedley, D. N.: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, bers. von Karlheinz Hlser, Stuttgart/Weimar 2000. Long, A. A./Sedley, D. N.: The Hellenistic Philosophers, Vol. I-II, Cambridge 1987.
Hilfsmittel A Greek-English lexicon: With a revised supplement. Compiled by Henry George Liddell and Robert Scott. Revised and augmented throughout by Henry Stuart Jones with the assistence of Roderick McKenzie and with the cooperation of many scholars. 9. Auflage, Oxford 1996. Oxford Latin Dictionary, hg. von P.G.W. Glare, Oxford 1996
Textausgaben und bersetzungen Marci Antonini Imperatoris De Seipso et Ad Seipsum libri XII, Guil. Xylander … Graece et Latine primus edidit, … notas et emendationes adjecit Mericus Casaubonus, London 1643. Marci Antonini Imperatoris de rebus suis, sive de eis quae ad se pertinere censebat libri XII commentario perpetuo explicati atque illustrati, studio … Thomae Gatakeri, Cambridge 1652. The Thoughts of Marcus Aurelius (transl. by J. Jackson), Oxford 1906. M. Antonini Imperatoris in Semet Ipsum Libri XII (rec. H. Schenkl), Leipzig 1913. The Communings with Himself of Marcus Aurelius Antoninus (ed. and trans. by C. R. Haines), Cambridge 1916. Marc Aurel: Wege zu sich selbst, (hg. und bertr. von W. Theiler), Zrich 1951. Marc Aurle, Penses (ed. A. I. Trannoy), 2. Aufl., Paris 1962. Markos Anto¯ninou Autokratoros: Ta Eis Heauton. The Meditations of the Emperor Marcus Antoninus, (ed. with transl. and comm. by A. S. L. Farquharson), Vol. I-II, Oxford 1968 (reprint 1944).
Literatur
715
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (bertr. und mit Einl. vers. von W. Capelle), 12. Aufl., Stuttgart 1973. Marcus Aurelius: Ad se ipsum Libri XII (ed. J. Dalfen), 2. Aufl., Leipzig 1987. Marcus Aurelius: Meditations, transl. by R. Hard, Intr. and notes by Ch. Gill, Ware 1997. Marc Aurel: Wege zu sich selbst (griech.-deut.; hg. und bers. von R. Nickel), 2. Aufl., Dsseldorf/Zrich 2001.
Literatur Ackeren, M., v.: Von Sackgassen und crossroads. Neue deutsche und angloamerikanische Sammelbnde zu Platon, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch fr Antike und Mittelalter 7 (2002), S. 199 – 218. Ackeren, M., v.: Theoretisch glcklich. Bedeutung und Zusammenhang der Glcksbestimmungen in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch 8 (2003), S. 43 – 62. Ackeren, M., v.: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuitt des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam 2003. Ackeren, M., v. (Hg.): Platon Verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004. Ackeren, M., v.: Die Unterscheidung von Wissen und Meinung in Politeia V und ihre praktische Bedeutung, in: Ackeren, M., v. (Hg.): Platon Verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004, S. 92 – 110. Ackeren, M., v.: Heraklit. Einheit und Vielfalt seiner Philosophie, Bern 2005. Ackeren, M., v.: Plato and Analytical Philosophy, in: Erkenntnis 62 (2005), S. 263 – 275. Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.).: Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006. Ackeren, M., v./Mller, J.: Die Erforschung der antiken Philosophie als methodisches Problem, in: Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.).: Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 7 – 18. Ackeren, M., v.: Entwicklungshypothesen ber Platon – Die Entwicklung vom Politikos zu den Nomoi als Fallbeispiel, in: Politisches Denken, Jahrbuch 2008: Zehnpfennig, B. (Hg.): Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen – Platons „Nomoi“, Berlin 2008, S. 303 – 328. Adkins, A. W. H.: Merit and Responsibility: A Study of Greek Values, Oxford 1960. Adkins, A. W. H.: From the Many the One: A Study of Personality and Views of Human Nature in the Context of Greek Society, Values and Beliefs, London 1970. Aelius Aristides: The Complete Works, 2 vol. (trans. Ch. A. Behr), Leiden 1981 – 1986. Africa, T. W.: The Oppium Addiction of Marcus Aurelius, in: Journal of the History of Ideas 22 (1961), S. 97 – 102.
716
Literaturverzeichnis
Aichinger, I.: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998, S. 170 – 199. Alfonsi, L: Contributo allo studio delle fonti del pensiero di Marco Aurelio, in: Aevum 28 (1954), S. 101 – 117. Algra, K.: Stoic Theology, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 153 – 178. Allesse, F.: Il tema delle affezioni nell’antropologia di Marco Aurelio, in: Brancacci, A. (Hg.): Antichi e moderni nella filosofia de et imperiale, Napoli 2001, S. 111 – 134. Althoff, J.: Die aphoristisch stilisierten Schriften im Corpus Hippocraticum, in: Kullmann, W./Althoff, J./Asper, M., J. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1998, S. 37 – 64. Anderson, G.: Philostratus, London/Sydney/Dover 1986. Anderson, G.: The Second Sophistic: Some problems of perspective, in: Russel, D. A. (Hg.): Antonine Literature, Oxford 1990, S. 91 – 110. Anderson, G.: The Second Sophistic, London 1993. Anderson, G.: The pepaideumenos in Action: Greek Sophists and Their Outlook in the Early Roman Empire, in: ANRW II 33, 1, Berlin/New York 1994, S. 79 – 208. Annas, J.: Ancient Ethics and Modern Morality, in: Philosophical Perspectives 6 (1992), S. 119 – 136. Annas, J.: The Morality of Happiness, New York/Oxford 1993. Annas, J.: Reply to Cooper, in: Philosophy and Phenomenological Research 55 (1995), S. 599 – 610. Annas, J.: Marcus Aurelius. Ethics and its Background, in: Rhizai 2 (2004), S. 103 – 119. Annas, J.: Ethics in Stoic Philosophy, in: Phronesis 52 (2007), S. 58 – 87. Anton, J. P./Kustas, G. L. (Hg.): Essays in Ancient Philosophy, Albany 1971. Appolonius von Tyrna: Epistulae, in: Hercher, R. (Hg.): Epistolographi Graeci, Paris 1873. Arnold, E. V.: Roman Stoicism, Cambridge 1911. Arnold, M.: Marcus Aurelius, (Essays in Criticism: First Series), London 1862. Asmis, E.: The Stoicism of Marcus Aurelius, in: ANRW III, 36, 3, Berlin/New York 1975, S. 2228 – 2252. Asmuth, B.: Art. „Monolog“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tbingen 2001, S. 1458 – 1476. Asper, M.: Zur Struktur und Funktion eisagogischer Texte, in: Kullmann, J./ Althoff, J./Asper, M. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1998, S. 309 – 340. Athanasius: Vita Antonii, in: Ausgewhlte Schriften des heiligen Athanasius (hg. von V. Thalhofer), Kempten 1875. Athanassiadi, P./Frede, M. (Hg.): Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999. Aune, D. (Hg.): Greco-Roman Literature and the New Testament, Atlanta 1984. Ayers, A. J.: Language, Truth and Logic, 2. Aufl., Oxford 1956.
Literatur
717
Baader, G./Grensemann, H. (Hg.): Kleine Schriften zur antiken Medizin, Berlin 1971. Baader, G./Winau, R. (Hg.): Die Hippokratischen Epidemien. Verhandlgg. d. Ve Colloque International Hippocratique, Berlin, 10.–15. 09. 1984, Stuttgart 1989. Baardt, U.: Denken im Dialog, Senecas Epistulae morales, in: Meyer, M. (Hg.): Zur Geschichte des Dialoges, Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas, Darmstadt 2006, S. 40 – 53. Baldwin, B.: Studies in Lucian, Toronto 1973. Baltzly, D.: Stoicism, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (ed. by E. Zalta), Winteredition 2008 URL: http://www.science.uva.nl/~seop/entries/ stoicism/. Bardon, H.: Les empereurs et la littrature latine Hadrian, Paris 1940. Barnes, J./Burnyeat, M./Schofield, M. (Hg.): Doubt and Dogmatism, Oxford 1980. Barnes, J.: Logic in the Imperial Period, Leiden 1997. Baslez, M.-F./Hoffmann, P./Pernot, L. (Hg.): L’invention de l’autobiographie, d’Hesiode St. Augustin, Paris 1993. Baumgart, H.: Aelius Aristides als Reprsentant der sophistischen Rhetorik des zweiten Jahrhunderts der Kaiserzeit, Leipzig 1879. Baumgartner, H.-U.: Handlungstheorie bei Platon. Platon auf dem Weg zum Willen. Stuttgart/Weimar 1998. Bakhtin, M.: Discourse Typology, in: Metejka, L./Pomorska K. (Hg.): Readings in Russian Poetics. Formalist and Structuralist Views, Cambridge (Mass.) 1971, S. 176 – 196. Becker, L.: A New Stoicism, Princeton 1998, S. 5 – 7. Bees, R.: Die Oikeiosislehre der Stoiker, Wrzburg 2004. Behr, Ch. A.: P. Aelius Aristides, The Complete Works, 2 vol., Leiden 1986. Bellebaum, A. (Hg.): Glck und Zufriedenheit. Ein Symposion, Opladen 1992. Bnatou l, Th.: Les Sto ciens. Musonius, pictte, Marc Aurle. Paris 2009 Bentham, J.: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, I 1., in: Mill, J. St.: Utilitarianism, Glasgow 1985, S. 33 – 77, hier: S. 33. Benz, E.: Das Todesproblem in der stoischen Philosophie, Stuttgart 1929. Bernays, J.: Theophrastos’ Schrift ber Frçmmigkeit, Berlin 1860. Betegh, G.: Cosmological Ethics in the Timaeus and early Stoicism, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 24 (2003), S. 273 – 302. Billerbeck, M.: Epiktet. Vom Kynismus, Leiden 1978. Birley, A. R.: Marcus Aurelius, London 1966. Birley, A. R.: Mark Aurel. Kaiser und Philosoph, Mnchen 1968. Birley, A. R..: Some Teachers of Marcus Aurelius, in: Historia Augusta Colloquium 1966/67 (1968), S. 39 – 42. Birley, A. R.: Die Außen- und Grenzpolitik unter der Regierung Marc Aurels, in: Klein, R. (Hg.): Marc Aurel, Darmstadt 1979, S. 473 – 502. Birley, A. R.: Marcus Aurelius, 2. Aufl., London 1987. Birley, A. R.: Marcus Aurelius: A Biography, London 2000. Blom, H. W./Winkel, L. C. (Hg.): Grotius and the Stoa, Assen 2004. Blumenberg, H.: Die Verfhrbarkeit des Philosophen, Frankfurt a. M. 2000.
718
Literaturverzeichnis
Boatwright, M. T.: Further Thoughts on Hadrians Athens, in: Hesperia 52 (1983), S. 173 – 6. Boatwright, M. T.: Hadrian and the City of Rome, Princeton 1987. Bobzien, S.: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy, Oxford 1998. Bobzien, S.: Chrysippus’ Theory of Causes, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, S. 196 – 242. Bçhme, G.: Weltweisheit, Lebenskunst, Wissenschaft. Eine Einfhrung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1994. Bonamente, G./Duval, N.: Historiae Augustae Colloquium Parisinum, Macerata 1991. Bonazzi, M./Helmig, Ch. (Hg.).: Platonic Stoicism – Stoic Platonism. The Dialogue between Platonism and Stoicism in Antiquity, Leuven 2007. Bonhçffer, A.: Epictet und die Stoa: Untersuchungen zur stoischen Philosophie, Stuttgart 1890. Bonhçffer, A.: Die Ethik des Stoikers Epictet, Stuttgart 1894 (Nachdruck Stuttgart 1968). Bonner, S. F.: Education in Ancient Rome, London 1977. Borg, B. (Hg.): Paideia: Die Welt der Zweiten Sophistik, Berlin 2004. Bowersock, G. W.: Vita Caesarum. Remembering and Forgetting the Past, in: Ehlers, W./Maul, St. (Hg.): La biographie antique, huit exposs suivis de discussions; Vandoeuvres, Genve 25 – 29 aot 1997, Genve 1998, S. 193 – 216. Bowersock, G. W.: Greek Sophist in the Roman Empire, New York 1969. Bowie, E. L: Greeks and their Past in the Second Sophistic, in: Past and Present 46 (1970), S. 3 – 41. Bowie, E. L.: Greek Sophists and Greek Poetry in the Second Sophistics, in: ANRW II 33, 1, Berlin 1994, S. 209 – 58. Bradley, A. C.: Oxford Lectures on Poetry, Oxford 1909. Brancacci, A. (Hg.): Antichi e moderni nella filosofia di et imperiale, Napoli 2001. Brandt, R.: Selbstbewußtsein und Selbstsorge – Zur Tradition der „oikeiosis“ in der Neuzeit, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 85 (2003), S. 179 – 197 (englische bersetzung in: Blom, H. W./Winkel, L. C. (Hg.): Grotius and the Stoa, Assen 2004, 73 – 92). Braunert, H.: Das Athenaeum zu Rom bei den Scriptores Historiae Augustae, in: Straub, J./Alfçldi, A. (Hg.): Historia Augusta Colloqium 1963, Bonn 1964, S. 9 – 42. Breithaupt, G.: De M. Aurelii Antonini commentariis quaestiones selectae, Diss., Gçttingen 1913. Brennan, T.: The Old Stoic Theory of the Emotions, in: Sihovola, J./EngbergPedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, Dordrecht 1998, S. 21 – 70. Brennan, T.: Stoic Moral Psychology, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 257 – 294. Brennan, T.: The Stoic Life. Emotions, Duties and Fate, Oxford 2005. Brown, E.: Cosmopolitism, Cambridge 2009.
Literatur
719
Brown, E.: Unverçffentlichte Arbeit ber Antiken Kosmopolitismus, Cambridge 2010. Brown, P.: Religion and Society in the Age of St. Augustine, London 1972. Bruns. I.: Vortrge und Aufstze, Mnchen 1905. Bruns, I.: Marc Aurel, in: Ivo Bruns: Vortrge und Aufstze, Mnchen 1905, S. 291 – 330. Bruns, I.: Marc Aurel. Vortrag in Elberfeld, November 1894, abgedruckt in: Maurach, G. (Hg.): Rçmische Philosophie, Darmstadt 1976, S. 223 – 246. Brunschwig, J.: Stoic Metaphysics, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to The Stoics, Cambridge 2003, S. 206 – 232. Brunt, P. A.: Marcus Aurelius in his Meditations, in: Journal of Roman Studies 64 (1974), S. 1 – 20. Brunt, P. A.: ,Laus Imperii‘, in: Garnsey, P. D. A./Whittaker, C. R. (Hg.): Imperialism in the ancient world, Cambridge 1978, S. 178 – 198. Brunt, P. A.: Marcus Aurelius and the Christians, in: Deroux, C. (Hg.): Studies in Latin Literature and Roman History, Vol. I, Brssel 1979, S. 483 – 520. Bruss, E. W.: Die Autobiographie als literarischer Akt, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998, S. 258 – 283. Buchheim, Th.: Die Vorsokratiker, Mnchen 1994. Bultmann, R.: Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Gçttingen 1910. Buresch, C.: Consolationum a Graecis Romanisque scriptarum historia critica, in: Leipziger Studien zur classischen Philologie 9 (1887), S. 1 – 170. Burgess, T. C.: Epideictic Literature, Chicago 1902. Burlington, T. S.: Toward a Definition of Paraenesis, in: Restoration Quarterly 38/ 3 (1996), S. 1 – 7. Bushnell, C. C.: Comparisons and Illustrations in the t± pq¹r 2autºm of Marcus Aurelius Antonius, in: Transactions of the American Philological Association 36 (1905), S. xxix-xxx. Bushnell, C. C.: A Classification according to the Subject-matter of the Comparisons and Illustrations in the Meditations of Marcus Aurelius, in: Transactions of the American Philological Association 39 (1908), S. xix-xxi. Bussel, F. W.: Marcus Aurelius and the Later Stoics, Edinburgh 1910. Cacciatore, G.: Biografia e autobiografia in W. Dilthey e G. Misch, in: Gallo, I. (Hg.): Biografia e autobiografia degli antichi e dei moderni, Neapel 1995, S. 243 – 296. Cairns, D. L.: Aidos: The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993. Cameron, A.: Circus Factions, Oxford 1976. Cancik, H.: Untersuchungen zu Senecas Epistulae Morales, Hildesheim 1967. Capelle, W./Marrou, H. I: „Diatribe“, in: RAC, Stuttgart 1957, S. 990 – 1009. Capelle, W.: Einleitung, in: Marc Aurel: Selbstbetrachtungen (bertr. und mit Einl. vers. von W. Capelle), 12. Aufl., Stuttgart 1973, S. ix-lx. Carrithers, M./Collins, S./Lukes, S. (Hg.): The Category of the Person: Anthropology, Philosophy, History, Cambridge 1985.
