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German Pages 191 [200] Year 2009
Ryôsuke Ohashi
Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre Hegel und die Phánomenoetik der Compassion
VERLAG KARL ALBER - A
Ryôsuke Ohashi Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre
VERLAG KARL ALBER
A—
Über dieses Buch: Die phänomenologische Interpretation der Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre ergibt, dass sich die äußere Tragweite des Sinnlichen über das Ganze der Phänomenologie des Geistes erstreckt. Dementsprechend werden auch die inneren Tiefenschichten des Sinnlichen, die den jeweiligen Stufen der Phánomenologie des Geistes entsprechen, hervorgehoben.
Ein neuer Sinnhorizont des »Gemeinsinnes«,
der »Sympathie« und der sittlich-religiósen »Gesinnung« wird dadurch erschlossen. Die tiefste Innenschicht des Sinnlichen, die dem »absoluten Wissen« als dessen Element zugrunde liegt, lässt sich schliefslich an die mahayana-buddhistische Idee der » Compassion« anknüpfen. Worum es in dieser Untersuchung geht, ist neben einer neuen Interpretation der Phänomenologie des Geistes die »Phánomenoetik
der Compassion«, wie der Autor sie ausgehend von der genannten ma-
hayana-buddhistischen Idee seit Jahren zu entwerfen versucht hat. Indem der Autor das grofsartige Werk Hegels »mit Hegel anders als Hegel« liest, wird sein Entwurf hier einen Schritt weiter gebracht. Über den Autor: Ryósuke Ohashi, geboren 1944, Studium an der Universitát Kyóto, Promotion in München, Habilitation in Würzburg. 1990 vom Bundesprásidenten mit dem Siebold-Preis ausgezeichnet. Seit der Emeritierung an der Universitát Osaka 2006 hat er den Lehrstuhl für Philo-
sophie an der buddhistischen Ryükoku Universitát in Kyóto inne.
Ryôsuke Ohashi
Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre
Hegel und die Phänomenoetik der Compassion
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Fóhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten ISBN 978-3-495-48376-3
Inhalt
TAWNA
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
........
»Sehen« und »Sich-sehen-lassen« . . . . . 2.2222... »Hören« und »Sich-hören-lassen« . ........... »De Anima« von Aristoteles ............... Der »Gemeinsinn« bei Descartes
.............
Die Tiefenschicht des Gemeinsinnes --
Mit Hegel anders als Hegel
................
I. Teil: Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
. . . .
1. 2.
Die äußere Tragweite des Sinnlichen ........... Einblick in das Gesamtgefüge der Phänomenologie des
3.
Der neue Sinnhorizont des Gemeinsinnes: sensus communis non-communionis . . sooo aa 4s
Geistes
..........................
Il. Teil: Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre L.
...........
Bewusstsein — Meldung des Sinnlichen im Wissen 1.1. Sinnliche Gewissheit ................. 1.2. Die Wahrnehmung .................. 1.3. Ῥεγγετοιαπὰ..................... Selbstbewusstsein — Horizonteróffenung des Gemeinsinnes 2.1. Herr und Knecht ................... 2.2. Das unglückliche Bewusstsein ............ Vernunft -- »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn 3.1. Beobachtende Vernunft - Leiblichkeitsaspekt des Sinnlichen ...................... 3.1.1. »Das Äußere ist der Ausdruck des Inneren«
Inhalt
3.12. Die Beobachtung der Natur und des SelbstΡενπιβοϊδείπο.................. 3.1.3. Einschlag des Schädels .............
3.2. Tätige Vernunft - Vom Gemeinsinn zur »Sym-pathie« 3.2.1. Der Fall »Faust« ................ 3.2.2. Das Gesetz des Herzens und die »Sym-pathie« .
3.2.3. Das Pathos ἀετΤυρεπὰ............. 3.3. Gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft -Die »Gesinnung« als Tiefenschicht des Sinnlichen
3.3.1. Das geistige Tierreich als das geistige Reich des Sinnlichen ................... 3.3.2. Gesunde Vernunft ............... 3.3.3. Sittliche Gesinnung .............. Geist -- Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen . . .... 4.1. Der sittliche Geist — Das Pathos als die Erschlossenheit der Μες ....................... 4.1.1. Die Sym-pathie als das Weltgefühl . ...... 4.1.2. Das notwendige Fehlen der Sym-pathie in der herrschaftlichen Gewalt ............ 4.1.3. Das Sinnliche als das Weltpathos . . . ..... 4.2. Der sich entfremdete Geist -- Die ungemeinsamgemeinsame Sym-pathie ...............
4.2.1. Das Pathos der Entfremdung
. .........
4.2.2. Die ungemeinsame Sym-pathie ........ 4.2.3. Der Kampf der Aufklárung mit dem Aberglauben .................. 4.2.4. Die Paradoxie der absoluten Freiheit . . .... 4.3. Der seiner selbst gewisse Geist — Die Sym-pathie mit dem absolut Anderen ......
4.3.1. Die moralische Weltanschauung
. .......
4.3.2. Gewissen ................. c... 4.3.3. Schöne Seele .................. Religion - Sym-pathie in der unendlichen Differenz von Gott und Mensch .....................
5.1. Stelle und Bedeutung der »Religion« . . . . ..... 52. Offenbare Religion ................νιν 5.3. Das Gefühl »Gottistgestorben«
...........
Absolutes Wissen — Lassen und Gelassenheit des Pathos . . 6.1. DieFormdes»Selbst« ................
Inhalt
6.2. Die Aufhebung der Zeit ............... 6.3. Die Aufhebung des Sinnlichen ............ Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion« Nachwort
165 168
. ......
175
...........................
185
Literaturverzeichnis
. ............-...-.......
187
Einfache Zahlen in Klammern verweisen auf die Seitenzahlen der Phänomenologie des Geistes, Band 3 der Ausgabe: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, herausgegeben von E. Moldenhauer und K.M.
Michel, Frankfurt 1969 ff.
»Wir sind Ein denkendes
sensorium
commune,
nur von verschiedenen Seiten berührt — da liegt die Erklärung« Johann Gottfried Herder,
Über den Ursprung der Sprache (1772)
Einführung: Zu den Tiefenschichten des
sinnlichen'
1.
»Sehen« und »Sich-sehen-lassen«
Dass man die Dinge »sieht«, kann auch heißen, dass diese Dinge »sich sehen lassen« bzw. »sichtbar werden«. Ob beides einem gleichen Sachverhalt entspricht, ist die Frage.? Ein zunáchst grammatisch deutlicher Unterschied liegt darin, dass das Subjekt im letzteren Fall nicht der »Mensch«, sondern die »Dinge« sind. Dieser Unterschied ist auch im Englischen zwischen den Ausdrücken »see« und »comes into sight«, im Franzósischen zwischen »voir« und »étre en vue« festzustellen. Die ! Das Thema »Tiefenschichten des Sinnlichen« steht zunáchst nahe zu dem Thema »Tiefendimensionen des Ästhetischen«, wie der Titel des I. Bands der zweibändigen und feinsinnigen Arbeit von Rudolf zur Lippe, Sinnesbewusstsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, Hohengehren 2000, lautet. Zur Lippe untersucht die biologischen, paläontologischen, embryologischen und psychologischen Grundlagen des Asthetischen, was kurz als »anthropologische« Sinneslehre bzw. Ästhetik gilt. Die im vorliegenden Buch gemeinten »Tiefenschichten des Sinnlichen« verweisen aber ihrerseits, indem sie durch die Auslegung der »Phánomenologie des Geistes« als Sinneslehre herausgestellt werden, letztlich auf die Dimension, in der die »anthropo«-logische Dimension aufgehoben und die Dimension bzw. der Ort des »Absoluten« erschlossen wird, der mit der mahayana-buddhistischen »Compassion« verglichen wird. Diese Blickrichtung sei zum Anfang der Untersuchung als Vorwegnahme der am Ende zu gewinnenden Einsicht bemerkt. ? Die hier angegebenen Ausdrücke »Sehen« und »Sich sehen lassen« sind zunächst die Übersetzungen der japanischen Wendung »miru« und »mieru«. Zu den in diesen Ausdrücken enthaltenen philosophischen Problemen gab es bisher etliche Reflexionen, wie: Hide Ishiguro, »Miru'koto to 'mieru koto«, in: Shisó, Vol 600, 1974, 5. 43-53; Shózó
Ömori, »oto ga suru« und »miru — kangaeru«, in: Nagare to yodomi, Gesammelte Schriften von Shózó Ömori, Bd. 5, 1999, S. 45-55; Takashi lida, »Miru«
to »mieru«,
in: Iwanami Tetsugaku 01, Tokio 2008, S. 107—133. Die vorliegende Betrachtung geht zwar auch von diesen Sprachphánomenen aus, aber die Richtung ist anders: Es geht hier darum, die Phánomene als Eingang zu den Tiefenschichten des »Sinnlichen« wahr-
zunehmen,
um schließlich diese Tiefenschicht im Lichte des buddhistischen Begriffs
» Compassion« und vice versa zu durchleuchten.
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
Dinge kommen als Subjekt auch in den reflexiven oder medialen Wendungen vor: »La mer se voit« oder: »Das Meer lässt sich sehen«. Die
alltágliche Sprache ist zwar nicht philosophisch, aber sie birgt oft in sich die Seinserfahrung, die der philosophischen Reflexion bedarf.
Wie ist es mit dem »Sehen« des Ich und dem »Sich-sehen-lassen« der Dinge? Gewóhnlich wird das »Sehen« als der bewusste oder unbewusste
Vollzug des Gesichtsorgans des Menschen verstanden. Dass aber die
Erfahrung des »Sehens« sich nicht im bloß organisch-biologischen Wirken des Gesichtssinnes erschópft, ist in der obigen Seinserfahrung deutlich zu verstehen. Das Subjekt des »Sehens« wird zusammen mit den Dingen, die »sich-sehen-lassen«, in die Umgebungswelt geworfen. In eins mit den Dingen, die sich sehen lassen, geschieht diese Umge-
bungswelt. Dieses Sich-zeigen der Welt bzw. die Welterscheinung wird
am »Sehen/Sich-sehen-lassen« der Dinge in nicht-thematischer Weise erfahren.
Wie wir nachher erórtern werden, wurde die Struktur des »Sehens/
Sich-sehen-lassens« als solches Geschehen schon bei Aristoteles grundsátzlich gedacht. Das Sehen bzw. das Sich-sehen-lassen hat die Tiefe und die Tragweite, die sich über die bloße Sinneslehre hinaus an die Seinslehre des Abendlandes und sogar an die christliche Mystik?
anschließt.
Auch im 20. Jahrhundert wird das im Phänomen des Sehens/Sich-
sehen-lassens verborgene Problem oft hervorgehoben, wie z.B. in der Phänomenologie von Merleau-Ponty. Er sagt, dass der Gesichtssinn »das Mittel ist, um das Sich-aufreißen des Seins (la fission de l'Etre) von innen her zu bezeugen«.* Sein Wort verrát die Ansicht, dass der
Gesichtssinn dem Geschehen des Sich-zeigens der Welt als dessen inniges Strukturmoment zugehört und so auch zum Aufriss des Seins gehórt. Der Gesichtssinn selber gilt bei ihm als ein Ort des Aufrisses des Seins. Merleau-Ponty entwickelte diesen Gedanken vor allem am
3 Bei Meister Eckhart gibt es viele Stellen, an denen er anhand des »Sehens« der Dinge
mit den Augen das Sehen Gottes (genitivus subjectivus und objectivus) beschreibt. Dies ist nicht als bloßes Gleichnis zu verstehen. Vgl. Deutsche Mystiker des vierzehnten
Jahrhunderts, Bd. 2: Meister Eckhart. Hrsg. von Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, Nach-
druck: Aalen 1962, S. 59. Ebenso kann das Wort: »Herr, in deinem Licht werden wir das Licht erschauen« zu den Beispielen gezählt werden. In: Meister Eckharts Schriften und Predigten, hrsg. von Hermann Büttner, Jena 1923, Bd. 1, S. 200. * Maurice Merleau-Ponty, L'oeile et l'esprit, Paris 1964, S. 81.
10
»Sehen« und »Sich-sehen-lassen«
Beispiel der Erfahrung des Gesichtssinnes des Malers als Erklärung
dieses Sinnes. Es ist zwar nicht zu übersehen, dass er die anderen sinn-
lichen Empfindungen verhältnismäßig zu wenig beachtete,5 aber innerhalb des beschránkten Umkreises stellte er das Geschehen des »Sichzeigens der Welt« am Gesichtssinn phänomenologisch heraus und
leitete die Umwendung der Perspektive ein, den Gesichtssinn nicht
vom »Individuum«, sondern vom »Sein« bzw. von der »Welt« her zu
begreifen. Das »Sich-zeigen der Welt« geschieht zwar zunächst an dem Ort des »Sinnlichen«, aber die »Welt« als solche bleibt kein bloß sinnliches
Phänomen; sie als der unser ganzes Sein umschließende Ort wird auch in der Tiefe des Inneren von uns empfunden und erschlossen, dementsprechend wird das Sinnliche selber durch die Oberfläche der sinnlichen Empfindungen hindurch zu den verinnerlichten Stimmungen bzw. immer tieferen Gefühlen verwandelt. Ein phänomenologischer Aufweis dieser Welterschlossenheit ist beispielsweise bei Heidegger zu finden, der die »Befindlichkeit« als eine Seinsweise des Menschen
angab und die Erschlossenheit der Welt in der »Gestimmtheit« suchte.
Die Stimmung hieß bei ihm nicht der bloß innere Zustand des Men-
schen, sondern eine Seinsweise des menschlichen »Daseins« als die Er-
schlossenheit der schließlich als der senheit zum Tod«. neswahrnehmung
»Welt«.6 Diese Seinsweise des Daseins zeigt sich existentielle Modus der »vorlaufenden EntschlosZwischen diesem Modus und der äußerlichen Singibt es freilich einen großen Dimensionsunter-
schied, aber eben dies besagt,
dass das Sinnliche das ist, was
sich
immer vertieft und verschiedene Tiefenschichten hat. Das »Sehen/Sich-sehen-lassen« kann sich als der optische Aspekt dieses Sich-zeigens der Welt verstehen lassen. Es enthält die Dynamik
der »Vertiefung« bzw. »Verinnerlichung« der Erfahrung des Gesehe-
nen und des Sehens. So werden wir von einem Meisterwerk der Male-
rei, das wir sehen, bewegt. Dementsprechend zeigt sich das Bild, das
»sich sehen lässt«, je innerlicher das Sehen des Betrachters wird, in
5 Das Übergewicht des »Gesichtssinns« in der Wahrnehmungslehre von Merleau-Ponty änderte sich nicht bis zu seinem Nachlass »Le visible et l'invisible« (1959-60). Dies deutet an, dass seine »Phänomenologie der Wahrnehmung« trotz aller Radikalität und des reichlichen Gehaltes im Grunde innerhalb der Platonischen Tradition des »Sehens« geblieben ist. 6 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, Martin Heidegger Gesamtausgabe, Frankfurt a.M., 1977, 829.
Bd. 2,
11
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
seiner Tiefenschicht. Das Werk zeigt sich bald als ein »natural subject matter« mit Linien und Farben, bald auf der Ebene der »iconography« als »conventional subject matter«, das die im Werk dargestellte Erzählung oder Allegorie erkennen lässt, oder gar auf der Ebene der »iconography in a deeper sense« als Ausdruck der symbolischen Werte.” Es ist ebenfalls leicht vorstellbar, dass die Stimmungen und die Gefühle nicht bloß als introjektiv-psychologische Phänomene, sondern als atmosphärische Elemente des Sich-zeigens der-Welt? zu interpretieren sind. Das »Sehen« wird, wenn es auf diese Weise in immer tieferer
Schichten aufgeschlossen wird, am Ende zu einer existenziellen Wendung führen. So wird das »Sehen Gottes« bei Meister Eckhart, wie es in Anm. 3 angegeben wird, an anderen Stellen wie folgt formuliert: »Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe«.?
7 Vgl. Ervin Panofsky, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, Oxford UP, 1939, S. 5f., S. 14 f.
8 In dieser Richtung ist die » Neue Phánomenologie« einzuschätzen, wie sie im umfang-
reichen »System der Philosophie« von Hermann Schmitz, vor allem im III. Band, 2. Teil: Der Gefühlsraum, 2. Auflage, Bonn 1981, entwickelt wird. Schmitz zeigt, dass das Gefühl und die Stimmung, somit die Atmospháre überhaupt, nicht blof$ das Pháno-
men der psychologischen »Introjektion«, sondern der Ausdruck der Welt ist. Insofern stimmt seine Ansicht mit der im vorliegenden Buch überein. Seine breite Perspektive ist sicherlich anzuerkennen, aber man vermisst oft sehr den Einblick in die »Tiefe« der
Phänomene von Atmosphäre und Gefühle. Wenn er z.B. von der »Abgründigkeit« der Gefühle redet (vgl. ibid., S. 264{.), so meint er mit der Abgründigkeit letztlich die grundlose Unbestimmtheit der Quelle der Gefühle, was mit der »Windnatur« verglichen wird, und nicht die grundlose Tiefe des Gefühls selbst. Wenn er das religióse Gefühl behandelt (vgl. H. Schmitz, System der Philosophie, Dritter Band, 4. Teil: Das Góttliche und der Raum, Bonn. 1977), so geht es »darum, unwillkürliche Evidenzen
aufzudecken, die das Vorkommen von Göttlichem so bezeugen, dass sich der Betrachtende ihrem Zeugnis bei eindringlicher Vertiefung nicht im Ernst entziehen kann« (ibid., S. 3). Statt also in die Tiefe der religiósen Erfahrung hineinzusehen, will seine Neue Phänomenologie diese Erfahrung als Phänomene der Atmosphäre von außen her erkláren. Eine grundsátzlich kritische Überprüfung, ob und inwieweit die »Neue Phànomenologie« im Hinblick auf die lange Tradition der abendländischen Metaphysik »neu« sei, wird von Wolfhart Henckmann
in: »Atmosphüre — Stimmung -- Gefühl«
(jap.), in: Karista. Forschung zur Ästhetik und Kunstlehre (jap.), 2007, No. 14, S. 2075 vorgelegt. ? Das vollstándige Zitat Hegels lautet: »Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; mein Auge und sein Auge ist eins. In der Gerechtigkeit werde ich in Gott gewogen und er in mir. Wenn Gott nicht wäre, wäre ich nicht; wenn ich nicht wäre, so wäre er nicht. Dies ist jedoch nicht Not zu wissen, denn es sind Dinge,
die leicht missverstanden werden und die nur im Begriff erfasst werden kónnen« (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Erster Teil. Der Begriff der Religion,
12
»Sehen« und »Sich-sehen-lassen«
Hegel zitiert ein anderes, aber inhaltlich gleiches Wort in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Religion«.!? Dazu ist noch der japanische Philosoph Kitaró Nishida zu zitieren: »Das Sehen heift eine Wendung der Seinsweise des Selbst, und ist dasselbe mit der Bekehrung«.!! Das Sehen in diesen Fällen bedeutet nicht, dass man etwas Gegenständliches sieht, aber auch nicht, dass man sich selbst im Inne-
ren reflexiv sieht. Es weist auf die Sachlage hin, dass das Subjekt des Sehens, indem es seine Subjektivität beibehält, in dessen Grund durch-
brochen und zum »Kein-Subjekt« bzw. »Kein-Ich« wird, was aber kei-
ne ohnmáchtige Ichlosigkeit bedeutet, sondern heißt, dass erst in dieser
Abgründigkeit des Kein-Ich das von der Ichheit befreite Ich besteht. Das »Ich sehe« wird dort eins mit dem »Kein-Ich sieht«. Der paradoxe Sachverhalt gilt: »Es gibt kein Ich, das sieht. Deshalb sehe ich«. Keiji
Nishitani, der das Verhältnis von Gott und Mensch bei Eckhart als die
»noetische Vereinigung« in der Tátigkeit des »Sehens« begriffen hat, erklärt, dass diese noetische Vereinigung, wenn sie eigens auf die Menschenseite bezogen wird, der Sachverhalt bedeutet, »dass das Sehen und das Nicht-sehen, diese widersprüchlichen Zustände eins werden«.!? Das von ihm gemeinte »Nicht-sehen« ist das »Sehen« vom »Kein-Ich«. Das oben Gesagte verbindet sich mit der entscheidenden Aussicht des vorliegenden Buches, dass das »Sinnliche« als der Ort des Sich-zeigens der Welt schließlich mit dem »Großen Mitgefühl« (Compassion) des Mahayana-Buddhismus im Einklang steht. Wenn diese Aussicht philosophisch begründet und phánomenologisch entwickelt wird, so kónnte die Compassion, die bisher in dem Rahmen der buddhistischen Lehre verschlossen und dogmatisiert worden war, von diesem Rahmen befreit und im Denken inmitten der gegenwártigen Welt eine belebende Wirkung haben. Dies bleibt im Moment nur eine Ahnung. Das vorWerke, Bd. 6, S. 209. Die dieser Übersetzung ungefáhr entsprechende Stelle findet sich in: Meister Eckhart Werke, Josef Quint/Niklaus Largier et al., I, Frankfurt am M. 1993, S. 148, 31-34. Weitere, mehr oder weniger verwandte Ausdrücke, finden sich bei Eckhart in dessen Deutschen Predigten »Qui audit me«, »Justus in perpetuum vivet«, »Bea-
ti pauperes spiritu« (Vgl. Meister Eckeharts Schriften und Predigten, hrsg. V. Büttner,
1903).
10 Hegel zitiert eine andere, aber inhaltlich gleiche Stelle in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religionen. Frankfurt am Main 1969, S. 209.
1 Gesammelte Werke Kitaró Nishidas, 4. Aufl., Bd. 11, S. 424/5.
2 Keiji Nishitani, Was ist Religion? Vom Verfasser autorisierte deutsche Übertragung
von Dora Fischer-Barnicol, 2. Auflage 1986, S. 243.
13
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
liegende Buch ist ein Versuch, diese Ahnung schrittweise zu belegen. Dieser Versuch ist nicht ohne Vorgänger. Die Philosophie des »absoluten Nichts« bei Nishida und die der »Leere« bei Nishitani gelten als Beispiele dafür. Hier kann noch weiter zurückgegangen werden. In der Sinneslehre von Aristoteles, die nichts mit dem Mahayana-Buddhismus zu tun hat, findet man eine tief fundierende Reflexion dieses Problems, und die Phänomenologie des Geistes von Hegel, die im vor-
liegenden Buch vorrangig thematisiert wird, bietet einen ausgezeich-
neten Ansatzpunkt. Jedoch, bevor wir auf diese Werke eingehen, ist
noch die vorbereitende Betrachtung weiter fortzusetzen. 2.
»Horen« und »Sich-hóren-lassen«
Wie es die Erfahrung gibt, dass etwas »sich sehen lässt« bzw. »in die Sicht kommt« oder »sichtbar wird«, so gibt es auch die Erfahrung, dass etwas »sich hören lässt« bzw. »zu hören ist«. Von der ichlichen Erfah-
rung her betrachtet, wird das »Ich hóre« als fundamental empfunden.
Aber oben wurde erórtert, dass das ichliche Bewusstsein auf dessen
Abgründigkeit hin durchbrochen werden kann, so dass das Ich von dieser Abgründigkeit her begriffen wird. In dieser Sicht ergibt sich, dass
ich, bevor ich etwas hóre, in die Welt geworfen worden sein muss, in
der dieses Etwas hórbar wird. Dort ist das »Sich-hóren-lassen« als geschehendes Sich-zeigen der Welt ursprünglicher bzw. früher.
Um hier die Einsicht von Aristoteles, die wir nachher ausführen werden, vorwegzunehmen, so lautet sein Wort: »Die Wirklichkeit des
Wahrnehmbaren (τοῦ αἰσθητοῦ) und der Wahrnehmung (τῆς αἰσθῆσεως) ist ein und dieselbe, ihr Sein (τὸ εἶναι) ist aber nicht dasselbe, z. B. der wirkliche Schall und das wirkliche Gehór. Es ist móglich, Ge-
hór zu besitzen und doch nicht zu hóren, und was Schall besitzt, schallt nicht immer. Wenn aber, was zu hóren vermag, wirkt, und was zu schallen vermag, schallt, dann ist zugleich das wirkliche Gehór und der wirkliche Schall da, und man móchte sagen, das eine sei Hóren, das andere Schallen«.!? Dass ein Geräusch »hórbar wird« und dass »ich 13 Aristoteles, De Anima, 425b26—426a1. (Übersetzung nach der Ausgabe: Willy Theiler, Aristoteles. Über die Seele, 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1966. Im Folgenden wird Aristoteles nach dieser Ausgabe zitiert. Die Einsetzung des griechischen Terminus
in Klammern stammt vom Verfasser. Die Stellen, die der Verfasser anders als Theiler
14
»Hóren«
und »Sich-hóren-lassen«
es hóre«, geschieht zugleich, und dies bildet das »Geschehnis eines Geräusches«. Dies heißt wiederum, dass das »Hóren« der Ort ist, an dem
das Geschehnis eines Geráusches »sich zeigt«. Vom Subjekt des Hóren-
den her gesagt, bedeutet es, dass das Subjekt »das Sich-aufreißen des Seins vom Geráusch von innen her bezeugt«, so dass ich dem Gesche-
hen des Tones innig zugehóre, und dies bedeutet, dass »ich den Riss des Seins von innen her bezeuge«. Um der Vorsichtigkeit willen ist zu bemerken, dass dieses Geschehen des Tones nicht durch Psychologie erklárt werden kann, die davon ausgeht, dass das in den Gegenstand projizierte subjektive Gefühl mit der objektiven Eigenschaft des Gegenstandes identisch ist. Dies wurde einst von Moritz Geiger in seinem Buch Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik dargestellt.'* In seiner psy-
chologischen Kunstphánomenologie wird aber die Dimension des »Sich-zeigens der Welt« nicht berührt, weil sie von der Annahme der Projektion des subjektiven Gefühls in die Gegenstandswelt ausgeht. Das Geschehen »ein Geräusch ist zu hóren« oder »ein Geräusch
lässt sich hóren«, das strukturell dem Geschehen
»ich höre ein Ge-
ráusch« vorausgeht, ist der akustische Eingang des Sich-zeigens der Welt, das in sich die immer tieferen Schichten hat. Aber dieser Eingang übersetzte, sind vermerkt. Da das griechische Wort »αἰσθήσις« von Theiler bald mit
»Empfindung«, bald mit »Wahrnehmung« übersetzt wird, so werden im Folgenden auch diese Begriffe je nach Kontext gemischt verwendet.). Gegen die These des Verfas-
sers, dass »hórbar werden« ontologisch früher sei als »ich hóre«, womit der Vorrang der
Dimension des »Sich-zeigens der Welt« gemeint ist, könnten Einwände erhoben werden. Denn Aristoteles schreibt kurz danach, dass »die Wirksamkeit des Wahrgenom-
menen (αἰσθητόν) und die des Wahrnehmungsfáhigen (αἰσθητικόν) im Wahrnehmungsfähigen (αἰσθητικόν)« (426a11-12) ist, und man kann diesen Satz zunächst so verstehen, dass Aristoteles doch das subjektive Vermógen der Wahrnehmung zum Ausgangspunkt nimmt. Aber dabei ist Vorsicht geboten. Denn die vorher zitierte Stelle sagt eindeutig, dass eben dieses sonst zuerst als bloß subjektiv aussehende Vermögen nicht ohne Zusammenspiel mit der »Wirklichkeit des Wahrnehmbaren« ist, während für die neuzeitlich-transzendentale Bewusstseinsphilosophie die Annahme der »Wirklichkeit« des Gegenstandes die Vernichtung ihrer Grundposition bedeutet. Was mit dem obigen Satz gemeint wird, ist, wie im Folgenden erörtert wird, dass das zuerst als blof$ subjek-
tive aussehende Wahrnehmungsvermógen in Wirklichkeit der Zwischenbereich zwischen dem Wahrnehmungsvermógen und dem Wahrnehmbaren ist. Dieses »Zwi-
schen«, die Mitte, ist, wie ebenfalls im Folgenden interpretiert werden wird, in der
Aristotelischen Sinneslehre von zentraler Bedeutung. 14 Vgl. Moritz Geiger, Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertüsthetik, hrsg. von Klaus Berger und Wolfhart Henckmann, München 1976.
15
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
wird gewöhnlich verdeckt. Denn das Geschehen »ein Geräusch ist zu hören« wird im Alltag von morgens bis abends ständig erfahren und ist so selbstverständlich, dass es kaum bewusst vernommen wird. Wenn
aber diese vor-bewusste bzw. bewusst-lose Seinsweise in gewissem Sinne als gemeinsam mit dem sog. »Kein-Herz« begriffen wird, das durch die Befreiung von der Bindung der Ichheit erreicht wird, so ist umge-
kehrt eben in dieser Seinsweise die ursprüngliche Selbstheit des Ich zu erkennen, die vor aller phänomenologischen Analyse des Ich-Bewusstseins liegt. Wenn es sich so verhält, so ist auch im Fall des »Hörens« genau
wie des »Sehens« anzunehmen, dass es sich an eine existenzielle Wen-
dung des menschlichen Subjektes anschließt. Das vorhin zitierte Wort Nishidas kann wiederholt werden, indem das »Sehen« mit dem »Hören« ersetzt wird: »Das Hören in diesem Fall bedeutet nicht, dass man
etwas Gegenständliches im Draußen hört. Unser Selbst kann sich selbst nicht hóren, so wenig wie das Ohr sein Hóren nicht hóren kann. Das
Hören kann eine Wendung der Seinsweise des Selbst bedeuten, und ist
dasselbe mit der Bekehrung«.?? In der Tätigkeit des »Hórens« ist die
Dimension
des »Nicht-Hórens«
enthalten. Wenn
Augustinus
fragt,
wer das am Anfang der Schöpfung ausgesprochene Wort Gottes gehört
hat,!ó dann muss diese Dimension des Nicht-Hörens enthalten sein. Denn eine Stelle im Alten Testament, an die Augustinus an dieser Stelle gedacht haben dürfte, lautet: »ohne Sprache und ohne Worte;
unhórbar ist ihre Stimme. Ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt«.7 Die unhörbare Stimme hören muss heißen, dass das Wort Gottes im »Nicht-Hören« sich hören lässt,
indem das hórende Ich ich-los und »Kein-Ich« wird. Diese Welt- und Selbsterfahrung ist nicht als eine bloß mystische Erfahrung vorzustellen; sie muss in der Erfahrung »ein Geräusch ist zu hóren« oder »ein
15 Diese Umformulierung befremdet nicht, wenn daran eingesehen wird, dass Nishidas
Philosophie sich nicht nur mit dem Zen-Buddhismus verbindet. Er selber wurde in einer Familie geboren, in der die Eltern Gläubige der Sekte des Reinen Landes waren. Er selber war vertraut mit dieser Richtung. In dieser Sekte ist der Begriff des »Hórens« von großer Bedeutung. »Das Dharma hören« heißt dort die Grundhaltung der Gläubigen, die täglich Sutras lesen und Predigten anhören. Nishida wäre deshalb nicht dagegen, in seinem Wort das »Sehen« mit dem »Hóren« zu ersetzen. 16 Augustinus, Civitas Dei, Bd. 11, Kap. 4, 1. U Psalmen, 19.4.
16
»Hören«
und »Sich-hóren-lassen«
Geráusch lásst sich hóren« als deren Tiefenschicht schon enthalten
sein.
Wenn im Gehórsinn die oben genannte Tiefenschicht geborgen
ist, so muss dasselbe auch vom Geruchssinn, Geschmackssinn, Tastsinn
usw. gesagt werden. Hier sei aber auf eine ausführliche Betrachtung verzichtet und die Darstellung auf das Nótige beschränkt. Bei diesen Sinnen hat man prinzipiell gleiche Ausdrücke, in denen Dinge das Subjekt sind: »Die Küche riecht«, »der Salat schmeckt«, »dieser Dorn tut mir weh«, usw. Der Mensch ist in den Ort geworfen,
in dem sich erst die mit diesen Ausdrücken gemeinten Dinge in der subjektiven Sinnesempfindung zeigen. Das Subjekt der Sinnesempfindung ist meistens am Anfang unmittelbar eins mit diesem Geschehen, wird aber ebenfalls meistens im nächsten Augenblick zum Subjekt der Beurteilung. Wenn das Geschehen selber einen geistigen Charakter hat, vertieft sich auch das Sinnliche zur innerlichen Geistigkeit. Um es mit einem Satz zu sagen, ist ein »Weg« im fernóstlichen Sinne in seinen Tiefendimensionen zu antizipieren, wie der »Duftweg« als die Übung der Vernehmung von feinen Gerüchen oder der »Genussweg der Feinkost« als Weg, auf dem man den Feinsinn trainiert, den Ge-
schmack der Feinkost zu vernehmen. Das »Berühren« kann als Tast-
sinn im übertragenen Sinne, als das Ergreifen bzw. Ergriffenwerden
von einem Ding, verstanden werden. Alle Ausdrücke deuten an, dass die sinnliche Erfahrung durch eine existentielle Wendung oder Kehre zu der Erfahrung wird, in der die Ichheit des menschlichen Subjekts
zunichte geht und zum »Nichts« wird. Im Sutra »Hannya-Shingyó« (Sutra des Herzens der tiefen Weisheit), in der der mahayana-buddhistische Gedanke in konzentrierter Form zusammengefasst wird, kommt
das Wort vor: »Es gibt kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Leib, kein Bewusstsein; es gibt keine Farbe, keine Stimme, keinen Duft, keinen Geschmack, kein Gefühl, kein Dharma«. Diese Weise
des Sich-zeigens der Welt darf als dieselbe Sache verstanden werden, die Nishitani vorhin mit dem »Nicht-Sehen« als die Wesensnatur des »Sehens« erórterte.
Das oben Gesagte ist weiterhin nicht als die speziell buddhistische
Erfahrung, sondern auch als das Wesentliche der religiósen Erfahrung
überhaupt zu verstehen. So wird z. B. im 1. Korintherbrief von Paulus gesagt: »Denn so oft ihr von diesem Brot esset und von diesem Kelch trinket,
sollt ihr des Herrn
Tod verkündigen,
bis dass er kommt«
(11.26). Wenn dieses Wort vom dogmatischen Rahmen befreit und rein 17
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
sachlich aufgenommen wird, so deutet es an, dass das Trinken und Es-
sen überhaupt nicht nur die bloße Aufnahme der Nahrung zum Zweck des Lebens auf der biologischen Ebene bleibt, sondern auch die geistige
Tat der menschlichen Existenz sein kann. 3.
»De Anima« von Aristoteles
In der langen Geschichte der Philosophie hat es für solch ein fun-
damentales Problemgebiet natürlich zahlreiche Denkversuche gegeben, so dass allein der Überblick über diese Forschungsgeschichte einen umfangreichen Artikel beanspruchen würde. Aber auch ohne diesen
Überblick darf man sicherlich sagen, dass »De Anima« von Aristoteles
der Archetyp bzw. der Ausgangspunkt der Sinneslehre ist und als das Werk gilt, das den seitherigen Sinneslehren als Maß dient. So ist auch hier dieses maßgebende Werk heranzuziehen, wobei das »Sich-zeigen
der Welt« durchgehend der Fokus der Betrachtung bleibt.
Das Buch »De Anima« enthált die Lehre von der Empfindung (Sinnlichkeit), Einbildung und Vernunft. Die Empfindungslehre zeichnet sich in unseren Augen darin aus, dass sie in der sonst als passives Vermögen angenommenen Empfindung eine Bewusstseinstätigkeit bzw. eine gewisse Aktivität herausfindet. Hegel weist darauf hin, dass die Rezeptivität der Empfindung bei Aristoteles nicht nur als Passivität, sondern auch als Aktivität des Erkennens zu begreifen und dies »der ganz richtige Standpunkt der Empfindung« ist.!? Da sich eben diese Einschátzung auch in Hegels eigener Auffassung vom Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes spiegelt und die Ansicht über das geistige Element des Sinnlichen im vorliegenden Versuch von fundamentaler Bedeutung ist, sollte die Aristotelische Sinneslehre etwas ausführlicher verfolgt werden. Eine zentrale Einsicht seiner Sinneslehre ist im folgenden Satz zu erblicken: »Denn die Wirksamkeit des Wirkungsfáhigen (τοῦ ποιητικοῦ) und Bewegungsfáhigen (τοῦ κινητικοῦ) findet sich in dem (die Einwirkung) Erleidenden (ἐν τῷ xàoyovt)«.? Dies heißt, dass die sonst als subjektiv angesehene Empfindung in Wirklichkeit das »Zwischen« (Mitte) zwischen dem Gegenstand der Empfindung und dem 18 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke, Bd. 19, S. 205/206. 19 Aristoteles, De anima, 426a4—5.
18
»De Anima«
von Aristoteles
Empfindungsvermógen ist. In diesem Zwischen ist die Empfindung zwar unmittelbar zusammen mit dem Gegenstand der Empfindung, aber dennoch in der Weise der Fusion, so, dass ein prinzipieller Abstand zwischen ihr und dem Gegenstand beibehalten wird. Einen Baum un-
mittelbar empfinden, egal ob im Gesichtssinn, Geruchssinn, Tastsinn usw., bedeutet nicht, materiell zu diesem Baum zu werden. Dort wird
der Baum immer als »Gegenstand« bzw. als das »Andere des Empfindenden«
wahrgenommen,
und dies bedeutet wiederum,
dass in der
Empfindung ein »Abstand« in der Unmittelbarkeit der Empfindung enthalten ist. Eben dieser Abstand ist zugleich das oben genannte
»Zwischen«. Darum stellt Aristoteles die Frage, wieso die Pflanze, ob-
wohl sie von der Umgebung empfindet. Seine Antwort μεσόθητα) hat. Um es mit weil die Pflanze an sich kein
verschiedene Wirkungen erleidet, nichts ist: weil die Pflanze keine »Mitte« (τὸ den bisher verwendeten Worten zu sagen: Ort für das »Sich-zeigen der Welt« ist. Sie
kónnte nur dann ein solcher Ort sein, wenn angenommen wird, dass
sie sinnliche Empfindung hat.?!
Die Empfindung bei Aristoteles ist auch in einem anderen Sinne
die »Mitte«. Denn das zu Empfindende kann nur dann sinnlich wahrgenommen werden, wenn es sich in einem Zwischenzustand befindet. Weder das allzu laute Geráusch, das den Gehórsinn zerstóren kann,
noch das allzu Leise kann gehórt werden. Das Sonnenlicht kann nicht direkt mit den Augen gesehen werden, so wenig wie das Blinken des Feuerwurms bei Tageslicht sichtbar wird. Nur der Zwischenzustand der Helle ist für die Augen wahrnehmbar. Dies heift, dass die Sinnesemp-
findung selber die Mitte zwischen den extremen Polen ist, und zwar
nicht blof inaktiv als die Folge der schon vorhandenen Pole, sondern als die aktiv diese voneinander unterscheidende Mitte. »Infolgedessen unterscheidet die Mitte (ἡ μεσότης) das Wahrnehmbare (τὰ αἰσθητά). Denn das Mittlere (τὸ μέσον) ist das Unterscheidende (τὸ χρι-
tuxóv)«.2 Der Akt der Unterscheidung ist weiterhin nicht die bloße
20 Ibid., 424b1. 21 Wird dieses gesagt, so wird auch eine weitere Frage erhoben werden, nämlich ob dann bei Vögeln, Fischen, Würmern usw. die Sinnesempfindung je der Ort des Sich-zeigens der Welt ist. Die Antwort kann aus der Sinneslehre des Aristoteles nicht direkt hergeleitet werden. Mit ihm könnte nur gesagt werden, dass nur die Sinnesempfindung, die eine gewisse Aktivität der Erkenntnis hat, die »Mitte« im obigen Sinne, somit der Ort des Sich-zeigens der Welt, sein kann. 22 Ibid., 424a5/6. Die Übersetzung des zweiten Satzes wird vom Verfasser geändert.
19
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
Scheidung, sondern das Erkennen des gewissen »Verhältnisses« zwi-
schen den beiden Polen. Um das Verhältnis (ὁ λόγος) zu erkennen bzw. zu messen, wird nun ein Maß benötigt. Beim Messen von etwas muss das Selbige von dem, was gemessen wird, verwendet werden. Die Empfindung muss selber das genannte Verhältnis als Maß besitzen. So sagt Aristoteles: »Denn das Wahrnehmungsvermögen (ἡ αἴσθησις) ist eben eine Art Verháltnis«.? So bleibt die Sinnesempfindung als Ort des
Sich-zeigens der Welt nicht bloß die Rezeptivität der bloß äußerlichen
Empfindung, wie so oft vorgestellt wird, sondern sie hat eine Art Aktivität des logischen Erkennens des Verhältnisses. Es ist dann vorauszusehen, dass sie sich mit dem Gebiet des geistigen Wirkens verbindet. Als der Zugang von der bloßen Sinnesempfindung zum Geist gilt bei Aristoteles der »Gemeinsinn« (αἴσθησις κοινή). Da dieser Begriff der Schlüssel für das Ganze des vorliegenden Buchs ist, ist er in seinen Grundzügen zu skizzieren. Daraus wird hervorgehen, dass der Gemeinsinn bei Aristoteles wiederum als die »Mitte« bzw. als die tiefere Dimension der Mitte in der Weise der Empfindung aufgefasst werden kann. Aristoteles weist deutlich darauf hin, dass es nur fünf SinnesempTheilers Übersetzung lautet: »Denn das Mittlere hat die Fähigkeit zur Unterscheidung«. Die Änderung wird nicht nur deshalb gemacht, weil der Verfasser das originale Wort »τὸ γὰρ μέσον κριτιιόν« treuer übersetzen wollte, sondern auch weil er das Wort »das Unterscheidende« (τὸ κριτικόν) später als Terminus nochmals verwendet. 23 Ibid., 426b3. Wolfgang Welsch weist darauf hin, dass die Bezeichnung der »Mitte« nicht nur auf das »Verhältnis« verweist. »Die neoötng-Kennzeichnung deutet auf beides: auf den Verhältnis-Charakter sowie die Abhebungs-Leistung des Sinns« (Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stutt-
gart 1987, S. 173). Mit der Abhebungs-Leistung des Sinns meint er die grundsätzliche Abgehobenheit der aisthetischen von der rein physischen Seinsweise. Dieser Hinweis schließt sich offensichtlich an das Vorhaben seiner Abhandlung, den Aristotelischen Begriff der Aisthesis ontologisch als »Seinsvollzug des Sinnlichen« aufzufassen, was im vorliegenden Buch der Absicht entspricht, das Sinnliche als Ort des »Sich-zeigens der Welt« aufzufassen. Welsch versucht seitdem, von der Aristotelischen Aisthesislehre ausgehend, die Idee der »transversalen Vernunft« zu entwickeln, die im Unterschied zum Universalismus und Relativismus die Diversität und Heteronomität aisthetisch rezipiert und zugleich vernünftig versteht. Seine Aristoteles-Interpretation kann in dieser Sicht für die vorliegende Studie als eine Vorgängerin gelten. (Die andere Vorgängerin ist die Arbeit von Eigen Fink, Hegel. Phänomenologische Interpretation der »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt a.M. 1977, 2. unveränderte Auflage 2007. Dazu
vgl. Anm. 59). Der Verfasser versucht allerdings dem Aristotelischen Begriff der »Mitte« das größere Gewicht zu geben und seine Sinnlichkeitslehre als den Zugang zur Hegelschen »Phänomenologie des Geistes« zu lokalisieren.
20
»De Anima«
von Aristoteles
findungen gibt und außer diesen keine weiteren vorhanden sind und dass weiterhin keine dieser fünf durch die anderen ersetzt werden
kann. Er sagt aber weiter, dass die Bewegung, die Ruhe, die Größe, die Nummer usw. diejenigen sind, die zwar von jeder der fünf Empfindungen wahrgenommen werden kónnen, dass aber der Ort ihres Sich-zeigens nicht auf eine dieser fünf spezialisiert ist. Sie affizieren die einzelnen Empfindungen, sind aber allen fünf Empfindungen gemeinsam. »Für die gemeinsamen Wahrnehmungsgegenstánde aber haben wir schon einen gemeinsamen Sinn (αἴσθησιν κοινήν), und zwar nicht nebenbei (κατὰ ovufepnxóc)«.7 Dieser gemeinsame Sinn ist also nicht der sechste Sinn, sondern das, was in fünf Sinnen gemeinsam
enthalten ist. Noch wichtiger ist, dass er das Unterscheidende (τὸ κρῖνον, τὸ κριτικόν) ist, z.B. von Süß und Weiß. Zwar können Süß und Bitter vom Geschmackssinn unterschieden und der Unterschied von Weiß und Schwarz vom Gesichtssinn vernommen werden, aber Süß und Weiß können von keinem dieser Sinne unterschieden werden. Einerseits müssen sie je schon vom Geschmacks- und Gesichtssinn
wahrgenommen worden sein, um unterschieden zu werden, aber die
Unterscheidung selber muss allein von dem Sinn geleistet werden, der
den beiden Sinnen gemeinsam ist, somit vom Gemeinsinn. Dieser ist
also nicht die bloße Rezeptivität, sondern ein unterscheidendes Denken. »Also ein und dasselbe sagt es aus, und wie es aussagt (λέγει), so denkt (νοεῖ) es auch und nimmt wahr (αἰσθάνεται) «.25 Jedoch, wenn
nur von der Aktivität des Erkennens die Rede sein soll, so ist diese Aktivität auch den fünf Sinnen zuzuschreiben. Zwischen dem Faktum,
dass die fünf Sinne das Verhältnis (λόγος) in sich haben, und dem, dass der Gemeinsinn es hat, muss es aber einen Dimensionsunterschied ge-
ben.
Dass der Gemeinsinn in den fünf Sinnen vorhanden ist und den
Inhalt dieser Sinne voneinander unterscheidet, bedeutet von den fünf
Sinnen her gesehen, dass diese fünf Sinne sich im Gemeinsinn als ihrem Ort finden und sich selbst »vernehmen«. An diesem Ort kommt
zustande, dass das Sehen Sehen selbst sieht, und das Hóren Hóren
selbst hórt, somit das Empfinden Empfinden selbst empfindet. Die
Antwort auf die Frage, die »eine Schwierigkeit (ἀπορία) bietet, die
Frage, warum es nicht auch eine Wahrnehmung (αἴσθησις) der Wahr-
24 Ibid., 425a27. 25 Ibid., 426b21/22.
21
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
nehmungsvermögen selbst (τῶν αἰσθήσεων αὐτῶν) gibt«,” liegt im
Gemeinsinn. Dies heißt wiederum, dass der Gemeinsinn faktisch die Funktion des »Selbstbewusstseins« der fünf Sinne in sich enthält. AuKerdem ist der Gemeinsinn, indem er in den fünf Sinnen vorhanden ist, die je die »Mitte« bedeuten, die diesen gemeinsame Mitte, somit
die all diese durchziehende zentrale Achse. So muss der Gemeinsinn als das Selbstbewusstsein der fünf Sinne und deren zentrale Achse der Zugang sein, in dem die fünf Sinne mit dem geistigen Denkvermógen miteinander verbunden werden. Dies soll im Hinsicht auf das Denken überprüft werden. Aristoteles unterscheidet allerdings das Denken von der Wahrnehmung. »Da das Denken (νοεῖν) etwas anderes ist als das Wahrnehmen (αἶσθάνεσθαι)«,2
so muss seine Beschaffenheit untersucht werden.
Es ist
vor allem die Betátigung des Geistes. »Deshalb nimmt man mit Grund auch nicht an, dass der Geist (ὁ νοῦς) mit dem Körper vermischt sei«.?? Jedoch muss auch das Denken eine Art Rezeptivität besitzen, solange der Geist gemäß der Seinsweise der Seele als der »Ort der Denkformen« (τόπος eiððv)? gilt und das diese Formen Aufnehmende (ðexτικὸν τοῦ εἴδους) ist. »Wenn sich denn das Denken mit dem Wahrnehmen vergleicht, ist es ein Erleiden (πάσχειν) seitens des gedachten Gegenstandes (τοῦ νοητοῦ) oder etwas anderes derartiges. So muss der Seelenteil leidensunfáhig (ἀπαθὲς) sein, aber fähig die Form auf-
zunehmen«.?? Das Denken ist, indem es, wenn auch ohne Materie, die
Formen aufnimmt, in seiner Rezeptivitát eins mit der Sinnesempfindung. Die Tátigkeit der Seele, den Gegenstand zu erkennen, besteht nicht, ohne dass die Seele von dem zu erkennenden Gegenstand affiziert wird. Bei Kant wird diese Rezeptivitát durchaus der Sinnlichkeit
zugeschrieben, so dass der »Schematismus« benótigt wird, um die re-
zeptive Sinnlichkeit und den aktiv denkenden Verstand miteinander zu verbinden. Aber bei Aristoteles wird diese Rezeptivität der Vernunft selbst zugeschrieben. Die Vernunft wird, obwohl vom Kórper getrennt und als Wirkendes (τὸ ποιηθιχόν) die aktive Vernunft, dennoch aber einen Teil haben, der sich als die »passive Vernunft« (6 παθητιχὸς 26 Ibid., 41822/3.
27 28 29 3
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
22
427b27. 429a24/25. 429a27/28. 429a13/16.
»De Anima«
von Aristoteles
νοῦς)" bezeichnen lässt. Während die aktive Vernunft unsterblich (ἀθάναθος) und ewig (ἀΐδιος) ist, ist die letztere sterblich (φθαρτός),
womit aber zugleich gemeint sein soll, dass »es (das Wirkende, d.h. die
Vernunft) ohne diesen Teil (die passive Vernunft) nichts denkt«.?? Es
gibt zwar die Interpretationsrichtung, in der diese passive Vernunft mit der Einbildung identifiziert wird,? aber das wäre eher das Kantische Schema und nicht das Aristotelische. Zusammenfassend sei gesagt: Bei Aristoteles ist die sinnliche
Wahrnehmung die »Mitte« zwischen dem wahrnehmenden Subjekt
und dem wahrzunehmenden Gegenstand, und diese Mitte selbst ist das Verhältnis (ó λόγος), an dem das Wahrgenommene als das Mittelmäßige gemessen wird. Als solche Mitte unterscheidet sie das wahrnehmende Subjekt und das wahrgenommene Objekt und ist somit kein bloß rezeptives Vermögen, sondern eine Art Aktivität des Erkennens.
Die erkennende Vernunft andererseits, die unsterblich und nicht rezep-
tiv ist, d.h. nichts empfindet, schließt eine gewisse Rezeptivität doch
nicht aus, solange sie als der Ort der Formen diese aufnimmt. Es ist konsequent anzunehmen, dass die sinnliche Wahrnehmung und die erkennende Vernunft wesentlich zusammengehören. Als der Bereich dieser Zusammengehörigkeit ist der »Gemeinsinn« zu sehen.
Zur Beleuchtung dieser Zusammengehörigkeit ist zu bemerken,
dass die »Mitte«, die in der Aristotelischen Sinneslehre auftaucht, der
Bereich ist, der in seiner Mehrdeutigkeit einer sorgsamen Interpretation bedarf. Es war Keiji Nishitani, der in seiner »Abhandlung zu Aristoteles« (jap.) diese Mitte als Kern der Sinnlichkeitslehre von Aristoteles herausstellte. Er deutete die Tragweite dieser »Mitte« mit folgender
31 Ibid., 430a24/25. Die Übersetzung Theilers lautet: »der leidende Geist«. Sie wurde
vom Verfasser teilweise mit Rücksicht auf den Hegelschen Terminus »Vernunft« und »Geist« geändert.
32 Ibid., 430426.
33 Vgl. Muneaki Mizuchi, Kommentar zu »De Anima« von Aristoteles (jap.), Kyoto 2002, S. 121. Zwar sagt Aristoteles, dass die Einbildung (phantasia) nicht ohne Wahrnehmung zustande kommt (ibid. 428b12/13). Aber gerade deshalb sind beide nicht identisch miteinander, so dass ihr Verhältnis zueinander befragt werden muss. Die von Aristoteles gemeinte »phantasia« wird übrigens von Theiler mit »Vorstellung« übersetzt. Der Verfasser móchte sie aber deshalb mit »Einbildung« übersetzen, weil dadurch der Zusammenhang zwischen der Aristotelischen und der Kantischen Erkenntnistheorie deutlicher zu sehen ist. Nach der letzteren ist es bekanntermaßen die Einbildungskraft, die zwischen der Anschauung und dem Verstand steht, wáhrend die phantasia zwischen der aisthésis und dem nous steht.
23
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
Bemerkung an: »Wenn man die Mitte zwischen dem Bereich des Sinn-
lichen und der Vernunft bis zum Ende verfolgt, wird man wohl dorthin
gelangen, wo die Vernunft als Form der Formen, vor allem die aktive Vernunft, und schließlich der Gott selbst, als die Mitte bzw. das Zen-
trum für alles Andere erschlossen wird«.?* Aber diese Bemerkung wur-
de lediglich als Anmerkung eingefügt und nicht weiter entfaltet. 4.
Der »Gemeinsinn« bei Descartes
Dass das Sinnliche die Geistigkeit bzw. Intellektualität als seine tiefere Schicht in sich birgt und diese Schicht sich als der » Gemeinsinn« ausdrückt, wurde bei Thomas von Aquin noch deutlicher formuliert.”
Aber auch in der Neuzeit, beispielsweise in der Wissenschaftslehre Fichtes, die sonst als ein Pol des Intellektualismus angesehen wird, wird
die »intellectuelle Anschauung« von Fichte selbst als Prinzip, das »stets mit einer sinnlichen verknüpft« ist, erklärt.? Er spricht von derselben Sachlage, wenn er die »unmittelbare Wahrnehmung« nicht bloß Wahrnehmung,
sondern »ein Gefühl« nennt; »so nenne ich es lieber, als
nach Kant Empfindung«.? Das Gefühl gilt in der Tat als der Zwischenbereich zwischen der äußeren Empfindung und dem Inneren des Geistes.
Es sei hier eine Frage vorwegzunehmen, ob das Gefühl und die sinnliche Wahrnehmung nicht eher das Problem der Psychologie als das der Philosophie sei. Die klassische »James-Lange Theorie« am Ende des 19. Jahrhunderts und die »Cannon-Bard Theorie« in den zwanziger
Jahren des 20. Jahrhunderts, die Einwände gegen die erstere erhob, sind
in der Philosophie nicht unbekannt. Die relativ neue »Schachter-Singer
* Keiji Nishitani, Abhandlung zu Aristoteles (jap.), 1948, jetzt in: Gesammelte Schriften Keiji Nishitanis (jap.), Bd. 5, Tokyo 1987, S. 32. 35 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, q. 78, a. 4, ad 2: »Ultimum iudicium et ultima discretio pertinet ad sensum communem, quis iudicium aliorum perficit.« (Das letzte Urteil und das letzte Unterscheiden gehórt dem sensus communis, der das Urteil und das Unterscheiden der anderen Sinne vervollstándigt). Vgl. auch folgende Stelle: »Sensus communis fertur in omnia sensibilia secundum unam communem rationem« (Der sensus communis betátigt sich in allen Sinnen, die der einen gemeinsamen Vernunft folgen) (ibid., I, q. 1, a. 3, ad). 36 Johann Gottlieb Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Sämtliche Werke, herausgegeben von I. H. Fichte, 8 Bde., 1845/1846, Bd. 1, S. 464. 7 Ders., ibid. S. 490. Vgl. dazu auch ibid., S. 455.
24
Der »Gemeinsinn«
bei Descartes
Theorie« wird vermutlich auch deshalb weitgehend akzeptiert, weil sie die beiden vorangehenden Theorien in sich vereinigt. Alle diese Theorien thematisieren »emotion« bzw. »feeling«. Es ergibt sich jedoch bei der weiteren Beobachtung, dass das in diesen Theorien thematisierte
Problemgebiet nichts mit der philosophisch-phänomenologischen Sinneslehre zu tun hat. Denn der Streitpunkt und der Fokus in diesen Theorien sind die genetische Erklárung und der physiologische Mechanismus des Phánomens der »emotion«. Es geht in ihnen um die Frage, ob das Phänomen der »emotion« als körperliche Reaktion auf die äueren Faktoren der Reizung und die innerliche Bearbeitung dieser Reizung anzusehen ist oder als die von der Reizung im Gehirn veranlasste Reaktion oder ob es durch lebende Materie, z. B. Hormone, verursacht
wird. Diese physiologischen Untersuchungen der genetischen Ursache und des Mechanismus der Emotion berühren mit Recht nicht den existentiellen oder phánomenologischen Sinngehalt der Emotion. Sie thematisieren nicht die Frage, was Schmerz, Lust, Hunger, Zorn,
Freude, Trauer usw. mit der innerlichen Gesinnung des Geistes zu tun haben, geschweige denn, welche Tiefe die Emotion als phänomenologische Erfahrung hat. Die Kenntnisnahme dieser psychologischen Forschung hat nur dann einen Sinn für die Philosophie, wenn die philosophische Sinneslehre ihre eigene Stellung und Bedeutung erneut feststellen will. Am Anfang des vorigen Abschnittes hat der Verfasser zwar angekündigt, auf die Ausführung der Geschichte dieser philosophischen Sinneslehre
zu verzichten,
aber
es wáre
doch
nótig,
das
mindest
Notwendige dieser Geschichte ins Auge zu fassen. Nachdem die Grundzüge der Aristotelischen Sinneslehre herausgestellt wurden, ist 33 William James (1842-1910) und Carl Lange (1834-1900) haben Ende des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts die Genese der Emotion aus der Stimulation am peripheren Nervensystem als die physiologische Änderung erklärt, während Bradford Cannon (1871-1945) und Philip Bard (1898-1977) in den zwanziger Jahren anhand des Experimentes mit dem Hund, dessen Rindensubstanz im Gehirn beseitigt wurde, behaupteten, dass die Emotionserfahrung in den Zentralnerven im Gehirn »früher« einsetzt als die Perzeption der Stimulation an äußeren Organen. Stanley Schachter (19221997) und Jerome Singer (* 1950) haben - diese zwei Theorien berücksichtigend - »physiological arousal« und »cognitiv label« als zwei Faktoren der Emotion bezeichnet. Die »Emotion« im engen Sinne des Wortes ist das erstere, das nur kurz dauert, und das »Gefühl« ist das letztere, das sich lánger halt. Vgl. dazu Joseph E. LeDoux, The Emotional Brain. The Mysterious Underpinnings of Emotional Life, New York 1996).
25
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
die Cartesianische Sinneslehre als Markstein der Neuzeit zu überblicken. Der »Discours de la Methode« von Descartes beginnt bekannterweise mit dem folgenden Satz: »Le bon sens est la chose du monde la mieux partagée«.* Das prägnante französische Wort bon sens bedeutet wörtlich »der gute Sinn«. Es wurde aber in der 1644 veröffentlichten, von Etienne de Courcelles verfassten, aber von Descartes selbst autorisierten, lateinischen Übersetzung?! mit »bona mens« übersetzt, also
mit dem »guten Geist«. Diese Übersetzung ist nicht überraschend, denn auch im Text von Descartes wird bon sens gleich nach dem zitier? In der Form der »Anmerkung« sollen lediglich einige weitere Sinneslehren erwähnt werden. Beim Vertreter des Sensualismus, Étienne Bonnot de Condillac (1715—1780), ist das »Sinnliche« ebenfalls nicht blof$ das Sinnliche; es hat die Bedeutung der »Quelle« des Intellektus. In seiner Traité des Sensation, 1754, fügte er eine Zusammenfassung, Extrait raisonné, hinzu, in der er schreibt, es gehe in seinem Buch darum, »de faire voire
comment toutes nos connaissance et toutes nos facultés viennnent des sens, ou, pour parler plus exactement, des sensation« (Condillac, Traité des Sensation. Classiques Larousse, Paris, S. 15). Er erórtert, dass die zwei sinnlichen Vermógen
(sensation), das
Verstehen (apercevoir) und das Empfinden (sentir), dasselbe sind (op.cit. 24f.), sowie die Begierde (désir) und der Verstand (l'entendement) (op.cit. 24f.). Seine Lehre wird
zwar »Traité des Sensation« betitelt, aber der Inhalt ist die Lehre des Intellektus, aus-
gehend von der Sinnlichkeit. Wenn also nur dieser Titel hervorgehoben wird und sein Gedanke blof als »Sensualismus« bezeichnet wird, so wird sein Gedanke nicht genügend vermittelt, der vielmehr auf der Linie von Aristoteles über Descartes zu Hegel lokalisiert werden soll. Gegenüber dieser Linie ist bei manchen »modernen« Versuchen der Sinneslehre die Perspektive oft nur auf die Sinnlichkeit beschránkt und die tiefere Einsicht wird vermisst. Um nur ein, zwei Beispiele anzugeben, so geht die Arbeit von Michel Serres, Les Cinque Sens. Philosophie des corps mélés 1, Paris 1985, trotz seiner vielen interessanten Einfálle nie über die »fünf Sinne« hinaus. Dasselbe gilt auch von dem Versuch von Luc Ciompi, Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen 1997. Ciompi versucht die Bewegung der Gefühle in ihrem Verhältnis zur Kognition in der Analogie der Phänomene der »Fraktale« in der Natur logisch zu begreifen. In der Perspektive der historischen Sinneslehre ist die Kan-
tische Lehre als noch wichtiger als die Cartesianische anzusehen. Der Grund dafür ist,
dass im vorliegenden Buch der Blick auf Kant ausgelassen wird, wie spáter nochmals erwáhnt wird, obschon in der Perspektive dieses Buchs die beiden sich wesentlich in der
gleichen Richtung finden, der Perspektive námlich, dass sich das Sinnliche durch den
»Gemeinsinn« hindurch in die Geistigkeit vertieft. *9 René Descartes, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, plus la dioptrique, les météores et la géométrie, qui sont des essays de cette méthode. CEuvres de Descartes, publiées par C. Adam & P. Tannery, VI, Paris 1973, S. 1. 4 Ders., Dissertatio de Methodo, ibid., S. 540.
26
Der »Gemeinsinn« bei Descartes
ten Satz mit der »Vernunft« (la raison) gleichgesetzt und diese wieder-
um als »bon esprit« bezeichnet. Darin ist schon zu sehen, dass bei Des-
cartes das Sinnliche und die Vernunft verschiedene Aspekte desselben Geistes (l'esprit) bedeuteten. Dass dieser bon sens die gesellschaftlich gemeinsame »Weisheit« bedeutet, ist weiterhin an der Stelle zu sehen:
»ce qu'on nomme le bon sens ou la raison, est naturellement égale en tous les hommes«. Jedoch redet Descartes vom »Gemeinsinn« im engeren Sinne des
Wortes, d.h. im Aristotelischen Sinne, ausführlich in »Regulae ad di-
rectionem ingenii«* (im folgenden verkürzt: »Regulae«) und, wenn auch quantitativ nur wenig, jedoch mit wichtigen Folgen, in den »Cogitationes«. Die Frage im vorliegenden Problemzusammenhang ist, ob der Gemeinsinn bei Descartes blof$ neben dem bons sens als getrenntes Sinnesgebiet gilt oder in einem organischen Zusammenhang mit diesem steht. Die Einsicht ist in diesem Zusammenhang bei Descartes, wenn auch nicht ausdrücklich thematisch, gegeben. Zuallererst ist auf die »Regulae XII« als die für das vorliegende Thema wichtige Stelle zu achten. Dort werden námlich vier Vermógen zum Erkennen der Dinge angegeben: intellectus, imaginatio, sensus
und memoria (411). Beim einfachen Überblick ergibt sich, dass diese
vier Vermógen nicht beliebig aufgenommen sind, sondern einen organischen Zusammenhang bilden. Als die erste Stufe des Erkennens der Dinge wirkt der äußere Sinn, dessen Wesen in der passiven Affektion (passio) liegt, was mit der Tatsache verglichen wird, dass die Wachstafel (cera) von einem Siegel eine Form empfängt (412). Dieser Vergleich erinnert übrigens an den der »Wachstafel« (τὸ χήριον) im Platonischen Dialog »Theaitetos«*9 oder des »Notizbuches« (τὸ γραμματεῖον) in »De Anima« von Aristoteles, welche als Vorläufer des Gedankens der »tabula rasa« von J. Locke gelten. Auch bei Descartes wird neben der Rede von der Wachstafel von dem »Papierstück« (charta)
geredet, die eine tabula rasa ist.
