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German Pages XII, 387 [391] Year 2020
Nicole Pöppel
Die Pariser Bohème in der petite presse Freibeuter auf dem Boulevard
Die Pariser Bohème in der petite presse
Nicole Pöppel
Die Pariser Bohème in der petite presse Freibeuter auf dem Boulevard
Nicole Pöppel Berlin, Deutschland Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen. Von 2010 bis 2012 wurde die Forschungsarbeit der Autorin von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Die Dissertation wurde im März 2020 mit dem Studienpreis 2019 des Kreises Siegen-Wittgenstein ausgezeichnet.
ISBN 978-3-476-05748-8 (eBook) ISBN 978-3-476-05747-1 https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Dank Das vorliegende Buch ist ein Ergebnis langjähriger Forschungsarbeit, die mir durch viele Menschen ermöglicht oder erleichtert wurde. Mein größter herzlicher Dank gilt meiner Doktormutter und langjährigen Förderin, Prof.in Dr. Walburga Hülk-Althoff, die mich stets ermutigt und inspiriert hat und mir mit ihrem analytischen, geistreichen Denken und ihrer intellektuellen Neugier ein Vorbild ist. Sehr großer herzlicher Dank gebührt meinem zweiten Betreuer, Prof. Dr. Georg Stanitzek, der mir mit großer freundschaftlicher Geste nach Projektende ermöglicht hat, die Arbeit unter sehr guten Bedingungen in einem angenehmen, fachlich anregenden Forschungsumfeld weiterzuführen. Dir, liebe Uta, für die konstante emotionale und intellektuelle Unterstützung, darunter vor allem für die zielführenden inhaltlichen Diskussionen. Ohne deine, nicht zuletzt auch tatkräftige Hilfe wäre das Buch nicht so und vielleicht gar nicht abgeschlossen geworden. Du hast deswegen auf vieles verzichtet, ich danke dir so sehr! Meinen Eltern für das Vertrauen in mich und den Rückhalt sowie die Freiheit, mich meinen Interessen nachgehen zu lassen. Ihnen sowie meiner Schwester, meiner Oma und meiner Tante danke ich, auch für jede gedankliche, praktische und finanzielle Unterstützung. Viele liebe Kolleginnen und Kollegen haben mich durch Rat und Tat unterstützt: Dr.in Rebecca Weber, Prof.in Dr. Marijana Erstic und Prof. Dr. Gregor Schuhen sowie die Teilnehmerinnen des Kolloquiums Romanistik zusammen mit Prof. Dr. Christian von Tschilschke. Herzlichen Dank auch an Prof.in Dr. Sabine Schrader für die konstruktiven Lektüren und die zielführenden Verbesserungen. Herzlichen Dank an meine Freundinnen und Freunde, die Korrekturen gelesen und redigiert haben: Sebastian Klappert, David Schmidt und Anke Bliedtner. Ebenso danke ich Lea Sauer fürs Lektorat der französischen Passagen sowie meiner Lektorin bei Metzler, Susanne Göbel.
Inhaltsverzeichnis Einleitung………………………………………………………………1 1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien ............................ 19 1.1 Zur Bohèmeforschung ........................................................ 19 1.2 Bohème und Medienpraxis: Ökonomien und Außenseiter im literarischen Feld ....................................... 33 2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse ......................................................................................... 45 2.1 Vorläufer und Nachfolger der literarischen petite presse.. ................................................................................ 45 2.2 Kleine Zeitungen und Zeitschriften: Eine Frage der Größe?........................................................................... 55 3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) ............................................................................... 63 3.1 Le Corsaire-Satan: „Un journal comme on n’en voit plus“ ..................................................................... 63 3.1.1 Programm und Gestaltung der literarischsatirischen Tageszeitung.......................................... 65 3.1.2 „Ein bisschen von allem“ – begeistert sammeln und mischen............................................................. 97 3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan ................. 105 3.2.1 Pikante Neuigkeiten aus der Pariser Gesellschaft in den „Nouvelles à la main“ ...................... 110 3.2.2 Klatsch und Reklame zwischen Aneignung und Zurückweisung ............................................... 119 3.3 Die Bohème im Feuilleton des Corsaire-Satan ................ 131 3.3.1 Malschülergeschichten: Von der Künstlerzur Bohèmeliteratur ............................................... 134 3.3.2 Positionen zur öffentlichen Selbstdarstellung bei Champfleury und Murger ................................ 143 3.3.3 Verliebte Debütanten in Champfleurys Les Aventures de Mlle Mariette (1853) .................. 150
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Inhaltsverzeichnis Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin. Gründermanie zwischen Zentrum und Peripherie (1854) ..................................................................... 167 4.1 Eine kritische Masse neuer Zeitschriften: Gründungseifer und Einsteigergeschichten ........................................ 167 4.2 Alternativen bieten: Die Bohèmepresse im Quartier latin ..................................................................... 173 4.2.1 Le Sans le Sou als Vorbild der jungen Bohèmepresse ..................................................................... 173 4.2.2 Zeitschriftenstaffeln von Le Sans le Sou bis Triboulet ................................................................ 190 4.3 L’Appel (1855) – Ein Aufstand der kreativen Jugend....... 193 4.3.1 Programm und Leitbild: Ein offenes Forum der Jugend.............................................................. 194 4.3.2 Die Rolle der Auswahl: Faire Plattform und objektive Kritik...................................................... 203 4.3.3 Autorenvita statt Werkkritik: Eine Feuilletonserie über den Dichter Barrillot ............................. 208 4.3.4 Mediale Anpassungsstrategien und Experimentalität der petite presse .................................... 213 4.3.5 Die petite presse als Refugium der Dichtung ........ 219 4.4 Dokumentationseifer des Flüchtigen: Geschichte(n) in der petite presse ............................................................ 222 4.5 An der Ecke zum Boulevard: Der Figaro erobert Paris.... 229 4.5.1 Satire, celebrity und Stil – Das Programm des Figaro ............................................................. 229 4.5.2 Der Figaro auf dem Weg zur erfolgreichen Boulevardzeitschrift .............................................. 232 4.5.3 Figaro und die Bohème ......................................... 247 4.5.4 Grenzgänge(r) auf dem Boulevard: Monselets Monsieur de Cupidon (1854) ............... 254
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Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863) ............................................................................. 271 5.1 Aufenthaltsort des Publikums und Revier der Schreibenden ..................................................................... 272 5.2 Boulevardbilder und Boulevardszenen einer illustrierten Zeitschrift ...................................................... 286 5.3 Werbestrategien in Le Boulevard...................................... 297 5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard ......... 306 5.4.1 Selbstverständliches am Rande: BourgeoisieKritik und Bohème-Identifikation ......................... 306 5.4.2 Henry Murgers Tod: Bedauern, Würdigungen, Nostalgie................................................................ 313 5.4.3 Inszenierung eines Endes in der Abschiedsausgabe von Le Boulevard .................................... 325 5.5 Märtyrer und Machtlose: Neue Romane zur alten Bohème ............................................................................. 332 5.5.1 Lächerlich und werbewirksam: Léon Cladels Les martyrs ridicules ............................................. 332 5.5.2 Émile Desdemainesʼ Bohèmeroman Les Impuissants (1867) ................................................ 340 Fazit und Ausblick ............................................................................. 353 Bibliographie ...................................................................................... 363
Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Abb. 2: Abb. 3:
Abb. 4:
Abb. 5:
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Abb. 7:
Abb. 8:
Abb. 9:
Abb. 10:
Titelkopf von Le Corsaire-Satan, Nr. 1 vom 7. September 1844 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)........................................................... 89 Titelkopf des Satan vom 2. März 1843 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ............. 91 Titelgraphik von Le Corsaire vom 30. April 1827 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ............................................................................... 93 Titelgraphik von Le Corsaire vom 2. Januar 1842 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ............................................................................... 94 Titelkopf von Le Corsaire vom 12. September 1848 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ............................................................................... 96 Zwei Vignetten aus der Zeitschrift Satan vom 13. August 1843 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)......................................................... 106 Titelgraphik von Nadar zu Mystères galans des théatres de Paris. Paris: Cazel 1844 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ........... 107 Titelseite von Le Sans le Sou, Nr. 1 vom 19. bis 26. November 1854 (© Médias19 / Bibliothèque nationale de France)................................................................. 177 Léopold Flameng: „Bureau du journal Le Sans le Sou (impasse Clopin)“ (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ................................... 186 Ankündigung von Rabelais, dem Nachfolgetitel von Triboulet (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)......................................................... 191
XII Abb. 11:
Abb. 12:
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Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19:
Abbildungsverzeichnis Titelkopf von L’Appel, Nr. 26 vom 13. Mai 1855 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ............................................................................. 199 Titelkopf von L’Appel, Nr. 42 vom 2. September 1855 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ........................................................................ 217 Titelkopf des Figaro, Nr. 9 vom 28. Mai 1854 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France) ............................................................................. 241 Porträtkarikatur von Étienne Carjat: „H. Daumier“ aus Le Boulevard ............................................................. 289 Lithographie von Émile Durandeau: „Messieurs de la Lyre. Les Nuits de Monsieur Baudelaire“ ................... 291 Titelseite von Le Boulevard, Probenummer vom 1. Dezember 1861 ................................................................ 293 Werbeannoncen in der Probenummer von Le Boulevard......................................................................... 298 Seite eins der letzten Ausgabe von Le Boulevard............ 326 Dank an die Mitwirkenden, Le Boulevard, Nr. 24 vom 14. Juni 1863............................................................ 329
Die Abbildungen 14 bis 19 stammen aus der Faksimile-Ausgabe der Zeitschrift Le Boulevard, journal littéraire illustré (1861‒1863) zugänglich in der Staatsbibliothek zu Berlin.
Einleitung Jede Bohème hat ihre Zeit, nicht jede Zeit ihre Bohème. Ihren Ursprung findet die Bohème in den 1830er Jahren in Paris und der Begriff entwickelt sich ab den 1840er Jahren zu einer Selbstbeschreibung marginaler, literarisch und künstlerisch produktiver Kreise, die prekär leben und die bürgerliche Welt mit ihrem Lebensstil provozieren. Die Bohème kann aber nicht auf Frankreich begrenzt werden, sie ist vielmehr ein internationales, zyklisch wiederkehrendes Phänomen moderner industrieller Gesellschaften. Sobald eine Bohème gesellschaftlich sichtbar wird, tritt sie auch in literarischen und medialen Darstellungen hervor. Helmut Kreuzer, einer der bekanntesten Bohème-Exegeten, betont in diesem Zusammenhang die Wechselwirkung zwischen Lebenswirklichkeit und Mediatisierung: „Die Kulturbilder aus der Boheme schießen periodisch aus dem Boden (von Bohemiens wie von Nicht-Bohemiens geschrieben), so oft das Bohemetum als soziales Problem wieder einmal ins öffentliche Bewußtsein dringt oder als ästhetisch aparte Attitüde gesellschaftlich-modisch interessant wird.“1 Das zeigt nicht nur das Geflecht zwischen den (im 19. Jahrhundert aufkommenden) Massenmedien und der Bohème, sondern die Wechselwirkung hat auch zur Folge, dass jede Bohèmegeneration ein relativ umfangreiches Korpus an Texten und Darstellungen hinterlässt, was schon den Zeitgenossen offenkundig war, so beschreibt es der Journalist Auguste Vitu für die Bohème Mitte des 19. Jahrhunderts recht differenziert: Quant aux productions du pays, elles consistent en poèmes, odes, ballades, romans, articles de journaux, premiers-Paris, entrefilets, caricatures, et généralement tout ce qui séduit, tout ce qui amuse,
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Helmut Kreuzer (1968): Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart: Metzler, S. 82.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8_1
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Einleitung tout ce qui inquiète, tout ce qui réveille, tout ce qui pique et tout ce qui mord la bonne ville de Paris.2 Was die Produktion des Landes [der Bohème, N.P.] angeht, so besteht sie aus Gedichten, Oden, Balladen, Romanen, Zeitungsartikeln, premiers-Paris, kurzen Zeitungsnotizen, Karikaturen und allgemein allem, was verführt, was unterhält, allem, was beunruhigt, allem, was aufweckt, allem, was die gute Stadt Paris sticht und beißt.
Vitu verortet die Pariser Bohemiens dabei inmitten des gesellschaftlichen und kulturellen Geschehens und weist ihren Texten einen aktuellen Wirkungsanspruch zu. Er versteht die Bohemiens also als Künstler, die sowohl journalistische Texte und Unterhaltungsformate als auch angesehene literarische Gattungen bedienen. In der vorliegenden Arbeit steht mit der zweiten Generation der 1840er bis 1860er Jahre eine außerordentlich aktive Pariser Bohème im Mittelpunkt. Die Bohemiens sind Dichter, Kritiker, Klatschjournalisten, Anekdotenerzähler, Rezensenten, Zeichner oder Reklametexter und sie sind – dies sei am Rande erwähnt – fast ausschließlich Männer.3 Sie sind Medienproduzenten und Medienkritiker zugleich. Ein großer Teil ihres aus heutiger Sicht unüberschaubaren ‚Büchergebirges‘ und ‚Memoirenschatzes‘4 wurde für „kleine Zeitungen“ und „kleine Zeitschriften“5 geschrie-
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Auguste Vitu: „Notice géographique, historique, politique et littéraire sur la Bohème“, zit. n. Jean-Didier Wagneur; Françoise Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒ 1870. Écrivains – journalistes – artistes. Seyssel: Champ Vallon, S. 555. Original in: La Silhouette vom 25. November 1849, S. 3f. Da die Zeitschriften und analysierten Texte größtenteils ausschließlich von männlichen Autoren stammen, verwende ich in dieser Arbeit meist das generische Maskulinum. Dort, wo mir dies nicht repräsentativ erscheint, markiere ich die Genderdifferenz. Kreuzer (1968): Die Boheme, S. 61; Gerd Stein (1982): „Vorwort“. In: ders. (Hg.): Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 1/5 (Bohemien – Tramp – Sponti. Boheme und Alternativkultur). Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 9–17, hier S. 12.
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ben, die zu einem wesentlichen Experimentierfeld sowohl anerkannter als auch junger, unbekannter Autoren avancieren und damit einen wichtigen Bestandteil der Literatur- und Kulturgeschichte der Pariser Bohème darstellen. Dort entwerfen Autoren und Künstler in faktualen und fiktionalen Selbst- und Fremdbeschreibungen die Bohème.6 Die wohl prominenteste Selbstbeschreibung „Scènes de la Bohême“7 von Henry Murger erscheint von 1845 bis 1849 im Corsaire-Satan; Émile Desdemaines veröffentlicht Les Impuissants 1857 als Fortsetzungsserie in der Revue espagnole et portugaise. Die Bohème erweist sich als ein buntes, gemischtes Milieu, wobei der sogenannten „bohème littéraire“, der sich verschiedene Artikel und Serien Anfang der 1840er Jahre annehmen, ein besonderer Stellenwert zukommt.8 „Bohème littéraire“ steht für diejenigen, die die Position des Schriftstellers anstreben, aber sich, was den Literaturbetrieb angeht, (noch) in der Position der Bittsteller, der Hoffenden, der mit Enttäuschungen und Absagen lebenden Außenseiter befinden. Kurzum: Ob Bohème oder bohème littéraire, die sogenannten kleinen Zeitungen und Zeitschriften tragen wesentlich zur Entstehung des Bohème-Images, aber auch der
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Entsprechend der Übersetzung von Pierre Bourdieus Les règles de lʼart verwende ich die Bezeichnung „kleine Zeitschrift(en)“ sowie daran angelehnt „kleine Zeitung“. Pierre Bourdieu (2014): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs und Achim Russer. 6. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 199. Zur Selbstinszenierung als „Bedingung“ der Bohème. Gertrude Cepl-Kaufmann (2007): „Die Bohème zwischen Lebensreform und Lebensflucht“. In: Walter Fähnders (Hg.): Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts. Essen: Klartext Verlag, S. 55–73, hier S. 58. Titel des Feuilletons sowie der ersten Buchausgabe von 1851. Henry Murger (1851): Scènes de la Bohême. Paris: Michel Lévy frères. Im selben Jahr erscheint ebenda eine zweite, korrigierte Auflage unter demselben Titel. Erst in späteren Buchausgaben wird der Text zu den „Scènes de la vie de bohème“. „La Bohème littéraire“ erscheint anonym von 1842 bis 1844 in der Satirezeitung Charivari. Ein Beitrag von Auguste Descauriet aus der Zeitschrift Tam-Tam vom 30. Juni 1844 trägt denselben Titel.
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Konstitution der Bohème selbst bei: „La petite presse a été le vecteur du discours et des re-présentations bohèmes“9. Die petite presse als Wirkungsstätte Die sogenannte petite presse, die „kleinen Zeitungen“ (petits journaux) und „kleinen Zeitschriften“ (petites revues), bilden das wesentliche Korpus dieser Arbeit. Darunter fasst man literarische, satirische und künstlerische Blätter, die zwar von der Stempelsteuer (timbre), der Kaution (cautionnement) und einer Vorabzensur befreit sind, aber dafür auch offiziell vom politischen Diskurs ausgeschlossen sind. Sie unterscheiden sich also dezidiert von den grands journaux in politisch-ökonomischer Hinsicht, denn die Tageszeitungen mit politischen und sozialökonomischen Inhalten sind in weiten Teilen des 19. Jahrhunderts zulassungspflichtig und unterliegen dem timbre. Eine rein ökonomisch-politische Einteilung in grande und petite presse wäre allerdings vereinfacht, handelt es sich doch um ein lebendiges Terrain, in dem sich Journalisten und Pressemacher den Begriff petite presse immer wieder neu aneignen und neu interpretieren.10 Da die Zeitungen der petite presse weniger kostspielig in der Produktion sind, gelten sie als niedrigschwellig für Einsteiger, weshalb sie als Experimentierfeld gerade für Debütanten und Außenseiter gesehen werden, die diese zum Teil auch selbst gründen. In jedem Fall kennzeichnet die petite presse ein „Außenseiterstatus gegenüber Autoritäten diverser Felder (politischer, literarischer, künstlerischer)“11, was sie zum prädestinierten Terrain der Bohème macht.
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Ü.: „Die petite presse war der Träger des Diskurses und der Repräsentationen der Bohème.“ Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 504. Das zeigt der Corsaire-Satan, der auch den timbre zahlt, um im großen Format der Tageszeitungen erscheinen zu dürfen, der aber dennoch inhaltlich als petit journal gelesen wird. Ebenso unterliegt Le Boulevard (Kapitel fünf) der Stempelsteuer, als er kommerzielle Werbung einführt. „Elle [la petite presse, N.P.] s’inscrit face à la presse générale et, au de-là, face aux autorités des divers champs (politique, littéraire, artistique) dans un rapport
Einleitung
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Wie wichtig die Verbindung zwischen Zeitschriften und Bohème ist, hat Jean-Didier Wagneur in zahlreichen Aufsätzen und zusammen mit Françoise Cestor in einer gehaltvollen Materialsammlung herausgestellt. Aus ihr geht hervor, in welch großem Umfang Autoren der Bohème für Zeitschriften arbeiten.12 Gerade die petite presse zeugt also davon, wie die Bohème des 19. Jahrhunderts eine medienwirksame, polarisierende Selbstdarstellung betreibt. Sie wird dabei von einer Generation Autoren und Künstlern vorangebracht, die hier als zweite Bohème gefasst wird. Ihr Verdienst ist es, nach der ersten Generation der romantischen Dichterkreise aus der Impasse du Doyenné (wie Gérard de Nerval, Arsène Houssaye oder Théophile Gautier) oder deren weitaus weniger bekannten Mitstreitern wie Philotée OʼNeddy und Pétrus Borel, die sich in einem Cénacle organisieren, Bohème als positive, plakative Selbstbeschreibung medial durchgesetzt zu haben. Wenn die Romantiker überhaupt als Bohème definiert werden, was durchaus strittig ist, dann deshalb, weil sie die Marginalität des Dichters in der Gesellschaft und den besonderen Lebensstil der Künstler herausgestellt haben. Der Journalist Félix Pyat (1810–1889) formuliert das in einem Artikel von 1834 so: La manie ordinaire des jeunes artistes de vouloir vivre hors de leurs temps, avec d’autres idées et d’autres mœurs, les isole du monde, les rend étrangers et bizarres, les met hors la loi, au ban de la société; ils sont les Bohémiens d’aujourd’hui.13 Der gewöhnliche Tick der jungen Künstler außerhalb ihrer Zeit leben zu wollen, mit anderen Ideen und anderen Sitten, entfernt sie von der Welt, macht sie fremd und merkwürdig, bringt sie außerhalb des Gesetzes, in gesellschaftliche Verbannung; sie sind die Bohemiens von heute. [Hervorhebung, NP.]
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d’outsider.“ Jean-Didier Wagneur (2008): „Le journalisme au microscope. Digressions bibliographiques“. In: Études françaises, Bd. 44, Nr. 3, S. 23–44, hier S. 26. Siehe Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870. Félix Pyat (1834): „Les Artistes“. In: Nouveau tableau de Paris au XIXe siècle. Bd. 4. Paris: Charles-Béchet et Legrand et J. Bergougnioux, S. 1‒21, hier S. 8f.
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Anstatt sich und ihre Gemeinschaft aber als Bohème zu bezeichnen, assoziieren sich die Romantikerinnen14 und Romantiker noch eher metaphorisch als „bohémiens“15. Das ändert sich ab Mitte der 1840er Jahre mit der petite presse, die zum Generator und Spiegel der Bohème wird. In einer Zeit, in der versucht wird, Felder der high culture, der Hochkultur von der sogenannten low culture abzugrenzen, kommt gerade diesem Medienformat eine besondere Bedeutung zu. Denn dort versuchen die Außenseiter und Neulinge ichren Anspruch auf Beteiligung und Anerkennung am und im literarischen und öffentlichen Leben zu erheben; ein mitunter paradoxes Unterfangen, ziehen sie doch Legitimation aus ihrer Marginalisierung. Sie ringen in der petite presse nicht nur um ihre gesellschaftliche Position, sondern auch um die Relevanz ihrer Textsorten und nicht zuletzt um die ihrer Publikationsorgane. Fast folgerichtig versuchen sie die petite presse aufzuwerten, indem sie sie von anderen Formaten und Verfahren abgrenzen. Die Abgrenzungen gegenüber den ‚seriösen‘ Produktionen, die Selbstbehauptungen gleichkommen, konstituieren in einem bestimmten Maße die petite presse, doch zeigt sich ebenfalls, dass die längst beliebten Themen des Großstadtlebens – darunter die Bohème selbst – auch in etablierte Zeitschriften und Zeitungen Eingang finden. Die Breite der journalistischen Aktivitäten in der petite presse lässt sich nur schwer auf einen Nenner bringen. Ein gemeinsamer Nenner könnte jedoch sein, dass alle, die ins literarische Feld eintreten möchten, mit ihr in Berührung kommen.
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Wie George Sand, deren literarische Verwendung der Begriffe „bohème“ und „bohémien“ Françoise Genevray untersucht (2012): „De George Sand à Henry Murger. Note sur les débuts du bohémianisme (1835‒1845)“. In: @nalyses. Revue des littératures franco-canadiennes et québécoise, Bd. 7, Nr. 3, S. 303‒325. „Bohémien“ bedeutet wörtlich „Zigeuner“ und bezieht sich auf die Gruppe herumfahrender, nicht-sesshafter Personen, die in der Romantik und auch schon früher wegen ihres Wanderlebens und der Außenseiterrolle als Vergleich mit Künstlern dienten.
Einleitung
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In der vorliegenden Arbeit wird das intensive und ambivalente Verhältnis der Autoren, Intellektuellen und Künstler zur Presse schlaglichtartig anhand von Zeitungen und Zeitschriften aus drei Jahrzehnten, 1840er, 1850er und 1860er Jahre untersucht, um jeweils die Strategien und die Bedeutung der Medien für die Medienpraxis und Medienkritik sowie die Selbstinszenierung der Bohème zu analysieren. Boulevard und Boulevardisierung Das geschieht vor dem Hintergrund einer besonderen historischen Konstellation, nämlich der Verschiebung des Boulevards zur Boulevardisierung der Medien. Schließlich hatten vor dem Durchbruch der Massenmedien Mitte des 19. Jahrhunderts Unterhaltungen, Inszenierungen, aber auch Klatsch, Anekdoten oder Porträts ihren Ort auf dem Boulevard, der so zu einem soziokommunikativen, kulturhistorischen Ort wurde. Schon lang vor der Jahrhundertmitte ist der Boulevard ein realer Ort in der Stadt Paris, dessen Bedeutung als öffentlicher Raum die Großstadtliteratur immer wieder reflektiert. Auf dem Boulevard begegnen sich Menschen, sie spazieren und konsumieren, dort werden Nachrichten produziert und Neuigkeiten verbreitet. Doch im Laufe des Jahrhunderts bündeln sich über ihn kritische Diskurse zu Medien, Öffentlichkeit und Publizität, die mit der Entwicklung der Presse und auch dem Phänomen der Boulevardisierung zusammenhängen.16 Für Autoren spielt der Boulevard eine wichtige Rolle, denn er ist ein spezifischer Ort, genauer gesagt ein „Schnittfeld“, „in dem sich Aufenthalt, Erwerbsarbeit, Publizität – auch im Sinne von Reklame – und kritisches Interesse von Bohème-Existenzen tref-
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An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Umbaumaßnahmen in Paris, die der Städteplaner Georges-Eugène Haussmann (1809‒1891) im Zweiten Kaiserreich durchführen ließ, einen großen Einfluss auf das Erscheinungsbild und die Wahrnehmung von Paris hatten. Siehe Walburga Hülk; Gregor Schuhen (Hg.) (2012): Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung. Tübingen: Narr sowie Walburga Hülk (2019): Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand. Hamburg: Hoffmann und Campe.