720
Literaturverzeichnis
Casuabon, M.: Prolegomena, in: Marci Antonini Imperatoris De Seipso et Ad Seipsum libri XII, London 1643. Ceporina, M.: The Meditations, in: Ackeren, M., v. (ed.): The Blackwell Companion to Marcus Aurelius, Oxford 2011 (in Vorbereitung) Champlin, E. H.: The Chronology of Fronto, in: Journal of Roman Studies 64 (1974), S. 136 – 59. Champlin, E. H.: Fronto and the Antonine Rome, Cambridge 1980. Charles, D.: Aristotle’s Philosophy of Action, London 1974. Cherniss, H.: Aristotle’s Criticism of Presocratic Philosophy, Baltimore 1935. Claus, D. B.: Toward the Soul: An Inquiry into the Meaning of xuw¶ before Plato, New Haven 1981. Clay, D.: Lucretius and Epicurus, Ithaca/London 1983. Clay, D.: A Lost Epicurean Community, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 30 (1989), S. 313 – 335. Clay, D.: The Philosophical Inscription of Diogenes of Oinoanda: New Discoveries 1969 – 1983, in: ANRW II, 36, 4, Berlin/New York 1990, S. 3231 – 3232. Clay, J. S. et. al. (Hg.): Mega Nepioi: Il Destinatario nell’ Epos Didascalico, edd. J. S. Clay et al, Materiali e Discussione 31, Pisa 1993. Cohn, D.: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton 1978. Colardeu, Th.: tude sur pictte, Thse Paris 1903. Cooper, J.: Marcus Aurelius, Moral theory and moral improvement, in: ders. Knowledge, nature and the good, Princeton 2004, S. 335 – 68. Cooper, J.: Eudaimonism and the appeal to nature in Morality of Happiness, in: Philosophy and Phenomenological Research 55 (1995), S. 587 – 589. Cooper, J.: Knowledge, nature and the good, Princeton 2004. Cox, P.: Biography in Late Antiquity, Berkeley/Los Angeles 1983. Crisp, R./Slote, M. (Hg.): Virtue Ethics, Oxford 1997. Cruz, H.: Christological motives and motivated actions in Pauline paraenesis, Frankfurt a. M. 1990. Culler, J.: Structuralist Poetics: Structuralism, Linguistics and the Study of Literature, London 1994 (1975). Cumont, F.: After-Life in Roman Paganism, Yale 1922. Curtius, E. R.: Europische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948. Czapla, B./Lehmann, T./Liell, S. (Hg.): Vir bonus dicendi peritus. Festschrift fr A. Weische zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1997. Dailly, R./Effenterre, H. v.: Le cas Marc Aurle. Essai de psychosomatique historique, in: Revue des tudes Anciennes 56 (1954), S. 347 – 365. Dalfen, J.: Formgeschichtliche Untersuchungen zu den Selbstbetrachtungen Marc Aurels, Diss., Mnchen 1967. Dalfen, J./Pfligersdorffer, G. (Hg.): Symmicta philologica saleburgensia, Rom 1980. Dalfen, J.: „Wo man leben kann, kann man gut leben.“Ableitung und Begrndung ethischer Stze bei Marc Aurel und die Problematik von „Sein“ und „Sollen“,
Literatur
721
in: ders./Pfligersdorffer, G. (Hg.): Symmicta philologica saleburgensia, Rom 1980, S. 21 – 41. Dalfen, J.: Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, in: Grazer Beitrge 23 (2000), S. 187 – 211. Dalfen, J.: Marc Aurel. „Werde wie die Philosophie dich haben will.“, in: Erler, M./Graeser, A. (Hg.): Die Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Sptantike, Darmstadt 2000, S. 128 – 144. Dalfen, J.: Marc Aurel. Sozialphilosophie und Sozialpolitik, in: Gigon, O./Fischer, M. W. (Hg.): Antike Rechts- und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 129 – 137. Daly, L. W./Suchier, W.: The „Altercatio Hadriani Augusti et Epicteti philosophi“ and the Question and Answer Dialogue, in: Illinois Studies in Language and Literature 24 (1939/1), S. 104 – 107. Davidson, D.: Essays on Actions and Events, Oxford 1980. Davidson, D.: Rational Animals, in: LePore, E./McLaughlin, B. P. (Hg.): Actions and Events: Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1985, S. 473 – 480. Deichgrber, K.: Rhythmische Elemente im Logos des Heraklit, Wiesbaden 1963. Dennett, D. C.: Conditions of Personhood, in: Rorty, R. (Hg.): The Identity of Persons, Berkeley 1976, S. 175 – 96. Dennett, D. C.: Brainstorms: Philosophical Essays on Mind and Psychology, Hassocks 1979. Deroux, C. (Hg.): Studies in Latin Literature and Roman History, Vol. I, Brssel 1979. Deubner, L.: Attische Feste, 3. Aufl., Darmstadt 1969. Dibelius, M.: A Commentary on the Epistle of James, Augsburg 1976. Digesta, Corpus Iuris Civilis, Bd. I (hg. von P. Krger: Digesta, hg. von Th. Mommsen, bearb. von P. Krger, 17. Aufl., Berlin 1963, Neudruck: Hildesheim 1993; bersetzung: Corpus Iuris Civilis, hg. von O. Behrends u. a., 2. Aufl., Heidelberg 1997. Dihle, A.: The Theory of Will in Classical Antiquity, Berkeley/Los Angeles/ London 1982. Dihle, A.: Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Justinian, Mnchen 1989. Dihle, A.: Zur antiken Biographie, in: Ehlers, W./Maul, St.: (Hg.): La biographie antique, huit exposs suivis de discussions; Vandoeuvres, Genve 25 – 29 aot 1997, Genve 1998, S. 119 – 146. Dihle, A.: Mndlichkeit und Schriftlichkeit nach dem Aufkommen des Lehrbuches, in: Kullmann, W./Althoff, J. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1998, S. 265 – 278. Diller, H.: Ausdrucksformen des methodischen Bewusstseins in den hippokratischen Epidemien, in: Baader, G./Grensemann, H. (Hg.): Kleine Schriften zur antiken Medizin, Berlin 1971, S. 106 – 123. Dillon, J./Long, A. A. (Hg.): The Question of „Eclecticism“: Studies in Later Greek Philosophy, Berkley 1988. Dilthey, W.: Gesammelte Schriften, Bd. VII, (hg. von B. Groethuysen), Leipzig 1927.
722
Literaturverzeichnis
Dilthey, W.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1911), Plan der Fortsetzung der Abhandlung; Gesammelte Schriften, Bd. VII, Gçttingen 1927. Dilthey, W.: Das Erleben und die Selbstbiographie, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998, S. 21 – 32. Dirlmeier, F.: Die Oikeiosislehre Theophrasts, Leipzig 1937. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berhmter Philosophen (bers. Von O. Apelt unter Mitwirkung von H. G. Zekl), 3. Aufl., Ungekrzte Sonderausgabe, Hamburg 1998. Diogenes of Oinoanda, The Epicurean Inscription (ed., transl. and notes by M. F. Smith), Neapel 1993 (supplement 2003). Dion Chrysostomos, Smtliche Reden (eingeleitet, bersetzt und erlutert von W. Elliger), Zrich/Stuttgart 1967. Dixon, P.: Rhetoric, London 1971. Dodds, E. R.: The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951. Dodds, E. R.: Pagan and Christian in the Age of Anxiety, Cambridge 1965. Dodds, E. R.: Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst, Frankfurt a. M. 1985. Dçring, K./Kullmann, W. (Hg.): Studia Platonica. Festschrift fr H. Gundert, Amsterdam 1974. Dçring, K.: Sokrates bei Epiktet in: Dçring, K./Kullmann, W. (Hg.): Studia Platonica. Festschrift fr H. Gundert, Amsterdam 1974, S. 19 – 26. Dçring, K.: Exemplum Socratis, Wiesbaden 1979. Dçring, K./Wçhrle, G. (Hg.): Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, 2 Bnde, Bamberg 1992. Dorandi, T.: Den Autoren ber die Schulter geschaut. Arbeitsweise und Autographie bei den antiken Schriftstellern, in: Zeitschrift fr Papyrologie und Epigraphik 87 (1991), S. 11 – 33. Dorey, T. A.: Empire and Aftermath, London 1975. Dove, C. C.: Marcus Aurelius Antoninus: His Life and Times, London 1930. Dragona-Monachou, M.: The Stoic Arguments for the Existence and the Providence of the Gods, Athen 1976. Dring, I.: Aristoteles: Protreptikos, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993. Drr, K.: Das erste Buch der Selbstbetrachtungen des Kaisers Marcus Aurelius Antonius, in: Gymnasium 49 (1938), S. 64 – 82. Dsel, F.: Der dramatische Monolog in der Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Hamburg 1897 (Neudruck 1977). Duff, J. W.: A Literary History of Rome in the Silver Age, London 1927. Duhot, J. J.: La Conception stoicienne de la causalit, Paris 1989. Dyson, H.: Prolepsis and Ennoia in the Early Stoa, Berlin/New York 2009. Ecker, U.: Grabmal und Epigramm, Studien zur frhgriechischen Sepulchraldichtung, Stuttgart 1990. Edwards, P. (Hg.): The Encyclopaedia of Philosophy, New York 1967. Ehlers, W./Maul, St. (Hg.): La biographie antique, huit exposs suivis de discussions; Vandoeuvres, Genve 25 – 29 aot 1997, Genve 1998.
Literatur
723
Endreß, M. (Hg.): Zur Grundlegung einer integrativen Ethik. Fr Hans Krmer, Frankfurt 1995. Engberg-Pedersen, T.: The Stoic theory of Oikeiosis: moral development and social interaction in early Stoic philosophy, Aarhus 1990. Engel, J. J.: ber Handlung, Gesprch und Erzhlung, Stuttgart 1964 (Faksimilie der Ausgabe von 1774, hg. von E. T. Voss). Entralgo, P. L.: The Therapy of the Word in Classical Antiquity (herausgegeben und bersetzt von E. L. Rather und John M. Sharp), New Haven/London 1970. Epicurea (ed. H. Usener), Leipzig 1887. Erbse, H.: Die Vorstellung von der Seele bei Marc Aurel, in: Festschrift fr Friederich Zucker, Berlin 1954, S. 127 – 154. Epictetus: The Discourses as reported by Arrian, The Manual and Fragments (transl. W. A. Oldfather), Vol. I-II, Cambridge (Mass.) 1925. Epiktet: Was von ihm erhalten ist. Nach den Aufzeichnungen Arrians (Neubearbeitung der bersetzung von J. G. Schulthess von R. Mcke), Heidelberg 1926. Epiktet: Handbchlein der Moral, (gr.-deut.; bers. und hg. von K. Steinmann), Stuttgart 1992. Erler, M.: Einbung und Anverwandlung. Reflexe mndlicher Meditationstechnik in philosophischer Literatur der Kaiserzeit, in: Kullmann, W./Althoff, J./ Asper, M. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1998, S. 361 – 381. Erler, M./Graeser, A. (Hg.): Die Philosophen des Altertums. Vom Hellenismus bis zur Sptantike, Darmstadt 2000. Erler, M.: „Sokrates in der Hçhle“. Argumente als Affekttherapie in im Gorgias und im Phaidon, in: Ackeren, M., v. (Hg.): Platon Verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004, S. 57 – 68. Erler, M.: Philosophische Autobiographie am Beispiel des 7. Briefes Platons, in: Reichel, M. (Hg.): Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Kçln/Weimar/Wien 2005, S. 75 – 92. Erler, M.: Interpretatio medicans. Zur epikureischen Rckgewinnung der Literatur im philosophischen Kontext, in: Ackeren, M., v./Mller (Hg.).: Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 243 – 256. Erler, M./Schorn, St. (Hg.): Griechische Biographie in hellenistischer Zeit, Berlin 2007. Ernesti, J. C. T.: Lexicon technologiae latinorum rhetoricae, Hildesheim 1972 (ND von 1797). Esteve Forriol, J.: Die Trauer und Trostgedichte in der rçmischen Literatur, untersucht nach ihrer Topik und ihrem Motivschatz, Mnchen 1962. Eucken, R.: Die Lebensanschauungen der großen Denker, 16. Aufl., Berlin 1921. Eucken, R.: Die Lebensanschauungen der großen Denker, 18. Aufl., Berlin 1922. Fantham, E.: Literarisches Leben im antiken Rom. Sozialgeschichte der rçmischen Literatur von Cicero bis Aupuleius, Stuttgart/Weimar 1998. Farnell, L. R.: Cults of the Greek City State V, Oxford 1896 – 1909.
724
Literaturverzeichnis
Farquharson, A. S. L.: Marcus Aurelius. His life and his world, 2. Aufl., Oxford 1952. Farquharson, A. S. L.: Introduction, in: Marcus Antoninus Autokrates: Ta Eis Heauton. The Meditations of the Emperor Marcus Antonius (ed. with transl. and comm. by A. S. L. Farquharson), Vol. I-II, Oxford 1968 (reprint 1944), S. ix-lxxxiii. Fears, J. R.: Princeps a diis electus, Rom 1977. Ferguson, J.: Rez. zu Martinalloli, P: La „Successio“ di Marco Aurelio, Bari 1951, in: Journal of Hellenic Studies 73 (1953), S. 198 – 199. Festschrift fr Friedrich Zucker, Gesamtred.: Wolfgang Mller, Berlin 1954. Finlay, M. I.: The World of Odysseus, Harmondsworth 1954. Flach, W.: Die wissenschaftstheoretische Einschtzung der Selbstbiographie bei Dilthey, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 52 (1970), S. 172 – 186. Follet, S.: la dcouverte de l’autobiographie, in: Baslez, M.-F./Hoffmann, P./ Pernot, L. (Hg.): L’invention de l’autobiographie, d’Hesiode St. Augustin, Paris 1993, S. 325 – 328. Fornara, C. W.: The Nature of History in Ancient Greece and Rome, Berkeley/Los Angeles 1983. Forschner, M.: Die Stoische Ethik, 2. Aufl., Darmstadt 1995. Forstater, M.: The Spiritual Teachings of Marc Aurel, New York 2001. Forte, B.: Rome and Romans as the Greeks saw them, Rom 1972. Foucault, M.: Sexualitt und Wahrheit, Bd. 1 – 3, Frankfurt a. M. 1986. Foucault, M.: Technologies of the Self, in: Martin, L. H. (Hg.) u. a.: Technologies of the Self. A Seminar with M. Foucault, Amherst 1988, S. 16 – 49. Foucault, M.: Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993. Foucault, M.: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2003. Foucault, M.: sthetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007. Foucault, M.: ber sich selbst schreiben, in: ders.: sthetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 137 – 154. Frnkel, H.: EVGLEQOS als Kennwort fr die menschliche Natur, in: ders.: Wege und Formen frhgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, 3. Aufl., Mnchen 1968. Frankfurt, H.: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), S. 16 – 49. Frede, M.: Die stoische Logik, Gçttingen 1974. Frede, M.: The Original notion of cause, in: Barnes, J./Burnyeat, M./Schofield, M. (Hg.): Doubt and Dogmatism, Oxford 1980, S. 217 – 249. Frede, M.: On the Stoic Conception of the Good, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, S. 71 – 94. Frede, D.: Stoic Determinism, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 179 – 205. Frede, M.: Monotheismus and Pagan Philosophy in Later Antiquity, in: Athanassiadi, P./Frede, M. (Hg.): Pagan Monotheismus in Late Antiquity, Oxford 1999, S. 41 – 69. Fricke, H.: Aphorismus, Stuttgart 1984. Gaiser, K.: Protreptik und Parnese bei Platon, Stuttgart 1959.
Literatur
725
Gallo, I. (Hg.): Biografia e autobiografia degli antichi e dei moderni, Neapel 1995. Gallop, D.: Dreaming and Waking in Plato, in: Anton, J. P./Kustas, G. L. (Hg.): Essays in Ancient Philosophy, Albany 1971, S. 187 – 201. Gammie, J. G.: Paraenetic Literature: Towards a Morphology of a Secondary Genre, in: Semeia 50 (1990), S. 41 – 81. Gammie: J. G.: Paraenetic Literature: Towards the Morphology of a Secondary Genre, in: Perdue, L. G./Gammie, J. G. (Hg.): Paraenesis: Act and Form, Atlanta 1990, S. 41 – 81. Garnsey, P. D. A./Whittaker, C. R. (Hg.): Imperialism in the ancient world, Cambridge 1978. Gaskin, R.: Do Homeric Heroes Make Real Decisions?, in: Classical Quarterly 40 (1990), S. 1 – 15. Gataker, Th.: Praeloquium, in: Marci Antonini Imperatoris de rebus sui, sive de eis quae ad se pertinere censebat libri XII, commentario perpetuo explicati atque illustrati studio Thomae Gatakeri, Cambridge 1652. Geagan, D. J.: Roman Athens: Some Aspects of Life and Culture, Vol. I, 86 B. C. – A. D. 267, in: ANRW II 7. 1, Berlin 1979, S. 389 – 99. Gearson, L. P.: God and Greek Philosophy. Studies in the Early History of Natural Theology, London 1990. Gearson, L. P.: Knowing Persons. A study in Plato, Oxford 2003. Gesang B. (Hg.): Biomedizinische Ethik, Paderborn 2002. Giavatto, A.: Interlocutore di se stesso. La dialettica di Marco Aurelio, Hildesheim 2008. Gibbon, E.: The Decline and Fall of the Roman Empire, London 1896. Gigon, O.: Untersuchungen zu Heraklit, Leipzig 1935. Gigon, O. (Hg.) u. a.: Phyllobolia (Fr Peter von der Mhl zum 60. Geburtstag am 1. August 1945), Basel 1946. Gigon, O.: Der Ursprung der griechischen Philosophie, Basel/Stuttgart 1967. Gigon, O./Fischer, M. W. (Hg.): Antike Rechts- und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 1988. Gill, Ch.: Introduction, in: Marcus Aurelius: Meditations, transl. by R. Hard, Intr. and notes by Ch. Gill, Ware 1997, S. vi-xxii. Gill, Ch.: The Self in Dialogue. Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy., Oxford 1998. Gill, Ch.: Did Galen understand Platonic and Stoic Thinking on Emotions?, in: Sihovola, J./Engberg-Pedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, Dordrecht 1998, S. 113 – 148. Gill, Ch.: The School in Roman Imperial Period, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 33 – 58. Gill, Ch.: The Stoic theory of ethical development: in what sense is nature a norm?, in: Szaif, J./Lutz-Bachmann, M. (Hg.): What is good for a human being? Human nature and values / Was ist das fr den Menschen Gute? Menschliche Natur und Gterlehre, Berlin 2004, S. 101 – 125. Gill, Ch. (Hg.): The Person and the Human Mind: Issues in Ancient and Modern Philosophy, Oxford 1990. Gill, Ch.: The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought, Oxford 2005. Gill, M. L./Pellegrin, P. (Hg.): A Companion to Ancient Philosophy, Oxford 2006.
726
Literaturverzeichnis
Gill, Ch.: Marcus Aurelius, in: Sharples, R. W./Sorabji, R. (Hg.): Greek and Roman Philosophy 100 BC – 200 AD, Vol. II, London 2007, S. 175 – 189. Gill, Ch.: Marcus Aurelius’ Meditations: How Stoic and How Platonic?, in: Bonazzi, M./Helmig, Ch. (Hg.): Platonic Stoicism – Stoic Platonism. The Dialogue between Platonism and Stoicism in Antiquity, Leuven 2007, S. 189 – 208. Gill, Ch.: The Ancient Self – Where Now? in: Antiquorum Philosophia 2 (2008), S. 77 – 99. Glucker, J.: Antiochus and the Late Academy, Gçttingen 1978. Gçrgemanns, H.: Der Bekehrungsbrief Marc Aurels, in: Rheinisches Museum 134 (1991), S. 96 – 109. Gçrlitz, W.: Marc Aurel. Kaiser und Philosoph, Stuttgart 1954. Goodspeed, E.: Die ltesten Apologeten, Gçttingen 1914. Gordon, R.: Fear of Freedom? Selective Continuity in Hellenistic Religion, in: Didaskalos 4 (1972), S. 48 – 60. Gottschalk, H. B.: Diatribe again, in: LCM 7, 6 (1982), S. 91 – 2. Goulet, R.: Histoire et mystre. Les vies des philosophes de l’antiquit tardive, in: Ehlers, W./Maul, St. (Hg.): La biographie antique, huit exposs suivis de discussions; Vandoeuvres, Genve 25 – 29 aot 1997, Genve 1998, S. 217 – 266. Graeser, A.: Zur Funktion des Begriffes „gut“ bei den Stoikern, in: Zeitschrift fr philosophische Forschung 26 (1972), S. 417 – 425. Graeser, A.: Zenon von Kition. Positionen und Probleme, Berlin/New York 1975. Graeser, A.: Interpretationen, Hauptwerke der Philosophie, Antike, Stuttgart 1993. Graeser, A.: Philosophie und Ethik, Dsseldorf 1999. Graeser, A.: Altes und Neues, in: Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 19 – 33. Greek Elegy and Iambus, Bd. I und II (ed. and transl. by J. Edmonds), Cambridge (Mass.) 1931. Griffin, M. T.: Seneca: A Philosopher in Politics, Oxford 1976. Griffin, M./Barnes, J. (Hg.): Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, Oxford 1989. Griffin, M.: Philosophy, Politics and Politicians at Rome, in: ders./Barnes, J. (Hg.): Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, Oxford 1989, S. 1 – 37. Grimal, P.: Seneca. Macht und Ohnmacht des Geistes, Darmstadt 1978. Grimal, P.: Marc Aurle, Paris 1991. Grimm, J.: ber den Personenwechsel in der Rede, Akad. Wiss. Berlin, 1851. Grçzinger, A.: Art. „Consolatio“ in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tbingen 1994, S. 369. Grçzinger, A.: Art. „Parnese“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tbingen 2005, S. 552 – 5. Gusdorf, G.: Voraussetzung und Grenzen der Autobiographie, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2.,
Literatur
727
um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998, S. 121 – 147. Guthrie, W. K. C.: A History of Greek Philosophy, Cambridge 1962. Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968. Habicht, Ch.: Pausanias’ Guide to Ancient Greece, Berkeley 1985. Hadot, I.: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969. Hadot, I.: Der philosophische Unterrichtsbetrieb in der rçmischen Kaiserzeit, in: Rheinischers Museum 146 (2003) S. 49 – 71. Hadot, P.: La physique comme exercise spirituel ou pessimisme et optimisme chez Marc Aurle, in: Revue de Thologie et de Philosophie 102 (1972), S. 225 – 239. Hadot, P.: Die Einteilung der Philosophie im Altertum, in: Zeitschrift fr Philosophische Forschung 36 (1982), S. 422 – 444. Hadot, P.: Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike, Berlin 1987. Hadot, P.: Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike, Berlin 1991. Hadot, P.: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektre Marc Aurels, Frankfurt a. M. 1997. Hadot, P.: Wege zur Weisheit – oder was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt a. M. 1999. Haines, C. R.: The Composition and Chronology of the Thoughts of Marcus Aurelius, in: Journal of the History of Philology 11 (1914), S. 278 – 95. Haines, C. R.: Preface, in: The Communings with himself of Marcus Aurelius Antonius (ed. and trans. by C. R. Haines), Cambridge 1916, p. ix. Haker, H.: Moralische Identitt. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion, Tbingen 1998. Halbig, Ch./Vieth, A.: How (not) to pity those far away: Universalism and the emotions, in: Kallhoff, A. (Hg.): Nussbaum, M. C.: Ethics and Political Philosophy, Mnster 2000, S. 53 – 63. Halbauer, O.: De diatribis epicteti, Diss., Leipzig 1911. Hall, J.: Lucian Satire, New York 1981. Hammond, M.: The Antonine monarchy, Rome 1959. Hammond, M.: The Antonine Monarchy, in: ANRW III, 36, 3, Berlin/New York 1975, S. 329 – 353. Hankinson, R. J.: Galens’ Anatomy of the Soul, in: Phronesis 36 (1991), S. 197 – 233. Hankinson, R. J.: Cause and Explanation in Ancient Greek Thought, Oxford 2001. Hankinson, R. J.: Stoic Epistemology, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 59 – 84. Hardy, J.: Platons Theorie des Wissens im Theaitet, Gçttingen 2001. Harrison, E. L.: Homeric Psychology, in: Phoenix 14 (1960), S. 63 – 80. Heath, M.: Hermogenes on Issues. Strategies of Argument in Later Greek Rhetoric, Oxford 1995. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, Leipzig 1971.