Der philosophiegeschichtliche Rückblick ist aber kommt auf die Tátigkeit des sinnlichen Vermógens an. Lere Sinn vom Gegenstand (objectum) bewegt wird, so äußeren Sinn empfangene Gestalt auf den Gemeinsinn
sekundär. Es Wenn der àuwird die vom (sensus com-
42 Ders., Regulae ad Directionem Ingenii, ibid., X. 43 Platon, Theaitetos, 191c9. 44 Aristoteles, De Anima, 43041.
27
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
munis) übertragen, als wenn man auf einem Papierstück mit dem Stift
einen Buchstaben schreibt, wobei die Bewegung des unteren Teils des Stiftes auf das Ganze des Stiftes übertragen wird (414). Dieser Gemein-
sinn überträgt seinerseits die Form bzw. die Gestalt, die durch den äueren Sinn empfangen wurde, auf die Phantasie (phantasia) bzw. die
Einbildungskraft (imaginatio), »wie das Siegel auf die Wachstafel sich
hineinprágt« (veluti in cerá formandas). Wenn die Einbildung lange erhalten wird, wird sie zum »Gedáchtnis« und bewegt auch die Nerven. Aber die Quelle dieser Bewegung muss im Gehirn (cerebrum) liegen (414). Die Kraft (vis) des eigentlichen Erkennens der Dinge liegt in diesem Gehirn als die reine spirituelle (415). Sie wird dabei »vom ganzen Körper getrennt« (ibid.). Da diese spirituelle Kraft das eigentliche Erkenntnisvermögen ist, wirkt sie von Anfang an im Erkennensprozess. Sie empfängt nämlich zuerst auf der Stufe des äußeren Sinnes passiv das Siegel der Dinge wie auf der Wachstafel. Sie wirkt dann zusammen mit der Einbildung auf den Gemeinsinn, wodurch das sinnliche Wahrnehmen wie das Sehen
(videre) oder das Fühlen (tangere) zustande kommt. Wenn sie nur auf die Einbildung wirkt, so entsteht die Tätigkeit der Erinnerung (reminisci), und das Sich-einbilden (imaginari) geschieht, wenn in der Einbildung eine neue Form gestaltet wird, wodurch das Konzipieren (concipere) zustande kommt. Wenn sie schließlich von sich allein wirkt; so ist es das Verstehen (intelligere) (416). Es ist leicht festzustellen, dass dieser organische Zusammenhang vom Vorrang des Intellekts geprágt wird. Zwar wird der Intellekt von der Einbildungskraft bewegt bzw. wirkt auf diese, und diese Einbildung wird wiederum von der sinnlichen Wahrnehmung bewegt bzw. wirkt auf diese, so dass sie stándig die Zusammenarbeit
mit diesem Ver-
mógen benótigt und die Rede vom Vorrang der einen Seite vor der anderen keinen Sinn zu haben scheint. Aber der Intellekt muss allein
von sich aus wirken kónnen, wenn er das erkennt, was kein Materielles in sich enthált und rein Ideelles ist. Er muss dann so vorgehen, dass er
»den Sinn entfernt, und die Imaginationen so weit wie móglich von
allen Impressionen ausschließt« (416). In dieser neuzeitlichen Erkenntnislehre scheint der »Gemeinsinn« keine ausgezeichnete Stelle zu haben. Jedoch sieht man gleich, dass eben wegen des sonst klaren Dualismus vom Geist und Kórper die Car-
tesianische Erkenntnislehre ein Problem haben musste, was eben mit
dem Gemeinsinn zu tun hat. Diese Erkenntnislehre erklärt nämlich 28
Der »Gemeinsinn« bei Descartes
nicht, wieso die im Gehirn liegende, spirituelle Erkenntniskraft mit dem von ihr scharf unterschiedenen Vermógen zusammenarbeiten kann. Das Cartesianische Nachdenken zum Dualismus von Leib und Seele wird in den »Meditationes« gegeben. Dieses Buch geht von dem Misstrauen gegen den Sinn aus, da dieser ab und zu betrügt (Meditatio Prima), und dieses Misstrauen wird auch gegen den »so genannten Gemeinsinn«
(sensus communis, ut vocant) gerichtet (Meditatio Se-
cunda). Desto durchdringender ist die Frage, wie das sinnliche Ver-
mögen, das faktisch auch eine Quelle des Wissens ist, mit dem Intellekt
arbeitet. In der Tat wird die Antwort auf diese Frage in der Meditatio Sexta gegeben. Dort wird nämlich zunächst dasselbe erörtert, was in der »Regulae« dargestellt wird. Zugleich wird aber dargelegt, dass der Geist sich in einem »sehr kleinen Ort des Gehirns« betátigt, »in dem,
so wird gesagt, der Gemeinsinn ist« (in quá dicitur esse sensus communis).5 Dieser Körperteil ist die sog. »glandula pinealis«, an der, so dachte Descartes, alle leiblichen Empfindungen an die Wirkung des Geistes vermittelt werden. Eben dadurch konnte er behaupten, dass »das Vermógen des Wollens, des Sinnes und des Intellekts (facultas volendi,
sentiendi, intelligendi) ein und derselbe Geist« (una & eadem mens) sind.* Aus der Sicht der heutigen Physiologie hat die Glandula pinealis weder die Bedeutung des Sitzortes der Seele noch die Funktion der Verknüpfung von Körper und Geist, womit auch der von Descartes behauptete »Ort des Gemeinsinnes« zurückgewiesen werden muss. Eines kann aber nicht zurückgewiesen werden, nämlich, dass der Ge-
meinsinn an dem Verknüpfungsort von Körper und Geist, wo immer
dieser Ort auch sei, liegt. Die wichtige Folge dieser Auffassung ist, dass der Gemeinsinn einerseits der allen fünf Sinnen gemeine Sinn (sensus communis) ist und andererseits als der Vermittlungspunkt zum Geist allen Menschen gemeinsam ist, somit als die Basis des »bons sens« die Breite des gemeinschaftlichen Sinnes haben kann. Es wird oft darauf hingewiesen, dass der Gemeinsinn als Common Sense auf Cicero in der Römerzeit zurückgeht. Cicero gab aber keine Erklärung, in welchem Zusammenhang der Gemeinsinn im Aristote#5 Descartes, Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur, VII, S. 86.
46 Ibid. 5. 81.
29
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
lischen Sinne und sensus communis als Common Sense miteinander
stehen.” Auch Descartes tat das nicht. Aber in seinen »Meditationes«
wurde die fundamentale Einsicht, auch wenn sie noch nicht thematisiert wurde, doch vorbereitet. Das Werk von Descartes, in dem diese Einsicht etwas konkreter
dargelegt wird, ist »Les Passions de l'Ame«. Dort wird wiederum erór-
tert, dass die »kleine Drüse im Gehirn« der Ort ist, wo der Geist sich
betätigt. Aber im großen und ganzen geht es dort darum, wie die Passionen, die von der Begierde (désir) bewegt werden, durch die Vernunft bewältigt werden sollen. Dieses Werk stellt eine systematische Entwicklung der Passionen dar, die nicht bei Aristoteles zu sehen ist. In ihm werden zunächst sechs
fundamentale Modi der Passion angegeben: »Erstaunen«, »Liebe«, »Hass«, »Begierde«, »Freude« und »Trauer«. Diese haben je weitere Zweiggestalten. Das Werk zeichnet sich darin aus, dass es nicht nur in seinem äußeren Umfang die Aristotelische Sinnlichkeit übertrifft, sondern auch inhaltlich einen neuen Sinnhorizont des Gemeinsinnes eröffnet. Denn die sechs Hauptmodi der Passionen sowie die spezifischen Passionen, wie sie im III. Teil behandelt werden, enthalten alle mehr
oder weniger das Verháltnis zu den »Anderen«. Dies bedeutet, dass die Schrift »Les Passions de l'Ame« den Charakter einer Moralphilosophie erwirbt. Dieser moralische Charakter der Passionslehre ist in der breiteren Perspektive auch an der Position dieses Werkes innerhalb des gesamten Systems der Cartesianischen Philosophie festzustellen. Der Umriss seines philosophischen Systems wird nämlich bekanntermaßen in der Vorrede von »Les Principes de la Philosophie« (1647) mit dem »Baum der Weisheit« verglichen, dessen Wurzel die Metaphysik, der Stamm die Naturphilosophie, drei Zweige die Mechanik, die Medizin und die Moral sind. Die letzte wird als »die letzte Stufe der Weisheit« (le dernier degré de la Sagesse) betrachtet,? allerdings unter der Bedingung, dass die perfekte Kenntnis der anderen Disziplinen gegeben ist. Vor
allem wird die Wirkung der Physiologie auf den Geist erwähnt. Wenn
47 Ciceros Wendung bleibt auf der Ebene des Sprichworts, wie in Paradoxa Stoicorum, 6,3: Rarus enim feme sensus communis in illa Fortuna. (Selten ist der sensus communis
unter den Menschen vom Glück).
48 Vg]. Descartes, Les Passions de l'Ame, IX-2, I. Part, $31. 4
Ibid., IX-2, S. 14.
30
Die Tiefenschicht des Gemeinsinnes — Mit Hegel anders als Hegel
diese Erörterung zu einer selbständigen Disziplin ausgebaut wird, dann wird sie die Gestalt von »Les Passions de l'Ame«, wie wir sie jetzt haben; annehmen.’
Der Gemeinsinn knüpft sich an den gemeinschaftlichen Sinn als
bons sens und gewinnt eine Geistigkeit als Inhalt der Moralphilosophie. Eben diese Entwicklungslinie ist das, was spáter von Hegel in der Phänomenologie des Geistes im größeren Umfang aufgezeigt wird. Wie im Hauptteil erórtert wird, erhált der » Gemeinsinn« der Entwick-
lung des Geistes entsprechend die Bedeutung der gemeinsamen Passion bzw. des Sympathos. Da die Cartesianische Sinneslehre eben diese
Perspektive, wenn auch ohne sie zu thematisieren, als Folge mit sich
bringt, ist sie für uns unausweichlich. 5.
Die Tiefenschicht des Gemeinsinnes —
Mit Hegel anders als Hegel
Wenn von der Traditionslinie der Sinneslehre die Rede sein soll, so
sollte eigentlich auch die Kantische Lehre berücksichtigt werden. Es muss in der Tat eine philosophisch wichtige Aufgabe sein, eine Sinneslehre wie die »Transzendentale Ästhetik« in der Kritik der reinen Vernunft in Zusammenhang mit dem Gesamtwerk Kants zu betrachten. Aber die Phänomenologie des Geistes, die im Folgenden betrachtet wird, hat die Kantische Philosophie als Voraussetzung. Außerdem bleibt die Kantische Lehre des Gemeinsinnes als unabgeschlossenes Fragment. Er behandelte zwar den Gemeinsinn in der Kritik der Urteilskraft als den »gemeinschaftlichen Sinn«.’! Dieser wurde als die notwendige Bedingung der Allgemeinheit des ästhetischen Urteils »postuliert«. Dieses Postulat ist auf die »Teleologie« von Kant zurückzuführen, die im II. Teil der Kritik der Urteilskraft entwickelt wird.
Aber eben in diesem II. Teil verschwindet der sensus communis als Thema. Es ist nun zu bewundern, dass auch in der Aristotelischen Sinnes-
lehre ein Blick auf die »Anderen« enthalten ist, somit auch die Perspektive des Gemeinsinnes als des sozial-gemeinschaftlichen Sinnes vor50 Diese Ansicht wird auch von Wolfgang Röd in seinem Buch Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, München/Basel 1995, S. 145, geäußert.
51 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 840.
31
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
bereitet wird. Allerdings handelt es sich dabei nicht mehr um De Ani-
ma, sondern um die Nikomachischen Ethik. Das neunte Kapitel des
neunten Buches beginnt nämlich mit der Frage, ob der in sich erfüllte und befriedigte Mensch die Freunde braucht. Im folgenden sei der Aristotelische Gedankengang in einer Paraphrase zusammenzufassen. Aristoteles sagt ungefähr folgendes: Er denkt, dass der Sehende wahrnimmt, dass er sieht, der Hörende, dass er hört, der Gehende, dass
er geht, so dass wir wahrnehmen, dass wir wahrnehmen (ὅτι αἰσθανόueta), und denken, dass wir denken (ὅτι νοῦμεν), was soviel ist wie Wahrnehmen oder Denken, dass wir sind (ὅτι ἐσμέν). Sein (τὸ εἶναι) heißt Wahrnehmen oder Denken.? Dieser Gedanke erinnert an die Parmenideische These der Selbigkeit von Denken und Sein, aber bei
Aristoteles ist damit gemeint, dass das Sehen, Hören, Gehen, Wahr-
nehmen und Denken das »Selbstbewusstsein« gemeinsam haben. Dieses ist untrennbar mit dem Bewusstsein der »Anderen« verbunden. In der Tat entwickelt Aristoteles den Gedanken, dass von jedem das Da-
sein der Freunde genau in der Weise begehrt wird, wie er das eigene Dasein begehrt. »Mithin bedarf es auch eines Mitfühlens (συναισάνεσθαι) des Freundes, und ein solches wird vermittelt durch das Zusammenleben (ἔν τῷ συζῆν) und das Gemeinhaben (κοινωνεῖν) der Worte und Gedanken.«* Daraus folgt die These: »der Freund ist ja sein anderes Ich (ἕτερος αὐτός) «.53 Das oben gesagte »Mitfühlen« ist nichts anderes als der gemeinschaftliche Sinn, somit der Gemeinsinn. Aristoteles behandelt diesen
gemeinschaftlichen Sinn zwar nie thematisch, faktisch aber sieht er grundsätzlich ein, dass er wesentlich mit dem Selbstbewusstsein zu tun hat, das in jedem der fünf Sinne enthalten ist. Jedem Sinn ist sinnlich bewusst, was er vollzieht. Insofern ist er an sich schon die Vorstufe
bzw. Zugang zum sog. »Selbstbewusstsein«. Dieses spiegelt in sich das 5 Aristoteles, Ethica Nicomacea,
1170a27-b2. Dem Zitat wird die Übersetzung von
Eugen Rolfes in Aristoteles. Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes, herausgegeben von Günther Bien, Hamburg 1985, zugrunde gelegt. 533 Ibid., 1170b10-12. Das Wort συναιστάνεσθαι wird vom Verfasser mit »Mitfühlen« übersetzt. Nach Rolfes Übersetzung allerdings: das Bewusstsein des Daseins. Das Wort κοινωνεῖν wird vom Verfasser »Gemeinhaben«, aber nach Rolfes wiederum sinngemäß mit »Austausch« übersetzt. Das Wort »Mitfühlen« wird vom Verfasser teilweise auch deshalb gewählt, weil das Wort »Mitgefühl« eine mögliche Übersetzung für den erst später zu thematisierenden, bedeutsamen Terminus » Compassion« ist. 54 Ibid., 1170b6-7.
32
Die Tiefenschicht des Gemeinsinnes — Mit Hegel anders als Hegel
Zusammenleben und das Gemeinhaben der Worte mit den Anderen.
So wird der Zusammenhang vom Gemeinsinn als der den fünf Sinnen gemeinsame Sinn und als der gesellschaftliche Sinn auch bei Aristoteles eigentlich schon ins Auge gefasst. Es ist zu ahnen, dass der Gemeinsinn als das oben gemeinte Mitgefühl je nach der Art und Weise des Verhältnisses vom Ich und dem
Anderen mannigfaltig ist und unendlich viele Variationen hat. Der Inhalt des Mitgefühlten ist nie homogen; es enthält vielmehr ständig Gegensätze und Widersprüche in sich. Zwar besteht eine Gemeinschaft dadurch, dass seine Mitglieder innerhalb gewisser Grenzen homogen
sind, aber sie kann nie die Andersheit des Anderen ausrotten. In ihr
spiegelt sich vielmehr die »Fremdheit« bzw. die heteronome Anders-
heit zwischen den Menschen. Dann ist żu antizipieren, dass der Ge-
meinsinn als Mitgefühl von Menschen von Fall zu Fall als der ungemeinsame
Gemeinsinn,
als sensus
communis
non-communionis,
zu
bestimmen ist. Die Fremdheit bzw. die heteronome Andersheit wird immer tiefer empfunden, je weiter das Selbstbewusstsein des Men-
schen sich geistig und innerlich entwickelt. Am Ende wird sich ergeben, dass die Vertiefung des Sinnlichen und die Entwicklung des Geistes ein und derselbe Gang sind. Um
diese Tiefenschicht des Sinnlichen herauszustellen, wird in
der vorliegenden Untersuchung der Ansatz in der Phänomenologie des Geistes von Hegel gesucht. Dabei ist mit zwei fundamentalen Fragen bzw. Bedenken gegen diesen Ansatz im Voraus zu rechnen. Erstens
wird der, der dieses Werk kennt, von diesem Ansatz befremdet werden.
Denn es scheint, dass in diesem Werk das Problem des Sinnlichen
schon im ersten Kapitel »Sinnliche Gewissheit« erledigt wird und der
»Gemeinsinn« kein einziges Mal vorkommt. Aber wie vorhin zitiert, schätzt Hegel die Sinneslehre von Aristoteles als »den ganz richtigen Standpunkt der Empfindung« ein. Darum kann angenommen werden, dass in der Sinneslehre Hegels faktisch der Gedanke des Gemeinsinnes enthalten ist. Bei Aristoteles ging es um das Zusammenwirken von Sinn und Vernunft, und in der Vernunft gab es den aktiven und rezeptiven Teil. Es ist dann weiterhin zu antizipieren, dass in der Phänomenologie des Geistes, in der das Bewusstsein den Weg von der sinnlichen
Gewissheit zum absoluten Wissen erfährt, die Tragweite der Aristotelischen Sinneslehre beibehalten wird. Die zweite zu erwartende Frage ist: Wenn es in diesem Buch letztlich nicht um eine Hegel-Interpretation, sondern um die »phánomeno33
Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen
logische« Herstellung der Tiefenschicht des Sinnlichen geht, sollte
dann in einem so klassischen Text wie der Phänomenologie des Geistes der Ansatzpunkt gesucht werden - oder viel eher in den aktuellen Problemsituationen der Wirklichkeit anhand der wirklichen Phánomenen, wie es die Psychopathologie oder die Sozialpsychologie tut? Aber ob es wirklich einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Ansätzen gibt, ist fraglich. Denn eben in der Phänomenologie des Geistes werden die aktuellen Problemsituationen in der Wirklichkeit anhand der wirklichen Phánomene in Betracht gezogen. Und umgekehrt, wenn in der Psychopathologie oder der Sozialpsychologie die »wirklichen« Phänomene betrachtet werden, so geht es dort nicht bloß um die phänomenale Beschreibung, sondern um die »Analyse« und das » Verstehen der Bedeutung« dieser Phánomene, somit um die Phánomene als Texte. Die oben betrachteten Texte von Aristoteles, Descartes und He-
gel behandeln alle die »wirklichen Phánomene des Sinnlichen als Text«, und zwar nicht in der einzelnen Beobachtung, sondern in prinzipieller, philosophischer Einsicht. Die Phánomenologie des Geistes gilt als das profundeste Werk Hegels. Dies ist der Grund dafür, dass eine Phánomenologie des Sinnlichen anhand dieses Werks, durch dessen De-struktion, versucht werden darf.
Noch eine Frage kónnte erhoben werden, worauf dieser Versuch zielt und wohin er führt. Zum Schluss ist also noch ein Wort hinzuzufügen. Um vorwegzunehmen, was am Ende der vorliegenden Untersuchung sich ergeben wird: die in der Phánomenologie des Geistes verborgene Tiefenschicht des Sinnlichen wird am Ende dem sog. »Grofen Mitgefühl« (Compassion) im Mahayana-Buddhismus entsprechen. Umgekehrt wird der Weg der Phänomenologie des Geistes wohl anders als bei Hegel selbst, aber dennoch keineswegs im Widerspruch zu ihm, teilweise aus der Sicht dieses Großen Mitgefühls neu beleuchtet werden. Es geht darum, mit Hegel anders als Hegel zu denken. Die Notwendigkeit »anders zu denken« liegt darin, dass der Hegelsche Gedanke heute im Zeitalter der Interkulturalitát auch dem Leser begegnen wird, dem die Denktradition des Abendlandes nicht ganz zu eigen ist. Der Verfasser ist z. B. mit der Denkweise des Mahayana-Buddhis-
mus eher vertraut.
Damit wird nicht gemeint, dass hier der direkte Vergleich zwi-
schen der Hegelschen Philosophie und dem Mahayana-Buddhismus versucht werden soll. Es ist auch nicht gemeint, dass der mahayana-
buddhistische Begriff des Großen Mitgefühls »vorausgesetzt« wird. Es 34
Die Tiefenschicht des Gemeinsinnes — Mit Hegel anders als Hegel
geht nur darum, ihn zu »entleihen« als ein beleuchtendes Licht. Ein
typisches Beispiel dieser Entleihung wurde einst von Keiji Nishitani vollzogen, als er die mahayana-buddhistischen Begriffe in seinem Denken der »Leere« heranzog. Er sagt: »Ich habe diese Begriffe nur entliehen, damit sie die »Realität« bzw. das Wesen und die Wirklichkeit des Menschen erhellen«.55 Die vorliegende Abhandlung gilt am Ende als die wiederholende
Fortsetzung der De-Konstruktion, die der Verfasser vor mehr als zwanzig Jahren anhand der Hegelschen Logik versuchte.5* Wenn von einem Fortschreiten die Rede sein kann, so darf sie auch als Fortführung der Abhandlung des Verfassers Einführung in die Phänomenologie der Compassion (jap: Hi no Genshóron Josetsu, Tokyo 1998) verstanden werden. Im Hauptteil tritt der Begriff »Pathos« immer mehr in den Vordergrund, der inhaltlich an die »Passion« von Descartes oder an die »sympatheia« (συμπάθεια) der Stoa anschließt. Das englische Wort »compassion« ist die stehende Übersetzung für den mahayanabuddhistischen Begriff des »Hi«, der im Titel der oben genannten Schrift des Verfassers steht. So reihen sich vielleicht die langsamen Schritte des Verfassers am Ende irgendwie aneinander.
5 Keiji Nishitani, ibid., S. 10.
5 Der Verfasser, 1984.
»Zeitlichkeitsanalyse der Hegelschen
Logik«,
Freiburg/München
35
l. Teil: Tragweite des Sinnlichen in der Phánomenologie des Geistes
Der Weg der Phänomenologie des Geistes ist nicht geradlinig, sondern kurvenreich, manchmal sogar steil und sprunghaft, so dass, wie nachher erórtert wird, bisher in der Hegel-Forschung sogar oft in Frage gestellt wurde, ob und inwieweit er einen einheitlichen Charakter hat. Eines kann im Voraus schon gesagt werden: Auf diesem Weg kommt immer wieder der Ausdruck »wir« vor, und zwar jedes Mal an der Stelle, an der eine den Weg weiterführende Einsicht gewonnen wird. Dieses »Wir« ist das Absolute, das in der Weise der »Parusie« das jeweilige Bewusstsein begleitet, dieses zum Selbstzweifel und zur Verzweiflung bringt und es zur hóheren Stufe hinauf schiebt.! »Wir« tritt jedoch nicht wie Deus ex machina auf, der als ein transzendentes Absolutes
von oben die Handlung des Dramas steuert, sondern sozusagen als das im Bewusstsein selbst über dieses Hinaussteigende, als der »sich auf den ganzen Umfang des erscheinenden Bewusstseins richtende Skeptizismus« (73), um die jeweilige Meinung und Vorstellung des Bewusstseins zu prüfen.? Die Überprüfung wird mit dem Auge der Skepsis vollzogen, die ursprünglich: »σχοπειν«, ein Umspähen, somit ein »Sehen« bedeutet. Solange dieses Auge von »uns« den ganzen Weg der Phünomenologie des Geistes begleitet, hat der Weg einen einheitlichen Charakter. Mit dieser Feststellung ist weiterhin zu schließen, dass der ganze
Weg als der Weg des Geistes zugleich mit einem Sinnlichkeitscharakter ! Zu dieser Parusie des Absoluten im Gang des Bewusstseins vgl. die wesentliche Einsicht von Martin Heidegger in seiner Abhandlung Hegels Begriff der Erfahrung, in: Holzwege, Martin Heidegger-Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 115-228. ? Zum Skeptizismus in der Phánomenologie des Geistes vgl. Klaus Vieweg, Skepsis und Freiheit. Hegel über den Skeptizismus zwischen Philosophie und Literatur, München 2007, vor allem die Erórterung auf S. 307-334, wo Vieweg darauf hinweist, dass Hegels Bescháftigung mit dem Skeptizismus auch zur »Aufhebung der Sprache der Vorstellung in die Sprache des Begriffs« führt.
37
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
versehen wird. Denn das »Sehen« bzw. »Umspáhen« ist doch sinnlich. Aber dies muss noch anhand des Textes im Einzelnen belegt werden. Der Weg der Phünomenologie des Geistes beginnt bekanntlich mit der Stufe der »sinnlichen Gewissheit«. Dieser Abschnitt scheint im Hinblick auf den Grundcharakter des gesamten Weges der Phänomenologie des Geistes zunächst die unterste bzw. einfachste Stufe zu sein, die deshalb für die spáteren Stufen nur wenig Bedeutung hat. Es ist aber gerade die im folgenden vertretene These, dass sich dies nicht so einfach verhält. Denn die sinnliche Gewissheit wird auf den entwickelteren Stufen der Wahrnehmung sowie des Verstandes und dann zusammen mit Wahrnehmung und Verstand auf den weiteren Stadien
— wie dem Selbstbewusstsein, der Vernunft, dem Geist — bis zum abso-
luten Wissen, als »Moment« wiederholend. All diese späteren Stufen vollziehen wiederholt die Bewegung der sinnlichen Gewissheit als ihr Moment. Was bedeutet diese Wiederholung? Eines kann im Voraus eingesehen werden: Die äußere Tragweite des Sinnlichen erstreckt sich über das Ganze der Phänomenologie des Geistes. Dementsprechend kann auch die innere Tiefe des Sinnlichen durch eine hermeneutische Auslegung, anhand des Prozesses der Gestaltung des Wissens, herausgestellt werden. Das gesamte Werk kónnte sogar in einer gewissen
Umkehrung als »Phánomenologie des Sinnlichen« »de-konstruiert« werden. Das Problem und die Bedeutung des Abschnittes über die Sinnlichkeit kann also erst im Hinblick auf das Ganze des Weges der Phünomenologie des Geistes eingesehen werden, wie sich umgekehrt dieses Ganze erst von der sinnlichen Gewissheit her in einigen wesentlichen Aspekten beleuchten lásst. Nebenbei sei bemerkt, dass das »Ganze« des Weges der Phänomenologie des Geistes an sich schon ein Problembegriff ist, der in der Forschung bereits viel diskutiert wurde. Die folgende Untersuchung
der sinnlichen Gewissheit sowie des Sinnlichen wird versuchen, auf
diese Frage ein anderes und neues Licht zu werfen. Dabei sollen die Innenschichten des Sinnlichen als die Grundschichten der jeweiligen Stufe des Bewusstseins bzw. des Geistes, somit der äußeren Tragweite des Sinnlichen entsprechend, herausgestellt und im Ganzen unter dem
Namen des »Gemeinsinnes« zusammengefasst werden. Dabei wird als Ergebnis der Textanalyse ein neuer Sinnhorizont des Gemeinsinnes deutlich werden.? 3 Zur kommentarartigen, ausführlichen Analyse des Kapitels »Sinnliche Gewissheit«
38
Die äußere Tragweite des Sinnlichen
Die folgende Betrachtung wird so im Hinblick auf drei Gesichtspunkte gegliedert: 1. Die äußere Tragweite des Sinnlichen, 2. Der Einblick in das Gesamtgefüge der Phänomenologie des Geistes und der Gemeinsinn, 3. Der neue Sinnhorizont des Gemeinsinnes.
1.
Die äußere Tragweite des Sinnlichen
Stellen wir zunächst fest, in welcher Weise die sinnliche Gewissheit in
den Stadien der Phänomenologie des Geistes wiederholt wird. Dabei muss es zunächst reichen, die Darstellung auf wenige exemplarische
Stellen zu beschränken. Die sinnliche Gewissheit ist das Bewusstsein, das den unendlichen Reichtum dessen, was in Zeit und Raum erscheint, wenn auch ohne Gliederung, im Ganzen zu besitzen meint. Das Bewusstsein sieht z. B., dass jetzt die Nacht und hier das Haus ist. Es meint, dass es sich dieses
Faktums im Ganzen sinnlich vergewissert hat. Aber die Überprüfung dieser sinnlichen Gewissheit ergibt sehr bald, dass das so Gemeinte in Wahrheit nicht dem Faktum entspricht. Denn die gemeinte Nacht und
das gemeinte Haus haben keinen anderen Inhalt als das bloße reine
Dieses im Hier und Jetzt, die, wenn sie aufgeschrieben werden, nicht mehr hier und jetzt sind. Die Wahrheit muss jedoch derart sein, dass vgl. Matthias Kettner, Hegels »Sinnliche Gewissheit«. Diskursanalytischer Kommentar, Frankfurt a. M./New York 1990. Trotz der Ausführlichkeit der Darstellung gibt sie keine Perspektive für die extensive und innerliche »Tragweite des Sinnlichen«, das sich über das Ganze der Phänomenologie des Geistes erstreckt. Eine neuere Untersuchung der sinnlichen Gewissheit wurde von Brady Bowman vorgelegt: Sinnliche Gewissheit, Berlin 2003, Kap. 4 (S. 149—177). Der Nebentitel gibt allerdings das Hauptanliegen an: »Zur systematischen Vorgeschichte eines Problems des deutschen Idealismus«. Als die übergreifende und phánomenologische Erklärung der »Phänomenologie des Geistes«, bis zum Kapitel »Vernunft«, ist die Abhandlung von Eigen Fink, Hegel. Phänomenologische Interpretation der »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt a.M. 1977, 2. Aufl.
2006, anzugeben. Fink betrachtet dieses Werk aus der Sicht der Phánomenologie des 20. Jahrhunderts und erórtert, dass es sich darin um den »Seinsgedanken« bzw. die »Seinsgeschichte« (S. 63 ff., 101f.) handelt. Seine phánomenologisch-immanente Verfahrensweise gilt als die Vorgángerin der vorliegenden Arbeit. Worum es in dieser Arbeit geht, ist allerdings zu unterscheiden vom Vorhaben Finks. Das erste Anliegen des Verfassers ist nicht die phánomenologische Interpretation des Werkes, sondern die Herausstellung der Tragweite und der Tiefenschicht des Sinnlichen, somit die »Phánomenologie des Geistes zum Sinnlichen«, wodurch ein Begegnungsort für die abendlàndische Philosophie und die fernóstliche Denktradition gebildet werden wird.
39
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
sie nicht verlorengeht, indem sie aufgeschrieben wird. Sie muss als das
Allgemeine vielmehr eben in der Sprache aufbewahrt werden können.
Das Bewusstsein in der Form der sinnlichen Gewissheit erfasst seinen Gegenstand nicht in dieser Allgemeinheit. Dasselbe negative Ergebnis
ergibt sich auch auf der Seite des Bewusstseins, das sich als das Ich
selbst verneint. Dieses ist aber reines Dieses ohne die Allgemeinheit
des Ichs. Die Überprüfung der sinnlichen Gewissheit führt dazu, diese
Gewissheit zu erschüttern, und das Bewusstsein wird gezwungen, zur
nächsten Stufe überzugehen, um den Gegenstand in dessen Wahrheit
aufnehmen zu können. Die nächste Bewusstseinsform wird so »Wahrnehmung« genannt. Der Übergang von der sinnlichen Gewissheit zur Wahrnehmung geschieht jedoch nicht so, dass das erste Stadium einfach verlassen wird. Denn der Gegenstand der Wahrnehmung zeigt sich dort als Ding von vielen Eigenschaften, wobei die Eigenschaften — kurz gesagt: das sinnliche Sein — somit der Inhalt dessen sind, was die sinnliche Gewiss-
heit erfasst zu haben gemeint hatte. »Allein das sinnliche Sein und Meinen geht selbst in das Wahrnehmen über; ich bin zu dem Anfang zurückgeworfen und wieder in denselben, sich in jedem Momente und als Ganzes aufhebenden Kreislauf hineingerissen« (98). Das Wahrnehmen muss notwendig diesen Kreislauf wieder durchlaufen. Aber dies bedeutet nicht die bloße Rückkehr zur ersten Stufe. Denn, wenn man
die Laufbahn im Sportstadion einmal umrundet hat und zum Ausgangspunkt zurückkommt, so besteht die Leistung darin, eine Runde
durchlaufen zu haben. Von dort her erneut zu starten bedeutet, die
einmal gelaufene Strecke zu wiederholen, seine eigene Erfahrung in sich zu überprüfen und sich damit zu reflektieren. Dies heißt, einen
anderen Inhalt zu haben als bei der ersten Umrundung, was zugleich
heift, den Weg fortzusetzen. Es sei darauf verzichtet, die dialektische Struktur dieses Fort-
schritts im Einzelnen zu verfolgen. Es genügt festzustellen, dass der Übergang von der sinnlichen Gewissheit zur Wahrnehmung nicht ohne die Wiederholung der ersteren nachvollziehbar ist. Die Stufe der Wahrnehmung wird dann auch bald durch die Überprüfung gezwungen,
zum
Verstand
überzugehen,
wobei
die Notwendigkeit
dieses
Übergangs ebenfalls im Hinblick auf die sinnliche Gewissheit sichtbar
wird. Das Ding nàmlich, das zu Anfang als fürsichseiend zu sein schien,
zeigt sich als durch das Sinnliche bedingt und auf andere bezogen. Dies
deutet an, dass dem Ding als dem Bedingten das Allgemeine als das
40
Die äußere Tragweite des Sinnlichen
Un-bedingte zugrunde liegt, das über das Sinnliche hinausgeht. Es ist
der »Verstand«, der beansprucht, dieses allgemeine Un-bedingte begreifen zu können. Wie ist es mit der sinnlichen Gewissheit im »Verstand«? Ihre Wie-
derholung scheint nicht in Frage zu kommen, da der Verstand das Allgemeine im Inneren des Dinges, im »Gesetz« als dem Übersinnlichen
sieht und den Bereich des »Ding« als der Gegenstand ßerlich wahrgenommen, so die denkende Betrachtung
Sinnlichen hinter sich lässt. Wurde das der Wahrnehmung noch sinnlich, d.h. äuwird dessen Inneres als das »Gesetz« durch des Verstandes gefasst. Allerdings ist das
Gesetz nicht das bloße Jenseits des Sinnlichen, weil es erst vermittels
der sinnlichen Phänomene gewusst wird. »Das Übersinnliche ist das Sinnliche und Wahrgenommene, gesetzt, wie es in Wahrheit ist« (118). Das sinnlich Wahrgenommene heißt, kurz gesagt, die »Erscheinung«, die jetzt als das Spiel der im Ding wirkenden Kräfte gefasst wird. Dieses Spiel der Kräfte zeigt sich seinerseits in seiner dialektischen Bewegung, was anhand des Beispiels der Erscheinung der Elektrizität dargestellt wird (123f.). Die Elektrizität besteht aus zwei Aspekten, der negativen und der positiven Elektrizität. Ihr voneinander Unterschiedensein ist aber in Wahrheit keines. Denn es ist die Elek-
trizität selbst, die als solche sich von sich selbst abstößt bzw. sich als das
Ungleichnamige anzieht. »Das sich Gleiche stößt sich vielmehr von sich ab, und das sich Ungleiche setzt sich vielmehr als das sich Gleiche«
(127/8).
Was Hegel hier erblickt ist freilich nicht blof$ das physikalische
Phänomen,
sondern die Dialektik selbst, die ein solches Phänomen
durchdringt. Sie betrifft die übersinnliche Welt des Gesetzes als den Gegenstand des Verstandes. Durch diese Dialektik, dass das Gleiche sich ungleich und das Ungleiche sich gleich wird, kehrt sich nämlich die übersinnliche Welt in ihr Gegenteil um, indem sie selbst sinnlichen
Charakter bekommt. Die übersinnliche Welt ergibt sich als die sich
ungleiche, als die sinnliche. Deshalb nennt Hegel sie die verkehrte
Welt. Dies bedeutet im vorliegenden Problemzusammenhang, dass auch das Übersinnliche ohne das Sinnliche nicht erfasst werden kann.
Der Verstand muss so erneut durch die sinnliche Gewissheit und die Wahrnehmung hindurchgehen, um das Innere des Dinges als das Allgemeine in Wahrheit erkennen zu können. So ergibt sich, dass alle Stufen des »Bewusstseins« den Prozess der Wiederholung der sinnlichen Gewissheit vollziehen.
41
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
Die nächste Stufe, das »Selbstbewusstsein«, wie es in der Phäno-
menologie des Geistes auftritt, ist dem Inhalt nach von dem Selbst-
bewusstsein im Kantischen Sinne grundsätzlich zu unterscheiden. Das
Selbstbewusstsein in der Kritik der reinen Vernunft bedeutet so etwas wie die »ursprüngliche Apperzeption« bzw. das Bewusstsein der Selbst-
identitát des Bewusstseins.* Dagegen bedeutet das Selbstbewusstsein
bei Hegel, dass die Erfahrung des Bewusstseins mit seinem Gegenstand am Ende die Erfahrung des Bewusstseins mit sich selbst ist. Es ist die Stufe des zu-sich-Kommens des Bewusstseins selbst. » Wir sehen, dass im Innern der Erscheinung der Verstand in Wahrheit nicht etwas anderes als die Erscheinung selbst, [...] und in der Tat nur sich selbst erfáhrt« (135).
Die Bewegung des Selbstbewusstseins ist, um es kurz zusammen-
zufassen, der Wendepunkt,
auf dem das Bewusstsein
»aus dem far-
bigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet« (145). Wie ist es nun mit dem Sinnlichen an diesem Wendepunkt? Der geistige Tag liegt weder bloß jenseits des Sinnlichen noch im
bloßen Gegensatz zur übersinnlichen Nacht. Denn der Gegenstand des Bewusstseins ist jetzt dieses Bewusstsein selbst, und dieses ist sowohl
sinnlich als auch übersinnlich. Das Selbstbewusstsein weif$, dass sein
Gegenstand es selbst ist. Dabei treten die bisherigen Bewusstseinsformen »nicht mehr als Wesen, sondern als Momente des Selbstbewusstseins« (138) hervor. Die Wiederholung der sinnlichen Gewissheit auf dem Weg der Phünomenologie des Geistes bedeutet, dass diese Bewusstseinsform als »Moment« auf jeder Stufe des gesamten Weges immanent bleibt.
Weiterhin ist zu bemerken, dass im Selbstbewusstsein das Sinnliche als
solches nicht nur als ein Moment, sondern auch als Element vorhanden ist. Der Unterschied zwischen »Moment« und »Element« liegt darin, dass das erstere eine logische Funktion in der Bewegung des »Schlusses« hat, während das letztere für das, was aus ihm aufgebaut wird,
konstitutiv bleibt. Der Schluss ist der logische Kreislauf, dessen ontologische Struktur dadurch zustande kommt, dass das Bewusstsein bzw.
der Geist sich in sich reflektierend sich bzw. das andere mit sich vermittelt. Dabei ist es die vermittelnde Mitte selbst, die jeweils als das 4 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-
Ausgabe neu hrsg. von R. Schmidt, Hamburg 1952, A 108ff., B 133 ff.
42
Die äußere Tragweite des Sinnlichen
Bewegungsmoment fungiert. Jede aufzuhebende Gestalt des Bewusstseins bzw. des Geistes kann zu diesem Moment werden. Es ist das
Selbstbewusstsein, das dadurch am Ende seinen jeweiligen Gegenstand
als das Andere seiner selbst, somit im Grunde als sich selbst weiß. Aber dieser Schluss ist im Wesentlichen das, was im gesamten Prozess der
Phünomenologie des Geistes, somit sowohl in der sinnlichen Gewiss-
heit wie auch im absoluten Wissen, wiederholt wird. Das Sinnliche
liegt deshalb der jeweiligen Gestalt des Bewusstseins bzw. des Geistes
zugrunde. Wenn z. B. der erste Gegenstand bzw. die erste Gestalt des Selbstbewusstseins als das Leben mit sinnlicher Begierde bezeichnet wird, so begleitet das diesem zugrunde liegende Sinnliche auch die danach folgenden Gestalten des Selbstbewusstseins und deren logische Bewegung. Dies zeigt sich am ausdrücklichsten in der bekannten Dialektik von Herr und Knecht. Das Ganze dieser Dialektik dreht sich um das »Gefühl der absoluten Macht« (153), das auf der Seite des erzitternden Knechtes als »Furcht des Todes« vorhanden ist. Diese Furcht ist aller-
dings in Wahrheit der »Anfang der Weisheit«, da der Knecht inmitten
dieses Gefühls zu sich selbst kommt und sich seines Knechtseins be-
wusst wird. Er arbeitet nach wie vor mit Furcht vor dem Tod, aber
zugleich sieht er infolge seiner Arbeit, dass sein Herr von seinem Produkt und somit von ihm abhängt. Das Sinnliche ist hier das Element des dialektischen Verhältnisses zwischen Herr und Knecht. Im Grunde der gleiche Sachverhalt ist auf dem bald danach folgenden Stadium des »unglücklichen Bewusstseins« zu finden. Das Be-
wusstsein ist hier deshalb unglücklich, weil die Einheit mit dem un-
wandelbaren, göttlichen Wesen für es eine bloße Hoffnung bleibt und
es selbst in der Zerrissenheit zwischen seiner Realitát und seiner Hoffnung in sich entzweit ist. Das Gefühl des Unglücks wird dabei, bevor es logisch-analytisch erkannt wird, gefühlsmäßig empfunden, um als Bewegkraft dieses Bewusstsein voranzutreiben.
Die Wiederholung der sinnlichen Gewissheit als logisches Mo-
ment ist eines; die des Sinnlichen als des konstitutiven Elementes ein anderes, obwohl beide nicht immer voneinander zu unterscheiden sind.
Zum ersteren wird zu Beginn des Kapitels »Vernunft« gesagt: »Dieses Bewusstsein [...] sehen wir nun zwar wieder in das Meinen und Wahrnehmen hineingehen« (185). Denn die beobachtende Vernunft muss
eben in ihrem Tun des Beobachtens die sinnliche Empfindung und die Wahrnehmung notwendigerweise beinhalten. Jedoch gilt: »Meinen 43
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
und Wahrnehmen, das für uns früher sich aufgehoben, wird nun von dem Bewusstsein für es selbst aufgehoben; die Vernunft geht darauf,
die Wahrheit zu wissen« (185/6). Das heißt, auch das vernünftige Wissen, das sonst übersinnliches Tun ist, besteht nur durch die Aufhebung
des Sinnlichen. Das Beobachten allein ist sinnlich, aber jetzt handelt es sich um die »beobachtende Vernunft«, in der das sinnliche Beobachten
als »Moment« enthalten ist. Die Vernunft bedeutet in der Phänomenologie des Geistes das
Stadium, in dem die subjektive Gewissheit des Selbstbewusstseins, alle
Realitát zu sein, zur objektiven Wahrheit erhoben wird. Dort geht die »beobachtende Vernunft« als das Innere des Ich zur »tátigen Vernunft«
über, die sich nicht mehr allein theoretisch, sondern auch praktisch auf
das Andere bezieht und sich in der Gemeinschaft verwirklichen will. Dort nimmt auch das Sinnliche eine dementsprechende Gestalt an. Das Tun der tátigen Vernunft wird námlich als »ein Tun der Begierde« (271) aufgefasst. Sie will »zum Genusse der Lust« gelangen. Die Begierde und die Lust bilden so das sinnliche Element der tátigen Vernunft, bis diese im Kampf mit dem Weltlauf am Ende scheitert. Dieser Sachverhalt selbst ist der Ausdruck des »Weltlaufs«, dem die Vernünf-
tigkeit und Sinnlichkeit als Grundelemente zugrunde liegen.
Hegel zitiert Goethes »Faust«, um anzudeuten, dass die tátige Ver-
nunft zugrunde gehen muss, indem sie sich dem Teufel ergibt. Dies heißt umgekehrt, von einem über diese Vernunft hinausgegangenen »Wir« her gesehen ist die Vernunft im Weltlauf an sich schon verwirklicht. Auch dieser hóhere Standpunkt verlásst nie das sinnliche Gebiet, indem er zunächst als das »geistige Tierreich« aufgeht (294f.). Die danach folgende »gesetzgebende Vernunft« stützt sich auf die »tätige Liebe«, d.h. auf das »mit Verstand lieben« (314). Je höher der Standpunkt des Bewusstseins ist, desto tiefer wurzelt auch das Sinnliche. Der Vernunft folgen die Stufen des »Geistes«. Dieser »ist also Bewusstsein überhaupt, was sinnliche Gewissheit, Wahrnehmen und
den Verstand in sich begreift« (326). In diesem Wort wird schon angekündigt, dass die sinnliche Gewissheit im Stadium des Geistes wieder-
holt wird. Der Abschnitt »Geist« ist der umfangreichste unter den
sechs Abschnitten des Buches. Da der Ausblick auf die Wiederholung der sinnlichen Gewissheit in ihm schon gegeben ist, ist es nicht notwendig, die einzelnen Passagen im Detail zu verfolgen. Es seien deshalb nur um der spáteren Darstellung willen die wesentlichen Züge dieses Abschnittes zusammengefasst. 44
Die äußere Tragweite des Sinnlichen
Der Geist ist sich seiner selbst als seiner Welt und der Welt als
seiner selbst bewusst. Er ist alle Realität, und dies heißt auch, dass er nicht nur von rationaler, sondern auch von sinnlicher Natur ist. Wenn also in seiner ersten Gestalt, d.h. der sittlichen Welt, das menschliche
Gesetz und das góttliche Gesetz, die Staatsmacht und die Familie im Gegensatz zueinander stehen und dieses Verhältnis dem des Mannes und des Weibes entspricht, so herrscht im letzteren die religióse Gesinnung der »Pietát« (336), während im ersteren diese Gesinnung durch ein irdisches Machtbewusstsein auf die Seite geschoben wird. Deshalb
will Antigone ihrem Onkel, dem Machthaber Kreon, zum Trotz ihren
im Kampf gefallenen Bruder begraben. Der Ausdruck dieser Gesinnung ändert sich je nachdem, wie sich der Geist gestaltet. So kommt es z. B. im sich entfremdeten Geist, dem das Dasein der Welt für sein Selbstbewusstsein fremd ist, zuallererst auf das Gefühl an, diesen Zustand als ihm selbst fremd zu empfinden,
und dies ist das Gefühl der Entfremdung. Es ist das Gefühl, von sich sowie vom Anderen als fremdes Sein zurückgewiesen zu sein. Aber das Sinnliche im Stadium des Geistes drückt sich nicht nur als das inner-
lich-individuelle Gefühl aus, sondern auch — und vor allem - als die
Realität, die nicht blofs als sich gegenüberstehende, objektive, sondern eben als die sinnliche Wirklichkeit an sich erscheint. »Das Sinnliche wird also jetzt auf das Absolute als auf das Ansich positiv bezogen, und die sinnliche Wirklichkeit ist selbst an sich« (415). Das Wórtchen »jetzt« weist allerdings auf die Stufe des Geistes als der »Aufklärung« hin, so dass das Ansich-sein der sinnlichen Wirklichkeit zunáchst auf dieses Stadium beschránkt wird. Betrachten wir aber diese Phase der »Dialektik der Aufklárung« etwas náher, so finden wir in ihr doch ein Allgemeines abgespiegelt. Die Aufklärung erklärt, dass der Gegenstand des Glaubens in Wirklichkeit »ein seiendes gemeines Ding der sinnlichen Gewissheit« (409) ist wie ein Stein (einer Skulptur), ein Holzblock (des Kreuzes) oder auch ein Stück Brot (angesehen als der Leib Christi). Sie will also den Standort des Glaubens als Vorurteil bzw. Aberglauben diskreditieren und erklárt das Jenseits für leer. Aber diese Erklärung hat zur Folge, dass »das Leere, auf welches sie also die sinnliche Wirklichkeit bezieht« (414), d.h. das Leere, das nach dem Negieren des Jenseits entsteht, nicht wieder von ihr selbst ausgefüllt werden kann. Dies heift, dass sie selbst in sich leer ist. Die endlich-sinnliche Wirklichkeit wird jetzt, wie schon zitiert, auf das an sich Positive, das absolute Wesen des Jenseits, bezogen. So-
45
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
mit ist sie selbst wie das dialektisch als leer erklärte Jenseits zwar an
sich leer. In dieser Dialektik wird aber aufgezeigt, dass das einmal negierte Sinnliche auf das durch das Negieren Gesetzte bezogen, somit durch die Negation der Negation positiv gesetzt wird. Diese Struktur
ist im Grunde das, was sich auf jeder Stufe zeigt.
Als weiteres Beispiel soll die »schöne Seele« erwähnt werden, die dem Gewissen zugeschrieben wird. Das Gewissen als die moralische Genialität weiß die innere Stimme ihres unmittelbaren Wissens ihrer selbst als góttliche Stimme, es ist »der Gottesdienst in sich selbst« (481), dem gegenüber alle Äußerlichkeit verschwindet. Seine Reinheit drückt sich aus in der schónen Seele. Aber die Überprüfung der Phánomenologie des Geistes lässt erblicken, dass diese schöne Seele eben we-
gen ihrer Reinheit die Angst hat, die Herrlichkeit ihres Inneren durch Handlung und Dasein zu beflecken, und um die Reinheit ihres Herzens zu bewahren, die Berührung mit der Wirklichkeit flieht. Das Prádikat »schón« als Ausdruck des Sinnlichen ist positiv, insofern es das Selbstwissen des moralischen Selbstbewusstseins kennzeichnet, aber negativ, insofern es den Mangel an der Kraft der Entäußerung und die Abstraktion bedeutet. Diese negative Seite ist allerdings zugleich auch das positive Moment, durch das die schóne Seele zum handelnden Gewissen als dem náchsten Stadium erhoben wird. Die fünfte Stufe des Weges der Phänomenologie des Geistes, die
auf den Geist folgt, ist die Religion als die Vollendung des Geistes,
»worin die einzelnen Momente desselben, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft und Geist, als in ihren Grund zurückgehen und
zurückgegangen sind, so machen sie zusammen die daseiende Wirklichkeit des ganzen Geistes aus« (499). Auch auf dieser Stufe findet sich die sinnliche Gewissheit als Moment wiederholt. Aber das Sinnliche als solches zeigt sich dort in anderer Weise als zuvor. Es verinnerlicht sich immer tiefer und weiter. Der signifikanteste Ausdruck für das Gefühl in der offenbaren Religion ist »das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewusstseins, dass Gott selbst gestorben ist« (572; vgl. auch 547). Die offenbarte Religion wird von diesem und mit diesem Schmerz bewegt, der ihr Grundelement bildet. Sehen wir das letzte Stadium, das absolute Wissen, auf dem der
Geist seinem vollstándigen und wahren Inhalt zugleich »die Form des Selbsts« gibt. In ihm werden einerseits »die Momente des eigentlichen
Begriffes oder reinen Wissens in der Form von Gestaltungen des Be-
wusstseins« (576) aufgezeigt. Die bisherigen Stadien des Bewusstseins 46
Einblick in das Gesamtgefüge der Phänomenologie des Geistes
und des Geistes werden dort rückblickend zusammengefasst. Zugleich
zeigt sich das Sinnliche in der letzten Form seines Selbst, d.h. der »Zeit«. Die verschiedenen Ausdrücke des Sinnlichen sind alle im Grunde das Gefühl der Endlichkeit, eingeprägt von der Zeitlichkeit. Die letz-
te Form des Sinnlichen ist somit die Zeit selbst, die nicht mehr bloß als
der Fluss der Jetzt-Zeit äußerlich vorgestellt wird. Das Wesen dessen, was als Jetzt-Folge äußerlich vorgestellt wird, wird als der Geist selbst begriffen, und die Äußerlichkeit der Zeit muss verschwinden. Die Zeit
muss in der »Form des Selbst« begriffen werden. Das vom Geist Begriffene ist der Geist selbst. Darum wird gesagt: »Die Zeit ist der Begriff selbst« (584); »[...] deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen reinen
Begriff erfasst, d.h. nicht die Zeit tilgt« (584). Dieses den wesentlichen Grundzug des ganzen Weges der Phänomenologie des Geistes schlicht ausdrückende Wort kann im Hinblick auf den vorliegenden Problemzusammenhang kurz wie folgt umschrieben werden: Der Geist erscheint notwendig im Element des Sinnlichen, und zwar so lange, als er nicht das Sinnliche tilgt, d. h. begeistet. Das Verb »begeisten« ist ungewóhnlich, wird aber an dieser Stelle von Hegel selbst verwendet (vgl. 366).
2.
Einblick in das Gesamtgefüge der Phänomenologie des Geistes
Aus dem bisher Dargestellten wird zum viel diskutierten Problem der Ganzheitsstruktur der Phänomenologie des Geistes zwar kein neues Material, aber ein neuer Gesichtspunkt angeboten. Dieses Werk hat bekanntlich in seiner Entstehungsgeschichte zwei verschiedene Titel und damit auch mindestens zwei Konzeptionen: die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« und die »Phánomenologie des Geistes«.
Theodor Haering, der sich als Erster mit der Entstehungsgeschichte des Werkes bescháftigte, vermutete, dass es sich bei dem Werk um eine
Stück für Stück in relativ kurzer Zeit zusammengekommene Nieder-
schrift handelt, »nicht organisch und nach einem sorgfältig überlegten und lange gehegten Plan in HEGEL und aus seiner vorhergehenden Entwicklung heraus erwachsen, sondern als Folge eines plótzlichen un-
ter innerem und äußerem Druck gefassten Entschlusses, in fast unglaublich kurzer Zeit und als eine, Stück für Stück erst für den Druck
zustande kommende Niederschrift, wahrend deren die Intention nicht 47
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
immer dieselbe blieb«.5 Sein Forschung, nach der jetzt die se für dieses Werk gilt, einer dung »ihre Intention blieb
Befund bedarf aus der Sicht der heutigen Jenaer Zeit Hegels als Vorbereitungsphaumfassenden Korrektur. Wenn die Wennicht immer dieselbe« weiter zugespitzt
wird, wie z. B. von Kuno Fischer, und das Werk als »in zwei ungleiche
Hälften geteilt« angesehen wird, so spricht der oben herausgestellte und festgestellte Sachverhalt, dass die sinnliche Gewissheit stándig als Moment wiederholt wird und das Sinnliche als Element dem Ganzen zugrunde liegt, gegen die These von der Zweiteilung. Dieser Sachverhalt spricht eher dafür, dass »diese Zweiteiligkeit innerlich überwunden« ist, wie es z.B. auch von Johannes Hoffmeister vertreten wurde.”
Wenn Hoffmeister aber diese Überwindung als »durch die großartige Gerafftheit der Gedanken«
erreicht ansieht, so ist seine Ansicht im
Hinblick auf den oben festgestellten Sachverhalt doch nicht ganz passend. Denn zwar ist in der Phánomenologie des Geistes in quantitativer Hinsicht wohl eine großartige Gerafftheit der Gedanken festzustellen, aber was dieses Werk trágt und zu einem einheitlichen Buch macht, ist der strenge und kontinuierliche Zug der Bildung des Wissens im Element des Sinnlichen. Die Herausgeber der Suhrkamp-Ausgabe umgehen diesen Streitpunkt, indem sie in aller Vieldeutigkeit anmerken: »die »Erfahrung des Bewusstseins« weitet sich zur »Phánomenologie des Geistes«.«® Denn
worauf es ankommt, ist nicht nur, dass die erstere zur letzteren sich weitet, sondern die Art und Weise dieses Sich-Weitens selbst. Otto
Póggeler, der bisher am ausführlichsten die entstehungsgeschichtlichen
Untersuchungen kritisch überprüft hat,? fragt, wo der Punkt sei, den
die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins erreicht, um zur »eigentlichen Wissenschaft des Geistes« überzugehen, wie Hegel es in der 5 Theodor Haering, »Die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes«, in: Verhandlungen des Dritten Hegelkongresses vom 19. bis 23. April 1933 in Rom, hrsg.
von B. Wigersma, Tübingen/Haarlem 1934 (S. 118-138), hier: S. 119. 6 Kuno Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre (8. Bd., I. Teil der Geschichte der neu-
en Philosophie), 2. Aufl., Heidelberg 1911, S. 339. 7 Johannes Hoffmeister, »Einführung des Herausgebers«, in: G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, S. XXXV. 8. Anmerkung der Redaktion zu Band 3, in: Phänomenologie des Geistes. G. W. F. Hegel. Werke in zwanzig Bänden, S. 597. ? Otto Póggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/München 1973, Abschnitt Nr. 7. Vgl. dazu noch ders, »Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegel-Studien, Bd. 1, 1961, S. 255—294.
48
Einblick in das Gesamtgefüge der Phänomenologie des Geistes
Einleitung darstellt. Pöggeler behauptet, die gemeinte eigentliche Wissenschaft des Geistes sei nicht die Logik, wie gewöhnlich angenommen
wird, sondern die Philosophie des Geistes. Die Ansicht, dass die Phäno-
menologie in ihrer zweiten Hälfte sich mit der eigentlichen Wissenschaft des Geistes deckt, wird von Pöggeler zurückgewiesen. Wenn sei-
ne überzeugend dargelegte Interpretation zutrifft, so muss auch die
Ansicht der einfachen »Zweiteiligkeit« der Phänomenologie zurückgewiesen werden. Jedoch sollte in diesem Fall ergänzt werden: Das Moment der sinnlichen Gewissheit und das Element des Sinnlichen sollten, wenn das Gesamtgefüge der Phänomenologie des Geistes erwägt wird, als unentbehrliche Aspekte berücksichtigt werden.
Die Überprüfung der bisherigen Ansichten macht sichtbar, dass
der gesamte Weg der Phänomenologie des Geistes von dem Moment
der sinnlichen Gewissheit begleitet und vom Element des Sinnlichen überspannt wird. Das Werk hat trotz aller vorangegangenen Wandlungen und Änderungen der Konzeption — und trotz allen Ungleichgewichts zwischen den Kapiteln — durch die scheinbare Zweiteiligkeit hindurch eine sinnvolle, dynamische Einheit. Sein ganzer Weg kann also als ein dynamischer Prozess angesehen werden, in dem der sonst als wesentlich rational angesehene Geist sich durch und durch im Element des Sinnlichen ausbildet. Es ist der dynamische Prozess der Begeistung und Durchgeistung des Sinnlichen, welcher ein anderer Ausdruck für das Erscheinen des Geistes in dèr Zeit ist. Die Auffassung dieses quasi äußeren Ganzheitsbildes der Phänomenologie des Geistes muss nun wesentlich mit der innerlichen Struk-
tur derselben zusammenhängen. Hegel verwendet bekanntlich, um
den diese Innenstruktur bestimmenden Zug zu formulieren, den Aus-
druck: der »sich vollbringende Skeptizismus« (72). Das Auge der Skep-
sis richtet sich auf den ganzen Umfang des erscheinenden Bewusstseins, um die Unwahrheit von dessen Meinungen zu entlarven und es zur Verzweiflung zu bringen. Der sich vollbringende Skeptizismus wird vom jeweiligen Bewusstsein her als eine »Gewalt« empfunden.
Die Frage für uns ist, wie und in welcher Weise diese Gewalt auch am
Sinnlichen im Ganzen geübt wird. Zunáchst ist auf den ersten Satz des Abschnittes »Sinnliche Ge-
wissheit« aufmerksam zu machen: »Das Wissen, welches zuerst oder
unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein anderes sein als dasjenige,
welches selbst unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder
Seienden ist« (82). Hier kommt das Wort »Wissen« vor, das dem »ab-
49
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
soluten Wissen« am Ende entspricht. In unserer Betrachtung des Sinnlichen ist jedoch von noch entscheidenderer Bedeutung, dass hier das Sinnliche von Anfang an am Maßstab des » Wissens« gemessen wird. Es ist eigentlich gar nicht selbstverstándlich, dass das Sinnliche im Hinblick auf die »Gewissheit« als eine Gestalt des » Wissens« angesehen wird. Das Sinnliche als der Bereich der αἴσθησις hat eigentlich keinen Anspruch auf so etwas wie »Gewissheit«. Diese ist, philosophiegeschichtlich gesehen, der Anspruch des Wissens, den Descartes zuerst erhoben hat. Der erste Schritt der Phänomenologie des Geistes mit der sinnlichen Gewissheit ist, auch wenn er teilweise als »eine Art Ein-
holung des Ganzen der griechischen Philosophie in die spekulative Wissenschaft« angesehen werden kann,” in ihrem Wesenszug eine radikal neue Fortsetzung der cartesianisch-neuzeitlichen Philosophie. Für das Sinnliche als solches ist die Gewissheit als der cartesianisch-neuzeitliche Anspruch des Wissens nicht innerlich notwendig, da es sein Wesen eher in der ásthetischen Empfindung hat. Wenn also der Weg der Ausbildung des Wissens von der sinnlichen Gewissheit ausgehen soll, so muss dem Sinnlichen eine Gewalt angetan werden, um es eigens mit dem Bereich des rationalen Wissens zu verbinden." Hegel selber erwähnt ausdrücklich diese Gewalt in der Vorrede wie auch in der Einleitung. In der Vorrede heißt es: »Jetzt scheint die Not des Gegenteils vorhanden, der Sinn so sehr in dem Irdischen festgewurzelt, dass es gleicher Gewalt (scil.: wie der zuvor von der empiristischen Aufklárung gegenüber den metaphysischen Lehren geübten) 10 Hans-Georg Gadamer, »Hegel und die antike Dialektik«, in: Hegel-Studien, Bd. 1, a.a. O., S. 180. Wilhelm Purpus war vor einem Jahrhundert in einer Reihe seiner Arbeiten in dieser Hinsicht extrem weit gegangen, indem er die sinnliche Gewissheit Hegels mit einigen griechischen philosophischen Gedanken parallelisierte. Vgl. Wilhelm Purpus, Die Dialektik der sinnlichen Gewissheit bei Hegel, dargestellt in ihrem Zusammenhang mit der Logik und der antiken Dialektik. Beilage zum Jahresbericht des Königlichen Alten Gymnasiums in Nürnberg über das Schuljahr 1904/05, Nürnberg 1905, S. 1-57; ders., Zur Dialektik des Bewusstseins nach Hegel. Ein Beitrag zur Würdigung der Phänomenologie des Geistes, Berlin 1908, 37 ff. Aber die Reihenfolge der philosophiegeschichtlichen Entwicklung des Wissens und die der Wesensentwicklung des Wissens in der »Phänomenologie des Geistes« sind von verschiedener Art und nicht miteinander gleichzusetzen. 11 Wenn auch ohne den Hinweis auf das Problem dieser »Gewalt«, beschreibt Brady Bowman (vgl. Anm. 59) im Hinblick auf das Kapitel »Sinnliche Gewissheit« mit Recht, dass die Spannung zwischen der Ewigkeit des Seins und der Zeitlichkeit des Erkennens durch ein endliches Subjekt zu den »Urthemen der abendländischen Metaphysik« gehört (Bowman, a.a. O., S. 166).