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Einleitung
fen.“17 Mit der petite presse wird dieser Ort verdoppelt. Aus heutiger Perspektive steht der Boulevardbegriff in kulturkritischer und medienästhetischer Perspektive für oberflächliche Unterhaltung, für Sensationalisierung, Personenorientierung und damit verbundene Gestaltungsweisen. 18 Dieses Konzept eines Medienboulevards bzw. eines mediatisierten Boulevards entwickelt sich im Paris des Zweiten Kaiserreichs, das von 1852 bis 1870 unter der Herrschaft Napoleons III. andauert und mit einer restriktiven Kulturpolitik verbunden ist. Zur Zeit der zweiten Bohème, also Mitte des 19. Jahrhunderts werden kritische Aspekte der Medienkultur wie Sensationsorientierung, die Unterscheidung von Fakt und Fiktion sowie der Umgang mit Persönlichkeitsrechten zunehmend auf diesen Raum bezogen reflektiert. Dass sich auch die Bohemiens mit dieser Frage befassen, liegt daran, dass ihre Selbstbehauptungs- und Abgrenzungsstrategien von denselben Konflikten betroffen sind, wie sie in den Medien zutage treten. Das, was die Bohème als Gemeinschaft ausmacht, die Freundschaften, ihr soziales Kapital, stehen auf dem Spiel, wenn einer die Spielregeln im Umgang mit der Öffentlichkeit verletzt. Dass die Öffentlichkeit für die Bohemiens wichtig ist und dass die Bohèmeexistenz mit Sichtbarkeit auf dem Boulevard und mit Reklame für die eigenen Zwecke einhergeht, zeigt folgende Bemerkung von Alfred Delvau, des „Ethnograph[en]“19 des Pariser Lebens der 1860er Jahre, der die Bohemiens energiegeladen und selbstbewusst beschreibt:
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Georg Stanitzek (2015): „Die Bohème als Bildungsmilieu. Zur Struktur eines Soziotopos“. In: Walburga Hülk; Nicole Pöppel; ders. (Hg.): Bohème nach ’68. Berlin: Vorwerk 8, S. 81–95, hier S. 90. Siehe z.B. Ulrike Dulinski (2003): Sensationsjournalismus in Deutschland. Konstanz: UVK. René Fayt (1999): Un aimable fauborien: Alfred Delvau (1825–1867). Essai de biographie suivi de cinquante-quatre lettres inédites d’Alfred Delvau à Auguste PouletMalassis. Brüssel: „The Romantic Agony“ et Émile Van Balberghe Libraire, S. 6. Fayt beschreibt Delvau dort als „Zeuge“ sowie als „acteur“.
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Vivre chez soi, penser chez soi, boire et manger chez soi, mourir chez soi, nous trouvons cela ennuyeux et incommode. Il nous faut la publicité, le grand jour, la rue, le cabaret, pour nous témoigner en bien ou en mal, pour causer, pour être heureux ou malheureux, pour satisfaire tous les besoins de notre vanité ou de notre esprit, pour rire ou pour pleurer: nous aimons à poser, à nous donner en spectacle, à avoir un public, une galérie, des témoins de notre vie.20 In seinen vier Wänden leben, denken, trinken und essen, zu Hause sterben, wir finden das langweilig und unbequem. Wir brauchen Öffentlichkeit, Publikum, die Straße, das Cabaret, um uns zu bezeugen im Guten wie im Schlechten, um zu plaudern, um glücklich oder unglücklich zu sein, um all die Bedürfnisse unserer Eitelkeit oder unseres Geistes zu erfüllen, um zu lachen oder zu weinen: Wir lieben es zu posieren, uns als Schauspiel darzubieten, ein Publikum zu haben, eine Galerie, Zeugen unseres Lebens.
Delvaus Bohème ist auf Wirkung aus; sie setzt sich auf den ersten Blick über die bürgerliche Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit hinweg und ist dadurch anstößig und faszinierend zugleich. Sie hat den Übergang von der Mansarde auf die Straße vollzogen: Öffentlich in Erscheinung zu treten, stellt sogar eine Existenzbedingung dar. So wird die Bohème prädestinierter Gegenstand der Boulevardzeitschriften, die das Publikum mit pikanten und amüsanten Neuigkeiten aus dem Großstadtleben, auch über dessen Ränder und Abseiten, unterhalten.21 Für die Bohemiens gilt, genauso wie für andere am Literatur- und Medienbetrieb Beteiligte, dass sie in den Medien doppelt präsent sind, nämlich als Urheber von Texten und
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Alfred Delvau (1862): Histoire anecdotique des cafés et cabarets de Paris. Paris: E. Dentu, S. V. Vgl. zum urbanen Sensationstourismus, dem Aufsuchen des Elends, der Suche nach dem Anrüchigen, das sich in der Literatur im 19. Jahrhundert zeigt und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts praktiziert wird. Dominique Kalifa (2012): „Das Gegenstück des Boulevards: La tournée des grands-ducs und der Elendstourismus“. In: Hülk; Schuhen (Hg.): Haussmann und die Folgen, S. 67‒80.
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als Figuren jener Geschichten und Neuigkeiten, deren Status nicht immer ganz klar ist. Mit anderen Worten: Die Bohème wirbt für sich und ihre Werke, sie produziert Anekdoten und Kalauer und beliefert damit den Pariser Boulevard – die Theater, die Presse – und prägt den öffentlichen Raum der Stadt Paris. Gleichzeitig kommen, und das ist nur scheinbar widersprüchlich, in ihren Texten und Medien Distanz und Skepsis zum Ausdruck. Genau diesen Zusammenhang zwischen Selbstdarstellung und Abgrenzung, zwischen Partizipation und Kritik gilt es im Folgenden genauer zu erforschen, um Rückschlüsse auf das Zusammenspiel von Medienpraxis und Medienkritik im 19. Jahrhundert zu gewinnen. Schließlich sind die Zeitungen und Zeitschriften in dieser Zeit ein überaus komplexes und zugleich das einflussreichste Bedingungsfeld der literarischen Produktion und kulturellen Selbstverortung von gesellschaftlichen Gruppen, Menschen und Milieus. Die Bohème nutzt die Presse für ihren Zweck und sie prägt im Zuge dessen Formen der Unterhaltung mit. Gleichzeitig beteiligt sie sich an Medienkritik, die mehrere Ebenen betrifft und nicht nur ökonomische, sondern auch medienpraktische, stilistische und ethische Aspekte einbezieht. Als verwerflich an der petite presse gilt den Beteiligten und dem Publikum paradoxerweise gerade ihr boulevardesker Charakter, also ihre Missachtung moralischer Grenzen, aber auch die von Fakt und Fiktion und ihre Sensationslust, die vor allem an Effekten orientiert ist. Presseschaffen oder Neudeutsch doing media kann in dem vernetzten Feld der petite presse auch mit sozialen Beziehungen wie Freundschaften konfligieren. Der Boulevard und die Boulevardisierung konstituieren also ein konfliktives soziales und ästhetisches Feld, das sich im Medienformat der petite presse beobachten lässt. Die vorliegende Arbeit fügt daher der Paarung Bohème und petite presse die Perspektive auf den Boulevard hinzu, weil die petite presse von einer medienwirksamen und polarisierenden Selbstdarstellung der Bohème zeugt, die von den Autoren und Künstlern der zweiten Bohèmegeneration vorangebracht wird.
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Die zweite Bohèmegeneration Die französische Literaturgeschichtsschreibung kennt mehrere Bohèmekreise oder -generationen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die nach ihrer lokalen Zugehörigkeit oder nach stilgeschichtlichen Aspekten klassifiziert werden. Dabei ist stets zu bedenken, dass die Bohème besondere Gemeinschaftsformen wie cénacles hervorbringt, aber nicht darin aufgeht.22 Auch wenn die zweite Bohème als Generation beschrieben wird, ist der Generationenbegriff eher dazu da, zeitliche Orientierung zu bieten, anstatt eine rigide Grenze zu anderen, jüngeren oder älteren Beteiligten zu ziehen. Der Begriff der séconde bohème ist im Deutschen bisher nicht gebräuchlich und geht auf Pierre Bourdieu zurück, der diese Bezeichnung gewählt hat, um die Nachfolgegeneration der Romantiker um Henry Murger und Charles Baudelaire gegenüber der vorherigen abzugrenzen.23 Selbstzeugnisse und externe Zuschreibungen stellen die Generation häufig wegen ihrer Nachfolge auf die literarisch einflussreichen Romantiker, auch wegen der gescheiterten Revolution, als verlorene Zwischengeneration dar. Die Journalisten, Schriftsteller und Künstler sind mehrheitlich in den 1820er Jahren geboren und treten vornehmlich in den 1840ern ins literarische oder künstlerische Leben ein. Jean-Didier Wagneur nennt sie entsprechend ihrer politischen, soziokulturellen Hintergründe und Stile recht nebulös „démocratique ou prolétaire, réaliste ou fantaisiste“,24 was auf die Bandbreite politischer, weltanschaulicher, ästhetischer und sozialer Be-stimmungen hinweist. Als zentrales Merkmal der zweiten Bohème, wie sie Pierre Bourdieu gefasst hat, gilt ihr sozioökonomischer Status beziehungsweise ihre Klassenzugehörigkeit. Den meisten Beteiligten wer-
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Siehe Anthony Glinoer; Vincent Laisney (2013): Lʼâge des cénacles. Confraternités littéraires et artistiques au XIXe siècle. Paris: Fayard. Pierre Bourdieu (1998): Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Nouvelle édition revue et corrigée. Paris: Éditions du Seuil, S. 100. Jean-Didier Wagneur (2012a): „Introduction“. In: ders.; Cestor (Hg.): Les bohèmes 1840‒1870, S. 9‒33, hier S. 11.
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den prekäre Startbedingungen ins literarische Leben attestiert, was Pierre Bourdieu so formuliert: […] la bohème de Murger, Champfleury ou Duranty constitue une véritable armée de réserve intellectuelle, directement soumise aux lois du marché, et souvent obligée d’exercer un second métier, parfois sans rapport direct avec la littérature, pour pouvoir vivre un art qui ne peut la faire vivre.25 […] die Bohème von Murger, Champfleury und Duranty bildet eine richtige intellektuelle Reservearmee, die unmittelbar den Marktgesetzen unterworfen und oft dazu gezwungen ist, einen zweiten Beruf auszuüben, manchmal mit direkter Beziehung zur Literatur, um eine Kunst leben zu können, die ihr nicht zum Leben gereicht.
Es sind anders als in der romantischen Bohème vor allem Kinder von Arbeitern oder aus kleinbürgerlichem Hause, die zur zweiten Bohème gerechnet werden. Bourdieu verbindet das Konzept des armen Künstlers mit der Tätigkeit für die Presse als notwendigen Erwerbsbereich. Eine journalistische Tätigkeit wird von einer künstlerischen abgegrenzt und abgewertet. Dem Markt unterworfen zu sein, bedeutet für die abwertend als „plumitifs“ und „rapins“26 bezeichneten Künstler von publizistischen Tätigkeiten wie Karikaturen und Anekdoten leben zu müssen, welche literarisch niedriger gewertet werden als zum Beispiel Dichtung und Malerei. Bourdieus Modell spiegelt ein polares Spannungsfeld wider, an dem Wertungen hängen. Es ist in vielerlei Hinsicht zutreffend, bleibt aber seiner Zeit verhaftet und erfasst genau jene Widersprüche und Ambivalenzen, die mit der Medienpraxis verbunden sind, nicht. Dies zu ergänzen ist ein Anliegen dieser Arbeit. Entgegen Bourdieu ist beispielsweise nicht notwendigerweise anzunehmen, dass finanziell gut aufgestellte Künstler autonomer und resistenter gegenüber den Verlockungen des Marktes und 25 26
Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 100. Ü.: „Schreiberlinge“ und „Malschüler“. Ebd., S. 98.
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der ‚käuflichen Muse‘27 seien. Schließlich ist für den Erfolg im literarischen Feld klassenunabhängig entscheidend, dass man ein mediales Forum oder öffentliche Aufmerksamkeit bekommt. Medienabhängigkeit und Marktgängigkeit gehören zur Selbstbehautung des Künstlers auf dem ‚freien Markt‘. Dass man dessen Bedingungen ausgesetzt ist, gilt aber nicht nur für diejenigen, die aus finanzieller Not Texte publizieren, sondern für alle, die in das Feld eintreten. Wie mediengebunden die literarische Produktion im 19. Jahrhundert in Frankreich ist, hat die Presseliteratur-Forschung in vielen Arbeiten bereits deutlich gemacht, darunter mit Blick auf poetologische Aspekte vor allem Marie-Ève Thérenty.28 Folgendes ist dabei wichtig: Die Tatsache, dass die literarische Tätigkeit im 19. Jahrhundert in jedem Fall mit der Presse verbunden ist, bedeutet weder, dass sie nur zweckgebunden aus ökonomischen Aspekten genutzt wird, noch dass die Mitarbeit unkritisch vonstattengeht. Genau diese komplexen Beziehungsgeflechte gilt es am Beispiel der zweiten Bohème und ihrer Zeitschriften zu untersuchen.
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Alexis Joachimides führt die Tatsache, dass die ‚erste Generation‘ Geld hatte neben dem entsprechenden Familienhintergrund gerade darauf zurück, dass die Beteiligten journalistisch tätig waren. Ders. (2000): „Boheme“. In: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden (2000‒2005). Bd. 1/7 (Absenz–Darstellung). Stuttgart; Weimar: Metzler, S. 728–750, hier S. 734. Siehe u.a. Marie-Ève Thérenty (2007): La littérature au quotidien. Poétiques journalistiques au XIXe siècle. Paris: Seuil.
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Korpus und Aufbau der Arbeit Eine literaturhistorische Arbeit muss die Geschichte, die sie erzählt, von einem gewissen Punkt aus strukturieren und Zäsuren setzen. In dem vorliegenden Fall liegt der Schwerpunkt auf einer Generation von Medienakteuren und Medienkritikern, die zumeist wie Henry Murger (*1822), Champfleury (das Pseudonym für Jules Husson, *1821), Charles Baudelaire (*1821) und Théodore de Banville (*1823) in den 1820er Jahren geboren sind und mittels der petite presse erste Rezensionen, Essays, Feuilletons oder Gedichte veröffentlichen. Henry Murger ist durch seinen zuerst in einer kleinen satirischen Zeitung publizierten Roman „Scènes de la Bohême“ (und die anschließenden Theater- und Operninszenierungen) zum populären Bohemien schlechthin geworden. Ähnliches gilt für seinen Freund Champfleury, der sicher neben Murger einer der wichtigsten, aber kaum vergleichbar kanonisierten Bohème-Autoren ist, was daran liegen mag, dass er die Selbstbezeichnung zurückweist und der Bohème anders als Murger skeptischer gegenübersteht. Champfleurys frühe komische Geschichten widmen sich aber ebenfalls diesem Bohèmemilieu der 1840er Jahre. Er ist ein vielseitiger Autor, später auch Erforscher der Populärkultur und Folklore, macht aber später anders als Murger, der früh(er) stirbt, eine bürgerliche Karriere. Charles Baudelaire, der lange ausschließlich als Journalismus-Skeptiker behandelt wurde, publiziert ebenfalls in petits journaux. Neuere Forschungsarbeiten fokussieren sogar den medialen Einfluss auf seine Lyrik, vor allem der Prosadichtung. Théodore de Banville, der als Lyriker einen Platz in der Literaturgeschichte innehat, war seinerzeit ein renommierter Feuilletonist und Kritiker. Ende 1845 beginnt er eine journalistische Karriere bei La Silhouette und wirkt als unermüdlicher Schreiberling, als „plumitif infatigable“29 zeit seines Lebens bei einer immensen Anzahl kleiner Journale
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Philippe Andrès (1997): Théodore de Banville (1823–1891). Parcours littéraire et biographique. Paris: LʼHarmattan, S. 265.
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mit, wie Corsaire, Figaro, National, Revue fantaisiste, L’Artiste, veröffentlicht später auch in Gil Blas, Charivari und bei Le Boulevard. Innerhalb jeder Generation von Bohemiens gibt es aber nicht nur prominente Aushängeschilder, sondern auch viele Vergessene und in der Forschung Vernachlässigte, die dennoch wesentlich zur inneren Architektur der Bohème beitragen. Heute viel weniger bekannt, aber im Bohèmekreis selbst anerkannt, sind beispielsweise Pierre Dupont (*1821), Fernand Desnoyers (*1826), die Künstler und Photographen Étienne Carjat (*1828) und Nadar (Pseudonym von Gaspard-Félix Tournachon, *1820) sowie der Verleger Poulet-Malassis (*1825). Nicht zuletzt schließt das auch die Chronisten der zweiten Bohème ein, die schon zu Lebzeiten das Milieu als Subkultur kanonisieren, unter anderem Charles Monselet (*1825), Auguste Vitu (*1823), Alfred Delvau (*1825), Philibert Audebrand (*1815) oder Firmin Maillard (*1833). Aus diesem Grunde kommen neben den kanonisierten Autoren auch zahlreiche unbekannte Autoren zur Sprache. Wie jede Auswahl ist auch diese beschränkt, aber sie zeigt, wie vielfältig das Produzentenmilieu ist, wie unterschiedlich die Wahl der Genres und die Karriereverläufe der Beteiligten sind. In den Kapiteln eins und zwei werden die zwei wesentlichen Gegenstände der Arbeit, die Bohème und die petite presse, vorgestellt. Kapitel eins fokussiert die Bohème (und die Bohèmeforschung) in den Spannungsfeldern Kunst und Ökonomie, die mit Blick auf den Boulevard reflektiert werden. In Kapitel zwei wird das erklärungsbedürftige Medienformat der petite presse historisch und begrifflich umrissen, um das gewählte Korpus zu kontextualisieren. Die daran anschließenden Kapitel der Arbeit richten sich zunächst an Zeitschriften aus und sind in chronologischer Reihenfolge angeordnet. Die ausgewählten, exemplarischen Zeitschriften Le Corsaire-Satan, Le Sans le Sou, L’Appel, Figaro und Le Boulevard sind in ihrer Gestaltung sehr unterschiedlich, was das breite Spektrum der petite presse aufzeigt. Sie verbindet der konkrete Bezug zur zweiten Bohème, entweder indem sie das Konzept besonders mediatisieren oder sich als bohemische Schaf-
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fensstätte auszeichnen. Jede Zeitschrift wird also als reale Wirkungsstätte und als Repräsentation derselben in den Blick genommen. Die Analyse hat dabei vorrangig die programmatischen und inhaltlichen Darstellungen im Blick, die der Selbstdarstellung der Produzenten dienen. Darüber hinaus werden die in diesem Zusammenhang einschlägigen Genres oder Rubriken analysiert. Weitere Quellen sind zeitgenössische Sachliteratur wie Lexika, Anthologien und Memoiren, die der Kontextualisierung der Zeitschriften, Begriffe und ihrer Akteure dienen. Einen dritten Teil des Korpus machen fiktionale Erzählungen und Romane aus, die entweder in den genannten Zeitschriften publiziert worden oder in Anlehnung daran entstanden sind. Dank ihres hohen Vernetzungsgrades in der literarischen Presselandschaft lässt nahezu jede Zeitschrift einen Blick auf das kulturelle Feld zu, weil sich Personen und Zeitschriften dialogisch aufeinander beziehen. Inhaltliche Schwerpunkte bilden das Debütieren, Gründen und Netzwerken, womit konkrete Aspekte benannt sind, die für die Bohemiens als Medienakteure spannungsbeladen sind. Was implizit mit in die Analysen hineinwirkt, sind medienhistorische und -ästhetische Entwicklungen, die sich in den Zeitungen und Zeitschriften über drei Jahrzehnte hinweg niederschlagen, darunter der Wandel der Autor- bzw. Urheberschaft. Konkret heißt das: In Kapitel drei wird mit dem Corsaire-Satan ein Debütforum der Bohème in den 1840er Jahren in den Blick genommen. Le Corsaire-Satan ist eine satirische, oppositionelle Tageszeitung, in der viele der Texte wie die von Murger und Champfleury erscheinen, die zur Popularisierung der Bohème beigetragen haben. Kapitel vier widmet sich der Bohèmepresse in den 1850er Jahren, als die Bohème omnipräsent wird. Um der Vielfalt der entstehenden Zeitschriften in den 1850er Jahren gerecht zu werden, kommen mehrere Publikationsorgane vor. Le Sans le Sou, Triboulet und L’Appel stehen für eine Reihe von Bohèmezeitschriften aus dem Quartier latin, wo Mitte des Jahrhunderst sehr viele Zeitschriften erscheinen, die dem etablierten ausgrenzenden Medien- und Literaturbetrieb als Alternativen entgegentreten wollen. Auffällig ist hier,
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dass ein Diskurs der Jugend dominant wird. Neben den genannten wird mit dem Figaro eine erfolgreiche Zeitung einbezogen, der den Außenseitern als Gradmesser für Erfolg dient und sich selbst mit dem Bohèmeleben und der journalistischen Subkultur in Paris befasst. Kapitel fünf umreißt ausgehend von der Zeitschrift des Photographen und Künstlers Étienne Carjat, Le Boulevard, wie die Bohème zu einem wichtigen Erinnerungsort der Literaten und Künstler wird. Le Boulevard ist ein integratives, künstlerisch und graphisch aufwändiges Blatt, das trotz einer einflussreichen Autorenriege das Schicksal der „Kleinen“, nämlich Finanzierungsprobleme und Repression teilt. In Le Boulevard zeigt sich ein sehr unterschiedliches Netzwerk junger oder bereits angesehener Autoren und Künstler. Außerdem spiegeln bestimmte Idole wie Murger oder Baudelaire als Symbolfiguren eine Mischung aus selbstverständlicher, aber bereits abnehmender Popularität sowie Bohème- und Romantiknostalgie wider.
1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien 1.1 Zur Bohèmeforschung Das Medienschaffen der Bohème findet im 19. Jahrhundert in einem umstrittenen, gleichwohl populären Format statt: der petite presse. Diesen Zusammenhang zu erforschen, ruft sozial- und pressegeschichtliche sowie kulturtheoretische Ansätze auf den Plan, die in diesem und dem folgenden Kapitel ausgeführt werden. Um die Bohème zu erforschen, kann man auf bestehende Forschungsarbeiten zurückgreifen. Sie befassen sich in Deutschland zumeist mit den grundlegenden Spannungsfeldern und Merkmalen dieses Milieus, auch am Beispiel konkreter Kreise in Frankreich oder Deutschland.30 Auch widmen sich mehrere Arbeiten der Bohème, um sie ab- und einzugrenzen und das Phänomen zu systematisieren. Bislang fehlt eine deutschsprachige Forschungsarbeit, die einen Schwerpunkt auf die Medienpraxis oder die Presse legt. In Frankreich ist die Bohèmeforschung im Gegensatz zu Deutschland bereits stärker mit der petite presse und der Presseforschung verknüpft. Die vorliegende Arbeit wäre in der Form nicht ohne die Material erschließenden, systematisierenden Vorarbeiten der französischen Bohème- und Presseforschung möglich gewesen. In erster Linie ist Jean-Didier Wagneur zu nennen, der die petite presse als zentrale Wirkungsstätte der Bohème beschrieben hat. Seine zusammen mit Françoise Cestor herausgege-
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Fritz Paul (1999): „Die Boheme als subkultureller ‚Salon‘. Strindberg, Munch und Przybyszewski im Berliner Künstlerkreis des Schwarzen Ferkels“. In: Roberto Simanowski; Horst Turk; Thomas Schmidt (Hg.): Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Göttingen: Wallstein, S. 305–327. Sehr interessant ist Paul Kaisers Studie zur DDR (2016): Boheme in der DDR. Kunst und Gegenkultur im Staatssozialismus. Dresden: DIK Verlag UG. Eines der wenigen Beispiele mit explizit deutsch-französischer Perspektive bietet Anne-Rose Meyer (2001): Jenseits der Norm. Aspekte der Bohème-Darstellung in der französischen und deutschen Literatur 1830‒1910. Bielefeld: Aisthesis Verlag.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8_2
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
bene, kommentierte Quellenanthologie Les bohèmes 1840‒1870 bietet ein umfangreiches Korpus zur Bohème und einen systematischen Überblick zu Personen und Wirken in der petite presse der Jahrhundertmitte. Außerdem gibt es mehrere Aufsätze und eine Materialsammlung, die sich dem Corsaire-Satan widmen 31 sowie Aufsätze und Monographien, die den wohl am intensivsten erforschten Figaro betreffen. 32 Auch zu Le Boulevard wurde eine Monographie herausgebracht. 33 Hinzu kommen grundlegende pressehistorische Arbeiten, die Grundlagen bieten und literatur- und kulturgeschichtliche Perspektiven zur Presse vorangebracht haben.34 Bislang gibt es in Deutschland keine Forschungsarbeit, die die Generation der zweiten Bohème als Medienakteure untersucht, indem sie ausgehend von Zeitschriften eine Generation von Autoren und ihre ambivalente Medienpraxis analysiert. Die Zeitschriften selbst werden hier als Wirkungsstätten der Bohème in den Fokus gerückt und dienen als Ausgangspunkt, um die Bohèmeliteratur zu kontextualisieren. Das erlaubt Einblicke in die Zeitschriften und deren Gestaltung, so dass für den deutschsprachigen Raum ein neues Korpus und Medienformat literarisch und ästhetisch erschlossen wird. Im Zuge dessen bietet die Arbeit einen literarhistorischen Überblick zur Literatur- und Mediengeschichte der zweiten 31
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Sandrine Berthelot (2013): „Le rire sous (petite) presse: le cas du Corsaire-Satan (1844–1847)“. In: Alain Vaillant; Roselyne de Villeneuve (Hg.): Le rire moderne. Nanterre: Presses universitaires de Paris Nanterre, S. 281–294; Graham Robb (Hg.) (1985): Le Corsaire-Satan en Silhouette. Le milieu journalistique de la jeunesse de Baudelaire. Nashville: Vanderbilt University. Claire Blandin (2007): Le Figaro. Deux siècles d’histoire. Paris: Colin; dies. (Hg.) (2010): Le Figaro. Histoire dʼun journal. Paris: Nouveau Monde éditions. Elizabeth Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“ (1861‒1863). Genf; Paris: Editions Slatkine. Dominique Kalifa; Philippe Régnier; Marie-Ève Thérenty; Alain Vaillant (Hg.) (2011): La Civilisation du journal. Histoire culturelle et littéraire de la presse française au XIXe siècle. Paris: Nouveau monde éditions. Zusammenfassung des frz. Forschungsstands von Joseph Jurt (Reprint 2016): „Das Jahrhundert der Presse und der Literatur in Frankreich“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 38. Jg., H. 2, S. 255‒280.