728
Literaturverzeichnis
Hegel. G. W. F.: Vorlesungen ber die sthetik, Die Poesie, Frankfurt a. M. 1971. Heidemann, D. H. (Hg.): Probleme der Subjektivitt, Stuttgart 2002. Heinemann, I.: Poseidonius und jdisch-christliche Genesis-Exegese, Leipzig 1914. Heinemann, I.: Poseidonius und jdische-christliche Genesis-Exegese, 2 Bd, Breslau 1921. Heitsch, E.: Platon und die Anfnge seines dialektischen Philosophierens, Gçttingen 2004. Hellweg, R.: Stilistische Untersuchungen zu den Krankengeschichten der Epidemiebcher I und III des Corpus Hippocraticum, Bonn 1985. Hendrickx, B.: Once again: Marcus Aurelius, Emperor and Philosopher, in: Historia 23 (1974), S. 254 – 256. Hense, O.: Teletis Reliquiae, 2. Aufl., Tbingen 1909. Hermogenes Opera (ed. H. Rabe), Rhetores Graeci vol. VI, Leipzig 1913. Herodian: Ab excessu divi marci, libri octo (hg. von I. Bekker), Leipzig 1855. Hershbell, J. P.: The Stoicism of Epictetus, in: ANRW III, 36, 3, Berlin/New York 1975, S. 2148 – 63. Hershbell, J. P.: Epictetus and Chrysippus, in: ICS 18 (1993), S. 139 – 146. Hieronymus, F.: LEKETG. bung, Lernen und angrenzende Begriffe, 2 Bd., Diss., Basel 1970. Hijmans, B. L.: ASJGSIS. Notes on Epictetus’ educational system, Assen 1959. Hirzel, R.: Der Dialog, Bd. 2, Leipzig 1895. Historia Augusta. Vita Marci, Rçmische Herrschergestalten, Bd. 1 von E. Hohl u. a., Zrich/Mnchen 1976. Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, begr. und hg. von G. Ueding, 13 Bnde, Tbingen 1971 – 2007. Hoellen, B.: Stoizismus und rational-emotive Therapie (RET), Kaiserslautern 1986. Hçlscher, U.: Der Logos bei Herakleitos, in: Varia Variorum. Festschrift fr K. Reinhardt, Mnster/Kçln 1952, S. 69 – 81. Hçlscher, U.: Anfngliches Fragen, Gçttingen 1963. Horn, Ch.: Antike Lebenskunst. Glck und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, Mnchen 1998. Horstmanshoff, H. J. F./Stol, M. (Hg.): Magic and rationality in ancient Near Eastern and Graeco-Roman medicine, Leiden/Boston 2004. Hossenfelder, M.: Stoa, Epikurismus und Skepsis (Geschichte der Philosophie, Bd. III, Die Philosophie der Antike 3, (hg. von W. Rçd), Mnchen 1985. Hossenfelder, M.: Philosophie als Lehre vom glcklichen Leben. Antiker und neuzeitlicher Glcksbegriff, in: Bellebaum, A. (Hg.): Glck und Zufriedenheit. Ein Symposion, Opladen 1992, S. 13 – 21. Hgli, A./Lbcke, P. (Hg.): Philosophielexikon, Reinbek bei Hamburg 1992, Eintrag „Philosophie“, S. 491 – 2. Hultin, N. C.: The Rhetoric of Consolation: Studies in the Development of consolatio mortis, Diss. John Hopkins University 1965. Hummel, A.: „Gnome, Gnomik“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tbingen 1997, S. 1014 – 1020.
Literatur
729
Humphries, M. L.: Michel Foucault On Writing and the Self in the Meditations of Marcus Aurelius and Confessions of St. Augustine, in: Arethusa 30 (1997), S. 125 – 138. Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999 (Paperback 2001). Ierodiakonou, K.: Stoic Logic, in: Gill, M. L./Pellegrin, P. (Hg.): A Companion to Ancient Philosophy, Oxford 2006, S. 505 – 529. Ingenkamp, H. G.: Plutarchs Schriften ber die Heilung der Seele, Gçttingen 1971. Inwood, B.: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985. Inwood, B.: Rhetorica Disputatio, The strategy of de Finibus II, in: Nussbaum, M. C. (Hg.): The Poetics of Therapy. Hellenistic Ethics and its Rhetorical and Literary Context, (=Apeiron 23, 1990), Edmonton 1990, S. 143 – 164. Inwood, B.: Review of Annas, J.: Morality and Happiness, in: Ancient Philosophy 15 (1995), S. 647 – 666. Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003. Inwood, B.: Seneca – der Erfinder des Selbst?, in: Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 273 – 296. Irwin, T.: Stoic Inhumanity, in: Sihovola, J./Engberg-Pedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, Dordrecht 1998, S. 219 – 242. Iser, W.: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, 3. Aufl., Konstanz 1972. Jackson, J.: Introduction, in: The Thoughts of Marcus Aurelius (transl. by J. Jackson), Oxford 1906, S. xxi. Jaeger, W.: Aristotle’s Use of Medicine as a Model of Method in his Ethics, in: Journal for the History of Science 77 (1957), S. 54 – 61. Jkel, S.: Das politische und gesellschaftliche Weltbild im Denken Marc-Aurels, in: Eos 80 (1992), S. 245 – 263. Jens, W. (Hg.): Die Bauformen der griechischen Tragçdie, Tbingen 1971. Jocelyn, H. D.: Diatribes and Sermons, in: LCM 7, 1 (1982), S. 3 – 7. Johann, H.-Th.: Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften ber den Tod, Mnchen 1968. Joly, J.-P.: Rflexions de l’Empereur Marc-Aurle Antonin, Drsde 1754. Joly, R.: Hippocrate, Du Regime, Berlin 1984. Jones, Ch. P.: Culture and Society in Lucian, Cambridge 1986. Kahn, Ch.: Stoic logic and Stoic logos, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 51 (1969), S. 158 – 172. Kahn, Ch.: The Art and Thought of Heraclitus, Cambridge 1979. Kahn, Ch.: Discovering the will: From Aristotle to Augustine, in: Dillon, J. M./ Long, A. A. (Hg.): The Question of „Eclecticism“: Studies in Later Greek Philosophy, Berkley 1988, S. 234 – 259. Kahn, Ch.: Plato and the Socratic Dialogue. The philosophical use of a literary form, Cambridge 1996. Kaimo, R.: The Romans and the Greek Language, Helsinki 1979. Kallhoff, A. (Hg.): M. C. Nussbaum. Ethics and Political Philosophy, Mnster 2000.
730
Literaturverzeichnis
Kant, I.: Metaphysik der Sitten (Akademie Ausgabe Abt. 1, Bd. 6), Berlin 1969. Kassel, R.: Untersuchungen zur Griechischen und Rçmischen Konsolationsliteratur, Mnchen 1958. Kasulke, Ch.: Fronto, Marc Aurel und kein Konflikt zwischen Philosophie und Rhetorik im 2. Jh. nach Christus, Mnchen 2005. Kennedy, G. A.: Classical Rhetoric and its Christian and Secular Tradition, North Carolina 1980. Kennedy, G. A.: Greek Rhetorik under Roman Emperors, Princeton 1983. Kerferd, G.: What does the Wise man know, in: Rist, J. M. (Hg.): The Stoics, Berkeley/Los Angeles/London 1978, S. 125 – 136. Kersting, W./Langbehn, C. (Hg.): Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007. Kersting, W.: Die Gegenwart der Lebenskunst, in: ders./Langbehn, C. (Hg.): Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 10 – 90. Kessler, H.: Philosophie als Lebenskunst, Sankt Augustin 1998. Kienast, D.: Rçmische Kaisertabelle, 2. Aufl., Darmstadt 1966. Kindstrand, J. F.: Bion of Borysthenes, Uppsala 1976. Kirk, G. S.: Heraclitus: The Cosmic Fragments, Cambridge 1954. Klein, J.: Art. „Beispiel“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tbingen 1992, S. 1430 – 1435. Klein, R. (Hg.): Marc Aurel, Darmstadt 1979. Kleve, K.: What kind of work did Lucretius write?, in: Symbolae Osloenses 54 (1979), S. 81 – 85. Knoche, U.: Der Gedanke der Freundschaft in Senecas Briefen, in: Maurach, G. (Hg.): Seneca als Philosoph, Darmstadt 1975, S. 149 – 166. Kobusch, Th.: Leben im Als-Ob. Zur Funktion der imaginativen bung in der antiken Philosophie, in: ZK Sonderheft, Hamburg 2002, S. 1 – 19. Kollesch, J.: Die ditetischen Aphorismen des sechsten Epidemienbuches und Herodikos von Selymbria, in: Baader, G./Winau, R. (Hg.): Die Hippokratischen Epidemien, Verhandlgg. d. Ve Colloque International Hippocratique, Berlin, 10.–15. 09. 1984, Stuttgart 1989, S. 191 – 197. Kovcs, P.: Marcus Aurelius’ Rain Miracle and the Marcomannic Wars, Leiden 2009. Krmer, H. J.: Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin 1971. Krmer, H. J.: Pldoyer fr eine Rehabilitierung der Individualethik, Amsterdam 1983. Krmer, H. J.: Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1992. Krug, A.: Heilkunst und Heilkult, Medizin in der Antike, Mnchen 1984. Kube, J.: TEXNH und ARETH, Sophistisches und platonisches Tugendwissen, Berlin 1969. Kullmann, W./Reichel, M. (Hg.): Der bergang von der Mndlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tbingen 1990. Kullmann, W./Althoff, J./Asper, M., J. (Hg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1998. Kurth, Th.: Senecas Trostschrift an Polybius. Ein Kommentar, Stuttgart/Leipzig 1994.
Literatur
731
Lakmann, M.-L.: Favorinus von Arelate. Aulus Gellius ber seinen Lehrer, in: Vir bonus dicendi peritus. Festschrift fr A. Weische zum 65. Geburtstag (Hg. B. Czapla/T. Lehmann/S. Liell), Wiesbaden 1997, S. 233 – 243. Landmann, M.: De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, Freiburg im Br. 1962 Langmann, G.: Die Markomannenkriege 166/7 bis 180, Wien 1991. Langhoff, V.: Generalisation und Aphorismen in den Epidemiebchern, in: Baader, G./Winau, R. (Hg.): Die Hippokratischen Epidemien. Verhandlgg. d. Ve Colloque International Hippocratique, Berlin, 10.–15. 09. 1984, Stuttgart 1989, S. 131 – 143. Langholf, V.: Syntaktische Untersuchungen zu Hippokrates-Texten. Brachylogische Syntagmen in den individuellen Krankheits-Fallbeschreibungen der hippokratischen Schriftensammlung, Wiesbaden 1977. Langholf, V.: Prognosen in der hippokratischen Medizin: Funktionen und Methoden. Probleme im Zusammenhang mit den Editionen der Schrift Koische Prognosen, in: Dçring, K./Wçhrle, G. (Hg.): Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, 2 Bnde, Bamberg 1992, S. 224 – 235. Langholf, V.: Structure and genesis of some hippocratic treatises, in: Horstmanshoff, H. J. F./Stol, M. (Hg.): Magic and rationality in ancient Near Eastern and Graeco-Roman medicine, Leiden/Boston 2004, S. 219 – 275. Lapidge M.: Archai und Stoicheia: A Problem in Stoic Cosmology, in: Phronesis 18 (1973), S. 240 – 278. Lapidge, M.: Stoic Cosmology, in: Rist, J. M. (Hg.): The Stoics, Berkeley/Los Angeles/London 1978, S. 161 – 186. Lasserre, F./Mudry, P. (Hg.): Formes des penses dans la Collection hippocratique. Actes de IVe Voll. Internat. Hippocratique, Genf 1983. Lattimore, R.: Themes in Greek and Latin Epitaphs, Illinois 1942. Lausberg, H.: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2. Aufl., Mnchen 1960. Leavis, F. R.: The Living Principle, London 1977. Lee, Ch.: Oikeiosis: Stoische Ethik in naturphilosophischer Perspektive, Freiburg 2002. Lejeune, Ph.: Der autobiographische Pakt, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998, S. 214 – 257. Leo, F.: Der Monolog im Drama. Ein Beitrag zur griechisch-rçmischen Poetik (Abhandlungen der kçniglichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Gçttingen. Philologisch-Historische Klasse. Neue Folge. Band X) Berlin 1908. LePore, E./McLaughlin, B. P. (Hg.): Actions and Events: Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, Oxford 1985. Lewis, R. G.: Imperial Autobiography, in: ANRW II 34, 1, Berlin/New York 1993, S. 629 – 706. Liebeschtz, J. H. G. W.: Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979. Lindsay, J.: The ethical Philosophy of Marcus Aurelius, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie 16 (1903), S. 252 – 299.
732
Literaturverzeichnis
Loisel, G. : A moi-mÞme, Paris 1926. Long, A. A. (Hg.): Problems in Stoicism, London 1971. Long, A. A.: Hellenistic Philosophy, Cambridge 1974. Long, A. A.: Heraclitus and Stoicism, in: Philosophia 5 – 6 (1975 – 6), S. 134 – 156. Long, A. A.: Body and Soul, in: Phronesis 27 (1982), S. 34 – 58. Long, A. A./Sedley, D.: The Hellenistic Philosophers, vol. II, Greek and Latin Texts with Notes and Bibliography, Cambridge 1987. Long, A. A.: Stoic Studies, Cambridge 1996. Long, A. A. (Hg.): Handbuch frhe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten, Stuttgart/Weimar 2001. Long, A. A.: Stoic Studies, Berkeley/Los Angeles/London 2001. Long, A. A.: Dialectic and the Stoic Sage, in: ders.: Stoic Studies, Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 85 – 106. Long, A. A.: Heraclitus and Stoicism, in: ders.: Stoic Studies, Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 35 – 57. Long, A. A.: Arius Didymus and the exposition of Stoic Ethics, in: ders.: Stoic Studies, Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 107 – 133. Long, A. A.: The logic basis of Stoic ethics, in: ders.: Stoic Studies, Berkeley/Los Angeles/London 2001, S. 134 – 155. Long, A. A.: Epictetus: a Stoic and Socratic guide to life, Oxford 2002. Long, G.: The Thoughts of the Emperor Marcus Aurelius Antonius, London 1862. Longrigg, J.: Elementary Physics in the Lyceum and Stoa, in: Isis 66 (1975), S. 211 – 229. Lonie, I. M.: Literacy and the Development of Hippocratic Medicine, in: Lasserre, F./Mudry, P. (Hg.): Formes des penses dans la Collection hippocratique, Actes de IVe Voll. Internat. Hippocratique, Genf 1983, S. 145 – 161. Luck, G.: Rez. zu Rabbow, P.: Seelenfhrung. Methode der Exerzitien in der Antike, Mnchen 1954, in: Gnomon 28 (1956), S. 268 – 71. Lukasiewicz, J.: Zur Geschichte der Aussagenlogik, in: Erkenntnis 5 (1935), S. 111 – 131. MacIntyre, A.: Pantheism, in: Edwards, P. (Hg.): The Encyclopaedia of Philosophy, New York 1967, S. 31 – 5. MacIntyre, A.: After Virtue, 2. Aufl., London 1985. MacIntyre, A.: Der Verlust der Tugend, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1985. MacIntyre, A.: Whose Justice? Which Rationality?, London 1988. MacMullen, R: Enimies of the Roman Order, Cambridge (Mass.) 1966. MacMullen, R.: Paganism in the Roman Empire, New Haven (Conn.) 1981. Magnaldi, G.: L’ Oikeiosis peripatetica in Ario Didimo e nel „De finibus“ di Cicerone, Florenz 1991. Maier, B.: Philosophie und rçmisches Kaisertum. Studien zu den wechselseitigen Beziehungen in der Zeit von Caesar bis Marc Aurel, Wien 1985. Malherbe, A. J.: Paul: Hellenistic Philosopher or Christian Pastor?, in: American Theological Library Association Proceedings 39 (1985), S. 86 – 98. Malherbe, A. J.: Moral Exhortation, Philadelphia 1986. Malherbe, A. J.: Paul and the Popular Philosophers, Philadelphia 1989.