50
Einblick in das Gesamtgefüge der Phänomenologie des Geistes
bedarf, ihn darüber zu erheben« (17). Hegel meint hier im Hinblick auf die »Aufklárung«, dass früher das Auge des Geistes mit Zwang auf das
Irdische gerichtet und bei ihm festgehalten werden musste. Jetzt hingegen müsse es mit der gleichen Gewalt über das Irdische hinaus zum
Wissen umgewendet werden. Diese Gewalt erleidet allerdings nicht nur der Sinn im Bewusstsein der Erklárung,
sondern auch das Be-
wusstsein überhaupt, das in seiner Erfahrung mit sich stándig über seine jeweilige Befriedigung und deren Beschránktheit hinauszugehen genótigt wird. Die dem Bewusstsein angetane Gewalt kommt nicht von aufsen, sondern vom weiter oben erwáhnten »Wir« im Bewusstsein selbst, das dem Bewusstsein gegenüber immer als das Negative auftritt. So wird in der Einleitung gesagt: »Das Bewusstsein leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst« (74). Es sei hier an das Hóhlengleichnis von Platon erinnert. In der Hóhle wird der Mensch schon in der Kindheit an Hals und Schenkeln gefesselt, so dass er nur nach vorne sehen kann, den Kopf aber aufgrund der Fessel nicht herum zu drehen vermag. Dann wird er entfesselt, und man zwingt ihn sogleich, aufzustehen, den Hals herum zu
drehen und zu gehen. »Er« - der dem »Wir« in der Phänomenologie des Geistes entspricht — schleppt den Menschen von hier aus »mit Gewalt«?? durch den steilen Aufgang hindurch bis an das Licht der Sonne. Die mit dem Gleichnis der Sonne angedeutete Idea des Guten allein kann das wahrlich Seiende sichtbar machen und erkennen lassen. Die Gewalt, griechisch: fta, ist dabei eine pädagogische, nicht die barbarisch zerstórende. Denn der Mensch wird dadurch intellektuell ausgebildet, so dass er am Ende die Idee des Guten als die Ursache des
Schónen sieht. Das Sinnliche wird durch die genannte Gewalt eben wie das Bewusstsein »gebildet« und in dieser Bildung »begeistet«, womit auch die in ihm geborgenen Tiefenschichten von Stufe zu Stufe offengelegt werden. Es gibt keinen Geist ohne Sinnlichkeit, so dass das Sinnliche wie eine unterirdische Strómung die ganze Erfahrung des Geistes als
dessen Element begleitet."
12 Platon, Politeia, 515 e6
3 [n diesem Zusammenhang ist die Interpretation von E. Fink, die in Anm. 59 erwähnt
wurde, heranzuziehen. Fink weist darauf hin, dass der Abschnitt »Sinnliche Gewissheit«
nicht mit der »sinnlichen Erkenntnis« beginnt und nicht so vorgeht, dass die Sinnlich-
51
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
Dann ist aber der Grund dafür festzustellen, dass das Sinnliche
nicht eigens thematisiert wird. Dieser Grund wird schon im Titel des ersten Abschnitts »Sinnliche Gewissheit« angedeutet. Das Wort »Gewissheit« enthält das Wort »Wissen« und bedeutet die Sicherung der Erfahrung im Wissen. Die Gewissheit wird zum Maßstab genommen. Dies heifst, wie gesagt, schon die Weiterführung des cartesianisch-neuzeitlichen Ansatzes. Das Sinnliche wird dem Maßstab des »Wissens« unterworfen und in dessen Bereich hineingezogen. Die Sache, um die es geht, ist das »absolute Wissen«, auf das hin alles orientiert wird.
Darum wird das Sinnliche nicht eigens thematisiert. In dieser Richtung
kommt das Sinnliche wie die Freude, die Trauer, der Zorn, die Furcht, die Verzweiflung, die Sehnsucht, die Andacht usw. nicht thematisch in
den Vordergrund. Vielmehr wird dem Sinnlichen eine pádagogische Gewalt angetan. Dies bedeutet von der Phänomenologie des Geistes her gesehen zwar keine Vergewaltigung, sondern vielmehr die Erziehung und Intellektualisierung des Sinnlichen. In der Tat wird das Sinnliche dadurch gepflegt und kultiviert. Aber eben darum bedarf dieser Prozess einer beleuchtenden Interpretation. 3.
Der neue Sinnhorizont des Gemeinsinnes: sensus communis non-communionis
Diese Pflegung und Kultivierung des Ackers der Sinnlichkeit wird nun in der Phänomenologie des Geistes, der äußeren Ausdehnung des Sinnlichen entlang, tatsächlich vollzogen - allerdings in verborgener Weise. Der Acker, der in dieser Weise gepflegt und bebaut wird, kann
mit dem Namen des »Gemeinsinnes« bezeichnet werden, obwohl die-
ser Name in der Phänomenologie des Geistes nicht vorkommt. Er ist der verborgene Bereich, der diesem Werk insgesamt zugrunde liegt. Er blieb wohl als Folge dessen verborgen, dass die vorhin erwähnte »Ge-
walt« dem Sinnlichen angetan wurde. Dies muss aber heißen, dass,
keit vom Geist her verstanden wird und dem sinnlichen Vernehmen gegenüber »blind« bleibt (ibid., S. 60). Er hat ganz recht. Aber damit wird unsere Ansicht nicht ausgeschlossen, dass das in der Phänomenologie des Geistes nicht eigens thematisierte Sinnliche durch eine hermeneutische De-struktion herausgestellt und in seinem Vertiefungsprozess beleuchtet werden kann.
52
Der neue Sinnhorizont des Gemeinsinnes:
sensus communis
non-communionis
indem das sonst als solches verborgene Sinnliche eigens beleuchtet
wird, der »Gemeinsinn« ebenfalls beleuchtet und der Entwicklung der
Phünomenologie des Geistes entsprechend in einem tieferen Sinne verstanden werden kann. Diese Aussicht wird konkreter, sobald man beispielsweise das Ka-
pitel »Wahrnehmung« im Hinblick auf die Aristotelische Lehre des Gemeinsinnes liest. Da diese Lehre in der »Einleitung« bereits erórtert
wurde, ist hier diese Erórterung vorauszusetzen. Um kurz zu rekapitu-
lieren: Im III. Buch »De Anima« argumentiert Aristoteles, dass die fünf Sinne, die ihre eigene, unaustauschbare Empfindungsfunktion haben, nicht dazu befähigt sind, das » Gemeinsame« der einzelnen Empfindungseigenschaften als solches allein zu empfinden. Beispiele für dieses Gemeinsame sind die Bewegung, die Ruhe, die Grófse, die Zahl
usw. Diese werden de facto empfunden. So muss es den dieses Gemeinsame empfindenden Sinn geben, somit den Gemeinsinn. Was Aristoteles das » Gemeinsame« nannte, entspricht einem Aspekt des »Dinges« im Kapitel »Wahrnehmung«. Denn das »Ding« ist ein »gemeinschaftliches Medium«, an dem sich viele Eigenschaften finden. Aber Hegel sieht die Sache aus einer anderen Richtung als der Aristotelischen. Das »Ding« wird nämlich nicht durch den »Gemeinsinn«, sondern durch den übersinnlichen »Verstand« im Hinblick auf sein inneres »Gesetz« zu fassen versucht. Diese Orientierung lässt sich wiederum als eine Folge der »Gewalt« im obigen Sinne verstehen. Diese Blickrichtung beginnt eigentlich schon in dem der »Wahrnehmung« vorangehenden Abschnitt über »Sinnliche Gewissheit«. Die Notwendigkeit des Übergangs von dieser zur Wahrnehmung lag nämlich darin, dass, was die sinnliche Gewissheit gefasst zu haben meint,
keine »Allgemeinheit« als Bedingung der Wahrheit besitzt. So wird
jene »Gewalt« ausgeübt, um das Sinnliche in Richtung des wahrheitsfähigen »Wissens« umzuwenden. Dadurch geschieht aber innerhalb des »Sinnlichen« ein Ordnungswandel: Das Sehen erlangt den Vorrang vor den anderen Sinnen. Im Abschnitt über »Sinnliche Gewissheit« kommt deshalb kein Beispiel vom Riechen, Schmecken und Tasten vor. Das Hóren taucht nur einmal auf, und generell werden nur Beispiele aus dem visuellen Feld angegeben. Dies hángt ohne Zweifel mit der Orientierung am »Wissen« zusammen. Denn das »Sehen« bildet das Charakteristische des »Wissens«, indem es, wie das Platonische Höh-
lengleichnis typischerweise andeutet, sich mit dem zu Sehenden immer in einer gewissen Distanz bescháftigt. Eben als Folge dieses Vor53
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
rangs des Sehens ergibt sich überhaupt erst das Problem des Sinnlichen. Wenn z.B. gesagt wird: »Das Jetzt ist Tag, weil Ich das sehe; das Hier ein Baum, eben darum« (86), so muss darauf aufmerksam
gemacht werden, dass das Hier oder das Jetzt eigentlich nicht mit Dis-
tanz gegenständlich zu »sehen« sind. Sie sind eher die zeit-räumlichen
Ausdrücke des Ortes, wo alle fünf Sinne und nicht das Sehen allein sein
gelassen werden. Hegel weist mit Recht darauf hin, dass das Hier und das Jetzt als solche verschwinden, sobald sie aufgeschrieben werden.
Aber noch vorher, in dem Moment bereits, als sie zu den Gegenständen des Sehens gemacht werden, hören sie auf, sie selbst zu sein.
Wo werden das Hier und das Jetzt, und zwar nicht in ihrer Allgemeinheit, sondern als »dieses Hier« und »dieses Jetzt«, sinnlich
wahrgenommen? »Dieses Hier« als Raum und »dieses Jetzt« als Zeit sind den Sinnesgegenständen gemeinsam, und das Gemeinsame ist das, was, wie Aristoteles erörterte, mit dem Gemeinsinn empfunden
wird. Allerdings muss hinzugefügt werden: Die Sinnesempfindung von »Hier« und »Jetzt« wird unter Umständen, beispielsweise bei einer erfreulichen oder tragischen Lebenssituation, mit einem besonderen Gefühl begleitet, das mit der bloß äußerlichen Wahrnehmung nicht verglichen werden kann. Das Gefühl ist innerlich, somit geistig. Der Gemeinsinn ist sinnlich — und auch geistig. Ein Gleichnis darf hier eingeführt werden: Die fünf Sinne kónnen mit fünf Fingern verglichen werden, die je einen Teil der Hand bilden, und die Hand ist in jedem Finger als dieser Finger. Diese »Hand« (jap. tana-gokoro, das HandHerz) kann als ein Gemeinsinn bezeichnet und als »Herz«, somit als Geistiges verstanden werden, was der Aristotelischen Sinnlichkeitslehre entsprechen würde. Im Abschnitt über die sinnliche Gewissheit ist ein weiterer Sinnhorizont des Gemeinsinnes zu erblicken, der nun als gemeinschaftlicher Sinn bestimmt wird. Das Bewusstsein der sinnlichen Gewissheit ist ein Ich. Dieses Ich sieht den Baum und behauptet, das Hier sei der
Baum. »Ein anderer Ich sieht aber das Haus und behauptet, das Hier sei
nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus« (86). Dieses »andere Ich«
hat zwar noch keine Bestimmung des Geistes, das mit »diesem« Ich eine Gemeinschaft bildet. Es schließt aber auch nicht diese Bestimmung aus. Auf dieser Stufe kann eines gesagt werden, nämlich dass
dieses »andere Ich« ebenfalls der Unmittelbarkeit des »Sehens« gewiss
ist wie »dieses Ich«. Hier wird schon potentiell die Auseinandersetzung
zwischen einem seiner Selbstándigkeit bewussten Geist mit dem ande54
Der neue Sinnhorizont des Gemeinsinnes: sensus communis non-communionis
ren Geist angelegt, die bald im Abschnitt über »das Selbstbewusstsein«
ans Licht kommt.
Um im exemplarischen Beispiel zu sehen, was in dieser Auseinandersetzung geschieht, wenden wir uns erneut der Dialektik von »Herr
und Knecht« zu. Das Verhältnis der beiden drückt sich darin konzen-
triert aus, dass das Produkt der Arbeit des Knechtes samt dessen Person vom Herrn besessen wird. Auf der Seite des Herrn herrscht das Gefühl
der absoluten Herrschaft, auf der Seite des Knechtes das der Furcht vor
dem Tod. Beide Gefühle sind polar so gegensätzlich, dass von einer Gemeinschaftlichkeit zwischen beiden nicht die Rede sein zu können
scheint. Aber das Herr-Knecht-Verhältnis als solches ist dasselbe für
beide. Es ist auch den beiden »gemeinsam«. Die Selbstgefühle der beiden kónnen als gegensátzliche Seiten des einen und selben, aber in sich komplexen, in sich die Gegensátze beinhaltenden Gemeinsinnes be-
zeichnet werden. Diese Auffassung des Gemeinsinnes stimmt sicherlich nicht nur nicht mit der Aristotelischen, sondern auch nicht mit der geläufigen
Auffassung überein. Vom gewóhnlichen Begriff des Gemeinsinnes ist der Gemeinsinn der Nicht-Gemeinschaftlichkeit ein Widerspruch und daher einfach zurückzuweisen. Aber dieses Verstándnis verliert seine Selbstverständlichkeit, wenn seine stillschweigende Voraussetzung in Frage gestellt wird: nicht das individuelle Subjekt als der Tráger des Sinnes,
sondern
die Gemeinschaft.
Dieses
neue
Verständnis
kann,
wenn man will, auch aus dem Kantischen Gemeinsinn gewonnen wer-
den. Kant bestimmte den Gemeinsinn als den gemeinschaftlichen Sinn,
wie in der »Einleitung« erwáhnt wird. Die Gemeinschaft hat nicht immer die »Homogenitát« als ihr Element. Sie enthält vielmehr die »Fremdheit« zwischen den Mitgliedern als unentbehrliches Moment. Außerdem werden die Individuen in dieser Gemeinschaft unvermeidlicherweise von dieser geistig bestimmt, so dass sie sich zunächst wie der »Idol of the Cave« im Sinne Francis Bacons einstellen. Die Gemeinschaft wird zum Tráger des Sinnlichen, und da sie die »Fremdheit« im
obigen Sinne enthält, kann sich der Gemeinsinn als »der Gemeinsinn der Ungemeinsamkeit« bezeichnen. Zwar ist er, wenn man der Kanti-
schen Auffassung folgen will, immer noch dem Individuum zuzuschreiben, da er a priori auf der teleologischen Urteilskraft basiert werden soll. Aber die Bestimmung »gemeinschaftlich«, die Kant selber
dem Gemeinsinn gibt, ist nicht mehr die »apriorische«. So ist dem gemeinschaftlichen Sinn der Charakter des sensus communis non-
55
Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes
communionis wesentlich zuzuschreiben. Der gemeinschaftliche Sinn, der die Homogenität voraussetzt, besteht vielmehr als Ausnahme, die
dadurch zustande kommt,
dass die Nicht-gemeinschaftlichkeit bzw.
non-communionis minimal wird.
Indem eingesehen wird, dass der Gemeinsinn die ihm immanen-
ten Elemente
der Nicht-gemeinschaftlichkeit in sich reflektiert, ist
auch ein weiterer Sinnhorizont einzusehen: Die Erschlossenheit von »dem Anderen und dem Ich«. Dies wurde schon in der sinnlichen Gewissheit gesehen, als dieses Bewusstsein den verschiedenen Behauptungen von »diesem Ich« und dem »anderen Ich« ausgesetzt wurde.
Auch war dasselbe dort zu sehen, wo das »Knechtsein« in der Furcht
vor dem Tod und das »Herrsein« im Gefühl der absoluten Herrschaft je verschieden erschlossen wurden. Diese Gefühle entstehen nur dadurch,
dass eine Seite der anderen ausgesetzt wird. Darin — und nur darin wird auch das jeweilige Selbstsein beider Seiten erschlossen. Der neue Sinnhorizont des »Gemeinsinns« ist in der Phánomenologie des Geistes enthalten. Er bleibt aber verdeckt, so dass wir ihn nur hermeneutisch herzustellen vermógen. Die »Tragweite des Sinnlichen«, die einerseits im Äußeren das Ganze der Phänomenologie des Geistes überspannt und andererseits im Inneren den Bereich des »Gemeinsinns« bildet, wird dadurch ans Licht gebracht werden. Der neue Sinnhorizont, sensus communis non-communionis, wird dadurch in
seiner Bedeutung allmählich erläutert werden.!*
14 Als Vorläufer dieses Entwurfs ist auf die Leistung von Eugen Fink (Eugen Fink, Hegel. Phánomenologische Interpretation der »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt a. M. 1977, 2. unveränderte Auflage 2007) hinzuweisen. Fink versucht, die »Phánome-
nologie des Geistes« als den »Seinsgedanken«, somit als die Darstellung der »Seinsgeschichte« zu verstehen (S. 63, 101f.). Der Seinsgedanke ist nach ihm nicht die bloße
Meinung des Menschen, sondern was zutage kommt, indem der Mensch »auf das Sein hört«. Die Arbeit von Fink zeichnet sich auch darin aus, dass sie von der Phänomenolo-
gie des 20. Jahrhunderts her die Hegelsche »Phänomenologie des Geistes« interpretiert und auch kommentiert. Aber die Absicht des vorliegenden Buchs ist eine andere: Die Tragweite und die Tiefenschicht des »Sinnlichen« in diesem Werk herauszustellen und, wie in der »Einführung« erörtert wurde, in ihm einen Ort zu erschließen, in dem die abendländische Philosophie und die ostasiatische Geistestradition einander begegnen.
56
Il. Teil: Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
In der »Einführung: Zu den Tiefenschichten des Sinnlichen« wurde
dargestellt, dass die Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hóren, Fühlen usw. in Wahrheit der Ort sind, wo die Welt »sich zeigt« und sich an die inneren Gebiete des »Geistes« anschließt. Weiterhin, dass diese Blick-
richtung schon bei Aristoteles exemplarisch zu finden ist. Im I. Teil: »Die Tragweite des Sinnlichen in der Phänomenologie des Geistes« wurde überblickt, dass in der Phänomenologie des Geistes der ganze Weg dieses Werkes mit der Tragweite des »Sinnlichen« abgedeckt und von diesem überspannt wird. Die »sinnliche Gewissheit« als die erste geäußerte Gestalt des Sinnlichen, wiederholt sich immer wieder als das »Moment«, und durch diese Wiederholung wird das Sinnliche als das »Element« des Geistes in immer tieferen Schichten erschlossen. Je weiter der Geist sich entwickelt, desto tiefer wird auch das Sinnliche.
Im II. Teil: »Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre« soll versucht werden, den so gewonnenen Überblick im Einzelnen aufzuwei-
sen. Der Aufweis soll textimmanent vollzogen werden, was dadurch ermóglicht wird, dass der Aufweisende zum Zuhórer des Textes wird.!
1.
Bewusstsein — Meldung des Sinnlichen im Wissen
1.1. Sinnliche Gewissheit Was heißt »Sinnlichkeit« für das Bewusstsein? In der Phänomenologie
des Geistes wird sie als »unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittel-
baren oder Seienden« (82) bestimmt. Es gilt, sich unmittelbar oder
aufnehmend zu verhalten und ohne etwas hinzuzutun, das unmittel-
1 E. Fink weist darauf hin, dass es in der Phänomenologie des Geistes einen »Hórer« gibt. Wir selber kónnen zu diesem Zuhórer werden. Vgl. E. Fink, ibid., S. 62.
57
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
bare Seiende so aufzunehmen »wie es sich darbietet« (ibid.). Das Seiende bietet sich dem Bewusstsein dar und lässt sich sehen, hören usw.
Wie in der »Einführung« dargestellt wurde, ist der Sachverhalt von »sich sehen lassen« oder »sich hören lassen« ontologisch fundamen-
taler als »sehen« oder »hören«. Es handelt sich beim ersteren Fall um das primäre Sich-zeigen der Welt, während es sich beim letzteren um den Vollzug des Sinnesvermögens des in diese Welt geworfenen Indi-
viduums handelt. Aber dies ergibt sich in der Phänomenologie des Geistes viel später. Das Bewusstsein meint, dass das sich ihm unmittelbar Darbietende das Ganze dieses Gegenstandes ist, auch wenn es noch nicht gegliedert wird. Es meint, dass es die reichste Erkenntnis dieses Gegenstandes überhaupt besitzt. Allerdings muss diese »sinnliche Gewissheit« sofort vom Auge der Skepsis überprüft werden. Das Auge der Skepsis hat bei der Überprüfung ein Kriterium, an dem die jeweils gemeinte Wahrheit überprüft wird, nämlich das Kriterium der »Gewissheit«, wie schon im I. Teil erörtert wurde. Wie das Wort »Ge-wissheit« andeutet, ist es der Maßstab des »Wissens«, das
allgemein sein will. Gewissheit und Allgemeinheit gehóren zusammen. Was gewiss ist, hat den Charakter der Allgemeinheit, und was allgemein ist, ist nicht ungewiss. Sobald aber dieser Maßstab auf das
sinnliche Bewusstsein angewandt wird, wird von der Wahrheit, die es einmal besessen zu haben meinte, das abgenommen, was weder all-
gemein noch gewiss ist. Nichts von ihr bleibt dann übrig, weil das Sinnliche das Geisteselement ist, das weder an der Allgemeinheit noch
an der Gewissheit zu messen ist. Die Anwendung dieses Maßstabes ist deshalb identisch mit dem Antun der »Gewalt«, wie vorhin gesehen
wurde. Diese Anwendung hat in den Augen der Phänomenologie des Geistes freilich eine notwendige und positive Bedeutung, da erst durch die Gewalt das Sinnliche »gebildet« und gepflegt wird. Dies bedeutet aber auch, dass das Sinnliche dem Maßstab des » Wissens« unterworfen
wird und als Element verborgen bleibt. Was das Bewusstsein »sinnlich« aufgefasst zu haben meint, erscheint, wenn es sich unmittelbar oder in der Weise des reinen Auf-
nehmens durch die fünf Sinne verhält. Von ihm kann nur gesagt wer-
den, dass es »ist«. Es ist das »reine Sein«, in dem nichts Inhaltliches gemischt ist, somit keine Farbe, keinen Ton, keinen Geruch, keinen Geschmack und kein Gefühl hat. Die sinnliche Erfahrung des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Fühlens usw. wird durch die fünf Sin-
ne, sobald sie am Maßstab der »allgemeinen Gewissheit« gemessen 58
Bewusstsein — Meldung des Sinnlichen im Wissen
und überprüft werden, von vornherein dazu bestimmt, als etwas Un-
gewisses vom Bereich des »Wissens« abgenommen und ausgeschlossen
zu werden. Diese Bestimmung kommt zutage, wenn gesehen wird, dass an dem reinen Sein vieles andere herbeispielt und zum Beispiel dieses Seins wird. »Eine wirkliche sinnliche Gewissheit ist nicht nur diese reine Unmittelbarkeit, sondern ein Beispiel derselben« (83). Ein Bei-
spiel ist immer einzeln und nicht allgemein gewiss. Weiterhin ist es
nicht es selbst, worauf es verweist. In ihm sind viele Unterschiede ent-
halten. Im Text wird als »Hauptverschiedenheit« zwischen zwei »Diesen« unterschieden: »Dieser« als Subjekt oder Ich und »Dieses« als Objekt oder Gegenstand. In einer wirklich reinen unmittelbaren Erfahrung wird das »reine Sein« vor dieser Verschiedenheit gegenwärtig sein, aber in der Sinnesempfindung muss es diese zwei Seiten geben. Auch bei Aristoteles verhielt es sich so, dass die sinnliche Empfindung als die »Mitte« zwischen dem empfindenden Ich und dem empfundenen Gegenstand einen »Abstand« setzt. Jetzt haben aber »Dieser« als der Empfindende und »Dieses« als das Empfundene keinen anderen Inhalt als das, was als »Diesen« bezeichnet wird. Sie sind leer, so dass die Erkenntnis, die als die reichste aufgefasst wurde, sich als die abs-
trakteste und ármste ergibt. Dies ist das Ergebnis dessen, dass »wir zusehen« (ibid.). Das Auge
der Skepsis ist die Wirkung unseres Zusehens, die sich schon im Ab-
schnitt »Sinnliche Gewissheit« als penetrierend erwies. Sie kónnte mit einem Licht verglichen werden. Das Licht beleuchtet den Gegenstand. Aber je stárker das Licht ist, desto dunkler der Schatten des von ihm Beleuchteten. Das Licht hier beleuchtet die sinnliche Erfahrung, die am Maßstab der »allgemeinen Gewissheit« gemessen sich als leer und abstrakt ergibt. Aber die sinnliche Erfahrung, die als »Beispiel« des leeren und abstrakten reinen Seins genommen wird, enthält an sich einen Inhalt, der von vornherein einzeln ist und unendlich mannigfaltige Nuancen und Tiefe hat. Zwar bleibt im Hinblick auf die Form des all-
gemeinen und gewissen Wissens nichts übrig, aber die Sinnesempfin-
dung ist von Natur »nicht-gewiss« und nicht am Maßstab der »all-
gemeinen Gewissheit« zu messen. Ihre »Tiefe« liegt nicht in der
»Gewissheit«. Sie ist zwar nicht-gewiss, was anders ist als »ungewiss«. Jedoch bleibt dieses nicht-gewisse Sinnliche ein Schattenbereich. Die Phänomenologie des Geistes enthält keine »Sinneslehre« wie »De Anima« von Aristoteles oder »Passion de l'Ame« von Descartes. Im Kapitel
59
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
»Sinnliche Gewissheit« geht es also nicht um das Vermögen der Sinnlichkeit.? Damit ist aber nicht gemeint, dass das Sinnliche dort keine Bedeutung hat. Es wirkt weiter als der Schattenbereich. Es soll versucht werden, diesen verborgenen Aspekt des »Sinnlichen« im Kapitel »Sinnliche Gewissheit« herauszustellen. Der erste Ansatz dazu wird in der Darstellung selbst gegeben, nämlich im »Beispiel«, das vorhin erwähnt wurde. Das Beispiel ist immer einzeln und unmittelbar und insofern sinnlich. Demgegenüber soll die Wahrheit
immer in der vermittelten »Allgemeinheit« begriffen werden und ge-
wiss sein. Für die »Phänomenologie des Geistes« ist es also notwendig und gerecht, wenn gesagt wird: »Als ein Allgemeines sprechen wir auch das Sinnliche aus« (85). Aber die Überprüfung selber, die am Maßstab dieser allgemeinen Gewissheit das Sinnliche misst, bedarf eines »Beispiels«, und dies heißt, dass für die Überprüfung des Sinnlichen das Element des Sinnlichen unentbehrlich ist. Schon das »Zusehen von uns« als das überprüfende Auge enthält als ein »Sehen« eine Sinnlichkeitsdimension. Auch das »Aussprechen«, wie es im Ausdruck: »Als ein Allgemeines sprechen wir auch das Sinnliche aus« vorkommt, wird als ein »Sprechen« in einem Sinneselement vollzogen. Im Text wird dieses Aussprechen auf das Wesen der Sprache bezogen. »Die Sprache aber ist, wie wir sehen, das Wahrhaftere« (ibid.). Damit ist gemeint, dass die Sprache das »Allgemeine« bzw. das Verall-
gemeinernde ist. Wenn das sinnlich-individuelle Beispiel »Das Hier ist ein Haus« mittels der Sprache abgeschrieben wird, so ist das Geschrie-
bene unabhängig vom geschriebenen »Hier«. Aber das sinnlich erfahrene »Hier« kann nicht verallgemeinert werden. Im geschriebenen
Satz wird es nicht aufbewahrt, so wenig wie das sinnliche »Jetzt« im
geschriebenen Satz: »Das Jetzt ist die Nacht«. Die Sprache und die sinnliche Erfahrung gehen auseinander. In der Phänomenologie des Geistes wird die Sprache mehrmals erwähnt. Die wesentliche Bestimmung derselben ist »das Dasein des Geistes« (478). Die Sprache ist der Ort, wo der Geist vorhanden ist. Der Geist begreift die Sache in deren
Allgemeinheit. So ist es folgerichtig, dass die Sprache dem Wesen des Geistes gemäß das »Allgemeine« ausspricht. Aber gerade hier ist zu fragen, wie es wáre, wenn eben dieser Geist selbst nie das Element des
»Sinnlichen« verlassen kann. Dies ist im Folgenden festzustellen.
Die Überprüfung der »sinnlichen Gewissheit« bewegt sich zu-
? E. Fink weist auch auf diesen Punkt hin. Vgl. Anm. 23.
60
Bewusstsein — Meldung des Sinnlichen im Wissen
nächst um die Frage, welches wesentlich (allgemein) sei, das Bewusstsein (das Ich) oder der Gegenstand (das Objekt). Am Ende ergibt sich, dass keine dieser Seiten wesentlich bzw. allgemein sein kann. Diese Überprüfung nimmt die Gestalt der »Dialektik der sinnlichen Gewissheit« (90) an, die eine Bewegung ist, in der das Bewusstsein und der Gegenstand in ihrem Wahrheitsanspruch ihre Position ändern, wechseln und erneuern. »Es erhellt, dass die Dialektik der sinnlichen Ge-
wissheit nichts anderes als die einfache Geschichte ihrer Bewegung oder ihrer Erfahrung« (ibid.) ist. Diese Bewegung bzw. die Geschichte bleibt ohne Ende, bis »wir« hinzutreten.
Zu diesem »Wir« wurde schon im I. Teil einiges gesagt. Es ist der »sich auf den ganzen Umfang des erscheinenden Bewusstseins richtende Skeptizismus«, dessen Auge nicht von außen auf die »Phänomenologie des Geistes« gerichtet wird, sondern dem Bewusstsein selbst innewohnt. Das Bewusstsein gibt dadurch seinen Maßstab an ihn selbst, um an diesem sich selbst zu prüfen. Dies betrifft auch das Sinnliche als ein Element des Bewusstseins. Mit der Überprüfung des Bewusstseins durch dessen innewohnendes Auge der Skepsis beginnt auch die »Phänomenologie des Geistes zum Sinnlichen«, deren erster Schritt in der
Überprüfung der sinnlichen Gewissheit besteht. Wir brauchen nur diesen Schritt aufmerksam zu betrachten. »Jetzt« und »Hier« als der Ort des Zusammenspielens vom Bewusstsein und Gegenstand kónnen nicht allein die Gewissheit errei-
chen. »So treten wir zu ihr hinzu und lassen uns das Jetzt zeigen, das
behauptet wird« (88). »Wir« treten in denselben Punkt der Zeit oder des Raums ein, den sie uns zeigen, und überprüfen, wie wir sie wahr-
nehmen. Es kommt dann der Sachverhalt zutage, der dem von der Re-
lativitátstheorie oder Quantentheorie festgestellten Faktum entspricht,
dass der beobachtete Gegenstand und das Tun der Beobachtung in einer voneinander untrennbaren Beziehung eine Bewegung bilden. »Das
Jetzt und das Aufzeigen des Jetzt ist also so beschaffen, dass weder das Jetzt noch das Aufzeigen des Jetzt ein unmittelbares Einfaches ist, son-
dern eine Bewegung, welche verschiedene Momente an ihr hat« (89).
Das »Aufzeigen« wird hier zwar durch die Sprache vollzogen, aber die
gemeinte Sprache gehört dem »Wir« und nicht der von außen her beschreibenden Sprache. Sie beschreibt in der Weise des Hinzutretens
von »wir«, damit sich das sinnliche Leben von sich her zeigt. Dies ist die oben gemeinte »Bewegung der sinnlichen Gewissheit« und deren Geschichte.
61
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Wie endet diese Geschichte, wenn das »wir« hinzutritt? Anders
gefragt: Wie endet die Bewegung
des Aufweises von »Jetzt« und
»Hier«? Das, was jetzt und hier in Wirklichkeit geschieht, soll sich im
Ganzen zeigen lassen, da das Wesen der sinnlichen Gewissheit weder
im Ich allein, das das »Hier« und »Jetzt« sieht und hört, noch im Gegenstand allein, der sich »Hier« und »Jetzt« unmittelbar zeigt, zu fin-
den ist. Die Sprache als das Hinzutreten von »wir« spiegelt bloß wider,
dass das »Jetzt« und »Hier«, wie sie das Bewusstsein der sinnlichen
Gewissheit gefasst zu haben meinte, nicht in ihrer Allgemeinheit ge-
fasst werden. Das Jetzt vergeht gleich, und das eine Hier verschwindet im anderen Hier wie vorne, hinten, rechts, links usw. Diese Entlarvung
wird am Ende mit dem Aufzeigen eines Stücks Papier endgültig vollzogen. Wenn ich ein Stück Papier aufzeige, zeige ich es hier und jetzt, und das Bewusstsein der sinnlichen Gewissheit will hier und jetzt aufzeigen, was dieses Papierstück in Wirklichkeit ist. Aber das »Hier« geht vorbei und kann als solches nicht zur Sprache gebracht werden. Dies gilt auch für das »Jetzt«. Das Aufzeigen dieses Papierstücks im Hier
und Jetzt kann sich nicht zum Worte kommen lassen. So »mache ich
die Erfahrung, was die Wahrheit der sinnlichen Gewissheit in der Tat ist: ich zeige es auf als ein Hier, das ein Hier anderer Hier oder an ihm
selbst ein einfaches Zusammen vieler Hier, d.h. ein Allgemeines ist; ich nehme es so auf, wie es in Wahrheit ist, und statt ein Unmittelbares
zu wissen, nehme ich wahr« (92). Mit diesem Satz endet das Kapitel »Sinnliche Gewissheit« und geht zu dem der »Wahrnehmung« über. Der Standpunkt der Wahrnehmung, die mit dem sinnlichen Handeln des »Aufzeigens« in den Vordergrund kommt, bedeutet die Aufhebung der Form der »sinnlichen Gewissheit« in die Form der »Allgemeinheit«. Es ist hier darauf zu achten, dass diese Aufhebung zwar die Negation der Bewusstseinsgestalt der »sinnlichen Gewissheit«, aber nicht die Negation des Sinnlichen selbst ist, sondern eher der erste Schritt zu seiner Vertiefung. Denn diese Aufhebung wurde mit dem Aufzeigen des Stücks Papier getan, und das sinnliche Tun dieses Aufzeigens
wird selbst nicht aufgehoben. Durch dieses Aufzeigen werden »Hier« und »Jetzt« als der Ort des Sich-zeigens der Welt am logischen Maf-
stab der »Allgemeinheit« negiert, aber diese Negierung selbst wird am
sinnlichen Tun des Aufzeigens vollzogen. Dies bedeutet, dass das Sinn-
liche schon am Anfang der »Wahrnehmung«, deren Auszeichnung die »Allgemeinheit« sein soll, wirkt. 62
Bewusstsein — Meldung des Sinnlichen im Wissen
1.2. Die Wahrnehmung Das Bewusstsein der Wahrnehmung will den Gegenstand in der Seins-
weise der Allgemeinheit wahr-nehmen, d.h. ihn in seiner Wahrheit nehmen. Das Grundphánomen, das dort auftaucht, ist, dass sich der
Gegenstand nicht als »Dieses«, sondern als das »Ding« zeigt, »als das Ding von vielen Eigenschaften« (94). Das Ding selbst ist das allgemeine Medium der vielen einzelnen Eigenschaften, somit das Eins.
Es kann nicht anders sein, als dass sich hier die sinnliche Empfindung wiederholt. Denn das Wissen dieses Dings als des Einen muss mit
der Empfindung von vielen Eigenschaften vermittelt werden. Diese
sind nichts anderes als die Erscheinungsformen der Dinge, die vernommen werden kónnen, somit sinnlich sein müssen. Die Wahrnehmung des Gegenstandes als das Ding in seiner Allgemeinheit setzt also das Sinnliche als ihr unentbehrliches Element voraus. Die Überprüfung der Wahrnehmung findet selber im Element des Sinnlichen statt, genauso wie die Überprüfung der sinnlichen Gewissheit schließlich mit dem
sinnlichen Tun des Aufweises vollzogen wurde. Dies ist zwar nicht verwunderlich, da die Wahrnehmung eine Gestalt des Sinnlichen ist. Aber
die Frage ergibt sich, ob die Wahrnehmung nicht im Widerspruch zu ihrem Anspruch auf Allgemeinheit stehe. Zunächst scheint diese Frage vermeidbar zu sein. Denn die Wahrnehmung will das Ding so aufnehmen, wie es sich darbietet. Sein Nehmen will reines Auffassen sein,
ohne Hinzusetzen oder Weglassen von etwas. Auch wenn sie die Sinnesempfindung voraussetzt, kann erwartet werden, dass das Ding durch dieses reine Auffassen wahr-genommen wird. Aber es wird gleich von dem Auge der Skepsis überprüft, ob und wieweit der Anspruch auf Allgemeinheit vom Bewusstsein der »Wahrnehmung« erfüllt wird. Denn indem die Wahrnehmung den Gegenstand als das Ding von vielen Eigenschaften aufnimmt, kommt es vor, dass sie eine Figenschaft fálschlich mit der anderen verwechselt. Sie hat die Móglichkeit der Táuschung, deren Móglichkeit sie sich bewusst ist.
»Das Wahrnehmende hat das Bewusstsein der Möglichkeit der Täu-
schung« (97). Die Táuschung ist das ernste Problem für das Bewusst-
sein, das die allgemeine Wahrheit beansprucht. So versucht es zu er-
kláren, wie diese Táuschung entsteht, um sich zu überzeugen. Es ist die Aufgabe des Auges der Skepsis, diese »Logik der Táuschung« zu überprüfen und zu durchschauen, dass diese nichts anderes als die »Sophisterei des Wahrnehmens« (105) ist.
63
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Die Überprüfung wird »von uns« durchgeführt, was bisher auch
der Fall war. Das Kriterium bzw. das Maß der Überprüfung hat aber die fortgeschrittene Bestimmung. Denn es handelt sich bei der Táuschung
um etwas anderes als das, was das Wahrnehmen aufnimmt. »Sein Kri-
terium der Wahrheit ist daher die Sichselbstgleichheit« (97). Die Táuschung ist das Phánomen, weshalb das wahrgenommene Ding seine Sichselbstgleichheit nicht ausfüllt. Das Kriterium der Sichselbstgleichheit ist, solange die Wahrnehmung als eine Gestalt des »Wissens« überprüft wird, notwendig. Allerdings ist für die Wahrnehmung selbst die Sichselbstgleichheit ein fremder Maßstab. Denn in dem Augen-
blick, wo etwas wahrgenommen wird, liegt ihre Wahrheit einfach im
Vollzug der Wahrnehmung selbst, und es kommt für sie nicht darauf an, ob der wahrgenommene Gegenstand mit dem Gegenstand selbst gleich sei. Solange diese Wahrnehmung als eine Weise des Wissens oder des Erkennens
betrachtet wird, kommt
es auf die »Logik der
Wahrnehmung« an. Für die Wahrnehmung selbst genügt die These von Protagoras, dass der Mensch der Maßstab aller Dinge ist und jedes Wahrgenommene dem Wahrnehmenden wahr ist. Dem gesunden Sokrates schmeckt der Wein gut, aber dem erkrankten Sokrates ist der Wein
bitter. Wer sagen will, dass etwas »ist«, muss sagen, »es sei für etwas
oder von etwas oder in Beziehung auf etwas« (τινὶ εἶναι ἢ τινὸς ἢ πρός τι).7 Platon überprüft diese Logik der Wahrnehmung in »Theaitetos«, um das Wesen des »Wissens« im Hinblick auf das Problem des »Seins«
und des »Scheins« grundsätzlich zu entwickeln. So wird auch bei Hegel
die Wahrnehmung am Maßstab des »Wissens« gemessen, was konkret
bedeutet, dass die »Logik der Wahrnehmung« überprüft wird. Diese Logik ist nicht einfach zu durchschauen. Aber wenn man eine gewisse Vereinfachung wagt, lässt sie sich wie folgt zusammenfas-
sen: Das Kriterium der Sichselbstgleichheit führt, wenn es an die Seite
des Gegenstandes gegeben wird, zur Auffassung, dass der Gegenstand
das sichselbstgleiche, unveránderliche Wesen und das Bewusstsein, das
manchmal Fehler macht, das Widersprechende ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass das Ding als das Eine die veránderlichen Eigenschaften hat. Dass ein Ding weiß ist, ist in unseren Augen gegenwärtig, und dass es bitter ist, in unseren Zungen, ebenso wie seine unglatte Oberfläche
in unserem Tastsinn, usw. Aber die Wahrnehmung dieser Eigenschaf? Vgl. Platon, Theaitetos, 159 b 9.
64
Bewusstsein -- Meldung des Sinnlichen im Wissen
ten kann von Fall zu Fall, je nach den Umständen, verschieden sein -
und manchmal wirklich falsch werden. In dieser »Táuschung« geht die Sichselbstgleichheit des »Dinges« als des Mediums der Eigenschaften verloren, und die Ursache dafür wird dem Bewusstsein zugeschrieben. Aber wenn man dieser Ansicht weiter folgt, wird das »Ding« auf seine Eigenschaften als das sinnliche Sein reduziert, somit die Wahrneh-
mung zu ihrem Anfang als der sinnlichen Gewissheit zurückgeworfen. Das Bewusstsein wird in einen »Kreislauf hineingerissen« (98).
So muss das Bewusstsein seinen Gang wieder anfangen, diesmal
aber so, dass das Kriterium der Sichselbstgleichheit dem Bewusstsein zugegeben wird. In der Tat kann auch das Bewusstsein als das vorstel-
lende »Ich« als unveránderlich genommen werden. In diesem Fall wird
das Medium der vielen Eigenschaften nicht im »Ding«, sondern im Bewusstsein selbst gesehen, das als das sichselbstgleiche Wesen gilt. Dazu muss das Bewusstsein allerdings eine »Reflexion-in-sich« vollziehen. Das Bewusstsein sagt, dass das Ding weiß ist, aber auch kubisch
und auch scharf usw. Allerdings ist es, insofern es weiß ist, nicht kubisch, und insofern es kubisch, nicht weiß, und nicht scharf usf. Das
Bewusstsein findet durchs Herbeibringen von »insofern« und »auch«
am Ende, »dass nicht nur sein
Nehmen des Wahren die Verschiedenheit
des Auffassens und des in sich Zurückgehens an ihm hat, sondern dass vielmehr das Wahre selbst, das Ding, sich auf diese gedoppelte Weise
zeigt« (101).
Dies ist die Folge dessen, dass das wahrgenommene Ding als der in der Allgemeinheit gefasst sein sollende Gegenstand immer noch von
der sinnlichen Seinsweise »bedingt« wird. Zwar ist das Ding schon allgemein, »aber dies Allgemeine ist, da es aus dem Sinnlichen her-
kommt, wesentlich durch dasselbe bedingt und daher überhaupt nicht wahrhaft sichselbstgleiche, sondern mit einem Gegensatze affizierte Allgemeinheit« (104). Darum muss die Bestimmung des Dinges zugrunde gehen, und an seiner Stelle tritt der »Verstand«, der den Ge-
genstand in seiner »unbedingten« Allgemeinheit erreichen will.
Man sieht hier schon, dass die »Logik der Wahrnehmung« nie das Element des »Sinnlichen« verlásst. Es gilt, die Seinsweise des Sinn-
lichen noch ein Stück weiter zu sehen. Das Sinnliche ist hier nicht in derselben Seinsweise wie in der sinnlichen Gewissheit. Achten wir z. B. darauf, dass bei der Rede der Allgemeinheit der Eigenschaft des Dinges das Wort »Gemeinschaft« (97) oder »ein allgemeines gemeinschaftliches Medium« (98) der sinnlichen Eigenschaft auftaucht. Ist das Salz 65
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
weiß und scharf, so ist es das gemeinschaftliche Medium dieser Eigenschaften. Es ist das, was Aristoteles bei seiner Rede des »Gemeinsin-
nes«
als das »Gemeinsame«
bezeichnete.
Das Wahrnehmen
eines
»Dinges« hat, solange es das Wahrnehmen des gemeinschaftlichen Mediums der Eigenschaften ist, das Element des Gemeinsinnes. Dies
kann damit zusammenhängen, dass das Bewusstsein, das die Sophisterei des Wahrnehmens treibt, etwas unversehens als »der gesunde Menschenverstand« gekennzeichnet wird. Dieser ist »immer da am ármsten, wo er am reichsten zu sein meint« (105). Der gesunde Menschenverstand ist der »sensus communis« als der gemeinschaftliche Sinn. Er meint in der Philosophie, »sie habe es nur mit Gedankendingen zu tun« (106), und versucht den Standpunkt der Wahrnehmung mit der Sophisterei zu rechtfertigen. Nachdem wir in der »Einführung«, vor allem durch Descartes, gesehen haben, dass der Gemeinsinn
als der den fünf Sinnen gemeinsame Sinn und als bon sens in einem organischen Zusammenhang verstanden werden kann, so kann leicht geschlossen werden, dass der Gemeinsinn als das Wahrnehmen des »Dinges«, des gemeinschaftlichen Mediums der Eigenschaften, und der »gesunde Menschenverstand«, der die »Sophisterei des Wahrnehmens« treibt, in einen Zusammenhang gebracht werden. Zwar wird das
Problem des »Gemeinsinnes« in der Phänomenologie des Geistes nie-
mals thematisiert, weil es nicht um die Sinneslehre geht. Dies schließt aber nicht aus, dass sich das Sinnliche durch seine Darstellung de facto in seiner tieferen Schicht als Gemeinsinn zeigt. Dies ist schon im Abschnitt »Wahrnehmung« zu sehen. 1.3.
Der Verstand
Das Bewusstsein, das seinen Gegenstand nicht mehr als die »sinnliche Allgemeinheit«, somit nicht mehr als das sinnlich be-dingte Ding, sondern als das Unbedingte-Allgemeine auffasst, ist der »Verstand«. Da-
mit ist aber nicht gemeint, dass das »Ding« einfach verschwindet. Vielmehr wird hier das »Innere der Dinge« als das »Gesetz« gefasst. Dies
wird nicht durch die »Wahrnehmung«, sondern durch das »Urteil« ge-
leistet. Das Urteil ist die Tätigkeit, den Gegenstand zu »teilen«, d.h. zu analysieren, um ihn dann durch Synthese zu begreifen. Es ist leicht zu sehen, dass damit der Standpunkt der neuzeitlichen Wissenschaft, von
der ein Vertreter Descartes ist, gemeint ist. 66
Bewusstsein — Meldung des Sinnlichen im Wissen
Durch diesen urteilenden Verstand wird das unbedingt Allgemeine zuerst »als allgemeines.Medium oder als das Bestehen selbständiger
Materien« (109) gefasst. Da die Materien sinnlich wahrnehmbare Dinge sind, wird schon angedeutet, dass das unbedingt Allgemeine nicht das übersinnliche Sein ist. Die Unbedingtheit des Allgemeinen ist eher darin ausgedrückt, dass jedes spezielle Ding aus Materien besteht, so dass es gilt: »sie (die Materien) durchdringen sich gegenseitig, — ohne aber sich zu berühren« (110). In diesem Satz wird wohl die Leibnizsche Monadologie impliziert, aber auch der Standpunkt der neuzeitlichen Wissenschaft, das Wesen des Dinges als »Kraft« aufzufassen. Nach ihr drückt sich das unbedingt Allgemeine, das vom Verstand gefasst wird, als »Kraft« aus. Diese hat
zwei Seiten. Einerseits hat sie ihr Wesen in der »Äußerung«, und andererseits ist sie das aus ihrer Äußerung in sich zurückgedrängte Po-
tential. »Aber erstens die in sich zurückgedrángte Kraft muss sich áu-
fern; und zweitens in der Äußerung ist sie ebenso in sich selbst seiende Kraft, als sie in diesem Insichselbstsein Äußerung ist« (ibid.). Die Kraft ist die »Bewegung«, in der diese zwei Momente selbständig sind und dennoch einander verschwinden lassen. Als ein Beispiel wird das Phänomen der positiven und negativen Elektrizität, allerdings erst später, im Zusammenhang mit dem »Gesetz«, angegeben (123). Die Kraft als
die Äußerung ist »das Spiel der Kräfte« (116).
Die erste Hälfte der Darstellung des Abschnittes »Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt« lässt sich im Hinblick auf ihre problematischen Knotenpunkte grob wie oben skizziert zusammenfassen. Bezüglich des »Sinnlichen« ist zuerst darauf aufmerksam zu machen, dass in ihm die Bewegung der »Wahrnehmung« wiederholt wird. »Es erhellt im allgemeinen, dass diese Bewegung nichts anderes ist als die Bewegung des Wahrnehmens« (111). Die Äußerung der Kraft ist in der Tat das wahrnehmbare Phänomen. Genauer gesagt: Es handelt sich um die Bewegung von der »Kraft« als dem »Eins« und seiner »Äußerung« als der Vielheit. Diese Feststellung bedeutet nicht den Rückgang zum Standpunkt der Wahrnehmung. Mit ihr ist vielmehr die letzte Hälfte der Darstellung gemeint, wie sie in der letzten Hälfte des Titels des Abschnittes ausgedrückt wird. Denn das »Innere des Dinges« als das unbedingte Allgemeine »schließt sich erst über der sinnlichen als der erscheinenden Welt nunmehr eine übersinnliche als
die wahre Welt auf« (117).
Mit diesem Satz wird wohl nicht nur der Standpunkt der neuzeit6/
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
lichen Naturwissenschaft, sondern auch die Kantische Philosophie an-
gespielt. Das unbedingte Allgemeine, das der Verstand zu begreifen
versucht, ist jenseits des Sinnlichen, weil es als das Innere des Dinges
bzw. als das »Gesetz der Kräfte« zwar durch Experimente belegt, aber nur mit dem Denken gefasst, somit nicht mehr mit den Sinnen gesehen, gehört, gefühlt usw. wird. Es ist jenseits des Sinnlichen. Jedoch zeichnet sich eben hier die Tragweite des Sinnlichen erneut
ab. Denn das Jenseits setzt das Diesseits voraus. Kein Gesetz ist denkbar
ohne dessen Erscheinung. Dies heift, dass das Sinnliche in die übersinnliche Welt hineingehört. Noch schlichter gesagt: Die übersinnliche Welt ist in Wirklichkeit die sinnliche Welt. Das Umgekehrte kann auch gesagt werden, so dass »beides vielmehr das Gegenteil seiner selbst ist« (127). Das Gleiche ist sich ungleich und das Ungleiche ist sich gleich. So kommt die zweite übersinnliche Welt zustande. »Diese zweite über-
sinnliche Welt ist auf diese Weise die verkehrte Welt, und zwar, indem eine Seite schon an der ersten übersinnlichen Welt vorhanden ist, die
verkehrte dieser ersten« (128). Es handelt sich somit nicht darum, dass die Erscheinung und das Ansich die Stelle wechseln, sondern jede Seite
hat in sich das Gegenteil von sich selbst. Die übersinnliche Welt in diesem Sinne »ist für sich die verkehrte, d.h. die verkehrte ihrer selbst«
(131).
Soweit das Kernstück der letzten Hälfte der Darstellung im » Verstand«. Vorhin wurde das Beispiel der Elektrizität angegeben. Auch in diesem Abschnitt gibt Hegel verschiedene Beispiele, die dem besseren Verständnis dienen sollen. Der Einfachheit halber wird hier nur das Phänomen des Verbrechens erwähnt. Das wirkliche Verbrechen muss bestraft werden. Das Verbrechen hat seine verkehrte Welt in der Strafe.
Aber die wirkliche Strafe ist ihrerseits auch, obwohl sie dem Verbre-
chen entgegengesetzt wird, wenn sie einmal praktiziert wird, der Aspekt der Aussóhnung des Gesetzes mit der Wirklichkeit des Verbrechens. »Die wirkliche Strafe endlich hat so ihre verkehrte Wirklichkeit an ihr« (130). Sobald der Sinn dieser »verkehrten Welt« im Hinblick auf das »Sinnliche« erneut in Erwägung gezogen wird, wird der für unseren
Problemzusammenhang wichtige Aspekt sichtbar. Das »Urteilen« des
Verstandes nämlich trifft nicht bloß das Jenseits des Sinnlichen, son-
dern es tritt auch in die sinnliche Welt und enthält somit selber das
Vermógen der Sinnlichkeit in sich. Insofern ist es das »verkehrte Vermógen«. Umgekehrt kann auch gesagt werden: Das Sinnliche hat auch 68
Bewusstsein — Meldung des Sinnlichen im Wissen
das Erkenntnisvermógen,
in die übersinnliche Welt einzutreten, die
sonst der Bereich des Verstandes sein soll. Insofern hat es auch seine » Verkehrung« in sich. Zu diesem Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand gilt, was zum Verhältnis der sinnlichen und der übersinnlichen
Welt gesagt wurde: »Denn in dem Unterschiede, der ein innerer ist, ist
das Entgegengesetzte nicht nur Eines von Zweien — sonst wáre es ein Seiendes und nicht ein Entgegengesetztes —, sondern es ist das Entgegengesetzte eines Entgegengesetzten, oder das Andere ist in ihm unmittelbar selbst vorhanden« (130/131). Dieses Verháltnis von Sinnlichkeit und Verstand hatte im wesentlichen bereits Aristoteles formuliert. Da aber dies schon erórtert wurde,
genüge hier nur der Verweis darauf. Wichtiger ist für uns die Frage, wie das Sinnliche beschaffen sein muss, wenn es durch einen Verstan-
descharakter geprägt ist. Dies ist nicht die Frage, die in der Phänome-
nologie des Geistes auftaucht, die aber in unserer Darstellung als die
folgerichtige und notwendige vorkommen darf. Eine gewisse Antwort kónnte gewonnen werden, wenn die »Urteilskraft« von Kant in seiner Kritik der Urteilskraft herangezogen wird. Sie bildet das Urteil gemäß der Kategorien des Verstandes, aber ohne sich auf die objektive Erkenntnis zu stützen. Sie hat nur das subjektiv Gefühl zum Inhalt und bringt somit das Gefühl des Subjektes als das Geschmacksurteil zum Ausdruck. Wenn das subjektive Gefühl immer feiner und vertieft wird, so wird das Urteil über den bloßen Geschmack hinaus ein geistigeres Gebiet óffnen, wie die Literatur oder Religion. Angenommen z. B., dass der Gesang der Nachtigall sich hören lässt. Die Möglichkeit der Táuschung, ihn mit dem einer anderen Vogelart zu verwechseln, ist zu vernachlässigen, da dies das Problem der »Wahrnehmung« wäre. Es ist nur daran zu erinnern, dass der Gesang ein inneres »Gefühl« weckt.
Er kann dann unter Umständen zu einer literarischen Welt führen wie im Gedicht: »Dorthin blicke ich, wo die Nachtigall singt; nur der Mond
in der Früh ist am Himmel.«* An der Nachtigall und am Mond als den
sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen sieht der Dichter etwas Jenseitiges. Das Gefühl kann sich auch zur religiósen Gesinnung vertiefen,
wie im folgenden Gedicht: »Was für eine Verstrickung Deines früheren Lebens, Nachtigall, hat dazu geführt, dass du nun so eine Stimme
* Gedicht von Fujiwara Sanesada (1139-1191), einem bekannten Dichter in der Gedichtsammlung »Shin Kokin-shü«.
69
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
hast?«5 In der bewegenden Stimme der Nachtigall als einer Erschei-
nung des Gehórsinns klingt zugleich die Welt der Vorsehung des vor-
herigen Lebens an. Um
zuzufügen,
ein Missverstándnis zu vermeiden, ist hin-
dass hier mit diesen Beispielen keineswegs
behauptet
wird, dass das Sinnliche im Abschnitt » Verstand« schon diese Tiefe hat.
Aber eine solche Deutung ist auch nicht ausgeschlossen. Denn das
Sinnliche berührt die übersinnliche Welt, wenn auch in der Weise der
»verkehrten Welt«.
2.
Selbstbewusstsein — Horizonteróffnung des Gemeinsinnes
In den Abschnitten
»Sinnliche
Gewissheit«,
»Wahrnehmung«
und
»Verstand« wurden die Schichten des Sinnlichen in jeweiliger Weise geborgen. Wie ist es mit dem Kapitel »Selbstbewusstsein«? Bevor wir zu schnell vorangehen, ist aber hier die Art und Weise des Übergangs vom »Bewusstsein« zum »Selbstbewusstsein« etwas eingehender zu betrachten. Denn es ist für die Sinneslehre der »Phänomenologie des Geistes« von unentbehrlicher Bedeutung, den sinnlichen Aspekt der Übergangsbewegung festzustellen. In der Phánomenologie des Geistes ist das sinnliche Element nicht das partiell zu findende, sinnliche Phánomen, sondern das Bewegungselement der dialektischen Entwicklung des Bewusstseins. Dies ist prinzipiell darauf zurückzuführen, dass das Moment der »Negation« als der Schlüssel der dialektischen Bewegung, d. h. als das »Auge der Skepsis« geschieht und dieses Auge durchaus sinnlich ist. Beim Übergang von der »sinnlichen Gewissheit« zur »Wahrnehmung« z. B. ist das ent-
scheidende Moment die Erfahrung, dass das erstere nicht die »All-
gemeinheit« erreicht, und dieses Moment geschah durch das sinnliche Tun des Aufzeigens eines Stücks Papier als einem sinnlichen Ding. Beim Übergang von der »Wahrnehmung« zum »Verstand« zeigt sich das negative Moment in der Erfahrung, dass das Allgemeine, das von der Wahrnehmung erreicht werden sollte, noch sinnlich bedingt wird.
So ist die Selbstüberwindung des Sinnlichen die Bedeutung des Inhalts dieses Übergangs. Im »Verstand« ergab sich, dass die übersinnliche Welt als die Welt der Selbstüberwindung des Sinnlichen am Ende die
verkehrte Welt ihrer selbst, somit die sinnliche Welt ist. Die übersinn5 Gedicht von Saigyó (1118-1190), einem der bekanntesten Dichter seiner Zeit.
70
Selbstbewusstsein -- Horizonteröffnung des Gemeinsinnes
liche Welt, wie sie der Verstand als das unbedingt Allgemeine fasste,
d.h. das »Innere des Dings«, die »Kraft« oder das »Gesetz«, ist in Wahrheit nicht das Jenseits der Erscheinungswelt, sondern die Welt,
in der das Diesseits der sinnlichen Welt sich spiegelt. Das Jenseits hat den Charakter des Diesseits und vice versa. So reflektiert sich das Sinnliche über seine eigene Wesensnatur. Es ist sich bewusst und verinnerlicht sich in sein Selbstbewusstsein. So geschieht der Übergang vom » Verstand« zum »Selbstbewusstsein«. Sehen wir uns diesen letzten Schritt etwas eingehender an. Im Text wird Entscheidendes gesagt: »Wir sehen, dass im Inneren der Erscheinung der Verstand in Wahrheit nicht etwas anderes als die Erscheinung selbst, aber nicht wie sie als Spiel der Kráfte ist, sondern
dasselbe in seinen absolut-allgemeinen Momenten und deren Bewegung, und in der Tat nur sich selbst erfáhrt« (135). Das Spiel der Kráfte wurde in einer physikalischen Betrachtung des »Dings« festgestellt, wobei auch eingesehen wurde, dass die Kraft selbst das »Gesetz« als das Innere des Dinges ist. Dieses Innere erkennen heift, dass das erkennende Bewusstsein die zu erkennende Wesensnatur des Dinges in sich selbst findet. Man kann in ein vóllig fremdes Wesen nicht eintreten. In der Tat ist das »Gesetz« — um es etwa
kantisch zu sagen - die Verstandesform der Außenwelt, die dadurch
gesehen wird, dass der Verstand die Kategorien in die Außenwelt wirft, die er apriorisch in sich hat. Das Gesetz ist das vom Verstand Gesetzte. Dies wird im Kapitel »Vernunft« ausdrücklich erörtert (vgl. 227 {)), aber auch hier ist diese Sachlage schon prinzipiell zu sehen. Das Gesetz bzw. die Kraft als das Innere des »Dinges« setzt sich auch im »Ver-
stand« selbst durch. Den Gegenstand sehen heißt, sich selbst sehen.
Das Bewusstsein, das mit dieser Einsicht beginnt, ist das »Selbstbewusstsein«, zu dem das »Bewusstsein« übergeht. Wenn das vorhin
zu diesem Übergang Gesagte erinnert wird, nàmlich dass dieser Überg-
ang die Reflexion des sich selbst bewussten Sinnlichen in sich ist, so ist
zu sagen, dass das Selbstbewusstsein nicht nur das logisch bewusste Einssein vom Verstand und dessen Gegenstand, sondern durchaus von
sinnlicher Natur ist, somit sich als das selbstbewusste Leben darstellt.
Dies sollte als Vorverstándnis ins Auge gefasst werden, um die folgende Entwicklung des Selbstbewusstseins zu begreifen.
71
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
2.1. Herr und Knecht Gewöhnlich bedeutet das »Selbstbewusstsein« das Ich-Bewusstsein, das sich selbst bewusst ist. Aber das Wort bedeutet hier etwas ganz anderes. Es bedeutet dasjenige Bewusstsein, das im Anderen das eigene Selbst sieht. Es unterscheidet sich freilich nach wie vor von seinem Gegenstand. Ich und Gegenstand sind voneinander unterschieden.
Aber diese Unterschiede, die für den Verstand notwendig und nicht falsch sind, setzen voraus, dass sie eine gemeinsame Seinsebene haben,
auf der die beiden erst bestehen können. Diese Seinsebene ist das
»Selbstbewusstsein«, das sich dessen bewusst ist, dass das »Selbst« der
beiden dasselbe ist. Dort wird der Unterschied zwar in Bezug auf die Erscheinungsform aufbewahrt, aber als der aufgehobene. Er ist der Unterschied, der in Wirklichkeit kein Unterschied ist. Wenn das Ich und
der Gegenstand in ihrem Selbst dasselbe sind, so besitzt dieses Wesen,
da in ihm die Relativität verschwindet, eine Unendlichkeit. »Diese ein-
fache Unendlichkeit oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen
des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen« (132).