1.1. Zur Bohèmeforschung
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Bohèmegeneration anhand ausgewählter Zeitschriften und Zeitungen. Für Deutschland ist das insofern neu, als es keine Forschung zur petite presse als solcher gibt. Stattdessen gibt es bislang vor allem Forschungsarbeiten zu einzelnen Zeitungen oder Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, welche aber nicht das Medienformat petite presse im literarischen Feld betrachten.35 In Frankreich sind, was Medien und Akteure der Bohème betrifft, bisher vor allem Monographien zur Bohèmepresse des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts erschienen.36 Die vorliegende Arbeit wäre ebensowenig möglich gewesen ohne die Anregungen und Fragestellungen, die das Forschungsprojekt „Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität“37 aufgeworfen hat. Daraus sind maßgebliche Impulse dafür hervorgegangen, Bohemiens als Medienakteure und Medienkritiker zu erforschen sowie Perspektiven der deutschsprachigen und französischsprachigen Forschung miteinander zu verbinden. Das nachfolgende Kapitel gibt einen knappen Einblick in die für die Arbeit relevanten Forschungsansätze in Deutschland, Frankreich beziehungsweise in den jeweiligen Sprachräumen sowie im englischsprachigen Raum. Bisher stehen insbesondere die französische und die deutschsprachige Bohèmeforschung sehr wenig in Austausch, was in erster Linie der Sprachbarriere zuzuschreiben sein dürfte. Ein positives Beispiel für den
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Ulrike Eisenhut (2014): Zwischen Autonomie und Authentizität. Kritisches Schreiben in der Revue blanche. Heidelberg: Universitätsverlag Winter; Ursula E. Koch (1984): Le Charivari. Die Geschichte einer Pariser Tageszeitung im Kampf um die Republik (1832‒1882). Ein Dokument zum deutsch-französischen Verhältnis. Köln: Leske. Bénédicte Didier (2009): Petites revues et esprit bohème à la fin du XIXe siècle (1878–1889). Panurge, Le Chat noir, La Vogue, Le Décadent, La Plume. Paris: Harmattan; Yoan Vérilhac (2010): La jeune critique des petites revues symbolistes. SaintÉtienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne. DFG-Projekt von Walburga Hülk und Georg Stanitzek. Ergebnisse zur Bohème- und Boulevard-Forschung versammeln die folgenden Bände: Hülk; Schuhen (Hg.) (2012): Haussmann und die Folgen; Hülk; Pöppel; Stanitzek (Hg.) (2012): Bohème nach ’68.. Ideengeber werden an entsprechenden Stellen genannt, die Anregungen für diese Arbeit reichen aber über die genannten Textstellen hinaus.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
Austausch zwischen der französischen und der deutschen Bohèmeforschung bietet ein Heft der Zeitschrift Trivium, das 2014 durch Übersetzungen ermöglicht hat, Forschungsbeiträge aus dem jeweils anderen Sprachraum zu rezipieren. Das Heft erforscht Bohème mit Blick auf die Gegenwart mit dem Stichwort „Kulturen des Kreativen – Historische Bohème und zeitgenössisches Prekariat“38 . Trivium steht für ein Interesse der Bohèmeforschung in der Gegenwart, nämlich deren Aktualität in den Blick zu nehmen, die neben ihrer Internationalität und ihrer Permanenz eine wiederkehrende Frage darstellt.39 Die vorliegende Arbeit stützt sich auf deutsche und französische Forschung sowie eine internationale englischsprachige Forschung. Zahlreiche der französischen Quellen werden erstmals in deutscher Forschung berücksichtigt. Da die meisten bisher weder ausgewertet noch ins Deutsche übersetzt wurden, hat die Verfasserin alle Quellenzitate ins Deutsche übersetzt. Sozialhistorische Bohèmeforschung in Deutschland Maßgeblich für die Darstellung ihrer Bandbreite ist heute noch die Arbeit des Literaturwissenschaftlers Helmut Kreuzer, Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung, von 1968. So greifen aktuelle Arbeiten nach wie vor auf dessen Grundlagen und Typologien zurück, auch wenn neuere theoretische Impulse eingebunden40 oder neues Material erschlossen wird. Die 38
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Anthony Glinoer; Walburga Hülk; Bénédicte Zimmermann (Hg.) (2014): „Kulturen des Kreativen – Historische Bohème und zeitgenössisches Prekariat“. In: Trivium, Nr. 18. URL: https://journals.openedition.org/trivium/4997 (06.04.2020). Zur Aktualität und Verbreitung des Bohèmekonzepts international: Pascal Brissette; Anthony Glinoer (2010): „Introduction. ‚La Bohème, ça voulait dire…‘“. In: dies. (Hg.): Bohème sans frontière. Rennes: Presses universitaires de Rennes, S. 9–20. Außerdem: Daniel Cottom (2013): International Bohemia. Scenes of Nineteenth-Century Life. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Mit Ausblick auf die Gegenwart der reich illustrierte Band: Luc Ferry (2012): Lʼinvention de la vie de Bohème. 1830‒ 1900. Paris: Cercle dʼArt. Anschließend an Pierre Bourdieu und Zygmunt Bauman: Christine Magerski (2004): Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen: Max
1.1. Zur Bohèmeforschung
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US-amerikanische Bohèmeforschung, auf die mit Blick auf Jerrold Seigel zurückzukommen sein wird, rezipiert Kreuzer zumindest anerkennend.41 Kreuzer hat in seiner Monographie und in zahlreichen Lexikonartikeln eine Definition der Bohème dargelegt, die nach wie vor verbreitet ist. Seine Monographie hat die „Randgruppen mit vorwiegend schriftstellerischer, bildkünstlerischer oder musikalischer Aktivität oder Ambition und mit betont un- oder gegenbürgerlichen Einstellungen und Verhaltensweisen“42 umfassend erkundet. Seine länder- und epochenübergreifende Arbeit zielt vornehmlich auf die begriffsgeschichtliche und typologische Beschreibung der Bohème. Kreuzer stellt zudem Haltungen, Erscheinungsformen sowie typische Darstellungsweisen der Bohème dar, allerdings vor allem in der Erzählliteratur. Helmut Kreuzer definiert die Bohème als „[g]egenbürgerliche Subkultur des künstlerisch-intellektuellen Lebens“ 43 und setzt sie somit in einen aversiven Bezug zur bürgerlichen Gesellschaft. Die Bohème entwickelt sich im Frankreich der 1830er Jahre, einer Zeit, die wirtschaftlich durch die Industrialisierung geprägt ist und das Bürgertum stärkt. Die Bourgeoisie wird zum entscheidenden Publikum der Künstler und Schriftsteller, die sich nunmehr weitgehend unabhängig von Patronage – zumindest in anderer Form als im Ancien Régime – auf dem entstehenden Kunstund Literaturmarkt behaupten müssen. Die sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontexte sind natürlich komplexer und weitreichender. Kreuzer geht es aber vor allem um den Zusammenhang von Kunstschaffen und Künstlerleben in einer bürgerlichen Gesellschaft. Historische Voraussetzung für die Bohème ist mit Pierre Bourdieu ein autonomes Kunst-
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Niemeyer Verlag; dies. (2015): Gelebte Ambivalenz. Die Bohème als Prototyp der Moderne. Wiesbaden: Springer VS. Seigel nennt Kreuzers Darstellung der Bohème „the most serious and important“. Jerrold E. Seigel (1999): Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life, 1830–1930. Baltimore: Johns Hopkins University Press, S. 401. Kreuzer (1968): Die Boheme, S. V. Kreuzer (1997): „Boheme“, S. 242.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
feld. Angelehnt an seine Gesellschaftstheorie kann man davon ausgehen, dass die moderne Gesellschaft eigene Teilbereiche, sogenannte Felder, ausbildet. Das Kunstfeld ist eines davon und es entwickelt sich ab dem 18. Jahrhundert zu einem Bereich mit eigenständigen Regeln.44 Die Autonomie45 der Kunst zieht ein Problem nach sich, das sich im 19. Jahrhundert besonders ausprägt, nämlich die Konfrontation des Künstlers mit dem Markt und dem bürgerlichen Publikum. Autonomie auf der institutionellen Ebene, also Unabhängigkeit von Auftraggebern und sonstigen interessengebundenen Einflüssen auf die Produktion anzustreben, führt dazu, dass Autoren und Künstler ihre Kunst oder Gedanken verkaufen müssen. Die mit der Eigengesetzlichkeit des Kunstfeldes verknüpfte Schaffensfreiheit ist ökonomisch mit dem Risiko von Armut und Scheitern behaftet. Spätestens seit der Renaissance ist der Künstler eine mythisch aufgeladene Figur, ihm wurden bereits vor der Autonomisierung des literarischen Feldes andere Qualitäten oder Eigenheiten als dem Nicht-Künstler zugeschrieben. Wie sich die Künstlerfigur historisch wandelt, haben verschiedene Arbeiten erforscht.46 Ihre ambivalente Position zu Anfang und in der Mitte des 19. Jahrhunderts basiert darauf, dass der Kunst eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Nichtsdestotrotz ist der einzelne Künstler oder der, der ein Leben als solcher anstrebt, vom Publikum als Käufer seiner Produkte abhängig, was materielle Unsicherheit mit sich bringt. 44
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Vgl. Friedrich Wolfzettel; Michael Einfalt (2000): „Autonomie“. In: Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1/7, S. 431–479, hier S. 434f. Autonomie hat im ästhetischen Diskurs zwei grundlegende Bedeutungen. Entweder meint sie eine institutionelle oder eine poetologisch-ästhetische Ebene von Unabhängigkeit. Der zweiten Ebene kann man unter anderem die Kunsttheorie des l’art pour l’art zuordnen. Ebd., S. 434. Nina Birkner (2009): Vom Genius zum Medienästheten: Modelle des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert. Tübingen: Max Niemeyer Verlag; Gabriele Feulner (2010): Mythos Künstler. Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. Berlin: E. Schmidt; Pascal Brissette (2005): La malédiction littéraire. Du poète crotté au génie malheureux. Diss. Montréal, 2003. Montréal: Presses de l’Université de Montréal.
1.1. Zur Bohèmeforschung
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Bürgerliches Leben und Künstlerleben, die künstlerische Produktion sowie deren Finanzierung unterscheiden sich von der „bürgerlichen Arbeit und Geldwirtschaft“47. Dass Kunst nunmehr nicht nur symbolisches Gut, sondern auch eine Ware ist, bringt Spannungen mit sich, die dem Künstler- und Bohèmediskurs im 19. Jahrhundert zugrundeliegen. Kreuzers Definition der Bohème als „gegenbürgerliche Subkultur des künstlerisch-intellektuellen Lebens“ spricht mehrere Ebenen an, nämlich die soziale Ebene (das Gegenbürgerliche) sowie die produktive, ästhetische Ebene (Kunst und Intellektualität). Dem Subkulturbegriff könnte man eigens ein Kapitel widmen, auf das hier aber mit ein paar Erläuterungen verzichtet wird. 48 Helmut Kreuzer gebraucht den Subkulturbegriff Ende der 1960er Jahre, ohne ihn zu problematisieren und so verfahren die meisten Arbeiten, die auf seine Definition zurückgreifen. Das ignoriert, dass es Auseinandersetzung um den Subkulturbegriff gegeben hat, die unter darauf basieren, dass der Begriff nicht wertfrei ist. Durch das abwertende Potenzial, mit dem Abweichungen von der Mehrheitsgesellschaft wie Devianz und Außenseitertum als Subkultur gewertet wurden, wurde der Begriff zu Recht problematisiert.49 Mit Ansätzen der Cultural Studies hat der Begriff allerdings auch eine alternative Deutung erfahren. Autoren wie Stuart Hall oder Dick Hebdige haben den Subkulturbegriff ab den 1970er Jahren insbesondere auf Jugendkulturen angewandt und deren Rituale als symbolische Abweichungen von der „Stammkultur“ analysiert.50 Den Cultural Studies wird deshalb wiederum bisweilen unter-
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Kreuzer (1968): Die Boheme, S. XIII. Eine soziologische Arbeit, die sich der Subkulturtheorie widmet, erscheint nur drei Jahre nach Kreuzers Buch: Rolf Schwendter (1971): Theorie der Subkultur. Köln; Berlin: Kiepenheuer & Witsch. Vgl. Jürgen Raab; Hans-Georg Soeffner (2003): „Subkultur“. In: Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5/7, S. 786–804. Oliver Marchart (2008): Cultural Studies. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 95‒ 99.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
stellt, die Submilieus und deren Abweichungen aufzuwerten oder zu idealisieren.51 In dieser Arbeit wird der Subkulturbegriff für die Bohème verwendet. Denn er zeigt auf, dass es um Hierarchien und Wertigkeiten, um high und low im kulturellen Feld geht. Bezogen auf Texte, Handlungen und Personen bezeichnet Subkultur solche Akteure oder Medien, die nicht mit derselben Autorität und Macht oder auch demselben Kapital ausgestattet sind wie der Mainstream oder die Eliten. Man kann den Subkulturbegriff also als vorläufige Einordnung verwenden, um zu markieren, dass es um Machtverhältnisse und um unterschiedliche Grade von Anerkennung im kulturellen Feld geht. Wichtig für die grundlegende sozialhistorische Forschung Kreuzers ist, dass Bohème und Bourgeoisie „Komplementärphänomen[e]“52 darstellen, was deutlich macht, dass sie aufeinander bezogen sind und zusammengehören. Kreuzer zufolge sind nämlich weder Künstlerdasein noch Armut entscheidende Kriterien der Bohème, sondern der antibürgerliche Lebensstil.53 Diese Perspektive setzt voraus, dass Vorstellungen von Bürgerlichkeit bestehen, von denen die Bohème abweicht. Gemeint sind die „symbolischen Aggressionen“54 in Kleidung, Äußerungen und ihren Werken, welche einen Affront gegen die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft darstellen. Sie dienen der Abgrenzung vom juste milieu, „den angepaßten Mittelschichten einer bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft“55, deren Stereotyp sich durch Merkmale wie „Ordnungsliebe, Reinlichkeit, Sparsamkeit, Arbeitsamkeit, Pünktlichkeit, wirtschaftliche Sicherheit und ehrenhafte Unabhängigkeit, guter Ruf, Verantwortlichkeit für die Familie und 51
52 53 54 55
Siehe z.B. Andreas Dörner; Ludgera Vogt (2013): Literatursoziologie. Eine Einführung in zentrale Positionen – von Marx bis Bourdieu, von der Systemtheorie bis zu den Cultural Studies. 2. völlig überarb. und erg. Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 212f. Kreuzer (1997): „Boheme“, S. 242. Ebd., S. 244. Kreuzer (1968): Die Boheme, S. 49. Kreuzer (1997): „Boheme“, S. 242.
1.1. Zur Bohèmeforschung
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Gemeinwesen“56 auszeichnet. Ihre Nicht-Anpassung äußert sich unmittelbar oder in medialer Form – durch offensive Abweichungen in Sprache, Benehmen, Handlungsmoral und so weiter. Die Bohème wird als ein mit Kunst assoziiertes Umfeld gesehen, aber immer auch als Lebensraum, in dem alternative Denkweisen, Lebens- und Arbeitsentwürfe erprobt und ausgelebt werden können. Mit den von der Mehrheit abweichenden Lebensstilen und Denkweisen repräsentiert sie die Sehnsucht nach einer anderen Haltung, nach einem anderen Leben. Der Bruch mit Normen wie Ehe, einer geregelten Tätigkeit, einer Orientierung an politischen, ökonomischen Maßstäben oder sonstigen Konventionen ruft Faszination und Ablehnung hervor. Das Spannungsfeld von Bohème und Bourgeoisie bertreffend stellt sich immer wieder die Frage, ob die Bohème als allgemein antibürgerliches oder als antibürgerliches Künstlermilieu aufzufassen ist, also welchen Stellenwert Kunst(produktion) für sie hat oder haben muss. Schon im frühen 19. Jahrhundert beschreiben Autoren wie Honoré de Balzac die Bohème als heterogenes Umfeld, das sich aus verschiedenen Personengruppen speist. Er spricht von einem „Mikrokosmos“, der „Kapazitäten“ jeglicher Professionen zusammenführe: „On y rencontre des écrivains, des administrateurs, des militaires, des journalistes, des artistes! Enfin tous les genres de capacité, d’esprit y sont représentés. C’est un microcosme.“57 Seine Beschreibung bindet neben Künstlern, Schriftstellern und Journalisten auch Militärs und Verwaltungsbeamte ein und damit Typen, die kunstferne, sogar an Staatsaufgaben gebundene Berufe haben und die man daher teils dem ‚Feindbild‘ Bourgeoisie zurechnen würde. Doch Balzac legt nahe, dass die Bohème ein gemischtes, energetisches Umfeld
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Kreuzer (1968): Die Boheme, S. 142. Ü.: „Man trifft dort Schriftsteller, Verwaltungsbeamte, Militärs, Journalisten, Künstler! Letztlich sind alle Arten von Fähigkeiten und Geist dort vertreten. Es ist ein Mikrokosmos.“ Honoré de Balzac (1977): „Un prince de la bohème“. In: La Comédie humaine. Bd. 7. Études de mœurs. Scènes de la vie parisienne [suite]. Édition publiée sous la direction de Pierre-Georges Castex. Paris: Gallimard, S. 795‒838, hier S. 808.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
– ein Soziotop58 ist ‒ in dem Begabte und Ambitionierte verschiedener Couleur zusammenfinden. Anders als ein Begriff, der Bohème als Klasse begreift und abwertend vor allem in der Beschreibung Karl Marxʼ als „Lumpenproletariat“59 zu finden ist, zielt der des ‚Soziotopos‘ neben sozioökonomischen Aspekten auch auf die Ästhetik und die Mentalität der Bohème.60 Die Doppeldeutigkeit der Bohème lässt sich nicht ganz auflösen. Wichtig ist daher, den Gegenstandsbereich, anhand dessen man die Bohème betrachtet, konkreter zu fassen. In diesem Fall sind das Bohemiens als Medienakteure und Medienkritiker. Darunter ist weder ein exklusives Künstlermilieu mit normativem Kunstbegriff zu verstehen noch eine rein soziale Abweichung, die unabhängig von kultureller Produktion und somit vom Literatur- und Medienbetrieb besteht. Bohème ist weder an ein normatives, auf ästhetische Innovation fixiertes Verständnis von Kunst zu reduzieren noch als rein sozial abweichendes Milieu anzusehen. Dass sich die Bohemiens von den negativen Konnotationen der Bohème ebenso wie von anderen gesellschaftlichen Randfiguren wie Dieben, Gauklern (saltimbanques) oder Prostituierten auf der einen oder wie von Bürgern und Philistern auf der anderen Seite abgrenzen, ist ein klassisches Paradoxon. Exemplarisch zeigt das ein Zitat aus Champfleurys Roman Les Aventures de Mlle Mariette, das zum Außenseiterstatus einer Bohème-Clique anmerkt: „Nous sommes un petit groupe dans Paris qui vivons en dehors des lois ordinaires; nous ne volons pas et nous n’assassinons personne,
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Georg Stanitzek spricht vom Soziotopos (2015): „Die Bohème als Bildungsmilieu“, S. 81–95. Marx fasst die Bohème aus Klassenperspektive als „Lumpenproletariat“, womit er ihr einen moralisch zweifelhaften Charakter zuschreibt. Siehe zu Marxʼ Lesweise, ebd., S. 82‒84. Dass die Ästhetik der Bohème ihren Lebensstil und ihre Wahrnehmung einschließt und nicht nur ‚Kunstwerke‘ betrifft, hebt hervor: Cepl-Kaufmann (2007): „Die Bohème zwischen Lebensreform und Lebensflucht“, S. 56.
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mais nous ne sommes guère mieux regardés.“61 Zwar unterscheide sich das Handeln der genannten Bohème vom gesellschaftlichen Konsens, aber eben auch von dem der Kriminellen. Obwohl sich der Protagonist vom bürgerlichen Werthorizont distanziert, bezieht er sich argumentativ auf gemeinsame Wertmaßstäbe. Jene Ambitionen, Kunst von Nicht-Kunst, Künstler von Nicht-Künstlern und Kunst und Leben zu unterscheiden, betreffen das Kunstfeld. Ganz gleich wie man das Verhältnis von Bohème und der Gesellschaft beziehungsweise Kultur, auf die sie sich bezieht oder in der sie verortet ist, nennt, es handelt sich stets um einen näher zu bestimmenden „Interaktionszusammenhang“ 62 . Zu diesem hat der US-amerikanische Historiker Jerrold E. Seigel interessante Impulse geliefert. Er verstärkt die von Kreuzer betonte Zusammengehörigkeit von Bohème und Bourgeoisie noch und hebt deren gegenseitige Anziehungskraft hervor. Die Bohème sei ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft, gerade weil sie Konflikte der modernen bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringe: „Bohemia was not a realm outside bourgeois life but the expression of a conflict that arose at its very heart.“63 Dass sie sich auch am Medienbetrieb beteiligt und ihn kritisiert, dass sie das Publikum sucht, das sie ablehnt, schließt sich nicht aus, es ist demnach weder Zeichen von Hypokrisie noch fehlender Authentizität.64 Da bürgerliche Positionen und Haltungen noch nicht fest etabliert sind, als sich die Bohème bildet, kann man die bohemischen Aktivitäten mit Seigel als Bestandteil der bürgerlichen Identitätsfindung interpretieren: Beides entsteht und festigt sich dadurch,
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Ü.: „Wir sind eine kleine Gruppe in Paris, die außerhalb der normalen Gesetze lebt: Wir stehlen nicht und wir bringen niemanden um, aber wir werden kaum besser angesehen.“ Champfleury (1856) [1853]: Les Aventures de Mlle Mariette. Contes de printemps. 2. Auflage. Paris: L. Hachette et Cie, S. 88. Georg Stanitzek (2012): „Bohème – Boulevard – Stil: Kommentar zu einem flickrBild von Rainald Goetz“. In: Hülk; Schuhen (Hg.): Haussmann und die Folgen, S. 137–150, hier S. 139. Seigel (1999): Bohemian Paris, S. 10. Vgl. ebd., S. 11.
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dass es aufeinander bezogen ist. Dasselbe gilt für die Konstellation Kunst und Medien. Die Presse entwickelt sich im 19. Jahrhundert rasant. Schriftsteller und Journalist sind als Berufsbild nicht klar voneinander zu trennen. Demnach erprobt die Bohème die Bedingungen, die die künstlerische, literarische und intellektuelle Produktion und die Beteiligung am und Anpassung an den Literatur- und Medienbetrieb erfordern. Die Bohème leistet eine positionsbedingte Arbeit: Sie fördert Widersprüche des Lebensmodells Künstler und der skeptisch beäugten, produktiven Gemeinschaft zutage. Bohème muss dazu handlungsbezogen und in ihrem jeweiligen historischen Kontext gelesen werden. Sowohl Handlungen, Auftritte und Texte sind Bestandteil der Bohèmekultur und als performative Akte zu lesen. Ein Beispiel dafür, dass man bei der Interpretation von Handlungen und Produkten die Position der Akteure einbeziehen muss, ist der romantische Theaterskandal namens Bataille d’Hernani in Paris rund um den 25. Februar 1830. Eine Gruppe literarischer Außenseiter, die Victor Hugos romantische, gegen klassische Normen gerichtete Theaterästhetik bejubelt, tritt als Claque, als „bezahlte“ Befürworter auf und adaptiert damit eine verbreitete Wertungspraxis für sich. An dem Punkt wird „künstlerische Subkultur an einer prestigeträchtigen Stelle des offiziellen Kulturbetriebs unübersehbar“65 und das mit einer Methode des finanzkräftigen Establishments. Die Perspektive hat Konsequenzen für die Quellenanalyse. Die französischsprachige Bohèmeforschung ist wie die deutsche größtenteils auf die vergangene Bohème des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgerichtet. Mehrere neuere Forschungsarbeiten aus Deutschland und Frankreich betonen, dass die Bohème stets auf mehreren Ebenen präsent ist und ihre Wirkung entfaltet.66 Im Sammelband Bohème sans frontière beispielswei-
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Joachimides (2000): „Boheme“, S. 733. Jerrold E. Seigel spricht von den Dimensionen „real and symbolic“, Brisette und Glinoer nennen sie ein „Phénomène tout à la fois réel, textuel et imaginaire“. Seigel (2010): „Putting Bohemia on the Map“. In: Brissette; Glinoer (Hg.): Bohème sans
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se wird die Bohème als „posture collective et mythe littéraire“67 untersucht. Eine in dem Zusammenhang diskutierte Forschungsfrage ist nämlich, in welcher Verbindung die reale oder historische Bohème zu ihren Mythen, Fiktionen oder Imaginationen steht. Insbesondere jene Perspektiven, die nach der Überzeitlichkeit der Bohème fragen, bringen diese Frage auf. Bohème kann als reales, mehr oder weniger streng definiertes Submilieu verstanden werden, dass zudem mythischen, symbolischen oder imaginären Charakter hat.68 Auch diese Arbeit geht bei der Analyse von literarischen und medialen (Selbst-)Darstellungen in Zeitschriften, Romanen und anderen Quellen von mehreren Ebenen aus. Zwar gibt es eine Bohème vor und neben den Texten und Repräsentationen, aber sie ist kaum als solche fassbar beziehungsweise nur in den sich materialisierenden Einsprüchen und Widersprüchen der Texte selbst. Texte über Subkulturen, sowohl Selbstzeugnisse als auch Fremdbeschreibungen, sind zudem stets mit Wertungen verbunden. Typisch für die Bohème ist, dass man sich bestätigend oder ablehnend auf sie bezieht; gängige Muster der Selbst- und Fremddarstellung sind Diffamierung oder Heroisierung.69 Dass die „narratives“ von Subkultur, in unserem Fall der Bohème, diese Effekte und Affekte70 mit sich bringen und dass diese von den Subkulturen selbst sowie von Außenstehenden geschaffen werden, betont Ken Gelder:
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frontière, S. 39–53, hier S. 39. Dies. (2010): „Introduction“. In: ebd., S. 9–20, hier S. 15. Ü.: „die Entstehung der Bohème als kollektive Haltung und literarischer Mythos“. Ebd., S. 11. Nathalie Heinich unterscheidet drei Ebenen. (2010): „La Bohème en trois dimensions: artiste réel, artiste imaginaire, artiste symbolique“. In: ebd., S. 23–38. Der „internationale Wortgebrauch von Boheme ist meist entweder apologetisch (Boheme = wahres Künstler- bzw. Rebellentum) oder kritisch (Boheme = Pseudokünstler- bzw. Pseudorebellentum) oder allenfalls ambivalent“. Kreuzer (1997): „Boheme“, S. 242f. Ken Gelder (2007): Subcultures. Cultural Histories and Social Practice. Abingdon, Oxon; New York: Routledge, S. 2.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien Narratives by or about a subculture come into being and produce a set of effects (or, affects) and reactions: fascination, envy, anxiety, disdain, revulsion, legislation, social reform, etc. They are never neutral. Every narrative by or about a subculture is a matter of position-taking – both within that subculture and outside it […].71
Hieraus folgen mehrere Dinge: Zum einen sind Geschichten und Texte Handlungen, die Positionen und Haltungen transportieren können. Zum anderen tragen sowohl Innen- als auch Außenstehende zur Darstellung eines Milieus bei, was Mehrdeutigkeiten schafft. Im Anschluss an die genannten Forscherinnen und Forscher betrachte ich die Bohème als reales sozialhistorisches Milieu, das insbesondere durch textuelle und mediale Repräsentationen bestehend aus fiktionalen sowie nicht-fiktionalen, biographischen, journalistischen und anekdotischen Texten beschrieben, erinnert und kanonisiert wird. Folglich ist die Bohème weder allein von einem ‚Werk‘ im kanonischen Sinne zu denken, noch nur als Lebensstil, der von einer Leitkultur abweicht. Wenn man es als Aufgabe und Kern der Bohème ansieht, die Grenzen der bürgerlichen Identität, darunter ihrer Öffentlichkeit, auszutesten und damit verbundene Widersprüche sichtbar zu machen, kommt den Printmedien tragende Bedeutung zu. Bezogen auf das literarische Leben stellt die Bohème die gesellschaftlichen Bedingungen der Kunstproduktion und des Lebens der Literatur- und Medienschaffenden zur Schau und problematisiert sie.72 Durch ihre Lage ist sie den moralischen, ästhetischen und sozialen Anforderungen des Künstlerlebens ausgesetzt und befragt die Gesellschaft auf die Möglichkeiten, selbstbestimmt zu agieren. Die petite presse ist ein grundlegender Rahmen, in dem die Bohème sich artikuliert, heteronome Einflüsse aus dem Mainstream oder hegemoniale Positionen auslotet, sich auf beliebte Genres, ökonomische Sachzwänge 71 72
Ebd. Vgl. Jean Marie Goulemot; Daniel Oster (1992): Gens de lettres, écrivains et bohèmes. L’imaginaire littéraire 1630–1900. Paris: Minerve, S. 128. Sie sprechen von einer „théatralisation de la nécessité“. Ü.: „Theatralisierung der Armut“.