Literatur
733
Manning, C. E.: On Seneca’s Ad Marciam, Leiden 1981. Mannsberger, B.: Die Rhesis, in: Jens, W. (Hg.): Die Bauformen der griechischen Tragçdie, Tbingen 1971, S. 143 – 182. Mansfeld, J.: Heraclitus on psychology and physiology of sleep and on rivers, in: Mnemosyne 20 (1967), S. 1 – 29. Marcus Cornelius Fronto: The Correspondance of Marcus Cornelius Fronto (ed. by C. R. Haines), Cambridge (Mass.) 1919. Marcus Cornelius Fronto: Correspondance (transl. C. R. Haines), Vol. I-II, Cambridge (Mass.) 1920. Marcus Cornelius Fronto: Epistulae (ed. M. P. J. van den Hout), Leipzig 1988. Marquard, O./Stierle, Karlheinz (Hg.): Identitt, Mnchen 1979. Martin, L. H. (Hg.) u. a.: Technologies of the Self. A Seminar with M. Foucault, Amherst 1988. Martinalloli, F.: La „Successio“ di Marco Aurelio, Bari 1951. Matejka, L./Pomorska K. (Hg.): Readings in Russian Poetics. Formalist and Structuralist Views, Cambridge (Mass.) 1971. Mates, B.: Stoic Logic, Berkeley 1953. Mates, B.: Stoic Logic, 2. Aufl., Berkeley/Los Angeles 1991. Matherson, P. E.: Epictetus: The discourses and the Manual, Oxford 1916. Maurach, G. (Hg.): Seneca als Philosoph, Darmstadt 1975. Maurach, G. (Hg.): Rçmische Philosophie, Darmstadt 1976. Maurach, G.: Geschichte der rçmischen Philosophie. Eine Einfhrung, Darmstadt 1997. McDonald, J. I. H.: Kerygma und Didache: The Articulation and the Structure of the Earliest Christian Message, Cambridge 1980. McLynn, F.: Marcus Aurelius. Warrior, Philosopher, Emperor, London 2009. Meerwaldt, J. D.: Cleanthea I, in: Mnemosyne, ser. IV 5 (1951), S. 54 – 57. Meinel, P.: Seneca ber seine Verbannung, Bonn 1972. Meyer, B. F./Sanders, E. P. (Hg.): Jewish and Christian Self-Definition. Vol. III: Self-Definition in the Greco-Roman World, Philadelphia 1983. Meyer, M. (Hg.): Zur Geschichte des Dialoges, Philosophische Positionen von Sokrates bis Habermas, Darmstadt 2006. Meyer, M. F.: Der Mensch als Lebewesen. Zur Stellung des Menschen in der biologischen Wissenschaft des Aristoteles, unverçffentlichte Habilitationsschrift, Koblenz 2006. Mill, J. St.: Utilitarianism, Glasgow 1985. Millar, F.: A Study of Cassius Dio, Oxford 1967. Mirgeler, J.: Die Stellung des Menschen in der Gesellschaft der ausgehenden Antike entwickelt aus den Selbstgesprchen Marc Aurels, Diss., Kçln 1948. Misch, G.: Die Geschichte der Autobiographie, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1949 – 1969. Misch, G.: Geschichte der Autobiographie, Bd. I 2, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1950. Mitsis, Ph.: Committing Philosophy on the Reader: Didactic Coersion and Reader Autonomy in de Rerum Natura, in: Clay, J. S. et. al. (Hg.): Mega Nepioi: Il Destinatario nell’ Epos Didascalico, edd. J. S. Clay et al, Materiali e Discussione 31, Pisa 1993, S. 111 – 128.
734
Literaturverzeichnis
Mitsis, Ph.: The Stoic Origin of Natural Rights, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, S. 153 – 177. Mojsisch, B.: Refexionen zur Methodologie bei Platon und Aristoteles, in: Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 167 – 177. Moles, J. L.: The Career and Conversions of Dio Chrysostom, in: Journal of Hellenic Studies 98 (1978), S. 79 – 100. Momigliano, A.: The Development of Greek Biography, Cambridge (Mass.) 1971. Monti, E.: Marc Aurel. Kaiser aus Pflicht, Regensburg 2000. Moos, P.: Consolatio, Studien zur mittelalterlichen Trostliteratur ber den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, 4 Bd, Mnchen 1971 – 2. Most, G. W.: Die Poetik der frhen griechischen Philosophie, in: Long, A. A. (Hg.): Handbuch frhe griechische Philosophie. Von Thales bis zu den Sophisten, Stuttgart/Weimar 2001, S. 304 – 311. Mhlenberg, J./Oort, J. v. (Hg.): Predigt in der Alten Kirche, Kampen 1994. Mnzer, F.: Adelsparteien und Adelsfamilien Stuttgart 1920. Murry, O.: Peri Basileias, Oxford 1970. Nestle, W.: Griechische Geistesgeschichte, Stuttgart 1944. Nestle, W.: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1949. Neuman, B.: Identitt und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970. Neuenschwander, R.: Mark Aurels Beziehungen zu Seneca und Poseidonius, Bern 1951. Neukam, P. (Hg.): Motiv und Motivation, Mnchen 1993. Newman, R. J.: Cotidie meditare. Theory and Practice of the meditation in Imperial Stoicism, in: ANRW III, 36, 3, Berlin/New York 1975, S. 1473 – 1517. Nida-Rmelin, J. (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 1996. Nida-Rmelin, J.: Theoretische und angewandte Ethik, in: ders. (Hg.): Angewandte Ethik, Stuttgart 1996, S. 2 – 85. Niebuhr, K.-W.: Gesetz und Parnese: katechismusartige Weisungsreihen in der frhjdischen Literatur, Tbingen 1987. Niehues-Prçbsting, H.: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, Mnchen 1979. Niehues-Prçbsting, H.: Antike Philosophie im Medium der Anekdote, in: Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.):Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 316 – 331. Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998. Niggl, G.: Zur Theorie der Autobiographie, in: Reichel, M. (Hg.): Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Kçln/Weimar/Wien 2005, S. 1 – 14.
Literatur
735
Norden, E: Agnostos Theos. Untersuchung zur Formgeschichte religiçser Rede, Berlin 1913. Nussbaum, M./Schofield, M. (ed.): Language and Logos, Cambridge 1982. Nussbaum, M.: The Fragility of Goodness, Luck and Ethics in Greek and Latin Literature, Cambridge 1986. Nussbaum, M. C. (Hg.): The Poetics of Therapy. Hellenistic Ethics and its Rhetorical and Literary Context, (=Apeiron 23, 1990), Edmonton 1990. Nussbaum, M. (Hg.): Love’s Knowledge, Oxford 1990. Nussbaum, M.: „Finely Aware and Richly Responsible“: Literature and Moral Imagination, in: dies. (Hg.): Love’s Knowledge, Oxford 1990, S. 148 – 167. Nussbaum, M./Sen, A. (Hg.): The Quality of Life, Oxford 1992. Nussbaum, M.: Non-Relative Virtues: An Aristotelian Approach, in: Nussbaum, M./Sen, A. (Hg.): The Quality of Life, Oxford 1992, S. 242 – 276. Nussbaum, M.: Human Functioning and Social Justice: In Defense of Aristotelian Essentialism, in: Political Theory 20 (1992), S. 202 – 247. Nussbaum, M.: The Transfiguration of Everyday Life, in: Metaphilosophy 25 (1994), S. 238 – 261. Nussbaum, M.: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994. Nussbaum, M.: Patriotism and Cosmopolitism, in: The Boston Review 19/5 (1994), – wiederabgedruckt in Nussbaum, M.: For Love of Country, Boston 2002, S. 3 – 20. Nussbaum, M. C.: Eros and Wise: The Stoic Response to a Cultural Dilemma, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 13 (1995), S. 231 – 267. Nussbaum, M. C.: Political Animals: Luck, Love and Dignity, in: Metaphilosophy 19 (1998), S. 273 – 287. Nussbaum, M.: Love, Literature and Human Universals, Comments on the Papers, in: Kallhoff, A. (Hg.): M. C. Nussbaum. Ethics and Political Philosophy, Mnster 2000, S. 129 – 152. Nussbaum, M.: The Upheavals of thought. The intelligence of Emotions, Cambridge 2001. Nussbaum, M.: „ Kosmopolitismus heute: Tatschliche Chancen aller auf ein vollauf gutes Leben. Interview mit Martha C. Nussbaum. Angela Kallhoff“, in: Zeitschrift fr Didaktik der Philosophie und Ethik (2001), S. 5 – 13. Nussbaum, M.: For Love of Country, Boston 2002. Obbink, D.: The Stoic Sage in the Cosmic City, in: Ierodiakonou, K. (Hg.): Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, S. 178 – 195. Oliver, J. H.: Marcus Aurelius. Aspects of civic and cultural policy in the east, Princeton 1970. Oliver, J. H.: The Civic Tradition and Roman Athens, Baltimore 1983. Oltramare, A.: Les Origines de la Diatribe Romaine, Thse Genve 1926. Overwien, O.: Das Gnomologium, das Gnomologium Vaticanum und die Tradition, in: Gçttinger Forum fr Altertumswissenschaft 4 (2001), S. 99 – 131. Parker, R.: Miasma, Oxford 1983. Pascal, R.: Die Autobiographie, Stuttgart 1965. Paulakos, T.: Speaking for the Polis. Isocrates’ Rhetorical Education, Columbia 1997.
736
Literaturverzeichnis
Pearson, A. C.: The Fragments of Zenon and Cleanthes, Cambridge 1891. Perdue, L. G./ Gammie, J. G. (Hg.): Paraenesis: Act and Form, Atlanta 1990. Perdue, L. G.: The Social Character of Paraenesis, in: ders./Gammie, J. G. (Hg.): Paraenesis: Act and Form, Atlanta 1990, S. 5 – 40. Perdue, L. G.: The Death of the Sage and Moral Exhortation: From Ancient Near Eastern Instructions to Graeco-Roman Paraenesis, in: Seimeia 50 (1990), S. 81 – 110. Perry, E.: Secundus the Silent Philosopher, New York 1964. Petit, P.: La Paix romaine, Paris 1967. Pflaum, K. B.: Le valeur la source inspiratice de la vita Hadriani et la vita Marci Antonini la lumire des personalits contemporaines nommment cites, in: Historia Augusta Colloquium 1968/69 (1970), S. 199 – 232. Pçppel, O.: Die hippokratische Schrift Jyiaja· pqocm¾seir und ihre berlieferung, (Diss.), Hamburg 1959. Pçschl, V. (Hg.): Bibliographie zur antiken Bildersprache, Heidelberg 1964. Pçtscher, W.: Theophrastos, Peri Eusebeias, Leiden 1964. Pohlenz, M.: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 1, Gçttingen 1948. Pohlenz, M.: Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 1, 6. Aufl., Gçttingen 1984. Popkens, W.: Parnese und Neues Testament, Stuttgart 1996. Potter, P./Wright, J. P. (Hg.): Psyche and Soma: Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body-Problem from Antiquity to Enlightment, Oxford 2000. Pownell, F.: Lessons from the past: The moral use of history in fourth-century prose, Ann Arbor 2003. Price, A. W.: Plato – Freud, in: Gill, Ch. (Hg.): The Person and the Human Mind: Issues in Ancient and Modern Philosophy, Oxford 1990, S. 247 – 70. Price, S. R. F.: The Journal of Roman Studies 72 (1982), S. 194 – 196 (L. Fox in: The Journal of Roman Studies 76 (1986), S. 304 – 305). Puech, A.: Prface, in: Marc Aurle, Penses, ed. A. I. Trannoy, 2. Aufl., Paris 1962. Puech, B./Gonzales, P. P. G.: pictte, in: Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 3 (hg. von R. Goulet), a.a.O., S. 106 – 151. Quante, M./Vieth, A.: Angewandte Ethik oder Ethik in der Anwendung? berlegungen zur Weiterentwicklung des principlism, in: Jahrbuch fr Wissenschaft und Ethik 5 (2000), S. 5 – 34. Quante, M./Vieth, A.: Konkrete Ethik, in: Gesang B. (Hg.): Biomedizinische Ethik, Paderborn 2002, S. 62 – 85. Rabbow, P.: Seelenfhrung. Methode der Exerzitien in der Antike, Mnchen 1954. Radice, R.: „Oikeiosis“: ricerche sul fondamento del pensiero stoico e sulla sua genesi, Milano 2000. Randall, J. H. Jr.: The Career of Philosophy, 2 Bd., Cambridge 1969. Rapp, Ch.: Aristoteles, Rhetorik, bers. und erl. von Ch. Rapp, 2. Halbband, Berlin 2003. Rapp, Ch.: Der Erklrungswert von Entwicklungshypothesen. Das Beispiel der Aristoteles-Interpretation, in: Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 178 – 195.
Literatur
737
Rawson, E.: Roman Rulers and the Philosophical Adviser, in: Griffin, M./Barnes, J. (Hg.): Philosophia Togata. Essays on Philosophy and Roman Society, Oxford 1989, S. 233 – 258. Reale, G.: The Schools of the Imperial Age, New York 1990. Reardon, B. R.: L’autobiographie l’poque de la seconde sophistique: quelques conclusions, in: Baslez, M.-F./Hoffmann, P./Pernot, L. (Hg.): L’invention de l’autobiographie, d’Hesiode St. Augustin, Paris 1993, S. 279 – 284. Rees, D. A.: Rez. zu Martinalloli, F.: La „Successio“ di Marco Aurelio, Bari 1951, in: Gnomon 24 (1952), S. 274 – 277. Reesors, M. E.: The Stoic Concept of Quality, in: American Jourunal of Philology 75 (1957), S. 63 – 82. Reichel, M. (Hg.): Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen, Kçln/ Weimar/Wien 2005. Reinhardt, K.: Poseidonius, Mnchen 1921. Reinhardt, K.: Kosmos und Sympathie, Mnchen 1926. Reinhardt, K.: Poseidonius ber Ursprung und Entartung, Orient und Antike VI, Heidelberg 1926. Reinhardt, K.: Heraklits Lehre vom Feuer, in: Hermes 77 (1942), S. 1 – 27. Reinhardt, K.: Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1985. Reiser, M.: Syntax und Stil des Markusevangeliums im Licht der hellenistischen Volksliteratur, Tbingen 1984. Renan, E.: Histoire des origines du Christianisme VII: Marc Aurle et la fin du monde antique, Paris 1882. Reydams-Schils, G.: Philo of Alexandria on Stoic and Platonic Psycho-Physiology: The Socratic Higher Ground, in: Ancient Philosophy 22 (2002), S. 125 – 147. Reydams-Schils, G.: Human Bonding and Oikeiosis in Roman Stoicism, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 22 (2002), S. -221-251. Reydams-Schils, G.: The Roman Stoics, Chicago 2005. Rist, J. M.: Stoic Philosophy, Cambridge 1969. Rist, J. M.: Zeno and Stoic Consistency, in: Phronesis 22 (1977), S. 161 – 172. Rist, J. M. (Hg.): The Stoics, Berkeley/Los Angeles/London 1978. Rist, J. M.: Are you a Stoic? The Case of Marcus Aurelius, in: Meyer, B. F./Sanders, E. P. (Hg.): Jewish and Christian Self-Definition, Vol. III: Self-Definition in the Greco-Roman World, Philadelphia 1983, S. 23 – 45. Robinson, T. M.: Heraclitus, Toronto 1991. Rçd, W.: Geschichte der Philosophie, Die Philosophie der Antike, Bd. 1, Mnchen 1988. Rohde, E.: Der griechische Roman und seine Entstehung, Leipzig 1876. Rorty, R. (Hg.): The Identity of Persons, Berkeley 1976. Roselli, A.: Epidemics and Aphorisms: Notes on the History of Early Transmission of Epidemics, in: Baader, G./Winau, R. (Hg.): Die Hippokratischen Epidemien, Verhandlgg. d. Ve Colloque International Hippocratique, Berlin, 10.–15. 09. 1984, Stuttgart 1989, S. 182 – 195. Rosen, K.: Die angebliche Samtherrschaft von Marc Aurel und Lucius Verus, in: Bonamente, G./Duval, N.: Historiae Augustae Colloquium Parisinum, Macerata 1991, S. 271 – 285.
738
Literaturverzeichnis
Rosen, K.: Herrschaftstheorie und Herrschaftspraxis bei Marc Aurel. Eine antike Kontroverse, in: Neukam, P. (Hg.): Motiv und Motivation, Mnchen 1993, S. 94 – 105. Rosen, K.: Marc Aurel und das Ideal des civilis princeps, in: Schçllgen, G./ Scholten, C. (Hg.): Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift fr Ernst Dassmann, Mnster 1996, S. 154 – 160. Rosenmeyer, T. C.: Decision-Making, in: Nussbaum, M. C. (Hg.): The Poetics of Therapy. Hellenistic Ethics and its Rhetorical and Literary Context, (=Apeiron 23, 1990), Edmonton 1990, S. 187 – 218. Roskam, G.: On the Path to Virtue. The Stoic Doctrine of Moral Progress an its Reception in (Middle-)Platonism, Leuven 2005. Rousseau, L. C. T.: Morale de Marc-Aurle, Empereur Romain, Paris 1798. Rues, H.: Gesundheit, Krankheit, Arzt bei Plato, Diss., Tbingen 1957. Russell, D. A.: Plutarch, London 1973. Russell, D. A. (Hg.): Antonine Literature, Oxford 1990. Russell, B.: History of Western Philosophy, London 1946. Rutherford, R. B.: The Meditations of Marcus Aurelius. A Study, Oxford 1989. Sandbach, F. H.: The Stoics, London 1975. Sandkhler, H. J. (Hg.): Europische Enzyklopdie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 3, L-Q, Hamburg 1997, Eintrag „Philosophie“, S. 672 – 688. Sandkhler, H. J. (Hg.): Enzyklopdie Philosophie, unter Mitwirkung von D. Ptzold, A. Regenbogen, P. Stekeler-Weithofer, Bd. 2 O-Z, Hamburg 1999, Eintrag „Philosophie“, S. 1021 – 1249. Schadewaldt, W.: Monolog und Selbstgesprch. Untersuchungen zur Formgeschichte der griechischen Tragçdie, Berlin 1926. Schublin, Ch.: Zum paganen Umfeld der christlichen Predigt, in: Mhlenberg, J./Oort, J. v. (Hg.): Predigt in der Alten Kirche, Kampen 1994, S. 25 – 49. Schall, U.: Marc Aurel. Der Philosoph auf dem Caesarenthron, Mnchen 1991. Schekira, R.: De imperatoris Marci Aurelii Antoninii librorum t± eQr 2autºm sermone quaestiones philosophicae et grammticae, Diss., Greifswald 1919. Schenkl, H.: Epicteti dissertationes ab Arriano digestae, ad fidem codicis Bodleiani iterum recensuit, 2. Aufl., Leipzig 1916. Schindler-Horstkotte, G.: Der Markomannenkrieg Marc Aurels und die kaiserliche Reichsprgung, Diss., Kçln 1985. Schmeller, Th.: Paulus und die „Diatribe“. Eine vergleichende Stilinterpretation, Mnster 1987. Schmid, W.: Selbstsorge. Zur Biographie eines Begriffes, in: Endreß, M. (Hg.): Zur Grundlegung einer integrativen Ethik. Fr Hans Krmer, Frankfurt 1995, S. 98 – 129. Schmid, W.: Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2000. Schmidt, E. G.: Diatribe und Satire, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universitt Rostock, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 15 (1966), S. 507 – 519. Schmidt, E. G.: „Diatribai“, in: Der Kleine Pauly, Nachtrge z. Bd. 2, Stuttgart 1967, S. 1577 – 8. Schmidt, J. U.: Adressat und Parneseform. Zur Intention von Hesiods Werken und Tagen, Gçttingen 1986.