Das Selbstbewusstsein ist dieses allgemeine Blut. Es ist für die nachfolgende Darstellung von entscheidender Bedeu-
tung, dass das Selbstbewusstsein hier nicht nur die Gestalt des Bewusstseins, sondern ausdrücklich auch des »Lebens« erhält. Denn in
der Bewegung des Selbstbewusstseins tritt die Welt des »Lebens« auf, und das Leben verlässt nie die Welt des Sinnlichen. Dort erhält auch
der Gegenstand des Bewusstseins, ohne bloß der leblose Gegenstand zu bleiben, die Bedeutung, das »andere Leben« (143) zu sein, das dasselbe
allgemeine Blut hat. So geht die Seinsbestimmung des Gegenstandes des Bewusstseins von der des bloß »Seienden« zu der des »Dinges« über, dann zur Bestimmung als »Kraft« und »Gesetz«, schließlich zu der Bestimmung des »Lebens« vom allgemeinen Blut. Die Einheit von Ich und Gegenstand erinnert an einen buddhistischen Satz:
»Himmel sowie Erde sind von derselben Wurzel wie ich, die
zehntausend Dinge und ich sind in eins«,$ und in der Tat ist die Aus6 Seng Zhao: Zhaolun,
(jap. Sódjó: Djó-ron, in: Taishózókyó,
No. 1858, 0159b20 -
0159c13). Der Verfasser Sódjó ist ein bekannter Meister in der Zeit der Ost-Shin Dynastie in China zwischen den Jahren 317-412. Vgl. die deutsche Teilübersetzung von Rolf Elberfeld, Michael Leibold, Mathias Obert, in dieselben: Denkansätze zur buddhis-
tischen Philosophie in China. Seng Zhao - Jizang -- Fazang zwischen Interpretation und
Übersetzung, Kóln 2000. 72
Selbstbewusstsein — Horizonteröffnung des Gemeinsinnes
sicht nicht auszuschließen, dass sich am Ende beide Standpunkte zusammenschließen. Aber dies kann hier noch nicht entschieden werden. Denn es ist eines, dass die äußerlichen Ausdrücke miteinander ähnlich sind, und es ist ein anderes, dass der hinter diesen Ausdrücken liegende
Gehalt gemeinsam ist. Das hier gemeinte Selbstbewusstsein tritt in der Tat nicht unmittelbar in die harmonische Einheit mit anderen Selbstbewusstseinen. Denn es zeigt sich zunächst in der Weise der »Begierde«: »das Selbstbewusstsein (ist) hiermit seiner selbst nur gewiss durch das Aufheben
dieses Anderen, das sich ihm als selbstándiges Leben darstellt; es ist
Begierde« (143). Dieses Selbstbewusstsein tritt mit dem Anderen als Bedingung für die Erfüllung seiner eigenen Begierde hervor, aber auch das Andere tritt als das lebende Selbstbewusstsein mit der Begierde hervor. Ich und das Andere stehen so in einem Gegensatz zueinander, so dass die eine Seite die andere zu beherrschen trachtet. Wenn dieses Spannungsverhältnis zur überwältigenden Herrschaft der einen Seite
führt, so wird die andere Seite der Furcht ausgesetzt. Dies ist das viel zitierte Verhältnis von »Herrschaft und Knechtschaft«. Es wurde aber, soweit der Verfasser weiß, noch nicht versucht, dieses Verhältnis im Hinblick auf das »Sinnliche«, durch das der neue Sinnhorizont des
»Gemeinsinnes« eröffnet wird, zu begreifen, wie im Folgenden skizziert wird. Das Auftreten des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft kann wie folgt zusammengefasst werden: Das Selbstbewusstsein als
das allgemeine Blut von Ich und Gegenstand ist in ihrer logischen
Struktur mit der Fichteschen Formel »Ich bin Ich« auszudrücken, aber in seiner realen Seinsweise die Begierde, das Andere aufzuzehren und
zu negieren. Allerdings will dabei auch das Andere, indem es selbst ein Selbstbewusstsein hat, das Ich konsumieren. Das Selbstbewusstsein
verdoppelt sich, wodurch das eine im anderen sich selbst sieht. »Das
Tun ist also nicht nur insofern doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das Andere, sondern auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Anderen ist« (147). Die erste Erscheinung dieser Verdoppelung des Selbstbewusstseins ist der »Kampf auf Leben und Tod« (149) von Herr und Knecht. Hier sieht man, dass das Sinnliche in einer tieferen Schicht auftritt: als »Begierde«. Das Selbstbewusstsein ist die Begierde, und diese ist eben sinnlich. Ihre Sinnlichkeit wird von dem Charakter der Herrschaftsbegierde geprägt, das Andere nicht bloß rezeptiv aufzunehmen, 73
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
sondern es sich zu eigen zu machen. Im Fall des Verhältnisses von Herr und Knecht hat der Herr nach dem Kampf auf Leben und Tod seine
Herrschaft verwirklicht. Dies bedeutet für den Knecht, dass er als ein Selbstbewusstsein seiner Selbständigkeit beraubt wird, somit den Tod
seines Fürsichseins erlebt. Aber im Bezug auf sein reales Sein heißt es, dass der Knecht seinem absoluten Herrn gegenüber die »Furcht des Todes« (153) hat. Die absolute Negativitát des »Todes« ruft beim Knecht das Gefühl der absoluten Unterwerfung bzw. das »Gefühl der absoluten Macht« (ibid.) hervor. Demgegenüber hat der Herr kein solches Gefühl der Not als dringenden Ausdruck der Sinnlichkeit. Der Herr bezieht sich auf beides, den Knecht und das Ding, genauer: »auf den Knecht mittelbar durch das selbständige Sein« und zugleich »mittelbar durch den Knecht auf das Ding« (151), das der Knecht herstellt. Die letztere Beziehung kann als »Genuss« bezeichnet werden. Er geniefst das durch die Arbeit des Knechtes hergestellte Ding. Es gilt für ihn, »im Genusse sich zu befriedigen« (ibid.). Dieser Genuss und die Zufriedenheit bilden die sinnliche Seite des Herr-seins. Diese Seite ist extrem verschieden von dem Gefühl, das der Knecht dem Herrn gegenüber hat. Der Herr braucht kein Gefühl für den Knecht zu haben, noch diesen zu hóren, und den An-
spruch des Knechtes kann er einfach ignorieren, weil er den Knecht nicht als ein ihm gegenüberstehendes Selbstbewusstsein anerkennt, während der Knecht angesichts seiner Furcht des Todes dem Anspruch seines Herrn gegenüber absolut gehorsam sein muss. Jedoch ist gerade diese in der Selbstentfremdung des Knechtes konzentriert gezeichnete Ungleichgewichtigkeit zugleich der Wendepunkt des ganzen Verháltnisses von Herr und Knecht und auch der wichtigste Punkt der Ausdrucksform des Sinnlichen im »Herr-KnechtVerhältnis«. Der Knecht wird, eben indem er der Furcht des Todes aus-
gesetzt wird, auf sich als das Knecht-sein zurückgeworfen und sich dessen Seins bewusst. D.h., er wird selbstbewusst, dass er die Dinge
produziert, von denen der Herr abhängig ist. Er ist eigentlich selbstándig und der Herr das Gegenteil. Übrigens kann der Versuch, die Um-
kehrung des Verháltnisses von Herr und Knecht als das Schema der »Revolution der Proletariats« zu verstehen, zwar als philosophische
Erklárung der Revolutionsstruktur verstanden werden, aber als Interpretation des »Selbstbewusstseins« überzeugt er nicht. Denn das ge-
sellschaftliche Verhältnis kommt erst auf der Stufe des »Geistes« vor,
noch nicht auf der des »Selbstbewusstseins«. 74
Selbstbewusstsein — Horizonteróffnung des Gemeinsinnes
Es ist hier darauf zu achten, dass es wiederum das Element des
Sinnlichen ist, in dem die dialektische Wendung des Selbstbewusst-
seins stattfindet. Denn der Wendepunkt ist die Furcht des Todes. So ist weiter zu betrachten, welche Änderung das Sinnliche selbst an diesem Wendepunkt erfáhrt. Hier sind die extrem entgegengesetzten Gefühle, die »Furcht des Todes« und die »Befriedigung des Genusses«, an beiden Polen ein und desselben gemeinsamen Verhältnisses vorhan-
den. Dieses gemeinsame Verhältnis ist identisch mit dem Selbst-
bewusstsein vor dessen Verdoppelung. Darum wird gesagt: »Die Mitte
ist das Selbstbewusstsein, welches sich in die Extreme zersetzt; und
jedes Extrem ist diese Austauschung seiner Bestimmtheit und absolu-
ter Übergang in das entgegengesetzte« (147).
So ist zweitens darauf zu achten, dass die zwei extremen Bewusst-
seinsgestalten ihres »Anderen« bewusst sind. Selbst der Herr weiß in
Wahrheit um die ihn an den Knecht bindende Kette, »von der er im
Kampfe nicht abstrahieren konnte und darum sich als unselbständig, seine Selbstándigkeit in der Dingheit zu haben erwies« (151). Dass der Herr die eigene Selbständigkeit in der Dingheit hat, heißt, dass er nur mittelbar selbstándig ist und die Seite der Selbstándigkeit dem Knecht, der das Ding bearbeitet, überlässt. Die beiden sind in dieser Weise in der »Kette« des gemeinsamen Verhältnisses miteinander verbunden und sich dessen bewusst. So entsteht in den beiden trotz aller gegensátzlichen Gefühle ein gemeinsames Bedürfnis: »Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend« (147). Die sonst kontrastierten Gefühle sind dann nicht bloß gegensätzlich; sie gelten als die zwei Ausdrucksformen des einen und selben gemeinsamen Verhältnisses. Sie sind miteinander verbunden und gelten als Gefühle der Ungemeinsamkeit des gemeinsamen Verháltnisses. Da das Gefühl die verinnerlichte Form der Sinnlichkeit ist, sind sie je der ungemeinsame Gemeinsinn, der sensus communis non-communionis.
Das Sinnliche, das dem genannten Verhältnis zugrunde liegt, zeigt
sich zuerst als der »Gemeinsinn der Ungemeinsamkeit« und als die Erschlossenheit des Anderen. Dies sind die inneren Schichten des Sinnlichen, die im Kapitel »Bewusstsein« potenziell enthalten sind und erst im Zuge dieser Interpretation sichtbar gemacht werden konnten.
75
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
2.2. Das unglückliche Bewusstsein Im Kapitel »Selbstbewusstsein« folgen im Anschluss an die Gestalten von »Herr und Knecht« die Gestalten »Stoa«, »Skeptizismus« und »das unglückliche Bewusstsein«. Um die Darstellung vorwegzunehmen,
sind die ersten zwei Gestalten des Bewusstseins im Hinblick auf die
Seinsweise des »Sinnlichen« eine Art Rückschritt, obwohl dieser für
den Schritt vorwärts ein notwendiger Schritt ist. Zunächst ist dies kurz festzustellen, um das Sinnliche in der dritten Gestalt, des »unglück-
lichen Bewusstseins« zu betrachten. Die schlichteste Formulierung des Standpunkts der Stoa ist, dass
sie das Bewusstsein ist, das »wie auf dem Throne so in den Fesseln« in
aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseins »frei« ist (157). Diese Formulierung darf nicht lediglich als gescheite Rhetorik verstanden werden. Denn in der Tat wird der Stoizismus in der Römerzeit von zwei Personen vertreten: Der eine ist der Knecht Epiktetos und der andere Kaiser Marc Aurel. Sie haben beide inmitten der Wirklichkeit des riesigen Kaiserreichs, die nicht vom Willen der Individuen manipuliert werden kann, die Ataraxia (die Ruhe) des Inneren zu erreichen gesucht. Das Bewusstsein der Freiheit inmitten der die Individuen überwältigenden, riesigen Wirklichkeit ist nur im »Denken« zu sichern. »Im Denken bin Ich frei« (156). Allerdings handelt es sich dort um die »abstrakte Freiheit« (159). Denn, wie das Schlüsselwort des Stoizismus, die »Apatheia« andeutet, setzt diese Freiheit das Fehlen des »Pathos« bzw. die Gefühllosigkeit gegenüber der Außenwelt als Bedingung voraus. Vorsichtshalber ist freilich hinzuzufügen, dass es ungebührend ist, mit dieser kritischen Bemerkung den Gedanken von Epiktetos oder Marc Aurel zu erschópfen. In den Gedanken vom freien Knecht Epiktetos ist der heitere und vom eigenen Stand unbekümmerte aufrechte Geist und in »Ad se ipsum« von Kaiser Marc Aurel die ruhige Einsicht ins Leben inmitten seiner ihn in Atem haltenden Bescháftigung mit der Invasion der germanischen Vólker sowie dem Trotz der Christen innerhalb des Reichs in eindrucksvoller Weise zu sehen. Wenn die beiden Zeitgenossen einander begegnet wáren und das Verhältnis von »Kaiser und Knecht« gebildet hätten, hätten sie ihr gemeinsames Verhältnis auf den ungemeinsamen Standpunkten dennoch mit derselben Gesinnung aufgenommen. Der »ungemeinsame Gemeinsinn« hátte bei ihnen in einer sehr anderen Form als bei »Herr
und Knecht« bestanden. In der Phänomenologie des Geistes wird der 76
Selbstbewusstsein — Horizonteróffnung des Gemeinsinnes
Stoizismus
nur insofern behandelt,
als sein Geist als ein
»Selbst-
bewusstsein« gefasst wird, was keine »philosophiegeschichtliche« Dar-
stellung bedeutet. Insofern ist nicht verwunderlich, dass die histori-
schen Namen der beiden dort nicht angegeben werden. Auf den Stoizismus folgt der Skeptizismus. Dieser gehórt zwar in dasselbe Zeitalter wie der Stoizismus, vertritt aber in der Phánomenologie des Geistes die andere Gestalt des Selbstbewusstseins, die die
»Freiheit im Denken« ohne die Veränderung des sozialen Verhältnisses durch sich selbst zu realisieren anstrebt. Das Geheimnis dieser Realisierung soll in der Skepsis und Negation der Wahrheit der Außenwelt liegen: »im Skeptizismus wird nun für das Bewusstsein die gänzliche Unwesentlichkeit und Unselbständigkeit dieses Anderen« (159) offen-
bar, d.h. des selbständigen Daseins für das Selbstbewusstsein bzw. die vorhandene Bestimmtheit der Welt. Insoweit das Bewusstsein die Bedeutung der wirklichen Welt durch die Skepsis in der Weise der »Epoché« vorbehält bzw. negiert, erhält es die » Ataraxie des sich selbst Denkens, die unwandelbare und wahrhafte Gewissheit seiner selbst«
(161).
Es ergibt sich aber, sobald sie der Überprüfung unterworfen wird, dass sie sich nicht halten kann. Denn das Selbstbewusstsein muss gleich
gestehen, dass es in seinem Leben von der Außenwelt abhängt; »es spricht die Nichtigkeit des Sehens, Hörens usf. aus, und es sieht, hört
usf. selbst« (162). Hier herrscht die »sinnliche Ungewissheit«, aber trotzdem ist der Skeptizismus von dieser sinnlichen Empfindung abhängig. Der Skeptizismus muss also erfahren, dass sein Bewusstsein in sich selbst widersprüchlich ist. Es geht aus dieser Erfahrung eine »neue
Gestalt« hervor, nämlich das unglückliche Bewusstsein, und dieses ist die faktisch zweite Gestalt des »Selbstbewusstseins«, das sich in Herr
und Knecht verdoppelt hatte. Um die Darstellung zu erleichtern, ist im Voraus ein Blick auf die Seinsweise des »Sinnlichen« im unglücklichen Bewusstsein zu werfen. Hier sind die in sich verdoppelten Selbstbewusstseine in ein und demselben Subjekt vorhanden, wodurch das Bewusstsein die »Entzweiung« von sich selbst erleidet. Das »Gefühl des Unglücks«, dieser sinnliche
Ausdruck, ist im Grunde nichts anderes als das Gefühl dieser Entzwei-
ung. Diese ist aber andererseits ein Moment
der Wesensnatur des
»Geistes«, der sich nicht blof? als die unwandelbare Substanz findet,
sondern als das sich äußernde, vergegenständlichende und in seinem
Anderssein sich selbst begreifende Subjekt, das eben durch die Ent77
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
zweiung hindurch zu sich selbst kommt. Diese Entzweiung wird, je nach der Stufe des Geistes, mit dem Pathos: mit Schmerzen, Zorn,
Trauer usw. empfunden. Das Gefühl des Unglücks im Selbstbewusstsein ist die Form des dem Geist wesentlichen Momentes der Entzwei-
ung. Da diese Entzweiung immer im Element des Sinnlichen stattfin-
det, wird der ganze Weg des Geistes mit dem Sinnlichen überspannt. In dieser Gesamtperspektive ist etwas eingehender zu fassen, wie die Entzweiung als Quelle des unglücklichen Gefühls strukturiert wird. Die erste Frage ist, wohinein das Bewusstsein entzweit wird. Es handelt sich nicht mehr um die Entzweiung in Herr und Knecht, da
dieser Gegensatz schon in einem Bewusstsein verinnerlicht wird und sich in ein und demselben Subjekt findet. Sowohl der Herr als auch der Knecht müssen in einer verinnerlichten Form gefasst werden. Der ers-
tere stellt sich mit der absoluten Gewalt dem Anderen dar, somit ist er
als »das einfache unwandelbare (Bewusstsein), als das Wesen« (164) zu bestimmen. Dem gegenüber ist der letztere als »das vielfache wandelbare, als das Unwesentliche« (ibid.) zu bestimmen. Als die zwei Seiten desselben Selbstbewusstseins stehen sie nicht im bloßen Gegensatz zueinander, sondern sie sind aufeinander bezogen. Das Selbstbewusstsein
ist die beiden, aber diese beiden sind für einander fremd. So muss hier
wieder der »Kampf« zwischen den beiden stattfinden, aber innerhalb desselben Subjektes als verinnerlichter Kampf. Dann ist sowohl die Siegerseite als auch die geschlagene Seite die desselben Subjektes. Das Besiegen ist zugleich ein Verlieren. »Es ist damit ein Kampf gegen einen Feind vorhanden, gegen welchen der Sieg vielmehr ein Unterliegen, das eine erreicht zu haben vielmehr der Verlust desselben in seinem Gegenteile ist« (164). Dies bedeutet, dass die Erhebung zum Unwandelbaren das Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit wird.
Man mag aus der obigen Zusammenfassung einen Eindruck be-
kommen, dass die Beschreibung der Struktur des unglücklichen Bewusstseins etwas abstrakt ist. Aber im Text wird hier die bisher neutrale Form des Unwandelbaren unversehens in die maskuline Form umgeschrieben: »der gestaltete Unwandelbare« (167). Damit entsteht ein sprunghafter Umschlag der Szene. Denn mit dieser maskulinen Form wird offensichtlich der Sohn Gottes impliziert. Das Unwandel-
bare nimmt die Gestalt des einzelnen, góttlichen Menschen an. Das
bisher Gesagte erhält hier den konkreten Sinn, nach dem es sich um das Verhältnis des Menschen zum göttlichen Unwandelbaren handelt,
und zwar im Selbstbewusstsein selbst. In diesem wird der Wunsch ge78
Selbstbewusstsein -- Horizonteröffnung des Gemeinsinnes
hegt, dass das Bewusstsein als das Wandelbare mit dem Unwandel-
baren eins wird. Aber in Wirklichkeit stirbt »der« Unwandelbare, weil
er als der Sohn Gottes die Entzweiung in die Allgemeinheit und Einzel-
heit in sich selbst getragen hatte. Dass der Unwandelbare wie der
Mensch stirbt, bedeutet einerseits die äußerste Form dessen, dass der
Unwandelbare seine Jenseitigkeit negiert und die Seinsweise des Men-
schen annimmt. Andererseits bedeutet es aber, dass die Hoffnung auf
das Einswerden mit dem göttlichen Unwandelbaren mit dem Tod endet
und das Einssein nicht verwirklicht wird. So bleibt die Jenseitigkeit des Unwandelbaren im »Unwandelbaren« stehen. »In der Tat ist durch die
Gestaltung des Unwandelbaren das Moment des Jenseits nicht nur ge-
blieben, sondern vielmehr noch befestigt; denn wenn es durch die Ge-
stalt der einzelnen Wirklichkeit ihm einerseits zwar nähergebracht zu sein scheint, so ist es ihm andererseits nunmehr als ein undurchsichti-
ges sinnliches Eins mit der ganzen Spródigkeit eines Wirklichen gegenüber; die Hoffnung, mit ihm eins zu werden, muss Hoffnung,
d.h.
ohne Erfüllung und Gegenwart bleiben« (166/7). Das Unwandelbare erhält die Bestimmung des »sinnlichen Eins«. Hiermit wird die vorhin auf der Stufe des »Verstandes« gesehene »umgekehrte Welt« wiedergegeben. Dies heift, dass auch das göttliche Unwandelbare sich im Element des Sinnlichen findet. Das gestaltete Unwandelbare, somit »der« Unwandelbare, ist noch nicht »das« Un-
wandelbare« an und für sich, sondern der bedingte Einzelne (Jesus). Aber der Rückgang zur Stoa oder zum unruhigen Skeptizismus geht auch nicht. So tritt als die Haltung, dem unwandelbaren Herrn gegenüber zu sein, die »Andacht« (168) oder das »reine Gemüt« (170) auf, um das Gefühl zu erreichen: Das »Selbstgefühl, es hat den Gegenstand seines reinen Fühlens gefühlt, und dieser ist es selbst« (170). Als konkretes Beispiel dieses Selbstgefühls wäre der Glauben von Petrus anzu-
geben, der zwar erbaulich ist, aber sich der góttlichen Natur in sich nicht bewusst ist. Dies ist »das erste Verhältnis«, in dem das Bewusst-
sein auf sich selbst zurückgeworfen wird. »In dieser Rückkehr in sich ist für uns sein zweites Verhültnis geworden, das der Begierde und Arbeit« (ibid.). Hier wird die Seinsweise des Knechtes teilweise wiederholt, weil er eben mit seiner Begierde und Arbeit auch angesichts der Furcht des Todes bei sich selbst sein konnte. Die Mühe des Bewusstseins, die Entzweiung in Jenseits und Diesseits oder die »entzweigebrochene Wirklichkeit« (170) zu bearbeiten und die Einheit zu begehren, dauert, bis »das unwandelbare Bewusst-
79
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
sein auf seine Gestalt Verzicht tut und sie preisgibt, dagegen das einzelne Bewusstsein dankt, d.h. die Befriedigung des Bewusstseins seiner
Selbständigkeit sich versagt und das Wesen des Tuns von sich ab dem
Jenseits zuweist« (172). Dieser Satz drückt das »dritte Verhältnis« des Gemüts aus. Aus diesen drei Verhältnissen des Gemüts des »unglücklichen Be-
wusstseins« ist auch die Bewegtheit der Seinsweisen des »Sinnlichen«
deutlich sichtbar. Schon das Wort »das unglückliche Bewusstsein« ist ein Ausdruck des Sinnlichen, das aber jetzt die Gestalten des » Gemüts« annimmt. Zuerst wird es als die »Andacht«, als das reine Gemüt aus-
gedrückt. Es handelt sich dort um die »Sehnsucht« (169) nach dem
Unwandelbaren. Mit dieser geht das unglückliche Bewusstsein an das
Denken hin und ist »Andacht«, wobei dieses Denken etwa wie das »Sausen des Glockengeläutes« bleibt, ohne zu diesem Geläut selbst, zum Begriff, zu kommen. Im zweiten Verhältnis kommen »Begierde,
Arbeit und Genuss« wieder in den Vordergrund, in dem es um das Gefühl der Befriedigung und den Genuss durch Arbeit geht. Dies führt
am Ende, vermittelt vom Unwandelbaren, zum dritten Verhältnis, in
dem das Gefühl des »Dankens« zustande kommt. Das im »Verstand« erblickte religióse Gemüt als das vertiefte Sinnliche wird hier ausdrücklich. Am Ende dieses dritten Verhältnisses muss noch die letzte Überprüfung gemacht werden: die harte Kritik an dieser scheinbaren Tiefe des Sinnlichen als dem »unendlichen reinen inneren Fühlen« (169) des Gemüts. Die oben genannte Leistung des »Verzichtes« oder des »Dankens« kann sich nämlich allein durch die wirkliche Aufopferung bewähren. Sonst endet alles mit dem »Betrug«, »welcher in dem inneren Anerkennen des Dankens durch Herz, Gesinnung und Mund liegt« (176) und erst in der wirklichen Aufopferung verschwindet. Diese Aufopferung geschieht im »Selbstbewusstsein« noch nicht, da in ihm noch die »Eigenheit« (ibid.) übrig bleibt. Sie wird erst spáter im Kapitel »Religion« wirklich geschehen. Dies bedeutet, dass das »Sinnliche« im Selbstbewusstsein noch nicht seine eigentliche Tiefe erreicht hat. Jedoch zeigte sich seine tiefe-
re Schicht, der Gemeinsinn, im Sinnhorizont des »ungemeinsamen Gemeinsinns«, dessen reicher Inhalt erst jetzt entwickelt werden soll.
Dies heißt, dass an dem Selbstbewusstsein als dem »Wendepunkt« des
Bewusstseins auch das »Sinnliche« auf dessen Vertiefung hin seinen Wendepunkt erfáhrt. Es ist der Wendepunkt, 80
»auf dem es (das Be-
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
wusstsein) aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet« (145). Dieser Tag des Geistes ist weder bloß sinnlich noch bloß übersinnlich. Dies deutet an, dass das Element des
»Sinnlichen«, indem es den Sinnhorizont des »ungemeinsamen Gemeinsinnes« erreicht hat, den Namen des Sinnlichen ablegt und einen anderen Namen beansprucht. Dieser andere Name wird erst im Kapitel »Vernunft« auftauchen.
3.
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
Wie bekannt, hat die Phänomenologie des Geistes zwei Titel: » Wissen-
schaft der Erfahrung des Bewusstseins« und »Phánomenologie des
Geistes«. Dementsprechend sieht seine Konstruktion aus: Der eine Teil ist die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« und der andere Teil der Prozess der Erscheinung der »Vernunft« bzw. des Geistes, die zum absoluten Wissen führt. Deshalb wurde im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung, »Die Tragweite des Sinnlichen in der Phánomenologie des Geistes«, versucht zu zeigen, dass das Werk trotz aller Wandlungen der Konzeption und trotz allen Ungleichgewichts zwischen den Kapiteln eine sinnvolle Einheit erhált. Nachdem bisher die »Phánomenologie des Sinnlichen« aus der Darstellung der Phänomenologie des Geistes bis zum »Bewusstsein«, genauer: bis zum »Bewusstsein« im engeren Sinne und zum »Selbstbewusstsein«, herausgestellt wurde, mag es jetzt so aussehen, als ob die Hálfte des ganzen Weges schon gegangen wáre. Aber wenn man auf den Umfang des ganzen Werkes achtet, so sieht man, dass bisher weniger als ein Drittel des ganzen Weges zurückgelegt wurde. Der übrige
Teil, der über zwei Drittel ausmacht, wurde noch nicht behandelt. Er ist
nicht nur im quantitativen Sinne gewichtig; er entwickelt auch qualitativ den neuen Bereich, der von dem
des »Bewusstseins«
und des
»Selbstbewusstseins« unterschieden wird und im Hinblick auf die heutige Verwendung des Wortes »Geist« nicht sofort vorstellbar ist. Es ist also zuerst zu betrachten, worin der Bereich des Geistes im engeren Sinne und der ihm vorangehenden Vernunft von dem Bereich des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins unterschieden wird. Dazu ist eine Stelle zu zitieren: »Das Bewusstsein wird sein Verhältnis zum Anderssein oder seinem Gegenstande auf verschiedene Weise bestim81
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
men, je nachdem es gerade auf einer Stufe des sich bewusstwerdenden
Weltgeistes steht« (181).
Hier taucht das Wort »Weltgeist« zum ersten Mal auf, das weder
im »Bewusstsein« noch im »Selbstbewusstsein« vorkam. Es bietet ein wichtiges Merkmal, an dem der Unterschied zwischen dem »Selbstbewusstsein« und der »Vernunft« erkannt werden kann. Wenn hier der Blick auf die bisherige Darstellung geworfen wird, so blieb das
»unglückliche Bewusstsein« nur deshalb unglücklich, weil es nur ver-
geblich hoffte, mit dem Unwandelbaren eins zu werden, das ihm am
Ende jenseitig ist. Es fand sich deshalb in der unglücklichen Entzweiung. Damit das Zurückkommen zu sich nicht zur Entzweiung, sondern
zur Einheit mit dem Unwandelbaren führen kann, muss es zum Standort der »Vernunft« gehen, d.h. zur »Gewissheit des Bewusstseins, in
seiner Einzelheit absolut an sich oder alle Realität zu sein« (177). Hierin ist zunächst der »Unterschied« zwischen dem Selbstbewusstsein und der Vernunft festzustellen. Aber wenn es um den Unterschied in diesem Sinne geht, so ist zu bemerken, dass auch der »Idealismus« als
die philosophische Gestalt des Selbstbewusstseins, mit dem die Fichtesche und Schellingsche Philosophie gemeint wird, dasselbe ausspricht. Mit der Formel »Ich bin Ich« wird ausgesprochen, dass das Ich sich als den einzigen Gegenstand begreift und die gesamte Realität ist. Zwar
wird in der Phänomenologie des Geistes kritisch bemerkt, dass dieser
Idealismus »wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt« (31) und nicht den Weg der »Wissenschaft« bildet. Nach der Grundeinsicht Hegels ist dieser Weg erst durch die begriffliche »Dar-
stellung« zu erreichen. Jedoch, wenn am Ende das Prinzip »Ich bin Ich« als das Resultat anerkannt wird, somit die Gewissheit, »alle Realität« zu sein, das zu erreichende Ziel ist, dann sind die Vernunft und das
Selbstbewusstsein zwar der Entwicklungsstufe nach verschieden, aber nicht prinzipiell voneinander zu unterscheiden. Dann hätten die Kapi-
tel »Selbstbewusstsein« und »Vernunft« sogar in ein Kapitel integriert
werden können.
Eben in diesem Zusammenhang ist auf das Wort »Weltgeist« zu
achten. Dieser ist vom individuellen Geist darin zu unterscheiden, dass
sein Subjekt nicht mehr das Ich, sondern die »Welt« ist. Gewöhnlich wird das Subjekt des Geistes als ein Individuum und der individuelle
Geist als die Tätigkeit des individuellen Bewusstseins aufgefasst. Wei-
terhin ist das Bewusstsein immer das Bewusstsein von etwas, somit ein
Korrelat zum Gegenstand. Auch wenn es zum Standpunkt des Selbst82
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
bewusstseins übergeht, wo eingesehen wird, dass der Gegenstand
nichts anderes als das Bewusstsein selbst ist und deshalb dieses das
Selbstbewusstsein ist, bleibt diese Selbstgewissheit immer noch sub-
jektiv. Auch wenn behauptet wird, dass diese Gewissheit durch die Ver-
nunft als die objektive Wahrheit erkannt wird, bleibt dieser neue
Standpunkt eben als Folge dieser Radikalisierung des subjektiven Prin-
zips nach wie vor im Bannkreis der Subjektivität. Darum wird gesagt:
»Damit, dass das Selbstbewusstsein Vernunft ist, schlágt sein bisher
negatives Verháltnis zu dem Anderssein in ein positives um« (178). Das »Anderssein« bedeutet, um es mit dem gewóhnlichen Ausdruck zu sagen, das »Andere« als Gegenstand. Vom Selbstbewusstsein her gesehen hat aber das gegenstándliche Andere dieselbe Wesens-
natur wie das Bewusstsein selbst, somit »das Andere seiner selbst«. Es
ist somit sein eigenes »Anderssein«. Jedoch wird es eben deshalb vom Bewusstsein als das Nicht-Ich unterschieden und findet sich somit im negativen Verhältnis zum Ich. Dass dieses in ein positives umschlägt,
bedeutet, dass das Anderssein nicht mehr vom Ich-Bewusstsein her, sondern vom Ganzen des Verhältnisses von Ich und Anderssein her,
somit von der »Welt« her, gefasst wird. Dies ist der Umschlag zum Standpunkt des » Weltgeistes«.
Dass das Subjekt des »Sehens« die Welt ist, wird vom gesunden
Menschenverstand als sinnlos und hóchstens als rhetorisch oder als bloße Spekulation betrachtet. Für ihn ist das »Sehen« ausschließlich das Sehen vom »Ich«. Aber wie in der Einführung erórtert wurde, ist das »Sehen« der Ort des »Sich-zeigens der Welt«. Die Welt, in die das sehende »Ich« immer schon geworfen wird, wird in diesem »Sehen« erschlossen und zeigt sich. »Ich sehe« heißt immer: »Ich sehe in der Welt«, somit: »Die Welt zeigt sich an diesem Ich«. Hier ist, wenn auch
unbewusst, die Wesensnatur des »Sehens« bzw. das »Selbst« des Se-
henden gegenwártig. Dieses Selbst ist auch das der Welt und es zu fassen heißt, dass das sonst subjektive Ich seine Ichheit aufgibt, dass
die Welt an diesem ich-losen Ich sich selbst zeigt. Es ándert sich der Standpunkt, etwas vom »Bewusstsein« her zu sehen, zu dem Stand-
punkt, etwas von der »Welt« her zu sehen. Dort ist die »Kategorie« des Denkens nicht mehr die des Verstandes, somit nicht mehr die sub-
jektive, sondern »jetzt Wesenheit oder einfache Einheit des Seienden nur als denkende(r) Wirklichkeit; oder sie ist dies, dass Selbstbewusst-
sein und Sein dasselbe Wesen ist; dasselbe nicht in der Vergleichung,
sondern an und für sich« (181). Zur Entwicklung der Kategorie des 83
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Denkens in diesem Sinne bedarf es des Standpunktes des »Weltgeistes«
im Unterschied zum »Bewusstsein«. Die grundsätzliche Einsicht, wie
sie in der »Wissenschaft der Logik« von 1812 vorausgesetzt wird, wird schon im Kapitel »Vernunft« angesprochen. Aber das ist nicht unser
Thema.” Die Frage in unserem Problemzusammenhang ist, was für eine Tiefe und Tragweite das Sinnliche hat, das dieser Vernunft zugrunde liegt. 3.1. Beobachtende Vernunft — Leiblichkeitsaspekt des Sinnlichen 3.1.1.
»Das Äußere ist der Ausdruck des Inneren«
Der erste Abschnitt des Kapitels »Vernunft« hat die Überschrift »Beobachtende Vernunft«. Dieser Abschnitt wurde in der langen Forschungsgeschichte nicht so sehr beachtet, wohl deshalb, weil die Darstellungen in manchen Hinsichten der damaligen Naturphilosophie oder Psychologie folgen und somit von der Nachwelt her gesehen ziemlich zeitbedingt zu sein scheinen. Jedoch ist dieser Abschnitt in Hinsicht auf das »Sinnliche« von unentbehrlicher Bedeutung. Denn
die Sehweise der beobachtenden Vernunft selbst hat eine wesentliche
Bedeutung, unabhängig von den damaligen Wissenschaften, an die
Hegel anknüpft. Schon die Tat der »Beobachtung« selbst lässt einen
untrennbaren Zusammenhang mit dem Sinnlichen ahnen. So sind in der folgenden Betrachtung zwei Punkte zu fokussieren: (i) warum und (ii) was beobachtet wird. Die Tat der »Beobachtung« besteht darin, dass der Standpunkt des Selbstbewusstseins hinter sich gelassen wird. Von diesem bzw. von der
Grundformel »Ich bin Ich« her gesehen ist alles, was ist, die Vorstel-
lung vom Ich oder das von diesem Gesetzte. Damit das Selbstbewusstsein nach dieser Formel die wirkliche Existenz nicht nur als »seine« Existenzvorstellung, sondern auch als die »objektive« Wahrheit behauptet kann, muss die Wendung im obigen Sinne gefordert werden. Diese wird nicht auf einmal, sondern durch die Wiederholung der Stu-
7 Die »Kategorie« in der Hegelschen »Wissenschaft der Logik« ist nicht die des Denkens, sondern die des Seins. Da das »Sein« sich mit der »Zeit« zusammenfügt, kann die Kategorie als das Element der Zeitlichkeit verstanden werden. Dazu vgl. den Verfasser, »Hegels Logik und die Zeitlichkeit«, Freiburg/München 1984.
84
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
fen wie Empfindung, Wahrnehmung, Verstand vollzogen. »Dieses Be-
wusstsein, welchem das Sein die Bedeutung des Seinen hat, sehen wir
nun zwar wieder in das Meinen und Wahrnehmen hineingehen, aber nicht als in die Gewissheit eines nur Anderen, sondern mit der Gewissheit, dies Andere selbst zu sein« (185). Dabei bleibt diese Gewissheit,
wenn sie allein betrachtet wird, subjektiv und steht auf der Stufe des
Selbstbewusstseins. Die Vernunft muss wirklich erfahren, dass alles,
was ist, sie selbst ist, und die erste Erfahrung wird in der Weise der »Beobachtung« gemacht.
»Das Bewusstsein beobachtet; d.h. die Vernunft will sich als seienden Gegenstand, als wirkliche, sinnlich-gegenwärtige Weise finden
und haben« (186). Wie in diesem Wort impliziert wird, ist die Beobachtung nicht wie im Fall des »Bewusstseins« das Sehen des Dinges als des Gegenstandes außerhalb seiner selbst. Weiterhin wird hier gesagt, dass die Beobachtung der Vernunft nicht wie die Beobachtung im üblichen Sinne das Sehen und Betrachten des Gegenstandes außerhalb des beobachtenden Ichs ist. Den Gegenstand beobachten, heißt vielmehr »in seine eigene Tiefe steigen« (187). Die Tat dieser beobachtenden Vernunft wird im Text in den Momenten seiner Bewegung betrachtet. Die Vernunft fasst zuerst die »Natur« in ihrer sinnlich-organischen Seinsweise als das »Leben« und beobachtet, wie dieses Leben von der biologischen Ebene zum »Geist« aufsteigt, um schließlich die Beziehung der Natur und des Geistes anhand der — was etwas schroff aussieht — Physiognomie und Schädellehre zu betrachten.
Das oben Gesagte bedeutet kurz: Die Beobachtung bedeutet das
sinnliche Tun auf der Ebene der Vernunft. Die Frage ist, um was für eine Art des Sinnlichen es sich hier handeln kann. Dieses muss andersartig sein als die bloße Sinnesempfindung oder die Wahrnehmung. »Wenn das gedankenlose Bewusstsein das Beobachten und Erfahren als die Quelle der Wahrheit ausspricht, so mógen wohl seine Worte so
lauten, als ob es allein um ein Schmecken, Riechen, Fühlen und Sehen zu tun sei; es vergisst in dem Eifer, womit es das Schmecken, Riechen
usf. empfiehlt, zu sagen, dass es in der Tat auch ebenso wesentlich den Gegenstand dieses Empfindens sich schon bestimmt hat und diese Bestimmung ihm wenigstens soviel gilt als jenes Empfinden« (187/8). Dieses Wort besagt, dass die Art und Weise des Sinnlichen und die des Sich-zeigens der Welt in ihm einander entsprechen. In der sinnlichen Empfindung zeigt sich die Welt als »Dieses«, und in der Wahrnehmung als das »Allgemeine«. Wie zeigt sie sich in der beobachtenden Ver85
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
nunft? Was sie beobachtet, ist die Wesensbestimmung dessen, was sich
der Erkenntnis darbietet, d.h. die »Merkmale« der Dinge. »Die Merkmale sollen nicht nur wesentliche Beziehung auf das Erkennen haben, sondern auch die wesentliche Bestimmtheiten der Dinge« (190). Durch diese Merkmale können die Dinge wesentlich voneinander unterschieden werden. Die Merkmale scheinen dann dem »Gesetz« ähnlich zu sein, das der »Verstand« im Inneren der Dinge findet. Aber
die beobachtende Vernunft kann auch nicht dieser Verstand bleiben, da
dieser noch das Bewusstsein des Gegenstandes war. Wenn er sieht, dass
das gefundene Gesetz als das »Leben« das Bewusstsein selbst durch-
zieht, so geht er zum »Selbstbewusstsein« über, das die Selbigkeit von Bewusstsein und Gegenstand einsieht. Jedoch bleibt seine Gewissheit
am Ende noch subjektiv. Es ist die »Vernunft«, die diese subjektive Gewissheit zur objektiven Wahrheit macht. Die Vernunft, die in dieser
Weise den Standpunkt der Empfindung, der Wahrnehmung, des Verstandes und des Selbstbewusstseins als ihre Momente wiederholt, »be-
obachtet« jetzt die Wesensmerkmale der Dinge. Diese sind nichts anderes, als das Innere der Vernunft selbst ist. Das Ergebnis der
Beobachtung der Vernunft ist also die Entdeckung des Gesetzes, »dass
das Äußere der Ausdruck des Inneren ist« (202). Es ist daran zu erinnern, dass die Art und Weise des Sinnlichen der Art und Weise dessen, was sich in ihm zeigt, entspricht. Sie bestimmt
sich auch die Seinsweise des Gegenstandes. Die Beobachtung im übli-
chen Sinne bleibt der zu beobachtenden Sache gegenüber äußerlich,
ohne deren Seinsweise zu berühren. Aber die Tat der Beobachtung der Vernunft ist weder von der Seinsweise des beobachteten Faktums unabhängig noch dieser gegenüber äußerlich. Dies ist der Sinn des von
der Beobachtung der Vernunft entdeckten Gesetzes: Das beobachtete
Äußere ist der Ausdruck des Inneren der Vernunft. Die Beobachtung
hat hier den Charakter der »Einsicht«, und das Beobachtete wird in
seinem Inneren eingesehen.
3.1.2.
Die Beobachtung der Natur und des Selbstbewusstseins
Von hier aus ist zu bezeichnen, was die Beobachtung der Vernunft im Ganzen ergibt: das Gesetz des beobachteten Gegenstandes. Zuerst be-
tätigt sich bei der Beobachtung der »Natur«, die den ersten Abschnitt der »beobachtenden
Vernunft«
bildet, die Vernunft
als »Vernunft-
instinkt«. »Indem jetzt der Vernunftinstinkt dazu kommt, (...) wesent86
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
lich nicht für sich zu sein, sondern in das Entgegengesetzte überzugehen, aufzusuchen, sucht er nach dem Gesetze und dem Begriffe desselben« (192).
Die »Betrachtung der Natur« deckt sich mit der damaligen Naturphilosophie. Die Vernunft findet durch die Betrachtung des teleologisch strukturierten Organischen das obige Gesetz. Die »Sinnlichkeit« rückt dort noch nicht ausdrücklich in den Vordergrund, was kein Wun-
der ist. Es wird allerdings in der Form der »Sensibilitát«, zusammen mit den zwei anderen biologischen Phänomenen »lrritabilitát« und »Reproduktion«, auf der organischen Ebene durchgehend beobachtet; »die Sensibilitát geht über das Nervensystem hinaus und durch alle anderen Systeme des Organismus hindurch« (206). Wenn als Folge der Entwicklung des Organismus die Stufe erreicht wird, auf der er mit dem »Selbstbewusstsein« versehen wird, so muss die Beobachtung des Selbstbewusstseins als der zweite Abschnitt der »beobachtenden Vernunft« vollzogen werden. Dort kehrt die beobachtende Vernunft in sich selbst und findet »zuerst die Gesetze des Denkens« (227). Das Beobachten selbst ist nicht das Wissen selbst, »sondern verkehrt seine Natur in die Gestalt des Seins, d. h. fasst seine
Negativitát nur als Gesetze desselben auf« (228). Man kann hier sagen,
dass die Gesetze des Denkens das vom Beobachten der Vernunft im
Denken Gesetzte sind. Da das Beobachten, wie vorhin bemerkt, das
sinnliche Tun auf der Ebene der Vernunft ist, so sind die Denkgesetze das im Element des Sinnlichen Gesetzte. Das Denkgesetz hat im Unterschied von dem in der Naturwelt keine physische Realitát. Aber es existiert als die Bewegung des Geistes. Der Standpunkt der Beobachtung reicht nicht ganz, um diese denkende Bewegung im Ganzen zu fassen. Denn: »Das Beobachten aber ist nicht das Wissen selbst und kennt es nicht, sondern verkehrt seine
Natur in die Gestalt des Seins« (ibid.). Das Beobachten wird, statt be-
greifendes Wissen zu werden, dieses in das äußerliche Tun verkehren,
das von außen her die Sache sieht und bleibt als dieses äußerliche Sehen. Das Gesetz als das Gesetzte zeigt nicht das Ganze der denkenden Bewegung des Lebens bzw. der handelnden Wirklichkeit des Bewusstseins. Die Vernunft bemerkt das nicht und setzt die Beobachtung fort,
indem sie das »tuende Bewusstsein« zum Gegenstand macht.
»Es eróffnet sich also für die Beobachtung ein neues Feld an der
handelnden Wirklichkeit des Bewusstseins. Die Psychologie enthält die
Menge von Gesetzen« (229) für die Gewohnheiten, Sitten, Denkungs-
87
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
art, Neigung, Leidenschaft usw. Es ist der Bereich, in den die »beobachtende Psychologie« (230) gehört. Als Psychologie wird sie heute längst als übertroffen angesehen, und zwar mit Recht. Aber die Ansicht selber, dass »das Äußere der Ausdruck des Inneren ist«, kann auch in der heutigen Psychologie nicht zurückgewiesen werden. Das gilt auch für die Grundrichtung der »beobachtenden Psychologie«, die einerseits die Gesetze des Individuums, aber andererseits auch die vorgefundenen Umstánde, Lage, Gewohnheiten, Sitten, Religion usw. beobachtet. Aber auch hier reicht der Standpunkt der beobachtenden Psychologie nicht, die Einheit bzw. das Verhältnis dieser beiden Aspekte zu fassen, und zwar aus dem gravierenden Grund, der mit dem Wesen der »Vernunft« zu tun hat.
Diese Psychologie will das innere Gesetz des Individuums sehen, denn »aus diesen (den vorgefundenen Umständen, Lage, Gewohnheiten, Sitten, Religion usw.) ist die bestimmte Individualitát zu begreifen« (230). Dies kann auch vom gesunden Menschenverstand ausgesprochen werden. Dasselbe gilt auch von der Ansicht: »Wenn diese
Umstände, Denkungsart, Sitten, Weltzustand überhaupt nicht gewesen
wáren, so wáre allerdings das Individuum nicht geworden, was es ist« (231). Aber in diesen Worten ist ein weiterer Inhalt enthalten: Dass die
Vernunft in Wahrheit der »Weltgeist« ist. Das Verhältnis von »Welt«
und »Individuum« wird mit der »Kugelfláche« und dem »Mittelpunkt« verglichen (232), was aber nicht die Formulierung der beobachtenden Psychologie ist, die von der Subjektivitát des Bewusstseins nicht ganz
befreit wird. Sie erreicht nicht das Subjekt »Welt«, das über das indivi-
duelle Subjekt hinausgeht. Die »Welt des Individuums« wird nicht begriffen. So geht die beobachtende Psychologie einen anderen Weg, nämlich hin zur Physiognomie und Schädellehre. Dieser Teil sieht zunächst wie eine Art Spaziergang im Denken Hegels aus, etwa in dem Sinne, dass er diese damals von vielen Seiten
mit Interesse beobachteten Quasi-Wissenschaften aus Neugier in seine Phünomenologie des Geistes einbezog. Jedoch ist dieser Teil im Hin-
blick auf das Problem des Sinnlichen wegen der Betrachtung des »Lei-
bes« von unentbehrlicher Bedeutung. Der »Leib« wird in der Phänomenologie des Geistes kaum thematisiert. So sind zuerst die Erwähnungen zum »Leib« eigens herauszustellen. Der Leib »ist die Ursprünglichkeit derselben (der Individualität)« (233). Denn er wird mit dem Sein der Individualitát mitgegeben, und insofern hat das Individuum an ihm nichts getan. Der Leib ist die ur88
Vernunft -- »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
sprüngliche Gegebenheit. Jedoch ist das Individuum zugleich nur, was
es getan hat. Es pflegt auch seinen eigenen Leib, was zur Erhaltung und Bildung seiner physischen Gesundheit beiträgt; »so ist sein Leib auch
der von ihm hervorgebrachte Ausdruck seiner selbst« (ibid.). Der Leib
wird hier in dieser Gedoppeltheit gesehen. Sein An-sich-sein als das Nichtgetanhaben des Individuums bedeutet, dass der Leib die ursprüngliche Gegebenheit des Individuums ist. Zugleich ist er aber das vom Individuum hervorgebrachte, aktive Element. Der Leib ist dem
Individuum Aktivität der Bildung und passive Gegebenheit zugleich.
Um diese Doppelstruktur auszudrücken, wird das Wort »Zeichen« eingeführt. Der Leib ist »ein Zeichen, welches nicht unmittelbare Sache
geblieben, sondern woran es nur zu erkennen gibt, was es in dem Sinne ist, dass es seine ursprüngliche Natur ins Werk richtet« (ibid.). Das Zeichen ist, um die Termini der heutigen Semiologie zu verwenden,
an sich schon ein »Signifié« und »Signifiant«, das Bedeutete und das
Bedeutende zugleich. Jedoch wird diese Auffassung bei Hegel weder als semiotische Leiblehre thematisiert? noch als eine Phánomenologie des Leibes entwickelt. Leib und Sinnlichkeit sind, wie bisher gesehen, nicht das Hauptthema der Phänomenologie des Geistes, sondern ein Nebenthema, das wie eine unterirdische Strómung den Hauptstrom der Gedanken begleitet. Die Darstellung des Leibes wird dort nur im Hinblick auf das Verhältnis von der äußerlichen Gestalt und dem inneren Geist,
somit als Beispiel des Gesetzes »Das Äußere ist der Ausdruck des Inneren« fortgesetzt. Sie führt zur Betrachtung der »Physiognomie« und »Schädellehre«.
8 Es war Derrida, der einst auf die »Hegelsche Semiologie« hingewiesen hat (J. Derrida,
Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 1988). Mit der Hegelschen Semiologie meint Derrida »Hegels Theorie des Zeichens«. Mit dem Zeichen
meint er weiterhin »Monument-des-Lebens-im-Tod, Monument-des-Todes-im-Leben« (ibid., S. 97), somit die »Pyramide«, die in sich eine strenge hierarchische Struktur hat.
Bei der Pyramide geht es um die Aufhebung des Todes ins Leben und auch die des Lebens in den Tod. Darum: »Der Prozess des Zeichens ist eine Aufhebung« (ibid., 102). Derrida hätte von dieser Ansicht ausgehend die Hegelsche Auffassung des Leibes als des »Zeichens« eben als die »Semiologie des Leibes« entfalten können, wenn er diese Stelle in der Phänomenologie des Geistes ins Auge gefasst hätte.
89
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
3.1.3.
Einschlag des Schädels
Dieser Schritt des Geistes ist eher der Rückfall ins Oberflächliche als
der Schritt in die Tiefe. Die Physiognomie und Schädellehre versucht,
an den individuellen Organgestalten wie dem Schädel, der Wirbelsäule, der Hand usw. den Ausdruck des Inneren des Menschen abzulesen. Sie
sind zwar von verdächtigen Techniken wie Magie darin zu unterschei-
den, dass sie die notwendige Verbindung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Menschen voraussetzen. Aber diese Voraussetzung selber ist nicht begründet, sondern eine leere Vermutung. Das Innere des Menschen soll eigentlich der Bereich sein, der von der geistigen Tat und Aktivität im weiteren Sinne gebildet wird und nicht am ruhigen Sein wie dem Schädel oder den Gesichtszügen abzulesen ist. Es ist klar: »wie das Gehirn der lebendige Kopf, der Schädel das caput mortuum ist« (248). Es ist also eine lácherliche Ansicht, sich den Mórder mit einem hohen Knochen hier an dieser Schädelstelle, den Dieb mit einer
dort vorzustellen. Wenn aber dieser hohe Knochen mit der Eigenschaft
des Mörders gleichgesetzt wird, so geht die Schädellehre einfach zu weit. Das einzig positive Moment dieser lächerlichen Ansicht ist, dass die beobachtende Vernunft in die Sackgasse gegangen ist und nicht anders kann, als sich umzuwenden; »denn erst das ganz Schlechte hat die unmittelbare Notwendigkeit an sich, sich zu verkehren« (257). So geht die Vernunft von der »Beobachtung« zur »Verwirklichung durch sich selbst«. Dieses ist als Folge dieser beobachtenden Psychologie festzustellen. Die genannte Folge ist in der Gleichsetzung des hohen Knochens mit der Eigenschaft des Ráubers zu erkennen. Dort wird dieselbe Verknüpfung des Hohen und Niedrigen, des Geistes und des materiellen Knochens vorgestellt, die auch »an dem Lebendigen die Natur in der
Verknüpfung des Organs seiner hóchsten Vollendung, des Organs der
Zeugung, und des Organs des Pissens naiv ausdrückt« (262).? Die Fra-
ge, ob dieses Gleichnis der Physiologie gerecht wird, soll uns hier nicht
weiter beschäftigen. Die gemeinte »Verbindung« ist nicht die Einheit, sondern die »Verkehrung«, und zwar nicht in dem Sinne, dass das Ho-
he des Geistes durch das Niedrige des materiellen Knochens ersetzt ? Slavoj Zizek macht in seinem Beitrag »Was ist das Hegel'sche »konkrete Allgemeine ?« (jap), der für den vom Verfasser herausgegebenen Sammelband Einführung in den deutschen Idealismus (jap.), Kyoto 2006, S. 291—304, verfasst wurde, auf diese Stelle aufmerksam.
90
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
wird. Vielmehr liegt die Verkehrung in jedem der beiden selbst, wie bei der »verkehrten Welt« im Verstand: Der Schädel wird unmittelbar als der Ausdruck des Geistes und das Geistige ebenfalls unmittelbar als die
Gestalt des Schádels angesehen, so dass beide je in sich verkehrt sind. In der Verkehrung des Sinnlichen wird der Leib nicht in seiner gebührenden Leiblichkeit bzw. Sinnlichkeit gesehen. Darum bedarf er einer Aufrichtung im Hinblick auf seine Sinnlichkeit. Diese Aufrichtung wird in der Phánomenologie des Geistes nicht mit pádagogischer Gewalt von oben, sondern von einem an sich selbst sinnlichen Stof geleistet, der im Text wie folgt formuliert wird: Wenn einem Menschen gesagt wird: Du bist dies, weil dein Knochen so beschaffen ist, »so heift es nichts anderes als: ich sehe einen Knochen für deine Wirklichkeit an« (256). Als Erwiderung auf ein solches Urteil soll die »Ohrfeige« (ibid.) gegeben werden. Denn dadurch wird zutage gebracht, dass die Ohren als die weichen Teile des Leibes nicht die Wirklichkeit des Geistes sind. Darin liegt die Weisheit von »uns« als dem absoluten Wissen. Die Darstellung geht wie folgt weiter: »hier müsste die Erwiderung eigentlich so weit gehen, einem, der so urteilt, den Schädel ein-
zuschlagen, um gerade so greiflich, als seine Weisheit ist, zu erweisen, dass ein Knochen für den Menschen nichts an sich, viel weniger seine wahre Wirklichkeit ist« (256/7). Das Einschlagen des Schádels ist auch das Einschlagen der Schädellehre, somit auch der Sinnlichkeit, die der beobachtenden Psycho-
logie dient. Mit diesem Schlag der sinnlichen Tat gegen die beobachtende Vernunft einer sinnlichen Tat wird der Übergang zum nächsten Schritt ermöglicht.
3.2. Tütige Vernunft — Vom Gemeinsinn zur »Sym-pathie« 3.2.1.
Der Fall »Faust«
Der Titel des zweiten Abschnittes der »Vernunft« lautet genauer: »Die
Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst«. Die vorangegangene Gestalt, die »beobachtende Vernunft«, strebte an, die »Gewissheit« der Diesselbigkeit der Wesensnatur von Bewusstsein und Gegenstand, wie sie im Selbstbewusstsein erreicht wurde, durch die »Beobachtung« zur objektiven »Wahrheit« zu erhe-
ben. Sie versuchte es, indem sie in das Äußere einsieht, um dieses als 91
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Ausdruck des Inneren zu begreifen. Aber am Ende verfiel sie in verdächtige Wissenschaften wie Physiognomie und Schädellehre. Jedoch fand dort ein Umschlag der Vernunft statt, durch den sie zu der Stufe übergeht, auf der die genannte Diesselbigkeit nicht mehr durch die Beobachtung, sondern durch die eigene »Tat« zu verwirklichen versucht wird. Diese Stufe ist die »tátige Vernunft«. Hier soll zuerst zur »Tat« in der »tátigen Vernunft« ein allgemeines Verstándnis gewonnen werden. Gewóhnlich meint eine Tat immer die Tat eines Individuums. Wenn das Individuum vernünftig ist, ist seine Tat vernünftig, und wenn nicht, dann ist die Tat unvernünftig.
Jedoch ist die Tat der »tátigen Vernunft« nicht dem Individuum, son-
dern dem »Weltgeist« zugehórig. Als Phánomen ist es zwar nach wie
vor das Individuum, das die Tat vollzieht, aber was dieses Individuum
zur Tat bewegt, ist die »allgemeine Vernunft« (263). Es wurde im vorigen Kapitel gezeigt, dass die Vernunft eine Gestalt des »Weltgeistes« ist. Die allgemeine Vernunft ist eine Gestalt dieses Weltgeistes. Dieser Weltgeist soll nun den Übergang der Betrachtungsweisen vom Bewusstsein her zur »Welt« bilden. Dieser Gang ist allerdings nicht vóllig neu, sondern wie schon zuvor der Prozess, in dem die bisherigen Standpunkte als Momente wiederholt werden. »Wie námlich die beobachtende Vernunft in dem Elemente der Kategorie die Bewegung des Bewusstseins, nämlich die sinnliche Gewissheit, das Wahrnehmen und den Verstand wiederholte,
so wird diese auch die doppelte Bewegung des Selbstbewusstseins wieder durchlaufen« (263). Diese Wiederholung ist die der sinnlichen Ge-
wissheit und zugleich auch der Prozess der Vertiefung des Elementes
des »Sinnlichen«. Denn die oben genannte »doppelte Bewegung des Selbstbewusstseins« heißt, dass die tätige Vernunft erstens sich selbst
als Individuum auffasst, so dass es seine Wirklichkeit im Anderen sei-
ner selbst sieht, und zweitens dieses Bewusstseins zur Allgemeinheit erhoben wird und sich als der allgemeinen Vernunft zugehórig bewusst wird. Dadurch erhält das »Sinnliche«, das die allgemeine Vernunft überspannt, über die bloße Individualität hinaus eine Allgemeinheit. Mit diesem Vorverstándnis sind die konkreten Gestalten der tátigen Vernunft zu verfolgen. Die erste Gestalt ist mit Goethes Figur des Dr. Faust zu vergleichen. Faust ist verliebt in Gretchen. Noch exakter
wäre zu sagen, dass Gretchen in Faust verliebt ist, während dieser nur
die mánnliche Begierde hat, sie sich anzueignen. An früherer Stelle wurde das in sich gedoppelte Verhältnis des Selbstbewusstseins als das 92
Vernunft -- »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
von Herr und Knecht im Kampf auf Leben und Tod entfaltet. Sein
Ausgangspunkt war das Streben nach der Herrschaft über die andere Seite. Jetzt ist die Motivation »ein Tun der Begierde« (271). Um diese Begierde zu erfüllen, lernte Faust das Mädchen kennen. Aber dieses ist
auch an sich ein selbständiges Selbstbewusstsein. Indem sich also Faust das Mädchen
um seiner Begierde willen aneignet, wird dieses ihrer
Selbständigkeit beraubt. Gretchen wurde schwanger und gebar das Kind von Faust, verfiel jedoch in Panik, tötete das Baby und verlor sich selbst. Sie flüchtete, wurde aber festgenommen und hingerichtet. Wie bekannt, existieren historische Materialien zu dieser Erzäh-
lung: Dokumente zum Fall der Susanna Margaretha Brandt. Goethe selber beobachtete diesen Fall in seiner Studienzeit in Straßburg. Es
war 1771, als Susanna, ein Dienstmädchen im Gasthof »Eichhorn«,
von einem bósen Gast betrogen, mit einem Schlafmittel betáubt und
im Schlaf vergewaltigt wurde, schwanger wurde und ein Kind gebar. In äußerster Verwirrung tötete sie das Kind und flüchtete nach Mainz,
wurde aber bald festgenommen und nach damaligem Strafrecht enthauptet. Zwar gab es damals eine Situation, die ein so hartes Strafrecht teilweise legitimierte. Aber Goethe hatte kurz zuvor in seiner Dissertation an der Universität Straßburg die Gerechtigkeit des Gesetzes, die Todesstrafe bei Kindsmord, in Frage gestellt. Als dieser Fall zu Gericht gebracht wurde, wurde nicht nur Goethe selber, sondern auch sein Vater sowie sein Onkel, der Anwalt sowie der Arzt seines Hauses, kurz:
das ganze Haus Goethes, ins Gerichtsverfahren verwickelt. Zudem hatte Goethe kurz vor dem Beginn dieses Gerichtsverfahrens in Seesenheim, einem Vorort von Straßburg, seine Geliebte Friederike Brion im Stich gelassen. Im Faust spricht Mephistopheles bei der Hinrichtung Gretchens aus: »Sie wurde gerichtet«, aber die Stimme im Himmel lautete gleich danach: »gerettet«. Diese Szene wird wohl zu Recht als Projektion des Schuldbewusstseins des Autors interpretiert. Wurde diese Tragódie von Goethe zu einem literarischen Werk sublimiert, so wird sie von Hegel philosophisch behandelt, indem er die Figur von Dr. Faust zur tátigen Vernunft macht. Die Art und Weise, wie diese tátige Vernunft sein »Tun der Begierde« vollzieht, ist nicht in der gewóhnlichen Vorstellung »vernünftig«, sondern eher »sinnlich« im spezifischen Sinne. Sie führt aber zum 10 Vgl. dazu: Das Leben und Sterben der Kindsmórderin Susanna Margaretha Brandt. Nach den Prozessakten dargestellt von Siegfried Birkner, Frankfurt a. M. 1973.
93
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
tragischen Ende, was Mephistopheles andeutet.!! Jedoch überfällt dieser Untergang nicht zufällig die tätige Vernunft. Er ergibt sich als die Folge dessen, dass die tätige Vernunft ihre Möglichkeiten erschöpft hat. Dass das Selbstbewusstsein der Vernunft das Andere zum Gegen-
stand seiner Begierde macht, um es sich anzueignen und seine Lust zu befriedigen, bedeutet, dass das Andere nicht an und für sich es selbst sein kann, und dies heißt, dass auch das genießende Selbstbewusstsein
seinerseits nicht an und für sich es selbst sein kann. Denn das Andere ist das Andere seiner selbst. Indem also das Andere sich verliert und untergeht, muss auch das Selbstbewusstsein sich selbst verlieren und
untergehen. Faust leidet darunter, dass Gretchen als Opfer seiner Lust ein tragisches Ende erleidet. Dies heißt, um es allgemeiner zu formulieren, dass sich das Tun der Begierde nicht endlos halten kann. Der Genuss der Lust durch das Tun der Begierde muss auf die negative Wirklichkeit stoßen. Das Selbstbewusstsein »erfährt den Doppelsinn, der in dem liegt, was es tat, nämlich sein Leben sich genommen zu haben, es nahm das Leben, aber vielmehr ergriff es damit den Tod«
(274). Das individuelle Bewusstsein nimmt das Leben als Folge seines
Tuns und wird an der »harten, aber kontinuierlichen Wirklichkeit zer-
stäubt« (273) und zerschmettert. Um diese Sachlage im Hinblick auf den Modus des Sinnlichen zu betrachten, so ist diese Zerstäubung des Individuums zugleich die des Ich-Bewusstseins im gewöhnlichen Sinne, und dieses Bewusstsein ist nicht mehr bei sich. »Das Bewusstsein ist sich daher durch seine Erfahrung, worin ihm seine Wahrheit werden sollte, vielmehr ein Rätsel geworden, die Folgen seiner Taten sind ihm nicht seine Taten selbst« (274). Das ist das Gefühl des Selbstverlustes, und dasselbe kann auch
am anderen, das zum Gegenstand der Lust gemacht wurde, erfahren
werden. Schon dadurch, dass die eine Seite die andere zum Mittel des Genusses der Lust macht, beginnt der Selbstverlust bei beiden. Die
Begierde der beiden Seiten, die andere Seite sich anzueignen, führt zur Auflösung des Verhältnisses von beiden, und jede Seite verliert
ihren eigenen Boden.
Faust wird verjüngt, indem er sich dem Teufel Mephistopheles überlässt, und Gretchen verliebt sich durch ein Arrangement des Teufels in Faust. So sind beide dem Prozess unterworfen, in dem
»das
Leben genommen wird«. Der negative Aspekt dieses Prozesses ist der 1 Vgl. Faust, Vers 1851-67.