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und so weiter bezieht. Dabei ist besonders beachtenswert, dass sie durch ihre Medien selbst bisweilen mit Unterhaltung und Oberflächlichkeit assoziiert und deshalb kulturell abgewertet wird. Die Bohème stellt die Herausforderungen des Künstlers auf dem Markt zur Schau und reklamiert Legitimität für den prekären Lebensweg. Eine Betrachtung, die die Bohème gänzlich von literarischer, intellektueller, künstlerischer Arbeit ablöst, würde das Bohèmeverständnis revidieren, das sich im 19. Jahrhundert entwickelt. Bohème ist nicht losgelöst davon, künstlerische Autonomie in einer bürgerlichen und medialen Gesellschaft zu suchen. Sie geht darin aber auch nicht vollständig auf.
1.2 Bohème und Medienpraxis: Ökonomien und Außenseiter im literarischen Feld „[L]a Bohème venait de naître dans je ne sais plus quelle mansarde de je ne sais plus quel quartier; elle s’était constituée, comme une société commandite, pour l’exploitation de la gloire, au capital de quelques millions d’espérance“73.
Der Journalist und Schriftsteller Alfred Delvau bezeichnet die Bohème im voranstehenden Zitat metaphorisch als Kommanditgesellschaft und stellt so eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen ihr und kapitalistischen Unternehmungen heraus. Delvau unterstreicht, dass auch ihr eine Ökonomie zugrundeliege, auch wenn das Kapital, das sie mitbringe und der Lohn, auf den sie hoffe, nämlich Ruhm, auf eine symbolische anstatt auf eine materielle Ebene zielen. Das erinnert an Pierre Bourdieus Analyse des literarischen Feldes und der kulturellen Produktion im 19. Jahrhundert, die wesentlich auf einem polaren Spannungsverhältnis von Kunst
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Ü.: „[D]ie Bohème war gerade in ich weiß nicht welcher Mansarde geboren, in ich weiß nicht welchem Viertel; sie hatte sich wie eine Kommanditgesellschaft gegründet zur Ausbeutung des Ruhms mit dem Kapital von einigen Millionen an Hoffnung“. Alfred Delvau (1866b): Henry Murger et la Bohême. Paris: Librairie de Mme BachelinDeflorenne, S. 28f.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
und Ökonomie, das heißt von symbolischen und kommerziellen Interessen, gründet. In diesem Kapitel wird die Bohème zunächst mit Blick auf die Medienpraxis theoretisch beschrieben. Anschließend werden knapp relevante Grundannahmen der Feldtheorie Pierre Bourdieus und seiner Analyse des literarischen Feldes in Frankreich des mittleren 19. Jahrhunderts vorgestellt. 74 Ausgehend davon und kritisch daran anschließend wird meine These zur Medienpraxis der Bohème im literarischen Feld formuliert. Ein zentrales Dilemma der Schreibenden und Medienakteure im 19. Jahrhundert bildet das „schwierige, real tatsächlich unerreichbare Ideal der autonomen Kunst“ 75 . Die zweite Bohème lotet die Bedingungen des Künstlerlebens angesichts eines literarischen Marktes aus, der stark von den periodischen Massenmedien geprägt wird. Als wichtige Produktionsstätte für junge unbekannte Autoren prägt die petite presse die kulturelle Pariser Öffentlichkeit wesentlich mit. Mit der Pressetätigkeit sind entscheidende Paradoxien der Bohème im 19. Jahrhundert verbunden: „Notre poète n’aimait pas la presse, et pourtant, un jour, il songea à faire un journal“76, formuliert Firmin Maillard am Beispiel des Dichters Gustave Mathieu einen Scheinwiderspruch. Auch wenn die Presse vielfach diffamiert und herabgewürdigt wird, sind die meisten Schriftsteller Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl Medienkritiker als auch Medienproduzenten
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Für eine ausführlichere Darstellung der Feldtheorie: Joseph Jurt (1995): Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: WBG. Des Weiteren zum Kapitalbegriff: Pierre Bourdieu (1983): „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“. In: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband 2), Originalbeitrag, übers. von Reinhard Kreckel. Göttingen, S. 183–198. Glinoer; Hülk; Zimmermann (2014): „Kulturen des Kreativen“. URL: http://trivium.revues.org/4997#bodyftn6 (06.04.2020). Ü.: „Unser Dichter mochte die Presse nicht und dennoch dachte er eines Tages daran, eine kleine Zeitung zu gründen.“ Firmin Maillard (1857): Histoire anecdotique et critique des 159 journaux parus en l’an de grâce 1856. Avec une table par ordre alphabétique des 386 personnes citées, commentées et turlupinées dans le présent volume. Paris: Au dépot, Passage Jouffroy, 7, S. 135.
1.2 Bohème und Medienpraxis
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und als solche nicht ausschließlich kommerziell oder literarisch erfolgreich. Es gibt verschiedene Formen der Beteiligung an Zeitungen und Zeitschriften, welche als kollektive oder individuelle Unternehmen auch einen besonderen Reiz für die Selbstdarstellung und -verortung haben. Während die einen Autoren in bestehende Zeitschriften einzutreten versuchen, gründen andere in der Gruppe oder einzeln eigene Blätter.77 Vor allem ab den 1830er Jahren nimmt der Einfluss der Presse im literarischen Leben zu, als 1836 Tageszeitungen wie Le Siècle und La Presse mit sehr hoher Auflage entstehen, die im Feuilleton Fortsetzungsromane veröffentlichen und damit einen wichtigen Rahmen für eine regelmäßige literarische Produktion bieten. Für Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellt die Presse ab den 1830er Jahren den wesentlichen verlegerischen Rahmen für Literatur dar, sie ist „le support éditorial le plus naturel et le plus légitime pour la littérature“78. Die Printmedien machen aus den Schreibenden in vielen Fällen erst eine Autorin und einen Autor, indem sie die Texte und die Namen der Verfasserinnen und Verfasser drucken. Im 19. Jahrhundert entwickeln sich die Medien in einem städtischen Setting, das bürgerliche Publikum wird zum Adressaten von freien Verkäufern und das Feuilleton entwickelt sich zum Unterhaltungsmedium einer größer werdenden Leserschicht. Diese Entwicklungen bringen eine Zeitungs- und Medienkritik mit sich, als deren Urheber die Bohemiens lange vorwiegend gesehen wurden. Dass sich die Schriftsteller und Künstler im 19. Jahrhundert, um als solche zu existieren, auf dem Markt behaupten
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Einzelprojekte werden in der Forschung unterschiedlich benannt, z.B. als „journal à soi“ (Ü.: „Eigene Zeitung bzw. Zeitung für sich“) von Thérenty (2005): „Les ‚petits journaux‘ des écrivains“. In: Revue de la Bibliothèque nationale de France, Nr. 19 (La petite presse). Paris, S. 13 oder als „revue-personne“ (Ü.: „Personen-Zeitschrift“) von Thomas Loué (2012): „La revue“. In: Kalifa; Régnier; Thérenty; Vaillant (Hg.): La Civilisation du journal, S. 333‒357, hier S. 348. Ü.: „[die Presse ist] die natürlichste und legitimste verlegerische Unterstützung für die Literatur“. Alain Vaillant (2011): „Présentation“. In: ders. (Hg.): Baudelaire journaliste. Articles et chroniques choisis et présentés par Alain Vaillant. Paris: Flammarion, S. 7‒33, hier S. 11.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
müssen, befördert ihr ambivalentes Verhältnis zu den Medien.79 Das Berufsbild Journalismus ist insofern noch nicht professionalisiert, als Journalisten und Schriftsteller oft beides in Personalunion sind, woher auch die geläufige und tendenziell abwertend gemeinte Bezeichnung „écrivainjournaliste“ 80 rührt. Im Vergleich zum Buch stehen Zeitungen und Zeitschriften für eine vergleichsweise schnelle Produktion und demzufolge auch für die verlockende Möglichkeit, rasch als Autorin oder Autor wahrgenommen zu werden. Was die Presse betrifft, ist es die unmittelbare Bezahlung nach Zeilenhonorar, die den Presseschreibern den Vorwurf der Käuflichkeit einbringt. Dabei ist bei kleinen Zeitschriften oder Zeitungen mitzuarbeiten tatsächlich wenig lukrativ, was Loredan Larchey für die Jahrhundertmitte so zuspitzt: „Dans les petits journaux, on continuait de travailler pour rien ou à peu près. Parfois on était reglé en nature.“81 Während die etablierten grands journaux und grandes revues in den 1840er und 1850er Jahren zehn, 15 oder 20 Centimes Zeilenhonorar zahlen, erhalten Autoren im Corsaire-Satan oder bei La Silhouette sechs Centimes pro Zeile und beim Charivari immerhin zehn.82 Sich für Zeitungen zu betätigen, ist praktisch grundsätzlich etwas anderes als ein Buch zu schreiben, es ist aber insbesondere in der kulturellen Hierarchie der Zeit etwas anderes. Die Bedingungen, unter denen die Mitar-
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Es gibt einige, die nebenberuflich schreiben und nicht alles auf eine Existenz als Autorin oder Autor setzen. Den Wandel der Figur analysiert Marie-Françoise Melmoux-Montaubin (2003): Lʼécrivain-journaliste au XIXe siècle. Un mutant des lettres. Saint-Etienne: Editions des Cahiers intempestifs. Zum Schriftstellerdasein im poetologischen Spannungsfeld von Presse und Literatur siehe auch Marie-Ève Thérenty (2003): Mosaïques. Être écrivain entre presse et roman (1829–1836). Univ., VII, Diss. Paris, 2000. Paris: Champion. Ü.: „In den petits journaux arbeitete man weiterhin für nichts oder so ungefähr. Manchmal wurde man in Naturalien bezahlt.“ Lorédan Larchey: „Revue anecdotique. Les fortunes littéraires“. In: Le Monde illustré, 30. Jg., Nr. 1511 vom 13. März 1886, S. 167f., hier S. 168. Firmin Maillard (1905): La cité des intellectuels. Scènes cruelles et plaisantes de la vie littéraire des gens de lettres au XIXe siècle. 3. Auflage. Paris: H. Daragon, S. 102.
1.2 Bohème und Medienpraxis
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beit in den Medien funktioniert, stellen einen wichtigen Aspekt der bohemischen Selbstverortung dar. Die Bohemiens sind in einer sozial und ökonomisch, aber auch in einer moralisch prekären Lage, weil sie nicht nur literarisch schaffen, sondern ihre Kunst und Gedanken auch verbreiten möchten, wozu sie Medien und insbesondere die Presse brauchen. Dass die Beziehungen zwischen Presse und Literatur im 19. Jahrhundert sehr eng, aber keineswegs hierarchie- und konfliktfrei sind, hat die Forschung bereits herausgestellt.83 Kulturelle Produktion findet in einem historischen Kontext statt, den Pierre Bourdieu für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts in Les règles de l’art (1992) analysiert hat. Seine Analyse des literarischen Feldes in Frankreich geht von den Gegebenheiten der Julimonarchie aus, dehnt sich aber bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts aus und bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen Kunst produziert wird. Er unterteilt die Gesellschaft in voneinander mehr oder minder unabhängige Teilbereiche, die Felder, die dynamisch sind und in denen Kräfte und Machtverhältnisse wirken. Neben dem politischen Machtfeld betrachtet Bourdieu vor allem das kulturelle oder auch das literarische Feld – beide Begriffe werden hier nicht streng getrennt, weil die Literatur ebenso wie Journalismus der kulturellen Produktion zugerechnet werden können. Bourdieu zufolge sind die kulturelle Produktion und der Markt kultureller Güter nach einer gewissen Logik strukturiert, der mit seinen zwei Polen ein Spannungsfeld erzeugt. Zum einen ist das der heteronome Pol, der die Massenproduktion verkörpert und sich für Autoren und Künstler durch einen hohen Grad an Fremdbestimmung (Heteronomie) auszeichnet. Kennzeichnend für die Massenproduktion ist, dass sie sich an kommerziellen Kriterien wie einer schnellen Vermarktung von Literatur und Kunst orientiert und dass man dem Produkt einen möglichst baldigen, wenn 83
Vgl. Joseph Jurt, der anmerkt, dass die Auseinandersetzungen zwischen Literatur und Presse und deren jeweiliger Kampf um Autonomie von Marie-Ève Thérenty „vielleicht etwas zu harmonisch“ gesehen werden. Jurt (Reprint 2016): „Das Jahrhundert der Presse“, S. 275.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
auch nur kurzzeitigen Erfolg, zuschreibt. Als heteronom wird diese Produktion deshalb bezeichnet, weil sie in erster Linie nach ökonomischem Kapital und damit Bourdieu zufolge nach einem kunstfernen Wert strebt. Den autonomen Pol hingegen bildet eine ‚reine‘ beziehungsweise ‚eingeschränkte‘ Produktion, wobei sich das Adjektiv ‚eingeschränkt‘ auf die Verbreitung und die Menge des Publikums stützt.84 Richtet man sich an diesem Produktionscredo aus, steigen laut Feldtheorie die Chancen auf langfristige künstlerische Anerkennung, die wiederum als symbolisches Kapital aufzufassen ist. An diesem Pol ist dem Modell nach die Autonomie am größten, sodass Autonomie im literarischen Feld bedeutet, sich der Käuflichkeit und der kommerziellen Produktion zu verweigern. Das eigengesetzliche Kunstfeld konstituiert sich im 19. Jahrhundert laut Bourdieu, indem es sich vom ökonomischen als dem heteronomen Prinzip abwendet.85 Am autonomen Pol sind Bourdieus Modell zufolge die Konsekrationsaussichten – also eine Weihe durch spezifisches symbolisches Kapital – hoch. Hier erscheint der Künstler als der „schöpferische Produzent langlebiger ‚geistiger‘ Werke“86. Am heteronomen Pol dagegen sei die Aussicht auf schnellen ökonomischen Profit hoch, wohingegen die auf symbolische Anerkennung im literarischen Feld für diese Werke gegen Null tendiere. Heteronomie und Autonomie bilden ein polares Spannungsfeld aus symbolischen und ökonomischen Motiven, wodurch im literarischen Feld eine „verkehrte Ökonomie“87 herrscht. Interessant für die Bohèmeforschung ist Bourdieus Feldanalyse, weil sie der Bohème (sowie der Avantgarde) eine besondere Rolle bei der Entwicklung des autonomen Feldes zuweist. Sie habe mit dem unbürgerlichen Lebensstil zur Etablierung der Bohème als sozialer Gruppe beigetra-
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Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 205; S. 207. Vgl. Brissette; Glinoer (2010): „Introduction“, S. 10. Wolfgang Ruppert (1998): Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 26. Wörtlich: „une économie à l’envers“, Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 234.
1.2 Bohème und Medienpraxis
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gen. Die Literatur als autonomes Feld, das über die Legitimität bestimmter Formen und Akteure selbst entscheidet, muss eigene Regeln ausbilden, um von Einflüssen des politischen oder wirtschaftlichen Machtfeldes unabhängig zu sein. Diese Regel, die Bourdieu nomos nennt, erläutert er am Beispiel des Dichters Charles Baudelaire, der sich der Anbiederung an das bürgerliche Publikum demonstrativer als manch anderer verweigerte und gegen dessen Literatur (wie auch gegen Flauberts) das Napoleonische Kaiserreich prozessierte.88 Die Bohème ist bei Bourdieu eine zentrale Instanz des literarischen Feldes, die die Autonomie(bestrebungen) im 19. Jahrhundert mitgeprägt hat. Er betrachtet sie als wesentliches Trägermilieu künstlerischer Innovation, dessen Produktionscredo es sei, sich von den ökonomischen Verlockungen der Massenproduktion strikt abzuwenden. Das Wirken der Bohème kennzeichne im Hinblick auf das eigene Kunstschaffen eine zukunftsorientierte Spekulation, die auf langfristigen Erfolg ziele. An das polare Spannungsfeld knüpfen nämlich außerdem Vorstellungen an, wie Ruhm und Reputation überhaupt hergestellt werden können. Zum einen ist das die Vorstellung, dass abgesehen von den unterschiedlichen Kapitalsorten an den Polen auch unterschiedliche Zeithorizonte wirken. Während sich am autonomen Pol der Gewinn in Form von symbolischer Anerkennung erst auf Dauer einstellen kann, hat die Massenproduktion gar keine Aussicht darauf. ‚Autonomes‘ Schaffen kann sich später als Ruhm auszahlen, weil neue Formen erst später kanonisiert werden.89 Zum anderen ist nach Bourdieu der Eintritt eines Neulings oder einer Gruppe ins Feld mit einer „rupture“90 mit bisher herrschenden, legitimen Formen verbunden. Bour-
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Ebd., S. 107: „un univers social qui a pour loi fondamentale, pour nomos, l’indépendance à l’égard des pouvoirs économiques et politiques“. Ü.: „ein soziales Universum, das als grundlegendes Gesetz, als nomos die Unabhängigkeit gegenüber den ökonomischen und politischen Mächten hat“. Siehe zum Verhältnis von Staatsmacht und Literaturbetrieb im Second Empire Hülk (2019): Der Rausch der Jahre, S. 137‒156. Vgl. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 243ff. Ü.: „Bruch“. Ebd., S. 106, S. 108, S. 111.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
dieus Feldanalyse beinhaltet folglich auch Überlegungen zu Innovationsund Alterungsprozessen kultureller Produktion. Dass, um literarisch langfristig anerkannt zu werden, zwangsläufig ein Bruch vorausgehen muss, wie Bourdieu es für Baudelaire geltend macht, ist eine zu beschränkte Annahme, da – und das zeigt gerade der Blick in die petits journaux – Außenseiter trotz normbrechender Einsätze nicht unbedingt langfristig populär werden. Sie können auch auf Dauer unbekannt bleiben, denn der coup im Feld ist erstens nicht unbedingt das oberste Ziel aller und zweitens auch nicht planbar. Allerdings bringt Bourdieu wichtige Aspekte der bohemischen Selbstbehauptung zur Sprache, weshalb das Feldmodell als Folie zum kritischen Anschluss interessant ist. Es umfasst historische Hierarchien und Wertungsmuster, die den Diskurs der damaligen Zeit bestimmen. Tatsächlich bildet „l’opposition entre l’art et l’argent“91 – der „Gegensatz zwischen Kunst und Geld“ eine Grundspannung, die sich in den Selbstdarstellungen, Dokumenten und Fiktionen der Bohème vielfach findet. Die von Bourdieu in Anschlag gebrachten Oppositionen von ‚reiner‘ Kunst und ökonomisch ‚verwertbarer‘ Produktion stellen ein verbreitetes Urteilsprinzip92 der Kunst dar, das in Erzählungen der historischen Bohème stark wirkt. Außerdem bezieht er die petite presse als zentrales Ausdrucksmedium der Bohème (sowie der Avantgarde) ein, wenn auch deren strikte Einordnung als ‚eingeschränkte Produktion‘93 am autonomen Pol fraglich ist. Mit dem Blick auf das Feld und dessen eigene Gesetze fokussiert
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Ebd., S. 270. „le principe générateur de la plupart des jugements“. Ebd. Bourdieus Terminologie ist uneinheitlich. Er bezeichnet kurzlebige Zeitschriften in Abgrenzung zu den exklusiven grandes revues als petites revues, aber auch mal als „petits journaux littéraires“. Ebd., S. 126; S. 140. In der schematischen Darstellung erfasst er nur petites revues explizit, jedoch keine petits journaux. Als journalistische Genres nennt er das Feuilleton und Journalismus, die er zur grande production zählt, ebd., S. 207. Dass Bourdieu keine klare Unterscheidung zwischen Zeitung und Zeitschrift trifft, deckt sich mit meiner Begriffsverwendung und liegt im heterogenen Korpus begründet.
1.2 Bohème und Medienpraxis
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Bourdieu vor allem die Mechanismen, die sich auf Abgrenzung gegenüber einem Außen – dem Machtfeld oder dem Geld – beziehen. Wichtig für die Bohemiens als Medienakteure ist, dass das literarische Feld einen Schauplatz der Kämpfe um Legitimität darstellt. Was sie eint, ist, dass sie nach Publizität streben und ein Publikum suchen. Erschwert wird ihnen der Zugang dadurch, dass sie als Außenseiter und Debütanten aus kleinbürgerlichen oder Arbeitermilieus anfangs weder über symbolisches noch über ökonomisches Kapital verfügen. Das Ringen um Anerkennung innerhalb eines Feldes ungleicher Machtverhältnisse und Startbedingungen, welches Bourdieu aufzeigt, ist für die Bohème tatsächlich bedeutend. Nichtsdestotrotz beschränkt sich die bohemische Medienpraxis weder auf petits journaux noch auf bestimmte Genres und Formen, die dem autonomen Pol zuzurechnen sind, sondern zeigt sich bei sehr vielen Autoren über das gesamte Spektrum hinweg. Allein Henry Murger verdeutlicht, dass er bei Genres, Medien und Institutionen überhaupt nicht wählerisch ist und zu Beginn seiner Karriere in unterschiedlichsten Medien versucht, seine Texte zu publizieren und am besten natürlich auch zu verkaufen.94 Das heißt, dass die kohärente Verbindung von Bohème und lʼart pour l’art bzw. schöpferischer Innovation, wie sie die Avantgarde(n) später als Abgrenzungsmoment stark machen, relativiert werden muss.95 Bourdieus Feld-Modell hat unter anderem gerade deshalb Kritik erfahren, weil es einer Dichotomie verhaftet ist, die zwischen hochwertiger autonomer und minderwertiger heteronomer Produktion unterscheidet, also
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Das wird ersichtlich in den biographischen Erinnerungen seiner Freunde: (1862) Histoire de Mürger pour servir à l’histoire de la vraie bohème par trois buveurs d’eau contenant des correspondances privées de Mürger. 2. Auflage. Paris: J. Hetzel. Er verfasst Gedichte, Rezensionen, Vers- und andere Dramen, Feuilletons und Anekdoten, z.B. für L’Artiste, Gazette de la Jeunesse, L’Age d’or, Le Constitutionnel (politische Tageszeitung), diverse Theater, S. 28, S. 105, S. 142, S. 156f., S. 169 u.v.m. Jean-Didier Wagneur merkt dies ebenfalls an, indem er konstatiert, dass ein Bohèmeverständnis, welches sie an ästhetische Rebellion und „Interesselosigkeit“ binde, einen großen Teil der Autoren ausschließe. Wagneur (2012a): „Introduction“, S. 26.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
eine im historischen Diskurs entstandene Einteilung in high und low reproduziert. In vielem scheint eine Medienpraxis der Bohème, das Gründen von und Schreiben für Periodika sowie deren Vermarktung und Verbreitung, ihren Mythen zu widersprechen, insbesondere dann, wenn man ihr ein Produktionsethos zuschreibt, das auf langfristigen Erfolg spekuliert, die ‚reine‘ Kunst idealisiert und zeitgenössischen Wirkungsanspruch, finanzielles Einkommen oder kurzlebigen Erfolg geringschätzt. 96 Diese einseitige Ansicht zementiert den Mythos der Bohème als medienfeindliches Umfeld und macht es schwer, ihr Streben nach Erfolg, nach Publizität und Wirkung, differenzierter zu betrachten.97 So wird man den durchaus vielfältigen Bestrebungen der Bohème nicht gerecht, wenn man sie vordergründig auf Nachruhm und symbolische Anerkennung ausgerichtet liest. Wo die petite presse das Publikum mit Neuigkeiten versorgt, ist das zu einem Teil Unterhaltung für das urbane Publikum und zu einem anderen Teil mischen Redakteure und Autoren darunter selbstbezogene Notizen aus den Künstlercommunitys, zetteln Fehden an und legitimieren sich und ihr Vorgehen. Schon allein wegen der inhaltlichen Vielfalt ist die petite presse nicht allein auf die symbolische Ausrichtung der Beteiligten reduziert, sondern weist alle Facetten der medialen und literarischen Kommunikation auf, darunter Klatsch, der ja gemeinhin nicht zur high culture gezählt wird. Gerade er macht die petite presse aus und er ist sogar entscheidend für die Bohème, die sich mittels Anekdoten, Meldungen und Geschichten als Milieu ja auch erst medial konstituiert. Abgesehen von dem Wunsch nach künstlerischer Anerkennung des einzelnen Beteiligten ist die bohemische Medienpraxis auf der soziokulturellen Ebene interessant. Bei der Analyse der Außenseiter im Feld ist es des96 97
Vgl. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 139f. Vgl. Walburga Hülk (2017): „Flaubert: Ourserie und Saltimbanquage. Künstlermythen, Freundschaften und Netzwerke im Second Empire“. In: Anna Wörsdörfer; Kirsten Dickhaut; dies. u.a.: „Sur les chemins de l’amitié“. Freundesgabe für Dietmar Rieger zum 75. Geburtstag. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, S. 81‒97.