Literatur
739
Schçllgen, G./Scholten, C. (Hg.): Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift fr Ernst Dassmann, Mnster 1996. Schofield, M.: Eubolia in the Iliad, in: Classical Quarterly, NS 36 (1986), S. 6 – 31. Schofield, M.: The Stoic Idea of the City, Cambridge 1991. Schofield, M.: Stoic Ethics, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 233 – 256. Schrçder, S.: Philosophische und medizinische Ursachensystematik und der stoische Determinismus, in: Prometheus 15(1989), S. 209 – 239 und Prometheus 16 (1990), S. 5 – 26 und 137 – 154 Schwendebaum, J.: Der historische Wert der der vita Marci bei den Scriptores Historia Augusta, Heidelberg 1923. Scully, S.: The Language of Achilles: the iwh¶sar Formulas, in: Transactions of the American Philological Association 114 (1984), S. 11 – 27. Searby, D. M.: Aristotle in the Greek Gnomological Tradition, Uppsala 1998. Sedley, D.: The Soul, from Zeno to Arius Didymus, in: Inwood, B. (Hg.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 7 – 32. Seel, M.: Philosophie. Eine Kolumne. Die Wiederkehr der Ethik des guten Lebens, in: Merkur 45 (1991), S. 37 – 49. Sellars, J.: The Art of Living. The Stoics on the Nature and Function of Philosophy, Aldershot 2003. Seneca: L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften, Lateinisch und Deutsch, (Sonderausgabe, lat. Text von A. Bourgery und R. Waltz; hg. von M. Rosenbach; bers., eingel. und mit Anm. versehen von M. Rosenbach), Darmstadt 1999. Sensing, T.: Towards a Definition of Paraenesis, in: Restoration Quarterly 38 (1996), S. 145 – 58. Sharples, R. W.: Alexander of Aphrodisias De Fato: some parallels, in: Classical Quarterly 28 (1978), S. 243 – 266. Sharples, R. W.: „Why Has My Spirit Spoken With Me Thus?“ Homeric-Decision-Making, in: Greece and Rome 30 (1983), S. 1 – 7. Sharples, R. W./Sorabji, R. (Hg.): Greek and Roman Philosophy 100 BC – 200 AD, Vol. I und II, London 2007. Siep, L.: Subjektivitt und konkrete Ethik, in: Heidemann, D. H. (Hg.): Probleme der Subjektivitt, Stuttgart 2002, S. 165 – 183. Sihovola, J./Engberg-Pedersen, T. (Hg.): The Emotions in Hellenistic Philosophy, Dordrecht 1998. Smith, P./Jones, O. R.: The Philosophy of Mind. An Introduction, Cambridge 1986. Snell, B.: Die Ausdrcke fr den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1924. Snell, B.: Die Sprache Heraklits, in: Hermes 61 (1926), S. 353 – 381. Snell, B.: Aischylos und das Handeln im Drama, in: Philologus Supplementband 20 (1928), S. 1 – 164. Snell, B.: Das Bewusstsein von eigenen Entscheidungen im frhen Griechentum, in: Philologus 85 (1930), S. 141 – 158. Snell, B.: Die Entdeckung des Geistes, 4. Aufl., Gçttingen 1975.
740
Literaturverzeichnis
Soffel, J.: Die Regel Menanders ber die Leichenrede, in ihrer Tradition dargestellt, hg., bers. und komm., Meisenheim am Glan 1974. Sonnenfels, J. v.: Briefe ber die Wienerische Schaubhne, Wien 1768. Sorabji, R.: Animal Minds and Human Morals. The Origins of the Western Debate, London 1993. Sorabji, R.: Emotions and the Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation, Oxford 2002. Sorabji, R.: What is new on emotion in Stoicism after 100 BC?, in: Sharples, R. W./ders. (Hg.): Greek and Roman Philosophy, 100 BC-200AD, London 2007, S. 172 – 4. Sorabji, R.: What is new on the self in Stoicism in the Imperial period, in: Sharples, R. W./ders. (Hg.): Greek and Roman Philosophy, 100BC – 200AD, London 2007, S. 141 – 163. Staden, H. v.: Body, Soul, and Nerves: Epicurus, Herophilos, Erasistratus, in: Potter, P./Wright, J. P. (Hg.): Psyche and Soma: Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body-Problem from Antiquity to Enlightment, a.a.O., S. 79 – 116. Staden, H. v.: Gattung und Gedchtnis. Galen ber Wahrheit und Lehrdichtung, in: W. Kullmann, J. Althoff, M. Asper (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tbingen 1998, 65 – 94 Stanford Encyclopedia of Philosophy (ed. by E. Zalta), Winteredition 2008 URL: http://www.science.uva.nl. Stanton, G. R.: Sophists and Philosophers: Problems of Classification, in: American Journal for Philosophy 94 (1963), S. 350 – 64. Stanton, G. R.: The cosmopolitan ideas of Epictetus and Marcus Aurelius, in: Phronesis 13 (1968), S. 183 – 195. Stanton, G. R.: Marcus Aurelius, Emperor and Philosopher, in: Historia 18 (1969), S. 570 – 587. Stanton, G. R.: Marcus Aurelius, Lucius Verus, and Commodus, in: ANRW III, 36, 3, Berlin/New York 1975, S. 478 – 549. Starobinski, J.: Der Stil der Autobiographie, in: Niggl, G. (Hg.): Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2., um ein Nachw. zur Neuausg. und einen bibliogr. Nachtr. erg. Aufl., Darmstadt 1998, S. 200 – 213. Starr, J./Engberg-Pedersen, T. (Hg.): Early Christian paraenesis in context, Berlin 2005. Steinbrink, B./Ueding, G.: Grundriß der Rhetorik, Stuttgart 1986. Steinbrink, B./Ueding, G.: Grundriss der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, 5. Aufl., Stuttgart 2005. Steinmetz, P.: Die Stoa, (Grundriß der Geschichte der Philosophie, hg. von Fr. berweg), vçllig neu bearbeitete Ausgabe, Die Philosophie der Antike Bd. 4/ 2, Die hellenistische Philosophie, 2. Halbband, hg. von Hellmut Flashar), Basel 1994. Stemmer, K. (Hg.): Marc Aurel und seine Zeit, Berlin 1988. Stemmer, K.: Einleitung, in: ders. (Hg.): Marc Aurel und seine Zeit, Berlin 1988, S. XII.
Literatur
741
Stoicorum veterum fragmenta, Bd. 1 – 3 (hg. und ed. von H. von Arnim), Leibzig 1903, Bd. 4 Indizes (M. Adler) Leipzig 1924. Stowers, S. K.: The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, Chico 1981. Stowers, S. K.: The Diatribe, in: Aune, D. (Hg.): Greco-Roman Literature and the New Testament, Atlanta 1984, S. 74 – 81. Stowers, S. K.: Social Status, Public and Private Teaching: The Circumstances of Paul’s Preaching Activity, in: Novum Testamentum 26 (1984), S. 59 – 82. Stowers, S. K./G. L.: Art. „Diatribe“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. X, Heidelberg 2000, S. 627 – 633. Straub, J./Alfçldi, A. (Hg.): Historia Augusta Colloqium 1963, Bonn 1964. Strawson, P. F.: Freedom and Resentment, in: ders.: Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 1 – 25. Striker, G.: Following Nature: A Study in Stoic Ethics, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 9 (1991), S. 1 – 73. Striker, G.: Essays on Hellenistic epistemology and ethics, Cambridge 1996. Striker, G.: Papers in Hellenistic Ethics and Epistemology, Cambridge 1996. Striker, G.: Origins of the Concept of Natural Law, in: ders.: Papers in Hellenistic Ethics and Epistemology, Cambridge 1996, S. 209 – 220. Stroh, W.: Marc Aurel in Carnuntum, in: Nachrichten der Gesellschaft der Freunde Carnuntums 2 (1998), S. 2 – 11. Studnik, H.-H.: Die Consolatio Mortis in Senecas Briefen, Diss., Kçln 1958. Sullivan, S. D.: How a person relates to thymos in Homer, in: Indogermanische Forschungen 85 (1980), S. 138 – 150. Syme, R.: Ammianus and the Historia Augusta, Oxford 1968. Szaif, J./Lutz-Bachmann, M. (Hg.): What is good for a human being? Human nature and values / Was ist das fr den Menschen Gute? Menschliche Natur und Gterlehre, Berlin 2004. Szaif, J.: Die Aletheia in Platons Tugendlehre, in: Ackeren, M., v. (Hg.): Platon Verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004, S. 183 – 209. Tatum, J.: Apuleius and the Golden Age, Ithaca/London 1979. Taylor, Ch.: Hegel, Cambridge 1977. Taylor, Ch.: The Person, in: Carrithers, M./Collins, S./Lukes, S. (Hg.): The Category of the Person: Anthropology, Philosophy, History, Cambridge 1985, S. 257 – 81. Taylor, Ch.: Sources of the Self: The Making of Modern Identity, Cambridge 1989. Theiler, W.: Die Vorbereitung des Neuplatonismus, Problemata I, Berlin 1930. Theiler, W.: Tacitus und die antike Schicksalslehre, in: Gigon, O. (Hg.) u. a.: Phyllobolia, (Fr Peter von der Mhl zum 60. Geburtstag am 1. August 1945), Basel 1946, S. 35 – 90. Theiler, W.: Einfhrung, in: Kaiser Marc Aurel: Wege zu sich selbst, hg. und bertr. von W. Theiler, Zrich 1951, S. 7 – 22. Thesaurus Linguae Graecae (siehe dazu Thesaurus Linguae Graecae. Canon of Greek Authors and Works (third edition, by Luci Berkowitz and Karl A. Squitier), New York/Oxford 1990. Thom, J.: The Pythagorean Golden Verses, Leiden u. a. 1995.
742
Literaturverzeichnis
Thom, D.: Erzhle Dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, Mnchen 1998. Thomas, K.: Man in the Natural World, London 1983. Thyen, H.: Der Stil der Jdisch-Hellenistischen Homilie, Gçttingen 1955. Tiede, D.: The Charismatic Figure as Miracle-Worker, Missoula 1972. Tieleman, T.: Chrysippus’ On Affection. Reconstruction and Interpretation, Leiden 2003. Todd, R. B.: Monism and Immanence: the foundations of Stoic Physics, in: Rist, J. M. (Hg.): The Stoics, Berkeley/Los Angeles/London 1978, S. 137 – 160. Tran, S. L.: The Art of Variation in Hellenistic Epigram, Leiden 1979. Trannoy, M.: Einfhrung, in: Marc Aurle, Penses, 2. Aufl., Paris 1962 (Bud Ausgabe), S. vii. Travlos, J.: Pictorial Dictionary of Ancient Athens, London 1971. Trillitzsch, W.: Senecas Beweisfhrung, Berlin 1961. Tsekourakis, D.: TO STOWEIO TOU DIAKOCOU STGM JUMIKOSTYIJG „DIATQIBG“, in: Hellenica 32 (1980), S. 61 – 78. Tsyouyopoulos, N.: Die hippokratische Schrift „Peri TrophÞs“. Physiologie zwischen Aristoteles und Heraklit, in: Wittern, P./Pellegrin, P. (Hg.): Hippokratische Medizin und antike Philosophie, Hildesheim/Zrich/New York, 1996, S. 77 – 86. Tumanov, V.: Mind reading. Unframed direct interior monologue in European fiction, Amsterdam u. a. 1997. Ulfig, A.: Lexikon der philosophischen Grundbegriffe, Eltville am Rhein 1992, Eintrag „Philosophie“, S. 319 – 322. Usener, K.: „Schreiben“ im Corpus Hippocraticum, in: Kullmann, W./Reichel, M. (Hg.): Der bergang von der Mndlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tbingen 1990, S. 291 – 300. Vallozza, M.: Art.: „Adhortatio“, in: Historisches Wçrterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tbingen 1992, S. 100 – 4. Van-der Waerdt, P.: Politics and Philosophy in Stoicism, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 9 (1991), S. 185 – 211. Van-der Waerdt, P. (Hg.): The Socratic Movement, Ithaca/N.Y. 1994. Van-der Waerdt, P.: Zeno’s Republic and the Origins of Natural Law, in: ders. (Hg.): The Socratic Movement, Ithaca/N.Y. 1994, S. 272 – 308. Varia Variorum. Festschrift fr K. Reinhardt, Mnster/Kçln 1952. Verdenius, W. J.: Der Logos-Begriff bei Heraklit und Parmenides, in: Phronesis 11 (1966), S. 81 – 98. Versnel, H.: Inconsistencies in Greek and Roman Religion, I, Leiden 1990. Veyne, P.: Le dernier Foucault et sa morale, in: Critique 471 – 472 (1986), S. 935 – 948. Veyne, P.: Seneca: the life of a Stoic, London 2003. Voigt, Ch.: berlegung und Entscheidung. Studien zur Selbstauffassung des Menschen, Berlin 1943. Vogt, K. M.: Plutarch ber Zenons Traum, in: Ackeren, M., v./Mller, J. (Hg.): Understanding Ancient Philosophy – Antike Philosophie verstehen. Beitrge zu Methode und Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 196 – 217.
Literatur
743
Vogt, K. M.: Law, Reason, and the Cosmic City. Political Philosophy in the Early Stoa, Oxford 2008. Volkmann, R.: Die Rhetorik der Griechen und Rçmer in systematischer bersicht, 2. Aufl., Leipzig 1855. Walker, B.: The Annals of Tacitus, Manchester 1952. Wallach, B. P.: A History of the Diatribe from its Origins up to the First Century B.C. and a Study of the Influence of the Genre upon Lucretius, III 830 – 1094, Diss. Illinois 1974. Wallach, B. P.: Lucretius and the Diatribe Against Fair of Death. De rerum natura III 830 – 1094, Leiden 1976. Watson, G.: The Natural Law and Stoicism, in: Long, A. A. (Hg.): Problems in Stoicism, London 1971, S. 216 – 238. Weber, G.: Traum und Alltag in hellenistischer Zeit, in: Zeitschrift fr Religionsund Geistesgeschichte 50 (1998), S. 22 – 39. Wehner, B.: Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, (Diss. Freiburg), Stuttgart 2002. Welleck, R./Warren A.: Theory of Literature, New York 1949. Wells, L.: The Greek Language of Healing from Homer to the New Testament Times, Berlin/New York 1998. Wendland, P./Kern, O.: Beitrge zur Geschichte der griechischen Philosophie und Religion, Berlin 1895. Wendland, P.: Philon und die kynisch-stoische Diatribe, in: ders./Kern, O.: Beitrge zur Geschichte der griechischen Philosophie und Religion, Berlin 1895, S. 1 – 75. Wendland, P.: Die hellenistisch-rçmische Kultur. Handbuch zum NT, Tbingen 1907. West, M. L.: Early Greek Philosophy and the Orient, Oxford 1971. West, M. L.: Towards Monotheismus, in: Athanassiadi, P./ Frede, M. (Hg.): Pagan Monotheismus in Late Antiquity, Oxford 1999, S. 21 – 41. White, M. J.: Stoic Natural Philosophy (Physics and Cosmology), in: Inwood, B.: The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge 2003, S. 124 – 152. White, N.: The role of physics in Stoic ethics, in: The Southern Journal of Philosophy 23, supplement (1985), S. 57 – 74. White, N.: Individual and conflict in Greek ethics, Oxford 2002. Whitehorne, J. E. G.: Was Marcus Aurelius a hypochondriac?, in: Latomos 36 (1977), S. 413 – 421. Wiggins, D.: Heraclitus’ conception of flux, fire and material persistence, in: Nussbaum, M./Schofield, M. (ed.): Language and Logos, Cambridge 1982, S. 1 – 31. Wilamowitz-Moellendorff, U. v.: Kaiser Marcus, Berlin 1931. Wilhelm, A.: Ein Brief der Kaiserin Plotina, in: Jahreshefte des sterreichischen Archologischen Instituts in Wien 2 (1899), S. 269 – 279. Wilken, R.: The Christians as the Romans Saw Them, New Haven (Conn.) 1983. Wilkes, K. V.: Real People: Personal Identity without Thought Experiments, Oxford 1988. Williams, B.: Problems of the Self: Philosophical Papers, London 1973.
744
Literaturverzeichnis
Williams, B.: Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985. Williams, B.: Shame and Necessity, Berkeley 1993. Williams, G.: Tradition and Originality in Roman Poetry, Oxford 1968. Willms, L.: Rez. zu Wehner, B.: Die Dialogstruktur in Epiktets Diatriben, (Diss. Freiburg), Stuttgart 2002, in: Gymnasium 110 (2003), S. 396 f. Willms, L.: Rez. zu Long, A. A.: Epictetus: a Stoic and Socratic guide to life, Oxford 2002, in: Gnomon 77 (2005), S. 304 – 307. Wilpert, G. von: Sachwçrterbuch der Literatur, 7. Aufl., Stuttgart 1989. Wilson, W. T.: Love without Pretense: Romans 12, 9 – 21 and Hellenistic-Jewish Wisdom Literature, Tbingen 1991. Wippert, O.: Alexander-Imitatio und rçmische Politik, Diss., Wrzburg 1972. Wiseman, T. P.: Clio’s Cosmetic, Leicester 1979. Wittern, P./Pellegrin, P. (Hg.): Hippokratische Medizin und antike Philosophie, Hildesheim/Zrich/New York, 1996. Wçrterbuch der philosophischen Begriffe, begr. Von F. Kirchner und C. Michaelis, fortgesetzt von Johannes Hoffmeister, vollstndig berarbeitet und neu hg. von A. Regenbogen und U. Meyer, Hamburg 2006. Wolf, U.: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Hamburg 1999. Wollheim, R./Hopkins, J.: Philosophical Essays on Freud, Cambridge 1982. Wright, F. A.: A History of Later Greek Literature, London 1932. Xenakis, I.: Epictetus. Philosopher-Therapist, The Hague 1969. Zehnpfennig, B. (Hg.): Die Herrschaft der Gesetze und die Herrschaft des Menschen – Platons „Nomoi“, Berlin 2008. Zeller, E.: Die Autobiographie. Selbsterkenntnis und Selbstentblçßung, Mainz 1995. Zuntz, G.: Notes on Antoninus, in: Classical Quarterly 40 (1946), S. 47 – 55.
Personenregister Ackeren, M., v. 15, 29, 32, 49, 58, 74, 76, 81, 103, 117, 150, 179, 223, 278, 297f., 323, 342, 353, 357f., 375, 422, 424, 454, 457, 519, 527, 582, 619, 629, 705, 707 Adkins, A. W. H. 213f., 216f., 226 Aelius Aristides 45, 463 Aichinger, I. 90, 92 Alfçldi, A. 43 Alfonsi, L. 10 Algra, K. 444 Allesse, F. 479 Althoff, J. 51, 211, 286, 322f., 326 Anderson, G. 44–46 Annas, J. 12f., 26, 433, 435–439, 442f., 497 Anton, J. P. 457 Antonius Pius (siehe Pius) Archedemos 26 Arethas 49f. Aristides 462f. Aristoteles 13f., 28, 31f., 58, 89, 116–119, 142, 147, 149, 220, 231, 238, 244, 312, 318f., 324, 357, 362, 383, 392f., 420f., 461, 537, 582, 639, 642, 709f. Arnold, E. V. 6, 41, 309, 354, 518 Asmis, E. 9f., 357, 432, 479, 631 Asmuth, B. 208, 210, 284 Asper, M. 51, 211, 286 Athanasius 329 Athanassiadi, P. 458f. Aune, D. 185 Ayers, A. J. 394 Baader, G. Baardt, U. Bakhtin, M. Baldwin, B. Baltzly, D.