94
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
»Tod« Gretchens, und der positive ist, dass Faust überlebt. »Das Selbstbewusstsein an sich hat aber diesen Verlust überlebt; denn diese Not-
wendigkeit oder reine Allgemeinheit ist sein eigenes Wesen« (274/5). Das oben Dargestellte zeigt eine andere exemplarische Szene des ungemeinsamen
Gemeinsinnes,
der schon einmal in der Szene des
Herrn und des Knechtes auftauchte. Hier bilden zwei Geschlechter einund dasselbe Verhältnis. Dieses Verhältnis ist für die beiden gemeinsam, aber die Standpunkte der beiden Pole sind voneinander verschie-
den. Gretchen hat Liebesgefühle und Faust geniefst die Lust. Für Gret-
chen ist Faust der einzige Partner ihrer Liebe, aber für Faust ist sie eine von mehreren Partnerinnen. Die Verbindung der beiden besteht nur für kurz. Dies ändert aber nichts daran, dass diese verschiedenen Ge-
fühle verschiedene Ausdrücke ein und desselben Verhältnisses sind. Sie sind die ungemeinsamen Gemeinsinne. Am Ende wird den beiden Gestalten des Selbstbewusstseins ihr Leben genommen, aber auf äußerst gegensátzliche Weise. Als die Struktur der tätigen Vernunft heift dies: Verwerfung eines Teils und Aufbewahrung eines anderen Teils. Wenn die Verwerfung und die Aufbewahrung in eine Bewegung der Vernunft vereinigt werden, so ist dies die » Aufhebung« der tätigen Vernunft zur hóheren Stufe. Der ungemeinsame Gemeinsinn überspannt auf diese Weise den Übergang von der tätigen Vernunft zu ihrer höheren Gestalt. Diesem Übergang entsprechend zeigt auch das Sinnliche eine andere Ebene. 3.2.2.
Das Gesetz des Herzens und die »Sym-pathie«
Um diese andere Ebene herauszustellen, ist die weitere Erfahrung der tátigen Vernunft zu verfolgen. Dass der individuelle Genuss der Lust sich nicht lange halten kann, liegt daran, dass das Individuum seine
Gebrechlichkeit kennt und auf die Mauer der Wirklichkeit stößt, die
den Namen
»Notwendigkeit« oder »Schicksal«(273) trágt. Aber die
Macht der Allgemeinheit, die mit diesen Namen dem Individuum gegenüber steht, wird vom vernünftigen Selbstbewusstsein nur abstrakt erfahren. Denn die tätige Vernunft glaubt noch an die Möglichkeit seiner Tat und will jetzt das »Gesetz« dieser Mauer bzw. des Allgemeinen unmittelbar als seine Wesensnatur in sich selbst finden und haben. Dies ist der Standpunkt, unmittelbar das Allgemeine bzw. das Gesetz sein zu wollen, wie es »das Gesetz des Herzens« (275) tut. Wenn dieses
Gesetz wirklich bestehen kann, so wird auch die »Verwirklichung des 95
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst« (263) zustande kommen. Jedoch ist es allzu deutlich, dass diese Haltung zu unmittelbar und eilig ist. »Diesem Herzen steht eine Wirklichkeit gegenüber; denn im Herzen ist das Gesetz nur erst für sich, noch nicht verwirklicht und also zugleich etwas anderes, als der Begriff ist« (275).
Es dürfte hier wiederum für das bessere Verständnis hilfreich sein,
mit konkreten Beispielen anzufangen, um dieses vernünftige Selbstbewusstsein zu begreifen. Was dabei hilft, sind die späteren Vorlesun-
gen über die Ästhetik. Hegel behandelt dort im 3. Abschnitt des
III. Teils »System der einzelnen Künste« die romantische Kunst, die in Malerei, Musik und Dichtung unterteilt wird. Zum Schluss werden »Die Arten der dramatischen Poesie und deren historische Hauptmomente« behandelt, und es wird gezeigt, wie in der romantischen Tragódie »die Subjektivitát der Leiden und der Leidenschaft« das zentrale Thema ist, wofür »Faust« von Goethe sowie »Die Räuber« und
»Wallenstein« von Schiller als Beispiele angeführt werden.” Die Darstellung deckt sich inhaltlich genau mit der in der »tátigen Vernunft«.
War Faust das erste Modell der tátigen Vernunft, so ist das zweite Carl
Moor, der zum Führer der Ráuber wird und aufsteht, um gegen den ungerechten Weltlauf zu kämpfen. Am Ende muss Carl untergehen, weil er das Gesetz des Weltlaufs bricht. Das dritte Modell ist Wallenstein, der am Anfang Kapitän der Truppe in Böhmen war, sich aber spáter im Kampf gegen den sonst unangreifbaren Kónig von Schweden, Gustaf Adolf, als gut erwies und zum Helden wurde, am Ende jedoch, als er das Missfallen der Katholiken erregt hatte, verurteilt und von Seiten des Kaisers, der ihn benutzte, zugleich aber fürchtete, ermordet
wurde. In den Vorlesungen über die Ästhetik wird dargestellt, wie sich Carl Moor gegen die gesamte bürgerliche Ordnung und den ganzen Zustand der Welt und Menschheit seiner Zeit empórte und sich dagegen erhob, am Ende aber scheitert und wie Wallenstein am Anfang den grofen und allgemeinen Zweck, die Einheit und den Frieden in Deutschland, hegte, aber als Folge seiner beschránkten machtpoliti-
schen Mittel sowie seiner Erhebung gegen die kaiserliche Autorität bald zerbrechen musste. »Dergleichen allgemeine Weltzwecke, wie sie Karl Moor und Wallenstein verfolgen, lassen sich überhaupt nicht durch ein Individuum in der Art durchführen, dass die anderen zu gehorsamen Instrumenten werden, sondern sie setzten sich durch sich ? G. W. E Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke, Dritter Teil, Bd. 15, S. 556.
96
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
selber teils mit dem Willen vieler, teils gegen und ohne ihr Bewusstsein
durch.«!
Die hier gemeinten »Weltzwecke« setzen sich durch sich selber. Das Subjekt dieses Zwecks ist der »Weltgeist«, der durch die Individu-
en über deren Absicht hinaus wirkt. »Das Gesetz also, das unmittelbar
das eigene des Selbstbewusstseins ist, oder ein Herz, das aber ein Gesetz an ihm hat, ist der Zweck, den es zu verwirklichen geht« (275). Das
Gesetz des Herzens wird als unmittelbar beurteilt, weil das Individuum
es direkt ohne Vermittlung verwirklichen will. Die innere
Notwendig-
keit, die dieses Herz untergehen lässt, soll etwas ausführlicher heraus-
gestellt werden. Diesem Herzen steht die Ordnung der Wirklichkeit als die gegensätzliche gegenüber. Da aber das Gesetz als auf der Seite des Herzens liegend gesehen wird, orientiert sich das Herz danach, die unrechte Wirklichkeit zu ändern. Der Zweck der Tat ist nicht leichtsinnig wie der von Faust, dem es nur um die Erfüllung seiner individuellen Lust ging. Dem erhabenen Zweck des Herzens entspricht der noble Wunsch, die Wohlfahrt der allgemeinen Menschheit zu verwirklichen. Man denke etwa an manche Fundamentalisten oder gar Terroristen, die subjektiv oft einen erhabenen Zweck verfolgen. Das Problem ist, dass diese Individuen bzw. Gruppen sich unmittelbar mit dem Ideal der allgemei-
nen Ordnung der Welt identifizieren. Die Welt erseheint diesem Herz
gegenüber als die feindliche Übermacht. So wendet sich zwar das Individuum um des allgemeinen Gesetzes in ihm willen gegen die allgemeine Ordnung, ist aber der Situation ausgesetzt, dass die allgemeinen Menschen
dies nicht immer
unterstützen,
sondern es eher als
feindselig betrachten; »statt dieses seines Seins erlangt es also in dem Sein die Entfremdung seiner selbst« (279). Sowohl Carl Moor als auch
Wallenstein erfahren diese Entfremdung ihrer selbst. Das Gesetz des Herzens ergibt sich in dieser Selbstentfremdung als die » Verrücktheit« (280). Diese ist vom »Wahnsinn« im allgemeinen zu unterscheiden. »In diesem (Wahnsinn) ist aber nur ein Gegenstand für das Bewusst-
sein verrückt, nicht das Bewusstsein als solches in und für sich selbst« (280). Wenn das Bewusstsein selbst verrückt ist, bemerkt es nicht, dass
es selbst die Nicht-Wirklichkeit ist. Es versucht sich für die Wirklich-
keit zu halten. Wenn seine Verrücktheit in der Form einer Tat aus-
gedrückt wird und es seine Verrücktheit an die Anderen zu übertragen 13 Ibid., S. 558.
97
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
versucht, so ist es »das Toben des verrückten Eigendünkels« (ibid.). Wenn diese Tat verallgemeinert wird, so entsteht »ein allgemeiner Wi-
derstand und Bekámpfung aller gegeneinander« (282), wie Hobbes die
Wesensnatur des Menschen charakterisierte. Aus der so skizzierten Bewegung des »Gesetzes des Herzens« ist auch die Seinsweise des Sinnlichen sichtbar, das dieser Bewegung zugrunde liegt. Ursprünglich ist es schon am Ausdruck »Herz« vernehmbar. Das gemeinte Herz ist so rein und leidenschaftlich, dass es auch
»eine gewalttátige Ordnung der Welt« (275) aufrichtig empfindet, wie
sie ist. Es ist der in der Sensibilitát und Schárfe ausgezeichnete, sinn-
liche Geist. Um einen Ausdruck der Vorlesungen über die Ästhetik zu verwenden, ist dieses Herz »die Subjektivitát der Leiden und Leidenschaft, im eigentlichen Sinne dieses Worts«.'* Das Leiden oder die Leidenschaft geht zurück auf das griechische Wort Pathos (πάθος). Das Wort Pathos kommt in den obigen Vorlesungen über die Asthetik in einem unauffälligen Kontext ohne terminologisches Gewicht vor. Das Pathos als Subjektivitát der Leiden und Leidenschaften gibt im romantischen Trauerspiel den »Mittelpunkt« an, der durchaus verschiedene Gestalten annimmt. Das »Pathos menschlicher Heroen«?? z.B. treibt die Individuen in den romantischen Tragódien wie Faust,
den Räubern und den Werken von Calderon. Aus unserer Perspektive, in der das »Sinnliche« als verborgenes Problemgebiet herausgestellt werden soll, muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass hier dieses Wort spontan, als selbstverstándliches, vorkommt. Die Verwendung des Wortes »Pathos« bei den Heroen ist selbstverstándlich. Im Abschnitt der »tátigen Vernunft« kommt das Wort zwar nicht direkt vor, aber es wird mit dem »Toben des verrückten Eigendünkels« oder der »Wut des Bewusstseins, gegen seine Zerstórung sich zu erhalten«,
faktisch ausgedrückt (280). Pathos kommt spáter im Kapitel »Religion« ausdrücklich vor, so dass wir es dort wieder erwähnen werden. Hier ist nur Allgemeines zu bemerken. Bekanntlich war für Platon das »Pathos des Philosophen« das Erstaunen als Anfang des Philosophierens.!6 »Pathos« bedeutet das besonders emotionale Gefühl bzw. die Passion als die tief in der Gesinnung wurzelnde Sinnlichkeit. Wie in der »Einführung« dar14 Ibid., S. 556. 15 Ibid., S. 556.
16 Platon, Theaitetos, 155d2-4.
98
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
gestellt, wurden von Descartes in seiner »Passion de l'Ame« sechs fun-
damentale Passionen angegeben: Erstaunen, Liebe, Hass, Begierde,
Freude, Trauer. Diese Passionen werden auch von den Protagonisten
der »tátigen Vernunft« besessen. Sie werden von diesen Passionen bewegt, ihr Handeln folgt dem Prinzip der »Subjektivitát der Leiden und Leidenschaften«.
Beim »Pathos« in den Gestalten dieser Passionen wird auch die
Welt, die sich in ihm spiegelt, auf der Ebene empfunden, die nicht mehr
dem bloß individuellen Inneren gehört. Um es wiederum mit dem Aus-
druck aus den Vorlesungen über die Ästhetik zu formulieren, muss es »das Pathos einer Sache, eines in sich wesentlichen Zweckes sein, an
welches die Individualität geknüpft ist«.7 Meistens wird dort nicht so sehr die harmonische Welt als vielmehr die Welt des »Leidens« gespiegelt. Denn das Weltgefühl ist dann mehr »pathetisch«, wenn die Welt sich nicht in einem harmonischen, sondern widersprüchlichen und tragischen Zustand befindet. Hier besteht das »Sympathos« im wörtlichen Sinne des Wortes, die heute als »Sympathie«, als individuell-psychologischer Zustand verstanden wird. Es handelt sich aber ursprünglich um das »Mitgefühl« oder »Weltgefühl«, als das und in dem das Leiden der Welt bei Individuen zum Ausdruck kommt. Das Pathos in diesem Sinne kónnte im Unterschied von der Sympathie in der heutigen Wendung die »Sym-pathie« genannt werden. Dieses Wort sollte, um es weiter von der individuell-emotionalen
»Sympathie« zu unterscheiden,?? uns an die »sympatheia« im Stoizis7 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke, Dritter Teil, Bd. 15, S. 568.
18 Es sei allerdings angemerkt, dass auch die »Sympathie« ein phánomenologisch zu
erschliefendes, wichtiges Problemgebiet ist, wie Max Scheler in: Wesen und Formen
der Sympathie. Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, in: Max Scheler, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 7-258, aufzeigt. Was Scheler unter der »Sympathie«
darstellt, ist nicht nur das Mitgefühl der Menschen miteinander, sondern auch die »Ein-
fühlung mit der Natur«. Fehlt diese, so wird auch der Mensch aus der Natur herausgerissen (ibid., S. 114). Er begreift die Sympathie durchaus als das gemeinschaftliche Gefühl. So macht er ein Gedankenexperiment, das er auch in seinem Formalismus in der Ethik machte, námlich die Betrachtung der Frage, ob »Robinson« ein Wissen um die Existenz von Gemeinschaft und analog geistig-psychologischer Subjekte, wie er selbst ist, haben kónnte; und ob er noch wissen kónnte, dass er zu solcher Gemeinschaft gehöre. Scheler hält einen solchen »Robinson« für undenkbar (ibid., S. 228f.). Aber seine
Phánomenologie der Sympathie bleibt am Ende auf der Ebene der Anthropologie, wie die Gliederung seiner Abhandlung zeigt: a) Das Mitgefühl, b) Liebe und Hass, c) Vom fremden Ich. Seine Betrachtung berührt nicht die Ebene des »Welt-Gefühls«, die wir spáter herausstellen werden.
99
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
mus erinnern. Marc Aurel benutzte das Wort ἡ συμπάθεια in seinen »Ad se Ipsum« (ΤΩΝ ΕΙΣ EAYTON) zunächst im Sinne der zusam-
menfühlenden Verbindung der Teile in der organischen Welt. Wenn durch diese Verbindung die »sympatheia«, die Bewegungen des Flei-
sches, gegen das sonst Beherrschende (τὸ ἠγεμονικόν), d.h. die Vernunft (τὸ κυριεῦον) vorsichtig bleiben soll, um sich nicht in sie einzumischen, wenn sie ins Denken (ἡ διάνοια) hineinwachsen soll, wie
in einem organischen Kórper erwartet wird, dann braucht man nicht
mehr gegen die Sinnlichkeit (ἡ αἴσθησις) Widerstand zu leisten.?? Diese Verbindung findet sich sowohl unter den Vernunftlosen wie unter den Vernünftigen, sogar unter den sich separat Findenden wie den Sternen im Himmel. Diese »sympatheia«, die physisch sowohl in der organischen Welt im Ganzen als auch unter den Lebewesen mit Seele
und schließlich auch kosmologisch unter den Himmelskórpern wirkt,
darf jetzt in »Sympa-thie« als Weltgefühl umbenannt werden. Wurden die Gefühle von Herr und Knecht in den vorhergehenden Kapiteln als der ungemeinsame Gemeinsinn (sensus communis non-communionis) formuliert, so kann die zusammenfühlende Verbindung zwischen den
in Gegensátzen stehenden vernünftigen Bewusstseinsgestalten als ungemeinsame Sym-pathie bezeichnet werden. Diese gilt als der vertiefte Ausdruck für den Gemeinsinn auf der Ebene des Pathos. Wir haben am Ende der Betrachtung des Sinnlichen auf der Stufe des »Selbstbewusstseins« gesagt: Das Element des Sinnlichen beansprucht, indem es den Horizont des »ungemeinsamen Gemeinsinnes« erreicht hat, den Namen des Sinnlichen abzulegen und einen anderen Namen zu haben, und dieser Name wird erst im Kapitel »Vernunft« zutage kommen. Dieser andere Name taucht in der Tat im Abschnitt
der »tátigen Vernunft« als Begriff des »Pathos« auf.
3.2.3.
Das Pathos der Tugend
Die Tragódie des »Gesetzes des Herzens« lag darin, dass das Individuum unmittelbar das Allgemeine zu sein beansprucht und gegen den Weltlauf kämpft. Da jedes Individuum seine Allgemeinheit behaupten kann, wird die óffentliche Ordnung in eine allgemeine Befehdung ver19 Marcus Aurelius, Meditations (ΤΩΝ EIX EAYTON), Reprint, Harvard University Press, 5.26. Die englische Übersetzung des Wortes heißt: »sympathetic connexions«
(ibid., S. 121).
100
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
wandelt. Der Weltlauf andererseits kann die Allgemeinheit nicht beanspruchen, bis er sich mit den Individuen versóhnt hat und diese in sich aufhebt. So nimmt das vernünftige Selbstbewusstsein die Gestalt der
» Tugend« an, die wir im Folgenden behandeln. Ein zusammenfassender und vergleichender Überblick über diese drei Gestalten soll in einem etwas lángeren Zitat gewonnen werden:
»In der ersten Gestalt der tátigen Vernunft war das Selbstbewusstsein sich reine Individualität, und ihr gegenüber stand die leere Allgemeinheit. In der zweiten hatten die beiden Teile des Gegensatzes
jeder die beiden Momente, Gesetz und Individualitát, an ihnen; der eine aber, das Herz, war ihre unmittelbare Einheit, der andere ihre Ent-
gegensetzung. Hier im Verháltnisse der Tugend und des Weltlaufs sind beide Glieder jedes Einheit und Gegensatz dieser Momente oder eine Bewegung des Gesetzes und der Individualitát gegeneinander, aber eine entgegengesetzte« (283). Drei Gestalten der tätigen Vernunft, d.h. die Lust, das Gesetz des
Herzens und die Tugend, sind hier gemeint und das Verhältnis der Momente in ihnen, der Individualitát und Allgemeinheit, wird in abs-
trakter Form dargestellt. Die konkreten Beispiele sind hier zwar nicht angegeben, aber in den Vorlesungen über die Ästhetik ist eine inhaltlich parallele Stelle mit Beispielen zu finden. Dort werden im Anschluss an die Werke Schillers »einige Tragódien Calderons« erwähnt. An den Werken von Pedro Calderon de la Barca (1600-1681) wird »die Liebe, Ehre usf. in Rücksicht auf ihre Rechte und Pflichten von den
handelnden Individuen selbst wie nach einem Kodex für sich fester Gesetze gehandhabt.«? Auch in Schillers tragischen Figuren kommt die Lage vor, die der obigen insofern áhnlich ist, »als diese Individuen ihre Zwecke zugleich im Sinne allgemeiner absoluter Menschenrechte
auffassen und verfechten«.?! Es wird oft angenommen, dass mit dem
Ritter der Tugend Don Quijote gemeint wird. Aber in den Vorlesungen über die Ästhetik wird gesagt: »Don Quijote ist ein in der Verrücktheit
seiner selbst und seiner Sache vollkommen sicheres Gemüt«,?? so dass
er eher mit dem »Gesetz des Herzens« verglichen werden soll.» 2 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Werke, Bd. 15, S. 558. ?! Ibid., S. 558. 22 Ibid., Bd. 14, S. 218. N
3 Dieselbe Ansicht wird auch von Musashi Kaneko in seinen »Kommentierenden An-
merkungen 2« seiner japanischen Übersetzung der Phänomenologie des Geistes, Tokyo 1971, S. 707, geäußert.
101
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Die tátige Vernunft, die den Standpunkt der »Tugend« vertritt, ist der »Ritter der Tugend« (286), der in einem anderen Stil als dem des
»Tobens der Verrücktheit« gegen den Weltlauf kämpft. Der Ritter als
das tugendhafte Bewusstsein tritt aber dabei im Kampf gegen den
Weltlauf als gegen ein dem Guten Entgegengesetztes auf. Aber dabei hat auch der Weltlauf seinerseits die raison d'étre, somit eine gewisse
Allgemeinheit. Es kann sich darum nicht so verhalten, dass der Ritter
allein gut ist und der Weltlauf bóse. Wenn der Weltlauf auch teilweise gut ist, so darf der Ritter diesen Teil nicht angreifen. Dies kann mit dem
Angriff auf ein Volk verglichen werden, das zwar von einer bósen und
ungerechten Regierung geführt wird, in dem sich aber viele unschuldige, gute Bürger befinden, die nicht verletzt werden dürfen. Der Weltlauf besteht seinerseits auch aus Individuen und enthält das Prinzip der Individualitát. Dann sind die Waffen des Ritters der Tugend auch die des Weltlaufs. Der Kampf muss »Spiegelfechterei« (287) bleiben, und in der Tat muss der Ritter der Tugend sich gegen den Angriff von Seiten der guten Bürger wehren, für die und um deren willen er eigentlich zu kámpfen glaubt. Dann ist das Resultat des Kampfs von vornherein klar. Denn der Weltlauf hat an sich schon viele Probleme und Wider-
sprüche, so dass er sich um diese bemüht. Er braucht nicht erneut in
den Selbstwiderspruch zu geraten, während der Ritter der Tugend seine Reinheit nicht durchsetzen kann. Um es wiederum mit einem Gleichnis zu sagen, ist der Kampf ähnlich mit dem zwischen dem reinen Wasser im Bergbach und dem kaum durchsichtigen Wasser im großen Fluss. Wenn das erstere durch die Mischung mit fremden Ma-
terialien unsauber wird, verliert es seine Wesenheit, während das letz-
tere von vornherein die Trübheit in sich trágt, so dass es im Kampf gegen den Ritter der Tugend keine wesentliche Veránderung erleidet.
»Die Tugend gleicht nicht nur jenem Streiter, dem es im Kampfe allein
darum zu tun ist, sein Schwert blank zu erhalten, sondern sie hat auch den Streit darum begonnen, die Waffen zu bewahren; und nicht nur
kann sie die ihrigen nicht gebrauchen, sondern muss auch die des Fein-
des unverletzt erhalten und sie gegen sich selbst schützen, denn alle sind edle Teile des Guten, für welches sie in den Kampf ging« (288). Die Tugend wird also von dem Weltlauf besiegt. Damit kann er aber nicht als gut anerkannt werden, da der Sieg nur der gegen »leere Worte« (289) der Tugend war.
Aus diesem Überblick über die Erfahrung, die das vernünftige Selbstbewusstsein mit der Gestalt der »Tugend« macht, ist zu sehen, 102
Vernunft -- »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
dass der Ritter der Tugend mit Sym-patheia für den Weltlauf vorgeht. In diesem wird das Gesetz des Herzens etwas tiefer verinnerlicht. Die einseitige Selbstbehauptung des Individuums, die dem Gesetz des Herzens zugrunde lag, tritt hier in den Hintergrund zurück, und die Hin-
gabe sowie die Aufopferung wird zum Prinzip der Handlung. Im Text
werden »Gaben, Fähigkeiten, Kräfte« (286) als Waffen dieser Tugend angegeben. Zwar wird nicht erklärt, wieso sie die Waffen der »Tugend« sind. Aber zum Verständnis hilft wiederum die Darstellung in den Vorlesungen über die Ästhetik, und zwar der Abschnitt »Das Rittertum«. Denn dort werden »Ehre«, »Liebe« und »Treue« als drei Tugenden des Ritters angegeben. Die Ehre kann als das Ergebnis der »Fähigkeit«, die
Liebe als das mit den »Kráften« zu Schützende, und die Treue als die
dem Ritter bestimmte »Gabe« verstanden werden. Die drei Tugenden kónnen weiterhin als die treffende Erschlossenheit des Anderen verstanden werden: Die Ehre wird der Umwelt, die Liebe wird der Gelieb-
ten und die Treue dem Herrn gezeigt, und umgekehrt kommt das Andere je diesen Tugenden entsprechend zu sich. Dabei sind die Tugenden
nicht in der Seinsweise der individuellen Gefühle, sondern in den Modi des »Pathos«, des »Pathos der Sache« bzw. »Pathos der Zwecke«. Es ist daran zu erinnern, dass die Weltzwecke »sich durch sich selber setzen«.
Die Weltzwecke kónnen gerade deshalb von den Individuen gemeinsam besessen werden. Sie sind der Inhalt der »Sym-pathie«. Zwar kommt das Wort »Gemeinsinn« nicht in der Phánomenologie des Geistes vor, aber das Wort »Pathos« tritt spáter im Kapitel des »Geistes« mit bedeutsamen Implikationen auf. Genauer ist es erst dort zu sehen, aber die fundamentale Bedeutung wird schon hier gezeigt. Mit diesem Wort erhält das »Sinnliche« den Ausdruck für seine tiefere Schicht.
3.3. Gesetzgebende und gesetzprüfende Vernunft Die »Gesinnung« als Tiefenschicht des Sinnlichen 3.3.1.
Das geistige Tierreich als das geistige Reich des Sinnlichen
Die tátige Vernunft hat erfahren, dass der Weltlauf an sich nicht so
ungerecht ist, wie sie am Anfang meinte. Mit dieser Erfahrung geht
die Vernunft zur dritten Gestalt fort, die im Titel des Abschnittes lautet: »Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist« (292). 103
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Im ungewöhnlichen Ausdruck »sich reell« wird das Charakteristische dieser dritten Gestalt impliziert. Die Individualität ist nicht einfach
reell vorhanden, sondern »sich reell«, d.h. für ihr Bewusstsein, vor-
handen. Die Individualität ist sich ihrer Realität bewusst. Dies wird im Anfangssatz des Abschnittes weiter entfaltet: »Das Selbstbewusstsein hat jetzt den Begriff von sich erfasst, der erst nur der unsrige von
ihm war, nämlich in der Gewissheit seiner selbst alle Realität zu sein«
(292).
Der »unsrige« Begriff heißt der von »uns« - als das den ganzen Weg begleitende, absolute Wissen — her gefasste Begriff, somit noch nicht der im Selbstbewusstsein zu eigen gemachte Begriff. Er ist dann der angeeignete, »sich reelle« Begriff, wenn er sich von sich erfasst.
Was er erfasst, ist er selbst. Dieses Erfassen wird, wie immer, durch
die Wiederholung und das Abschliefßsen der vorangegangenen Gestalten vollzogen. Die jetzt gemeinten vorangegangenen Gestalten sind die beobachtende Vernunft und die tátige Vernunft. Die dritte Gestalt der Vernunft soll also die sein, die »aus den entgegengesetzten Bestimmungen, welche die Kategorie für es (das Selbstbewusstsein) und sein
Verhalten zu ihr als beobachtendes und dann als tátiges hatte, in sich
zurückgegangen« (293) ist. Die Vernunft tritt auf diese Weise als die Individualitát im Sinne der konkretisierten Vernunft als die »ursprüngliche Natur« (294) auf. Diese ist nicht mehr der dem eigenen »Gesetz des Herzens« folgende und gegen den Weltlauf kämpfende Räuber, aber auch nicht der »Ritter
der Tugend«, der sich um des Guten willen aufopfern will, um den üblen Weltlauf zu ändern. Da sie selber die ursprüngliche Natur ist, ist sie die Individualität, deren Tun und Treiben für sie selber immer
die Wahrheit ist. Diese Figur muss allerdings wie immer einer Überprüfung unterworfen werden. Die Vernunft als solche angeblich ursprüngliche Natur muss nicht mehr sich des im Gegensatz zu ihm stehenden Anderen bewusst wer-
den, sondern bescháftigt sich nur mit sich selbst. Ihr Tun hat daher »das
Ansehen der Bewegung eines Kreises« (293). Es verándert nichts und geht gegen nichts; es ist reine Form des Übersetzens aus dem Nichtgesehenwerden in das Gesehenwerden. Das Tun der Individualität ist
wie das Instinktive des Tierlebens. So wird die erste Gestalt der Individualitát, welche an und für sich selbst reell ist, das »geistige Tierreich«
genannt. Dort herrscht die unmittelbare Realitát als »die Durchdringung des Ansich- und Fürsichseins, des Allgemeinen und der Indivi104
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
dualitát« (292). Vereinfacht gesagt heift dies, dass man tut, was man will, und dass jedes Tun der Ausdruck der allgemeinen Wahrheit sein soll. Dem Anschein nach scheint dieser Standpunkt fast gleich zu sein mit dem freien Verhalten eines erwachten Zen-Meisters, der sagt: »Wenn Hunger kommt, nehme ich Essen; wenn Schláfrigkeit kommt,
schließe ich meine Augen«,^* oder »Ich trage die Kleidung, die verfügbar ist, und gehe, wenn das Gehen nótig, sitze, wenn das Sitzen nótig ist«. Allerdings ergibt sich, wie im Fall des »Pathos des Herzens«
deutlich wurde, dass zwischen dem Handlungsprinzip des geistigen
Tierreichs und dem freien Tun und Lassen des erwachten Menschen ein unendlich großer Unterschied besteht. Denn, um es einfach zu sagen, besteht im ersteren immer noch das Bewusstsein »seines eigenen
Tuns« (309) weiter und die Sache selbst ist »seine Sache«, somit ist das Bewusstsein nicht so ehrlich, wie es am Anfang zu sein glaubte. Aber um diesen Sachverhalt zu sehen, ist die Darstellung im Text noch genauer zu verfolgen. Mit der »ursprünglichen Natur« der Individualitát wird Fáhigkeit, Talent, Charakter usf. gemeint. Diese werden von der Individualität
besessen, aber nicht weil sie von ihr gebildet wurden, sondern weil sie
ihr gegeben sind. In ihnen werden jedenfalls Individualität und Allgemeinheit verbunden. Die ursprüngliche Natur ist leer, wenn sie nicht aktualisiert wird, wobei diese Aktualisierung dem Individuum überlas-
sen wird. Denn »das Handeln ist eben das Werden des Geistes als Bewusstsein« (296/7). Wenn hier nur darauf geachtet wird, dass die Ver-
nunft durch das Handeln verwirklicht wird, so scheint es ein Schritt
zurück zur »tátigen Vernunft« zu sein. Aber hier geht es nicht um die Veránderung der Wirklichkeit, sondern um das Tun, die »sich an und
für sich selbst reelle Individualitát« zu verwirklichen. Die innere Natur der Individualität muss zum »Werk« gebracht werden. Das »Werk« ist, wie das griechische Wort »τὸ ἔργον« andeutet, das Ergebnis der Arbeit, durch die die ursprüngliche Natur als Potenz aktualisiert und verwirklicht wird. Das Problem beginnt damit, dass am Werk der Unterschied von Gut und Schlecht eintritt. Das Werk ist immer ein Bestimmtes, bald
^ Aufzeichnung des Meisters Lin-Chi, im Japanischen wiedergegeben von Sógen Asahina, Tokyo 1935, S. 123 (die deutsche Übersetzung stammt vom Verfasser).
235 Ibid., S. 44.
105
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
gut, bald schlecht, aber andererseits scheint ein solcher Unterschied
nicht im Einklang mit der ursprünglichen Natur zu sein, da diese für sich sein muss und sich nur auf sich selbst bezieht, es somit nicht nótig hat, mit den anderen Werken verglichen oder von diesen unterschieden
zu werden. Ihr geht es eigentlich nur darum sich zu vollziehen, ihre innere Potenz zu verwirklichen, somit so zu handeln, wie sie es will. Es
gibt keine Wirklichkeit, die nicht ihre Natur und ihr Tun ist. Da es weder Erhebung noch Klage, noch Reue gibt, geht es nur um »das Bewusstsein des reinen Übersetzens seiner selbst aus der Nacht der Móglichkeit in den Tag der Gegenwart« (299). Allerdings wird ein Einwand erhoben werden, dass auch die Tiere sich freuen und auch das Individuum froh sein müsse, wenn es seinen Zweck erreicht. Aber es kann
»nur Freude an sich erleben« (300). Es gibt also kein »Zuviel« und auch kein »Zuwenig«. Das einstige Ideal des Stoizismus, die Apatheia, wird erreicht, ohne die Außenwelt zu ignorieren und ohne sich gegen den
Weltlauf zu empóren, wie das »Gesetz des Herzens«.
Jedoch kommt hier ein Selbstwiderspruch des » Werkes« zum Vorschein. Einerseits ist es in sich abgeschlossen und die Rede vom Guten oder Schlechten ist überhaupt nicht nótig. Solange das Werk in diesem »Insichsein« betrachtet wird, kann es so gelassen werden. Aber wenn es objektiv bzw. in der allgemeinen Perspektive betrachtet wird, so steht ein Werk immer den anderen Werken bzw. Individualitáten gegenüber.
Die anderen Individuen sind dabei auch je und je die ursprüngliche Natur, die in ihrem Tun verwirklicht wird, somit der ersten Individua-
litát fremd ist. Die Folge davon ist, dass das Werk den anderen Kráften und Interessen ausgesetzt wird. Ein modernes Beispiel wáre ein selbstándiger Kreis der Selbstversorgung inmitten des Netzes der Weltókonomie. In Wirklichkeit wird er umgeben von den anderen Kreisen, die von ihm die Öffnung des Marktes verlangen und unter Umständen ihn
auflösen wollen. »Das Werk ist also überhaupt etwas Vergängliches, das durch das Widerspiel anderer Kräfte und Interessen ausgelöscht
wird« (301).
Dieser Widerspruch des »Werkes« muss freilich aufgehoben wer-
den kónnen. Denn der Grundwiderspruch des Werkes ist der von Sein
und Tun, die das je verschwindende Moment des Werkes selbst sind, somit das Werk, das als Einheit dieser Momente seinerseits auch ent-
steht und vergeht, somit wesentlich vergänglich ist. »Ist« heißt in
Wahrheit, dass es selbst als die Einheit von diesen Momenten je ent-
steht und vergeht und nicht das »Anundfürsich: ist. Dann ist die Be106
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
zeichnung »Werk« nicht mehr angemessen. Was dieses in Wahrheit
ist, ist die »Sache selbst«. »Es mag gehen, wie es will, so hat es die Sache selbst vollbracht und erreicht, denn sie ist als diese allgemeine
Gattung jener Momente Prádikat aller« (305).
Das Werk als das Tierleben der ursprünglichen Natur soll zu der
»Sache« in diesem Sinne erhoben werden, und dies heift, dass das Be-
wusstsein nicht mehr das des bloß instinktiven Tierlebens bleiben soll.
Es soll die »geistige Wesenheit« verwirklichen. Diese wirkt als die We-
sensnatur des Geistes auf jeder Stufe des Bewusstseins, damit die Be-
dingtheit dieses Bewusstseins bloßgestellt wird und dieses über seine Bedingtheit hinaus auf die hóhere Stufe gehoben wird. Als solche Ne-
gativitát fordert sie hier vor allem die ichliche »Eigenheit«, die in der tátigen Vernunft übrig bleibt. Denn, wenn im Handeln der Individua-
lität diese sich »ihres Tuns« bewusst wird, so bleibt die Sache im Grunde »ihre Sache« und ist nicht mehr die Sache »selbst«. Dies ist, als ob
jemand den anderen Wohltaten erweist, wobei er seinen Namen versteckt, aber seinen eigenen guten Willen genießt und Befriedigung hat, »wie böse Jungen in der Ohrfeige, die sie erhalten, sich selbst genießen, nämlich als. Ursache derselben« (306). Die bösen Jungen bekommen wegen ihrer Tat eine Ohrfeige, d.h., sie werden gezwungen, als böse
Jungen zu verschwinden bzw. zu bereuen. Aber sie sind auch stolz da-
rauf böse zu sein, indem sie die Ohrfeige genießen. Das Bewusstsein,
das »die Sache selbst« als die geistige Wesenheit zu sein angibt, indem
es sich genießt, ist in der Tat nicht so »ehrlich«, sondern eher ebenso
»Betrug seiner selbst und der anderen« (309). Die scheinbare Natürlichkeit der ursprünglichen Natur des geistigen Tierreichs erweist sich am Ende als Betrug. Dies ist das Ergebnis der Darstellung im ersten Abschnitt der »sich an und für sich reellen Individualitát«. Unser Ergebnis liegt aber in der Feststellung, dass dieses geistige Tierreich das geistige Reich des Sinnlichen ist. Bisher wur-
de verfolgt, wie sich der Gang des Geistes im Element des Sinnlichen
findet. Jetzt wird aber auch sichtbar, dass sich umgekehrt das Sinnliche
im Element des Geistigen findet. Hier wird sich die Frage erheben, ob
in unserer »Phánomenologie des Geistes zum Sinnlichen« das Werk Phänomenologie des Geistes überhaupt als die Wissenschaft des Phänomens des »Geistes« oder die des Phänomens des »Sinnlichen« verstanden wird. Diese Alternative betrifft aber nur die Perspektive der Betrachtung und nicht die »Sache selbst«. Die zwei Perspektiven begleiten übrigens nicht nur den Weg der Phánomenologie des Geistes. 107
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Sie kommen auch in der Hegelschen Naturphilosophie vor, in der das
organische Leben begriffen wird. Der »Begriff« des Lebens ist der »le-
bendige« Begriff.” Ob die Begrifflichkeit die Vorderseite und die Lebendigkeit die Rückseite sei oder umgekehrt, dies hängt von der Perspektive ab, von der her die »Sache selbst« betrachtet wird, ist aber
nicht das Problem der Sache selbst. 3.3.2.
Gesunde Vernunft
Das »Sinnliche« im geistigen Tierreich und dessen weiteren Entwicklungen sind noch eingehender zu betrachten. Dort findet, wie gesehen,
»weder Erhebung noch Klage noch Reue« statt. Das Fehlen dieser Ge-
fühle bedeutet, dass die Gefühle für das Beisammensein mit den ande-
ren fehlen. Die Gefühle sind der innere Zustand des Individuums, so-
mit subjektiv. Zugleich bilden sie aber den Ort, an dem die Außenwelt
der anderen sich durch diesen individuellen Zustand hindurch zeigt.
Dass die Individualität diesen Ortscharakter nicht hat, bedeutet, dass
in ihr die Welt der Anderen abstrahiert wird. Dies entspricht dem Ausdruck »die Abstraktion der Sache selbst« (308). Die Welt der Individualitáten besteht, indem diese miteinander spielen, somit als ein Spiel
der Individualitäten
miteinander
aber wenn
diese selber in ihrem
Selbstbewusstsein die anderen abstrahieren, so tritt faktisch das Spiel ein, in dem sie »sowohl sich selbst als sich gegenseitig sowohl betrügen als betrogen finden« (308). Ihnen fehlt die »Sym-pathie«. Wenn
aber umgekehrt
dieses Fehlen erkannt wird, óffnet sich
auch der Weg der Vernunft zur hóheren Stufe, auf der die Sym-pathie angeeignet wird. Dies heifst, dass dort »die Anderen« überhaupt erschlossen werden.
Diese
Erschlossenheit kommt
dadurch
zustande,
dass das Bewusstsein sich als desjenigen Wesens bewusst wird, »dessen
Sein das Tun des einzelnen Individuums und aller Individuen, und des-
sen Tun unmittelbar für andere oder eine Sache ist und nur Sache ist
als Tun Aller und Jeder; das Wesen, welches das Wesen aller Wesen, das
geistige Wesen ist« (310).
Die Vernunft, die diese Seinsweise zu erreichen anstrebt, ist die
»gesetzgebende Vernunft«. Das gemeinte »Gesetz« ist zwar dem Aus-
26 Vgl. Christian Spahn, Lebendiger Begriff — Begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G. W. F. Hegel, Würzburg 2007. Die voneinander untrennbaren zwei Perspektiven werden schon im Titel dieser Arbeit trefflich ausgedrückt.
108
Vernunft -- »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
druck nach identisch mit dem »Gesetz des Herzens«, aber die Art und
Weise des Subjektes ist jetzt wesentlich anders. Das Subjekt des Gesetzes des Herzens war der Wahnsinn, sein eigenes Bewusstsein unmittelbar für das allgemeine Gesetz zu nehmen und es zum Prinzip seines Handelns zu machen. Jetzt handelt es sich aber nicht um ein solch bloß
individuell-subjektives Herz, sondern um die Individualitát als »ein Selbst, als allgemeines Selbst« (311). Der konkrete Unterschied zwischen den beiden kommt darin zum Ausdruck, dass das Bewusstsein
hier sittliches Bewusstsein ist und sein Gegenstand die »absolute Sache« (311), die nicht mehr am Gegensatz zwischen der Gewissheit und ihrer Wahrheit, des Allgemeinen und des Einzelnen, leidet. Bisher war das Subjekt das individuelle Selbstbewusstsein, welches das »Gesetz«
unmittelbar als den Inhalt seines Herzens hegt. Jetzt ist aber dieses Selbstbewusstsein das »geistige Wesen«, das als die Sache selbst über den Gegensatz von Einzelnem und Allgemeinem hinausgeht und die »sittliche Substanz« (311) wird. In der Sittlichkeit wird die ursprüngliche Natur nicht nur des Individuums, sondern auch der Gemeinschaft
ausgedrückt.
Das Gesetz der Sittlichkeit wird von der Vernunft bestimmt, die
»gesund« sein muss. Solange »die gesunde Vernunft unmittelbar weiß, was recht und gut ist« (312), wird die sittliche Substanz erhalten. Sie ist nicht die vom individuellen Ich, sondern vom
»allgemeinen Selbst«
besessene, gesetzgebende Vernunft. Sie ist »dieses« Individuum und zugleich »alle« Individuen. »Jeder soll die Wahrheit sprechen« (313). Der Ausdruck »die gesunde Vernunft« ist fast synonym mit dem »gesunden Verstand«, somit mit dem bons sens, also mit dem Gemeinsinn. So ist die gesunde Vernunft der Natur nach die »sinnliche Vernunft«,
auch wenn dieser Ausdruck nicht im Text auftaucht.
Diese Vernunft ist das Bewusstsein der »Pflicht«, die die Wahrheit
aussprechen soll. Wie man sofort sieht, besteht das Pflichtbewusstsein nur so lange, wie das Wissen der Wahrheit gesichert wird. Wenn nicht, so meint es nur, die Wahrheit gesichert zu haben. Auch wenn es sich an
das berühmte Gebot »Liebe deinen Nächsten als dich selbst« hält, um die »tátige Liebe« (314) zu praktizieren, ist es nach wie vor von dem
ihm heteronomen »Gebot« abhángig. So bedarf die gesetzgebende Vernunft einer Überprüfung, ob das von ihr gesetzte Gesetz wirklich den Namen des Gesetzes haben kann. So geht die gesetzgebende Vernunft zur »gesetzesprüfenden Vernunft« über. Mit der Idee der gesetzgebenden und gesetzesprüfenden Vernunft 109
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
dürfte vor allem die Kantische Ethik gemeint sein. Auch bei Kant ist die Vernunft der Gesetzgeber, der sich das moralische Gesetz gibt und des-
sen Tragweite überprüft wird, was dasselbe bedeutet wie »Kritik«.
Denn Kritik heißt ursprünglich die »Grenze« untersuchen bzw. überprüfen. Bei Kant ist jeder Mensch das Subjekt der praktischen Vernunft, die das Gesetz angibt und prüft. Aber Hegel sieht hier eine grundsätzliche Problematik. Wenn nämlich jeder als ursprüngliche Natur das Maf der Überprüfung besitzt, so braucht man nicht eigens das Maß zu besitzen. Man braucht nur die Tautologie festzustellen, »dass das Gesetz nur sich selbst gleiche« (317). Jeder braucht nur anhand des eigenen moralischen Gesetzes über seine Tat zu reflektieren. Dann ist die Gesetzesüberprüfung nur die formale Reflexion ohne Inhalt. Die der Kantischen Ethik oft zugeschriebene Beurteilung, sie sei eine »formalistische Ethik«, wird hier impliziert. So ist zwar das Gescháft der gesetzesprüfenden Vernunft formal,
aber dennoch kann es nicht ohne das Sinnliche vollzogen werden. Dies sei anhand der Prüfung des Gesetzes vom »Eigentum« zu veranschau-
licht. Es ist zunächst das sozial anerkannte, selbstverständliche Phänomen, dass ein herrenloses »Ding« von einem bestimmten Individuum
besessen wird. Dem Phänomen liegt das natürliche Bedürfnis zugrunde
dieses Ding zu besitzen, was kein Widerspruch zu sein scheint. Aber es
gibt auch einen anderen Gedanken, dass, wenn ein Ding herrenlos ist, es dann gemeinsam besessen werden soll. So ist »die Frage, soll es an
und für sich Gesetz sein, dass Eigentum sei: an und für sich, nicht aus
Nützlichkeit für andere Zwecke« (317).
Ob das Gesetz, mit dem das Eigentum anerkannt wird, auch an
und für sich das Gesetz sei, ist die Frage. Sie ist nicht die bloß juristische Frage, sondern die Frage nach dem Gesetz selbst in dessen Grund,
womit das Problem der sittlichen Wesenheit im Ganzen in Frage ge-
stellt wird. Denn diese besteht darin, »dass das Gesetz nur sich selbst
gleiche und durch diese Gleichheit mit sich, also in seinem eigenen
Wesen gegründet, nicht ein bedingtes sei« (317).
Das Problem des Eigentums liegt, wie gesagt, dem natürlichen Bedürfnis zugrunde, sich das herrenlose Ding zu eigen zu machen. Dieses Bedürfnis ist der Ausdruck für das Sinnliche im ausgezeichne-
ten Sinne, da das Sinnliche wesentlich »bedürftig« ist und stándig befriedigt werden will. So wird das Problem des Eigentums im Element
des Sinnlichen weiter betrachtet, indem das individuelle Bedürfnis im
weiteren Zusammenhang gefasst wird. Wenn námlich das herrenlose 110
Vernunft — »Sym-pathie« als der verinnerlichte Gemeinsinn
Ding inmitten des sozialen Verhältnisses von einem bestimmten Ich
besessen und zum Gegenstand der »Bedürfnisse« und des »Gebrauchs« wird, so widerspricht diese zufällige Bestimmtheit der allgemeinen
Dingheit dem Ding. Dieser Widerspruch zeigt sich darin, dass zwischen dem, der es besitzt, und dem, der es nicht besitzt, eine soziale Ungleich-
heit entsteht. Das Eigentum widerspricht der Idee der sonst die Gleichheit postulierenden Gemeinschaft. Der Widerspruch bleibt bestehen, auch wenn das Eigentum negiert und eine Gütergemeinschaft kon-
zipiert wird. Denn wenn dort das Ding je nach Bedürfnis der Gemein-
schaftsmitglieder verteilt wird, verstößt das gegen die Idee der Gleichheit der Einteilung; »jedes (das Eigentum und die Gütergemeinschaft) hat diese beiden entgegengesetzten, sich widersprechenden Momente der Einzelheit und Allgemeinheit an ihm« (319). Diese Frage wird von der gesetzesprüfenden Vernunft behandelt. Zugleich bietet sie aber den Ort, wo umgekehrt die Tragweite dieser
Vernunft geprüft wird. In der Tat verhält es sich so, dass der Wider-
spruch des Eigentums nicht einfach dadurch erledigt wird, dass er von der Vernunft geprüft wird. Denn das Gescháft dieser Vernunft ist, wie
vorhin gesehen, formal und tautologisch. Es gilt von vornherein: »Der Mafsstab des Gesetzes, den die Vernunft an ihr selbst hat, passt daher
allem gleich gut und ist hiermit in der Tat kein Maßstab« (319). Die Prüfung des Gesetzes durch die Vernunft ist die bloße Feststellung dieses formal-tautologischen Faktums und hat keine Wirkung auf die Bürgergesellschaft als die sittliche Substanz. »Dass das Gesetzgeben und Gesetzprüfen sich als nichtig erwies, hat diese Bedeutung, dass beides, einzeln und isoliert genommen, nur
haltungslose Momente des sittlichen Bewusstseins sind« (319). Die Folge davon nimmt die extreme Form des Sinnlichen an. Wenn nám-
lich diese nicht als » Momente«, sondern als Selbstándige sich behaup-
ten, so wird die gesetzgebende Vernunft »der tyrannische Frevel« (320), der die Willkür zum Gesetze macht, und die gesetzesprüfende Vernunft »den Frevel des Wissens« (ibid.) bedeuten, der sich von den
absoluten Gesetzen frei rásoniert und sie für eine ihm fremde Willkür nimmt. Weder die erstere noch die letztere kann die sittliche Substanz als das geistige Wesen gründen. Das Gesetzgeben und Gesetzesprüfen sollen als Momente in einer Einheit aufgehoben werden. Diese Auf-
hebung wird nicht mehr auf der Stufe der »Vernunft«, sondern auf der des »Geistes« vollzogen. 111
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
3.3.3.
Sittliche Gesinnung
Damit der Übergang zum »Geist« gemacht werden kann, muss auch
auf der Seite des »Sinnlichen« als des Elementes dieses Übergangs die tiefere und allgemeinere Schicht erschlossen werden. So kommt am Ende der Darstellung der gesetzesprüfenden Vernunft der Ausdruck »die sittliche Gesinnung« vor. »Die sittliche Gesinnung besteht eben
darin, unverrückt in dem fest zu beharren, was das Rechte ist, und sich
alles Bewegens, (322). Schon in inhaltlich kann gekennzeichnet den Standpunkt
Rüttelns und Zurückführens desselben zu enthalten« dem Wort »Gesinnung« klingt »Sinnlichkeit« an. Auch die gemeinte Gesinnung als die »sittliche Sinnlichkeit« werden. Es ist gleich zu sehen, dass diese Gesinnung der »gesunden Vernunft« oder des Gemeinsinnes im-
pliziert, die unmittelbar zu wissen meint, was recht und was übel sei. Bei der gesunden Vernunft war nur das unmittelbare, inhaltsleere Wis-
sen gemeint, aber die »sinnliche Gesinnung« tritt als das unverrückte
sinnliche Erfassen des Rechten, somit als die sinnliche Vernunft bzw.
das vernünftige Sinnliche auf. Hier ergibt sich erneut, dass das Sinn-
liche geistig und das Geistige sinnlich ist.
4.
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
Im Kapitel II.2 »Selbstbewusstsein — Horizonteróffnung des Gemein-
sinnes« wurde erórtert, dass sich das Sinnliche in der tiefen Schicht des ungemeinsamen Gemeinsinnes (sensus communis non-communionis)
zu zeigen begann. Im Kapitel II.3 » Vernunft - Sym-pathie als der verinnerlichte Gemeinsinn« zeigte sich das Sinnliche dann in der Gestalt der Sym-pathie, die den Charakter der Leidenschaft und des Willens vereinigt. In der Sym-pathie fügt sich das Sinnliche mit der Vernunft in einer tief verinnerlichten Dimension. Diese Fügung war auf der früher beschriebenen
Stufe
als unterirdisch
fliefjender,
unscheinbarer
Fluss beschrieben worden. Im »Geist« prágt sie ausdrücklich die wirk-
liche Welt der Sittlichkeit. Es ist zu sehen, wie sich in der Sym-pathie die Bewegung der Widersprüche und deren Aufhebung bezüglich der wirklichen Welt spiegeln. Zuerst ist mit der Feststellung des Unterschiedes zwischen dem »Geist«, der jetzt aufgeht, und der »Vernunft« als der früheren Stufe,
anzufangen: »Sein (des Geistes) geistiges Wesen ist schon (in der Ver112
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
nunft) als die sittliche Substanz bezeichnet worden; der Geist aber ist
die sittliche Wirklichkeit« (325). Die Sittlichkeit zeigt sich, solange sie als die »Substanz« aufgefasst wird, noch nicht als das lebendige »Sub-
jekt«, das die Wirklichkeit bildet. Hier sei an den Satz aus der »Vorrede« erinnert: es komme darauf an, »das Wahre nicht als Substanz,
sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken« (23). Die Sittlichkeit als das Subjekt muss das Lebendige sein. Dies wird als der »Geist« verwirklicht. »Der Geist ist das sittliche Leben eines Volks« (326). Das Subjekt, das den Geist der sittlichen Wirklichkeit trágt, ist nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft bzw. die Gesellschaft,
in der die Individuen als konstitutives Element wirken. Am Anfang des Kapitels » Vernunft« wurde schon dargestellt, dass
die Vernunft in ihrem Wesen der »Weltgeist« ist, womit die Perspekti-
ve angedeutet wurde, die sich »von der Welt her« óffnet. Dass dieser Weltgeist als die sittliche Substanz und noch nicht als das Subjekt in seiner lebendigen Wirklichkeit aufgefasst wird, heifst, dass die Perspektive »von der Welt her zu sehen«, noch nicht in lebendiger Weise vollzogen wird. Zwar zeigten sich sowohl die »tátige Vernunft« als auch die »gesetzgebende« und »gesetzesprüfende« Vernunft auf der Bühne der »Sittlichkeit«, die über das individuelle Bewusstsein hinaus geht. Aber die Sittlichkeit wurde dort noch vom individuellen Selbstbewusstsein her als substantiell aufgefasst und der Standpunkt, in dem der Geist als das Subjekt die Sittlichkeit bildet, war noch nicht
ausdrücklich. Da es sich dort um die Selbstbildung der sittlichen Welt handelt, soll erst auf diesem Standpunkt die Perspektive »von der Welt her zu sehen« verwirklicht werden.
Dasselbe muss auch von unserem Thema, dem »Sinnlichen«, ge-
sagt werden können. Das Sinnliche nämlich kann nicht mehr die blof sinnliche Wahrnehmung oder das individuelle Gefühl bleiben, sondern muss sich als Pathos bzw. als Sym-pathie, als der gesellschaftliche Selbstausdruck zeigen. Wenn das Wort »Gefühl« verwendet werden soll, so geht es um das »Weltgefühl«. Dies soll im Folgenden herausgestellt werden, indem wir dem Aufriss des Kapitels »Geist«, (a) »Der
wahre Geist. Die Sittlichkeit«, (b) »Der sich entfremdete Geist. Die
Bildung«, (c) »Der seiner selbst gewisse Geist. Die Moralitát«, folgen.
113
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
4.1.
4.1.1.
Der sittliche Geist — Das Pathos als die Erschlossenheit der Welt
Die Sym-pathie als das Weltgefühl
Der Geist als die sittliche Substanz ist als »Substanz« das Volk, und als »Subjekt« ist der Geist der Selbstausdruck des Volks, z. B. das Gesetz,
die Sitte, die Regierung usw., die in der Öffentlichkeit als Macht wirken. »Dieser sittlichen Macht und Offenbarkeit tritt aber eine andere Macht, das göttliche Gesetz, gegenüber« (330). Was mit der Kontrastierung des menschlichen mit dem góttlichen Gesetz gedacht wird, veranschaulicht Hegel, indem er zweimal aus der »Antigone« von Sophokles zitiert. Das Szenarium dieses Stücks ist bekannt. Hier sei um der folgenden Darstellung willen nur der Aufriss gegeben. Antigone, die
Tochter des Ödipus, hat zwei Brüder, Polyneikes und Eteokles. Sie soll-
ten nach dem Tod des Ödipus ihr Land Theben Jahr für Jahr im Wechsel
beherrschen. Aber Eteokles, der zuerst den Thron bestieg, wollte nach
dem Verlauf eines Jahres den Thron nicht abgeben. Der áltere Bruder Polyneikes ging nach Argos, heiratete dort die Kónigstochter und lei-
tete die Armee des Argos, um Theben anzugreifen. Aber die Brüder
starben, so wie es im Fluch dem Ödipus vorhersagt worden war, im
Kampf. Der Onkel Kreon, der die Macht ergriff, verbot die Leiche des Polyneikes zu begraben, da dieser sein eigenes Vaterland bestürmt hatte. Antigone bedeckte aber gegen diesen Befehl die Leiche ihres Bru-
ders mit Sand, um zeremoniell die Beisetzung zu veranstalten. Kreon
verhaftete Antigone und sperrte sie in eine Felsenhóhle. Er ließ sich aber am Ende umstimmen, ging zur Felsenhóhle, um Antigone zu befreien, kam jedoch zu spät. Nicht nur Antigone, sondern auch Haimon, der Sohn Kreons und zugleich der Verlobte der Antigone, hatten sich dort das Leben genommen. Kreon selbst musste als Folge des Verstoßes gegen das góttliche Gesetz die Leichen begraben, wurde vom Volk verlassen und ging schließlich unter.
Antigone hält als »Frau« die private Ordnung der »Familie« für
wichtig und will dem »góttlichen Gesetz« folgen, indem sie die Leiche
ihres Bruders begräbt. Kreon will als » Mann« die öffentliche Ordnung
des »Staates« gewährleisten und hält das »menschliche Gesetz« für
unabdingbar, indem er verbietet, den Rebellischen zu begraben. »Die
lebendige sittliche Welt ist der Geist in seiner Wahrheit« (326), und
dies heifst, dass jede der obigen zwei Einstellungen auf ihre Weise die
Gestalt des sittlichen Geistes darstellt. Jede drückt eine Gestalt des Be114
Geist -- Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
wusstseins und zugleich auch der wirklichen Welt aus. Die hier gemeinte Welt ist die sittliche. Antigone und Kreon stehen zwar im Ge-
gensatz zueinander, dem Gegensatz zwischen der Haltung des Mitgliedes der privaten Familie und des Bürgers in der Öffentlichkeit. Aber sie gehören zu ein und derselben sittlichen Welt. Hier wird die Rolle von Frau und Mann kontrastiert. Um ein unnötiges Missverständnis im Voraus abzuwehren, ist zu bemerken, dass
Hegel diesen Kontrast nicht als wesentlich für das Verhältnis von Frau
und Mann im allgemeinen gefasst hat. Dieser Kontrast ist der von Mann und Frau in der antik-griechischen Welt. Hegel sah in dieser die typisch »sittliche Welt«, in der die Frau darin ausgezeichnet wurde, dass sie »die höchste Ahnung des sittlichen Wesens« (336) hat. Aber
zum Bewusstsein und zur Wirklichkeit kommt sie nicht, weil das Ge-
setz der Familie nur das im innerlichen Gefühl liegende innerliche Wesen ist. Es bleibt das der Wirklichkeit enthobene Góttliche. Das Weibliche ist als Mutter und Frau an das Haus geknüpft, in dem, so Hegel, nicht dieser Mann, nicht dieses Kind, sondern ein Mann überhaupt,
Kinder überhaupt sind. Es handelt sich nicht um die erst in der Neuzeit allgemein vorgestellte Familienstruktur, sondern um die historisch lange tradierte, konventionelle Auffassung, die ihrerseits einen historischen Grund hat. Im Text wird dieser Grund das »natürliche« bzw. »göttliche« Gesetz genannt und dem weiblichen Wesen zugeschrieben. Wenn dieses Ansich-sein im Bewusstsein der Freiheit aufgehoben wird, so kommt die neuzeitliche Welt zustande. In der dargestellten antiken Welt erhält auch der Mann, der als Bürger dem Staat dient,
sein natürliches Leben in der Familie. Das männliche und weibliche
Gesetz stehen hier also zwar im Gegensatz zueinander, sind aber nicht
getrennt. Keines von beiden kann allein selbständig werden, vielmehr
müssen sie miteinander vermittelt werden, was eine Heirat bedeutet.
Aber Antigone und Haimon starben, bevor sie heirateten, was eben die
Tragödie ausmacht. Antigone und Kreon andererseits stehen als sittlichen Geister im Gegensatz zueinander. Beide bekommen die Schuld daran, ein Gesetz gebrochen zu haben, indem sie dem anderen Gesetz
folgten. Für das sittliche Selbstbewusstsein ist kein Tun unschuldig,
sondern »das Tun ist selbst diese Entzweiung« (346). Jedoch, wenn das Tun vollbracht wird, erkennen sowohl Antigone als auch Kreon, wel-
ches Ergebnis das in Wirklichkeit hat. Ein Vers aus Antigone lautet in
Hegels Übersetzung: »weil wir leiden, anerkennen wir, dass wir ge-
fehlt« (348).
115
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Das griechische Wort, das hier mit »weil wir leiden« übersetzt wird, ist »παθόντες«.Ζ In ihm klingt jedenfalls das Wort »Pathos« mit. Das Leiden bedeutet nicht den blof$ passiven Zustand des Inneren. Es enthált eine Art des »Wissens«. Auch das von Hegel mit »anerkennen« übersetzte Wort »ξυγγνοῖμεν« impliziert die Bedeutung von »wissen« (γιγνώσκω), und zwar »sämtlich« (ξύν, σύν).28 Dass wir den Fehler anerkennen, heißt im Drama des Sophokles, dass wir um den Fehler
wissen, d.h. mit dem Ge-wissen anerkennen. Das »Pathos« bedeutet
hier also das Sinnliche, in dem das »Wissen« enthalten ist und das somit
die Sinnlichkeit des Geistes bzw. das Geistige des Sinnlichen ist. Wenden wir den Blick auf das »Sinnliche«, das der obigen Bewegung des sittlichen Selbstbewusstseins zugrunde liegt. Es zeigt sich
schon darin, dass die Anerkennung der Schuld die » Rückkehr zur sitt-
lichen Gesinnung« ist (348). Zum Wort »Gesinnung« wurde vorhin einiges gesagt. Sie ist nicht bloß die Empfindung und Wahrnehmung. Sie impliziert auch eine gewisse Geistigkeit, die sich mit dem Willen und der Entscheidung verbindet und zu einer Tat führt. Im Text wird als eine Äußerung dieser Gesinnung das Wort »Pathos« verwendet, das wir schon im Abschnitt der »tátigen Vernunft« behandelt haben. Die Bewegung des menschlichen und göttlichen Gesetzes kommt nämlich durch die Individuen zustande, »an denen das Allgemeine als ein Pathos und die Tátigkeit der Bewegung als individuelles Tun erscheint« (352). Darum wird kurz nach dieser Stelle vom »individualisierten Pathos« die Rede sein. In diesen zwei Worten wird die Bedeutung des »Pathos« deutlich artikuliert. Das Pathos ist das »Allgemeine«, weil es in der Gemeinschaft in der Weise der »Sym-pathie« gemeinsam besessen wird. Es wird aber bei der Tátigkeit der Bewegung des Individuums »individualisiert«. Deshalb wird gesagt: »Die Substanz erscheint zwar an der Individualität als das Pathos derselben und die Individualität als das, was sie belebt und daher über ihr steht; aber sie ist ein Pathos, das
zugleich sein Charakter ist« (348/9).
7 Hegel übersetzt diese Verse in der Gegenwartsform »weil wir leiden«, was gramma-
tisch nicht ganz richtig ist. Es handelt sich um das Tun, das vor dem Anerkennen voll-
zogen wurde. Eine richtigere Übersetzung wáre meinem Kollegen Tetsuro Naktsukasa zufolge: »Nachdem wir gelitten haben«. (Englische Übersetzungen lauten: »in suffering«, »after I have suffered«, »by suffring« etc). 28 Das Wort »συνγνοῖμεν« ist die optative Form von »συνέγνων«, des zweiten Aorists von »συγγιγνῶσκως. Es ist somit eigentlich wiederum nicht mit der Gegenwartsform, sondern mit der Vergangenheitsform zu übersetzen: »haben wir anerkannt«.
116
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
Das hier ausgesprochene »individualisierte Pathos« ist nicht die
bloße Wiederholung der »Sym-pathie« in der »tátigen Vernunft«. Das
Pathos wird hier von den tragischen Gesinnungen gefärbt, die mit den miteinander ungemeinsamen und gegensátzlichen Gesetzen verbunden sind. Weil aber diese gegensátzlichen Gesetze ein und derselben sittlichen Welt angehóren, geschehen auch die gegensátzlichen Gesinnungen in ein und demselben Verháltnis. Ihr Pathos ist also jeweils die »ungemeinsame Sym-pathie«. Die verschiedener Weise Gesinnten haben diese ungemeinsame Sym-pathie und leiden in ein und derselben sittlichen Welt je an ihrer Schuld, die sie anerkennen. Nur das Leiden
ist das gemeinsame Resultat. Will man dieses »Pathos« als das Sinnliche und das Geistige weiter charakterisieren, so erscheint es als die »ungemeinsame Sym-pathie«, als der verinnerlichte »ungemeinsame Gemeinsinn«. Desweiteren aber
entwickelt es sich zum »Zusammen-Wissen«
bzw. »Ge-wissen«, mit
dem man den eigenen Fehler und die Existenz der antagonistischen Anderen anerkennt. 4.1.2.