1.2 Bohème und Medienpraxis
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halb interessanter, das dargestellte Spannungsfeld der Ökonomien als eines zu begreifen, das sich feldintern in allen Medien und in allen Gruppierungen wiederfindet. Außer dem Antagonismus von ökonomischem Erfolg oder „Interesselosigkeit“ 98 an außerästhetischen Maßstäben ist der kommunikative und soziale Kontext der Medienaktivitäten stärker zu berücksichtigen. Anders als es Pierre Bourdieus Analyse des literarischen Feldes im 19. Jahrhundert nahe legt, sind die Organe der petite presse also gerade nicht darauf zu reduzieren, Medien der „eingeschränkten Produktion“99 zu sein. Stattdessen stellt die beliebte petite presse einen Wirkungsbereich dar, in dem verschiedene Einflüsse herrschen sowie Werte kollidieren.100 Einer dieser Werte ist die Gemeinschaft und die Identifikation mit der Rolle und der Position, die die Bohemiens haben. Die jungen, tendenziell mittellosen Bohemiens verfügen Bourdieu zufolge über wenig soziale Protektion. 101 Doch gerade dieses Manko kompensiert die Bohème als Netzwerk und als Milieu, das nicht nur geringe Mittel, sondern auch Dieen und Feldwissen teilt. Es sollte stärker bedacht werden, dass die Akteure Strategien entwickelt, um Kontakte zu knüpfen102 und Eingang ins literarische Leben zu finden. Für die Bohème als Umfeld von Künstlern, Literaten und Denkern ist gerade nicht nur der Individualismus wichtig, den sie ihren Beteiligten gerade im Gegensatz zu den Herkunftsmilieus ermöglicht, sondern auch der soziale Zusammenhalt, den sie bietet. Freun98 99 100
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„désintéressement“. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 235. „champ de production restreinte“. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 140. Für diese Sicht auf Bourdieus Feld sprechen sich auch Dörner; Vogt (2013): Literatursoziologie aus. Es geht um ein „Kräftefeld“, in dem die Bereiche „nicht eindeutig mit einer klaren Grenze voneinander getrennt sind, sondern es handelt sich um Bereiche einer vielfältig gemischten Produktion mit zahlreichen Übergangsphänomenen.“, S. 162. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 96. Ein gutes Beispiel bietet der Protagonist Francis aus Murgers Les buveurs d’eau, der durch Belauschen und Beobachten die gemeinschaftlichen Werte eines eingeschworenen cénacles erkennt und sich so Zugang zu demselben verschafft. Henry Murger (1855): Les buveurs d’eau. Paris: Michel Lévy Frères, S. 15f.
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1 Die Bohème: Leben, Literatur und Medien
de und Vorbilder sind es nämlich, die den jungen Autoren den Einstieg in das literarische Leben bescheren und sie sind für ‚produktive‘ Werte und Normen ebenso verantwortlich wie für einen erheblichen Teil der Medienkritik. Man sollte also das soziale Kapital der Bohème als denjenigen Einsatz betrachten, den sie mitbringt und den sie auch verlieren kann.103 Bevor anhand der Zeitschriftenanalysen in den Kapiteln drei bis fünf untersucht wird, wie und an welchen Zeitschriften die Bohème mitwirkt, wie sie sich darin inszeniert und welche Spannungsfelder dabei zum Tragen kommen, schließen sich Überlegungen zum Medienformat petite presse an. Die Unterteilung in eine petite und eine grande presse ist keine nachträgliche Kategorisierung, sondern sie entspricht der historischen Begriffsverwendung. Ein kurzer Abriss bietet einen Eindruck von den Rahmenbedingungen des Presseschaffens und dem ambivalenten Medienformat, das im 19. Jahrhundert für die Bohème große Bedeutung erlangt.
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Von Raymond Williams, einem Vertreter der Cultural Studies, wurde die Bedeutung von Emotionen für eine Kultur mit dem Begriff des „Gefühlshabitus“ betont, was auch auf die Bohème bezogen werden kann. Dörner; Vogt (2013): Literatursoziologie, S. 176.
2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse „[L]a petite presse considérée dans sa variété reste irréductible à une définition globale“104
2.1 Vorläufer und Nachfolger der literarischen petite presse Die Vorläufer der petite presse, die schon im 19. Jahrhundert aufgearbeitet wurden, liegen im Ancien Régime. 105 So bringt der Historiker und Journalist Eugène Hatin von 1859 bis 1861 eine mehrbändige Pressegeschichte namens Histoire politique et littéraire de la presse en France heraus, die die historischen Vorläufer der petite presse umreißt. Hatin sieht den Ursprung der petite presse des frühen Journalismus in der Zeit der Fronde im 17. Jahrhundert: „ce que nous appellerons la petite presse de ce premier âge du journalisme“106. In dem Zusammenhang verwendet er die Bezeichnung petit journal für den Mercure galant. Er unterscheidet drei Typen von Zeitungen, nämlich die Gazette, die eine „presse politique“ verkörpere. Bei der Gazette handelt es sich um eine von Renaudot 1631 ins Leben berufene Zeitung, die als erste Zeitung in Frankreich gilt. Zweitens rechnet er das Journal des Savants der „presse littéraire“ zu und drittens nennt er den Mercure galant, der 1672 als „prototype des petits journaux“ auf den Plan trete.107 Dem Mercure galant, der für die petite
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Ü.: „[D]ie kleine Presse ist angesichts ihrer Varietät nicht auf eine allgemeingültige Definition zu reduzieren“. Wagneur (2008): „Le journalisme au microscope, S. 25. Das 17. und 18. Jahrhundert sind pressegeschichtlich interessant, werden aber hier wegen des Zuschnitts der Arbeit nur knapp angesprochen. Ü.: „Was wir die kleine Presse dieses ersten Zeitalters des Journalismus nennen werden“. Eugène Hatin (1859): Histoire politique et littéraire de la presse en France. Avec une introduction historique sur les origines du journal et la bibliographie générale des journaux depuis leur origine. 8 Bände 1859‒1861. Bd. 1/8. Paris: Poulet-Malassis et de Broise, S. 289. Ebd., S. XII.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8_3
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse
presse steht, schreibt er zugleich Anteile der „politischen Presse“ und der „literarischen Presse“ zu und charakterisiert sie als „presse légère, semilittéraire, semi-politique“108. Was sich hier ausdrückt, ist ein inhaltlich hybrider Charakter, aber wegen des Attributs „leicht“ auf Unterhaltung hindeutend, was im 19. Jahrhundert zum Maßstab für die Klassifikation als petit journal wird und als Grund potenzieller Abwertung dient. Andere Lexika und Pressegeschichten nennen außer dem Mercure galant verschiedene Periodika ab dem 17. Jahrhundert wie die mazarinades der Fronde und die Muse historique von Jean Loret als Vorläufer der petite presse.109 Auch Hatin erwähnt Lorets als gazettes en vers bezeichnetes Periodikum, das Mitte des 17. Jahrhunderts für 20 Jahre bestand als Vorläufer des Mercure galant gilt. Loret präge darin Genres, die sich in den nouvelles à la main und der chronique des 19. Jahrhunderts fortsetzen.110 Was alle genannten Beispiele verbindet, ist, dass sie nicht offiziell nachrichtlich, sondern auf Indiskretion und Unterhaltung ausgerichtet sind. Demnach passen sie in ein Schema, das die periodische Presse seit dem 17. Jahrhundert in eine mehr oder minder offizielle und eine unterhaltend-kritische Presse einteilt.111 Im 19. Jahrhundert erlebt die petite presse in der Restaurationszeit eine erste Hochphase. In den 1820er Jahren entstehen Zeitschriften wie Figaro oder Le Corsaire als satirische Blätter, die später einen folgenreichen Beitrag zur politischen Opposition leisten werden.112 Einen weiteren Höhepunkt erreicht die Zeitschriftenproduktion im Umfeld der Februarrevo108 109
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Ebd., S. XIII. Wagneur (2005a): „Introduction“. In: Revue de la Bibliothèque nationale de France, Nr. 19, S. 5f., hier S. 6. Hatin (1859): Histoire politique et littéraire de la presse en France, Bd. 1/8, S. X– XII. Vgl. u.a. Raymond Manevy; Gabrielle Manevy (1958): La Presse française; De Renaudot à Rochefort. Documentation recueillie par Gabrielle Manevy. Paris: J. Foret Éditeur, S. 18f. u.a. Ausführlicher: Patrick Berthier (2006): „Les revues et la presse littéraire“. In: Michel Prigent (Hg.): Histoire de la France littéraire. Bd. 3: Modernités XIXe–XXe siècle. Paris: Presses Universitaires de France, S. 709–722.
2.1 Vorläufer und Nachfolger der literarischen petite presse
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lution. An zahlreichen Heften, Flugblättern und Zeitschriften sind auch Autoren wie Alfred Delvau, Antonio Watripon und Auguste Poulet-Malassis mit L’Aimable Faubourien, „journal de la canaille“, von 1848 oder ähnlichen Blättern beteiligt. Charles Baudelaire, Charles Toubin und Champfleury feiern den Beginn der Zweiten Französischen Republik 1848 mit einem Flugblatt namens Salut public, für das Gustave Courbet die Titelgraphik liefert.113 Um die Februarrevolution von 1848, als der timbre, also die Stempelsteuer, zwischenzeitlich ausgesetzt wird, erhöht sich die Anzahl der Zeitungen und Zeitschriften schlagartig. Ähnliches vollzieht sich, als gegen Ende des Zweiten Kaiserreichs das Regime die Zensurvorgaben lockert. Zensur ist ein politisches Instrument, um die Kontrolle über medial verbreitete Inhalte zu behalten. Ab dem 11. Mai 1868 wird der timbre reduziert, woraufhin 140 neue Zeitungen und Zeitschriften entstehen. Dass die Anzahl der Organe zunimmt, wenn die Pressegesetze liberaler werden, deutet auf ein Zusammenspiel von politischen Rahmenbedingungen und Presseaktivitäten hin.114 Die politischen Rahmenbedingungen sagen zwar nichts über die Ästhetik der Zeitschriften oder die publizistische Praxis aus, aber sie verdeutlichen, unter welchen Voraussetzungen produziert wird und welche Grenzen die Staatsmacht der freien künstlerischen und intellektuellen Betätigung sowie der Meinungsäußerung zu setzen versucht. Über die Kosten wird politischer Wille durchgesetzt, denn je teurer und voraussetzungsreicher es ist, Periodika zu lancieren, desto schwieriger wird es, zu publizieren. Gänzlich abgeschafft wird die Stempelsteuer in Frankreich im September 1870. Eine weitgehend vollständige und dauerhafte Pressefreiheit garantiert ab 1881 die „Loi sur la liberté de la presse du 29 juillet 1881“.
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Salut public (1848) ist undatiert, kommt aber am 27. und 28. Februar in den Verkauf. Maurice Clouard (1891): L’œuvre de Champfleury. Dressée, d’après ses propres notes, et complétée par M. Maurice Clouard. Paris: L. Sapin, S. 4. Manevy; Manevy (1958): La Presse française, S. 323.
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse
Petite presse ist im 19. Jahrhundert also eine gebräuchliche Bezeichnung für die periodische Presse, die sich auf Kunst, Literatur, Wissenschaft oder Unterhaltung konzentriert und deshalb steuerfrei ist.115 Für das mittlere 19. Jahrhundert ist demnach ein gespanntes Verhältnis der petite presse zur Macht und Offizialkultur116 wie den durch Vorzensur kontrollierten Tageszeitungen und den etablierten meinungsmachenden Zeitschriften kennzeichnend. Das Machtfeld weist Kunst und Literatur in den repressiven Phasen einen bestimmten Platz zu, der auf Enthaltung vom politischen und ökonomischen Diskurs gründen soll. Im Zweiten Kaiserreich (1852 bis 1870) herrschen besonders anfangs sehr restriktive Pressegesetze. Das am 17. Februar 1852 erlassene Pressegesetz namens „Le décret organique de 1852“ schreibt vor, dass jede Publikation, die sich mit politischen oder marktwirtschaftlichen Themen befasst, von der Regierung genehmigt werden muss. Periodische Medien, die sich ausschließlich mit Literatur, dem produzierenden Gewerbe, Wissenschaften und Kunst beschäftigen, sind dagegen von der hohen Kaution ausgenommen: Le cautionnement n’étant pas exigé pour les productions littéraires, scientifiques ou de pure critique, on a vu naître dans ces dernières années, sous le nom de petite presse, une foule de journaux qui ont pour objet, soit de propager les romans en vogue, soit de répandre le goût de la littérature et des sciences; quelques-uns sont purement satiriques ou exploitent la caricature.117 Da die Kaution für literarische, wissenschaftliche oder reine Werke der Kritik nicht erforderlich war, hat man in den vergangenen 115
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Thomas Ferenczi (1993): L’invention du journalisme en France. Naissance de la presse moderne à la fin du XIXe siècle. Paris: Plon, S. 24f. Kaiser (2016): Boheme in der DDR, S. 21: Der Historiker unterscheidet zwischen „Offizial- und Gegenkultur“, für die eine „Gegensatzspannung“ charakteristisch sei. Art. „Journal“. In: Décembre-Alonnier (Hg.) (o.J.): Dictionnaire populaire illustré dʼhistoire, de géographie, de biographie, de technologie, de mythologie, d’antiquité, de droit usuel, d’art militaire, des beaux-arts et de littérature. Bd. 2/3 (E–M). Paris: o.V., S. 1386–1388.
2.1 Vorläufer und Nachfolger der literarischen petite presse
49
Jahren unter dem Namen petite presse eine Masse an Zeitschriften entstehen sehen, die entweder zum Ziel haben aktuell gefragte Romane oder die Freude an Literatur und Wissenschaft zu verbreiten; einige sind rein satirisch oder nutzen Karikaturen.
Petite presse bezeichnet hier alle Printmedien mit apolitischem Status ganz gleich welcher Gestalt. Oft tragen die Zeitschriften oder Zeitungen einen Titelzusatz wie „non politique“. Auch ist die Rede von einer „Masse“, denn die Restriktionen gegenüber politischen Zeitungen stellen imimplizit die Weichen dafür, dass die kostengünstigere und freiere „nichtpolitische“ Presse floriert. Da sie durch das Politikverdikt von politischen Berichten ausgeschlossen ist, widmet sich die petite presse mit unbeschränktem Interesse sonstigen gesellschaftlichen Themen. Konkret umfasst die Zensur im Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. mehrere Repressionsstrategien. Zum einen ist die Kaution vorab zu entrichten, sonst drohen Geldstrafen und möglicherweise Haft. Zum anderen wird die freie Meinungsäußerung dadurch erschwert, dass Verantwortliche wie Geschäftsführer, Chefredakteure, Eigentümer, Verwalter und Drucker für ihr Wirken eine staatliche Genehmigung brauchen und für Inhalte haftbar gemacht werden können. Doch selbst politische Zeitungen dürfen nicht frei und unabhängig über die Parlamentssitzungen berichten und Pressevergehen werden am Strafgericht verhandelt.118 Für alle sind die Bedingungen erschwert, denn auch wenn die Gründung eines petit journal einfacher scheint, so ist diese nicht vor einer möglichen Repressivzensur gefeit. Ebensowenig bedeutet die Trennung von politischen und literarischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Inhalten von offizieller Seite, dass in Phasen repressiver Politik wie unter Kaiser Napoleon III. im Zweiten Kaiserreich von 1852 bis 1870 Beschneidungen der Presse- und Meinungsfreiheit stets ausnahmslos hingenommen werden. Vertreter und Organe der petite presse und der grande presse loten immer wieder die Grenzen des Sagbaren aus, so dass manche Grenzüberschrei118
Koch (1984): Le Charivari, S. 31.
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse
tung sanktioniert, Prozesse geführt, Zeitungsverbote ausgesprochen und Geld- und Haftstrafen verteilt werden. Außerdem zeigen einzelne Beispiele, wie sich Künstler und Journalisten kritisch zu den Repressionen äußern, ohne offensichtliche Kampfschriften zu verfassen. Der Journalist und Satiriker Alphonse Karr reagiert in seiner Zeitschrift Les Guêpes beispielsweise auf die Stempelsteuer, die durch einen Autorisierungsstempel auf jedem Druckwerk sichtbar ist. In der Ausgabe von 1842 versieht er die mit dem Stempeldruck versehene, ansonsten leere Seite mit dem Satz „Page salie par le fisc“119, was so viel heißt wie „vom Fiskus beschmutzte Seite“. Dass der Stempel das Druckwerk verschandle, wie der Satz besagt, belegt der Aufdruck selbst. Es ist ein Beispiel für die durch Subtexte geprägte petite presse. Karr kritisiert einen politischen Missstand, indem er dessen ästhetische Auswirkung durch das Verb „beschmutzen“ als negativ deklariert. So kann der Stempel auch allgemein auf den Umstand der Pressekontrolle übertragen werden. Karrs Beispiel stellt eine der immer wieder angewandten Strategien dar, sich mit der Repression zu arrangieren, ohne sie kommentarlos hinzunehmen. Medienkategorien in der Forschung: Von der petite presse zum Petit Journal Petite presse ist eine erklärungsbedürftige Kategorie, die sogar in der Forschung für unterschiedliche Formate verwendet wird. Nachfolgend dient ein kurzer medienhistorischer Abriss dazu, die Mehrdeutigkeit und das hier zugrundegelegte Verständnis abgrenzend zu erklären. Das ist nötig, weil die petite presse ab den 1860er Jahren neu, genauer gesagt anders belegt wird und sich das in der Forschung außerhalb Frankreichs niedergeschlagen hat. So meint die französische und die bisherige deutschsprachige Forschung vor allem zu Massenmedien und populärer Presse 119
Paule Adamy (2012): La bohème avec des gants. Fragment d’une biographie littéraire d’Edmond & Jules de Goncourt. 1848–1860. Bassac: Plein Chant, S. 135.
2.1 Vorläufer und Nachfolger der literarischen petite presse
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teils unterschiedliches, wenn sie von petite presse spricht. Bislang gibt es im deutschsprachigen Raum keine wissenschaftliche Arbeit, die sich an die französische Bohèmeforschung anlehnt und petite presse als literarische, künstlerische Presse definiert. Stattdessen liegt der Fokus pressehistorischer Forschungsarbeiten, die eine petite presse erwähnen, auf der populären Massenpresse ab den 1860er Jahren.120 Der Begriff petite presse ist mehrdeutig, weil die Vielfalt der kleinen Zeitungen und Zeitschriften in den 1840er bis 1860er Jahren so groß ist. Und er ist mehrdeutig, weil ab den 1860er Jahren mit der Erfolgsgeschichte des Petit Journal dieses Format auf eine andere Medienkategorie übertragen wird. Trotz aller Mehrdeutigkeiten scheint der Begriff geeignet, da über ihn Wertigkeiten, Hierarchien und auch ästhetische Fragen verhandelt werden. Es gibt zwei wichtige pressegeschichtliche Zäsuren in Frankreich im 19. Jahrhundert: 1836 gilt in Frankreich als „Eintritt in die mediale Ära“121, denn in diesem Jahr werden die zwei grands journaux, die Tageszeitungen Le Siècle und La Presse, lanciert, die entscheidende Weichen für die Ausbreitung der politischen Tageszeitungen stellen. Beide Medien vergrößern ihr Publikum, indem sie den Abonnement-Preis von 80 auf 40 Franc pro Jahr halbieren und an Werbeannoncen aufstocken.122 Die Literatur beeinflusst, dass die Zeitungen den Feuilletonroman als tägliche Rubrik einführen, womit die Zeitungen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller als Publikationsplattform wichtiger werden. 120
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Petite presse wird vor allem für die preisgünstige Massenpresse der 1860er Jahre gebraucht. Vgl. u.a. Rudi Renger (2000): Populärer Journalismus. Nachrichten zwischen Fakten und Fiktion. Innsbruck; Wien; München: Studienverlag, S. 53. Im Französischen Michael B. Palmer (1983): Des petits journaux aux grandes agences. Naissance du journalisme moderne, 1863–1914. Paris: Éditions Aubier. Thérenty (2009): „Les débuts de lʼère médiatique en France“. In: Jörg Requate (Hg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft. / Les médias au XIXe siècle. München: R. Oldenbourg, S. 20–29. Alain Vaillant (2014) „Le double jeu du journal, entre communication médiatique et correspondance privée“. In: Médias, Nr. 19. URL: http://www.medias19.org/index.php?id=341 (21.04.2020). Marc Martin (2011): „La publicité“. In: Kalifa; Régnier; Thérenty; Vaillant (Hg.): La Civilisation du journal, S. 1041–1047, hier S. 1042.
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse
1863 vollzieht sich eine weitere einschneidende Entwicklung in der Geschichte der periodischen Massenmedien und zwar gilt das Erscheinungsdatum von Le Petit Journal als Beginn der populären Massenpresse. Am 31. Januar bringt der Unternehmer Moïse Polydore Millaud123 die Probenummer von Le Petit Journal, „quotidien, non politique“ heraus, das weder Steuern noch Kaution zahlt und zum Preis von einem Sou (fünf Centimes) auf den Markt kommt. Am 1. und 2. Februar 1863 erscheinen Nummern eins und zwei der neuen, enorm günstigen Tageszeitung. Umgangssprachlich wird sie auch als presse à un sou bezeichnet und ist die erste Boulevardzeitung im heutigen Sinne. Sie trägt nicht nur das kleine Halbformat mit vier Seiten und erscheint dadurch „klein“, sondern unterliegt auch denselben Bedingungen wie die petite presse. Bis dato bezeichnete „petit journal“ also ein Medienformat, das als nicht-politisch deklariert und steuerfrei war, aber vor allem diverse literarische und künstlerische Organe beherbergte. Seit der Gründung des Petit Journal verschiebt sich das Begriffsverständnis und petit journal beziehungsweise petite presse bezeichnet fortan eine billige Massenpresse, die eine viel höhere Reichweite als bestehende Tageszeitungen erreicht. Verglichen mit der petite presse littéraire der Jahrhundertmitte, die eine Auflagenstärke von 100 bis 1000 und in einzelnen Erfolgsfällen wie dem Figaro oder dem Mousquetaire um die 10.000 haben konnte, steigt die Auflage des Petit Journal nach der Gründung rasant an und zwar von 38.000 im Juli 1863 über 250.000 im Oktober 1867 auf 340.000 Stück im November 1869.124 Die Zeitung kann sich dank eines guten Vertriebsnetzes und der Kolportage, also dem Einzelvertrieb über Vertreter, so rasant
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Millaud hatte zuvor in Bordeaux die Wochenzeitschrift Le Lutin herausgegeben. Als er Listen von Verstorbenen mit den Namen ihrer Ärzte publizierte, sei er dort von den Ärzten vertrieben worden. Jules Bertaut (1924): Le Boulevard. Paris: Flammarion, S. 114f. Gilles Feyel; Benoît Lenoble (2011): „Commercialisation et diffusion des journaux au XIXe siècle“. In: Kalifa; Régnier; Thérenty; Vaillant (Hg.): La Civilisation du journal, S. 181–212, hier S. 201.
2.1 Vorläufer und Nachfolger der literarischen petite presse
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verbreiten. Als nicht politische Zeitung wird Le Petit Journal über die Eisenbahn ausgeliefert und zudem in Bahnhofsbuchhandlungen vertrieben. Hinzu kommen intensive Werbeanzeigen, ein Vertrieb über Ausrufer und an zahlreichen externen Verkaufsstellen.125 Bedenkt man, dass die großen Tageszeitungen wie La Presse und Le Siècle, die anfangs ausschließlich über Abonnements vertrieben wurden, von 1836 bis zum Jahr 1848 zwischen 22.500 und 35.000 Abonnenten verzeichnen konnten, sind die Auflagen des Petit Journal sehr hoch.126 Le Petit Journal kann sich neben den ‚seriösen‘ politischen Tageszeitungen und den literarischen petits journaux wie Figaro durchsetzen. Eine wichtige Frage zur Abgrenzung ist, warum die Tageszeitung den Titel Petit Journal wählt und was sie mit der literarischen petite presse gemein hat. Im Petit Journal erscheinen zahlreiche gemischte Neuigkeiten, eine chronique, Theaterklatsch und Kulissengeplauder, ein literarisches Feuilleton mit Neuerscheinungen sowie Börsenkurse, womit die Zeitung durchaus Genres der petite presse weiterführt. Die tägliche chronique von Timothée Trimm (alias Léo Lespès), der zuvor Feuilletonist des Figaro war, hat großen Erfolg. Dank seiner täglichen Kolumne wird er zum prominenten Journalisten. Dass das Personal zu dem neuen Titel überläuft, ist nur eine Verbindung zwischen Petit Journal und der literarischen Boulevardpresse, die es noch zu untersuchen gilt.127 Le Petit Journal nutzt folglich Methoden und Verfahren der bestehenden grande und petite presse, aber macht das programmatisch, was dort wiederum kritisch gesehen wurde und zwar das Aussenden von Reportern, die Nähe zum Geschehen und die Sensationsorientierung der Berichterstattung. Das Blatt wird sich so entwickeln, dass es in der Dritten Republik (1870 bis 1940) zusammen mit Le Petit Parisien (1876), Le Matin (1885) und 125
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Zu den Verbreitungswegen siehe Kalifa; Régnier; Thérenty; Vaillant (2011): „Les scansions internes à l’histoire de la presse“. In: Ebd., S. 249‒268, hier S. 260f. Renger (2000): Populärer Journalismus, S. 50. Dass sich das lohnen würde, konstatieren auch Kalifa; Régnier; Thérenty; Vaillant (2011): „Les scansions internes“, S. 260.