320, 322, 326 242, 244 286 46 554
Bardon, H. 44 Barnes, J. 43f., 392, 437, 553–555, 570 Baslez, M.-F. 88, 90f. Baumgart, H. 463 Baumgartner, H.-U. 705 Becker, L. 433 Bees, R. 550 Behr, Ch. A. 45 Bellebaum, A. 13 Bnatou l, Th. 11 Bentham, J. 30 Bernays, J. 452 Betegh, G. 436 Billerbeck, M. 253, 576 Birley, A. R. 2–4, 41, 46, 56, 72, 98, 156, 306, 309, 449 Blom, H. W. 550 Blumenberg, H. 116 Boatwright, M. T. 43, 84 Bobzien, S. 393, 395, 397f., 400–404, 413, 416, 427, 517, 603f. Bçhme, G. 13 Bonamente, G. 3 Bonazzi, M. 12, 480 Bonhçffer, A. 11, 77, 244, 253, 454, 576 Bonner, S. F. 95 Borg, B. 45f. Bowersock, G. W. 44–46, 113 Bowie, E. L. 46 Bradley, A. C. 311 Brancacci, A. 479 Brandt, R. 550 Braunert, H. 43 Breithaupt, G. 6 Brennan, T. 551f., 612, 630, 650, 656, 658f., 669–672, 680, 682
746
Personenregister
Brown, E. 463, 529, 534, 538, 540f., 543f. Bruns. I. 5f. Brunschwig, J. 363, 378 Brunt, P. A. 2, 4, 41, 56, 84, 94, 101–104, 109, 162, 251, 306, 309, 311, 317, 335, 449, 581f. Bruss, E. W. 89 Buchheim, Th. 453 Bultmann, R. 183, 185, 202, 204, 263 Buresch, C. 146 Burgess, T. C. 82 Burlington, T. S. 114 Burnyeat, M. 392 Bushnell, C. C. 169, 172, 288, 295 Bussel, F. W. 354, 517 Cacciatore, G. 91 Caesar 1, 3, 65, 112, 194, 308 Cairns, D. L. 218 Cameron, A. 65 Cancik, H. 242f. Capelle, W. 3, 184 Carrithers, M. 216 Casaubon, M. 54, 349 Ceporina, M. 49 Champlin, E. H. 47f., 73, 97, 630f. Charles, D. 220 Chrysipp 10, 26, 28, 33f., 137, 152, 161, 177, 375, 393, 398, 400, 404, 412, 416, 422–424, 426, 444, 470, 566, 581, 598f., 604, 610, 612, 614, 620, 626, 628, 630, 633, 635–637, 653, 656, 689 Cicero 43, 89, 112, 149, 152f., 177, 393, 427, 436, 444, 462, 471, 474, 542, 545, 551, 559, 615f., 621 Claus, D. B. 224, 301 Clay, D. 211, 231f. Clinton, B. 4 Cohn, D. 284, 286f. Collins, S. 216 Cooper, J. 12, 432f., 436 Cox, P. 112 Crisp, R 13 Cruz, H. 114 Culler, J. 311
Cumont, F. 159 Curtius, E. R. 146 Czapla, B. 45 Dalfen, J. 1–3, 6f., 12, 15, 41, 51, 53, 55f., 58, 62, 68, 74f., 81f., 85, 87f., 107f., 110, 112f., 121f., 125, 127, 129–132, 139, 143f., 157, 164, 166, 171, 173, 178f., 181, 186f., 189, 195–197, 204f., 260, 262, 268, 270f., 281, 288, 293, 295f., 301, 304f., 307, 314f., 332, 335, 344, 388, 407, 449, 557, 610, 699 Daly, L. W. 44 Davidson, D. 220, 226, 276, 348 Deichgrber, K. 324 Dennett, D. C. 229, 348 Deroux, C. 449 Deubner, L. 453 Dibelius, M. 114, 119 Dihle, A. 91f., 185, 244, 322 Diller, H. 81, 320 Dillon, J. 8, 705 Dilthey, W. 88, 91f., 107, 111 Diogenes Laertius 26, 50, 74, 151, 291, 323, 363, 365, 378, 404, 412, 438, 458, 519, 581, 595, 597, 604, 620, 626, 629, 653, 680 Diogenes von Oinoanda 43, 231 Dion Chrysostomos 45f., 184f., 187, 516 Dirlmeier, F. 550 Dixon, P. 311 Dodds, E. R. 217, 225, 445, 463 Dorandi, T. 317 Dorey, T. A. 159 Dçring, K. 77, 135, 245, 324 Dove, C. C. 6, 45 Dragona-Monachou, M. 452 Duff, J. W. 46 Duhot, J. J. 393 Dring, I. 117 Drr, K. 81 Dsel, F. 208 Duval, N. 3 Dyson, H. 562
Personenregister
Ecker, U. 154 Edwards, P. 473 Ehlers, W. 91, 113 Endreß, M. 13 Engberg-Pedersen, T. 114, 436, 550, 642, 656f., 659, 661–663, 675 Engel, J. J. 208 Entralgo, P. L. 28, 318 Epiktet 10f., 14f., 17, 19–22, 29, 33, 35f., 44, 48, 60, 65f., 68, 77, 93, 96, 98, 102, 104, 117, 130–132, 137, 144f., 156, 161f., 171, 176f., 179, 181–190, 192–204, 206, 209, 230f., 233f., 237, 242, 244–260, 263f., 267, 270, 275, 277f., 281–283, 285f., 292–294, 299, 303f., 312, 314, 316, 327–330, 339, 347, 349, 354–357, 359, 417, 419f., 422, 434, 437, 446, 449, 454, 457–460, 466f., 471f., 480, 493f., 496–498, 500, 512, 517–519, 530f., 546f., 553, 567f., 570, 575–577, 586, 588, 595f., 612, 630f., 633f., 643–645, 651, 676f., 686f., 689, 691f., 700, 702–704 Erbse, H. 479, 490f., 497, 559f. Erler, M. 6, 15, 89, 150, 211, 232, 258 Esteve Forriol, J. 154 Eudromos 26 Fantham, E. 43f., 46, 73 Farnell, L. R. 453 Farquharson, A. S. L. 1–4, 7, 41, 49f., 52, 54–56, 59, 84, 98, 143, 190, 297, 309, 335, 354, 385, 490, 496, 518, 568, 630 Fears, J. R. 84 Ferguson, J. 70 Finlay, M. I. 217 Flach, W. 88 Follet, S. 90f. Fornara, C. W. 80 Forschner, M. 615, 623, 629, 669, 682, 689 Forstater, M. 55
747
Forte, B. 44 Foucault, M. 13, 249, 269, 319, 328–333, 336, 339–345, 348f., 530, 700, 705 Frnkel, H. 165 Frankfurt, H. 3, 6, 12f., 88, 92, 114, 116f., 208, 229, 249, 319, 329, 705, 709 Frede, M. 26, 392f., 397, 436, 458f., 553f., 615f., 618 Fricke, H. 315f. Fronto 1, 44, 46–48, 60, 63, 65, 72f., 82–85, 95, 97f., 101, 104, 156f., 162, 189, 195, 289, 293, 295, 306, 310, 314f., 331, 334, 549, 554, 630 Gaiser, K. 117 Galen 51, 205, 235, 320, 327, 366, 401, 480f., 656 Gallo, I. 91 Gammie, J. G. 114, 120 Gaskin, R. 212, 214 Gataker, Th. 349 Geagan, D. J. 43 Gearson, L. P. 444 Gesang B. 713 Giavatto, A. 8, 295, 553, 561f., 568, 577, 581, 585 Gibbon, E. 98 Gigon, O. 3, 375, 408, 453, 618 Gill, Ch. 6, 8, 11f., 212, 214–220, 223, 225–229, 259, 269, 348, 433, 435–440, 442f., 476, 479–481, 487, 497, 500f., 554, 633, 656, 705f. Glucker, J. 182 Gonzales, P. P. G. 11 Goodspeed, E. 449 Gordon, R. 463 Gçrgemanns, H. 1, 48, 631 Gçrlitz, W. 3 Gottschalk, H. B. 182 Goulet, R. 11, 91f. Graeser, A. 6, 26, 358, 377, 392, 394, 553, 619, 639, 707, 711 Grensemann, H. 320 Griffin, M. T. 43f., 82
748
Personenregister
Grimal, P. 153, 244, 631 Grimm, J. 222, 268 Grçzinger, A. 115, 155 Gusdorf, G. 88, 91f., 108, 110 Guthrie, W. K. C. 453 Habermas, J. 88, 242 Habicht, Ch. 44 Hadot, I. 12–15, 18–20, 26, 28f., 45, 48, 50, 87, 94, 97, 101, 105, 130, 260, 299, 317f., 336, 342, 344, 349, 354–357, 426, 433–438, 497, 518, 530, 543, 552, 589, 626, 631, 633, 643f., 652, 654f., 686f., 692, 696, 701f. Hadot, P. 12, 19, 29, 157, 335, 341, 354, 426, 435, 477, 543, 573, 589, 643, 652, 657, 699, 703 Hadrian 42–44, 46, 83f., 89, 103, 112, 156, 159, 538 Haines, C. R. 1, 4, 56, 310, 449 Haker, H. 107 Halbauer, O. 182f. Halbig, Ch. 673 Hall, J. 46 Hammond, M. 3 Hankinson, R. J. 393, 412, 480, 559, 561 Hardy, J. 253 Harrison, E. L. 223 Heath, M. 45 Hegel, G. W. F. 74, 208, 214 Heidemann, D. H. 713 Heitsch, E. 338f. Hellweg, R. 319 Helmig, Ch. 12, 480 Hendrickx, B. 3 Heraklit 9, 23, 29, 83, 136f., 144, 161, 178–180, 198, 293, 296–298, 300, 313, 323–325, 360, 375, 384–386, 422f., 453f., 456f., 527f., 573, 618f., 687, 705 Hermogenes 45, 183 Herodes Atticus 46f., 72 Hershbell, J. P. 11, 244 Hesiod 82, 88, 90, 118, 129, 132, 138, 304, 469
Hierokles 482, 485f., 536–538, 543, 546, 551, 660 Hieronymus, F. 233 Hijmans, B. L. 11, 233, 236 Hirzel, R. 181, 188, 249, 258, 260, 285 Hoellen, B. 29 Hoffmann, P. 88, 90f. Hçlscher, U. 324 Homer 17, 22, 34, 81, 132, 147f., 198, 207, 210–214, 216f., 219–231, 234f., 238, 261f., 267, 276, 292, 294, 302, 304, 318, 461f., 700 Hopkins, J. 225 Horn, Ch. 12f., 26, 29f. Horstmanshoff, H. J. F. 320 Hossenfelder, M. 11, 13, 29f., 298, 361f., 570 Hgli, A. 710 Hultin, N. C. 154 Humphries, M. L. 330 Ierodiakonou, K. 393, 436, 516, 520, 554, 616 Ingenkamp, H. G. 29 Inwood, B. 8, 219f., 342, 362f., 393, 397, 436, 444, 559, 599, 612, 630, 642, 646, 648, 650, 656, 659, 664, 668, 671f., 681, 686f., 695, 705 Irwin, T. 657, 673, 678 Iser, W. 286 Isokrates 82, 117f., 121, 125, 135, 138f., 142 Jackson, J. 6 Jaeger, W. 28 Jkel, S. 3 Jens, W. 210 Jocelyn, H. D. 182 Johann, H.-Th. 146, 155, 711 Joly, J.-P. 54, 323 Jones, Ch. P. 46, 214, 220 Kahn, Ch. 58, 324, 453, 554, 705 Kallhoff, A. 535, 657, 673 Kant, I. 30, 122f.
Personenregister
Kassel, R. 146–149, 151f., 154, 166, 171 Kasulke, Ch. 49, 97, 288, 295, 306, 314f. Kennedy, G. A. 45f., 311 Kerferd, G. 689 Kern, O. 36, 53, 142, 147, 185, 243, 292, 303, 431, 588f., 673, 709, 712 Kersting, W. 708–710, 712 Kessler, H. 13 Kienast, D. 1 Kindstrand, J. F. 185 Kirk, G. S. 453 Kleanthes 152, 177, 205, 232f., 235, 238, 248, 303, 413, 444, 470, 614, 618, 620 Klein, J. 2f., 42, 55, 103, 122, 140, 149, 166f., 184, 257, 279, 320, 323, 331, 364, 385, 476, 483, 495, 536, 542f., 694 Kleve, K. 232 Knoche, U. 243, 296, 299, 382, 487, 592 Kobusch, Th. 272 Kollesch, J. 322 Kovcs, P. 2 Krmer, H. J. 13f. Krug, A. 319, 546, 692 Kube, J. 81 Kullmann, W. 51, 211, 245, 286, 317f., 322 Kurth, Th. 148, 153 Kustas, G. L. 457 Lakmann, M.-L. 45 Landmann, M. 147, 337 Langbehn, C. 709 Langholf, V. 320, 322, 324 Langmann, G. 2, 4, 56 Lasserre, F. 319 Lattimore, R. 470 Lausberg, H. 115, 183, 311, 452 Leavis, F. R. 311 Lee, Ch. 550 Lehmann, T. 45 Lejeune, Ph. 89f., 92f. Leo, F. 209f., 212, 226f.
749
LePore, E. 220 Lewis, R. G. 112 Liebeschtz, J. H. G. W. 46 Liell, S. 45 Lindsay, J. 9 Loisel, G. 54 Long, A. A. 8, 11, 23, 26, 28, 77, 186, 188, 200, 354f., 375, 378, 393, 397, 403, 413, 422, 446, 449, 452, 454, 458, 473, 494, 500, 516f., 554, 558, 612f., 618f., 622, 639, 648, 682, 705 Lonie, I. M. 319 Lbcke, P. 710 Luck, G. 12f., 236, 676 Lukasiewicz, J. 553 Lukes, S. 216 Lutz-Bachmann, M. 436 MacIntyre, A. 13, 215, 217f., 473 MacMullen, R. 447, 456 Magnaldi, G. 550 Maier, B. 3 Malherbe, A. J. 114, 120, 185 Manning, C. E. 153 Mannsberger, B. 210 Mansfeld, J. 527 Marcus Cornelius Fronto (siehe Fronto) 1, 73 Marquard, O. 92 Marrou, H. I. 184 Martin, L. H. 330 Mates, B. 553f. Matherson, P. E. 354 Maul, St. 113, 421 Maurach, G. 5, 243 McDonald, J. I. H. 119 McLaughlin, B. P. 220 McLynn, F. 2 Meerwaldt, J. D. 235 Meinel, P. 153 Meyer, M. F. 9, 147, 242, 711 Mill, J. St. 30 Millar, F. 84 Mirgeler, J. 3 Misch, G. 1–3, 5–7, 9–11, 17, 22, 24, 26, 29, 35, 42–45, 53, 57, 70, 73, 82, 84, 88, 90–92, 105, 107, 109,
750
Personenregister
111–113, 135, 146, 148f., 151–154, 160, 166, 171, 184f., 188, 207, 209, 211, 219, 230f., 233, 243, 282, 318f., 321, 355, 357, 421, 425, 437, 451, 458–460, 477, 515, 517, 532, 536, 538–541, 544, 550, 553, 595, 612, 656, 700, 704 Mitsis, Ph. 232, 516 Mojsisch, B. 357 Moles, J. L. 45 Momigliano, A. 112 Monti, E. 3 Moos, P. 154 Most, G. W. 103, 310, 435, 471, 630 Mudry, P. 319 Mhlenberg, J. 185 Mnzer, F. 153 Murry, O. 82 Nestle, W. 43 Neuenschwander, R. 10, 12, 14, 19, 293, 354, 376, 386, 409, 414, 417, 419f., 479, 489f. Neukam, P. 3 Neuman, B. 92 Newman, R. J. 9f., 17, 233, 235–239, 241, 246, 257–259, 347, 701 Nida-Rmelin, J. 712 Niebuhr, K.-W. 114 Niehues-Prçbsting, H. 74, 151 Niggl, G. 87–92 Norden, E. 19 Nussbaum, M. C. 12f., 24, 26, 28, 535, 599, 657, 659, 669f., 673–678, 704 Oliver, J. H. 3, 47 Oltramare, A. 185 Oort, J., v. 185 Overwien, O. 119, 142 Parker, R. 452 Pascal, R. 7 Pellegrin, P. 324, 327, 554 Perdue, L. G. 120, 135 Pernot, L. 88, 90f.
Perry, E. 44 Pflaum, K. B. 73 Philostratus 45, 447 Pius 44, 46–48, 52, 56, 58, 61, 63, 65–68, 70–74, 77, 79, 82–86, 97, 99, 122, 124, 159, 290, 445–447, 474, 538, 549, 560, 566, 584, 596, 600, 623, 675, 690 Plutarch 26, 29, 89, 138, 142, 184f., 247, 328, 335f., 362, 398, 425f., 436, 462, 469, 481, 519, 598, 610, 626, 661 Pohlenz, M. 244, 354, 386, 518 Pomorska, K. 286 Popkens, W. 114f. Pçppel, O. 325 Pçschl, V. 29 Poseidonius 10, 14, 120, 152, 205, 293, 354, 359, 386, 409, 412, 414, 417, 419f., 427, 462, 479, 481, 489f. Pçtscher, W. 452 Potter, P. 480 Price, A. W. 225, 445 Puech, A. 7, 11 Quante, M.