Das notwendige Fehlen der Sym-pathie in der herrschaftlichen Gewalt
Die »ungemeinsame Sym-pathie« in der sittlichen Gesinnung ist, wie
es bisher bei der Seinsweise des »Sinnlichen« der Fall war, nicht der
abstrakte Aspekt der Phánomenologie des Geistes, sondern das die Bewegung dieses Weges Mitbildende, ja sogar dessen Bewegkraft. Jedoch ist es keine Triebkraft in der Weise eines Motors. Denn auch das »Fehlen« der Sym-pathie kann, wie bisher bei »Herr und Knecht« gezeigt wurde, als eine Triebkraft wirken. So ist im Hinblick auf die Bewegtheit des Geistes die ungemeinsame Sym-pathie als Ausdruck der sittlichen Welt zu beobachten. Als Phánomen kommt dieses Pathos in den individuellen Gefühlen vor, die den Spalt des Allgemeinen ins góttliche und menschliche Gesetz, das Familienleben und die Regierung des Staates, das Weibliche und das Männliche in sich spiegeln. Es ist insofern das individuell leidenschaftliche Gefühl bezüglich des Allgemeinen. Jede gespaltete Seite
sieht das Unrecht auf der anderen: »so erblickt von beiden dasjenige, welches dem göttlichen Gesetze angehört, auf der andern Seite menschliche zufällige Gewalttätigkeit, - das aber dem menschlichen
117
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Gesetze zugeteilt ist, auf der andern den Eigensinn und den Ungehorsam des innerlichen Fürsichseins« (344).
Wie wir im Abschnitt »Herr und Knecht« sahen, bilden beim Phä-
nomen der Gewalt die erleidende Seite und die angreifende Seite das eine gemeinsame Verhältnis, dessen gegensätzliche Pole sie sind. Die Empfindung des Schmerzes besteht nur auf der einen Seite, die andere Seite besitzt sie nicht. Dass der Angreifende die Schmerzen der anderen Seite nicht spürt, ihm somit der gemeinschaftliche Gemeinsinn fehlt, war sogar die Bedingung dafür, dass er Gewalt antun konnte.”
Diese polarisierten »ungemeinsamen Gemeinsinne« bewegten die Dialektik von Herr und Knecht von innen her. Wenn dieser ungemeinsame
Gemeinsinn auf der Ebene des »Pathos« wiederholt wird, so entsteht
die Bewegung nicht des individuellen Selbstbewusstseins, sondern des sittlichen Geistes und der sittlichen Welt. Sowohl der »Ungehorsam« wie auch die »Gewalt« drücken sich in Handlungen aus, um ihrem jeweiligen Gesetz zu dienen. Sie nehmen auch das Resultat ihrer Handlung auf sich. Ihre Bewegung führt zum Untergang ihrer selbst, somit zu dem der sittlichen Welt. Der Gegensatz der zwei sittlichen
Mächte, des menschlichen und des göttlichen Gesetzes, ist selber die
Bewegung zu diesem Untergang, und diese Bewegung findet ihren Ausdrucksfokus im individuellen Pathos. Sie geht zu Ende, indem die zwei gegensátzlichen Máchte untergehen. Dieser Gang ist nicht der Gang zum Ende, sondern der Übergang zum »Rechtszustand« als der nächsten sittlichen Gestalt. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte stellt Hegel nach dem Untergang der antiken griechischen Welt den Aufgang des Rómischen
Reiches dar. Der »Rechtszustand« in der Phánomenologie des Geistes
darf an das dort dargestellte Rómische Reich erinnern. Das ist die Welt,
in der der Formalismus des kalten Gesetzes herrscht und das Sinnliche
sich unter äußerstem Druck befindet. Aber das Sinnliche wirkt, wie im Folgenden deutlich wird, auch unter diesem äußersten Druck inmitten
der Bewegung des Geistes. Der Rechtszustand steht dem
Individuum
gegenüber wie die
29 Vgl. dazu den Verfasser, »Violence and Religion - Jewish-Christian Thought in Dialogue with Buddhism«, in: Menschenrechte, Kulturen und Gewalt. Ansätze einer interkulturellen Ethik, herausgegeben von Ludger Kühnhardt und Mamoru Takayama. Schriften des Zentrums für Europáische Integrationsforschung, Bd. 64, Baden-Baden 2005, S. 449—450.
118
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
Mauer des Schicksals. Die Individuen sind dort in der Weise kleiner
Atome. »Das Allgemeine, in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittert, dieser gestorbene Geist ist eine Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten« (355). In diesem Gemeinwesen des Rechts-
zustandes sind die Mitglieder nicht wie in der Familie als Eltern, Ge-
schwister, Kinder, somit als unersetzbare menschliche Glieder der »Familie«, miteinander verbunden. Sie werden auch nicht als »Bürger« in ihrem organisch-sittlichen Verhältnis zum Staat vereinigt. Alle diese
sittlichen Beziehungen werden abstrahiert, und nur die formal-rechtliche Gleichheit der rechtlichen Person herrscht. Aber die dort erschei-
nenden ohnmächtigen Individuen als Atome bilden höchstens die Vielheit der Masse, so dass die sie vereinigende Macht unvermeidlich ist. Sie ist »die allgemeine Macht und absolute Wirklichkeit«, somit der »Herr der Welt« (357). Der hier dargestellte Zustand deckt sich inhaltlich mit der Darstellung im Kapitel »Rom in der Kaiserperiode« in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte.9 So kann man sich den »Herrn der Welt« mit den Zügen des rómischen Kaisers vorstellen, und zwar vertreten von Kaiser Nero. Als der Herr der Welt bestrafte Nero seine Mutter und Ehefrau sowie viele Staatsmánner mit der Todesstrafe und setzte Rom in Brand. Er herrschte nicht als der sittliche Geist mit
der Sym-pathie, sondern als der einsame und »geistlose Punkt«, auf dem die Vielheit der Atome zusammengezogen wird. »Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewusstsein dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstórenden Gewalt, die er gegen das
ihm gegenüberstehende Selbst seiner Untertanen ausübt« (358). Aber das »zerstórende Wühlen in diesem wesenlosen Boden« (359) führte
zu seinem eigenen Untergang. Die tyrannischen Gewalttaten Neros
führten zur Abkehr des Volkes von ihm und zum Aufstand der Generále. Er tötete sich im Alter von dreißig Jahren.
4.1.3.
Das Sinnliche als das Weltpathos
Das Sinnliche und dessen Beweglichkeit drückt sich auch in den philosophischen Gedanken des Stoizismus und Skeptizismus aus. Philosophiegeschichtlich geht die Entstehungsgeschichte des ersteren auf die
griechische Antike zurück, ist jetzt aber auf die Zeit des Rómischen 30 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, S. 380 ff.
119
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Reiches zu beschränken. Diese philosophischen Gedanken traten auch im Kapitel »Selbstbewusstsein« auf. Es ist zu sehen, worin sie als Gestalten des »Selbstbewusstseins« und des »Geistes« voneinander unterschieden werden. Dieser Unterschied ist im Grunde gleich mit dem
Unterschied zwischen der Sehweise, den Gegenstand vom individuellen Bewusstsein her zu sehen, und der Sehweise, die Welt vom Welt-
geist her zu begreifen. Die Wahrheit der ersteren wird erst in der letzteren verwirklicht. »Was dem Stoizismus nur in der Abstraktion das Ansich war, ist nun wirkliche Welt« (356). Als Folge der Tyrannei Neros bestieg der General Garba den Thron. Alles, was geschah, war nicht
die bloße Veränderung des Selbstbewusstseins, sondern die Umwälzung des Weltgeistes in der römischen Welt. Der Stoizismus als »Selbstbewusstsein« flieht von der Außenwelt ins Innere, so dass die Freiheit, die durch diese Flucht erreicht wird, bloß die innerliche und
noch nicht die wirkliche war, die der »Persönlichkeit« in der wirklichen Welt zugeschrieben wird. Darum sagt Hegel weiter: »wie dieses (stoisches Selbstbewusstsein) aus der Herrschaft und Knechtschaft, als dem unmittelbaren Dasein des Selbstbewusstseins, so ist die Persönlichkeit aus dem unmittelbaren Geiste, der der allgemeine herrschende Wille Aller und ebenso ihr dienender Gehorsam ist, hervorgegangen«
(356).
Der wesentlich gleiche Unterschied, der zwischen dem Stoizismus als dem »Selbstbewusstsein« und dem Stoizismus als dem »Geist« besteht, gilt auch für den Skeptizismus als dem »Selbstbewusstsein« und als dem »Geist«. Der erstere klammert die wirkliche Welt als »Schein« ein und macht diese zum Gegenstand der »Epoché«. Aber diese Einstellung der Epoché gehört nur dem skeptischen »Bewusstsein«. In der wirklichen Welt drängt sich die von ihm ausgeklammerte Welt als die unleugbare Wirklichkeit als »Rechtszustand« auf. Dort ist die Epoché als Faselei des Negativen »in der Tat nur der Widerspruch der Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Bewusstseins« (356). Das skeptische Bewusstsein als »Geist« ist eben dadurch bestimmt, dass es
um diesen Widerspruch weiß, dass es die innere Ruhe des Herzens als realistische Lebensweisheit in der turbulenten Wirklichkeit des Rómi-
schen Reiches beibehält. Diese Gedanken gelten eher den Individuen als »Atomen« und
nicht dem »Herrn der Welt«. Zwar wurde der Stoizismus im Kapitel »Selbstbewusstsein«
als das Bewusstsein
bezeichnet,
das
»auf dem
Throne so in den Fesseln« (157) frei sei, und es wurde darauf hingewie120
Geist -- Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
sen, dass in der Tat der Stoizismus in der Römerzeit vom Knecht Epik-
tetos und vom Kaiser Marc Aurel vertreten wurde. Aber Marc Aurel war nicht mehr der Herr der Welt, wie es der Tyrann Nero gewesen war. Er wurde angesichts der unaufhaltbaren Invasion der Germanen im Römischen Reich in Atem gehalten und ermüdet, ohne diese Wirklichkeit bewältigen zu können. Insofern war er selber ein Atom. Dies bedeutet, dass der Herr der Welt »außer sich« (359) war. Im Grund wáre auch der Tyrann Nero dieses Atom gewesen. Denn in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte wird an der Stelle, an der der Kaiser Nero dargestellt wird, gesagt, dass der Geist »ganz außer
sich gekommen«?! sei.
Jetzt steht allerdings nicht der Gedanke des »Selbstbewusstseins«, sondern der des »Weltgeistes« im Vordergrund. »Wir sahen früher die stoische Selbstándigkeit des reinen Denkens durch den Skeptizismus hindurchgehen und in dem unglücklichen Bewusstsein ihre Wahrheit finden (...). Wenn dies Wissen damals nur als die einseitige Ansicht des Bewusstseins als eines solchen erschien, so ist hier ihre wirkliche
Wahrheit eingetreten. Sie besteht darin, dass dies allgemeine Gelten des Selbstbewusstseins die ihm entfremdete Realität ist« (359). Dass das Selbstbewusstsein allgemein gilt, heifst, dass die formale Gleichheit des Rechtszustandes sich verbreitet hat. Dort besteht die Person als individuelles Atom. Dies heißt, dass der Geist »außer sich« geht, somit
von sich entfremdet wird. Sowohl der Herr der Welt als auch die Untertanen werden im »Rechtszustand« von sich selbst entfremdet. So kommt es zur nächsten Stufe, zum »sich entfremdeten Geist«.
Bevor wir gleich zu dieser Stufe gehen, ist im Hinblick auf das Problem des »Sinnlichen« noch darauf zu achten, dass der Weltgeist nicht nur beim tyrannischen Charakter, sondern auch beim nachdenklichen Philosophenkaiser und auch bei den individuellen Personen als Atomen, somit nicht nur beim Fehlen der Sym-pathie, sondern auch bei dessen Tätigkeit über jede individuelle Ebene hinaus, »außer sich« kommen kann. Dies bedeutet, dass das hier geschehende Sinnliche den
Charakter des Weltgefühls bzw. des » Weltpathos« hat.
Dies zeigt sich typischerweise im Gefühl der »Einsamkeit« des Herrn der Welt. Dieser ist die »einsame Person, welche allen gegenübergetreten« (358). Gewöhnlich ist die Einsamkeit das innere Gefühl eines Individuums. Aber zugleich ist es, indem es allen gegenüber31 Ibid., S. 382.
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
zutreten weiß, sich des Seins aller bewusst. Die Einsamkeit ist das Gefühl, das in sich dieses Sein der Anderen, wenn auch ohne Sym-pathie, in sich abspiegelt. Die anderen Individuen sind ihrerseits, indem sie durch den Herrn der Welt vereinigt werden, zwar die in sich verschlossenen, einsamen Individuen, aber sie spiegeln zugleich eben in ihrer Einsamkeit die Weltstruktur, die sie so verschlossen sein lässt. Sowohl
beim Herren der Welt als auch bei den anderen individuellen Atomen ist die »Einsamkeit« das »Weltgefühl«. Dies zeigt, dass im Kapitel »Geist« das Sinnliche als Weltgeist »Weltpathos« genannt werden kann, dessen Subjekt die »Welt« ist.
4.2. Der sich entfremdete Geist — Die ungemeinsam-gemeinsame Sym-pathie
4.2.1.
Das Pathos der Entfremdung
Die Entwicklung des sittlichen Geistes und des Rechtszustandes ergab,
dass der Geist von sich selbst »entfremdet« wird, so dass sein eigenes Sein ihm selbst fremd ist. Dies thematisiert Hegel im folgenden Ab-
schnitt »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung«. Das Adjektiv »fremd« weist auf eine sinnlich empfundene geistige Lage, wie beim
Adjektiv »einsam« hin. Hier ist zu sehen, dass der sich entfremdete
Geist von Anfang an von einem eigentümlichen, sinnlichen Charakter überspannt wird. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das genannte Sinnliche dem
betreffenden Individuum zugeschrieben wird, aber zugleich ist es auch
der sinnliche Ausdruck der wirklichen Welt, der es entfremdet, somit
das »Weltgefühl« bzw. das »Weltpathos«, dessen Subjekt die überindividuelle Welt selbst ist. Beim »sich entfremdeten Geist« ist der letztere Aspekt vordergründig, und dies bedeutet, dass der Geist »nicht als Substanz, sondern auch als Subjekt« erscheint.
Eine andere Vorbemerkung ist hinzuzufügen: War im Mittelalter in der Darstellung des »sittlichen Geistes« die griechische Antike und in der Darstellung des »Rechtszustandes« das Rómische Reich der Be-
zugsrahmen, so ist beim »sich entfremdeten Geist« das neuzeitliche Europa anzunehmen, in dem der monarchische Absolutismus herrsch-
te. In der Tat sind Kirchenglaube und Aufklárung die Geistesgestalten
von damals. Allerdings ist Vorsicht geboten, nicht irrtümlich zu glau122
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
ben, dass es hier um die Darstellung historischer Gegebenheiten ginge. Es geht hier vielmehr um die Selbstdarstellung des Weltgeistes, der sich nicht als Substanz, sondern auch als Subjekt vollzieht und ver-
wirklicht. Wenn man es so sagt, ist vielleicht sofort der Einwand zu
erwarten, dass diese Ansicht eine Idealisierung bzw. Mystifizierung sei, da der Verfasser der Darstellung -- Hegel — ein Individuum sei. Dieser Einwand geht, so nüchtern er zunächst auch aussehen mag, von der
Voraussetzung aus, dass der philosophische »Gedanke« ein persónliches Werk des Individuums ist. Zwar hat jeder philosophische Gedanke diesen Aspekt. Wenn aber dieser Aspekt nicht als einer von vielen,
sondern als der einzige Aspekt aufgefasst wird, so wird der philosophische Gedanke überhaupt als privates Werk betrachtet und damit herab-
gesetzt. Die Folge davon wäre, dass die Individualität abstrahiert würde und nur das quasi objektiv rechnende Denken mathematischen Zuschnitts als »Philosophie« betrieben werden kónnte. Die Armut dieses Denkens liegt darin, dass in ihm das Sinnliche abstrahiert wird. Das Sinnliche ist das Element der Individualitát und zugleich die Státte, in der sich das Allgemeine spiegelt. Dies haben wir bisher im »Pathos« als Tiefenschicht des Sinnlichen gesehen. Diese Vorbemerkung schließt sich an die zum Begriff des »Geistes« an. Der Geist nämlich ist der Erscheinungsform nach der individuelle und zugleich der Weltgeist, der sich durch dieses Individuum ausdrückt. Mein Geist ist der Geist meiner Zeit und der der Gesellschaft, zu der ich gehóre. Da bisher festgestellt wurde, dass der Geist sinnlich
und das Sinnliche geistig ist, so muss auch über das Sinnliche dasselbe gesagt werden kónnen. Dieses ist im Individuum und zugleich das
Welt-Sinnliche, das sich durch das Individuum ausdrückt. Und dies
wurde bisher mit dem Ausdruck »Sym-pathie« oder »Weltpathos« sichtbar. So weit die Vorbemerkungen. Wir beginnen mit einem Zitat, das den Grundriss des »sich entfremdeten Geistes« knapp ausdrückt: »Dieser Geist bildet sich daher nicht nur eine Welt, sondern eine gedoppelte, getrennte und entgegengesetzte aus« (361). Im neuzeitlichen Euro-
pa nahm diese gedoppelte Welt die Gestalt der »Aufklärung« und des »Glaubens« an. Die erstere ist die »reine Einsicht«, die allein im Dies-
seits alles begreifen kann und den Gegensatz von Jenseits und Diesseits
auflósen will. Die letztere findet im Jenseits den Grund aller Werte. Die
erstere ist das Bewusstsein der Selbstentfremdung in der wirklichen Welt des ancien régime, aber auch die letztere findet sich als »die 123
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Flucht aus der wirklichen Welt« (363) in einer anderen Entfremdungsform. Um die Dialektik der Aufklárung und des Glaubens zu verfolgen,
ist zunáchst zu beachten, dass im Nebentitel des Abschnittes zum »sich
entfremdeten Geist« das Wort »Bildung« beigefügt wurde. Die ge-
meinte Bildung ist sowohl die intellektuelle Ausbildung als auch die geistige Gestaltung des Individuum, das sich als in der Wirklichkeit
von sich entfremdet fühlt. Das Individuum bildet sich, um zu seiner
eigenen Wirklichkeit wiederzukommen. In der Tat: »soviel sie (die Individualitát) Bildung hat, soviel Wirklichkeit und Macht« (364). In diesen Worten dürfte der Standpunkt der Englischen Aufklárung impliziert sein, die durch die bekannten Worte von Francis Bacon »Ipsa scientia potestas est« vertreten wird. Das Wissen durch die Bildung ist insofern Macht, als der Mensch dadurch die Unaufgeklártheit über und die Bedingtheit durch die Natur überwindet, aber auch Selbstentfrem-
dung, wenn er sich dadurch von seiner Wesensnatur entfernen muss. »Seine [des Individuums] wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins« (364). Allerdings hat diese Entfremdung auch die positive Seite, dass das Individuum dadurch zum allgemeinen und für sich seienden Wesen wird. Sie ist die Kehrseite der Bildung der ursprünglichen Natur zur Geisteswelt. Es kommt hier darauf an, dass die individuelle Bildung zugleich die Bildung der wirklichen Welt bedeutet. »Die Bewegung der sich bildenden Individualitát ist daher unmittelbar das Werden derselben als des allgemeinen gegenständlichen Wesens, d.h. das Werden der wirklichen Welt« (365). Der Geist ist das Prinzip der Bildung des Individuums und zugleich das der Welt. »Seine [des Individuums] Bildung und seine eigene Wirklichkeit ist daher die Verwirklichung der Substanz selbst« (ibid.). So bedeutet die »Bildung« konkret nicht nur die des aufklärenden
Wissens
des Individuums,
sondern
auch die des auf-
geklärten Staates. Eben darin liegt auch die Bedeutung der »Aufklärung« im Abschnitt »Geist«. Der Kernpunkt der aufgeklárten Staatsansicht ist, dass das Wesen des Staates in der »Macht« und im »Reichtum« gesehen wird. Die Staatsmacht ist »das allgemeine Werk, die absolute Sache selbst, worin den Individuen ihr Wesen ausgesprochen und ihre Einzelheit schlechthin nur Bewusstsein ihrer Allgemeinheit ist« (368). Sie ist die Macht,
die sich allen als das »Recht« aufdrángt. Andererseits ist der Reichtum »das bestándig werdende Resultat der Arbeit und des Tuns Aller, wie es 124
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
sich wieder in den Genuss Aller auflöst« (ibid.). Mit diesen Worten kann an die politische Idee von Niccolo Machiavelli in »Il Principe« (1532) oder an die Ökonomie von Adam Smith in »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (1776) gedacht werden. So ist die »Bildung«, um es nochmals zu sagen, sowohl die Selbst-
gestaltung des Individuums, das die Wissenschaft zur Potenz hat, als
auch die Selbstgestaltung des wirklichen Staates.
Es ist durchaus natürlich, dass diese Welt der Bildung von widersprüchlichen Bewegungen durchzogen wird, und diese Bewegungen sind auch die des »Sinnlichen« des sich entfremdeten Geistes. Das Sinnliche ist sogar das diese Bewegungen erzeugende Belebende. Denn die genannten Bewegungen beginnen damit, dass der entfremdete Geist in der Gestalt der Individuen sich mit der Staatsmacht und dem Reichtum bald als »gleich«, bald als »ungleich« fühlt und die Bewegung dieses Gefühls zur Änderung seines Verhältnisses zu Staat und
Reichtum führt. Das Individuum, das sich identifizieren kann mit der Staatsmacht, findet Gleichheit mit der Staatsmacht, und der Staat ist ihm gut; es ist ihm aber bóse, wenn es Ungleichheit mit ihm findet.
Dasselbe gilt auch von seinem Verhältnis zum Reichtum. »Gleichheit«
und »Ungleichheit« sind hier nicht blof$ logische Kategorien, sondern
der Inhalt des sinnlichen Bewusstseins. »Das Bewusstsein der gleichfindenden Beziehung ist das edelmütige«, und das »Bewusstsein der anderen Beziehung dagegen ist das niedertrüchtige« (372). Das erstere hat die Bestátigung seines Wesens in der óffentlichen Macht und steht »im Dienste des wirklichen Gehorsams wie der inneren Achtung gegen es (sein Wesen)« (ibid.), während das letztere in der Herrschergewalt »eine Fessel und Unterdrückung des Fürsichseins sieht und daher den Herrscher hasst, nur mit Heimtücke gehorcht und immer auf dem Sprunge zum Aufruhr steht« (ibid.). Es liebt den Reichtum, aber zugleich verachtet es ihn. Wie einst im »Selbstbewusstsein« der »Knecht« dem »Herrn« gegenüber — und in der »Vernunft« das »Gesetz des Herzens« der vorhandenen Ordnung der Wirklichkeit gegenüber — ist hier das niedertráchtige Bewusstsein dem ihm ungleichen Staat und Reichtum gegenüber mit seiner negativen Wirkung das zentrale Moment der Dialektik. Das Sinnliche bleibt hier nicht passiv; es ist der Ort der Dynamik, sich und das Andere zu ändern, der Dynamik des »Pathos
der Entfremdung«.
125
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
4.2.2.
Die ungemeinsame Sym-pathie
Die genannte Dynamik des Sinnlichen bildet die logische Struktur der Bewegung des »Geistes«. Es handelt sich um das »Urteil«, das über das Verhältnis zwischen dem Selbstbewusstsein einerseits und der Staatsmacht sowie dem Reichtum andererseits gemacht wird. Dieses Urteil ist nicht mehr das bloß »intellektuelle« noch »logische«, sondern das
»geistige Urteil« (371). Der Ausdruck, dass das Urteil geistig ist,
scheint nicht besonders wichtig zu sein, ist aber für uns, für die es auf die Dynamik des Sinnlichen ankommt, doch bedeutsam. Zuerst ist es das Urteil, das der »Geist« macht. Dann ist das »Urteil« zu unterschei-
den von dem Urteil des Bewusstseins zu dessen Gegenstand. Der Gegenstand des geistigen Urteils ist der Geist selbst, der sich von sich »teilt«. Die »Unterscheidung« des Geistes von sich und in sich geschieht hier. Es ist daran zu erinnern, dass der sich entfremdete Geist
sich eine gedoppelte, getrennte Welt bildet. In der Wirklichkeit ist es das Subjekt, das ein »geistiges Urteil« macht, bald der Herrscher oder der Beherrschte, bald der den Reichtum Besitzende oder der von die-
sem Entfremdete, bald das edle Bewusstsein oder das niedertráchtige Bewusstsein. Jede dieser beiden Seiten ist der Teilausdruck des ganzen Geistes, somit dessen geteilte Gestalt, in der sich das Ganze spiegelt. Dabei werden sowohl die Macht als auch der Reichtum nicht mehr als bloß politische oder physikalische Phänomene, sondern als Phänomene
des Geistes aufgefasst. Nach dieser Auffassung soll eben im Macht-
bewusstsein oder in der Besitzsucht die an sich seiende Geistes vor dessen Selbstteilung enthalten sein. Dieses oder die Besitzsucht sind die Gestalten der Zwischenstufe der seine an sich seiende Einheit durch seine Selbstteilung
Einheit des Bewusstsein des Geistes, und Selbst-
entfremdung hindurch zum Selbstbewusstsein zurückbringt. Der »sich
entfremdete Geist« ist nichts anderes als die Bewegung des Geistes, der
durch dessen »Urteil« hindurch seine Einheit wiederherstellt. Und dies
geschieht, »indem das Urteil zum
Schlusse wird, zur vermittelnden
Bewegung, worin die Notwendigkeit und Mitte der beiden Seiten des Urteils hervortritt« (373).
Formal gesagt verhält es sich wie folgt: Dass das »Urteil« zum »Schluss« wird, bedeutet, dass das in sich geteilte und unterschiedene Ganze durch dessen Artikulation und Entwicklung hindurch seine eigene Struktur begreift, den Prozess dieses Begreifens abschließt, und als Abschluss hervortritt. Der Schluss ist der Prozess des Geistes, der 126
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
seine Ganzheit als Begriff zum Bewusstsein bringt. Er ist insofern die logische Bewegung - und zugleich der Ausdruck der Bewegung der wirklichen Welt. Als zwei sinnliche Gestalten dieser Bewegung sind das »edelmütige« und das »niedertráchtige« Bewusstsein aufgetreten. Das erstere wird als der »Heroismus des Dienstes« (373) bezeichnet, das Bewusst-
sein der stolzen Vasallen, die der Staatsmacht dienen. Es handelt sich
aber um das spezifische Bewusstsein des Rechtssystems, das noch nicht das allgemeine Selbstbewusstsein erreicht hat. So kann es vorkommen, dass dieser Heroismus, indem er der Gefahr des Todes ausgesetzt wird, sich aber trotz seines Dienstes vom Herrn nicht genügend belohnt
fühlt, sich der Staatsmacht gegenüber als »ungleich« sieht und dann
»unter die Bestimmung des niedertráchtigen Bewusstseins« fállt, um »immer auf dem Sprunge zur Empórung zu stehen« (375). »Niedertráchtig« heifst hier, die Einstellung des Geistes, sich ungleich gegenüber der Staatsmacht zu finden und unter Umständen gegen diese
einen Aufstand zu erregen. Die Ausdrücke »edelmütig« und »niedertráchtig« bilden also nicht den Gegensatz zwischen substanziell fest-
gelegten Geistesgestalten. Sie bilden die Bewegungsarten des Subjektes, das zu jeder Zeit in sein Anderes umschlagen kann. Dieser Umschlag hat seinen Grund der Möglichkeit darin, dass beide Geistesgestalten den »Eigenwillen« als das gemeinsame Wesen haben. Auch das edelmütige Bewusstsein übersteigt diesen Eigenwillen nicht und überlásst sich im Grunde dem »Heroismus der Schmeichelei« (378). Die Schmeichelei ergibt sich als das Wesen des Bewusstseins, das sich zwar erniedrigt, aber wenn seine Erniedrigung nicht mit Dank anerkannt wird, sofort in Unzufriedenheit und »tiefste[n] Verworfenheit« wie auch »tiefste[n] Empórung« (382) umschlägt. Das edelmütige Bewusstsein kann zu jeder Zeit ins niedertráchtige Bewusstsein umschlagen. Dieser Umschlag geschieht auf der Seite der Staatsmacht in einer anderen Weise. Die Staatsmacht wird durch den Monarchen reprásentiert, ein Individuum, das seinen Namen hat. Als typische historische
Gestalt dieses Monarchen wáre der Herr der Maison de Bourbon vor-
zustellen, der als allgemeine Macht den Reichtum besitzt. Das edelmü-
tige Bewusstsein dient und schmeichelt ihm, muss sich aber empören, wenn der Monarch den Reichtum monopolisiert und sich voller Übermut verhält und er diesen Reichtum nur wenig teilen kann. Da der empórende Untertan nicht mehr der Knecht ist, wie es im Selbst127
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
bewusstsein der Fall war, kann der Monarch ihn nicht einfach unter-
drücken. Er versucht ihn zu besänftigen, aber seine Sym-pathie wird durch seinen Übermut und Eigenwillen so sehr geprägt, dass sie die Gestalt der ungemeinsamen Sym-pathie oder pathos communis noncommunionis annimmt. Der Irrtum wird unvermeidlich: Indem der Monarch »durch eine Mahlzeit ein fremdes Ich-Selbst erhalten und sich dadurch die Unterwerfung von dessen innerstem Wesen erworben zu haben meint, übersieht er die innere Empórung des anderen« (383/4). Was daraus folgt ist die reine Zerrissenheit des ganzen Geistes, somit der Umsturz des Monarchen. Hegel hatte ohne Zweifel an die Franzósische Revolution gedacht, die diesen Umsturz erzeugte.
Die bisherige Betrachtung ergibt, dass der Ausgangspunkt der Be-
wegung des Geistes, sich seine Einheit herzustellen, darin liegt, dass er
sich seiner Selbstentfremdung als der »absoluten Zerrissenheit« be-
wusst wird. »Absolut« heißt, dass der Geist kein »außen seiner selbst«
hat. Die Bewegung des Geistes in seiner absoluten Zerrissenheit heißt, um es mit Worten aus Diderots »Rameaus Neffe« zu sagen, »die ganze Skala der Gefühle von der tiefsten Verachtung und Verwerfung bis zur hóchsten Bewunderung und Rührung auf und nieder zu laufen« (387). Das Bewusstsein dieses Neffen ist zunächst das Modell des niedertráchtigen Bewusstseins, aber zugleich das Modell der Bewegung des
sich entfremdeten Geistes, der die Gestalten des Sinnlichen im sich entfremdeten Geistes erfährt, um seine Einheit wieder herzustellen.
Von hier aus ist zu sehen, dass die dialektische Bewegung des sich entfremdeten Geistes durchaus die »sinnlich« bewegte ist. Die Wirkung des Sinnlichen ist hier die Empfindung der Existenz des Anderen im absoluten Geiste. Schon die Gestalten des »edelmütigen« und »nie-
dertráchtigen« Bewusstseins weisen darauf hin, dass sie die nicht allein in sich bestehenden, sondern einander voraussetzenden Relata sind.
Sowohl der Dank des edelmütigen Bewusstseins als auch die Empórung des niedertráchtigen Bewusstseins sind das Gefühl der Selbstentfremdung desselben Geistes. Sie machen das Paar der »ungemeinsamen Sym-pathie« dieses Geistes aus.
Es ist weiterhin darauf zu achten, dass der Ort, an dem das Gefühl
der Selbstentfremdung auftritt, nicht das Innere des Individuums, sondern der Weltgeist selbst ist. Dieser ist zwar in sich zerrissen, aber diese
Zerrissenheit ist »absolut«, d.h., die in der Zerrissenheit Stehenden
gehören trotz aller ihrer Gegensätze zueinander zu ein und derselben Welt. Erst von daher ist zu verstehen, dass das Gefühl der Empórung 128
Geist -- Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
auch das Gefühl der Entfremdung bedeutet. Denn die Empörung gegen
die Staatsmacht und die Entfremdung von dieser ist ein und dasselbe.
Dies heift, dass das Gefühl der Entfremdung zwar in keinem Punkt
gemeinsam mit dem Übermut des Monarchen ist, aber dennoch eine gewisse Gemeinsamkeit
mit diesem,
eine gemeinsame
Wirklichkeit
zur Basis hat. Insofern drückt es den Charakter der ungemeinsamen Sym-pathie aus. Wenn dabei nicht nur die Seite der Ungemeinsamkeit, sondern auch die der gemeinsamen Basis zu Bewusstsein gebracht wird, zeigt sie sich im vollen Umfang. Dies bringt der hiernach folgende Abschnitt »Dialektik des Glaubens und der Aufklárung« hervor. 4.2.3.
Der Kampf der Aufklárung mit dem Aberglauben
Der sich entfremdete Geist empfand,
dass sein eigenes Sein in der
Wirklichkeit nicht ihm zugeeignet wird, sondern ihm fremd bleibt.
Auf dem Standpunkt des Stoizismus hätte er sein Wesen in den reinen Gedanken übertragen und in diesem zu verwirklichen versucht. Aber dem sich entfremdeten Geist wird jetzt sein eigenes Wesen bzw. die Welt, in der keine Entfremdung geschieht, »jenseits seiner eigenen Wirklichkeit« (392) gesetzt. Diese Setzung ist nichts anderes als die »Flucht« aus seiner eigenen Wirklichkeit. Aber der Geist meint nicht,
dass er flüchtet. Vielmehr versucht er, die Flucht als »Glauben« an das
Jenseits zu rechtfertigen. Dieser Glaube kann freilich nicht das Ganze der Seinsweise des Geistes, sondern lediglich dessen Hälfte sein. Die andere Hálfte ist die ruhelose Bewegung des Geistes, der im Diesseits die reine Einsicht in sein eigenes geistiges Wesen zu gewinnen versucht und dieses Wesen in der diesseitigen Wirklichkeit zu bilden trachtet, Wobei er seinen Gegner, der dieser Selbstverwirklichung im Weg steht, in sich aufzuheben versucht. Diese Bewegung entwickelt sich zunächst unter dem Kennzeichen der »reinen Einsicht« (393). Die Seinsweise des Geistes ist der Ausdruck der wirklichen Welt. Die »reine Einsicht« steht auf der Seite der Masse, die vom Aberglaube aufgeklárt werden soll. Der »Glaube« seinerseits wird durch die Kirche repräsentiert. So lóst sich der sich entfremdete Geist in dieses »gedoppelte Bewusstsein« auf. Der »Glauben«, der sich nach der übersinnlichen Welt sehnt, wird
von der Religion im eigentlichen Sinne, d. h. von der Religion als dem
Selbstbewusstsein des absoluten Geistes, unterschieden. Für ihn ist es
nótig, sich aufkláren zu lassen. Jedoch hat er, indem er seine eigene
129
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Welt hat, einen substantiellen »Inhalt«. Demgegenüber hat die »reine Einsicht«, die als »das negative Fürsichsein« (394) dem Glauben gegenübersteht und dessen Dunkelheit aufklären will, keinen eigenen »Inhalt« über diese Absicht hinaus. Aber der Inhalt des Glaubens bleibt seinerseits auch nicht ohne Problem, da er der reine Gedanke bleibt, der nicht in der geschicht-
lichen Welt verwirklicht wird. Da diese Welt in seinen Augen das geistlose Dasein ist, geschieht auf der Seite des Glaubens zwar die Bewegung, dieses geistlose Dasein aufzuheben. Die Gemeinde, in der man sich ausschließlich nach dem Reich Gottes sehnt, kann hier als Modell
vorgestellt werden. Dort wird »das Aufheben des sinnlichen Wissens und Tuns« (396) betrieben. Aber die Welt des Sinnlichen und des Tuns hat auch seine raison d'étre. Sie hat vielmehr das Selbstverstándnis, dass eben sie sich mit der Vernünftigkeit verbindet und die wirkliche Welt zu bilden imstande ist. Von ihr her gesehen bedeutet das Streben des Glaubens, die Welt des Sinnlichen als diesseitige aufzuheben, nur so viel wie das Faktum, damit die Welt des Sinnlichen dem Glauben »eine unbegriffene sinnliche Wirklichkeit« (396) bleibt. Dann ist es die Seite des Glaubens, die der Aufklárung bedarf. Die reine Einsicht andererseits ist der Geist, »der allem Bewusst-
sein zuruft: seid für euch selbst, was ihr alle an euch selbst seid, — vernünftig« (398). Die Vernünftigkeit ist das Vermógen der Freiheit. Sie hat jetzt »das schmerzlichste Gefühl und die wahrste Einsicht über sich selbst — das Gefühl, die Auflösung alles sich Befestigenden« (399). Dieses Gefühl kann als das »Pathos« gekennzeichnet werden. Das Pathos der Aufklärung will die mit den abergläubischen Dogmen befestigte Welt auflósen. Es ist unausweichlich, dass dieses Pathos auf den Wider-
stand der Glaubenswelt stößt, womit der »Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben« beginnt.
Es ist zu sehen, dass dieser Kampf selber wiederum die Bewegung und die Vertiefung des Elementes des »Sinnlichen« ist. Der Feind der
Aufklárung, der Glaube, hat drei Seiten: die betórte Masse, die betórende Priesterschaft, der unterdrückende Despotismus. Diese bilden in
den Augen der Aufklärung »ein Gewebe von Aberglauben, Vorurteilen
und Irrtümern« (401). Allerdings sind sie auch die Gestalten desselben Geistes wie in der Aufklárung. Sie behaupten also ihrerseits auch ihre
reine Einsicht. Die Aufklárung will also die Einsicht des Feindes als ein Reich des Irrtums entlarven und darauf hinweisen, dass »die falsche
Einsicht einmal als die allgemeine Masse des Bewusstseins unmittel130
Geist -- Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
bar« vorhanden ist (ibid.) und dass »im Hintergrunde für sich bleibende Einsicht und böse Absicht« (ibid.) versteckt sind. Da aber unter den
drei Seiten, d.h. dem Monarchen, dem Priester und der Masse, es die letzte ist, die errettet werden soll, so wendet sich die Aufklärung mit
ihrer reinen Einsicht gegen den Priester und den Monarchen, um die Masse von der bösen Absicht abkehren zu lassen. Sie beginnt die Masse aufzuklären. Die reine Einsicht der Aufklärung wird mit »dem Verbreiten wie eines Duftes in der widerstandslosen Atmosphäre« (402) verglichen.
Nimmt man diesen Ausdruck blog für ein Gleichnis, so wird die Tiefe
des Wortes übersehen. Denn hier wird angedeutet, dass das Verbreiten
der Aufklärung eher durch die sinnliche als durch die logische Vernunft
getragen wird. Sie ist das Phänomen, das im Element des Sinnlichen sich verbreitet. Von der Seite des abergläubischen Glaubens wird sie wie eine »Krankheit« empfunden werden, bei der es zu spät ist, wenn man sie bemerkt hat. So zieht Hegel eine Stelle aus »Rameaus Neffe«
von Diderot heran, dass diese Krankheit wie ein unsichtbarer und un-
bemerkter Geist das Mark des geistigen Lebens ergreift, edle Teile des Gótzen durchschleicht, und »an einem schónen Morgen gibt sie mit dem Ellbogen dem Kameraden einen Schub, und Bautz! Baradautz! der Götze liegt am Boden« (403).32 Jedoch ist es nicht so, dass in der Entwicklung dieser Situation die Aufklärung, die sich durchschleicht, zur Siegerin wird. Denn der Geg-
ner ihrer reinen Einsicht, d.h. der Glaube bzw. der Aberglaube ist, wenn ihr Wesen eingehend betrachtet wird, derselbe sich entfremdete
Geist wie die Aufklärung selbst. Er ist für diese »das Andere seiner
selbst«. Der Geist ist wesentlich das, was das Anderssein an ihm selbst hat; »indem also die Vernunft von einem Anderen spricht, als sie ist,
spricht sie in der Tat nur von sich selbst« (404). Um ein verstándliches Beispiel anzugeben, so ist es etwa so, wie wenn die Wähler, die sich mit der Politik unzufrieden und sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfremdet fühlen, die Politiker und das Parlament als unfáhig kritisieren, die sie selber gewählt haben. Unabhängig davon, ob ihre Kritik an den Anderen gerecht oder ungerecht ist, muss sie jedenfalls an sie selber zurück gewendet werden. Die reine Einsicht will den
2 Allerdings wird in Rameaus Neffe der Aufklärung der Standpunkt des Jesuiten und dem Glauben die indische und chinesische Religion zugewiesen, so dass der Kontext sehr anders ist als in der Beschreibung Hegels.
131
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Glauben
negieren, wobei sie keinen
»Inhalt« hat, den sie vorlegen
kann. Deshalb muss sie ihre Unwahrheit bzw. Inhaltslosigkeit bloßstellen, wenn sie ihre Negation gegen die Anderen durch und durch voll-
zieht. Dies zeigt sich wiederum im Element des »Sinnlichen«. Von der Aufklärung her gesehen ist nämlich das, was vom Glauben verehrt wird, »ein seiendes gemeines Ding der sinnlichen Gewissheit« (409)
wie ein Steinstück oder Holzblock der Statuen von Christus und von
Heiligen oder der Brotteig, der bei der Messe eingenommen wird. Die Aufklärung wirft dem Glauben vor, dass dieser die genannten Dinge anthropomorphisiert. Allerdings gilt ihr Vorwurf nur insofern, als der Gegenstand des Glaubens von ihr wie oben betrachtet wird. Der Glaube verehrt keineswegs das bloße Steinstück, den Holzblock oder den Brotteig. Das, wogegen die reine Einsicht sich richtet, ist nichts anderes als ihre eigene Ansicht über diese Dinge. Es sei angemerkt, dass die Kreuzung der Verstándnisse von den zwei Seiten die Kreuzung der zwei verschiedenen Schichten des »Sinnlichen« ist. Die reine Einsicht, die erklärt: »sei vernünftig«, betätigt das
Sinnliche nur auf der Ebene der sinnlichen Gewissheit. Dem gegenüber verehrt der Glauben nicht die seienden gemeinen Dinge als solche, sondern die in diesen Dingen vorgestellte absolute Substanz. Die Aufklárung sieht nur die Oberfläche, was auch für andere Vorwürfe gilt, die von der Seite der Aufklárung dem Glauben gemacht werden. So ist z. B. ein Vorwurf der Aufklärung, dass einige historische Zeugnisse des Glaubens »nicht den Grad von Gewissheit über ihren Inhalt gewähren würden, den uns Zeitungsnachrichten über irgendeine Begebenheit geben« (410). Sie problematisiert die Zufälligkeit des Zeugnisses, die Übertragung von einem Papier auf ein anderes, usw. Aber dem Glauben fällt nicht ein, an solche Zeugnisse und Zufälligkeiten seine Gewissheit zu knüpfen. Er mischt nicht Buchstaben, Papier und Abschrei-
ber in sein Bewusstsein des absoluten Wesens. Der Glauben ist »der
Geist selbst, der das Zeugnis von sich ist« (411). Die reine Einsicht der Aufklärung erreicht nicht dieses Innere des Glaubens. Er bleibt an der
Oberfläche der sinnlich vernehmbaren Seienden haften. Von hier aus problematisiert sich die Wirklichkeit der Aufklárung
als solche. Denn es wird aufgezeigt, dass sie einem Vakuum, das nach der Vertreibung des Ungeheuers des Aberglaubens entsteht, keine Bestimmungen, keine Prädikate beizulegen hat. Sie kann nicht auf die
Frage antworten: »Was nun weiter? Welches ist die Wahrheit, welche die Aufklärung statt jener verbreitet hat?« (413).
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Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
Damit wird aber auch nicht gemeint, dass der Feind der Aufklä-
rung, der Glauben, der Sieger wird. Auch er erleidet eine tiefe Wunde, die von der Gewalt der Aufklärung verursacht wurde. Es wurde bloß-
gestellt, dass das, was sich der Glauben als die himmlische Welt vorstellt, nichts anderes ist als das, was er von der sinnlichen Welt in die
übersinnliche übertragen hat. Der Glauben »geht von dem sinnlichen Sein aus, abstrahiert dann von der sinnlichen Beziehung des Schmeckens, Sehens usf. und macht es zum reinen Ansich, zur absoluten
Materie, dem nicht Gefühlten noch Geschmeckten« (427). Und dies ist die bewusstlose Verdoppelung des Sinnlichen. »Oder der Glaube lebt in zweierlei Wahrnehmungen, der einen, der Wahrnehmung des schlafenden, rein in begrifflosen Gedanken, der anderen des wachen,
rein in der sinnlichen Wirklichkeit lebenden Bewusstseins« (423). Das dumpfe, bewusstlose Weben des Glaubens wird von der Aufklärung einfach geplündert. Die Wunde auf der Seite des Glaubens kommt nur deshalb nicht in den Vordergrund der Darstellung, weil es in der dialektischen Bewegung des Kampfs zwischen der Aufklárung und dem Glauben darum geht, den Widerspruch der angreifenden Seite aufzuzeigen. So kommen wir zurück zum Problem, das auf der Seite der Auf-
klárung vorhanden ist. Um das Vakuum als die Abwesenheit des abso-
luten Wesens auszufüllen, will sie die Welt der »Nützlichkeit« schaf-
fen. Das ist die innere Folge der Aufklárung. Von ihr her gesehen hat der Mensch, nachdem er die Frucht der Weisheit aß und das Gute sowie
das Bóse zu erkennen imstande wurde, sich von den anderen Lebewesen auf der Erde unterschieden. Es sei hier an einen Essay von Kant,
»Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte«, erinnert, in dem er sagt, der Mensch sei »eigentlich der Zweck der Natur, und nicht, was auf Erden lebet, könne hierin einen Mitwerber gegen ihn abgeben«.? Diesem Gedanken zufolge darf der Mensch alles andere ausschließlich als um seines eigenen Nutzens willen existierend betrachten. Die Men-
schen werden zum »gemeinnützlichen« Wesen, um die aufgeklärte Gesellschaft zu bilden.
Es ist nicht schwer zu belegen, dass der Standpunkt dieser Nütz-
lichkeit allzu problematisch ist. Jedoch, wenn dieser Standpunkt eigens
in der Phänomenologie des Geistes auftritt, ist es wichtig, auch seine 3 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Akademie Textausgabe, VIII, S. 114.
133
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Bedeutung ins Auge zu fassen. Denn auch die Religion kann im Hinblick auf ihre Nützlichkeit betrachtet werden. Die Religion ist in gewisser Hinsicht für den Menschen »nützlich«, ja sogar am nützlichsten, da sie weniger im praktischen, von verschiedenen Interessen bestimmten Lebenszusammenhang als vielmehr in der Situation, in der dieser Lebenszusammenhang den Sinn verloren hat, von den von diesem Zusammenhang verlassenen Menschen »benötigt« wird. »Die Beziehung auf das absolute Wesen oder die Religion ist daher unter aller Nützlichkeit das Allennützlichste; denn sie ist der reine Nutzen selbst« (416). Die Anerkennung der Religion auf diese Weise bedeutet allerdings, dass die Aufklärung selber, die das Prinzip der Nützlichkeit erklärt, als Folge der blinden Verabsolutierung dieses Prinzips zu einer Art Religion wird. Darum wird gesagt: »Denn die Aufklärung verhält sich gegen das glaubende Bewusstsein nicht mit eigentümlichen Prinzipien, sondern mit solchen, welche dieses selbst an ihm hat« (417). Was sie dem Glauben vorwirft, erscheint deshalb als Verdrehung und
Lüge. Zwar kann der Glauben seinerseits nicht ganz gerechtfertigt wer-
den, und er sollte aufgeklärt werden, weil er sich dieses Fehlers nicht
bewusst war. Aber es geht hier um den Selbstwiderspruch der Aufklärung, um die Sachlage, dass sie selbst »ebensowenig über sich selbst aufgeklärt« (418) ist. Der Selbstwiderspruch der Aufklärung zeigt sich mehrmals auf diese Weise. Wenn aber dieser Vorgang nicht als der der
Aufklärung, sondern als der des Sinnlichen betrachtet wird, so ist zu sehen, dass in ihm nicht nur die negative Seite, sondern auch die positive Seite enthalten ist. Darin nämlich, dass die Aufklärung die Nützlichkeit verabsolutiert und zu einer Religion wird, ist enthalten, dass
das Sinnliche in der Beziehung zum Absoluten aufgeht, auch wenn diese Beziehung nur in beschränkter Weise zum Ausdruck kommt. Dies wird schon unmittelbar vor der Verehrung der Nützlichkeit gesagt: »Das Sinnliche wird also jetzt auf das Absolute als auf das Ansich positiv bezogen, und die sinnliche Wirklichkeit ist selbst an sich« (415). 4.2.4.
Die Paradoxie der absoluten Freiheit
Bisher wurde die Bewegung des sich entfremdeten Geistes in der Form des Kampfes der Aufklärung gegen den Glauben als der Prozess der
Vertiefung des Sinnlichen rekonstruiert. Unsere Darstellung erreicht hier die Stelle, wo festgestellt werden soll, wohin dieser Prozess führt.
Dieses »wohin« wird mit dem Schlüsselwort der »absoluten Freiheit« 134
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
gekennzeichnet. Die Aufklärung griff nämlich die Welt des Glaubens
an, indem sie das Prinzip der Nützlichkeit durchsetzte, damit das Nütz-
liche nicht bloß Prädikat des Gegenstandes bleibt, sondern die Seins-
weise des Subjektes wird, somit die Geisteswelt umwälzt: »und aus dieser inneren Umwälzung tritt die wirkliche Umwälzung der Wirk-
lichkeit, die neue Gestalt des Bewusstseins, die absolute Freiheit hervor« (431).
Mit der absoluten Freiheit ist die Folge der Franzósischen Revolution sowie deren Wirklichkeit gemeint. Es ist bekannt, dass diese Revolution in Wirklichkeit zur Politik des »Schreckens« führte. Als Werk
und Tat der allgemeinen Freiheit wurde der Tod, »der kälteste, platteste
Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder
ein Schluck Wassers« (436), eingeführt. Die Schreckensherrschaft mit der Guillotine wurde gestiftet, und dies war die soziale Wirklichkeit des Idealen, die sich auf die Philosophie der Aufklárung stützte. Die Nützlichkeit, die von der Aufklárung als Gegenmittel gegen
den Glauben zum Prinzip erhoben wurde, ist, wenn sie für sich betrachtet wird, dem Utilitarismus zuzuschreiben. Zwar ist der Gründer
des Utilitarismus, Jeremy Bentham (1748-1832), ein Zeitgenosse der Franzósischen Revolution, aber wenn die eigentliche Entwicklung im Gedanken von John Stuart Mill (1806-1873) gesehen wird, so ist der Utilitarismus später als die Aufklärung und die Französische Revolution. Jedoch deckt sich die Erscheinungsordnung der Gestalten des Geistes in der Phänomenologie des Geistes nicht immer mit der historischen Aufeinanderfolge, wie bisher gezeigt, und zwar auch im positiven Sinne. Dies kann z. B. auch von der »absoluten Freiheit« gesagt
werden. Der Geist der Freiheit, der mit der Franzósischen Revolution verbreitet wurde, ist als die spirituelle Grundlage der »Moderne« ent-
scheidender als der Utilitarismus und bestimmend für die spátere Zeit.
Wenn es sich wie oben beschrieben verhält, so ist das Sinnliche, das die absolute Freiheit begleitet, eingehender zu betrachten. Der
Geist der absoluten Freiheit verband sich in der Franzósischen Revolu-
tion mit der anderen Idee der Revolution, der »Gleichheit«, und wurde anerkannt als der Geist, der von allen besessen werden und für alle
gelten soll; »er (der Geist als absolute Freiheit) ist das Selbstbewusstsein, welches sich erfasst, dass seine Gewissheit seiner selbst das Wesen
aller geistigen Massen der realen sowie der übersinnlichen Welt« (432) ist. Die Welt ist für dieses Selbstbewusstsein schlechthin sein Wille,
und dieser ist allgemeiner Wille, der als das Subjekt aller Taten und 135
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
das selbstbewusste Wesen aller Persönlichkeiten sein will. Wenn diese ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit sich auf den »Thron der Welt« erhebt, erklärt sie seine absolute Freiheit, der sich alle unterwer-
fen sollen. Es ist eine Paradoxie, dass alle sich dem Prinzip der Freiheit unterwerfen. Alle Stände wurden zwar getilgt. Aber der Gegensatz vom allgemeinen Willen und dem einzelnen Willen in der Wirklichkeit kann nie gleich aufgehoben werden. Die wirkliche Bürgergesellschaft muss von der gesetzgebenden, richterlichen und ausübenden Gewalt verwaltet werden, und die Masse existiert auf der verwalteten Seite
als die arbeitende Masse. Ihr Selbstbewusstsein hört beim gezwungenen Gehorsam unter den angeblich durch sie selber gesetzten Gesetzen auf, das allgemeine Bewusstsein zu sein. In der Tat werden die Individuen, die nicht der Siegerseite der Konkurrenzgesellschaft angehören, ausgeschlossen. Die allgemeine Freiheit wird nicht verwirklicht, und die Freiheit wird zum negativen Tun der Vertilgung der Individuen; »sie ist nur die Furie des Verschwindens« (436).
Im Hinblick auf die Seinsweise, »sich entfremdet« zu sein, ent-
spricht die absolute Freiheit der bisher betrachteten reinen Einsicht der Aufklärung. Aber ihre Seinsweise ist die äußerste Entfaltung dieser Entfremdung. Dementsprechend ist auch die Seinsweise des Sinnlichen die äußerste, d.h. der »Schrecken des Todes« (437). Bisher gab es im Kapitel von »Herr und Knecht« die »Furcht des Todes«, und auch hier kommt der Ausdruck »Furcht des absoluten Herren« vor. Aber was den
» Tod« betrifft, so ist der sinnliche Ausdruck hier der »Schrecken«, der
im Hinblick auf die Radikalitát des Gefühls von der »Furcht« unterschieden wird. Die Furcht des Todes, die der Knecht hat, ist das Gefühl,
das dieser angesichts der móglichen Vernichtung seiner Existenz durch seinen Herrn haben muss. Es ist die Vernichtung, die der Herr zu jeder Zeit vollbringen kann, wenn er will, und die zu jeder Zeit geschehen kann. Aber diese Vernichtung gehórt dennoch dem Bereich der »Móglichkeit« an. In Wirklichkeit hängt der Herr vom Knecht ab, solange er dessen Produkte bedarf, um sie zu genießen und zu konsumieren, also
letztlich leben zu kónnen. So wird der vernünftige Herr seinen Knecht nicht vernichten. Außerdem sind Herr und Knecht dort je die Gestalt des »Selbstbewusstseins« und nicht lebende Mitglieder der wirklichen
Welt. Es kommt andererseits bei der »absoluten Freiheit« eben auf die-
se konkret lebenden Menschen an, die in der Wirklichkeit von der siegenden Faktion und Fraktion ausgeschlossen werden kónnen; »und die
äußerliche Reaktion gegen diese Wirklichkeit, die in dem einfachen 136
Geist -- Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
Innern der Absicht liegt, besteht in dem trockenen Vertilgen dieses seienden Selbsts« (437). Dieses Vertilgen ist kein bloßes Wort noch
bloße
Möglichkeit,
sondern
die
reale
»Wirklichkeit«.
Wenn
diese
Wirklichkeit der kälteste und platteste Tod der Kameraden und der
eigenen Person auf der Guillotine ist, so ist das Gefühl nicht mehr die »Furcht«, sondern der »Schrecken«. Dieses Gefühl ist zunáchst der
Ausdruck des Inneren des betroffenen Individuums, aber zugleich auch
der sinnliche Selbstausdruck der Welt des entfremdeten Geistes in diesem Individuum. Darum wird im Text zu diesem Schrecken des Negativen geschrieben: »Zugleich aber ist diese Negation in ihrer Wirklichkeit nicht ein Fremdes; (...) sondern sie ist der allgemeine Wille« (439). Dieses Wort deutet an, welche Bedeutung der Tod in der »absoluten Freiheit« hat und wie es um das Sinnliche in der Weise des Schreckens des Todes steht. Der Tod ist hier weder das biologische Absterben des Individuums noch die blinde Macht des Schicksals, das in der Welt der Sittlichkeit dem Individuum bevorsteht. Er ist die Negativität,
durch die der sich entfremdete Geist durchgehen muss und die an die Welt selbst gewendet wird. Denn dass das sinnlich wahrnehmende, individuelle Subjekt das Bewusstsein der Freiheit besitzt und eben deshalb von der Regierung verdächtigt und vernichtet wird, bedeutet, dass die Welt selbst, die diese Gewalt antut, absurd ist und negiert werden soll. Dieser Widerspruch führt aber umgekehrt zur Bestätigung der Seinsweise dessen, der vertilgt wird. Der im Gegensatz zur wirklichen Regierung Stehende ist seinerseits auch der allgemeine Wille, solange er das Bewusstsein der Freiheit hat. Dieser Wille selbst wird nicht auf
der Guillotine vernichtet. Durch die Tragödie, dass der Widerstrebende leiblich vernichtet wird, beweist sich der allgemeine Wille. Wenn die-
ses Moment des Umschlags im »Schrecken des Todes« enthalten ist, dann ist es kein Wunder, dass dieses Sinnliche durch dessen negative Gestalt hindurch zur ungemeinsamen »Sym-pathie« der Masse wird, sich unter dieser Masse verbreitet und als der sich entfremdete Geist zur Energie der Selbstbefreiung wird. Das Sinnliche im sich entfremdeten Geist geht in dieser ihrer Tiefenschicht als die Tiefenschicht des Geistes selbst auf.
137
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
4.3.
Der seiner selbst gewisse Geist —
Die Sym-pathie mit dem absolut Anderen
4.3.1.
Moralische Weltanschauung
Der entfremdete Geist erfuhr in der Politik der absoluten Freiheit den Schrecken des sinnlosen Todes. Dieser Schrecken war das Gefühl des Individuums, das enthauptet wurde, zugleich aber die Stätte, wo sich der Geist selbst als Ausdruck solcher Welt spiegelte. In ihm schaute sich der Geist an und sah, dass er nicht in diesem Seinsmodus stehen bleiben kann und sich ändern muss. Die äußerste Negativität des Todes schlägt auf der über die Sterbenden hinausgehenden, überindividuellen
Ebene in die absolute Positivität um: »und der bedeutungslose Tod, die unerfüllte Negativität des Selbsts, schlägt im inneren Begriffe zur absoluten Positivität um« (440). Der in diese Positivität umgeschlagene Geist ist die »Moralität«. Der Umschlag des Geistes in diesen Seinsmodus ist verbunden mit dem Wechsel der »Bühne« des Geistes; »so
geht die absolute Freiheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewussten Geistes über« (441). Zwar werden keine Ländernamen angegeben, aber es ist klar, dass mit diesen Worten der Übergang vom Land der Französischen Revolution zu dem Land, in dem die Kantische Moralphilosophie entstand, angesprochen
wird. Wie wir sehen werden, vertieft sich der Geist der moralischen Weltanschauung ins »Gewissen« und dessen »schöne Seele«, und das
typische Beispiel der letzteren ist wiederum in der deutschen Romantik zu finden. Der Prozess des Erscheinens des Geistes dort ist der Prozess des »Sinnlichen«, das sich an die Stufe der »Religion« anschließt. Um
diesen Prozess zu begreifen, muss besonders auf das Wort
»selbst« geachtet werden. Zwar ist dieses Wort beispielsweise auch im
Ausdruck »Selbstbewusstsein« enthalten, aber es ist das Kapitel des »Geistes«, in dem es sich konzentriert und in einem wesentlichen
Sinnzusammenhang gebraucht wird. Seitdem bleibt dieses Wort bis zum Kapitel des »absoluten Wissens« das Schlüsselwort. Es bedeutet das »Selbst«, das sich durch das »Bewusstsein«, das »Selbstbewusst-
sein« und die »Vernunft« hindurchzieht. Das Selbst ist in diesem Sinne das Wesentliche des »Geistes«. Es ist darum vom »Ich« zu unterscheiden, das sich dem Anderen bzw. dem Gegenstand entgegensetzt. Das Selbst ist der Geist selbst, der die Andersheit aller Gegenstände als das Moment des eigenen Seins begriffen hat. Dieser Geist ist auch nicht 138
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
der Geist im heutigen Sinne, d. h. das individuell-innerliche Gebiet des Individuums. Er ist der »erscheinende« Geist, indem er sich zu den
Weltgestalten wie der »sittlichen Welt«, »Aufklárung«, »Revolution«
usw. äußert. Das eigentliche, im engen Sinnes des Wortes verstandene
Gebiet der »Phánomenologie des Geistes« geht hier auf. Weiterhin ist das Wort »Gewissheit« in der jetzt vorkommenden Wendung des »seiner selbst gewissen Geistes« von der Gewissheit zu unterscheiden, die in der Wendung der »sinnlichen Gewissheit« enthalten ist. Ebenso ist es zu unterscheiden von der subjektiven Gewissheit des »Selbstbewusstseins«, das sich der selbigen Wesensnatur be-
wusst und gewiss ist, die sein Gegenstand hat. Diese subjektive Gewissheit wurde auf der Stufe der »Vernunft« zur objektiven erho-
ben, aber diese blieb als die »Substanz« vorgestellte, objektive Wahr-
heit und ist noch nicht die Wahrheit als »Subjekt«. Anders gesagt, sie
war noch nicht die Wahrheit, wie sie vom »Weltgeist« selbst, der »von
der Welt her sieht«, als dessen eigene Erscheinungsform, als begriffene Wahrheit aufgefasst wurde. Der Geist, der sich als »Substanz« und zugleich als »Subjekt« begriffen hat, erscheint in den Gestalten der wirklichen Welt. In der lebendigen, wirklichen Welt ist das Wirkliche geistig, und das Geistige
wirklich. Es gilt sogar: »Das Geistige allein ist das Wirkliche« (28).
Darum umschließt die im »Geist« erreichte Gewissheit sowohl das subjektiv-innerliche als auch das objektiv-äußerliche Gebiet. Die heutige Wendung des Wortes »Geist« meint nur das erstere und nicht das letztere. Aber hier ist die Gewissheit des Geistes die »Ge-wissheit«,
d.h. das »Ge-wissen« im Sinne des gesamten Wissens der Welt (genitivus subjectivus und objectivus).
Das »Gewissen« in der gewóhnlichen Wendung bedeutet die moralische Einstellung, und in der Tat wird ein wichtiger Teil im Kapitel
des »Geistes« diesem Gewissen gewidmet. Wir werden an der Stelle, an
der dieses behandelt wird, diesen moralischen Geist nochmals erwäh-
nen und darstellen, dass das Gewissen das sämtliche »Wissen« des Sub-
jekts und Objekts im Ganzen ist und, wie das Wort in der allgemeinen
Wendung zeigt, eine moralische »Gesinnung« bedeutet und als solche »sinnlich« ist. So wird im Ausdruck des »seiner selbst gewissen« Geistes schon der Weg zum geistigen Standpunkt des »Gewissens« impli-
ziert. Auf diesem Weg legt das »Sinnliche« die äußerliche Seinsweise der sinnlichen Empfindung und Wahrnehmung der Außenwelt ab, um die »Gesinnung« des Weltgeistes selbst auszubilden. Wenn diese ge139
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
nannten Bemerkungen ins Auge gefasst werden, so wird der Weg des seiner selbst gewissen Geistes als das ausgezeichnete Stück der »Phänomenologie des Geistes zum Sinnlichen« in den Vordergrund kom-
men.