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse
Le Journal (1892) eine der vier auflagenstärksten Tageszeitungen des sogenannten Goldenen Zeitalters der französischen Presse ist. Diese Entwicklung hebt noch einmal den größten Unterschied zur literarisch-künstlerischen petite presse hervor. Le Petit Journal, das Massenblatt, beansprucht von Anfang an, ein umfassendes, nicht-elitäres Publikum mit einem sehr günstigen Preis zu erreichen. Die Zeitung hat damit Erfolg und das in ganz Frankreich. Ihre Präsenz wirkt sich auch auf den Zeitschriftenmarkt in Paris aus. Außerdem bringt sie terminologische Veränderungen mit sich. Die Aneignung der Bezeichnung „petit journal“ für dieses neue und massenaffine Medienformat führt dazu, dass der Begriff für Selbstbeschreibungen der literarischen und künstlerischen Medien nicht mehr interessant ist. Das heißt aber nicht, dass nicht trotzdem noch Versuche unternommen werden, dass Ansehen der petite presse und ihrer Akteure zu steigern. Für die literarische petite presse, die die Bourgeois als ihren Reibungspunkt ansieht, versucht der junge Journalist Léon Rossignol (ca. 1840‒1867) eine „Rehabilitierung“ der „petits journalistes“128 vorzunehmen – vielleicht auch angesichts des Petit Journal. Während Journalisten oder Schriftsteller bis in die frühen 1860er Jahre um den Begriff petite presse ringen, ist er für die (Bohème-)Zeitschriften der 1870er und 1880er Jahre nicht mehr gebräuchlich. Mehrere Forschungsarbeiten zeigen, dass eher von petites revues anstatt von petits journaux gesprochen wird.129 Diese Entwicklung verdeutlicht erneut, dass das wenn auch 128
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„Je ne suis qu’un rapin de lettres, un atome, un rien, à peine un diminutif de Commerson, de Villemessant, de Koning. Or, voici ce que j’ai voulu faire: rehabiliter les petits journalistes.“ Ü.: „Ich bin nur ein Literatenlehrling, ein Atom, ein Nichts, noch nicht einmal eine Verkleinerung von Commerson, von Villemessant, von Koning. Aber hier ist das, was ich machen wollte: die kleinen Journalisten rehabilitieren.“ Rossignol (1865): „Ma Préface“. In: ders.: Nos petits journalistes. Avec portraits d’après les photographies de M. E. Carjat. Paris: Gosselin, S. 5‒9, hier S. 6. Jean-Michel Place; André Vasseur (Hg.) (1973): Bibliographie des revues et des journaux littéraires des XIXe et XXe siècles. Bd. 1/4. Paris: Éditions de la chronique des lettres françaises, S. 7f. oder Didier (2009): Petites revues et esprit bohème. Für die Begriffsbildung einflussreich war folgende Publikation von Remy Gourmont (1900): Les Petites revues. Essai de bibliographie. Paris: Librairie du Mercure de France.
2.2 Kleine Zeitungen und Zeitschriften: Eine Frage der Größe?
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ambivalente Medienformat für die Bohème und deren Medienpraxis eine wichtige Bezugsgröße darstellt.
2.2 Kleine Zeitungen und Zeitschriften: Eine Frage der Größe? Die petite presse hat Mitte des 19. Jahrhunderts einen großen ästhetischen und kulturellen Stellenwert, so dass über sie auch normative und politische Aspekte verhandelt werden, woran sich wiederum kulturelle Wertungen anschließen: […] la presse littéraire et peu ou prou satirique, ,petiteʻ par différence avec la ,grandeʻ presse politique, plus contrôlée et moins libre – constitue au XIXe siècle un lieu d’invention et d’innovation culturelles d’une importance historique capitale et qu’elle a même été, sans doute, le creuset de notre modernité.130 […] die literarische und mehr oder weniger satirische Presse, ‚klein‘ im Unterschied zur ‚großen‘ politischen Presse, kontrollierter und weniger frei – bildet im 19. Jahrhundert einen Ort der Erfindung und der kulturellen Erneuerung von einer kapitalen historischen Bedeutung und sie war sogar, ohne Zweifel, der Schmelztiegel unserer Modernität.
Die hier genannten Attribute wie „literarisch“, „mehr oder weniger satirisch“, „freier“ und „weniger kontrolliert“ legen nahe, dass die petite presse im Vergleich zur politischen Tagespresse einen Ort kultureller Innovation darstellt.131 Die Tendenz zwischen einer offiziösen Presse, die den Machthabenden nahe steht und einer subkulturellen, oft satirischen
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Homepage Projekt Médias 19 zur „petite presse“, die Akteure und Titel verzeichnet. URL: http://petitepresse.medias19.org/index.php/site/index (14.06.2020). Das machen auch stark: Pamela A. Genova (2002): Symbolist Journals. A Culture of Correspondence. Aldershot u.a.: Ashgate sowie Yoan Vérilhac in verschiedenen Forschungsarbeiten, z.B. Dies. (2010): La jeune critique des petites revues symbolistes. Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne.
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse
wird in der Geschichtsschreibung schon auf das 17. Jahrhundert angewandt. 132 Im 19. Jahrhundert ist diese ebenfalls grundlegend, aber das Format wird noch darüber hinaus diskutiert. In dem Zusammenhang kommen wir auf die Bedeutung der petite presse für die soziokulturelle Ebene des Selbstverständnisses der Bohème zu sprechen. Kleine Zeitungen (petits journaux) und Zeitschriften (petites revues) haben eine spezifische Gestalt(ung), sie tragen teils provokante Titel, die das Soziotop ihrer Leserinnen und Leser sowie der nicht selten teils deckungsgleichen Produzentinnen und Produzenten aufrufen. Veranschaulichen kann das ein kurzer Blick auf Motti, Vignetten und Titelzusätze ausgewählter Beispiele, die zentrale Kommunikationselemente sind. Mit ihnen schreiben sich die Zeitschriften ins literarisch-künstlerische Feld ein und rufen ein eigenständiges Feld von Kunst und Kultur auf. 133 Während sogenannte ‚politische‘ Tageszeitungen ab den 1830er Jahren La Presse, Le Siècle, Le Temps, Le Constitutionnel oder La Patrie heißen, speist sich die petite presse littéraire aus der Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte. Viele Titel sind selbstreferenziell auf das Produzentenmilieu bezogen und nutzen Eigennamen, Typen- oder Gruppenbezeichnungen wie Le Bohème oder La Bohême, La Jeunesse, Le Poète boiteux (Der hinkende Dichter), L’Artiste, Jacques Bonhomme. Journal des mansardes et des chaumières (Zeitung der Mansarden und Strohhütten), Lʼaimable faubourien. Journal de la canaille (Der freundliche Vorstadtbewohner. Zeitung der Halunken). An Paris als Stadtraum und an Aspekte wie Zentrum und Peripherie lassen La Mansarde, La Rue, Le Boulevard, Lutèce134, Paris, La Banlieue
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Beispiele sind die Gazette von Renaudot mit ihren sachlichen Nachrichten vom Hofe auf der einen und die Muse historique auf der anderen Seite. Manevy; Manevy (1958): La Presse française, S. 18f. Dass die Titel der petite presse aufschlussreich für ihre Zuordnung zum literarischen Feld sind, führt schon Jean-Didier Wagneur an und zieht ebenfalls zahlreiche der oben genannten Titel heran. Wagneur (2008): „Le journalisme au microscope“, S. 25f. Lutèce kommt von Lutetia und ist der lateinische Namen für Paris.
2.2 Kleine Zeitungen und Zeitschriften: Eine Frage der Größe?
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oder auch Tout-Paris denken. Bei Les Coulisses, L’Éventail (Der Fächer), Le Foyer, Guignol (Kasper) klingen sowohl Theaterleben als auch Spektakelkultur an. Motive und Figuren aus der Literaturgeschichte, der Volkskultur und der Mythologie sind beliebt wie Gil Blas, Pantagruel, Rabelais, L’Argus, Diogène, Satan, (Le) Figaro, Le Mousquetaire, Le Nain jaune (Der gelbe Zwerg), Polichinelle (Pulcinella). Unkonventionelle lautmalerische Ausdrücke wie Le Charivari (Krach oder Tohuwabohu) oder Le Petit Tintamarre (Das kleine Getöse) sowie LʼHydropathe 135 , Titel der gleichnamigen Künstlergruppe, zeigen die Vorliebe für Neologismen und Sprachspiele. Diese Reihe verdeutlicht, dass sich die Titel auf ein bestimmtes Feld beziehen und damit ein soziales Milieu assoziieren, das ein ästhetisch und medienpraktisch innovatives Terrain ausbildet. Bohème ist dabei nur einer von vielen Namen, in denen das Umfeld prekärer Außenseiter anklingt, ein unbürgerliches Leben, ein Künstlerdasein, der Witz, die Paradoxien etc. Bohème kann als stolze oder ironische Bezeichnung gebraucht werden ebenso wie als Diffamierung – und das als Fremd- und Selbstbeschreibung. Dass die Zeitschriften als künstlerisch und literarisch oppositionell gelten und galten, prädestiniert sie als Beobachtungsraum der Bohème. An die Unterscheidung von Groß und Klein schließt sich auch die Diskussion um die Konzepte wie Mainstream und Macht versus Marginalität und Außenseiterstatus im kulturellen Leben an. Wie frei die Presse agieren kann, hängt schließlich von den jeweiligen gesellschaftlichen und politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen ab. Der Eintrag zur „petite presse“ im Grand dictionnaire universel von Larousse aus dem Jahr 1875 definiert diese als in der politischen Ausrichtung wandelbar und ästhetisch in Abgrenzung zur grande presse: On est convenu de donner ce nom [petite presse, N.P.], en France, à la presse satirique et littéraire; mais la petite presse, à certaines é-
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Die Zeitschrift wird von Les Hydropathes zu L’Hydropathe, dann zu Tout-Paris.
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse poques, a été aussi politique. Opposée à la grande, qui d’ordinaire la dédaigne profondément, elle représente tout un côté naturel de l’esprit français, le côté frondeur et goguenard; elle met les grands événements en chansons, montre les grands hommes en pantoufles, se tire d’affaire avec un bon mot et fait la guerre à coups d’épigrammes, à coup d’épingles. Son rôle a été tout aussi vaillant que celui de la grande presse et elle a toujours eu cette supériorité de n’être pas ennuyeuse.136 Man ist in Frankreich übereingekommen, diesen Namen [petite presse, N.P.] der satirischen und literarischen Presse zu geben. Aber in manchen Zeiten war die petite presse auch politisch. Der großen Presse gegenübergestellt, welche sie üblicherweise abgrundtief verachtet, repräsentiert sie mit ihrer aufrührerisch und spöttischen Art eine ganz natürliche Seite des französischen Geistes; sie macht aus den großen Ereignissen Lieder, zeigt die großen Männer in Pantoffeln, zieht sich mit einem Bonmot aus der Affäre und veranstaltet Epigrammschlachten mit Stecknadelstichen. Ihre Rolle war stets ebenso beherzt wie die der großen Presse, doch war sie dieser immer darin überlegen, nicht langweilig zu sein.
Der Eintrag betont insgesamt ein agonales Verhältnis zwischen der „kleinen“ und der „großen Presse“. Die satirisch-literarische petite presse habe einen größeren Unterhaltungswert, der durch Lieder, Sprüche, Epigramme und Karikaturen zustandekomme, die zeitgenössische Ereignisse und Machtinstitutionen verspotteten oder kritisierten. Mit den „gewissen Zeiten“ kann die Restaurationszeit gemeint sein, denn vor der Julirevolution von 1830 waren petits journaux Figaro und Corsaire kritisch gegen das politische System gerichtet. Petite presse ist also eine medienhistorische und eine kulturelle Kategorie, allerdings keine, die eindeutige publizistische Kriterien umfasst. Bisherige systematisierende Forschungen zur petite presse in Frankreich le136
Art. „petite presse“. In: Pierre Larousse (Hg.) (1875): Grand dictionnaire universel du XIXe siècle: français, historique, géographique, mythologique, bibliographique, littéraire, artistique, scientifique etc., etc. Bd. 13/17 (POUR–R). Paris: Administration du grand dictionnaire universel, S. 109.
2.2 Kleine Zeitungen und Zeitschriften: Eine Frage der Größe?
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gen nahe, dass übliche publizistische Kriterien angesichts der Vielfalt teilweise wenig über die Zeitungen oder Zeitschriften aussagen. Gängigerweise werden Zeitungen anhand der Merkmale Periodizität, Publizität und Universalität definiert und Zeitschriften quantitativ gegenüber den Tageszeitungen abgestuft.137 In der vorliegenden Arbeit wird die historische Begriffsverwendung verwendet. Petite presse wird mit kleine Presse und petites revues und petits journaux werden als kleine Zeitschriften und Zeitungen übersetzt, weil sie Wertungen transportieren, die einem Wandel unterliegen. Angemerkt werden muss auch, dass die jeweilige Terminologie, ob es sich bei einem Titel nun um eine Zeitung oder Zeitschrift handelt, nicht immer konsequent ist, was sich in dieser Arbeit auch widerspiegelt. Gerade weil der Begriff wertend und mehrdeutig ist, taugt er dazu, zu zeigen, wie Bedeutung im kulturellen Feld geschaffen wird. Da es selbst im Französischen schwierig ist, ein begriffliches Äquivalent138 zu finden, greifen die Forscherinnen und Forscher, die sich mit der Literatenbohème befassen, ebenfalls auf diese Bezeichnung zurück. Historisch relevante Unterscheidungen aufzugreifen, ist nicht gleichbedeutend damit, binäre Kategorien und ihre Diskurse zu reproduzieren. Zwar korreliert das Beiwort „klein“ je nachdem mit verschiedenen Tendenzen der kulturellen Werteskala, denn mit der petite presse werden weniger etablierte Autoren, eine geringere Verbreitung und so weiter verbunden, aber eben auch ein leichterer Zugang zum Medienfeld, weniger seriöse Themen sowie eine auf Unterhaltung ausgerichtete Wirkung.
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Vgl. Katja Lüthy (2013): Die Zeitschrift. Zur Phänomenologie und Geschichte eines Mediums. Konstanz; München: UVK; Hedwig Pompe (2013): „Zeitung/Zeitschrift“. In: Natalie Binczek; Till Dembeck; Jörgen Schäfer (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin; Boston: De Gruyter, S. 294–310. „Il serait difficile de trouver aujourd’hui un équivalent à ce que le XIXe a nommé ‚petite presse‘“. Wagneur (2005a): „Introduction“, S. 5.
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2 Begriff und Entwicklung des Medienformats petite presse
Im 19. Jahrhundert streiten die Akteure um die Bedeutung und Wertigkeit der petite presse als Kategorie.139 Die beiden Kategorien petite presse und die grande presse spiegeln Ökonomien und Machtverhältnisse wider, die kulturelle Bedeutung haben. Beide Begriffe rufen in ihrer Polarität ein quantitatives Verhältnis auf, was man auf die Auflage und die Wirtschaftlichkeit beziehen kann. Bisher wenig beachtet und nicht eindeutig zu beantworten ist die Frage nach dem realen Format, der materiellen Größe, denn auch sie spielt für die Unterscheidung eine Rolle. Zur Frage, ob sich das Attribut „petit“ tatsächlich auf die materielle Gestalt der Zeitung beziehe, merkt der Journalist Aurélien Scholl 1866 an: „Autrefois le petit journal était petit, et c’est improprement qu’on a continué de l’appeler petit journal depuis qu’il a grandi.“140 Das Format sei „früher“ mal unterscheidungsrelevant gewesen, aber es gebe nun keine stimmige Beziehung mehr zwischen der Formatgröße und der Bezeichnung. So viel steht fest: Die Größe von Druckerzeugnissen, die Veränderung des Formats und die Relationen sind mit konstitutiv für deren Bedeutung. Sie beschäftigen das Publikum und die Medienmacher über die rechtliche und politische Normsetzung hinaus und haben ästhetische und pragmatische Implikationen. Der Journalist Aurélien Scholl ergänzt in dem zitierten Artikel allerdings auch, dass es bei der Kategorisierung eines „petit journal“ mehr um den literarischen Inhalt und das Personal gehe als um publizistische Kriterien wie Format und Periodizität: Un petit journal adopterait demain un format deux fois plus grand que celui de la Patrie: il aurait chaque jour une édition du matin et une édition du soir; il serait rédigé par Dante, Shakespeare, Mo-
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Siehe z.B. Rossignol (1865): Nos petits journalistes. Ü.: „Früher war das petit journal klein, und es ist aus Ungenauigkeit, dass man es immer noch petit journal nennt, seit es sich vergrößert hat.“ Aurélien Scholl (1866): Les Cris de paon. Scandales du jour. Satires de l’actualité. Paris: Librairie Achille Faure, S. 111.
2.2 Kleine Zeitungen und Zeitschriften: Eine Frage der Größe?
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lière, Corneille, lord Byron et Victor Hugo que MM. Mahias et Aubry-Foucaut [sic] diraient encore: c’est un petit journal.141 Eine kleine Zeitung nähme morgen ein zweimal so großes Format wie das der Patrie [eine Tageszeitung, N.P.] an, es hätte jeden Tag eine Morgen- und eine Abendausgabe, es wäre von Dante, Shakespeare, Molière, Corneille, Lord Byron und Victor Hugo geschrieben, dass die Herren Mahias und Aubry-Foucaut [sic] immer noch sagen würden: Das ist eine kleine Zeitung.
Scholl stellt eine hypothetische Reaktion darauf dar, was passieren würde, wenn eine kleine Zeitung dieselben publizistischen Kriterien erfüllen würde wie eine große Tageszeitung und zwar in puncto Periodizität, Format und ihrer renommierten Autoren. Trotz der großen literarischen Namen würden die Akteure die „petite presse“ nach wie vor als „petit“ klassifizieren – Mahias und Aubry-Foucaut, die Scholl zufolge darauf bestünden, sind selbst Verantwortliche in petits journaux. Scholls Einwand zeugt davon, dass die Bezeichnung petit journal mitunter mit gewissem Stolz wie eine Art Auszeichnung genutzt wird, selbst wenn die Kriterien nicht mehr passten. Sein Vergleich zeigt, dass petit journal ein wichtiger Begriff der Medienakteure sein kann, der über ein Format hinaus mit gewissen Inhalten und literarischen Qualitätsansprüchen verbunden wird.
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Ebd.
3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒ 1847) 3.1 Le Corsaire-Satan: „Un journal comme on n’en voit plus“142 Von den Zeitungen und Zeitschriften, in denen die zweite Bohème Anfang der 1840er Jahre mitarbeitet, hebt sich Le Corsaire-Satan hervor.143 Charles Asselineau, selbst Autor, sieht in ihr das zentrale Organ seiner Generation: „Toute génération, toute famille d’écrivains que groupe une communauté d’idées & de goûts, trouve ou crée un endroit, journal ou revue, pour poser son programme […] ce journal fut, après 1840 le Corsaire-Satan“ 144 . Manche sprechen gar von einer „Avantgarde“ 145 , wie rückwirkend Audebrand, ebenfalls ein Mitwirkender. Die Redaktion des Corsaire-Satan ist eine Wirkungsstätte, wo Personen der ersten und zweiten Generation zusammenfinden, „des écrivains aussi différents que A. Gautier, Arsène Houssaye, Nerval, survivants de la première bohème, et aussi Champfleury, Murger, Pierre Dupont, Baudelaire, Banville et des dizaines d’autres, tombés dans l’oubli (comme Monselet ou Asselineau)“146.
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Ü.: „Eine Zeitung, wie man sie nicht mehr sieht“. Philibert Audebrand (1905): Derniers jours de La Bohême. Souvenirs de la vie littéraire. Paris: Calmann-Lévy, S. 248. Erscheint vom 7. September 1844 bis 11. März 1847. Ü.: „Jede Generation, jede Familie von Schriftstellern, die eine Ideen- & Geschmacksgemeinschaft bildet, findet oder kreiert einen Ort, eine Zeitung oder Zeitschrift, um ihr Programm zu platzieren […] diese Zeitung war nach 1840 Le Corsaire-Satan“. Charles Asselineau (1869): Charles Baudelaire. Sa Vie et son Œuvre. Paris: A. Lemerre, S. 25. Audebrand (1905): Derniers jours de La Bohême, S. 352. Ü.: „ebenso unterschiedliche Schriftsteller wie A. Gautier, Arsène Houssaye, Nerval, Überlebende der ersten Bohème, und ebenso Champfleury, Murger, Pierre Dupont, Baudelaire, Banville und ungefähr zehn andere, die in Vergessenheit geraten sind (wie Monselet und Asselineau)“. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 126.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8_4
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
Dass der Titel, der unter dem anrüchigen Namen Freibeuter-Satan erscheint, zum Aushängeschild der jungen literarischen Generation wird, liegt unter anderem daran, dass er zentrale Texte der Bohème druckt. Darunter sind Henry Murgers „Scènes de la Bohême“ sowie Champfleurys „Chien-Caillou“ und andere, nicht nur fiktionale Texte. Dem Blatt wird sowohl zeitgenössisch als auch nachträglich ein besonderer Stellenwert beigemessen. Er sei bei Leserinnen und Lesern beliebt und ebenso gefürchtet gewesen: „rival heureux du Charivari, le Corsaire-Satan était fort lu, fort redouté et, par conséquent, fort couru“147. Mit einer Auflage von rund 1000 Exemplaren gehört der täglich erscheinende CorsaireSatan unter insgesamt 26 Pariser Tageszeitungen neben dem Journal de Paris, dem Messager und La France seinerzeit zu den vier auflagenschwächsten, täglich erscheinenden Blättern mit 500 bis 2000 Abonnenten.148 Obwohl der Corsaire-Satan eine niedrigere Auflage als der Charivari149 hat, der zwischen 3000 und 5000 Exemplaren druckt, werden beide durch ihre literarische und satirische Ausrichtung oft miteinander in Beziehung gesetzt oder sie beziehen sich in ihren Artikeln selbst als Konkurrenz aufeinander. Auflagenzahlen verdeutlichen nur eine potenzielle Reichweite, die tatsächlichen Leserzahlen dürften wegen der zeitgenössischen Lesepraxis abweichen, da viele Lektüren in Cafés, Clubs und Lesekabinetten stattfinden, die Zeitungen für ihre Kundinnen und Kunden abonnieren. Ebenso wenig decken sich hohe Auflagen notwendigerweise mit einer bestimmten, geschweige denn einer positiven Rezeption. Für den Corsaire-Satan lässt sich festhalten, dass ihm trotz seiner quantitativen Außenseiterrolle
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Ü.: „[als] glücklicher Rivale des Charivari, war der Corsaire-Satan sehr gelesen, stark gefürchtet und demzufolge stark frequentiert“. Audebrand (1905): Derniers jours de La Bohême, S. 253. Manevy; Manevy (1958): La Presse française, S. 227. Ebd. 1832 von Charles Philipon gegründet, setzt die satirische Tageszeitung Charivari auf Zeichnungen. Titelzusatz „journal publiant dans chaque jour un nouveau dessin“. Sie besteht bis 1937 fort.
3.1 Le Corsaire-Satan: „Un journal comme on n’en voit plus“
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viele Zeitgenossen eine gewisse Wirkmacht im literarischen Feld sowie kurzzeitige Popularität zuschreiben, was nicht zuletzt der Bohème zu verdanken ist.
3.1.1 Programm und Gestaltung der literarisch-satirischen Tageszeitung Am 7. September 1844 erscheint die satirische Tageszeitung Le CorsaireSatan nach einer Fusion von Corsaire und Satan erstmals unter diesem Titel und zwar bis zum 12. März 1847, wo sie erneut als Corsaire erscheint und 1852 letztlich endgültig eingestellt wird. Die beiden Vorgänger genießen mit ihren Vorgeschichten unterschiedliches Ansehen. 150 1823 lanciert, entwickelt sich Le Corsaire in der Julimonarchie neben dem Figaro zu einem der einflussreichsten oppositionellen Organe der petite presse. Satan ist dagegen jünger, hat sich aus der theaterorientierten Zeitschrift Les Coulisses (1840‒1843) entwickelt und besteht von 1843 bis 1844. Neugründungen, Umbenennungen und Fusionen sind bei kleinen Zeitungen und Zeitschriften üblich. Sie unterstreichen, wie kurzlebig viele Organe der literarischen Presse sind, aber auch, dass die Beteiligten über einzelne Titel hinweg zusammenarbeiten und sich an Vorgängern orientieren. Sie kompensieren eine kurze Lebensdauer, indem sie an vorherige Projekte anschließen. Zum Scheitern führen oft finanzielle Engpässe, die durch Abonnentenmangel, durch Anklagen und Verurteilungen der Verantwortlichen zu Geld- und Freiheitsstrafen zustande kommen. Auch Verbote sorgen dafür, dass Zeitschriften verschwinden oder zumindest unter neuem Namen weitergeführt werden. Das verdeutlicht die Fusion von Corsaire und Satan wegen der prekären Lage beider, die durch Gerichtsverfahren und anschließende Strafen verursacht wird. Angesichts
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Siehe z.B. Gabriel: „Des vieux et d’une poésie de Satan“. In: France littéraire vom 3. November 1844, S. 3.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
dessen schlägt der Journalist Lepoitevin Saint-Alme151 (1791‒1854) eine Fusion vor und leitet den Corsaire-Satan fortan bis 1847 als Chefredakteur. Der Schritt in die Öffentlichkeit mit der Eröffnungsausgabe Bei einer Zeitung stellt die Eröffnungsausgabe den entscheidenden Schritt in die Öffentlichkeit dar. Programmatische Texte wie Briefe an die Leser, die die Ausrichtung einer Zeitung darlegen, gehören zum Metadiskurs.152 Dieser Diskurs ist jedoch eher als Absichtserklärung zu verstehen, denn er ist weder damit gleichzusetzen, was die Zeitung tatsächlich umsetzt, noch mit der Interpretation des Publikums. Dennoch sind dazugehörige Texte aussagekräftig, weil sie ein Vorhaben legitimieren. Der Metadiskurs prägt die „identité médiatique“153, also das Ensemble der materiellen und journalistischen Charakteristika, die eine Zeitung von einer anderen unterscheidet, darunter der Aufbau, die Zusammensetzung der Rubriken, der Stil der Artikel und so weiter. Einen Eindruck vom Erscheinungsbild und von der redaktionellen Selbstdarstellung des Corsaire-Satan gibt die Eröffnungsnummer, die als wichtigen programmatischen Text den Leitartikel enthält. Außer einem mit „F“ signierten Feuilleton ist er der einzige namentlich gekennzeichnete Text, welcher im Namen der Redaktion mit dem Hinweis „Le CorsaireSatan“ versehen ist. Im Impressum erscheinen lediglich die Namen der
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Gebräuchlicher Name von Auguste Lepoitevin de LʼÉgreville. Die Schreibweise variiert unter anderem zwischen Lepoitevin und Le Poitevin. Er publiziert unter zahlreichen weiteren Namensvarianten. Mit Suzanne Dumouchel kann man als Metadiskurs jene Selbstdarstellung(en) verstehen, die sowohl in Vorworten und anderen Paratexten (Motti etc.) als auch in der Gesamtheit der Ausgaben vorkommen. Dumouchel (2016): Le journal littéraire en France au dix-huitième siècle. Émergence d’une culture virtuelle. Oxford: Voltaire Foundation, S. 86. Das heißt, dass neben Texten, die ihren programmatischen Status wie ein Vorwort hervorheben, viele weitere implizit dazu beitragen. Benoît Lenoble (2010): „Lʼidentité médiatique du Figaro (1866‒1914)“. In: Blandin (Hg.): Le Figaro. Histoire dʼun journal, S. 47–63, hier S. 47.