713
Rabbow, P. 12, 14, 17, 232, 234–237, 239, 246, 254, 257–259, 318f., 329, 347, 576 Radice, R. 550 Randall, J. H. Jr. 362 Rapp, Ch. 58, 118 Rawson, E. 44 Reale, G. 82, 194, 200, 205, 242–244, 286, 338, 476f., 479, 489–491, 514, 536, 542 Reardon, B. R. 91 Rees, D. A. 70 Reesors, M. E. 377 Reichel, M. 88f., 317f. Reinhardt, K. 10, 20, 324 Reiser, M. 204 Reydams-Schils, G. 11, 476f., 479f., 518, 530, 532, 538, 543, 546, 550, 678, 705
Personenregister
Rist, J. M. 9–11, 244, 375, 428, 432, 617f., 689, 708 Robinson, T. M. 705 Rçd, W. 11, 298 Rohde, E. 45 Rorty, R. 229 Roselli, A. 326 Rosen, K. 3 Rosenmeyer, T. C. 599 Roskam, G. 83, 247, 287, 428, 536, 631–634, 705 Rousseau, L. C. T. 54, 88 Rues, H. 29 Russell, B. 46, 354, 518 Rutherford, R. B. 6–8, 15, 48, 56, 58, 66–68, 70, 73, 81f., 84, 87f., 95, 97f., 105, 112, 160–162, 177, 260, 288–290, 298, 301f., 305, 307–311, 315, 335, 355, 446f., 450, 453, 456, 459f., 469–472, 631, 702 Sandbach, F. H. 375, 648 Sanders, E. P. 9 Sandkhler, H. J. 711 Schadewaldt, W. 209–212, 227 Schall, U. 3, 137 Schublin, Ch. 185 Schekira, R. 293 Schenkl, H. 182, 200 Schindler-Horstkotte, G. 2, 4, 56 Schmeller, Th. 183, 185, 199 Schmid, W. 13 Schmidt, E. G. 4, 184 Schofield, M. 218, 392, 436, 520, 612, 633 Schçllgen, G. 3 Scholten, C. 3 Schorn, St. 89 Schrçder, S. 393 Scully, S. 221 Searby, D. M. 118 Sedley, D. 23, 26, 28, 378, 393, 397, 403, 413, 422, 452, 458, 554, 558, 612f., 622, 630, 633, 639, 682, 705 Seel, M. 13, 23, 28f., 33, 37, 60, 83, 95, 105, 109f., 116, 125, 129,
751
133, 137, 141, 161, 163, 173–177, 179, 190, 205f., 208, 222, 226, 231–234, 240–242, 249, 253, 261–265, 267, 269, 271f., 275–277, 279f., 290f., 297f., 328–330, 337f., 360, 366, 376f., 389–392, 397, 399, 401, 411, 431, 449f., 453f., 456, 463, 465–472, 475–477, 479–488, 490–500, 502–505, 507, 510, 523, 532, 558–560, 564f., 567, 570, 572f., 577, 579, 582, 588, 590, 592, 601, 618f., 632, 636, 638, 643, 645, 647, 660–663, 665f., 668–670, 690, 692f. Sellars, J. 12, 26, 623, 626 Sen, A. 5, 13, 29, 33f., 37, 53, 65, 70, 76, 88, 94, 96–98, 103, 118, 121, 127–129, 136, 138, 145, 152f., 164, 166–168, 171, 173, 178, 180, 196, 205, 221, 233f., 236–244, 250, 257, 273, 289–291, 295, 297, 303, 305, 307, 312f., 327f., 330f., 333, 341, 366, 368, 380, 386, 397, 415f., 419–421, 432, 434, 444–447, 449–460, 462, 465f., 472f., 475, 485, 513f., 525, 543, 545–547, 553, 570, 595f., 600, 608, 622, 660, 688–691, 693 Seneca 5, 10, 17, 20, 22, 26, 29, 33, 35, 41f., 53, 65, 70, 76, 82, 94, 97, 117, 120–122, 124, 127, 129, 131, 134, 136, 138, 144f., 148f., 152f., 164, 176, 178–180, 185, 197, 211, 230f., 233f., 237–244, 248, 250, 252, 257–259, 273, 275, 277, 282, 286, 289, 293, 303f., 306, 309, 314, 316, 318, 321, 327–333, 337, 339, 342, 344, 347, 349, 354, 359, 376, 386, 409, 414, 417, 419f., 425, 434f., 452, 455, 465–467, 479, 489f., 532, 546, 553, 595f., 612, 689, 700, 705, 709f. Sensing, T. 114, 119f. Sharples, R. W. 11f., 212, 225, 401, 595, 705
752
Personenregister
Siep, L. 713 Smith, P. 211, 214, 220 Snell, B. 118, 213f., 216f., 222, 226f., 235, 261f., 324 Soffel, J. 154 Sonnenfels, J. v. 208 Sorabji, R. 11f., 29, 595f., 656, 678, 705 Staden, H. v. 51, 480 Stanton, G. R. 3, 10, 45, 354, 517f. Starobinski, J. 91 Starr, J. 114, 154, 696 Steinbrink, B. 116, 312f. Steinmetz, P. 359, 614, 617f. Stierle, K. 92 Stol, M. 320 Stowers, S. K. 182–185, 200, 246, 286 Straub, J. 43 Strawson, P. F. 215 Striker, G. 424, 436, 516, 617, 677 Stroh, W. 2, 4, 56 Studnik, H.-H. 152 Suchier, W. 44 Sullivan, S. D. 221 Syme, R. 72 Szaif, J. 103, 436, 582 Tatum, J. 447 Taylor, Ch. 214f. Theiler, W. 1, 9f., 205, 408, 414, 417, 420, 448–450, 457 Thom, J. 119 Thom, D. 88, 92, 107f., 110f. Thomas, K. 296 Thyen, H. 186 Tiede, D. 447 Tieleman, T. 276, 481, 656 Todd, R. B. 375 Trajan 43, 538 Trannoy, M. 7, 54 Travlos, J. 43 Trillitzsch, W. 136 Tsekourakis, D. 182, 186 Tumanov, V. 284, 287 Ueding, G.
116, 312f.
Ulfig, A. 711 Usener, K. 183, 185, 318f. Vallozza, M. 115 Verdenius, W. J. 324 Veyne, P. 342, 705 Vieth, A. 673, 713 Vogt, K. M. 412, 477, 514, 519f. Voigt, Ch. 213, 217, 226 Volkmann, R. 121, 311 Walker, B. 80 Wallach, B. P. 183f. Warren, A. 311 Watson, G. 516, 585 Weber, G. 462 Wehner, B. 15, 183f., 187f., 194, 199f., 209f., 245–247, 249, 252–254, 256, 258, 260, 286, 303, 518, 576, 700 Welleck, R. 311 Wells, L. 462 Wendland, P. 185 West, M. L. 458 White, M. J. 362, 424, 436, 438 Wilamowitz-Moellendorff, U. v. 3 Wilhelm, A. 43 Wilken, R. 449 Wilkes, K. V. 214 Williams, B. 13f., 80, 212, 214–216, 218 Willms, L. 11, 15 Wilpert, G., v. 315 Wilson, W. T. 120 Winau, R. 322, 326 Winkel, L. C. 250, 364, 513, 550 Wippert, O. 160 Wiseman, T. P. 80 Wittern, P. 324, 327 Wçhrle, G. 324 Wolf, U. 13 Wollheim, R. 225 Wright, F. A. 6, 41, 309, 480 Xenakis, I. 11 Xenophon 82, 85f., 89, 118, 132, 318, 465, 579
753
Personenregister
Zehnpfennig, B. Zeller, E. 88
58
Zuntz, G.
6, 41, 58, 260
Sachregister Adhortatio 114ff., 197, 199, 233, 252, 300, 313 Adressierung 54, 181, 187–189, 193f., 196f., 199f., 223f., 234, 242, 264, 266f., 281, 283, 286, 330, 345, 347 Affekt 24, 148, 150, 152, 188, 210, 232, 234, 240, 299, 369, 490, 508f., 535, 545, 549, 596, 613, 655–659, 664–669, 671f., 674f., 678f., 697, 704 Affekttherapeutisch 369, 380, 403, 665 All 100, 103, 166, 175, 263, 360, 379, 434, 615, 620, 623, 625, 642 Anachorese 277–280, 346f., 529, 533, 535, 549, 551f., 572, 676 Analyse 7, 15, 18, 21, 25, 29, 59, 68, 87, 110, 113, 212, 214, 219, 227, 233f., 251, 260f., 264, 269, 274, 287f., 291, 314f., 332f., 342, 346, 357, 384, 404, 475, 480f., 486, 556, 569, 577, 581, 584, 587, 589–595, 600, 606, 611, 632, 644, 683, 698–700, 702, 706, 712 Analytische Methode 24, 78, 158, 269, 291, 299, 372, 425, 439, 556, 568, 580f., 584, 587f., 595, 597, 606, 626, 632, 683, 696, 703f. Angemessene Handlungen (kathÞkonta) 532, 546, 680–687 Anthropologie 92, 147, 390, 476f., 479, 487, 489f., 492, 496f., 501f. Antrieb / Impuls (hormÞ) 24, 268, 369, 374, 415, 426f., 444, 488, 498, 508, 535, 552, 558, 612, 622, 628, 634, 639, 642–644, 646–655, 659, 663f., 667f., 671f., 674, 678–680, 685, 690f.
Aphorismus, aphoristisch 11, 315f., 322–324, 326f., 336 Atome 175–177, 369f., 396, 428–444, 640 Autobiographie 1, 6f., 15, 21, 41, 70, 87–92, 94, 105, 107–113, 189, 193, 208, 281, 345, 357, 425 Begriff 13f., 22, 27, 44, 114, 118, 120–122, 147, 151, 178, 182, 208, 233, 237, 244, 249, 253, 284, 286, 324, 330, 339, 351, 362, 366, 377, 392, 394, 455–457, 512, 514, 555, 558, 566, 571, 581, 607, 609, 615, 628, 639, 653, 655, 673, 680, 687, 705–707, 711f. – Begriffsanalyse 11, 329, 711f. Bewegung (kinÞsis) 44, 196, 244, 279, 297, 362, 376, 385, 390–392, 399, 401–403, 406, 408, 411, 426, 434, 449, 463, 483, 485f., 488, 498–500, 531f., 541, 564, 588f., 610, 643f., 662, 664, 686, 694 Biographie 1f., 6f., 13, 15, 41, 88–92, 101, 108, 110, 112f., 447 Causa causarum 416, 419, 427 Charakter 21, 51–53, 59, 71, 74f., 79–82, 85, 87, 96, 100, 105, 114, 116, 123, 125, 144, 148, 183, 189, 195, 198, 200, 238, 266, 275, 285f., 311, 328, 333, 349, 428, 492, 511, 515, 540, 548, 560f., 569, 578, 580, 612, 622, 638, 669, 674, 681, 685, 700f. Christentum 4, 449 Conditio humana 138f., 165, 325, 443 Dmon
444, 451, 468
756
Sachregister
Decreta 117f., 134, 180 Definition 9, 89f., 92, 107, 114, 119f., 311, 315, 516, 555f., 580f., 614, 712 Dialektik 8, 35, 128, 274, 356, 360f., 553–555, 577, 597, 603, 619 Dialog 5, 7, 58, 60, 64, 76, 85, 116f., 135, 149, 174, 181, 188, 192–195, 198f., 201–203, 205f., 208–211, 215–217, 220f., 223f., 226–229, 231–235, 237–239, 242–244, 246, 248f., 251, 253f., 257–260, 262, 265–267, 276–280, 298, 329, 338, 346–348, 448, 471, 485, 575, 599, 610, 701, 705 – interpersonaler Dialog 226, 239 Dialogizitt 114, 146, 180f., 187f., 195, 204–206, 215–217, 246, 260, 286, 301, 700 Diatribe 7, 15, 17, 117, 121f., 127, 132, 180–188, 190, 194, 196, 199–202, 204, 209, 211f., 245–249, 252–254, 256, 258, 260, 263, 286, 298, 303, 347, 422, 493, 518, 576, 700 Dogma(ta) 105, 355, 456 Du 1, 27f., 35–37, 53, 63, 66, 71, 76, 79, 83, 93, 97f., 100, 102, 104, 106, 109, 111, 116, 121, 123–125, 127f., 130, 133, 135, 138–140, 145, 156–158, 166–171, 175–177, 190–198, 200f., 203f., 213, 222, 225f., 230, 232, 237–240, 242f., 247f., 250–252, 254–257, 263–273, 277, 279, 283, 289, 291, 294, 300, 302, 309f., 313, 323, 327f., 331, 333f., 337, 341–343, 364, 368f., 371–373, 379f., 382f., 389, 398, 401–403, 410, 415, 418f., 423, 425, 432f., 440, 442, 445, 450, 455f., 460f., 464–467, 469f., 472, 478, 485, 487–489, 491–493, 496, 500f., 504, 507f., 510f., 515, 524, 526f., 531–533, 539–541, 544, 548f., 564, 569–571, 575–579, 582, 584f., 588–590, 594, 596, 602f.,
605–610, 612, 626, 633, 636f., 641, 647, 651, 654, 660–662, 664, 666–668, 670, 674f., 677, 682, 684, 692–695, 697, 709 Dualismus 476, 479, 482, 484, 487, 491f., 495, 497 Einheit des Seins 379, 403, 406 Einzelnaturen 370, 374, 377, 400, 402 Element 176, 366, 369, 377–392, 417, 483–486, 510, 580, 589, 591, 593 Epikureismus 11, 29, 298, 362, 426, 434, 437, 530, 570 Epistemologie 555, 558, 562, 566f., 600f. Ermahnung 14, 19, 21, 34, 49f., 74, 93–95, 114f., 120, 126, 143, 190, 193, 247, 355f., 441, 542, 631 Erzhlen / Erzhlung (s. Narration) 75, 81f., 88, 91f., 95, 105–112, 189, 208f., 539 Ethik 11–13, 22, 26, 30–32, 36, 66, 85, 117, 158, 179, 214f., 244, 259, 330, 342, 361f., 369, 371f., 376, 396, 424, 429, 431–444, 446, 454, 475, 478, 487, 498, 501, 503, 532, 534f., 550, 553, 555, 564, 599, 610–613, 615, 621–624, 626–630, 634f., 638, 641f., 650, 658, 662, 669f., 672, 675, 680, 682, 689, 695, 702–704, 711–713 Exempla 53, 77, 92, 149, 153, 164, 186, 233, 240, 285, 300, 305–307, 600 Fatum 396, 413 Feuer 137, 161, 174, 178, 297, 366f., 375, 384–387, 389, 400f., 453, 456, 484, 500, 510, 531, 579, 585, 694f. Frage-Antwort-Schema 21, 181, 187, 199–203, 263, 273, 569 Ganze (holon) 172, 361–428, 439–442, 444, 456, 478f., 486, 499, 504, 507, 511f., 524f., 533,
Sachregister
555, 568, 586, 590, 593, 620, 625, 641f, 687f., 703 Gebet 68, 90, 208, 212, 235, 246, 257, 280, 282, 290, 328, 460, 464–468, 473 Gemeinschaft 13, 85, 93, 99, 130, 133, 182, 193, 195, 198, 278, 294, 296f., 313, 328, 356, 370, 374, 376, 378, 386, 391, 412, 440, 443, 456, 469, 471, 475, 477f., 483, 499, 504–516, 518–530, 533f., 536, 538–541, 543–545, 551, 556, 569, 572, 578, 602, 638–640, 666, 683, 703 – Gemeinschaftsorientierung 502f., 505, 509, 535, 549, 640, 649, 668, 704 Gnome 118f., 124, 138, 140–143, 184, 186, 701 Gnosis 9 Gott, Gçtter 34f., 53, 59, 61–63, 67f., 70f., 76, 86, 98, 102, 116, 124, 126f., 129f., 133, 139, 141, 147, 171, 175, 177, 204, 212, 237, 250f., 264, 268, 272f., 289–291, 293, 295, 299, 324, 334, 362f., 365, 367, 369, 374f., 377–380, 384f., 397, 399, 406, 408, 410, 413–417, 420, 426–428, 432, 434, 439–441, 443f., 447f., 450–468, 472f., 488, 493, 498, 503f., 509, 511, 513–515, 518–522, 524, 540, 547, 549, 553, 555, 559f., 563f., 577, 583–586, 594, 596, 598, 600, 606, 634, 636, 662, 666f., 675, 684 Gçttliches 27, 444, 448, 519, 704 Grammatik 42f., 47, 650 Grenze 88, 91f., 108, 110, 167, 172, 341, 349, 367, 371, 380f., 411, 443, 453, 476, 513, 689f. Gut, Gter 9–13, 15–19, 21f., 27f., 30, 32f., 35, 37, 41, 44f., 47, 49f., 54f., 59, 61f., 71, 76, 81f., 85, 87f., 93–95, 98, 110, 112, 117f., 121–125, 127–129, 132f., 140f., 146, 148, 150, 152, 154, 160, 162, 165f., 168–172, 176, 178f., 188,
757
191, 196–199, 202, 204, 215, 217, 219, 223, 230, 236f., 239f., 244–246, 251f., 254, 264, 266, 272, 278f., 285f., 288, 290f., 293–298, 300, 306, 308, 310–313, 317f., 320, 323, 327, 330–332, 335, 337f., 346, 354, 356f., 361, 363, 371, 374, 380–382, 384, 388, 392f., 411, 419–424, 430, 440, 444f., 450f., 453, 455, 460, 465–467, 472f., 485f., 488, 491, 493f., 496, 498–500, 505–507, 509, 513, 519, 525, 531f., 535f., 540f., 543f., 546f., 556f., 561, 564, 570f., 574, 576–578, 583, 586, 588f., 596–598, 600–602, 607, 609, 611–614, 621, 623, 625–630, 634–642, 649, 652, 657, 662, 665f., 668, 671–673, 679f., 683–687, 693, 695f., 701, 705–707, 711f. – Gterlehre 24, 168, 237, 360, 611, 621f., 627, 634f., 665, 674, 678f., 703, 705 Handeln 32, 63, 66, 74f., 110f., 113, 116, 118, 120, 123, 127, 129–131, 134, 137, 147, 151, 189, 192, 195, 197f., 202f., 213, 245, 252f., 256, 263, 283, 289f., 300, 353, 360, 372, 380, 382, 390f., 396, 400, 403, 425, 442, 453, 467–469, 477f., 483, 497f., 502, 507–509, 511, 517–519, 521, 525, 529, 533–536, 538, 540, 543, 550, 552, 559–561, 567, 569, 577, 582, 601–603, 607, 611, 619, 622–624, 636, 645, 647–649, 653f., 668f., 686, 688–690, 694–696, 703 – Handeln unter Vorbehalt (hypexairesis) 687f. Handlung 24, 32f., 64, 66, 68, 73f., 79, 85, 93, 96f., 106, 118, 122, 134, 139, 141, 169, 194, 196f., 201, 208, 217, 219f., 223, 229f., 240, 263, 267, 280f., 289, 308f.,
758
Sachregister
317, 331f., 369, 390, 400, 455, 465, 472, 478, 494, 497, 499, 507f., 511, 523, 525, 529, 531, 535, 538, 548f., 551f., 564, 568f., 582, 587, 598, 601, 603, 611–613, 622, 624f., 634, 639–642, 644, 646f., 649f., 652–655, 658, 660, 667–669, 671f., 676, 678–694, 696f. Harmonie 61, 413, 619 Hegemonikon (leitender Seelenteil) 24, 234f., 264, 270f., 273–276, 279f., 295, 343, 346, 372, 385, 389, 392, 397, 400, 431f., 451, 468, 486, 489, 492, 495, 498, 501, 558, 561, 565, 568f., 571–575, 579f., 585, 588, 599, 602, 610, 625, 642–649, 644, 647f., 651, 660–663, 704 Hermetik 9, 450 Hypolepsis 273f., 280, 285, 346, 563, 565 Hypomnemata 15, 328, 335f., 340, 345, 348, 699 Ich 13, 28, 33f., 51, 64, 66, 70f., 73, 76, 81, 83, 92f., 98, 102f., 108f., 111, 116f., 121, 125, 127–129, 139, 145, 159, 168f., 171, 188–193, 195–198, 201, 205, 211, 213f., 218, 222, 224–227, 232, 235–240, 242, 246f., 250–252, 256f., 262–272, 276f., 279, 283, 287, 290, 320f., 327, 329, 331f., 337, 341, 344, 364, 370, 379, 382, 387, 415, 420, 423, 425, 428f., 434, 439–441, 450, 455, 459, 461, 463, 465, 470, 482–485, 487, 493, 506, 510, 513, 516, 525–527, 531, 536, 541, 552, 555f., 560, 564, 574f., 577f., 580, 592, 594, 598, 600, 602, 613, 621, 624f., 633f., 636f., 640, 651, 654, 661f., 671, 673, 682f., 690–694, 696f. Immanenz 361, 375–379, 382, 384, 386f., 390, 395, 417, 444