Die erste Gestalt dieses Geistes ist die »moralische Weltanschau-
ung«. Um zu sehen, was mit »moralisch« gemeint wird, werfen wir
einen Blick auf die Kantische Moralphilosophie. Sie lässt sich kurz als
die Wissenschaft bezeichnen, die das »höchste Gute« erörtert. Dieses ist, um es wiederum kurz zu bezeichnen, die allerletzte Harmonie von
»Glückseligkeit« als Summe der Befriedigung aller Neigungen einerseits und »Tugend« als der Verwirklichung des moralisch-vernünftigen Prinzips andererseits. Denn: »Glücklich zu sein, ist notwendig das Ver-
langen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens«. Es ist die höchste Aufgabe der Kantischen Moralphilosophie, so kónnte man sagen, diskursiv zu beweisen, dass der Vollzug der Pflicht als des moralischen Gesetzes, das die autonome Vernunft sich selbst befiehlt, zum »hóchs-
ten Guten« als der Harmonie von Tugend und Glückseligkeit führt. Die sinnlichen Triebfedern als die Natur des Menschen und die entsprechenden Taten, um diese zu befriedigen, kónnten zwar die Glückseligkeit herbeiführen, nicht aber die Moral. So sagt Hegel, dass die moralische Weltanschauung »in der Beziehung des moralischen Anundfürsichseins und des natürlichen Anundfürsichseins besteht« (443). Das moralische Anundfürsichsein entspricht der »Tugend«, während das natürliche Anundfürsichsein den sinnlichen Triebfedern
des Menschen entspricht, der die Glückseligkeit verfolgt. Dem mora-
lischen Bewusstsein, das sich die »Pflicht« als den kategorischen Imperativ aufgibt, stehen die sinnlichen Triebfedern als das Negative gegen-
über Das Postulat der »Harmonie von Tugend und Glückseligkeit« geht also vom »Widerstreit der Vernunft und der Sinnlichkeit« (446) aus.
Hier beginnt eine grundsätzliche Überprüfung, die sagt, dass die
postulierte Harmonie nichts anderes als eine gedachte ist und nicht in Wirklichkeit existiert. Damit das Postulat sinnvoll wird, muss es an ein
anderes Postulat angeschlossen werden, »dass die Sinnlichkeit der Mo-
ralität gemäß sei« (446). Die beiden betreffen je den Endzweck der Welt und des Selbstbewusstseins. »Das erste Postulat war die Harmo^ Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, I. Buch, I. Hauptstück,
83, Anmerkung Il.
140
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
nie der Moralität und der gegenständlichen Natur, der Endzweck der
Welt; das andere die Harmonie der Moralität und des sinnlichen Wil-
lens, der Endzweck des Selbstbewusstseins als solchen« (447). Die mo-
ralische Weltanschauung muss diese zwei Postulate als notwendige Be-
dingung annehmen. Jedoch ändert die Verdoppelung des Postulates die Situation nicht grundsätzlich;
sie
verstärkt
vielmehr
den
Postulatscharakter.
Das
höchste Gut als die Vollendung der Moralität wird ins Unendliche aufgeschoben als die Aufgabe, die nicht in der Wirklichkeit erreicht werden kann. Angesichts dieser Überprüfung bringt die Moralphilosophie das dritte Postulat: »ein Herr und Beherrscher der Welt, der die Har-
monie der Moralität und der Glückseligkeit hervorbringt« (449). Die moralische Weltanschauung schließt mit diesem dritten Postulat ab. Sie kann in drei Sätzen zusammengefasst werden. Der erste Satz lautet: »es gibt kein moralisch vollendetes wirkliches Selbstbewusstsein« (452). Der zweite Satz, »dass es kein moralisch Wirkliches gibt« (ibid.). Diese zwei Sátze negieren einfach die Moralphilosophie. Aber das »Selbst« als Schlüsselwort im Kapitel »Geist« gibt den Grund für die Moralphilosophie, die nicht einfach in eine Fiktion verfallen soll. Denn das moralisch Wirkliche ist ein Selbst. Es ist »an sich die Einheit der
Pflicht und der Wirklichkeit; diese Einheit wird ihm also Gegenstand, als die vollendete Moralität, — aber als ein Jenseits seiner Wirklichkeit,
— aber das doch wirklich sein soll« (452). Dies gilt als dritter Satz. So lässt das »Selbst« die Moral als die Welt des »Sollens« bestehen, aber
als Nicht-Wirklichkeit. Da die moralische
Weltanschauung
letztlich sich des Wider-
spruchs, die Nicht-Wirklichkeit als Wirkliches zu setzen, nicht entledi-
gen kann, wird sie als »ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche«
(453) bezeichnet, ein Ausdruck, den Hegel den »Kantischen Ausdruck« nennt. Er kommt im Abschnitt »Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Gottesbeweises«. Hegel verwendet also die Kantische Kritik am kosmologischen Gottesbeweis in seiner eigenen Kritik am Kantischen Gedanken des Postulates vom Herrn und Beherrscher der Welt. Kant negierte den »Beweis« dieses absoluten Wesens, aber nicht dieses
Wesen, sondern er postulierte es. Hegel kritisierte diesen Postulats-
charakter selbst.
55 Bei Kant lautet der Ausdruck allerdings: »ein ganzes Nest von dialektischen AnmaBungen« (A609, B637).
141
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Wie ist es mit dem »Sinnlichen« in dieser moralischen Weltanschauung? Es wird im dritten Postulat, das diese Weltanschauung abschließen soll, ausgedrückt. Der »heilige Gesetzgeber der reinen Pflicht« (449) soll die Pflicht »heiligen«. Dies muss heißen, dass auch die mit dieser Pflicht harmonische Glückseligkeit »heilig« ist. Die Glückseligkeit wird nicht im Wissen erreicht; sie wird als der Inhalt des Sinnlichen gefühlt. Das Sinnliche, das die geheiligte Glückseligkeit
fühlt, kann also nicht auf der Ebene der sinnlichen Triebfeder oder der
instinktiven Begierde stehen bleiben. Es kann »die Glückseligkeit nicht notwendig, sondern als etwas Zufälliges ansehen und sie nur aus Gnade erwarten« (450). Hierin wird angekündigt, dass das Sinnliche sich bald in die Dimension der »Religion« vertieft. In der Tat folgt dem Abschnitt »Geist« der Abschnitt »Religion«. Jedoch muss das Bewusstsein der moralischen Weltanschauung die »Verstellung« erfahren. Diese bedeutet, in das bewusste oder unbewusste Verfahren beim Setzen eines Momentes ein gegensätzliches Moment hineinzubringen, um der Problematik des ersten Momentes auszuweichen und, wenn die Problematik dadurch nicht gelóst wird, ein weiteres gegensätzliches Moment hineinzubringen. Die »Verstellung« besteht darin, das als wahr auszusagen, was nicht wahr ist. Die oben gesehenen drei Postulate kónnen als solche Verstellungen angesehen werden. Wenn der Kernpunkt so klar und einfach ist wie oben dargelegt, darf auf die Rekonstruktion der an sich sehr ausführlichen
Darstellung im Text verzichtet werden. Es ist nur darauf hinzuweisen,
dass diese Verstellung nicht das bloß Negative, sondern im Hinblick auf das Ganze der Entwicklung des Geistes auch das positive Moment ist. Das moralische Bewusstsein, das diese »Verstellung« macht, weiß nämlich in Wirklichkeit, dass es heuchelt, und dieses Wissen ist das
Ge-wissen. »Aber als moralisches reines Selbstbewusstsein flieht es
aus dieser Ungleichheit seines Vorstellens mit dem, was sein Wesen ist, aus dieser Unwahrheit, welche das für wahr aussagt, was ihm für unwahr gilt, mit Abscheu in sich zurück. Es ist reines Gewissen, welches
eine solche moralische Weltvorstellung verschmäht« (463/4).
4.3.2.
Das Gewissen
Es wird gewóhnlich nicht so sehr beachtet, dass die moralische Gesin-
nung des »Gewissens« mit dem Gefühl der »Abscheu« und des » Ver-
schmáhens« verbunden wird. Diese Gefühle bezeugen aber, dass das 142
Geist -- Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
»Gewissen«, das sonst als dem Leben gegenüber asketisch vorgestellt
wird, in Wirklichkeit der Geist ist, und zwar der lebensnahe Geist. Die
Abscheu und das Verschmähen sind nicht bloß psychologisch-individu-
elle Gefühle, sondern »Weltgefühle« bzw. die Modi der Welt, die sich
an den Individuen stimmungsmäßig zeigen. Die Seinsweise der Welt
selbst enthält die »Verstellung«, und das Gefühl, in dem die Welt sich
spiegelt oder sich zeigt, ist das Gefühl von » Abscheu« und » Verschmá-
hen«. Wenn also diese Gefühle umschlagen, so ist das auch der Um-
schlag der Seinsweise der Welt, d.h. ins »Gewissen«. »Dies Selbst des Gewissens, der seiner unmittelbar als der absoluten Wahrheit und des Seins gewisse Geist, ist das dritte Selbst, das uns aus der dritten Welt
des Geistes geworden ist« (465). Das erste und zweite Selbst drücken je eine Seite der Antinomie der moralischen Weltanschauung aus. Das erste Selbst ist das des Bewusstseins, das meint, dass es reine Pflicht gibt. Das Selbst des Bewusstseins wird als solches zugleich als Sein und Wirklichkeit angesehen. Dagegen ist das zweite Selbst das des Bewusstseins, das die reine Pflicht als nur im Jenseits gültig betrachtet. Die Wirklichkeit muss als die Totalitát des Ganzen dieser zwei Seiten der Antinomie gefasst werden. Das Wissen dieser Totalitát, das Wirkliche zugleich als reines Wissen und reine Pflicht zu fassen, ist das »Gewissen« als das dritte Selbst.
Auch auf dieser dritten Stufe lässt sich die weitere Bewegtheit des
Sinnlichen erkennen. So ist zuerst das Gefüge der Bewegung des Gewissens zu beachten. Die Darstellung des Abschnittes vom »Gewissen« allein hat, wie auch die vorangegangenen zwei Abschnitte des »Geis-
tes«, einen größeren Umfang als das Kapitel vom »Selbstbewusstsein«.
Die Zusammenfassung muss insofern grob bleiben. Aber die grobe Zusammenfassung bedeutet nicht immer die Verdünnung des Inhaltes. Denn die Darstellung des »Geistes« enthält die strukturelle Wiederholung der bisherigen Entwicklungen, so dass, wenn diese Wiederholungsstruktur ins Auge gefasst wird, die einzelnen Punkte gegebenenfalls abstrahiert werden kónnen. Z.B. ist das Gewissen eine Wiederholung der »sinnlichen Gewissheit«. Es ging mit Abscheu aus
der » Verstellung« des moralischen Bewusstseins in sich zurück, um die
Trennung der reinen Pflicht und der sinnlichen Wesensnatur aufzuhe-
ben. Es ist ein sich verwirklichendes moralisches Wesen. Das Handeln des Gewissens ist unmittelbar konkrete moralische Gestalt. Das moralische Bewusstsein »ist der Fall unmittelbar in der sinnlichen Gewissheit des Wissens« (466). 143
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Aber im Fall des Handelns in der Wirklichkeit stehen verschiedene Pflichten gegeneinander, so dass das Gewissen nicht die bestimmte
Pflicht, sondern nur »reine Pflicht« beabsichtigt. Das moralische Be-
wusstsein ist sich dieser reinen Pflicht unmittelbar bewusst, und zwar als seines »Selbst«. Dieses Selbst des Gewissens ist »als reines sich selbst gleiches Wissen das schlechthin Allgemeine« (469). Es sei daran zu erinnern, dass die »Wahrnehmung«, die der »sinnlichen Gewissheit« folgte, das Bewusstsein war, das den Gegenstand in dessen All-
gemeinheit fassen will. Hier wird also diese »Wahrnehmung« wiederholt. Allerdings handelt es sich um die Wiederholung auf der Stufe des »Geistes«. Der Inhalt des Wissens ist also nicht der Gegenstand des Bewusstseins, sondern die »Pflicht« als das Allgemeine, die Wahrheit
der moralischen Welt. »Die Pflicht ist nicht mehr das dem Selbst gegenübertretende Allgemeine, sondern ist gewusst, in dieser Getrenntheit kein Gelten zu haben; es ist jetzt das Gesetz, das um des Selbsts
willen, nicht um dessen willen das Selbst ist« (469). Das »Gesetz« war der Seinsmodus des Gegenstandes auf der Stufe des » Verstandes«. Dieser als die dritte Stufe des »Bewusstseins« wird also hier wiederholt. Es ist spontan zu erwarten, dass hiernach die Wiederholung des »Selbstbewusstseins« folgt. In der Tat ist die Pflicht, wenn sie das allgemeine Gesetz ist, nicht das blof individuell moralische Bewusstsein. In der Perspektive ihres Selbstbewusstseins muss das Andere enthalten
sein; sie ist das Sein für Anderes; »sie ist das wesentliche Moment, als
Allgemeinheit sich zu anderen zu verhalten. Es ist das gemeinschaftliche Element der Selbstbewusstsein(e)« (470). Dieses Element wird auch »das Moment des Anerkanntwerdens von den anderen« genannt. Das gegenseitige Anerkennen, das im Verhältnis von Herr und Knecht als Gestalt des »Selbstbewusstseins« aufgezeigt wurde, wird also hier wiederholt. Der Vollzug der Pflicht als des Seins für Anderes ist ein Handeln. Die Momente
der »sich selbst verwirklichenden Vernunft«,
die der
»beobachtenden Vernunft« folgten, werden in diesem Handeln wiederholt. Bei jener Vernunft brachte das vom »Gesetz des Herzens« ausgehende Handeln für Anderes die Abkehr von diesem Anderen. Aber beim moralischen Bewusstsein ist »eben das Pflichtmäßige das Allgemeine aller Selbstbewusstsein(e), das Anerkannte und also Seiende« (470). Auch der Standpunkt des »geistigen Tierreichs«, in dem das natürliche Tun und Lassen als die Wahrheit genommen werden, wird
in der Pflicht als das »Allgemeine« wiedergegeben. So werden im 144
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
»Gewissen« die bisherigen Stufen des Bewusstseins wiederholt. Das
Gewissen ist so die Macht, die Sache selbst in ihrer Fülle zu fassen. »Es ist diese Macht dadurch, dass es die Momente des Bewusstseins
als Momente weiß und als ihr negatives Wesen sie beherrscht« (471).
Das Gewissen enthält auf diese Weise die bisherigen Stufen des
»Wissens« in sich. Dann muss dasselbe auch vom »Sinnlichen« gesagt
werden kónnen, das es überspannt. In der Tat: »Es bestimmt aus sich selbst; der Kreis des Selbsts aber, worein die Bestimmtheit als solche
fällt, ist die sogenannte Sinnlichkeit« (473). Die eigene Familie zu schützen ist Pflicht, aber auch dem
Nächsten
Gutes zu tun. Wenn
man um dieser Pflicht willen sich bemüht, sein Vermógen mit allen Mitteln zu vermehren, so kann es dazu kommen,
dass die Anderen
unter Umständen diese Mittel als ungerecht empfinden. das Gewissen in der Kraft der Gewissheit seiner selbst der absoluten Autarkie, zu binden und zu lósen« (476). sich mit den Anderen auseinandersetzt, so begegnet es die selbst sinnliche Triebfedern und Neigungen haben.
Einerseits hat »die Majestát Aber wenn es den Anderen, Es kann vor-
kommen, dass die Anderen die Seite des Bewusstseins des Gewissens
nicht immer moralisch für gut und freundlich halten, sondern vielmehr für bóse und feindselig nehmen. Das Gewissen ist wegen seiner Majestát der absoluten Autarkie der Gottesdienst in sich selbst. »Dieser einsame Gottesdienst ist zugleich wesentlich der Gottesdienst einer Gemeinde« (481), da das Gewissen das Sein für Anderes ist. So gilt innerhalb dieser Gemeinde: »Der Geist und die Substanz ihrer Verbindung ist also die gegenseitige Versicherung von ihrer Gewissenhaftigkeit, guten Absichten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit und das Laben an der Herrlichkeit des Wissens und Aussprechens, des Hegens und Pflegens solcher Vortrefflichkeit« (481). Aber dieser Gottesdienst ist, auch wenn er — oder weil er — die vornehme Pflicht des Dienstes an Gott zu seinem Inhalt hat, ein Selbstbewusstsein, das die
sákulare Welt außerhalb der Gemeinde mit einem Mal übersteigt. Je reiner die am Gottesdienst Teilnehmenden sind, desto mehr sieht man
»hiermit hier das Selbstbewusstsein in sein Innerstes zurückgegangen, dem alle Äußerlichkeit als solche verschwindet« (482). Die Anwesen-
den werden zur Reinheit geláutert, und darin liegt der Sinn des Gottesdienstes, aber wenn dieser zu Ende geht, verlassen sie die Gemeinde
und gehen in die Alltagswelt. Wenn die Diskrepanz zwischen Gottesdienst und Alltagswelt zu groß wird, bekommt das Selbstbewusstsein die »Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein 145
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
zu beflecken; und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht
es die Berührung der Wirklichkeit« (483).
4.3.3.
Schóne Seele
Das Bewusstsein, das so rein ist, dass es die Berührung der Wirklichkeit
vermeidet, um seine Reinheit beizubehalten, ist die »unglückliche sogenannte schóne Seele« (484). Es wurde bisher von den Forschern darauf hingewiesen, dass mit der »schónen Seele« auf das Bewusstsein der deutschen Romantik, vertreten durch »Heinrich von Ofterdingen« von Novalis, oder deren Quelle, die sich nach dem Schónen sehnende
Seele in den Platonischen Dialogen »Politeia« und »Symposion«, angespielt wird. Innerhalb des Kontextes der Phánomenologie des Geistes wird hier das »unglückliche Bewusstsein« teilweise wiederholt. Wichtiger als dieser historische Blick ist für die vorliegende Betrachtung des Sinnlichen, den Grund einzusehen, in welchem Sinne die »schóne See-
le« unglücklich ist. Ihr Unglück liegt darin, dass das Gewissen als das
Wissen der Totalitát, wie bisher nachvollzogen wurde, sich im Konflikt
mit dem »Sinnlichen« befindet. So geht der Geist als die »schóne Seele« zum »Handeln« über. Dies ist die Wiederholung des Übergangs von der »betrachtenden« Vernunft zur »tátigen«, die versucht, die Sackgasse des Standpunktes der »Betrachtung« zu durchbrechen. Das Handeln bedeutet, dass das Subjekt außer sich geht und sich zu Anderen verhält. Darum will die schöne Seele den Kontakt mit der
Außenwelt eher vermeiden, da sie es nicht für gut befindet, von der
trüben Außenwelt ihre Reinheit beflecken zu lassen. Sie verschließt sich in sich, wodurch aber notwendigerweise der Gegensatz zwischen
ihr und den anderen Individuen außer Acht gelassen wird. Zwar sollte das Gewissen das allgemeine Bewusstsein sein, aber durch seine Aus-
flucht verschwindet seine Allgemeinheit; »diese allgemeine Gleichheit zerfällt in die Ungleichheit des einzelnen Fürsichseins« (484). Jedes individuelle Bewusstsein ist aus seiner Allgemeinheit ebenso schlechthin in sich reflektiert. Aber das Gewissen als das gesamte Wissen muss
andererseits diese Ungleichheit seines Insichseins mit dem Allgemeinen im Auge behalten, und es muss paradoxerweise sein Anderes
wissen. Dieses Wissen wird in der Weise einer »ungemeinsamen Sympathie« erreicht.
Das Gewissen erfährt, dass das ebenfalls für sich seiende Andere
als das mit ihm ungleiche auftritt. Da das Gewissen das allgemeine 146
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
Bewusstsein ist, das die Pflicht als das Gesetz weiß, ist das andere Be-
wusstsein, das ihm entgegensteht, das Bewusstsein gegen die Pflicht als das Allgemeine. Das Gewissen, das am Allgemeinen festhält, findet das Andere bóse. »Diesem Festhalten an der Pflicht gilt das erste Bewusstsein als das Bóse« (485). Das Problem des Bósen trat in der griechischen Philosophie auf
der Ebene der »Ungerechtigkeit« gegenüber der »Gerechtigkeit« auf,
wurde aber nicht als Problem gefasst, das in der Wesensnatur des Men-
schen tief verwurzelt ist. Erst in der mittelalterlich-christlichen Theo-
logie tritt dieses Problem im Zusammenhang mit der Theodizee, dem
Diskurs der Gerechtigkeit Gottes, auf, und zwar als die größte Aporie
der Schópfung als des Werkes vom absoluten und guten Schópfergott. Die Abhandlung Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von Schelling, in der das Problem des »Bósen«
durch tiefe Spekulation gefasst wird — was Hegel selber, wenn auch nicht ohne Kritik, anerkannte% —, ist ein Markstein für die Problem-
geschichte. Sie enthält die Absicht, die einst von Hegel aufgenommene philosophische Initiative zu vindizieren. Dies bedeutet, dass das Problem des »Bósen« zumindest in den Augen Schellings in der Phánomenologie des Geistes nicht radikal genug behandelt wurde, ebenso wenig
wie das Problem der Freiheit. Hier ist nicht der richtige Platz, um auf
dieses Problem einzugehen. Hier genüge nur der Hinweis darauf, dass das Problem des »Bósen« zwar in der Phánomenologie des Geistes kein grofes Gewicht hat, aber für unsere »Phánomenologie des Geistes zum Sinnlichen« von großer Bedeutsamkeit ist und einige Überlegungen im Kapitel zum »Absoluten Wissen« versucht werden. Angesichts des »Bósen« gabelt sich das Gewissen in zwei Gestalten. Das eine ist das »handelnde Bewusstsein« und das andere das »beurteilende Bewusstsein«. Das erstere spricht sein bestimmtes Tun als Pflicht aus, aber das letztere setzt »die Handlung aus ihrem Dasein
heraus und reflektiert sie in das Innere oder in die Form der eigenen Besonderheit« (488). Sie erklárt die Handlung aus der »Ruhmsucht«,
der »Ehrbegierde«, dem »Trieb nach eigener Glückseligkeit« usw. Kei3% G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Werke, Bd. 20, S. 453: »Schelling hat eine einzelne Abhandlung über die Freiheit bekannt gemacht, diese ist von tiefer, spekulativer Art; sie steht aber einzeln für sich, in der Philosophie kann nichts Einzelnes entwickelt werden«. Dazu vgl. auch den Verfasser, »Der Ungrund und das System«, in: F. W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit, hrsg. von O. Hóffe u. A. Pieper, Akademie Verlag, Berlin 1995, S. 235-252.
147
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
ne Handlung kann sich diesem beurteilenden Bewusstsein entziehen. »Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener« (489), und zwar nicht
deshalb, weil der Held kein Held ist, sondern weil er vom Diener »nicht als Held, sondern als Essender, Trinkender, sich Kleidender« (ibid.) usw.
vorgestellt wird. Solange die Handlung die eines Individuums ist, wird sie von den Triebfedern des Individuums begleitet, und dies wird vom
beurteilenden Bewusstsein eingesehen. Das bedeutet aber nicht, dass
das beurteilende Bewusstsein hóher als das handelnde Bewusstsein ist.
Das erstere ergibt sich vielmehr aus der Heuchelei, die »sein tatloses
Reden für eine vortreffliche Wirklichkeit genommen wissen will« (ibid.). Es ist eher »niedertráchtig«. Das im »sich entfremdeten Geist« vorgekommene »niedertráchtige Bewusstsein« wiederholt sich hier. Wenn wir hier das Gewissen im Hinblick auf die »ungemeinsame Sym-pathie« betrachten, so ist es zunáchst die ungemeinsame, aber auf der gemeinsamen Basis des Geistes bestehende Gesinnung, die an die »Gemeinsamkeit« mit dem Anderen glaubt, die dem »Gegensatz« zugrunde liegt. Dies gilt besonders vom beurteilenden Bewusstsein, das die niedertráchtigen Triebfedern im Anderen kritisiert, aber zugleich auch in sich selbst die gleiche niedertráchtige Absicht findet. Es erkennt die Gleichheit mit dem Anderen und gesteht ihm diese Gleichheit mit der Erwartung, dass auch der Andere sein Unrecht gesteht, so dass das gegenseitige Anerkennen zustande kommt. Aber genau betrachtet, erkennt das beurteilende Bewusstsein das
Andere nur am Maßstab seiner eigenen Beschaffenheit als mit sich gleich. Für das handelnde Bewusstsein ist diese Gleichsetzung eine Form von aufdringlicher Freundlichkeit. Ihm ist die Rede von der Gleichheit am Ende nichts mehr und nichts weniger als ein bloßes Reden und noch kein Handeln. Das beurteilende Bewusstsein macht sein Geständnis nicht als eine Erniedrigung. Es spricht so, »weil die Sprache das Dasein des Geistes als unmittelbaren Selbsts ist« (490).37 Aber dies ändert nichts daran, dass das Urteilen anhand des eigenen Maßstabs
gemacht wird. So hat das handelnde Bewusstsein keinen Grund, dem
Eingestándnis des Anderen zu folgen und zu sagen: »Ich bin's«: »im
Gegenteil! Es stößt diese Gemeinschaft von sich und ist das harte Herz, das für sich ist und die Kontinuitát mit dem Anderen verwirft« (490). So muss es sich mit dem Anderen überhaupt verhalten. Die Ungemein7 Hegel äußert diese Sprachauffassung in der Phänomenologie des Geistes mehrmals, ohne sie zu thematisieren. Vgl. S. 478, 490, 518, 520, usw.
148
Geist — Das Sinnliche auf der Ebene des Sittlichen
samkeit mit dem Anderen stammt aus dem ursprünglichen Sein des Anderen als des Anderen. Das Bewusstsein, das billig die Kontinuität mit dem Anderen setzt, kann »die hóchste Empórung des seiner selbst gewissen Geistes« (ibid.) herbeiführen. Dabei braucht das Gewissen
sich seiner eigenen Kraftlosigkeit nicht bewusst zu werden, solange es
nur so weit geht, die Ungleichheit mit dem Anderen zu sehen, über das
harte Herz des Anderen zu klagen und als »wirklichkeitslose schóne
Seele« (491) zu verharren. Das Gewissen hat Ruhe, solange es als schó-
ne Seele bleiben kann, muss aber bald unvermeidlicherweise der harten
Wirklichkeit ausgesetzt und in seiner Kraftlosigkeit bloßgestellt werden. Das Bewusstsein der schöne Seele wird also, »in seiner unversöhnten Unmittelbarkeit, zur Verrücktheit zerrüttet und zerfließt in sehn-
süchtiger Schwindsucht« (491). Die ungemeinsame Sym-pathie spiegelt hier in sich eher die Diskontinuitát und Ungleichheit mit dem Anderen als die Gemeinsamkeit wider. Wenn die Versóhnung zustande kommen soll, so ist die erste Bedingung das »Brechen des harten Herzens« (492) und die weitere Bedingung die »Verzeihung«. Sie beginnt damit, dass das beurteilende
Bewusstsein das Handeln, das es vorhin als »bóse« beurteilt hatte, als
»gut« anerkennt. Wenn dieses Anerkennen die Abtrünnigkeit oder der
Kompromiss ist, wird das Ergebnis eitel, wie vorhin beim Urteil der
Gleichheit mit dem Anderen anhand der eigenen Beschaffenheit. Im Text wird aber gesagt, dass das allgemeine Bewusstsein »diesen Unterschied des bestimmten Gedankens und sein fürsichseiendes bestimmendes Urteil fahren lässt« (492). Um diese abstrakte Formulierung aufzulósen und locker zu beschreiben, ist erstens das allgemeine Bewusstsein das moralische, das sich als allgemein betrachtet. Es nimmt
die Gestalt des beurteilenden Bewusstseins an, aber zugleich sieht es,
dass der Gedanke dieses Bewusstseins der bestimmte ist. Es sieht ande-
rerseits auch, dass sein Anderes, das handelnde Bewusstsein, für sich
seiend ist und das eigene Urteil zum Handeln bestimmt. Dieses allgemeine Bewusstsein lásst den Unterschied zwischen dem beurteilenden und handelnden Bewusstsein fahren. Dieses »Fahren-lassen« entsteht erst dadurch, dass das beurteilende Bewusstsein zum Gewissen als das sämtliche Wissen zurückkommt, ebenso »wie das Andere das
fürsichseiende Bestimmen der Handlung« (ibid.) fahren lásst. In sem »Fahren-lassen« wird jedes der beiden Bewusstseine so sein lassen, wie es ist, so dass jedes sich seiner eigenen Bestimmtheit wusst wird und anerkennt, dass das Andere »gut« ist. »Das Wort
diegebeder 149
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, — ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist« (493). Wenn dieses gegenseitige Anerkennen wirklich besteht, so ist es die große Verwirklichung der »ungemeinsamen Sym-pathie«. Diese ist das »Große Mitgefühl«, in dem das Andere trotz aller grundsätzlichen Fremdheit dennoch anerkannt und umspannt wird. Es sei angemerkt, dass der Ausdruck »Großes Mitgefühl« die stehende Übersetzung des mahayana-buddhistischen Terminus »Hi« (engl: »profound compassion«) ist. Allerdings ist es noch zu früh, diesen buddhistischen Begriff eingehend zu behandeln. Zuvor gilt es zu zeigen, dass die »ungemeinsame Sym-pathie« entscheidend für den Übergang vom »Geist« zur »Religion« ist. Denn das »versóhnende Ja«, worin beide Bewusstseins-
gestalten von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, wird »der erscheinende Gott« (494) genannt. Mit diesem Ausdruck zeigt sich das »Subjekt« der ungemeinsamen Sym-pathie als »Gott« bzw. als der absolute Geist.
5.
Religion — Sym-pathie in der unendlichen Differenz von Gott und Mensch
5.1. Stelle und Bedeutung der Religion Etwa fünf Jahre vor dem Erscheinen der Phánomenologie des Geistes verfasste Hegel die Abhandlung »Glauben und Wissen«. Dort stellte er fest, dass die »Entgegensetzung von Glauben und Wissen einen ganz anderen Sinn gewonnen hat und nun innerhalb der Philosophie selbst verlegt worden ist«,?® und versuchte, ausgehend von der Kritik an Kant, Jacobis und Fichtes Gegensatz von Glauben und Wissen in der Spekulation zu überwinden. Er eróffnete, indem er den Gedanken Pascals vom »verlorenen Gott« (un Dieu perdu) heranzieht, dass die Reli-
gion der neuen Zeit auf dem »unendlichen Schmerz, das Gefühl: Gott
selbst ist tot« beruht.? Dieses Gefühl, das Pascal »empirisch« aussprach, ist die Sache der »Religion« bzw. des Glaubens. Die Frage ist, 38 G. W. Ε Hegel, »Glauben und Wissen«, in Werke, Bd. 2, S. 287. 39 Ibid., S. 432.
150
Religion — Sym-pathie in der unendlichen Differenz von Gott und Mensch
was es mit der »Philosophie« bzw. dem Wissen zu tun hat. Hegel erörterte, dass dieser unendliche Schmerz zur philosophischen Existenz im Sinne des »Moments« der höchsten Idee gemacht werden soll. Damit
wird der heilige Karfreitag, der sonst als historische Tatsache verstanden wird, in der Philosophie als »spekulativer Karfreitag« aufgefasst. Bei diesem Karfreitag geht es, so kann man verstehen, um den »Tod« im doppelten Sinne: einmal um den Tod Gottes, und dann um den Tod des vorstellenden Verstandes, um es mit der vom späteren Hegel öfters verwendeten Formulierung zu sagen, um die »Aufhebung der Vorstel-
lung in den Begriff«. Die wahre Spekulation kommt erst durch diesen
doppelten »Tod« zustande. Sie ist der Ort, in dem »Glauben und Wissen« oder »Religion und Philosophie« eins werden. Dieser »spekulative Karfreitag« kann auch als der Kern des Kapitels der »Religion« in der Phänomenologie des Geistes angesehen werden. Denn auch dort geht es um das Gefühl »Gott ist gestorben« und um die »Spekulation«, die dieses Gefühl zum Wissen erhebt. Das Gefühl ist im wesentlichen nichts anderes als das Sinnliche. Die Erhebung des Gefühls vom Tod Gottes zur Spekulation bedeutet umgekehrt, dass diese Spekulation die Tiefe des Sinnlichen zu ihrem Element hat. Wie dies geschieht und konkret aussieht, muss anhand des Textes erörtert werden. Ein Überblick über das Kapitel »Religion« soll zuerst gewonnen werden. Dieser Überblick lässt sich zunächst einfach wie folgt formulieren: »die Religion (ist) die Vollendung des Geistes, worin die einzelne Momente desselben, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft und
Geist, als in ihren Grund zurückgehen und zurückgegangen sind« (499). In den hier erwähnten Gestalten des Geistes zeigte sich die Religion jedes Mal in bestimmter Weise. Im Text werden als Beispiele das Übersinnliche im Bewusstsein, das unglückliche Bewusstsein im Selbstbewusstsein, die Religion der »Unterwelt« in der sittlichen Welt,
der Glaube und die Religion der Aufklärung sowie die Religion der
Moralitát im Geist usw. angegeben. Allerdings erscheinen sie nicht als
das absolute Wesen an und für sich. Dennoch gilt im wesentlichen, dass
»der Geist in seiner Welt und der seiner als Geist bewusste Geist oder
der Geist in der Religion dasselbe sind« (497). Das Werden der Religion
überhaupt ist in der Bewegung der allgemeinen Momente enthalten. Da aber die Religion »die einfache Totalitát oder das absolute Selbst«
(498) dieser Momente ist, zeigte sie sich in diesen Momenten nur in der bedingten Form. 151
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
Die im Kapitel »Religion« dargestellten Gestalten sind die »Na-
turreligion«, die »Kunstreligion« und die »offenbare Religion«. Mit
der ersten ist, soweit man an den angegebenen Beispielen sieht, die Religion im Orient gemeint, in der die Natur verehrt wird. Mit der zweiten Gestalt, mit der Hegel eine neue Perspektive zur griechischen Kunst eröffnet, wird diese Kunst als eine Gestalt der Religion gefasst. Die dritte und letzte ist das Christentum, wie man sofort versteht. Alle
drei entstanden je in einer bestimmten Geschichtswelt, wobei ihre äueren Charaktere bzw. sozialen Verhältnisse nicht eigens thematisiert
werden. Worum es im Grunde geht, ist das »Selbst«, das seit dem Ka-
pitel des »Geistes« als Schlüsselwort auftaucht und als der Grund des Geistes gilt und in das er, dessen Äußerung diese Geschichtswelt selbst
ist, zurückgeht. Darum wird, wie eben bereits zitiert, gesagt, »dass der
Geist in seiner Welt und der seiner als Geist bewusste Geist oder der Geist in der Religion dasselbe sind« (497). So »besteht die Vollendung der Religion darin, dass beides einander gleich werde, nicht nur, dass seine (des Geistes) Wirklichkeit von der Religion befasst ist, sondern umgekehrt,
dass er sich als seiner
selbst bewusster Geist wirklich und Gegenstand seines Bewusstseins werde« (497). Dass die Religion dieser ganze Geist ist, ist ein anderer
Ausdruck dafür dass er das Ganze der Momente wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft, Geist ist. Zugleich heißt dies, dass die Grundform der Erscheinung der wirklichen Welt, das Element der
»Zeit«, hier zum ersten Mal in den Vordergrund kommt. Sie setzt ihre
Momente Momente
als die bestimmten Gestalten derselben voraus, und diese sind nicht in der Zeit vorzustellen, sondern in einer Auf-
einanderfolge. »Der ganze Geist nur ist in der Zeit« (498), und er ist der Geist der Religion. Denn nur das Ganze hat seine eigentliche Wirklichkeit. Um ein Beispiel anzugeben, das allerdings nicht im Text gege-
ben wird: so hat ein ganzes Gebäude Teile wie Säule, Wand, Boden, Fenster usw., die nicht nacheinander erscheinen, sondern sich in einer
Aufeinanderfolge auf einmal und gleichzeitig finden. Sie sind aber nicht unabhängig. Nur das ganze Gebäude ist in der Zeit. Allerdings ist hinzuzufügen, dass das Gebáude eine Substanz ist und seine Teile
die Attribute, aber bei der Religion, in der der Geist in der Weise des Subjektes ist, die Momente nicht als Teile zu bezeichnen sind, sondern
besser als »Prádikate«. Im Text wird in diesem Sinne der Unterschied zwischen dem Geist als Substanz und dem Geist als Subjekt bzw. zwischen den Attributen und Prádikaten gemacht (501). Die Momente der 152
Religion -- Sym-pathie in der unendlichen Differenz von Gott und Mensch
Religion haben jedenfalls kein Dasein in der Zeit. Wenn es so ist, dann muss auch das Sinnliche in der Religion erst als das Ganze die Form der Zeit erhalten und in der Zeit erscheinen können. Das Werden der Religion ist die Bewegung, in der die Religion bestimmte Gestalten annimmt: die Naturreligion, die Kunstreligion und die offenbare Religion. Die Folge dieser drei ist nicht die historische, sondern die des Geistes, und zwar beschränkt auf die Entwicklung
im Abendland seit den antiken Griechen bis zur Neuzeit. Andere Weltreligionen wie der Islam und der Buddhismus werden nicht berücksichtigt. Die historische Bedingtheit könnte aber hier, da es um das Wesen des Geistes geht, ignoriert werden. Zwar ist es durchaus denkbar, dass der »Geist« im Sinne Hegels von der buddhistischen Perspektive her anders als bei Hegel selbst beleuchtet wird -- wie es im vorliegenden Buch stillschweigend vollzogen wird. Was die Naturreligion und die Kunstreligion betrifft, so beschränken wir uns hier auf eine kurze Zusammenfassung. Denn, wie oben gesehen, geht es in der vorliegenden Betrachtung um das Werden des Geistes in der »Zeit« und das »Sinnliche« in diesem Werden, und das
wird erst in der offenbaren Religion gänzlich sichtbar gemacht. Die Naturreligion entspricht der Gestalt der sinnlichen Gewissheit innerhalb des absoluten Geistes. Seine Gestalt hat »diejenige Bestimmung, welche dem unmittelbaren Bewusstsein oder der sinnlichen Gewissheit zukommt« (505). Das ist die Religion, in der das Naturelement wie das Lichtwesen unmittelbar als göttlich verehrt wird. Danach kommt »die Religion der geistigen Wahrnehmung« (507), wie die Blumenreligion oder Tierreligion, in deren Pantheismus der Geist in die zahllose Vielheit schwächerer und kräftigerer, reicherer und ärme-
rer Geister zerfällt. Die dritte Form ist »die abstrakte des Verstandes« (508), wobei mit »abstrakt« die Bearbeitung des sonst unmittelbaren Naturelementes zu einem Werk gemeint ist. Der arbeitende Geist ist
der »Werkmeister«, der, wie die Bienen instinktiv ihren Stock bauen, Pyramide, Obelisk, Tempel, Gótterstatue usw. herstellt.
Dieser Naturreligion folgt die Kunstreligion. In dieser zweiten Gestalt der Religion gilt: »Der Geist ist Künstler« (512) und nicht mehr Werkmeister. Der Geist hebt die Natürlichkeit der Natur auf und hat die Form des »Selbst«. Er hat als Medium seiner Gestaltung nicht mehr das bewusstlose Naturding, sondern ein hóheres Element, die »Spra-
che«, die »als Seele existierende Seele« (518) vorhanden ist. Die wesentliche Bestimmung der Sprache gilt auch hier. Das Orakel z.B. 153
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
ist »geistiges Dasein« (519). Dass die Sprache zum Element der Gestaltung wird, heißt, dass Hymne und Orakel die Religion in der Form des »Kunstwerkes« sind. »Der Gott also, der die Sprache zum Element seiner Gestalt hat, ist das an ihm selbst beseelte Kunstwerk«
(518). So
werden Epos, Tragödie, Komödie, Kult usw. in der griechischen Antike erwähnt (529ff.). Im Hinblick auf das Wesen der Religion und der Kunst gilt es zu überlegen, was es bedeutet, dass Hegel diese Kunstformen der griechischen Antike nicht als »Kunst«, sondern als »Kunstreligion« charakterisiert. Wenn man an die moderne Kunst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts denkt, die »l'art pour l'art« zu sein bean-
sprucht, so sind die Werke in der griechischen Antike in dem Sinne eben solche der »Kunstreligion«, in dem Kunst und Religion als die Gestalten des »Geistes« dieselbe Wesensnatur haben. Es muss offen
gelassen werden, ob die Bestimmung aus dem »Geist« allzu »klassisch« ist oder ob die Kunst und die Religion, die sich als voneinander unab-
hángig verstehen, erst als Geist im Sinne Hegels wahrlich aufgefasst werden kónnen. Die Darstellung der Religion ist außerordentlich inhaltsreich, und dieser Reichtum ist dem des »Sinnlichen« im Geist zuzuschreiben. Das
Sein, das die sinnliche Gewissheit in der Lichtreligion z. B. schaut, ist
nicht geistlos, »sondern es ist das mit dem Geiste erfüllte Sein« (506).
In der Kunstreligion wird die Sprache als das Dasein des Geistes zum
Element der Gestaltung des Geistes, der sich somit in den quasi literarischen Gestalten ausdrückt. Im Text wird die Tragódie als die »hóhere Sprache« bezeichnet. In der Tragödie hört die Sprache auf, die blof
erzählende zu sein, und ihr Inhalt ist auch nicht mehr der bloß vor-
gestellte. »Der Held ist selbst der Sprechende« (534). Sogar die Zu-
hórer bzw. die Zuschauer sind die »Künstler«, die »das innere Wesen äußern, das Recht ihres Handelns beweisen und das Pathos, dem sie angehóren, frei von zufálligen Umstánden und von der Besonderheit
der Persónlichkeiten in seiner allgemeinen Individualitát besonnen behaupten und bestimmt aussprechen« (534). Das in diesem Satz verwendete »Pathos« ist nicht mehr das sub-
jektive Gefühl der Künstler, sondern ein anderer Ausdruck für »die Macht und den Willen ihrer Bestimmtheit«, um die sie wissen. Die Bestimmtheit, welche die Menschen als Individuen haben, ist für diese
Individuen ihr Schicksal. Sie kommt aber zugleich am Tun dieser Indi-
viduen als die Macht und der Wille zum Ausdruck, und dies ist das
»Pathos«. Sein wirkliches Subjekt ist die Welt, und das Pathos der Tra-
154
Religion -- Sym-pathie in der unendlichen Differenz von Gott und Mensch
gódie ist das »Weltgefühl« (»Gefühl der Welt« als genitivus subjectivus und objectivus). Wie schon im Kapitel »Geist« festgestellt wurde, ist das Pathos das vergrößerte und vertiefte »Sinnliche«. 5.2. Offenbare Religion Das Pathos als »Weltgefühl« findet sich innerhalb der Kunstreligion noch »im Bewusstsein des fremden Schicksals« (535) und noch nicht in der Weise des Selbstbewusstseins. Damit es wirklich zum Inhalt des »Weltgeistes« selbst wird, muss die Religion sich in der dritten Form, der »offenbaren Religion«, ausdrücken. Der Grundsinn dieses Übergangs wird im Anfangssatz des Abschnittes der »offenbaren Religion« formuliert: »Durch die Religion der Kunst ist der Geist aus der Form der Substanz in die des Subjektes getreten« (545). Das in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes ausgesprochene Wort, alles komme darauf an, »das Wahre nicht als
Substanz, sondern ebenso sehr als Sub-
jekt aufzufassen und auszudrücken« (23), soll hier nicht nur behauptet, sondern vollzogen werden. Dies heißt für uns, dass das »Sinnliche« in seinem Vertiefungsprozess in eine gründlich neue Phase gelangt. Der Unterschied zwischen der Substanz und dem Subjekt ist in der Tat in der Religion von entscheidender Bedeutung. In der Natur- und Kunstreligion wird der absolute Geist an den Naturdingen oder Kunstwerken vorgestellt, somit als Substanzielles. Die Naturdinge und die Kunstwerke sind zwar wesentlich voneinander zu unterscheiden, was
vor allem darin zu sehen ist, dass die Sprache als das Dasein des Geistes zum Element der Gestaltung wird. Dadurch konnte auch die » Menschwerdung Gottes« ausgedrückt werden. Aber dieses Geschehen wird noch nicht in der »Form des Subjektes« gefasst. Anders gesagt, der góttliche Geist ist noch nicht in seinem »Selbst« erschienen. Dass der absolute Geist in seinem »Selbst« sich zeigt, bedeutet, von der Seite des menschlichen Geistes aus betrachtet, dass er nicht mehr in der Weise
des vorgestellten Objektes, sondern durch den menschlichen Geist hin-
durch erscheint. Und von der Seite des absoluten Geistes her heißt dies,
dass er »sich die Gestalt des Selbstbewusstseins gibt« (551). Wenn diese
beiden Seiten zusammengefasst werden, so heift dies, »dass der Geist
als ein Selbstbewusstsein, d.h. als ein wirklicher Mensch da ist« (ibid.). Das góttliche Selbstbewusstsein bedeutet die Menschwerdung
Gottes, und dies bedeutet zuerst, dass der »Glaube der Welt« meint,
155
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
das göttliche Wesen mit der sinnlichen Gewissheit gefasst zu haben,
und zwar dadurch, »dass das glaubende Bewusstsein diese Göttlichkeit sieht und fühlt und hört« (551); weiterhin, dass dieser Gott »unmittelbar als Selbst, als ein wirklicher einzelner Mensch, sinnlich angeschaut« (552) wird. Wie man leicht sieht, ist aber die sinnliche Gewissheit hier von derjenigen im »Bewusstsein« sowohl inhaltlich als auch der Tiefe nach wesentlich verschieden. Einst war das, was das Bewusst-
sein in der sinnlichen Gewissheit gefasst zu haben meinte, die Außenwelt, jetzt aber der Mensch gewordene Gott. Darum ist die Sinnlich-
keit, mit der das Bewusstsein ihn sieht, hört und fühlt, nicht bloß die
äußerliche Sinnesempfindung, sondern die geistig gewordene, die den
»Glauben« bildet. Dieser Glauben ist wiederum zu unterscheiden von dem, der einst im Gegensatz zur Aufklárung stand und von dieser angegriffen wurde, ein Glauben, der die Gestalt des sich entfremdenden Geistes nahm. Der Glauben hier geht vom Anblick des góttlichen Da-
seins in der menschlichen Gestalt, d.h. von Jesus, aus. Das Selbstbewusstsein dieses góttlichen Daseins hat die Form des »Selbst«, das
eins mit dem Selbstbewusstsein des Gláubigen ist. Deshalb kann gesagt werden: »Er (der Geist) wird gewusst als Selbstbewusstsein und ist diesem unmittelbar offenbar, denn er ist dieses selbst; die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die
angeschaut wird« (553). Die sinnliche Gewissheit in der offenbaren Religion ist nicht mehr das subjektive Bewusstsein, das sich den Gegenstand vorstellt, sondern das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes. Dann ist auch das »Sinnliche« hier nicht bloß geistig, sondern der Wesensnatur des absoluten Geistes zugehórig. Die Menschwerdung als »der einfache Inhalt der absoluten Religion« muss auch der Inhalt des absoluten Sinnlichen sein, wenn von so etwas die Rede sein kann. Die folgenden Worte deu-
ten an, in welcher Weise solches Sinnliche im absoluten Geist enthal-
ten ist: »Denn der Geist ist das Wissen seiner selbst in seiner Entäußerung; das Wesen, das die Bewegung ist, in seinem Anderssein die Gleichheit mit sich selbst zu behalten« (552). Das Anderssein des absoluten Geistes bedeutet die Äußerung desselben, und solange der Geist sich äußert, hat er die äußerlich-sinnliche
Gestalt. Zugleich bedeutet das Anderssein des Geistes das »Andere« des Geistes. So wird im zitierten Satz die bisher mehrmals erblickte »ungemeinsame Sym-pathie« ausgedrückt. Bisher wurde die »Ungemeinsamkeit« im Anderssein des Anderen in der Gemeinschaft ge156
Religion -- Sym-pathie in der unendlichen Differenz von Gott und Mensch
sehen. Die Mitglieder der Gemeinschaft sind trotz ihrer Zugehörigkeit zu derselben Gemeinschaft durchaus fremde Ichs und insofern wesent-
lich füreinander fremd. Sie spiegeln ihre jeweilige Seinsweise in ihrem gemeinschaftlichen Gemeinsinn bzw. in ihrer Sym-pathie je anders. In der »Religion« verhält es sich aber anders. Denn dort ist es der diese Gemeinschaft bildende »Geist« selbst bzw. dessen »Selbst«, der dar-
gestellt wird, und nicht mehr dessen äußere Gestalt. Die Ungemeinsamkeit, die dort als die geistige auftaucht, ist zwischen dem absoluten Geist und dessen Äußerung, zwischen ihm und den Gestalten des An-
dersseins vom absoluten Geist, vorhanden. Zwar waren auch bisher, im
Prozess des Sich-wissens des Geistes, ständig die Unterschiede bzw. die Spaltungen zwischen dem Geist und dessen äußerlichen Formen vorhanden, und dies führte das jeweilige Bewusstsein zu seinem Selbstwiderspruch bzw. zur Spaltung in sich selbst, so dass es gezwungen wurde, zur hóheren Stufe überzugehen. Jetzt kommt allerdings der äußerste Ausdruck dieser Spaltung: »Das absolute Wesen, welches als ein wirkliches Selbstbewusstsein da ist, scheint von seiner ewigen Einfachheit herabgestiegen zu sein, aber in der Tat hat es damit erst sein hóchstes Wesen erreicht« (553). Das hóchste Wesen hat, um die vorhin zitierten Worte wieder zu verwenden, dies zum Inhalt, dass die gótt-
liche Natur und die menschliche dieselbe ist. Diese Natur wird gesehen, gehórt, gefühlt, somit vermittelt von der Sinnlichkeit. »Das Nied-
rigste ist also zugleich das Höchste; das ganz an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin das Tiefste« (553/4). Hier besteht der »ungemeinsame Gemeinsinn« zwischen dem hóchsten Wesen als dem absoluten Geist und dem niedrigsten geistigen Wesen, und
zwar vermittelt durch die Sinnlichkeit, durch Sehen, Hóren, Fühlen
usw.
Hier muss aber gleich gefragt werden, ob die Ungemeinsamkeit hier in die góttliche Identitát integriert wird, so dass man am »Gedanken
der
Identitát«
festhalten
kann,
den
verschiedene
Denker
im
20. Jahrhundert immer wieder angegriffen haben. Weiterhin ist zu fra-
gen, ob das Sehen, Hören, Fühlen usw. eher die äußerlichen Sinnes-
wahrnehmungen sind und ob das »Pathos«, wie es bisher dargestellt wurde, verschwunden ist.
157
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
5.3. Das Gefühl »Gott ist gestorben« Diese Fragen erheben sich aber deshalb, weil wir die Bewegung des Sinnlichen in der »offenbaren Religion« nur in ihrer ersten Hälfte gesehen haben. Dass es noch eine weitere Folge gibt, ist aus dem Dogma der offenbaren Religion klar. Denn der Mensch gewordene Gott muss am Kreuz sterben. Dieses Sterben bedeutet für den Geist, dass sein
Leben negiert wird. Wenn der Geist sich in seinem Anderssein weiß
und dieses Anderssein die Äußerung des Geistes selbst ist, so ist zwi-
schen dem Wesen und dessen äußeren Gestalten trotz aller Differenz
im Grunde die Selbstidentitát da. Aber wenn das Anderssein des Geistes die Negation des Lebens des Geistes selbst bedeutet, so muss die Identitát, wenn von ihr weiter geredet werden soll, eine wesentlich
andere Struktur haben als die bisherige. Dasselbe gilt auch von der Seinsweise des »Sinnlichen«. Denn der Tod Gottes bedeutet, dass das góttliche Wesen, das man sonst sehen, hóren, fühlen konnte, vergeht,
somit die Sinnlichkeit selbst bezüglich des göttlichen Wesens negiert wird. Dogmatisch vorgestellt ist der Tod Gottes »das Absterben der Sünde« (570), dem »das geistige Auferstehen« (ibid.) folgt, wodurch »das góttliche Wesen mit seinem Dasein versóhnt ist« (ibid.). Logisch heift dies: »seine Besonderheit erstirbt in seiner Allgemeinheit, d.h. in seinem Wissen« (571). Für die »Sinnlichkeit« genügt aber weder die dogmatische noch die logische Formulierung. Denn der Tod Gottes wird in ihr mit einem äußersten Gefühl unmittelbar empfunden: »Er ist das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewusstseins, dass Gott selbst gestorben ist. Dieser harte Ausdruck ist der Ausdruck des innersten sich einfach Wissens, die Rückkehr des Bewusstseins in die Tiefe
der Nacht des Ich = Ich« (572).
Für dieses äußerst schmerzliche Gefühl ist das Wort »Gemein-
sinn« nicht mehr zureichend. Eher angemessen sind die Wórter »gemeinsames Pathos« bzw. »Sym-pathie«. Bisher wurde festgestellt, dass das Wort »Pathos«
nicht für das individuell-einzelne Gefühl, geschwei-
ge denn für die äußerliche Empfindung oder Wahrnehmung gebraucht
wurde. Es ist das Gefühl angesichts eines »Allgemeinen« oder der Ausdruck dieses Allgemeinen in der individuellen Sinnlichkeit. Im Kapitel der »Religion« ist dieses Allgemeine das »göttliche Wesen«. Wenn dieses allgemeine Wesen sich in der individuellen Sinnlichkeit spiegelt, so ist diese Spiegelung in der Form des Gefühls »pathetisch« und leiden-
schaftlich. Wenn das Allgemeine in der negativen Form des »Todes von
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Religion -- Sym-pathie in der unendlichen Differenz von Gott und Mensch
Gott« das Individuum trifft, so muss das Pathos den Ton des »Leidens« haben. Das pathetische Gefühl, dass Gott gestorben ist, ist für den
Geist, dessen göttliche und menschliche Natur dieselben sind, das här-
teste Pathos, und zwar sowohl auf der Seite der göttlichen wie auch auf
der Seite der menschlichen Natur, die sonst extrem voneinander getrennt sind. Es ist die äußerste »ungemeinsame Sym-pathie«.
Die Selbigkeit der góttlichen und menschlichen Natur wird ursprünglich in der Heiligen Schrift ausgedrückt. Im Rómerbrief heift es: »Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht
sein« (8,9).9 Der Bund von Mensch und Gott kommt trotz der extremen Nichtgemeinsamkeit zwischen dem Schópfer und der Schópfung zustande. Dieser Bund ist aber keine »Kontinuität«. Seine scholastische
Formel ist »analogia entis« bzw. »analogia secundum esse«, wie Thomas von Aquin sagt, wonach Gott und Mensch im Hinblick auf ihr »Sein« als analogisch angesehen werden. Auf eine eingehendere Betrachtung dieses Analogie-Begriffs wird hier verzichtet. Was in der Scholastik als die » Analogie« aufgefasst wird, wird in der Phänomenologie des Geistes neu und anders, als die Struktur des »Geistes« spekulativ begriffen. Dies heift für uns, dass der Bund nicht nur in der Spekulation begriffen, sondern auch in der ungemeinsamen Sym-pathie mit dem Tod Gottes sinnlich bezeugt werden kann. Am Anfang wurde darauf hingewiesen, dass im Kapitel »Religion« die Gestalten der Religion nicht religionsgeschichtlich, somit nicht historisch dargestellt und ihre drei Gestalten im Hinblick auf die Wesensstruktur des Geistes angegeben werden. Da die Perspektive auf die abendländische Geistesgeschichte beschränkt ist, deren Zenit Hegel im Christentum sieht, kommen andere Weltreligionen wie der Buddhismus nicht in den Blick. Das allzu große Thema »Christentum und Buddhismus« soll uns hier nicht weiter bescháftigen. Aber es darf da-
% Der Einklang des Abschnittes der »offenbaren Religion« und der Heiligen Schriften ist im Zusammenhang mit der göttlichen und der menschlichen Natur besonders auffallend. Hegel schreibt: »Die Hoffnungen und Erwartungen der vorhergehenden Welt drángten sich allein auf diese Offenbarung hin, anzuschauen, was das absolute Wesen
ist, und sich selbst in ihm zu finden« (554). Im Rómerbrief heifst es: »Denn wir wissen, dass die ganze Schópfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ángstet«
(8.22), oder »Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erst-
lingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlósung unseres Leibes« (8.23).
159
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
rauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Ort für die Annäherung und Begegnung der beiden hier erblickt werden kann: die »Sym-pathie« von Gott und Mensch. Sie steht der mahayana-buddhistischen »Compassion« sehr nahe. In der ungemeinsamen Sym-pathie von Gott und Mensch bezüglich des Todes von Gott wird bezeugt: »Das absolute Wesen (...) scheint von seiner ewigen Einfachheit herabgestiegen zu sein, aber in der Tat hat es damit sein höchstes Wesen erreicht« (553).
Auch ein Boddhisattva, der darauf verzichtet, zum Buddha-Rang auf-
zusteigen, um in die Welt der leidenden Wesen herabzusteigen, hat die Sym-pathie für das Leiden zehntausender Lebewesen. Boddhisattva
und die leidenden Wesen haben die ungemeinsame Sym-pathie. Sein scheinbares Herabsteigen ist zugleich das Erreichen des höchsten Wesens als Buddha. Im Buddhismus soll diese Sym-pathie in der »Übung« auf der Seite der leidenden Wesen erlebt werden. In dieser wird die selbige Natur von Boddhisattva und der leidenden Wesen geübt. Dies
bedarf seinerseits einer eingehenden Betrachtung, die an dieser Stelle
zu weit führen würde. Aber dies sei hier nur zu erwähnen. Stattdessen sei einfach die folgende Stelle zum Vergleich zitiert: »Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist, und dieses spekulative Wissen ist das Wis-
sen der offenbaren Religion« (554).
Die »Übung« und die »Spekulation« bilden wohl bei der Begeg-
nung der »Compassion« im Mahayana-Buddhismus und des »Sym-pathos« in der Hegelschen Phänomenologie des Geistes einen Ort der diskontinuierlichen Kontinuitát. Dabei ist es nicht nótig zu sagen, dass hier anders als im heutigen Wortgebrauch »Spekulation« keine wirklichkeitsferne und abstrakte Denkweise bedeutet. Im Abschnitt des »Selbstbewusstseins« wurde streng darauf hingewiesen, dass die Verzichtleistung bloß durch den Mund »Betrug« ist und allein durch die
»wirkliche Aufopferung« (176) glaubhaft wird. Die wirkliche Aufopfe-
rung heifst, dass im Pathos des Todes Gottes das vorstellende Denken des Verstandes zerbrochen wird und stirbt. Dies heißt, dass auch das
Sinnliche einmal sterben muss. Schon in der »Vorrede« der Phánomenologie des Geistes wird, wohl in Anspielung der Romantiker, gesagt, dass die Romantiker »den unterscheidenden Begriff unterdrücken und das Gefühl des Wesens herstellen, nicht sowohl Einsicht als Erbauung gewähren. Das Schöne, Heilige, Ewige, die Religion und Liebe sind der Köder, der gefordert wird, um die Lust zum Anbeißen zu erwecken; nicht der Begriff, sondern die Ekstase, nicht die kalt fortschreitende 160
Absolutes Wissen -- Gelassenheit des Pathos
Notwendigkeit der Sache, sondern die gärende Begeisterung soll die Haltung und fortleitende Ausbreitung des Reichtums der Substanz sein« (16). Es ist zwar klar, dass der »Begriff« notwendig ist. Kann aber diese
Notwendigkeit nur so viel wie den Tod und die gánzliche Negation des
Sinnlichen bedeuten? Diese letzte Frage zum Sinnlichen muss im Kapitel »Absolutes Wissen« weiterverfolgt werden. Hier ist nur zu anzumerken, dass die »Spekulation« im obigen Sinne eine Nähe zum »Denken« im Mahayana-Buddhismus hat, so wie die »Sym-pathie« der »Compassion« gegenübersteht. Was diese Annäherung bzw. Begeg-
nung bedeutet und welche Möglichkeit des Denkens daraus entspringt, sind Fragen, denen wir uns spáter noch zuwenden werden. 6.
Absolutes Wissen — Gelassenheit des Pathos
6.1.
Die Form des Selbst
Das letzte Kapitel der Phánomenologie des Geistes,
» Absolutes Wis-
sen«, ist im Vergleich mit jedem der bisher behandelten Kapitel wie »Bewusstsein«, »Selbstbewusstsein«, »Vernunft«, »Geist«, »Religion«
dem Umfang nach das kürzeste. Inhaltlich wird ungefähr die erste Hälfte dem zusammenfassenden Rückblick auf die bisherigen Kapitel gewidmet. Zwar ist dieser Rückblick als der vom letzten Standpunkt der »Phánomenologie des Geistes« her gemachte strahlend, da in ihm die Kernpunkte der bisherigen Wege in ausgezeichneter Weise herausgestellt werden, aber dazu wird die Hälfte des Kapitels gebraucht. Wenn dennoch dieses Kapitel den anderen Kapiteln gegenüber den Anspruch auf seinen eigenstándigen Inhalt erheben soll, worin ist dieser zu finden? Der eigenständige Inhalt, wenn von solchem die Rede sein soll, ist, kurz gesagt, darin zu sehen, dass dieses Kapitel einen entscheidenden »Wendepunkt« im Hinblick auf den ganzen Weg der Phánomenologie des Geistes bildet. Ein Wendepunkt ist immer augenblicklich und hat keine lange Dauer. Das Bewusstsein erfuhr auch bisher auf dem langen Weg verschiedene Wendepunkte, und jeder von diesen war ein Umschlagpunkt zum nächsten Kapitel bzw. Gedankenschritt. Weil das Ganze dieser Bewegung im letzten Kapitel den letzten und entscheidenden Wendepunkt erreicht, muss dieses Kapitel ein selbstándiges 161
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
sein. Um welche Wende geht es dann bei ihm, und inwieweit ist sie von den bisherigen zu unterscheiden? Diese Frage betrifft auch und eben den vorliegenden Versuch, die
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre zu interpretieren. Das
»Sinnliche«, dessen immer tiefere Schichten in der Phänomenologie des Geistes beleuchtet wurden, erreicht im »absoluten Wissen« nicht
blof im Vergleich mit den bisherigen Schichten eine noch tiefere Schicht. Es stößt hier auf den Wendepunkt, wo das ganze Element des
Sinnlichen als solches eine entscheidende Wendung erfährt.
Zunächst ist auf die Stelle zu achten, an der Hegel selber diesen
letzten Wendepunkt erwähnt. Die Stelle kommt kurz vor dem »absoluten Wissen«, gegen Ende der »Offenbarungsreligion« vor, in der es um das Gefühl »Gott selbst ist gestorben« geht. Dieses Gefühl bedeutet einerseits, vom Bewusstsein »Ich bin Ich« her gesehen, das Gefühl des
Verschwindens des Ich selbst bzw. der Substanz, somit »die Tiefe der Nacht des Ich = Ich« (572) des Selbstbewusstseins. Zugleich ist es aber, vom Geist her gesehen, dem Geschehen der Auferstehung bzw. »Begeistung« zugehörig. Anders gesagt, wird dieser Tod »von dem Nichtsein dieses Einzelnen verklärt zur Allgemeinheit des Geistes, der in seiner Gemein(d)e lebt, in ihr täglich stirbt und aufersteht« (571). Allerdings findet sich diese Verklárung bei der Offenbarungsreligion noch »im Element der Vorstellung« (571). Das Absterben der Einzelheit von Jesus in dessen Allgemeinheit wird bloß vor-gestellt und noch nicht zum Selbstbewusstsein gebracht. Dieses, als das Selbstwissen, heifst, wie im vorigen Kapitel gesehen, dass dieses Geschehen im
»spekulativen Wissen« erreicht wird, was als Phánomen bedeutet, dass »der allgemeine góttliche Mensch« (574) in der Form der Gemeinde selbstbewusst wird und lebt. Aber die in der Wirklichkeit bestehende christliche Gemeinde ist in den Augen von »uns« als dem absoluten Wissen noch nicht zu diesem Selbstbewusstsein gekommen. Darum muss der Geist die letzte Wendung durchgehen. Diese wird von »uns« wie folgt beschrieben: »Wir sehen das Selbstbewusstsein auf seinem letzten Wendungspunkte sich innerlich werden und zum Wissen des Insichseins gelangen« (573). (Das Wort »wir« hat der Verfasser hervorgehoben.)