3.1 Le Corsaire-Satan: „Un journal comme on n’en voit plus“
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Verantwortlichen, des Geschäftsführers und Teileigners Constant Laurent sowie des Chefredakteurs und zweiten Teileigners Lepoitevin Saint-Alme. Des Weiteren stehen im Impressum die Redaktionsadresse, die Verkaufsund Abonnementpreise sowie die Verbreitungswege und Bezugsquellen der Zeitung. Eingangs erklärt der Leitartikel die Fusion und deklariert das neue Format als das der politischen Tageszeitungen, welches das Blatt stempelsteuerpflichtig macht: „À partir d’aujourd’hui le Corsaire et Satan se réunissent pour paraître sommairement, sur beau papier, format des grands journaux (timbre à cinq centimes).“154 Anschließend geht es um die inhaltliche Agenda. Neben Kunst, Literatur und Theater sind die Bereiche Gericht, Gewerbe, Handel, Politik und Diplomatie vorgesehen, womit die Zeitung sowohl politische als auch literarische Inhalte abdeckt. Texte wie dieser richten sich zum einen an neue Leserinnen und Leser, zum anderen an das bestehende Publikum, das aus Abonnenten der Vorgänger, in dem Fall des Satan und des Corsaire, besteht.155 Der Aufmacher erklärt die Ziele und Wirkungsansprüche der Zeitschrift. Ein Aspekt fällt besonders ins Auge und zwar die Formel von der „Oberfläche der Fakten“. Mit der sogenannten „frivolité“156 ist der Unterhal-
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Ü.: „Von heute an vereinigen sich der Corsaire und der Satan, um im Schnellverfahren zu erscheinen, auf schönem Papier, im Format der großen Zeitungen (Steuer zu fünf Centimes).“ O.A.: „Réunion du Corsaire et de Satan“. In: Le Corsaire-Satan vom 7. September 1844, S. 1. Laut der Französischen Nationalbibliothek handelt es sich zuerst um ein Folio-, später um ein großes Folioformat. St-Maurice: „Histoire politique, littéraire et anecdotique du Corsaire-Satan“ [Fortsetzung]. In: Le Corsaire-Satan vom 6. Februar 1846, S. 1–3, hier S. 3. Wolfgang Eßbach ist eine Ausnahme damit, den Sensations- und Skandalaspekt der Bohème explizit aufzugreifen und zwar unter dem Stichwort „Frivolität“. Den Junghegelianern wurde „Frivolität“ vorgeworfen, was Eßbach ihrer Skandalpraxis zuordnet, die wiederum den abweichenden Charakter von Unterhaltung betont. (1988): Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe. München: Wilhelm Fink, S. 314f. u.a. Mit Blick auf die französische Mediengeschichte ist „frivolité“ (Ü.: „Oberflächlichkeit, Frivolität“) als Zuschreibung ein kulturkritischer Marker, mit dem Medien und Akteure diskreditiert werden. Insbesondere die boulevardeske petite presse im Zweiten Kaiserreich wird mit diesem Attribut belegt. Siehe Marc Angenot (2013):
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
tungsfaktor der Presse gemeint. Corsaire-Satan verbindet Unterhaltung mit geistreichem Witz, um seine Leserschaft nicht zu langweilen. Ausführlich rechtfertigt der Text das neue Vorhaben einer Zeitung, die beide Bereiche verbindet, mit Blick auf die zeitgenössische Medienlandschaft. Einen Eindruck von der Rhetorik und der Positionierung des CorsaireSatan im Medienfeld bietet folgendes ausführliche Zitat aus dem Aufmacher: Nous conviendrons volontiers qu’un petit journal, avec la même forme et le même cadre que ceux qui tournent aujourd’hui dans le même cercle, n’était une chose ni beaucoup plus utile, ni beaucoup plus neuve. En effet, s’il existe trop de journaux qui ne représentent pas la politique, il s’en rencontre assez qui ne représentent pas davantage la littérature et les arts. Mais faire à la fois un grand et un petit journal qui ne ressemble néanmoins ni à ceux-ci, ni à ceux-là, c’est, nous le croyons, une idée qui vaut la peine qu’on s’en occupe. On a fait jusqu’à présent mille journaux pour les masses qui ne comprennent rien, ou pour les spécialités qui ne comprennent qu’une chose, et l’on n’en a point encore fait un seul pour le public d’élite qui comprend à la fois la littérature, les arts, les théâtres, l’industrie, les tribunaux, le monde et la politique. On a forcé ce public intelligent et spirituel, mais susceptible et capricieux, à chercher dans vingt journaux qui l’ennuient et que rarement il a le temps de parcourir en bâillant, tout ce qui l’intéresse et pourrait se rencontrer dans une feuille destinée uniquement à son usage. Pourquoi ne pas essayer une bonne fois ce journal-là? Des lecteurs? on n’en saurait manquer. Une feuille écrite sous l’invocation des hommes d’esprit, des gens de goût, cette honnête et morale faction de l’intelligence, ne peut rien avoir à redouter de la cabale des sots et de la coterie des intrigants. […]157 Wir geben gerne zu, dass ein petit journal in derselben Form und in demselben Rahmen derer, die heute im selben Kreis zirkulieren, weder eine sehr nützliche noch eine sehr neue Sache war. Tatsäch-
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„Chapitre 26. Typologie de la presse périodique“. In: Médias 19. URL: http://www.medias19.org/index.php?id=12308 (18.04.2020). Le Corsaire-Satan vom 7. September 1844, S. 2.
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lich existieren zu viele Zeitungen, die keine Politik thematisieren und man trifft genügend, die auch keine Literatur und Kunst repräsentieren. Doch gleichzeitig ein großes und ein kleines Journal zu machen, das weder den einen da, noch den anderen dort ähnelt, das ist, was wir für eine Idee halten, um die man sich kümmern sollte. Man hat bisher bis zu tausend Zeitungen für die Massen gemacht, die nichts verstehen oder für Spezialisten, die nur eine Sache verstehen, aber man hat noch keine einzige für das erlesene Publikum gemacht, das sowohl Literatur, Kunst, Theater, Gewerbe, Gericht, die monde und die Politik versteht. Man hat dieses intelligente und geistreiche, aber empfindliche und eigenwilllige Publikum dazu gezwungen zwanzig Zeitungen zu durchsuchen, die es langweilen und die es selten die Zeit hat sie gähnend zu überfliegen; alles, was es interessiert, könnte sich in einem Blatt exklusiv für seinen Gebrauch finden. Warum nicht ein für alle Mal diese Zeitung ausprobieren? Leser – an ihnen wird es nicht mangeln. Ein Blatt geschrieben unter Anrufung der Männer des Geistes, der Menschen von Geschmack, dieser aufrichtigen und ethischen, aufrührerischen Gruppe, kann nichts zu befürchten haben von den Intrigen der Dummen und der Cliquen von Intriganten. […]
Der Corsaire-Satan soll die Vorteile der verschiedenen Formate vereinen; die unterhaltende Qualität der petite presse mit der Universalität der grande presse – das heißt den umfassenden Themenzugang auch zum Politischen. Der Aufmacher rechtfertigt und bewirbt den Neuigkeitswert des Vorhabens. Mit der captatio benevolentiae schmeichelt der Text einer Elite, die geistreich, aufrichtig und geschmackvoll sei. Er präsentiert das Medium nicht als Organ und Produkt einer bestimmten Gruppe, sondern als innovatives Angebot für gehobene Pariser Kreise mit einem gewissen Verbreitungsanspruch. Er liefert laut Impressum auch in die Departements sowie an einzelne Händler in den europäischen Großstädten London, Brüssel, Genf und Madrid. Dennoch befasst sich der Corsaire-Satan
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
vordringlich mit räumlich nahen Ereignissen und Themen und bespiegelt das aktuelle Geschehen der Stadt sowie die Pariser Gesellschaft.158 Das Editorial führt aus, wie Qualitäten der großen und kleinen Presse verbunden werden sollen. Indem man sich thematisch universell aufstellt, soll das Publikum umfassend informiert werden, was die Redaktion als Alleinstellungsmerkmal deklariert. Die Selbstdarstellung geht über das Editorial hinaus: In der Eröffnungsnummer kommentiert ein kurzer, an das Editorial anknüpfender Artikel die Wahl des kühnen Titels und führt den spielerischen Charakter vor Augen, den die petite presse im Umgang mit Neuigkeiten pflegt: Nous répondrons d’avance à certaines questions qu’on ne manquera pas de nous adresser. Pourquoi votre titre est-il: LE CORSAIRE-SATAN au lieu de SATAN-LE-CORSAIRE; au lieu de Corsaire tout court ou de Satan tout court? […] D’abord, c’est qu’il n’importe guère / Que Satan soit devant ou Satan soit derrière.159 Wir antworten im Voraus auf gewisse Fragen, die man nicht auslassen wird, uns zu stellen. Warum lautet euer Titel Der Freibeuter-Satan statt Satan-der-Freibeuter; statt ganz knapp Freibeuter oder ganz einfach Satan? […] Zuerst interessiert es kaum, ob Satan steht voran oder hintan. [an den Reim angepasst, nicht ganz wörtlich, N.P.]
Corsaire-Satan fingiert den Dialog mit dem Publikum. Indem die Redaktion mögliche Fragen zur Titelwahl antizipiert, verleiht sie diesem Akt
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Die Pariser petite presse ist vorwiegend lokal ausgerichtet, aber kein reines Pariser Phänomen. Auch außerhalb der Metropole erscheinen ‚nicht-politische‘ Literatur- und Kunstzeitschriften. Folgende Aufsatzsammlung mit Artikeln aus den 1860ern skizziert das Genre kritisch und formuliert normative Ansprüche an die kleine Presse. Kleine Zeitungen in der Provinz könnten sogar Motor der literarischen Dezentralisierung des Landes sein, wenn man ihr Potenzial ausschöpfe: „Le petit journal est un admirable engin de décentralisation littéraire, s’il est manié avec habilité.“ FourgeaudLagrèze (1869): La Petite presse en province, S. 3. Le Corsaire-Satan vom 7. September 1844, S. 2.
3.1 Le Corsaire-Satan: „Un journal comme on n’en voit plus“
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Bedeutung. Mögliche Varianten, die sich aus den Vorgängern ergeben, werden benannt, um dann mit einem lapidaren Reim zu behaupten, dass die Reihenfolge im Titel „kaum wichtig“ sei und sie anschließend trotzdem wie folgt zu begründen: „Néanmoins le Corsaire, se trouvant le premier né dans la presse, il était convenable de lui céder le pas. Maxima debetur veterano reverentia.“ 160 Das lateinische geflügelte Wort ist abgewandelt, Jugend durch Alter ersetzt. Statt dem Knaben gewährt man dem Veteranen und Altmeister, dem Corsaire, den Vortritt. Abschließend behauptet die Sprechinstanz, dass die Informationen noch unvollständig seien, aber man die Gründe für sich behalte, um das Publikumsinteresse aufrechtzuerhalten.161 Der Konvention, die Titelwahl zu kommentieren, begegnet das Blatt spielerisch. Im Impressum zeigt sich, dass es, um Langlebigkeit zu demonstrieren, die Jahrgangsangaben und die Nummerierung des älteren Vorgängers weiterführt. Gemäß der Historie des Corsaire lautet die Angabe in der ersten Ausgabe des Corsaire-Satan „22 année, nº 9820“. Dass sowohl das Datum als auch die Jahrgangs- und Nummernangabe auf das Titelblatt gedruckt werden, ist zu der Zeit verbreitet. Derlei Angaben können als rein faktische Elemente gelesen werden, aber sie repräsentieren auch die Strategie, eine gewisse Dauer des Medienprodukts zu suggerieren, womit eine Aufwertung im Medienbetrieb einhergehen soll. Ein weiteres Beispiel für mehrdeutige Textelemente bietet das Inhaltsverzeichnis im überfrachteten Titelkopf. Es führt vor Augen, wie breit das Themenspektrum der Zeitung ist und illustriert gleichzeitig den esprit und Stil der kleinen Presse:
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Ü.: „Nichtsdestotrotz schien es angemessen, dem Corsaire, der sich als Erstgeborener in der Presse befindet, den Vortritt zu lassen. Einem Veteranen kommt größtmöglicher Respekt zu.“ Ebd. Ebd.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) Table des matières: Journal des victimes: Hommes d’état à la loupe. – Diplomatie dévoilée. – Mœurs parlementaires. Le livre d’or: Salles des Croisades. – Blasons usurpés, Nobiliomanie. Nouvelles à la main: Silhouettes et portraits. – Mystères des salons, des boudoirs et des coulisses. Littérature, Beaux-arts, Académies, Modes, Théâtres: Génies incompris. – Pirates littéraires. – Bas-bleus illustres. Poésie: Satires. – Madrigaux, Églogues et Bucoliques. Buvette du Palais: Avocats sans causes. – Causes sans avocats. – La cour d’assises et la police correctionnelle illustrées. Charlatanisme: Hippocrates modernes. – Philanthropes. – Tartuffes. Bourse: Tribunal de commerce. Chemins de fer. Journal des journaux: Grands et petits critiques. Chroniques des eaux. ═ Guerre aux abus. ═ Justice distributive. ═ Révélations sur tous.162 Inhaltsverzeichnis: Journal der Opfer: Staatsmänner durch die Lupe. – Enthüllte Diplomatie. – Parlamentarische Sitten. Das Goldene Buch. Saal der Kreuzzüge. – Widerrechtliche Wappen. – Adelssucht [abgewandelt von nobiliaire, Adelsbuch, mit dem Suffix manie = Sucht, N.P.]. Nouvelles à la main: Figuren und Porträts. – Geheimnisse der Salons, der Boudoirs und der Kulissen. Literatur, Schöne Künste, Akademien, Mode, Theater: Unverstandene Genies. – Literarische Piraten. – Illustre Blaustrümpfe. Dichtung: Satiren. – Madrigale, Elogen und Schäferdichtung. Trinkhalle des Gerichts: Anwälte ohne Fälle. – Fälle ohne Anwälte. – Das Schwurgericht und die Strafkammer illustriert. Quacksalberei: Moderne Hippokrates. – Philanthropen. – Tartuffes. Börse: Handelsgericht. – Eisenbahnen. Journal der Journale: Große und kleine Kritiker.
162
Le Corsaire-Satan vom 1. Januar 1846, S. 1.
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Chroniken des Alkohols. ═ Krieg dem Missbrauch. ═ Ausgleichende Gerechtigkeit. ═ Enthüllungen über alle. [im Original alles in Versalien und gefettete Überschriften in größerer Schrift, N.P.]
Das Verzeichnis kommt optisch einem analytischen Inhaltsverzeichnis gleich, denn es ordnet Inhalte ohne Seitenzahlen nacheinander an. Das zitierte Sammelsurium aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen entspricht nicht dem Inhalt der jeweiligen Ausgabe, sondern es zählt das allgemeine Repertoire der Zeitung auf. Auf den ersten Blick deutet es eine systematische Ordnung an: Gefettete Einträge sind übergeordnet und benennen Themen, gesellschaftliche Bereiche oder Gattungen. Ihnen sind spezifischere Aspekte in kleinerer Schrift untergeordnet. Teilweise handelt es sich bei den Stichworten um Rubriken, darunter „Nouvelles à la main“, „Théatres“ oder „Tribunaux“, die im Innenteil der Zeitung bestimmte Schwerpunkte organisieren. Das inhaltliche Repertoire weckt den Eindruck, dass ein allumfassendes Interesse für die städtische Gesellschaft und das kulturelle Leben besteht. So überschreitet die petite presse ihre formale Beschränkung. Eine pragmatische Textsorte wird sprachlich vielseitig und rhetorisch variabel dargeboten, wodurch sie ein Mehr an Bedeutung ermöglicht. Verfremdete Ausdrücke und Neologismen wie „Nobiliomanie“, eine metaphorische Verwendung von Namen wie „Tartuffe“ sowie wortspielerische Satzfiguren wie der Chiasmus „Avocats sans causes. – Causes sans avocats“ lenken die Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst. Innerhalb der Liste stehen Appelle wie „Krieg dem Missbrauch“ neben nüchternen Stichworten, die bekannte Einrichtungen benennen wie „Die Börse“. Neugier wird ferner geweckt, indem der Text auf Geheimnisse und Einblicke in Verborgenes hindeutet, auf Indiskretion, Skandal und Exzentrik. Sensation verheißt abschließend die Formel „Enthüllungen über alle“, die Respektlosigkeit und Unparteilichkeit auf der einen Seite sowie eine Unerschöpflichkeit der Themen auf der anderen Seite signalisiert. Dass die Inhaltsliste beliebig erweiterbar wäre, zeigen die letzten Einträge, die fett
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
gedruckte Oberthemen auflisten, die potenzielle Lücken im Zwischenraum andeuten. Da jede Ausgabe der Zeitung mehr oder minder dasselbe Verzeichnis enthält, ist es mehr ein Markenzeichen als ein funktionaler Text. Wo die Grenze des Sagbaren streng geregelt ist, bieten Wortspiele und kreative Wortschöpfungen Möglichkeiten abzuweichen und sprachlich zu entgrenzen oder Konventionen aufzubrechen. Während Inhaltsverzeichnisse üblicherweise Inhalte zusammenfassen, strukturieren und übersichtlich anordnen, spiegelt dieses vielmehr die ästhetischen Besonderheiten der petite presse wider: eine Neigung zum Exzessiven, zum Spiel, zur Varianz, Heterogenität und Unausgewogenheit – eine „rhétorique de l’excès, de l’accumulation, de la prolifération verbale“163. Gründung und Entwicklung als Anker der Selbstinszenierung Für kleine Zeitschriften sind Gründungs- und Entwicklungsgeschichten mögliche Anker einer medialen Inszenierung. 1846 vermitteln im Feuilleton des Corsaire-Satan zwei Autoren die Geschichte desselben (und seiner Vorläufer von Seiten des Corsaire) als Teil eines oppositionellen Mediums, dessen Fortdauern trotz Widerständen auf den Mut und die Beharrlichkeit der Beteiligten zurückzuführen ist. C. Saint-Maurice und Eugène Briffault mischen in der „Histoire politique, littéraire et anecdotique du Corsaire-Satan“ Anekdoten, Fakten und anschließende Reflexionen zu einer subjektiv verdichteten Erzählung im Stil populärer Geschichtsschreibung. Dazu gehört zum Beispiel, die schwierigen Bedingungen zu betonen, denen Kunstschaffen und öffentliche Meinung wegen der Zensur unterliegen. Aus dem rebellischen, widerständigen Geist leitet der C. Saint-Maurice eine Lebendigkeit des Blattes ab, die bis in die Gegenwart fortbestehe:
163
Ü.: „eine Rhetorik des Exzesses, der Anhäufung, der verbalen Ausuferung“. Sandrine Berthelot (2010): „‚La Bohème: avec ou sans style?‘“ In: Brissette; Glinoer (Hg.): Bohème sans frontière, S. 115–126, hier S. 121.
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[E]squissons la vie, racontons la naissance, les principales aventures et la métamorphose d’une feuille qui a aussi joué son rôle sur la scène politique; d’un journal qui a assisté aux funérailles de tant de ses confrères grands et petits, et qui après avoir triomphé des plus terribles épreuves, après avoir résisté aux plus violent orages, a vécu plus de vingt-cinq ans, vit encore, et a quelque raison pour continuer de se croire le plus jeune de tous.164 [S]kizzieren wir das Leben, erzählen von der Geburt, von den wesentlichen Abenteuern und der Verwandlung eines Blattes, das auch auf der politischen Bühne seine Rolle gespielt hat; einer Zeitung, die so vielen Beerdigungen von großen und kleinen Kollegen beigewohnt hat und die, nachdem sie die schrecklichsten Prüfungen bestanden hat, nachdem sie den gewaltigsten Gewittern getrotzt hat, mehr als 25 Jahre gelebt hat und immer noch lebt und die manchen Grund dafür hat, sich nach wie vor für eine der jüngsten zu halten.
Saint-Maurice spricht von den Etappen des Bestehens metaphorisch als Lebensphasen: „Geburt“, „Abenteuer“ oder „Verwandlung“. Derlei Anthropomorphismen sind typisch für Texte, die die Printmedien als lebendige Einheiten in ihrer Entwicklung beschreiben. Dass der Zeitung durch eine metaphorische Narration bestimmte Attribute zugewiesen werden, ist Teil der medialen Selbstinszenierung dieser Institution, die auch auf Beteiligte Einfluss nehmen dürfte. Schließlich vermitteln Geschichten wie diese Werte und Konzepte und versuchen, dem Medium eine bestimmte Form der Legitimität im Medienfeld zu verleihen. Sie ist an Innovationsgeist und einen oppositionellen Habitus gebunden, was schon deutlich wurde, als sie sich zum Vorreiter der liberalen Presse entwickelte: „le Corsaire figura, non sans quelque succès, à l’avant-garde de la presse libérale.“165 Auch wenn die Institution erfolgreich ist, weist Saint-
164
165
C. Saint-Maurice: „Histoire politique, littéraire et anecdotique du Corsaire-Satan“. In: Le Corsaire-Satan vom 5. Februar 1846, S. 1–3, hier S. 1. Ü.: „der Corsaire stellte, nicht ohne gewissen Erfolg, die Avantgarde der liberalen Presse dar.“ Ebd., S. 3.
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Maurice mit bedauerndem Ton auf die Karriereverläufe der Mitwirkenden hin. Wie die Karrieren der Redaktionsmitglieder nach der Julirevolution von 1830 verlaufen sind, klingt angesichts der genannten Aspekte wie Krankheit, Scheitern und der Notwendigkeit des Broterwerbs nach dem Leben der Bohème: [C]e que sont devenus ces quatre co-fondateurs du Corsaire […] la révolution de 1830 ne les a faits ni ministres, ni conseillers d’État, ni préfets, ni ambassadeurs; il n’est même aucun d’eux, que je sache, qui soit décoré d’un ordre quelconque. Le premier est malade, le second fait des vaudevilles, le troisième des romans et moi je signe cet article.166 [W]as aus den vier Mitgründern des Corsaire wurde […] die Revolution von 1830 hat weder Minister noch Staatsräte noch Präfekten noch Botschafter aus ihnen gemacht, es ist nicht einer unter ihnen, so viel ich weiß, der mit irgendeinem Orden ausgestattet wäre. Der erste ist krank, der zweite macht Vaudevilles, der dritte Romane und ich unterzeichne diesen Artikel.
Ein desillusionierendes Fazit für die beteiligten Journalisten, dass ihr Wirken nicht zu einer anerkannten gesellschaftlichen Stellung geführt hat. Dass dies wiederum ins Feuilleton eingeht, macht die prekäre Lage von Intellektuellen und Künstlern deutlich. Mit vergleichbaren historisch-anekdotischen Erzählungen unterhalten die kleinen Zeitungen das Publikum und informieren zudem über Mitwirkende oder die erwünschte Ausrichtung eines Titels. Auch die Bedingungen des Medienschaffens, darunter beispielsweise Strafen, werden bei Gelegenheit publik gemacht. Durch eine Strafe stellt sich die Corsaire-Satan-Redaktion in der Neujahrsnummer von 1846 als scheinbar geläutert dar. Konkret gelobt das Blatt, im kommenden Jahr den hohen Sanktionen (Geld- und Haftstrafen) entgehen zu wollen: „Le Corsaire-Satan tenant à éviter autant que possible, en l’an de grâce 1846, 166
Ebd.
3.1 Le Corsaire-Satan: „Un journal comme on n’en voit plus“
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les six mois de prison, les 25,000 francs d’amende et les anodines réclamations des A. [sic] Loyau de Lacy […].“ 167 Indirekt stehen – das schwingt darin mit – die beachtlichen Summen, zu denen das Blatt verurteilt wurde, für dessen oppositionellen Charakter und einen ungestümen, schwer zu bändigenden Geist. Zur typischen Inszenierung als petit journal kann man auch rechnen, dass im Corsaire-Satan die polemische Auseinandersetzung mit der politischen Presse und deren Vertretern viel Raum einnimmt. Insbesondere Leitartikel, die meist politische und presserelevante Themen behandeln, greifen die Distanz zwischen großen und kleinen Zeitungen sowie ihres Personals immer wieder auf und verfestigen sie. Exemplarisch verdeutlicht das der Leitartikel der Neujahrsausgabe 1846, der eine Standortbestimmung und Selbstbeschreibung des petit journal als Format enthält, wodurch klar wird, dass die Besteuerung zwar die offizielle Lizenz bietet, sich am politischen Diskurs zu beteiligen, aber sich diese Zeitung trotzdem als petit journal einordnet, weil sie damit vielmehr einen gewissen Stil und eine bestimmte Haltung verbindet: Nous adressant d’abord et pour aujourd’hui à nos grands confrères, nous leurs demanderons si l’ennui qu’ils ont de travailler avec les idées des autres et leurs propres ciseaux à ce qu’ils nomment des feuilles sérieuses et graves les rend pour cela sérieux, graves, politiques et hommes d’État, tandis que le plaisir que nous pouvons avoir le Charivari et nous (remarquez que nous traitons notre rival en frère) à composer ce qu’ils nomment dédaigneusement un petit journal. Fi! un journal léger, fi! fi! un journal spirituel, fi! fi! fi! nous métamorphose nécessairement en parias de la société? – Nous ne saurions croire qu’un titre tel que ceux-ci: Le Courrier français, l’Esprit public, le Commerce, le Constitutionnel, le Siècle, la Presse, la Démocratie pacifique, ou tout autre, fasse que MM.