Imperativ 121, 131f., 141, 193–196, 205, 249, 268, 282, 294, 301, 313, 579, 650f., 701 Indifferente Dinge (adiaphora) 130, 168, 382, 464, 467, 532, 546f., 611, 628, 630–634, 678, 685 Kausalnexus / Kausalgeflecht 392 Kohrenz 110, 119, 356, 365, 376, 397, 403, 405, 523, 617, 643, 671 Konsolatio 146–180, 186, 302, 382, 388f., 594 Kontemplation 460, 535 Konversion 48, 96 Kosmische Zyklen 168, 367–369, 409 Kosmopolitismus 502–530, 535, 538, 544, 549, 657, 673, 705 Kosmos 10, 20, 23, 25, 79, 85, 93, 161, 169, 174–176, 178f., 195, 198, 205f., 268f., 294, 297f., 301, 303, 342, 360, 362–376, 379, 381, 383f., 386f., 389f., 392, 395f., 398–400, 403–406, 408–413, 415, 417–419, 421–428, 430f., 433, 436, 438, 440–443, 454, 460, 469, 473–475, 477f., 480, 484, 503–505, 507, 509–514, 523f., 527f., 536f., 539f., 543, 562, 565, 583–586, 590f., 593, 603–605, 611, 626, 640, 647, 650, 652, 662, 667, 688f., 691, 695f., 703 Kunst (technÞ) 18, 27, 117, 139, 210, 278, 311, 321–323, 325, 337f., 380, 427, 448, 515, 567, 581, 585f., 598, 609, 679, 700, 703, 707 Kynismus 151, 253, 518, 576 Lebensform 12–14, 18, 26, 30–32, 35f., 146, 341, 589, 610, 703 Lebenskunst 12f., 18, 26, 29f., 37, 134, 318f., 358, 477, 700, 704, 708–710 Lebensregeln 14, 19, 130, 355f., 702
Sachregister
Leere 137, 333, 335, 342, 360, 362, 364–366, 379, 392, 408, 607 Lehrer 42–45, 47f., 59, 61–63, 69–73, 76f., 82, 85, 95, 121f., 130, 143f., 157, 182, 188–193, 195, 197–199, 255, 263, 267f., 271, 305f., 332, 462, 547, 549, 630, 675 Leidenschaften 24, 60, 279, 535, 549, 573, 611–613, 622, 636, 655–679, 697 Lesen 3, 22, 33, 60, 72, 96, 204, 242, 257, 289, 292, 321, 327f., 333f., 336f., 339f., 342, 362, 460, 471, 484, 603, 607, 651 Liebe 61, 67, 98–100, 105, 126, 128, 152, 331f., 398, 464, 488, 498, 526, 530, 541, 544f., 548f., 551, 582, 603, 628, 642, 665, 667–669, 673, 677, 679, 684, 692 Logik 8, 22–24, 26, 32, 45, 184, 356, 358, 360–362, 372, 376, 437, 478, 553–557, 577, 584, 597, 610, 703 Logos 26, 75, 111, 148f., 152, 179, 318f., 324, 375, 384f., 453f., 527, 554f., 619f., 694 Magier 447, 452f. Mahnung 76, 82, 104, 109, 114–146, 190–192, 195–197, 201, 239, 246, 248, 256, 264–266, 268f., 274, 282f., 348, 384, 582, 700 Memotechnik 37, 64, 124, 270, 313, 328, 336, 456, 701 Metapher 7, 95, 97, 168, 173, 175, 234, 294f., 297, 301, 305–307, 312f., 334, 407, 456, 573, 608, 694 Metaphysik 122, 363, 392 Methode 8, 12, 15, 98, 109, 116, 219, 236, 248, 291, 308, 318, 321, 324, 329, 357, 453, 567–569, 584–589, 593, 606, 709–711 Mittelplatonismus 476 Monismus, psychischer 274–276, 361, 375–382, 384, 386f.,
759
389–391, 395, 399, 417, 444, 503, 523f., 660, 671 Monolog 22, 199, 208–212, 217, 226f., 284–287, 700 Narration 112, 189, 281, 450, 539, 700 Natur (physis) 7, 12f., 17, 20, 23, 26f., 32, 48, 60, 62, 70, 75f., 78, 80, 83, 85, 98–100, 109, 111, 118, 127f., 130, 138, 141, 150, 158, 165f., 170, 172, 175, 179, 191f., 196–199, 205f., 214, 241, 270, 273f., 291, 293, 297, 299, 301, 307f., 312f., 342, 346, 361, 363–365, 367, 369–374, 376f., 379–381, 383–388, 391, 393, 397–403, 410, 413–415, 418, 421–424, 426, 429, 431–433, 435f., 439f., 442, 451, 453, 455, 459–461, 467, 472, 474f., 477–479, 486f., 489, 493, 499, 501–510, 513, 516, 519f., 522f., 526–531, 533, 536, 538f., 541f., 544–552, 555, 557, 560f., 563f., 570, 573, 582–587, 590–592, 598, 601f., 605, 608–611, 613–617, 619–629, 631, 633–636, 639–642, 649, 653f., 666–668, 677–681, 683f., 687, 690, 692f., 701, 704 – gemeinsame Natur 111, 196, 370f., 400, 509, 523, 541 – Natur des Ganzen 109, 141, 361, 363–365, 367, 370–376, 380, 385, 391, 398–400, 402–404, 406, 408–410, 415, 427, 442, 478, 504, 620, 640, 687f., 703 – Natur des Menschen 23f., 197, 269, 371f., 433, 474–476, 478f., 487, 493, 501–503, 506, 512, 527f., 530, 532, 535f., 539f., 546f., 549f., 553, 570, 573, 592, 611, 623, 625, 641, 649, 652, 655, 667, 674, 682, 704 – Naturgesetz 370, 439, 516, 555 Nebenwirkung / Nebenfolge 23, 380, 395, 420–427
760
Sachregister
Neuplatonismus 9f., 476 Nichts 379–383, 387f., 484, 506, 579, 592, 594 Notizen 15, 50, 54, 144, 319f., 322, 326, 333–336, 342, 344, 607 Nutzen 24, 77, 117, 121, 139, 180, 232, 268, 320f., 422, 424, 439, 461, 478f., 506, 512, 533, 555, 586, 596, 602, 626, 637–640, 683, 692 Oikei sis 550–555, 652–658 Orakel 324, 444 Orakelphilosophie 9, 450 Organismus 28, 297f., 374, 411f. Ort 65, 72, 79, 92, 95, 157, 166, 173, 279, 300, 362, 364, 366, 452, 492, 528, 661, 666 Parnese 114–145, 233, 596, 651 Parataxe, parataktisch 204 Physik 12, 22f., 25f., 32, 35, 128, 360–364, 371f., 374–376, 429, 431–444, 484, 487, 555f., 577, 593, 603, 617, 642, 703f. Platonismus 12, 390, 470, 476f., 479–481, 487 Pneuma, hauchartig 417, 494, 504 Polis 13, 198, 297, 301, 411f., 469, 505, 512, 514–516, 519–521, 528f., 534, 536–539, 541, 543–545, 548, 551, 611 Politik 3f., 160, 474, 478, 528f., 536, 538–545, 552 Polypragmosyne 65 Praecepta 117, 164 Praemeditatio 102, 136, 236, 330 Primat der praktischen Vernunft 29f. Prinzip 83, 109, 112, 136, 161, 175f., 179, 190, 237, 264, 267, 269, 272, 279, 306, 364f., 368, 374–378, 381, 385f., 391, 395, 397f., 400, 403f., 407, 409, 413, 415f., 423, 444, 458, 481, 483, 487f., 495, 499f., 503, 510, 517, 524, 559, 572f., 577, 592, 619f., 625, 645, 663, 695 – aktives Prinzip 377–392, 704
– passives Prinzip 377–392 – Prinzipienlehre 23, 338, 382, 390, 593, 620 Prophetie 461 Protreptik 116f. Resozialisierung 525 Rezeption 42, 44, 144, 161, 178f., 298, 300, 324, 360, 427, 618f., 630, 644, 656, 686f., 705 Rhetorik 8, 14, 21, 24, 42f., 46–49, 62, 64, 72f., 96f., 115f., 118, 121f., 154f., 159, 182f., 199, 202, 206, 208, 263, 288–291, 293, 295, 301, 306, 308f., 311–315, 463, 554–556, 597–600, 607 Schicksal 88, 125, 137, 155f., 163, 165, 238, 250, 310, 362, 368, 396–398, 408, 412–416, 419, 425, 430, 434f., 443, 479, 484, 496, 582, 592f., 634, 636, 668, 688f., 691 Schreiben 15f., 18, 22, 34, 38, 54f., 58, 60, 63f., 74f., 77, 82, 86, 90, 102, 105, 107, 111–113, 134, 140, 143, 146, 149, 153, 159, 184, 192, 202f., 207, 241f., 257, 259, 261, 282f., 287, 289f., 312f., 316–321, 323f., 326–333, 335–349, 357, 445, 462, 473, 588, 599, 671, 701 Schulphilosophie 32, 34f., 480, 487, 497, 603, 708, 711 Seelchen (psycharion) 486, 488, 495f. Seele (psyche) 23, 28, 29, 33, 37, 60, 83, 95, 105, 109, 110, 116, 125, 129, 133, 137, 141, 161, 163, 173–177, 179, 190, 205, 206, 208, 222, 226, 231–234, 240–242, 249, 253, 261–265, 267, 269, 271, 272, 275–277, 279f., 290f. 297f., 328–330, 337f., 360, 366, 376f., 389–392, 397, 399, 401, 411, 431, 449f., 453f., 456, 463, 465–472, 475–477, 479–505, 507, 510, 523, 532, 558–560, 564f, 567,
Sachregister
570, 572f., 577, 579, 582, 588, 590, 592, 601, 618f., 632, 636, 638, 643, 645, 647, 660–663, 665f., 668–670, 690, 692f. Selbst 8f., 14, 16–19, 23, 28, 32f., 35, 38, 47–51, 58, 60, 62, 64f., 68f., 74f., 78, 81–85, 88–95, 99, 101f., 105, 107f., 216, 222, 226f., 249, 261, 280, 319, 328, 340f., 432, 705–707 Selbstdialog 16–18, 22, 24, 39, 93, 181, 190, 192f., 195, 201–203, 206–287, 317, 329f., 338f., 345–349, 460, 475, 482, 549, 551f., 568f., 574–577, 610, 651, 661, 693, 699–701 Selbstdistanzierung 225, 235f., 268, 270, 272f. Selbstgesprch 3, 17, 90, 93, 114, 191, 208–212, 219, 233, 235, 237, 239, 241, 247, 254, 256, 258, 260, 264, 318, 329, 576 Selbstidentifikation 225, 235f., 268, 271 Selbstkonstituition 344 Sinneswahrnehmung 481, 557f., 563, 565, 653 Sophistik 42, 62, 64, 254, 447f., 575 Sozialitt 502, 510f., 533 Sprachwahl 21, 42, 324 Sternengçtter 444, 450, 458f. Stil 6, 8, 49, 54, 73, 78, 80, 86, 91, 114, 128, 132, 138, 141, 145f., 183, 185f., 200–202, 204, 263, 288, 309–311, 314–316, 322f., 325–327, 336, 344, 349, 609 Stilmittel 17, 114, 187, 204f., 230, 293, 303, 306, 312, 698 Stoa 5, 8–11, 13, 18, 24, 28f., 32f., 35, 66, 103, 120, 140, 151f., 160, 185, 188, 211, 231, 233, 244, 253, 259, 298, 354f., 359f., 362, 412, 420f., 451f., 473, 477, 480, 513f., 517–519, 532, 550, 553f., 562, 570, 576, 595, 610, 612, 614, 617f., 643, 650, 654, 656, 659, 669, 686, 689, 700, 702–706
761
Streben (oreksis) 32, 60, 105, 137, 160f., 273, 368, 384, 387, 409, 486, 510, 531, 552, 559, 567, 627, 644f., 654, 694 Struktur 7, 22, 24, 34, 130, 204, 219, 267, 285f., 315, 336, 347, 353, 355, 372, 569, 613, 702 Syllogismus 220f., 231, 348, 388, 570 – Syllogistik 64 Sympathie 10, 20, 171, 403, 405f., 408f., 414, 510, 539 System 11, 148, 217, 233, 355–357, 359, 361, 379, 434, 438, 468, 471, 490, 585, 618, 659 Ttigkeit (ergon) 22, 79, 102, 106, 109f., 129, 169f., 198, 265, 371f., 490, 529, 531, 533, 542, 544f., 558, 571f., 585, 600, 624, 639, 644, 680, 694 Textform 21, 24, 26, 39, 64, 89, 119, 142, 244, 281, 319, 333, 349, 441, 443, 651, 700–702 Textgattung 15, 41, 63, 335 Themenfelder 22, 78, 355f., 359–362, 367, 376, 395, 450, 452, 480, 556, 600f., 627, 702 Theologie 32, 363, 374, 376, 444–446, 452, 473 Thymos 219, 221–226, 235, 261, 267 Titel 2, 17, 21, 49, 51, 57, 162, 182, 207, 303f. Traktat 22, 25, 55, 58, 243, 286 Trichotomie 488, 490f., 495–498, 500 Trostschrift 146–148, 151–154 Tugend 13, 27, 33, 37, 53, 59, 62–64, 67–75, 77f., 80f., 85f., 116f., 119–124, 126, 139f., 154, 237, 245, 291, 298, 305, 360, 465, 519, 521, 526, 531, 535, 547–549, 581f., 585, 589, 596, 600, 609, 611, 613f., 619–622, 624, 626–629, 632, 636–639, 641, 649, 654, 669, 671f., 674, 678f.,
762
Sachregister
681, 685, 687, 689, 694–696, 701, 709 Tugendliste 62f., 67f., 123, 582, 637 Ursache 83, 93, 136, 204, 232, 368, 371–374, 376, 378–382, 392–399, 403–405, 407–413, 415–419, 427, 497, 561, 590, 594, 604, 606, 646, 667, 669, 688, 693 – erste Ursache 364, 398f., 403f., 408–410, 427, 582f. Ursachengeflecht 23, 392, 396, 405, 407, 409f., 413, 416, 418, 427 Urteil 10, 28, 30, 41, 46, 77, 130, 142, 150, 160, 177, 188, 220–222, 225f., 237–239, 245f., 249, 253f., 277, 280, 290, 301, 309, 319, 332, 337, 340, 343, 348, 360, 369, 385, 397, 486, 488, 490, 494, 497, 499f., 502, 505, 508, 559, 562–568, 570, 573f., 576f., 588f., 602, 612, 621f., 625, 637f., 644, 647, 650f., 658, 660–663, 667, 669–671, 690–692, 707f. Verhnlichung mit Gott (homi sis the ) 455f., 461 Verbalisierung 134, 213, 236, 276, 282, 317, 348f., 701 Verflechtung 395f., 404, 406f. Verkettung 293, 364, 374, 404–407, 414–416, 418, 426f., 439, 555, 586, 604 Vernunft 13, 23, 29, 60, 109–111, 152, 174–177, 179, 201, 263, 269, 273, 279, 297, 362, 366, 368f., 371, 377–379, 381–383, 385, 387, 389, 399–401, 403f., 406, 408–410, 412, 416–418, 428, 438, 440f., 451, 456, 475–478, 480, 484, 487, 493f., 502–511, 514f., 517–521, 523, 529, 533–535, 537, 545f., 562f., 571, 573, 583–585, 590f., 594, 602, 604f., 620, 624, 636, 640f., 647f., 652–654, 660, 668, 681, 687, 691, 694f.
– politische Vernunft 504–527 Vernunftbegabung 501f., 505f., 510–512, 538, 648, 654, 695 Vernunftgebrauch 23, 475, 478, 502, 506, 511, 553, 597, 599f., 610, 654 Vernunftnatur 370, 386, 510 Verursachung 392, 394–398, 400, 403–408, 410–413, 416f., 419, 424f., 427, 443, 516, 603f. Vorbehaltsklausel (hypexairesis, exceptio) 24, 403, 531, 676, 687–697 Vorbild (paradeigma) 4, 34, 47f., 65, 69f., 72–74, 76–78, 80, 82, 84f., 121, 123, 153, 155, 226, 247, 252, 257, 290, 300, 327, 341, 463, 474, 496, 514f., 542, 548f., 560, 566, 600, 678, 690 Vorsehung oder Atome 142, 175, 396, 428–444, 501, 703f. Vorsehung (pronoia) 23, 141, 175, 177, 362–365, 370, 374, 376, 380f., 389, 395–397, 399, 408, 412–423, 426f., 430–433, 435f., 439, 442f., 452, 460, 506f., 509, 516f., 527, 603, 640, 649f., 687f., 694 Vorstellung (phantasia) 220, 242, 254, 264, 280, 285, 252, 254, 265, 272f., 346, 371f., 410, 553–597, 613, 621, 662, 684, 692f. Wahrhaftigkeit 27, 103f., 555, 581f., 636 Wahrheit 13, 33, 51, 88, 104, 110, 113, 116, 291, 306, 312, 328f., 337, 343, 357, 374, 399, 406, 410, 428, 448, 503, 556, 561, 568, 580–584, 586, 588, 594f., 608, 619, 684, 705 Wahrnehmung 220, 253, 279, 284f., 392, 447, 482, 485, 488, 490, 494, 498f., 551, 558f., 563f., 567, 662, 680 – Wahrnehmungsfhigkeit 137, 325, 558 Wahrsagung 444
Sachregister
Wandel 23, 68, 161, 165, 174–180, 252, 300, 365f., 368, 373f., 382–384, 393, 397, 403, 405, 410, 423, 471, 484, 495f., 542, 558, 590, 593, 636, 696 Weltenbrand (ekpyrosis) 362, 364, 367, 378, 458, 604 Werk (ergon) 196, 542, 602, 639, 694 Zauberer 446–448 Zeit 1, 3f., 8f., 18, 33, 36, 42, 44f., 51, 57, 63–66, 81, 83f., 89, 91, 94, 106, 112, 126, 134, 147, 149, 153, 155, 158f., 166f., 169f., 172, 174, 181f., 185, 211, 231, 236, 238, 241, 273, 297, 301, 307, 320, 323, 331, 334, 336, 362, 365–367, 371–373, 380f., 387, 389, 407, 410, 414, 419, 422, 433, 442, 444, 448f., 453, 462, 475, 539, 542, 579f., 584, 589–591, 595, 597, 603, 607, 632, 637, 653, 656, 658, 666, 670, 706, 709
763
Zorn 102, 152, 222, 225, 239, 241, 306, 508, 526f., 659 Zufall (tyche) 60, 175, 234, 257, 293, 312, 364, 369, 414f., 418, 426f., 430–432, 434f., 439f., 548, 555, 586, 664 Zustimmung (synkatathesis) 24, 130, 220f., 226, 371, 401, 434, 489, 558, 561, 567f., 570, 576, 586, 612, 646, 648–654, 661, 663, 689, 691 Zweck 20f., 23, 27, 36, 53f., 69, 71, 86, 95, 107, 124, 131f., 134, 178, 180, 191, 195, 219f., 225, 230, 232, 234–236, 241, 247, 250, 253, 255, 260, 262, 265, 267–269, 292, 303f., 306–308, 311–313, 320, 331, 338, 340–342, 345, 347, 380–382, 400, 410, 421f., 424f., 456f., 464, 468, 475, 491, 506, 556, 578f., 591, 593, 596, 624, 627, 639, 656, 672, 690, 700, 706 Zweite Sophistik 44–46, 80, 154, 184, 312 Zwei-Welten-Lehre 390