Etwas sich innerlich werden heißt, dass dieses Etwas nicht als etwas außerhalb des Bewusstseins vor-gestellt wird, sondern, sich des
»Elementes der Vorstellung« bzw. der »Form der Vorstellung« ent-
ledigend, als das Geschehen des Insichseins gewusst wird. Umgekehrt 162
Absolutes Wissen — Gelassenheit des Pathos
bedeutet das Element bzw. die Form der Vorstellung, dass dem vor-
gestellten Inhalt die »Form der Gegenständlichkeit« zukommt. In der Offenbarungsreligion ist aber der vorgestellte Inhalt der »absolute Geist«, der eigentlich über die Form der Gegenständlichkeit hinausgeht. Er muss das Element der Vorstellung übersteigen und als das dem Bewusstsein innere Geschehen des Insichseins spekulativ gewusst
werden. Denn »es ist allein noch um das Aufheben dieser bloßen Form zu tun« (575).
Es muss allerdings angemerkt werden: Wenn es nur mit dem Auf-
heben der Form der Gegenständlichkeit zu tun hat, dann scheint dieses
Aufheben schon im Übergang vom »Bewusstsein« zum »Selbstbewusstsein« geleistet worden zu sein. Ob dieses Aufheben tatsächlich vollzogen wurde, ist die Frage. Dazu ist der »Rückblick« auf den Weg des Bewusstseins im Kapitel »Das Absolute Wissen« heranzuziehen, und zwar indem dieser Rückblick nicht Stück für Stück nachgezeichnet,
sondern nur auf den Kernpunkt geachtet wird. Es ist darauf hinzuweisen, dass es im ganzen Weg des Bewusstseins im Grunde um die Überprüfung des »Selbst« der jeweiligen Bewusstseinsgestalt geht. Wenn das Wort klein geschrieben wird: »selbst«, so ist das, welches diesem Wörtchen zugefügt wird, weder in seiner zufälligen Weise noch im Bezug auf etwas anderes, sondern ausschließlich im Bezug auf es selbst in seiner wesentlichen Seinsweise gemeint. Das Kapitel, in dem das Wort »Selbst« immer wieder aufzutauchen beginnt, ist, wie schon gesagt, »Religion«, und zwar aus gutem Grund. Denn die hier gemeinte »Religion« ist nichts anderes als »die einfache Totalität oder das absolute Selbst« (498) seiner Momente wie das Bewusstsein, das Selbst-
bewusstsein, die Vernunft und der Geist. Das »Selbst« heißt weder das »An-sich«, das diesseits des Bewusstseins liegt, noch das »Für sich«,
das für das Bewusstsein steht. Es entspricht dem »An- und Fürsich-
sein«, d.h. der Seinsweise, »nicht nur die Substanz, sondern auch das Subjekt« zu sein, was als A und & der Phänomenologie des Geistes
gilt. Das »Selbst« ist zugleich das, was als die »einfache Totalität« dieser komplexen Formulierung ledig geworden ist. Um dieses »Selbst«
ging es auf der jeweiligen Stufe des Bewusstseins, und das Erlangen
dieses Selbst bedeutet für das jeweilige Bewusstsein, dass es zur höheren Stufe hinaufgeschleppt wird. Das »Selbstbewusstsein« musste auch dieser »Gewalt« des Hinaufschleppens unterworfen werden, da das Aufheben der Form der Gegenständlichkeit bei ihm nur in der subjek163
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
tiven Gewissheit blieb und noch nicht zur objektiven Wahrheit er-
hoben worden war.
Dieses Schleppen muss nun am Ende auch in der »Religion« ge-
schehen, und dies ist der letzte Wendepunkt, wodurch die letzte Gestalt des Geistes erreicht wird. »Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist,
der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser
Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen« (582). Der vollständige und wahre Inhalt des Geistes heißt das Ganze des bisher Dargestellten. Wenn diesem die Form des Selbst gegeben wird, so ist dies die letzte Gestalt des Geistes. In der Offenbarungsreligion findet sich der Inhalt des Geistes noch in der Form der Vorstellung. Das Göttliche wird an Jesus als einem Anderen vor-gestellt, d.h. gesehen, gehört und gefühlt. Diesem Inhalt wird jetzt die »Form des Selbst« gegeben. »Was also in der Religion Inhalt oder Form des Vorstellens eines Anderen war, dasselbe ist hier eigenes Tun des Selbsts« (582). Alle Formen der Gegenständlichkeit, des Andersseins des Geistes, werden in sich zurückgenommen, und alle Gegenstände des Geistes werden unter der »Form des Selbst« begriffen. Dort besteht die im wörtlichen Sinne des Wortes »ab-solute« Struktur: Der Geist hat kein
Außen mehr und begreift all das, was als Anderes außer ihm erscheint,
als Anderes seiner selbst oder als das Strukturmoment von ihm selbst. Er beschließt in sich alles Andere und bleibt in sich abgeschlossen. Das Wissen von ihm selbst sowie vom Anderen, das dadurch besteht, muss das »absolute Wissen« genannt werden. Um sich hier gegen ein mógliches, oft gegen Hegel erhobenes
Missverstándnis zu wehren, ist eine Bemerkung zu machen, dass diese
Struktur der » Ab-solutheit« nicht die Integrierung des Anderen in die »Gleichheit« des absoluten Ich meint. Vielmehr bedeutet sie die Aner-
kennung und das Sein-lassen des »Anderen« in dessen »Selbst«. Jedes
Andere hat die »Form des Selbst«. In dieser Form begreift der Geist sein Anderes. Indem er »er selbst« wird, begreift er, dass auch das Andere zum Anderen »selbst« wird. Dies ist der andere Ausdruck dafür,
dass er sein Anderes in dessen Andersheit begreift. Diese diskontinuierliche Kontinuitát ist es, die sich im bisher erórterten »ungemein-
samen Gemeinsinn« oder im Pathos der »ungemeinsam-gemeinsamen Sym-pathie« spiegelt. Sie wird im Text wie folgt formuliert: »das Wissen seiner selbst in seiner Entäußerung; das Wesen, das die Bewegung
ist, in seinem Anderssein die Gleichheit mit sich selbst zu behalten« 164
Absolutes Wissen -- Gelassenheit des Pathos
(552). Der Geist, der in seiner Äußerung sich gleich wird, um das An-
dere in der Form des »Selbst« begreifen zu können, ist gerade das Ge-
genteil der sog. »instrumentellen Vernunft«, die das Andere unterdrücken und beherrschen will. Die »negative Dialektik« ist nicht das
Gegenstück zur Hegelschen Dialektik, sondern in dieser enthalten als dessen Wesentliches.*! 6.2. Die Aufhebung der Zeit Das Wissen des Geistes, der die Form des »Selbst«, somit seinen Begriff
erreicht hat, ist das »begreifende Wissen«. Die zentrale Bedeutung des
»Begriffs« in der Phänomenologie des Geistes ist, wie jeder, der sich
mit Hegel beschäftigt hat, weiß, grundsätzlich zu unterscheiden von der heutigen Verwendung des Wortes, wie es im Wörterbuch steht, d.h. von so etwas wie der Definition durch die Sprache. Er bedeutet bei Hegel den Sachverhalt eines Gegenstandes, wie er in dessen allgemeinem Wesen, in der begriffenen Form existiert. Der »Begriff des Gesetzes« z.B. bedeutet das reale Gesetz, das in der Gesellschaft als der Selbstausdruck ihres objektiven Geistes wirkende, reale Gesetz, das
nicht nur »Substanz«, sondern auch »Subjekt« ist. Aber bei der Rede
vom
Geist, der seinen Begriff erreicht hat, muss noch ein anderer,
wichtiger Aspekt berücksichtigt werden. Wie der Titel Phänomenologie des Geistes andeutet, hat dieser Aspekt mit dem »Erscheinen« des Geistes zu tun. Wenn
etwas erscheint, so erscheint es immer in der
»Zeit«. So ist das Wesentliche des »Begriffs« des Geistes im Wesensbezug zur »Zeit« zu sehen. Wie verhält sich der Geist zur Zeit? Im Kapitel »Religion« wird gesagt: »Der ganze Geist nur ist in der Zeit« (498). Die Momente des
ganzen Geistes stellen sich in einer Aufeinanderfolge dar, die aber noch nicht die eigene Wirklichkeit hat. Nur das Ganze hat eigentliche
Wirklichkeit. Aber im »absoluten Wissen« wird von dem Geist, der die
Form des »Selbst« erreicht hat, dem Anschein nach das Gegenteil aus-
* Die »negative Dialektik« von Adorno wird als Gegenstück zur Hegelschen konzipiert, indem Adorno die Widersprüche der Wirklichkeit als nicht in die der »Identitát« aufhebbare begreift, somit in ihrer Negativitát verstehen will. Verfasser aber Recht hat in seiner Auslegung, so ist eben solche Negativitát der Hegelschen Dialektik enthalten.
Dialektik Kategorie Wenn der bereits in
165
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
gesprochen. Eine relativ lange Passage sei zitiert, da sie das Charakte-
ristische des Begriffs des Geistes im Hinblick auf die »Zeit« zum Aus-
druck bringt und auch für die »Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre«, wie bisher zu zeigen versucht wurde, von entscheidender
Bedeutung ist: »Die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist und als leere Anschauung sich dem Bewusstsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwen-
dig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen
reinen Begriff erfasst, d.h. nicht die Zeit tilgt« (584). Dieses Zitat soll
etwas ausführlicher interpretiert werden. (i) »Die Zeit ist der Begriff selbst, der da ist«: Der gemeinte Begriff ist, wie oben erörtert, nicht die bloße Vorstellung eines Sachverhaltes, sondern dieser selbst in der realen und konkreten Seinsweise.
Wenn ein Sachverhalt da ist, so ist er in der »Zeit«. Der Begriff, der da
ist, hat die Form der »Zeit«. Noch schlichter gesagt: Die »Zeit« ist der da seiende Begriff selbst, wobei noch hinzuzufügen ist, dass dieser, wie
gleich nach diesem Zitat gesagt wird, »der nur angeschaute Begriff« ist. Anders gesagt ist er der Begriff in dessen Äußerlichkeit. Um es mit dem Beispiel des Gesetzes zu sagen: das nur in der äußerlichen Form vorgefundene und noch nicht das von den Menschen gelebte, wirkende Gesetz.
(ii) »und als leere Anschauung sich dem Bewusstsein vorstellt«: Die Zeit selbst ist als die »Form« der Anschauung an sich leer, und die erscheinenden Dinge erfüllen diese Form. Dass diese leere Anschauung
sich dem Bewusstsein darstellt, heißt, dass das Bewusstsein selbst diese
Form der leeren Anschauung, somit die Form der Erscheinung ist. Die Kantische Auffassung der Zeit als Form der »inneren« Anschauung
wird hier prinzipiell übernommen. Aber bei Kant ist die Anschauung
die »sinnliche«, wáhrend hier die Anschauung die des »Geistes« ist.
Mit anderen Worten: sie ist nicht blofs das Vermögen der Sinnlichkeit,
vom Phänomen affiziert zu werden, sondern die Tätigkeit des Geistes,
der die Erscheinung im ganzen als die Gestalt seiner Entäußerung erfasst, somit sich in ihr selbst anschaut. Allerdings kónnte man bei Kant
einen Keim des »Geistes« finden, wenn bei ihm die Anschauung zum Ort der »Selbstaffektion der Zeit« wird und »der Schematismus« als »Schemata der Zeit« entsteht, an dem die Sinnlichkeit und die Verstan-
desbegriffe miteinander verbunden werden.* Aber dies geht über den 42 Dieser Wesenscharakter des »Schemas« kann im folgenden Satz eingesehen werden:
166
Absolutes Wissen — Gelassenheit des Pathos
Rahmen der vorliegenden Betrachtung hinaus und soll somit nur als
Andeutung dienen.
(iii) »deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit«: Die
Selbstanschauung des Geistes ist die Anschauung der erscheinenden Dinge als Entäußerung seiner selbst, und die erscheinenden Dinge sind
in der Zeit. So wird auch die Tátigkeit des Geistes nirgends anders als in der Zeit vollzogen.
(iv) »und er erscheint so lange in der Zeit, als er nicht seinen rei-
nen Begriff erfasst«: Dies kónnte teilweise auch anhand der heutigen
Verwendung von »Begriff« einigermaßen verständlich gemacht werden. Beim »Begriff des Dreiecks« z.B. hat das einzelne Dreieck, das
auf diesen Begriff passt, ein Dasein mit der bestimmten Form, die in Raum und Zeit bestimmt wird. Der Begriff aber im Sinne der Definition des Dreiecks ist zeitlos. Zunáchst kann analog zu diesem Beispiel gesagt werden, dass zwar der einzelne Geist als die einzelne Gestalt in der Zeit erscheint, aber sein »reiner Begriff« bzw. sein »Selbst« ist über die Zeit erhaben. Der Geist erschien als das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, die Vernunft, der Geist, die Religion usw. in der Zeit.
Aber er erscheint nur solange, bis er seinen reinen Begriff erfasst und zum »absoluten Wissen« gelangt. (v) »d. ἢ. nicht die Zeit tilgt«: Dies ist der entscheidende Ausdruck. Der Geist, der seinen Begriff bzw. sein Selbst erreicht hat, tilgt die Zeit. Es handelt sich keineswegs um eine groteske Phantasie, sondern um den Kern des »Geistes« bei Hegel. Die »Tilgung der Zeit« muss bedeuten, um es allgemein und negativ zu sagen: nicht der Kraft der unumkehrbaren Zeit unterworfen werden, die alles zum Vergehen und Veralten bestimmt. Positiv gesagt: die »Freiheit« haben, die Form der Zeit selber zu produzieren. Schon bei Kant wurde eingesehen, dass das vernünftige Wesen von der Bindung an die Form der Zeit frei ist.9 Bei
Hegel geht es nicht nur darum, die Form der unumkehrbaren Zeit zu
»Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft«. (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 142, B 181).
# »In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich als Erscheinung in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und sofern unausbleiblich notwendig ist, mit Recht sagen, dass es sie hätte unterlassen kónnen«. (Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Erster Teil, I. Buch, 3. Hauptstück. Akademie-Ausgabe, S. 175).
167
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
überwinden — ein Gedanke, der unter Umständen als eine Phantasie missgedeutet werden könnte —, sondern darum, die Zeit selbst als die äußere Form der Zeit zu begreifen. Das Wesen der Zeit ist der Geist,
und dieser Gedanke gehört in den Hauptstrom der Zeitauffassung der abendländischen Philosophie von Platon und Aristoteles bis zur gegenwärtigen Phänomenologie des Zeitbewusstseins. Auf eine Stellungnahme zu dieser Zeitauffassung soll hier verzichtet werden, vielmehr gilt es, die Hegelsche Zeitauffassung immanent zu verfolgen. Der Geist erscheint notwendigerweise in der Zeit, aber die Natur, die Form, das
»Selbst« der Zeit wird als Geist nicht der Zeit unterworfen. Wie das Wasser nicht vom Wasser nass gemacht, noch das Feuer vom Feuer verbrannt wird, so vergeht die Zeit selbst nie. Um den Kantischen Ausdruck, die Zeit wechsle nicht und bleibe,** zu paraphrasieren: Der Geist wechselt nicht. Denn der Geist ist das Subjekt der Form der Zeit. Dies wird in der späteren »Enzyklopädie« als die » Macht der Zeit« bezeichnet. »Nur das Natürliche ist darum der Zeit Untertan, insofern es end-
lich ist«. Hiermit wird keine mystische, sondern eben die alltägliche Erfahrung in ihrer Tiefenschicht ausgesprochen. Wie nämlich der Tod Gottes durch die Auferstehung zur Allgemeinheit des Geistes verklärt wird, so dass gesagt wird, dass der Geist »in seiner Gemein(d)e lebt, in
ihr täglich stirbt und aufersteht« (571), so tilgt der Geist täglich, in
jedem Augenblick seines Tuns und Lassens, die Zeit. Dieser Interpretationsvorschlag kann als eine Paraphrase des folgenden Zitats gelten: »Sie (die Zeit) ist das äußere angeschaute, vom Selbst nicht erfasste reine Selbst, der nur angeschaute Begriff« (584). Der Geist, der sein »Selbst« bzw. seinen »Begriff« erfasst hat, »tilgt« die Zeit. 6.3. Die Aufhebung des Sinnlichen
Wie gesagt wurde diese Textstelle ausführlicher interpretiert, weil sie auch als Ausdruck für den »letzten Wendungspunkt« der »Phánomenologie des Geistes als Sinneslehre« gilt. Denn die Tilgung der Zeit kann nichts anderes sein als die Tilgung des Sinnlichen. Dass etwas in * »Die Zeit also, in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 182, B 224/5). 5 G. W. E. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 8258.
168
Absolutes Wissen — Gelassenheit des Pathos
der Zeit erscheint, heißt, dass dieses Etwas die Sinnlichkeit affiziert und als sinnliches Phänomen erfahren wird. Die Zeit ist die Stätte, wo das Sinnliche affiziert wird. Ist dann der Entwurf, die »Phänomenolo-
gie des Geistes zum herauszubilden, nur seine Tragweite im dass er dort beendet
Sinnlichen« aus der Phänomenologie des Geistes bis zum Kapitel der »Religion« möglich und hat Kapitel des »absoluten Wissens« ihre Grenze, so werden muss?
Jedoch muss die »Tilgung der Zeit« von so etwas wie der bloßen
»Zeitlosigkeit« oder »dem Aufhören der Zeit« grundsätzlich unter-
schieden werden. Denn wenn nur so etwas gemeint wäre, so müsste
der Geist einfach aufhören zu existieren. Vielmehr ist »Tilgung der
Zeit« als »Aufhebung der Zeit« zu verstehen. Das Aufheben bedeutet,
wie Hegel sagt, »ein Negieren und ein Aufbewahren zugleich« (94), so dass es »so aufhebt, dass es das Aufgehobene aufbewahrt und erhált« (150). Die Aufhebung der Zeit heifst also, wie oben schon gesehen, das Tun und Lassen des Geistes, der als Macht der Zeit ist und in dem bzw.
zu dem das Wesen der Zeit aufbewahrt wird. In gleicher Weise muss die Aufhebung des Sinnlichen grundsätzlich von der bloßen »Apatheia« oder der Gefühlslosigkeit unterschieden werden. Wenn dies gemeint wäre, wäre das nichts anderes als das » Absterben des Geistes«.
Welches Phánomen soll dann die Aufhebung des Sinnlichen bedeuten?
Kommen wir zurück zum Text, um zu sehen, welcher Sachverhalt
nach der Tilgung der Zeit durch den Geist eróffnet wird. Hegel betrachtet im Folgenden die Gebiete der »Wissenschaft« (Logik), der »Natur« und der »Geschichte«. Der Geist erreicht mit dem absoluten Wissen seinen Begriff, um diesen zu entwickeln, was der Anfang der »Wissenschaft« ist. »Wenn in der Phánomenologie des Geistes jedes Moment der Unterschied des Wissens und der Wahrheit und die Bewegung ist, in welcher er sich aufhebt, so enthált dagegen die Wissenschaft diesen
Unterschied und dessen Aufheben nicht« (589). In der Wissenschaft werden die gegenstándliche Form der Wahrheit und das wissende Selbst des Geistes unmittelbar vereinigt. Dies ist die fundamentale Seinsweise des »Begriffs«. Die Wissenschaft als das Wissen in der Form dieses Begriffs entwickelt sich stándig im Element dieses Begriffs. Die-
ses Wissen ist die Gestalt des absoluten Wissens, das sich aktiviert. So
ist das absolute Wissen »der sich in Geistesgestalt wissende Geist oder
das begreifende Wissen« (582). Als die erste Entwicklung dieses begrei-
fenden Wissens gilt die Wissenschaft der Logik, die Hegel fünf Jahre nach der Phänomenologie des Geistes publiziert hat. Die Frage ist, wie 169
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
es sich mit dem Sinnlichen in diesem begreifenden Wissen verhält.
Wie schon erwähnt, muss dieses Wissen von der Apatheia oder der Gefühllosigkeit grundsätzlich unterschieden werden. Schon das Wort
»Begreifen« weist auf den »Griff« bzw. »greifen« hin, somit wird zu-
mindest etymologisch ein begeistetes, sinnliches Tun angedeutet. Mit der Begeistung des Sinnlichen geht einher, dass umgekehrt der Geist versinnlicht wird und eine sinnliche Natur besitzt. In der Tat ist dies darin zu sehen, dass der Geist, nachdem er das absolute Wissen
erreicht hat, »unbefangen von vorn bei ihrer [der sinnlichen Natur] Unmittelbarkeit anzufangen und sich von ihr auf wieder großzuziehen« hat (591), und zwar in einer neuen Welt und Geistesgestalt, in der er das neue Dasein bekommt. Dabei ist zu beachten, dass der Geist
»bei ihrer Unmittelbarkeit« anfüngt. »Denn der sich selbst wissende
Geist, eben darum, dass er seinen Begriff erfasst, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewissheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewusstsein, — der Anfang,
von dem wir ausgegangen« (589/90).
Das begreifende Wissen, das auf der letzten Stufe der Phänomenologie des Geistes erreicht wird, enthält das sinnliche Bewusstsein als dessen Anfang, allerdings in der aufgehobenen bzw. getilgten Gestalt. Der Unterschied zwischen dem anfänglich Sinnlichen und dem aufgehoben Sinnlichen liegt darin, dass das erstere als das vom »Wissen« unterschiedene, unabhängige Vermögen bzw. als das Äußere des Geistes wirkt, während das letztere zur Wesensnatur des Wissens innerlich gehört. Dies lässt sich nicht blof$ abstrakt aussagen, sondern auch in der wirklichen Form des Wissens sehen. Denn das begreifende Wissen lässt, indem der Geist sich entäußert, das in seiner Wesensnatur ent-
haltene Sinnliche aufscheinen. »Die Wissenschaft enthält in ihr selbst diese Notwendigkeit, der Form des reinen Begriffs sich zu entáufsern,
und den Übergang des Begriffs ins Bewusstsein« (589). Das begreifende Wissen beginnt, als das sinnliche Wissen im hóheren Sinne sich zu entwickeln. Das Sinnliche wird als die Äußerlichkeit des Geistes negiert, aber
ihr inneres Wesen wird im begreifenden Wissen aufbewahrt und zu diesem Wissen erhoben. So beginnt das »aufgehobene Sinnliche« im
begreifenden Wissen zu wirken. Dadurch richtet sich der Geist bald als das absolute Wissen darauf aus, sich in der »Natur« und der »Geschich-
te« als dessen Entäußerung zu entwickeln. Die Natur ist der »entáuferte Geist« (590) und die Geschichte der »an die Zeit entäußerte Geist« 170
Absolutes Wissen — Gelassenheit des Pathos
(ibid.). Beide sind die Gebiete, in denen der Geist sich selbst weiß und
durch die Anderen hindurch in sich zurückkommt, womit die »Natur-
philosophie« und die »Geschichtsphilosophie« im Hegelschen Sinne anfangen. Hier ist daran zu erinnern, dass im Kapitel der »sinnlichen
Gewissheit« schon gesagt wurde, dass »die sinnliche Gewissheit selbst nichts anderes als nur diese Geschichte ist« (90). Der Anfang der Phänomenologie des Geistes wird am Ende in der aufgehobenen Gestalt
wiederholt. Dies ist eine Gestalt der Struktur des »Kreises«, wie er das Charakteristische der Spekulation ausmacht. So beginnt der Geist, der das absolute Wissen erreicht hat, in der Natur und der Geschichte mit
dem Sinnlichen.
So weit das »Sinnliche« im »absoluten Wissen«. Wenn die obige Interpretation nicht ein Fehlschlag ist, so ist auch zu sagen, dass die »Phánomenologie des Geistes zum Sinnlichen«, wie sie dem Weg der Phünomenologie des Geistes entlang herausgebildet wurde, durch ihren letzten Wendepunkt hindurch den Ausgang zu einer neuen Entwicklung erreicht. Aber bevor der Blick in diese Richtung gerichtet wird, ist noch etwas in Betracht zu ziehen. Wie nämlich verhält es sich hier in diesem letzten Wendepunkt des Wissens mit dem »ungemeinsamen Gemeinsinn« bzw. der »ungemeinsam-gemeinsamen Sym-pathie«?
Im absoluten Wissen wird die »Zeit« getilgt, womit auch das »Sinnliche« aufgehoben wird. Zwar wurde oben festgestellt, dass das aufgehobene Sinnliche im Wissen weiter als dessen innere Potenz wirkt. Aber diese Feststellung betrifft nur die Erscheinungsform des Sinnlichen, noch nicht die Dynamik der Wandlungsstruktur dieses Sinnlichen selbst. Da aber das aufgehobene Sinnliche im absoluten Wissen verborgen bleibt, muss der Ansatzpunkt der Betrachtung dieser Dynamik an der Gestalt des absoluten Wissens selbst zu suchen sein.
Die Notwendigkeit für die Wissenschaft, die Form des reinen Begriffs
zu entäußern, wird wie folgt erläutert: »dieses Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts ist die hóchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich« (590). Dieser Satz gilt für uns eben als der gesuchte Ansatzpunkt.
Der »Begriff« als das Selbstwissen des Geistes ist das Resultat des
geistigen »Greifens« seiner selbst, aber diese Tat wird hier als das »Entlassen« seiner selbst bezeichnet. Damit wird ausgesagt, dass der Geist,
indem er sich in der »Form des Selbst« begreift, diese Form entlässt. Der Gegensatz zum Greifen ist Weg-Lassen, somit Ver-gessen im ety-
mologischen Sinne des Wortes. Aber auch sachlich verhält es sich so. Es 171
Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
ist trotz aller innerlichen Differenz zu Hegel an das Wort des Zen-
Meisters Dôgen zu erinnern: »Sich selbst erlernen heift, sich selbst
vergessen«.% Innerhalb des Kontextes der Phänomenologie des Geistes heißt dies, dass das Wissen »seine Grenze« weiß. »Seine Grenze wissen
heißt, sich aufzuopfern wissen« (590). Dasselbe muss jetzt auch vom »Sinnlichen« gesagt werden kön-
nen. Der Geist hebt das Sinnliche auf, womit er mit dem aufgehobenen
Sinnlichen anfängt, das in seiner Unmittelbarkeit in den Vordergrund
kommt. Dies heißt, dass das Sinnliche in seinem Selbst seine nicht-
sinnliche Wesensnatur zeigt. Die Tilgung und Aufhebung des Sinnlichen ist das Entlassen und Aufopfern der Form des Sinnlichen. Hier
ist daran zu erinnern, dass das Wasser alles Andere nass macht, sich selbst aber nicht, und seine Wesensnatur eben darin zu sehen ist, kei-
neswegs nass zu sein. Im Hinblick auf das Sinnliche heift dies: »Das Entlassen seiner (des Sinnlichen) aus der Form seines Selbst ist die
höchste Freiheit und Sicherheit des Sinnlichen von sich«. Die Freiheit des Sinnlichen von sich selbst ist die tiefste Tiefe desselben. Der neue Schritt des Geistes im »Reich der Geister« bzw. »Reich der Welt« wird
als die »Offenbarung der Tiefe« (591) bezeichnet. Mit ihm wird die Tiefenschicht des Geistes geoffenbart als das aufgehobene Sinnliche. Die gemeinte Tiefe kann auch als das »Tiefenbewusstsein« interpretiert werden, das in der Phänomenologie des Geistes nie thematisiert und erst im 20. Jahrhundert in der Psychopathologie in Angriff ge-
nommen wurde. Aber sie kann auch als die Tiefenschicht des »Sinnlichen« verstanden werden, wobei das Kennzeichen des »Sinnlichen« in der tiefsten Tiefe desselben entlassen und als das Entlassene auf-
gehoben wird.
Eben in dieser Tiefenschicht stoßen auch der »Gemeinsinn« und die » Compassion« auf deren letzten Wendepunkt, dem Punkt, an dem es sich ergibt, dass das Entlassen der »Form des Selbst« auch das Entlassen der »Form des Anderen« ist. Damit wird nicht das Verschmelzen des Unterschiedes zwischen dem Ich und dem Anderen im halb tráu46 Der Satz, in dem dieser Ausdruck vorkommt, lautet: »Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden. Durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden heißt, Leib und Herz meiner selbst
sowie Leib und Herz des Anderen abfallen zu lassen.« Dógen, Shóbógenzó. Ausgewählte Schriften. Übersetzt, erläutert und herausgegeben von Ryósuke Ohashi und Rolf Elberfeld, Tokyo 2006, S. 39.
172
Absolutes Wissen — Gelassenheit des Pathos
menden Unbewusstsein gemeint. Es geht um die »Freiheit von der Form des Anderen«. Erst indem man von dieser Form frei wird, kann
man in der absoluten Fremdheit und Nicht-Gemeinsamkeit des Ande-
ren mit diesem eine gemeinsame Beziehung unbefangen bilden. Dies heifst, dass die »Sym-pathie« bzw. die » Compassion« erst im Entlassen und Ver-gessen ihrer selbst in ihre eigentliche Wirkung gelangt. Vorhin wurde das Wort von Dógen als das dem absoluten Wissen entsprechende zitiert. Zum Schluss ist noch ein Wort, das von Shinran geschrieben wurde, zu zitieren: »Boddhisattva, der mit seiner Compas-
sion alle leidenden Lebewesen zu erretten strebte, schaut weit um sich herum und findet, dass es nirgends die Lebewesen gibt, die errettet
werden sollen«.7 Die Compassion des Boddhisattva wird hier zuerst
von Grund aus entlassen und ver-gessen. Ohne diese Gelassenheit
und Vergessenheit seiner selbst wird das Pathos der Errettung der leidenden Lebewesen seinerseits in eine Art des Irrens verfallen und die Compassion des Boddhisattva zum »Mitleid« degradiert, das von der
Seite des leidenden Lebewesens zurückgewiesen werden wird. Auch von der Seite des Boddhisattva wird gesagt werden: »Der unfähige Boddhisattva, indem er nach der Errettung der leidenden Lebewesen strebt, ertrinkt selber«. Der Boddhisattva muss seine eigene Compassion im Anfang und in der Wurzel entlassen haben. Aus der bisherigen Darstellung ist jetzt vielleicht klar geworden, dass das Pathos des Absoluten und die Compassion des Boddhisattva einander »entsprechen«. Damit wird nicht behauptet, dass beide auf derselben Ebene stehen. Zwischen beiden gibt es natürlich große Unterschiede, wobei der fundamentale Unterschied sich wie folgt formulieren lässt: Der erstere drückt sich als das philosophische Wissen aus, das durch die christliche Religion hindurch deren Essenz in der Form des spekulativen »Wissens« begreift. In ihm ist das ungemeinsam-gemeinsame Pathos als »Sym-pathie« bzw. als » Compassion« enthalten. Aber die Compassion des Mahayana-Buddhismus drückt sich durchaus in der und als die »Tat« bzw. »Übung« aus, in der das »Wissen« als solches radikal getilgt bzw. ver-gessen wird. Dies ist eine andere Sachlage als die, in der das aufgehobene Wissen sich als Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie entwickelt. Desto mehr ist darüber nach47 Shinran, Kógyóshinshó (Lehre, Übung, Glauben, Erweisen), das Buch Keshindo-kan
(Das Land der Inkarnation). Shinran (1173-1262) war der einflussreichste Buddhist der Sekte des reinen Landes im japanischen Buddhismus.
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Phänomenologie des Geistes als Sinneslehre
zudenken, welche Bedeutung die trotz aller dieser Differenzen bestehende »Entsprechung« hat. Einige Überlegungen sollen im »Nachwort« vorgelegt werden. Damit ist der Hauptteil der »Phänomenologie des Geistes zum Sinnlichen« vorläufig zu einem Abschluss gekommen.
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Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phánomenoetik der Compassion«
1. Der Verfasser hatte bisher bereits in anderen Schriften! versucht, we-
sentlich denselben Gedanken wie in der »Phánomenologie des Geistes als Sinneslehre« darzulegen. Ein zusammenfassender Rückblick soll die gegenwártige Position des Verfassers und einen Ausblick auf weitere Schritte etwas deutlicher werden lassen. In den genannten Schriften wurde die Gesamtperspektive der Arbeit als die »Phänomenoetik der Compassion« bezeichnet. Das Wort »Compassion«, das im vorliegenden Buch als mit der »Sym-pathie« synonym gebraucht wird, ist vom Mahayana-Buddhismus »geliehen«. »Geliehen« heifst hier, dass es nicht ganz als der im buddhistischen Sinne verstandene Terminus gebraucht wird. Anderseits ist es aber doch nicht zu leugnen, dass der Verfasser in der Verwendung des Wortes von dem buddhistischen Begriff der Compassion affiziert wird. Seine Absicht liegt darin, dieses Wort als einen philosophischen Begriff auszuarbeiten, um die in den bisherigen Begriffen der abendländischen Philosophie nicht zur Genüge ausgedrückten Denkerfahrungen in die Philosophie einzuführen und damit für die Philosophie selbst einen neuen Themenbereich zu eróffnen. Buddhistisch bedeutet die » Compassion« so etwas wie das »Grofse Mitgefühl«, d.h. das Herz von Buddha und Boddhisattva, das sich auf
die leidenden Lebewesen richtet und sich um die Errettung dieser Wesen kümmert. Es ist die Gesinnung, die nur der erwachte Heilige
erreicht und besitzt. Für das hier versuchte philosophisch-phánomenologische Denken kann die »Compassion« in diesem Sinne kein Aus-
1 Vgl. »Hi no genshó-ron josetsu. Nihon tetsugaku no roku téze« (Vorschule der Phänomenoetik der Compassion. Sechs Thesen zur japanischen Philosophie), Tokyo 1998; »Kikukoto to shiteno rekishi. Rekishi no kansei to sono kózó« (Die Geschichte als Zuhören/Gehörtes. Geschichtssinn und dessen Struktur), Nagoya 2005.
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Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion«
gangspunkt werden. Denn der philosophische Ausgangspunkt muss jedem Menschen zugänglich sein, solange dieser Vernunft hat. Jedoch würe es in religióser Hinsicht zu kurzgegriffen zu sagen, dass die »Compassion« die Gesinnung dessen ist, der als ein Heiliger oder ein Erwachter über den allgemeinen Menschen einfach erhaben bleibt. Im letzteren Fall wird die »Compassion« so etwas wie das aus der himmlischen Hóhe auf die leidenden Wesen auf der Erde gewendete Mitleid oder ein Erbarmen, die nichts zu tun haben mit der » Compassion«, wie sie hier gemeint ist. Wir haben im Kapitel des »sich entfremdeten Geistes« gesehen, dass der »Monarch« durch eine einmalige Mahlzeit das Vertrauen der unterworfenen Anderen erworben zu haben glaubt, in Wirklichkeit aber nur die innere Empórung der Anderen verursacht. Wenn Buddha und Boddhisattva sich in der Weise dieses Monarchen zu den leidenden Menschen verhielten, blieben sie Heuchler. Die Reli-
gion ist immer ein Paradox. Buddha und Boddhisattva müssen von derselben Natur sein wie die leidenden Wesen, und umgekehrt müssen diese leidenden Menschen, wenn auch unbewusst, eben die »Compas-
sion« von Buddha und Boddhisattva als Veranlagung in sich haben. Die Gesinnung der leidenden Wesen muss »mitkonstituierend: sein für die »Compassion« von Buddha und Boddhisattva. Im gewissen Sinne müssen es die leidenden Wesen sein, die den Buddha wirklich Buddha sein
lassen. Ein Gedanke Meister Eckharts sei hier als eine westliche Entsprechung angeführt: »Nun ist es viel mehr wert, dass ich Gott zu mir
zwinge, als dass ich mich zu Gott zwinge«?.
Um das Gesagte auf der philosophischen Ebene zu sagen, so im Grunde dieselbe Sachlage wie der Cartesianische »bon sens«, »allen Menschen gleich zugeteilt sein« soll. Der erste Schritt, »Compassion« als einen philosophischen Begriff auszuarbeiten,
gilt der die ist,
ihn als Tiefenschicht der Gesinnung aufzufassen, die jeder Mensch in sich hat. Von da erst beginnt der Prozess, dass dieser buddhistische
Begriff einen neuen philosophischen Gehalt erwirbt. Um einige Einsichten aus bisherigen Schriften des Verfassers zu wiederholen, ist die »Compassion« im Hinblick auf ihre Erschlossenheitsmodi dreifach auf-
? Meister Eckhart, Von Abgescheidenheit, in: Meister Eckhart, Die deutschen und la-
teinischen Werke. Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint. Fünfter Band. Traktate, Stuttgart 1963, S. 402. Der originale Satz lautet: »Nü ist vil edelicher, daz ich twinge
got ze mir, dan daz ich mich twinge ze gote«.
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Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion«
zufassen: erstens als die ursprüngliche Erschlossenheit des »Selbst«, zweitens als die des »Anderen« und drittens als die Erschlossenheit
der »Geschichtswelt«. Das »Selbst« ist nicht das »Ich«. Seine Wesensnatur kann nicht durch eine ichliche Vorstellung oder Reflexion erfasst werden. Auch der (das) »Andere« ist, wenn er (es) in seiner schlechthinnigen Anders-
heit erfahren werden soll, prinzipiell nicht vom ichlichen Bewusstsein her zu erfassen. In beiden Fällen wird eine grundsätzliche Umwendung
des gewóhnlichen Ich-Bewusstseins postuliert. Zur Bezeichnung der durch diese Umwendung erreichten Gesinnung kann der Begriff »Compassion« gewählt werden, da, wie gesagt, diese die buddhistische Gesinnung von Buddha und Boddhisattva bedeutet, sich eben durch die
genannte Umwendung des Bewusstseins das Erwachen angeeignet zu
haben. Um es aber nochmals zu betonen: Es geht hier nicht darum, diesen religiósen Begriff unmittelbar zu akzeptieren, sondern ihn in einer Analogie zur Gesinnung des Menschen im philosophisch-phänomenologischen Licht zu verstehen. Bei der Rede vom »Anderen« muss dieses nun nicht unbedingt in der singulären Gestalt auftreten. Es gibt zahllose »Andere«. Denn es ist ein Faktum, dass diese Welt aus zahllosen Anderen besteht. Dabei sind
die gemeinten Anderen nicht unbedingt die Menschen. Berge, Flüsse,
Bäume, Steine; alle können als Andere bezeichnet werden. Die Welt
besteht im Zusammenspiel der Anderen, und dieses Zusammenspiel ist in der »Geschichtswelt« ausdrücklicher und bewusster als in der Naturwelt. Die Geschichtswelt ist die Welt, die wir bilden, zugleich
aber die, in der wir erst sein gelassen und bestimmt werden. schöpft sich nicht im blof historisch-positiv zu betrachtenden standsbereich; sie ist das Ganze, das nicht vergegenständlicht kann, zu dem unser Selbst als ein Element zugehórt. Um sie
Sie erGegenwerden in ihrer
Seinsweise als das Ganze zu begreifen, muss wieder gefordert werden,
dass unser vergegenständlichendes, ichlich-subjektives Bewusstsein eine Umwendung erfáhrt. Wenn die Gesinnung, die als Erschlossenheit dieser Geschichtswelt gilt, » Compassion« genannt wird, so wird die buddhistische Bedeutung ebenso wenig übertreten, da in den buddhistischen Schriften die »Welt« und das »Herz« miteinander zusammengehórig sind.? So ist die dreifach-einige Gesinnung, in der das »Selbst«, ? Als ein Beispiel mag das »Diamant-Sutra« dienen. Dort werden die Logik der Welt und die des Herzens als dieselbe Logik von demselben Gehalt entwickelt. Die erstere
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Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion«
das »Andere« und die »Geschichtswelt« erschlossen werden, nicht mit
Unrecht »Compassion« zu nennen. Die nächste Frage ist, unter welchen Bedingungen und mit welchem Ansatz diese »Compassion« als ein philosophischer Begriff ausgearbeitet werden kann. Ein Anfang ist gemacht, wenn wir in den bisherigen Sinneslehren der Philosophie die Gesinnungen als Samen finden, die sich durch gewisse Auslegung - d.h. ohne Sprung, der Sache gemäß — als Gesinnüngen herausstellen, die als Modi der »Com-
passion« zu nennen sind. In der Tat wurde in der »Einführung« darauf hingewiesen, dass die Sinneslehre von der Antike bis zur modernen Zeit solche Beispiele in sich birgt. Wir haben in Hegels Phänomenologie des Geistes das beste Beispiel gesehen und dieses Werk im Ganzen als Vertiefung des Sinnlichen auf die » Compassion« hin ausgelegt. Der Begriff der »Sym-pathie«, den wir ausgearbeitet haben, kann als synonym mit der »Compassion« verstanden werden. Das Wort wird mit dem Bindestrich geschrieben, um es von der »Sympathie« im gewóhnlichen Sinne einschließlich des Sympathie-Begriffs in der anthropologischen Phänomenologie Max Schelers zu unterscheiden. Die »Sympathie« ist das »Weltgefühl«, d.h. der Ort des Sich-meldens der Welt,
während die Sympathie im gewöhnlichen Sinne das subjektive Mitgefühl der Individuen ist. Letztere wird erst von der ersteren her als deren subjektiv bedingte Form zureichend begriffen werden. Dies heißt aber umgekehrt, dass auch die Sympathie im gewóhnlichen Sinne eine tiefe Bedeutungsschicht hat, die zur » Compassion« führt. Der Versuch, diese » Compassion« als philosophischen Begriff auszuarbeiten, wurde bisher im Hinblick auf die Verfahrensweise als »Phánomenoetik« bezeichnet. Dazu sind zunächst wiederum die Einsichten des Verfassers in dessen bisherigen Schriften zusammenfassend zu wiederholen. Dieses Wort wird bewusst anstelle des Wortes »Phánomenologie« verwendet. Der Begriff der Phánomenologie ist
heute, nach dem Verlauf ihrer Tradition von mehr als einem Jahrhundert, so mehrdeutig geworden, dass eine eindeutige Definition nur als
formale móglich ist, etwa in der Wendung »Zu den Sachen selbst«.
führt zur Formel »Welt ist keine Welt. Deshalb wird sie die Welt genannt« (Erste Runde,
6. und 7. Frage, 13. Abschnitt); die letztere kulminiert in der Formel »Indem kein Ort
zum Bleiben vorhanden ist, entsteht das Herz« (Ibid., 10. Abschnitt). Beide Formeln gelten als exemplarisch für die von Daisetsu Suzuki genannte »Logik von »Bejahungund-Verneinung zugleich«« (soku-hi no ronri).
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Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion«
Aber eben deshalb kann umgekehrt gesagt werden, dass die »Phänomenologie«, bevor sie in einer bestimmten Gestalt vollzogen wird, die originäre Anschauung bezüglich der Sache, derer sie sich annimmt (wie z. B. die Welt, das Leben, das Bewusstsein, der Leib usw.), in ihrem Inneren birgt. Im Fall der Phänomenologie des Geistes enthält sie die Gestalt der skeptischen Intuition, die dem jeweiligen Bewusstsein innewohnend vernimmt, dass etwas nicht ganz stimmt mit dem, was dieses Bewusstsein je begriffen zu haben meint. Wie gesehen, zog sich diese originäre Intuition als der »sich vollbringende Skeptizismus«
durch den ganzen Weg der Phänomenologie des Geistes hindurch.
Dem beschreibenden »Logos« der Phänomenologie muss die originäre »Noêsis« zugrunde liegen, die diesen Logos leitet. Im Innersten der Phänomenologie wird die phänomenoetische Intuition enthalten sein. Ein Einwand könnte allerdings erhoben werden, dass im phänomenologischen Verfahren keine bestimmte Einstellung vorausgesetzt werden darf und die Voraussetzung solcher Noêsis nicht phänomenologisch ist. Aber dieser Einwand ist von eher formalistischer Art. Denn in Wirklichkeit erweist sich die genannte Noêsis erst in ihrem Selbstvollzug. Die Ansicht von Bergson sei hier als Bestätigung der Ansicht des Verfassers heranzuziehen. Er sagt, dass es in einem »perfekten Gebäude (des philosophischen Systems) durch die geschickte architektonische Kunst« immer die einfachste »ursprüngliche Intuition gibt«.* Der »Phánomenologie« von jeder Art, so lásst sich sagen, liegt die »Phánomenoetik« im genannten Sinne zugrunde. 2. Das oben Gesagte geht nicht weiter, als es vom Verfasser bisher bereits
erórtert worden ist. Hier gilt es aber einen Schritt weiter zu gehen. Eine prinzipielle Frage ist nämlich zu stellen: Angenommen, dass die »Compassion« bei jedem Menschen als in dessen Tiefenschicht des Sinnlichen liegend belegt wird. Woher ist diese Gesinnungsebene als die letzte Tiefenschicht des Sinnlichen aufzufassen? Die wirkliche Welt besteht auch aus den Phánomenen des »Bósen«. Die Geschichtswelt zeigte oft katastrophale Miseren, in denen auch Gott und Buddha ge-
schwiegen zu haben scheinen. Auch auf der individuellen Ebene gibt es oft tragische Verhältnisse, in denen die zwei Seiten einander als Tod* Henri Bergson, L'intuition philosophique. Kapitel IV in: La Pensée et le mouvant, Paris 1938, S. 118f.
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Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion«
feinde hassen und unter Umständen mit Grimm und Grausamkeit jeweils andere Seite vernichten wollen. Werden diese Phänomene Misere und des Hasses und der dämonische Drang zum »Bösen« »Compassion« nicht lächerlich machen und zersprengen? Bleibt »Phänomenoetik der Compassion«
die der die die
nicht eine optimistische Ansicht,
die nur in einer friedlichen Zeit gilt und in der die »gute Natur« des
Menschen vorausgesetzt wird? Diese Frage kann umformuliert werden: Ist die Sym-pathie bzw. die Compassion zwischen den im extremen Gegensatz zueinander Stehenden trotz allen Spannungsverhältnissen haltbar? Es kommt doch in der Wirklichkeit oft vor, dass ein Verhältnis gebrochen wird und keine
Überbrückung mehr bestehen kann. Wäre es nicht ein von der Sympathie bzw. der »Compassion« zu reden die grausam ermordet werden, deren plattester Tod deutung hat als das Durchhauen eines Kohlhaupts
völliger Unsinn, zwischen denen, kaum mehr Be-- wie Hegel im
Abschnitt der »absoluten Freiheit« schreibt -, und denen, die dieses
Durchhauen begehen? Die Rede von der »Compassion« in den obigen Fällen ist aber nur dann unsinnig, wenn die »Compassion« und deren »Sym-pathie« noch als humanistische Gefühle anthropologisch genommen werden. Die Compassion ist nach unserer Auffassung das Gefühl und Fühlen der sich-meldenden Welt selbst, somit das Weltgefühl. Wenn sich die Welt
im Aspekt der Misere und der Grausamkeit meldet, so wird auch die
»Compassion«, indem sie in sich diesen Weltmodus spiegelt, den Aspekt des Hasses und des Gráuels annehmen. Sie nimmt nicht die Gestalt der von der Wirklichkeit abstrahierenden, schónen Seele an,
sondern eher die der hässlichen Seele. Der wesentliche Unterschied ist jedoch, ob man in der Seinsweise dieser Seele nur Hass und Gráuel sieht oder deren Abgründigkeit, die selber nicht mehr mit dem Begriff von Hass und Gráuel gekennzeichnet werden kann. Diese abgründige Tiefe ist die Tiefe der Compassion. Aus ihrem abgründigen Grund kommt das diese hässliche Seele vernichtende Nichts auf. Hass und Gräuel verschwinden nicht, aber sie beginnen von dem Schleier dieses
vernichtenden Nichts umspannt und ent-leert zu werden. Was als diese gründliche Verneinung aufgeht, ist weder das äußerliche Gesetz noch die vorgegebene Moral, sondern - anders kónnte man es nicht sagen die abgründige Tiefe von Hass und Gráuel selbst. Das sog. »Gewissen« kónnte als der Widerschein dieser abgründigen Leere in der mora-
lischen Gesinnung verstanden werden. Im Aufkommen dieser Leere 180
Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phánomenoetik der Compassion«
wird das »Es-kann-nur-so-sein« als Selbstbehauptung der Wirklichkeit durch die gründliche Negation des »Es-kann-dennoch-anders-sein« ent-leert.
Eine weitere Frage muss hier gestellt werden, nämlich ob die
»Compassion«, wenn sie auch als das Weltgefühl bezeichnet werden
mag, am Ende doch ein anthropo-zentrisches Prinzip bleibt. Anders
gefragt: Ob und wie sie, wenn sie wirklich der Ort des »Sich-meldens der Welt« sein soll, auch unter den gefühllosen Dingen wie Berge,
Flüsse, Gráser, Bàume, Steine usw. bestehen kann. Dies ist keine künst-
lich-sonderbare Frage. Denn das anthropo-zentrische Prinzip kann auch zum Rechtfertigungsprinzip der Weltherrschaft durch den Menschen werden, und die Verwirklichung dieser Herrschaft bedeutet die Möglichkeit der Entwurzelung aller Natur. In der heutigen, technologisierten Welt kann niemand diese Möglichkeit leicht verneinen. Eine von Grund aus neue Perspektive wird gesucht. Phánomenoetisch gesagt begegnen uns auch die gefühllosen Dinge nur dadurch, dass sie sich uns je und je melden. Dass etwas erscheint, heifst, dass dieses Etwas sich meldet und ausspricht und seine Beziehung zum All ausdrückt. Die »Sympathie« im Sinne von Marx
Aurelius war, wie schon gesehen, der Ausdruck der »Verbindung«, die zwischen all denen, die existieren, zustande kommt. Gefühllose Wesen wie Báume, Gráser, Steine usw. spielen, wie schon die umweltlichen
Phánomene zeigen, zusammen. Das menschliche Gefühl kónnte als Spitzenphánomen dieser Sympathie des Alls verstanden werden, wobei
das »Fühlen«, bevor es ein emotionales Geschehen wird, ursprünglich
das Geschehen der physikalischen Berührung bedeutet. Die » Compassion« gilt geistig-innerlich als Ausdruck der Tiefenschicht der Gesin-
nung des Menschen, als die Erschlossenheit von Selbst, Anderem und
der Geschichtswelt, aber ontologisch-äußerlich als der Ausdruck der kosmologischen Verbindung. 3.
Der Versuch eines philosophischen Denkens im Lichte der »Compassion« lásst sich nicht in der Weise des Monologs vollziehen. Für ihn ist
der Dialog mit den großen Erben der tradierten Philosophie unentbehr-
lich. So wurde hier aus einigen Gründen, wie schon in der »Einführung« erörtert, die Hegelsche Phänomenologie des Geistes als Ausgangspunkt gewáhlt. Aber auch im Hinblick auf diesen Ansatz sind noch zwei Vorgänger zu nennen: Kitarö Nishida (1870-1945) und Keiji 181
Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion«
Nishitani (1900-1990). Zwei Zitate von ihnen sind hier wiederzugeben. Das eine ist aus einem Aufsatz von Kitaró Nishida: »Der Gemeinsinn von Aristoteles ist das, was die spezifischen Inhalte der Sinne voneinander unterscheidend erkennt. Bei der Rede vom unterscheidenden Erkennen denkt man zwar leicht an den Urteilsakt, aber der Gemeinsinn ist nicht der vom Sinn geteilte Akt; er leistet das unterscheidende Erkennen dadurch, dass er durchaus in eins mit dem
Sinnlichen tátig ist. Der Ort als der Begriff des Allgemeinen, wie ich ihn denke, ist ungefáhr wie dieser Gemeinsinn. Denn der Begriff des
Allgemeinen bedeutet das Bild, das dadurch entsteht, dass der Ort sich
in dem unendlich tieferen Ort des Nichts spiegelt.«° Nishida vergleicht hier den Kernpunkt des Gemeinsinnes von
Aristoteles mit seinem Gedanken des »Ortes«, der für Nishidas Philosophie von zentraler Bedeutung ist. Die Idee, beide Gedanken mit-
einander zu vergleichen, scheint zunächst etwas schroff und überraschend zu sein, aber am Ende ist sie treffend. Sie ist im Grunde auch
gleich mit unserer Ansicht der Phánomenoetik des Gemeinsinnes, dessen Tiefenschicht die » Compassion« ist, die, indem die Ichheit des Sub-
jektes zunichte gemacht wird, sich als Ort für die Anderen ergibt.
Wenn von einem Unterschied die Rede sein soll, so lag das Interesse
Nishidas in der Entwicklung der »Ort-Logik«, während hier das Interesse das »Phánomenoetische« ist. Aber auch im Hinblick auf den phánomenoetischen Gesichtspunkt gibt es deutliche Spuren eines Vorgángers. Aus dem Aufsatz von Keiji Nishitani, »Kü to soku« (Die Leere und das »gerade«), ist eine Stelle zu
zitieren:
»Die sinnliche Empfindung als die konkrete Erfahrung ist, als die Empfindung von etwas, die Bestimmung der »Sache:; sie enthält in sich
das erkennende Urteilen in der Weise des ursprünglichen und anfáng-
lichen Keims. Darum ist sie, obwohl sie noch nicht die klare Urteilskraft ist, die Urteilskraft »wie im Traum«, und insofern das erkennende
Wissen, das die »Sache« anfänglich vernimmt. In der Kraft der »Emp-
findung: als der »Sache« sind die Einbildungskraft und die Urteilskraft
5 Kitaró Nishida, »Basho« (der Ort), 1926, in: »Nishida Kitaró Zenshá« (Die Gesamtausgabe Kitaró Nishidas, Bd. 4), 3. Aufl., Tokyo 1979, S. 257.
182
Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phänomenoetik der Compassion«
ungetrennt und einheitlich enthalten, und das Ganze dieser Kräfte wirkt als die Kraft des »Vernehmens«.«®
Die Formulierung »Kraft der »Empfindung: als der »Sache«« darf
so verstanden werden, dass die sinnliche Empfindung der Ort ist, wo
die Welt sich zeigt, wie wir in der »Einführung« gesehen haben. Nishitani erórtert, dass diese Kraft der Empfindung die Einbildungskraft und die Urteilskraft ungetrennt enthält und vor allem in der Einbildungskraft als Imagination wirkt, mit der die »image« der »Sache«
gebildet wird. Die Image-nation bedeutet auch, dass »die in jedem der fünf Sinne enthaltene Kraft der Empfindung als die Kraft des »Gemeinsinnes< wirkt und sich als die Einbildungskraft (imagination) aktualisiert«.?
Da Nishitani das französische Wort »image« ohne Übersetzung in
einem tiefen Sinne gebraucht, ist eine kurze Zusammenfassung nicht allzu aussagekräftig. Dennoch soll seine Grundeinsicht angedeutet
werden. Die »image« der Dinge ist für Nishitani der Ort, an dem die
Dinge einerseits ihre Grenze wie eine Wand haben, diese Wand aber zugleich halb durchlässig ist, so dass die Dinge füreinander durchlässig bleiben. Die Erschlossenheit dieses einander Durchlassens der Dinge in
der »image« ist die »Leere« im Sinne Nishitanis. Er sieht ein, dass diese »Leere«, bevor sie spekulativ gedacht wird, schon in der »sinnlichen Empfindung« und im »Gemeinsinn« real gegenwärtig ist. Nishida begriff den »Gemeinsinn« als den »Ort« in seinem Sinn,
Nishitani als die »Leere«. Um ein Missverständnis zu vermeiden, ist
hinzuzufügen, dass der Verfasser in seiner Hegel-Interpretation nicht von vornherein diese Ansichten vorausgesetzt hat. Er hat sie unversehens bemerkt, als er die Ergebnisse seiner Untersuchung reflektiert
hat. Seine Vorgänger hatten bereits den Punkt erreicht, auf dem der Verfasser erst jetzt steht. Nur die weitere Perspektive, die er im vorlie-
genden Entwurf zu óffnen versucht hat, die Phánomenoetik der Com-
passion, scheint von ihnen noch nicht genügend erórtert worden zu sein. Dazu ist noch zuzufügen: Der Verfasser hatte bereits seiner frü-
heren Arbeit »Zeitlichkeitsanalyse der Hegelschen Logik«® den Nebentitel beigefügt: »Zur Idee einer Phánomenologie des Ortes«. Erst 6 Keiji Nishitani, »Kü to soku« (Die Leere und das »gerade.), in: »Nishitani Keiji Chosaku-shü« (Gesammelte Schriften Keiji Nishitanis), Bd. 13, Tokyo 1987, 5. 128.
7 Nishitani, ibid., S. 141. 8 Verfasser, »Zeitlichkeitsanalyse der Hegelschen Logik«, Freiburg/München 1984.
183
Schlussüberlegung: Gegenwart der »Phánomenoetik der Compassion«
nach mehr als zwanzig Jahren kam es so weit, diese Idee einen Schritt weiter zu konkretisieren in der Form der »Phänomenoetik der Compassion«. Dem Verfasser ist jetzt eine Stimme hórbar, die lautet: »Du,
Eikan, allzu langsam folgst du mir nach«.?
? Diese Worte sind im Mythos des Tempels Eikan-dó in Kyóto überliefert. Der sogenannte »rückblickende Amida-Buddha« spricht das Wort aus, um den Mónch Eikan aufzufordern, ihm schnell nachzufolgen.
184
Nachwort
Im Anschluss an die obige »Schlussüberlegung« ist noch einiges in der Form eines »Nachwortes« hinzuzufügen.
Das vorliegende Buch kann also als eine Weiterentwicklung bzw. eine Vertiefung der Schrift des Verfassers gelten, die vor mehr als zwanzig Jahren ebenfalls im Verlag Karl Alber erschienen ist. Der erste Teil der vorliegenden Arbeit, »Die Tragweite des Sinnlichen«, geht auf einen Vortrag des Verfassers auf dem Internationalen Symposium »200 Jahre Phánomenologie des Geistes«, das im Oktober 2006 an der
Universität Jena veranstaltet wurde, zurück. Der Vortrag wurde auch in den von W. Welsch und K. Vieweg beim Suhrkamp Verlag herausgegebenen Tagungsband aufgenommen.! Die »Schlussüberlegung« hat der Verfasser teilweise als Keynote Speech auf der Tagung »Envisioning Japanese and Chinese Philosophical Potentials in the 21° Century«, veranstaltet von Centre for Religious and Spirituality Education, The Hong Kong Institute of Education, im Dezember 2008 vorgetragen Die anderen Kapitel entstanden wáhrend zwei von der Alexander von Humboldt-Stiftung unterstützten Forschungsaufenthalten. Der erste Aufenthalt war im Wissenschaftskolleg zu Berlin im Februar/ März
2007 und der zweite im Februar 2008 an der Universität Jena.
Das Institut für Philosophie in Jena war auch der Veranstalter des oben
genannten
Internationalen
Symposiums
zur Phünomenologie
des
Geistes. Den dortigen Gastgebern und Professoren, Herrn Dr. Wolfgang Welsch und Herrn Dr. Klaus Vieweg, die freundlicherweise mein Manuskript gelesen haben, dankt der Verfasser herzlich für viele kostbare Kommentare. Dasselbe gilt auch von zwei ausgezeichneten Hegel-
! Hegels Phánomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Herausgegeben von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt a. M. 2008.
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Nachwort
Forschern in Jena, den Herren Dr. Ralf Beuthan und Dr. Christian
Spahn. Ohne die berechtigte Kritik und anregenden Vorschläge von diesen Kollegen wäre die gegenwärtige Form des vorliegenden Bandes nicht möglich gewesen. Herrn Tony Pacyna, dem Seminarassistenten des philosophischen Instituts, dankt der Verfasser für seine gewissenhafte, sprachliche Überprüfung des Manuskriptes. In der Endphase der Bearbeitung des Manuskriptes hat mir Frau Eveline Cioflec, die im Anschluss an ihre Promotion in Freiburg im Breisgau mit einem Forschungsstipendium der Japan Society for Promotion of Science bei mir an der Ryukoku University zur Philosophie der Kyoto-Schule geforscht hat, durch viele Diskussionen geholfen, wofür ich mich herzlich bedanken móchte. Bezüglich des Griechischen, mit dem sich der Verfasser vor allem in seiner Aristoteles-Auslegung bescháftigen musste, hat ein ehemaliger Studienfreund und ausgezeichneter Grázist an der Universität Kyoto, Tetsuro Nakatsukasa, viel geholfen. Ihm sei ebenfalls herzlich gedankt. Der Verfasser móchte der Alexander von Humboldt-Stiftung seinen besonderen Dank sagen. Sie hat nicht nur die genannten Forschungsaufenthalte, sondern auch die Publikation des vorliegenden Buchs mit einer großzügigen Druckkostenbeihilfe unterstützt. Der Verfasser findet kein richtiges Wort, um seinen herzlichen Dank gebührend auszudrücken. Nicht zuletzt sei Herrn Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber herzlich gedankt. Er betreut auch die 2. Auflage des von mir herausgegebenen Bandes Die Philosophie der Kyóto-Schule, die gleichzeitig
mit dieser Arbeit erscheinen wird. Ryósuke Ohashi
186
Kyoto, Mai 2009
Literaturverzeichnis
(1)
Hegels Werke (Bandzahl nach der Werkausgabe in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1969 ff.)
— Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaftten, Bd. 8, 9, 10. — Glauben und Wissen, Bd. 2, S. 287-434.
- Phänomenologie des Geistes, Bd. 3.
— Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 13, 14, 15.
— Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 19. (2) Zitierte Literatur Adorno, Theodor: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966. Aristoteles: De Anima (Übersetzung nach der Ausgabe: Willy Theiler, Aristoteles. Über die Seele. Zweite, durchgesehene Auflage, Berlin 1966. Augustinus: Civitas Dei. Augusuthinusu chosakushü (Gesammelte Schriften von Augustinus), Bd. 13, Tokyo 1971. Bergson, Henri: Le Pensée et la Mouvant, Oeurvres, Paris 1970. Cicero: Paradoxa Stoicorum, in: Sekai no meicho. Kikero, Epikutetosu, Marukusu
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Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten u. Neuen Testaments nach der deutschen Übertsetzung D. Martin Luthers. Neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß genehmigten Text. Taschen-Ausgabe. Stuttgart. Birkner, Siegfried: Das Leben und Sterben der Kindsmórderin Susannna Margaretha Brandt. Nach den Prozessakten dargestellt. Frankfurt a. M. 1973. Bowman, Brady: Sinnliche Gewißheit, Berlin 2003. Büttner, V. (Hg.): Meister Eckeharts Schriften und Predigten, Erster Band, Jena 1923.
Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen 1997.
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— Meditationes de Prima Philosophia, ibid., VII — Les Passions de l'Ame, ibid., XI.
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— Meister Eckhart Werke, Josef Quint / Niklaus Largier et al. (Hg), Frankfurt a. M. 1993.
Fichte, Johann Gottlieb: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Sámtliche Werke, herausgegeben von I. H. Fichte, 8 Bde., 1845/184 6, Bd. 1.
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»Das absolute Wesen, welches als ein wirkliches Selbstbewusstsein da ist, scheint von seiner ewigen
Einfachheit herabgestiegen zu sein, aber in der Tat
hat es damit erst sein höchstes Wesen erreicht.«
G. W. F. Hegel
»Boddhisattva, der mit seiner Compassion alle leidenden Lebewesen zu erretten strebte, schaut weit um sich herum und findet, dass es nirgends die Lebewesen gibt, die errettet werden sollen.« Shinran
»Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; mein Auge und sein Auge
ist eins.«
|
Meister Eckhart
»Das Sehen heißt eine Wendung der Seinsweise des
Selbst, und ist dasselbe mit der Bekehrung.«
Kitaro Nishida
ISBN 978-3-495-48376-3
ΠΠ}! 783495