167
Ü.: „Der Corsaire-Satan, der darauf Wert legt, im Jahr der Gnade 1846 so gut wie möglich die sechs Monate Gefängnis, die 25.000 Franc Geldstrafe und die unbedeutenden Beschwerden von A. Loyau de Lacey zu vermeiden“. Le Corsaire-Satan vom 1. Januar 1846, S. 1.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) Durrieu, Guillemot, Burat, Lesseps, Pérodeau, Chambolle, Véron, Cantagrèl et tutti quanti aient le nez autrement fait que le nôtre ou celui de notre collègue le Charivari.168 Wir wenden uns zuerst und für heute an unsere großen Kollegen mit der Frage, ob sie der Überdruss, mit den Ideen der anderen und ihren eigenen Scheren an dem zu arbeiten, was sie seriöse und ernste Blätter nennen, ernst, schwer, politisch und [ob sie das, N.P.] zum Staatsmann macht, entgegen der Freude, die der Charivari und wir (beachten Sie, dass wir unseren Rivalen als Bruder behandeln) haben können, das zusammenzustellen, was sie verächtlich ein petit journal nennen. Pfui! Eine leichte Zeitschrift! Pfui, pfui, ein geistreiches Journal, pfui! pfui! pfui! verwandelt uns notwendigerweise in Parias der Gesellschaft? Wir werden nicht glauben können, dass Titel wie die folgenden, Le Courrier français, l’Esprit public, le Commerce, le Constitutionnel, le Siècle, la Presse, la Démocratie pacifique oder jeder andere, bewirken, dass die Nase der Herren Durrieu, Guillemot, Burat, Lesseps, Pérodeau, Chambolle, Véron, Cantagrèl und Konsorten anders gemacht sei als unsere oder die unseres Kollegen, le Charivari.
Hier zeigt es sich in einem konkreten Medium, dass mit den Kategorien ‚klein‘ und ‚groß‘ Wertungen verbunden sind, die ein Machtgefälle einschließen. Abscheu und Ablehnung schlage den „kleinen“, „leichten“ Zeitschriften entgegen. Die Corsaire-Redaktion wertet Attribute wie Unterhaltsamkeit, also „leicht“ und „geistreich“ zu sein, auf und prangert im Umkehrschluss Praktiken der ‚seriösen‘ Zeitungen an. Sie wirft der grande presse vor, abzuschreiben und zu reproduzieren. Im Zuge dessen grenzt sich die literarische Presse moralisch von den Tageszeitungen ab und stellt mit dem Charivari eine solidarische Gemeinschaft der „Kleinen“ her. Aufmacher wie dieser gehören zur Selbstverständigung der petits journalistes und er trägt dazu bei, ein ‚Kellernetzwerk‘ zu konstituieren. Diese bildliche Beschreibung nutze ich inspiriert von Charles-Augustin Sainte-
168
Anonym: „Année 1846“. In: Le Corsaire-Satan vom 1. Januar 1846, S. 1f.
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Beuve, einem Kritiker der „industriellen Literatur“ und Skeptiker der petite presse. Er skizziert in seinem Aufsatz „De la littérature industrielle“ von 1839 die verschiedenen Kommunikationsweisen von politischen und literarischen Zeitungen; während die politischen ihm zufolge offene Fehden austrügen, verbrüderten sich die Feuilletons: „Les journaux politiquement s’attaquent, s’injurient, se font avanie et guerre: les feuilletons fraternisent. On correspond d’une place à l’autre par le bas, par le rez-de chaussée, par les caves.“169 Die „untere Etage“, das Feuilleton, ist demnach gut vernetzt und bildet einen eigenen Kommunikationsraum, der sich solidarisch und vom oberen Bereich der Zeitungen abgegrenzt konstituiert. In dem genannten Fall bezieht sich die Unterscheidung nicht allein auf einen oberen oder einen unteren Zeitungsraum, sondern ebenfalls auf die Medienformate, denn die petite presse ist die feuilletonistische Presse. Politik im Corsaire-Satan Der Corsaire-Satan beschäftigt sich intensiv mit dem politischen Personal. Er kommentiert die Personen, Entscheidungen und Konflikte des politischen Feldes unter anderem im Aufmacher des Blattes. In petits journaux, die kein Editorial bringen und insbesondere im Second Empire nicht mehr das politische Leben thematisieren, ist dieser Platz vornehmlich dem aktuellen Pariser Gesellschaftsklatsch in Form einer causerie oder einer chronique vorbehalten. Im Corsaire-Satan, der wegen der Formatgröße die Stempelsteuer (timbre) entrichten muss, gibt es dennoch keine nüchterne Berichterstattung zur Politik. Jene ‚aufsässige und spöttische Seite‘ der kleinen Zeitungen, wie sie der Larousse beschrieben hat, 169
Ü.: „Die Zeitungen attackieren sich politisch, verletzen sich, tun sich Schmach an und bekriegen sich: Die Feuilletons verbrüdern sich. Man korrespondiert von einem Ort zum anderen durch das Unten, durch das Erdgeschoss, durch die Höhlen.“ CharlesAugustin Sainte-Beuve (1855) [1839]: „De la littérature industrielle“. In: ders.: Portraits contemporains. Nouvelle édition revue et corrigée. Bd. 1/3. Paris: Didier, S. 484–504, hier S. 501.
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kann man anhand der ersten Ausgabe exemplarisch darstellen. Stattdessen kommentiert das Blatt in nahezu allen Rubriken scherzhaft und kursorisch das Geschehen und nutzt Politik als Ausgangspunkt für kreative Volten. Außerdem erwähnenswert ist, dass phasenweise besonders Themen wie Pressefreiheit, die politisch die Presse unmittelbar berühren, zentral in den Aufmachern aufgegriffen und kommentiert werden. In der ersten Nummer zeigt sich, wie einer der Repräsentanten des JusteMilieus, der Politiker François Guizot, in mehreren Texten wiederholt zur Zielscheibe wird. Guizot, einer der hochrangigen Politiker der Julimonarchie, findet neben Adolphe Thiers oder Odilon Barrot beinahe in jeder Ausgabe Mitte der 1840er Jahre Erwähnung.170 Das gibt eine Vorstellung davon, wie die petite presse „die großen Ereignisse in Lieder übersetzt, die großen Männer in Pantoffeln zeigt“, wie man sich „mit einem bon mot aus der Affäre zieht“ und „den Krieg mit Epigrammen führt“171. Themen oder Personen, die in einer Ausgabe auf die Agenda gesetzt werden, kehren oft an mehreren Stellen derselben Ausgabe wieder. An politischen Amtsträgern wie Guizot hängt sich Kritik und Spott auf. In der ersten Ausgabe gibt es beispielsweise mehrere kurze Texte, die Guizot als Person thematisieren. Auf Seite zwei befindet sich eine nouvelle à la main mit dem Titel „La Gaîté de M. Thiers et la Tristesse de M. Guizot“, der die Fröhlichkeit Thiersʼ und die Traurigkeit Guizots entgegensetzt und durch die Gemütsverfassungen der Personen auch politische Neuigkeiten wachruft. In Tageszeitungen sind emotionale Zustände von Personen des öffentlichen Lebens kein Anlass für Berichterstattung. Doch mit
170
171
In ihrem Flugblatt klagen Baudelaire, Toubin und Champfleury die beiden Politiker Thiers und Odilon-Barrot an. In: Salut public, Nr. 1, ohne Datum, 1848, o.S. [S. 1]. Salut public bedeutet „Öffentliches Wohl“ und erscheint nur in zwei Nummern. Es ist eine Nachlese zur 1848er Revolution, feiert die republikanische Errungenschaft der Pressefreiheit und kommentiert das Zeitgeschehen im Stil der satirisch-anekdotischen petite presse („La Reine d’Espagne a la colique“, Nr. 1). Nr. 2 enthält ein signiertes Frontispiz von Gustave Courbet, das einen politischen Aufruhr von Bewaffneten und eine Banderole mit den Schlagworten „Voix de dieu“, „Voix du peuple“ zeigt. Übersetzung der Definition von „petite presse“ nach Larousse-Artikel aus Kap. 2.2.
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der Pointe des Textes „Malheureuses victimes! Maudite alliance anglaise!“172 wird ein außenpolitisches Thema indirekt kritisiert. Kleine Zeitungen wiederholen und variieren. Manche Ereignisse werden über einen längeren Zeitraum kommentiert. Dass Personen oder Themen in verschiedenen Rubriken und damit in unterschiedlicher Form aufgegriffen werden, wirkt spielerisch und selbstreferenziell, besonders wenn der Informations- und Neuigkeitswert niedrig ist oder zu viel Wissen vorausgesetzt wird. Ein zweiter, anonymer Text aus der Rubrik „Églogues et Bucoliques“173 betrifft erneut Guizot. In der Rubrik wenden sich unbekannte Autoren Persönlichkeiten sowie Typen oder sozialen Gruppen mit bissigen Kommentaren zu, die sie in Reimform präsentieren. Mit dem Rubrikentitel „Eklogen und Idyllen“ wird auf die Form der Auswahl und auf die Diversität der Gedichte verwiesen. Eklogen kann man dabei mehrdeutig lesen, einmal auf die „ursprüngliche“ antike Bedeutung der „Auswahl“ eines Gedichts bezogen, einmal auf die bukolische Dichtung Vergils deutend, was der zweite Terminus Bucoliques unterstreicht, der Naturverbundenheit, Idyllen und die Tradition der Schäfer- bzw. Hirtendichtung wachruft. In der Rubrik sind die Gedichte oft an Gedichtformen wie den Lai, eine mittelalterliche volkssprachliche Dichtungsform sowie an andere romanische Formen wie das Triolett oder das Rondeau, angelehnt. Ein Werk wie Vergils Eklogen verweist auf die gesellschaftliche Realität einer anderen Zeit, die Idylle auf eine bestimmte Form der beschönigenden oder utopischen Wirklichkeitsdarstellung. Der gereimte Sechszeiler zu Guizot lautet: „Il faut des mots nouveaux à des choses nouvelles. / Pour peindre le pouvoir qui biaise à tout moment, / Et qui devient un fatal instrument / Aux mains intrigants sans cœurs et sans cervelles / On ne dit plus déjà: gouvernement; / On dit: Guizotte-
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Ü.: „Bedauerliche Opfer, verdammte englische Allianz!“. Le Corsaire-Satan vom 7. September 1844, S. 2. Ü.: „Eklogen und Idyllen“.
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ment.“174 Er endet mit einem kursiv hervorgehobenen Kalauer in Form eines Neologismus, der aus Guizots Namen und der Nachsilbe des französischen Wortes für Regierung gebildet worden ist. Guizot steht für das ‚Enrichissez-vous‘-Regime des Bürgerkönigs LouisPhilippe I. und demnach für die Unterdrückung von Meinungen und politischer Partizipation. Sprache spiegelt gesellschaftlichen Wandel und die neue Begriffsprägung beschreibt Guizots Art der Machtausübung, die bezeichnenderweise die „Regierung“ ersetzt. Guizots Regierungsstil und seine Entscheidungen sind an mehreren Stellen Thema der Ausgabe, wodurch die wiederholten Verweise auf den Politiker performativen Charakter haben. Dass Guizots Handeln in einer kritischen, amüsanten Form verstärkt aufgegriffen und thematisiert wird, macht ihn zur Zielscheibe. Die Variation derselben Themen verweist darauf, dass bei der Produktion, in der mal polemisch, mal poetisch, mal verspielt und mal prosaisch ein Stoff wiederholt wird, zu einer Art Selbstzweck werden. Satire stützt sich als Ausdrucksform einer kritischen Haltung notwendigerweise auf bestehende Formen und einen Common Sense des Publikums, das die Anspielungen versteht. In verschiedenen literarischen Formen und an mehreren Stellen im Blatt werden anspielungsreiche Kommentare präsentiert, die auf einem gewissen Grad an Informiertheit und an öffentlicher Meinung aufbauen. Auch wenn Corsaire-Satan Mitte Ende der 1840er noch offener politische Akteure kritisieren kann, als es für spätere petits journaux im Zweiten Kaiserreich zutrifft – der Stil ist in späteren Zeitschriften ähnlich. Es ist ein kommunikatives Muster der petits journaux auf kursierende Gerüchte und zuvor Berichtetes einzugehen. In den Texten kehren gewisse rhetorische Formeln wieder. In einer „nouvelle à la main“ aus der 174
Ü.: „Man braucht neue Wörter für neue Sachen. / Um die Macht zu zeichnen, die zu jeder Zeit verfälscht / und die ein verhängnisvolles Instrument wird / in intriganten Händen ohne Herz und Hirn / Man sagt schon nicht mehr: Regierung / Man sagt: Guizotierung.“ [nur in den letzten beiden Versen mit Reim übersetzt, N.P.] Le Corsaire-Satan vom 7. September 1844, S. 3.
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ersten Ausgabe, die ebenfalls um Guizot kreist, heißt es: „On croit assez généralement que M. Guizot veut céder aux exigences de l’Angleterre. Cette erreur que la calomnie à propagée, nous allons le détruire.“175 „On croit“ ist ein Einstieg, mit dem Annahmen aufgegriffen werden, um sie entweder zu beglaubigen oder sich davon zu distanzieren. Es ist nicht immer so, dass sich derlei Formeln auf eine Tatsache beziehen, sie können auch ironisch gemeint sein. Die petite presse erzählt gerade von den Bereichen, die für das Publikum unerreichbar sind oder von Ereignissen, denen Leserinnen und Leser nicht beigewohnt haben. Autoren präsentieren als Eingeweihte und als Beobachter pointierte geistreiche Version von Ereignissen oder fiktiven Begebenheiten. Floskeln und Formeln unterstreichen den gemeinsamen Wissenshorizont von Produzenten und Publikum. In den Zeitschriften offenbart sich ein Dialog mit dem bürgerlichen Publikum. Medienmacher und Medienvertreter präsentieren sich als Feindbild der Bourgeois, knüpfen affirmativ oder ironisch an deren Gespräche und Aussprüche an, füttern die Leserschaft mit Anekdoten, halten ihnen ihre Dummheit vor, sezieren die Sitten ihrer Umwelt und stellen die Komik des Ganzen heraus. Das, was der Corsaire-Satan an Spott und Kritik den ‚Großen‘ gegenüber liefert, findet sich auch in anderen Darstellungen wieder, die das kämpferische Element und den Stil der petite presse hervorheben. Wie vehement sich die grands und petits journaux und ihre Vertreter teils gegenseitig öffentlich anfeinden, zeigt folgendes Beispiel. Der Herausgeber Émile de Girardin lanciert vor La Presse das monatlich erscheinende Journal des connaissances utiles, ein Recueil encyclopédique de la famille, das von 1831 bis 1848 erscheint und auf ein Massenpublikum ausgerichtet ist.176
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Ü.: „Man glaubt im Allgemeinen, dass Herr Guizot den Forderungen Englands nachgeben will. Diesen Irrtum, den die Verleumdung verbreitet hat, werden wir zerstören.“ „Nouvelles à la main“. In: Le Corsaire-Satan vom 7. September 1844, S. 3. Anklagen hätten die Angriffe des Charivari auf L’Univers und die Attacken des Corsaire auf La Presse nur erhöht: Émile de Girardin (1864): Les droits de la pensée. Questions de presse: 1830–1864. Paris: Serrière u.a., S. 347f.
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Nachdem er dafür den Spott der petits journaux auf sich gezogen hat, tritt Émile de Girardin, Gründer der großen Tageszeitung La Presse, seinen Gegnern kämpferisch entgegen. Ein unbekannter Autor zitiert eine heftige Polemik Girardins gegen die petite presse, die gleichwohl eine wertende, doch aussagekräftige Beschreibung derselben beinhaltet: Die periodische und täglich erscheinende Presse rekrutiert sich von Paris aus einer Zahl von jungen Leuten, Opfern der Universitätserziehung, welche, wenn sie die Collegienbänke verlassen, keine gewinnbringende Carrière vor sich sehen und an sich selbst verzweifelnd, gezwungen für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, sich eine Art von täglichem Brot aus ihrer eigenen Galle bereiten und ihre Feder zum Stutzen machen, bis sie ihnen literarisches Renommée oder literarische Macht erobert hat, die ihnen auf dem Markt der Literatur einen Handelswerth verleiht. Gewöhnlich debutiren sie, um sich zu üben, als Redacteure eines kleinen Theaterjournals, das oft nur in hundert Abzügen erscheint, dessen finanzielle Speculation auf das Lösegeld begründet ist, das sie erbarmungslos von den Schauspielern und Schauspielerinnen eintreiben, welche bezahlen, damit es nicht in dem Feuilleton des nächsten Tages von ihnen heiße, daß sie linkisch, häßlich oder verabscheuenswürdig sind. Diese Journale bedienen sich in der Regel der Nadelstiche der Poeten; bald feuern sie ganze Ladungen von Witz ab, bald berühren sie nur mit ihren Tatzen, daß buntscheckige Allerlei ist ihre Form, die Freibeuterei ihr Zweck. Man könnte ihre Pointen Epigramme nennen, wenn in diesen Angriffen die Injurie minder häufig und der Geist minder selten wäre. Diese Literatur der Persönlichkeiten und des Lösegeldes, der Wortspiele und halbversteckten Drohungen, ist ihrer ganzen Natur nach sehr rätselhaft. Um sie zu verstehen, muß man in dem engen Kreise leben, den sie durchläuft, immer wiederkehrend wie des Färbers Gaul im Tretrad. Es ist diese littérature parisienne, welche, verkümmert und asthmatisch, kaum noch einen Lebenshauch hat, welche nur die dicke und verräucherte Atmosphäre der dramatischen Kaffeehäuser athmet, nur in der Nacht lebt und ihren Geist nur aus der Débauche [Aus-
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schweifung, N.P.] schöpft.‘“177 [Ende Girardin-Zitat, N.P. Typographie angepasst.]
Girardin polemisiert gegen die gebildeten Debütanten mit geringen Berufsaussichten, deren Verzweiflung und Wut sie gefährlich mache. Girardins Sprachgewalt bringt eine heftige Gemütserregung zum Ausdruck und mündet darin, die Angefeindeten als armselige Gruppe abzubilden. Er greift ihre Ökonomie an. Mit einer Freibeutermetapher, die an den Corsaire erinnert, weist er auf ihr unrechtmäßiges Geschäftsmodell hin, nämlich auf mediale Aufmerksamkeit, die durch Skrupellosigkeit erworben wird. Gängige Vorurteile und Kritikpunkte gegenüber den petits journalistes kommen zur Sprache: Erpressbarkeit und Käuflichkeit, Gewissenlosigkeit und Eigennutz des Karrieristen und das verbunden mit den abgewerteten Merkmalen eines gesundheitsschädlichen, dekadenten Lebensstils. Ohnehin enthält der Beitrag nahezu alle kursierenden Vorurteile und Abwertungen der petite presse. Doch analysiert er mittels Polemik ihre Formen und Verfahren und trägt ihre Besonderheiten zur Schau. Zwar ist das Zitat eine Übersetzung, diese treibt es mit ihrer Kraft, Vehemenz und den ausgeschmückten Beschreibungen aber so sehr auf die Spitze, dass sie es mit den petits journaux aufnehmen kann. In Girardins Angriff kommt eine eklektische, heterogene Ästhetik vor; „daß buntscheckige Allerlei“ ist eine Form, die klassischen rhetorischen Ansprüchen wie der perspicuitas (Angemessenheit) nicht genügt. Die petite presse prägt pointierte, kurze Formen, womit man ihr die Stilqualität der brevitas (Kürze) zuweisen kann. In allen anderen Belangen widerstrebt das, was Girardin darlegt, den Stilprinzipien der klassischen Rhetorik. Girardin macht durch einen Konjunktiv („könnte ihre Pointen Epigramme nennen“) klar, dass die Genres der petite presse den etablierten
177
Da die Quelle im Original nicht vorliegt, wird die Polemik Girardins in Übersetzung zitiert. Sie stammt aus einem Beitrag zur petite presse in Frankreich. O.A. (1866): In: Deutsche Revue der Gegenwart. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon. Neue Folge. Zweiter Jahrgang. Zweite Hälfte: F.A. Brockhaus, S. 945f.
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literarischen Formen nur nahe kommen. Ihnen ist eine effektvolle, scharfe Ausdrucksweise zueigen („Nadelstiche der Poeten“), Angriff und Übertreibung („ganze Ladungen“) kennzeichnen sie als unangemessen. Ambivalent ist, dass er sie gemessen an der klassischen Rhetorik als minderwertig einstuft, doch trotzdem ihre Wirksamkeit deutlich macht. Ein weiterer Widerspruch schließt sich an, nämlich, dass die Texte als verletzend und erpresserisch gelten, während sie zudem als hermetisch und „sehr rätselhaft“ beschrieben werden, was sie nur für Eingeweihte verständlich mache. Der namentlich unbekannte Verfasser des deutschsprachigen Zeitschriftenbeitrags nutzt Girardins Polemik als Aufhänger, um die Qualitäten der kleinen Presse herauszustreichen und deren Produzenten aufzuwerten: Es ist dies eine Seite der petite presse, die Girardin für die Zwecke seiner schroffen Polemik hervorhebt. In der That bildet das Theater den Mittelpunkt, um den sich auch die besten Blätter dieses Genre bewegen – und neben der Bühne das Foyer, und neben dem Foyer das Casino und die Closerie [ein Künstlercafé, N.P.]. Gleichwohl hat der grübelnde moussirende Esprit dieser Blätter eine französisch-nationale Blume, und es sind keineswegs nur obscure Literaten des Quartier latin, die sich in ihnen ihre Sporen verdienen; es sind manche tüchtige Kräfte, welche in den hervorragenden Organen der petite presse ihr Licht leuchten lassen. Die französische Presse gleicht dem Diogenes; sie bittet fortwährend Alexander, ihr aus der Sonne zu gehen. Wenn er’s nicht thut, so macht sie ihre Witze im Schatten.“178 [Typographie angepasst, N.P.]
Der Autor beschreibt die Orte und Themen der petite presse, einer Künstlerpresse mit durchaus vielversprechenden Mitwirkenden, die sich mit dem Theater, den Cafés ebenso wie den Vergnügungsstätten befassen. Auch macht er ihre kulturelle Bedeutung stark. Dass der petite presse ein „französische[r] Geist“ zugesprochen wird, ist im 19. Jahrhundert durch178
Ebd., S. 945f.
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aus üblich. Der in Kapitel 2.2 zitierte Larousse-Artikel von 1875 zur petite presse macht für sie ‚eine ganz natürliche Seite des französischen Geistes‘, ‚die geltend aufrührerisch und spöttisch‘ sei, geltend. Esprit français (oder auch esprit parisien) als geflügeltes Wort gilt als „Erbe“179 der Restaurationszeit sowie der Zeitschriften aus dem Ancien Régime. Immer wieder kennzeichnen Zeitgenossen die petite presse als Indikator für den französischen Stil. Der steht als Synonym für das Genre des Feuilletons, das in Frankreich in die Presse eingeführt wurde. Ursprünglich entstanden ist das Feuilleton – wörtlich: Blättchen – als Beilage im Anzeigenblatt der französischen Zeitung Journal des débats, für das der Kritiker Julien Louis Geoffroy Besprechungen zu Kulturveranstaltungen wie Opern, Theater und Konzerten verfasste. Da diese Beilage beim Publikum Erfolg hatte, wurde das Blättchen 1801 als Ressort in die genannte Zeitung integriert und zwar graphisch getrennt vom übrigen Zeitungsraum, nämlich ‚unter dem Strich‘. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist mit dem bestimmten „französischen“ oder teils auch „gallischen“ Geist dann aber nicht allein das Feuilleton als Sparte, sondern darüber hinaus der spezifische Stil und Duktus innerhalb dieser Sparte und ihren Textsorten gemeint. In der deutschsprachigen Rezeption, sowohl einer bewundernden als auch einer kritischen, die den ‚französischen‘ Stil ablehnt, findet sich diese Zuschreibung wieder.180 Um die Rolle der petite presse zu würdigen und ihre Position gegenüber der Macht klar zu machen, dient auch der Diogenes-Vergleich. Diogenes ist eine beliebte Identifikationsfigur intellektueller Außenseiter, die auch als Titel für petits journaux genutzt wird. Sie steht für den größtmöglichen Widerstand gegenüber der Einflussnahme eines Herrschers; in dem historischen Fall Alexanders des Großen. Diogenes ist frei von Korrup179
180
Wagneur (2005b): „Martyrologe du journalisme“. In: Revue de la Bibliothèque nationale de France, Nr. 19, S. 26–38, hier S. 31. Zu dieser „Dichotomie“ bei Karl Kraus siehe Walburga Hülk (2016): „Phrase und Gemeinplatz – Kraus, Flaubert und der Boulevard“. In: Études germaniques, 71. Jg., Nr. 3 (Wien–Paris im Lichte der Fackel von Karl Kraus), S. 359–372.
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tion und auf sein Lebensideal konzentriert. Dass er in der Tonne lebt, versinnbildlicht materielle Bedürfnislosigkeit und zieht das Geistige dem Ruhm und dem Geld vor. Indem auf die bekannte, anekdotisch überlieferte Formel des „Geh mir aus der Sonne“ angespielt wird, deutet der Verfasser darauf hin, dass die Figur nach Autarkie strebt.181 Wofür der unbekannte Verfasser die petite presse rühmt, ist, dass sie und ihre Vertreter sich trotz der politischen und gesellschaftlichen Umstände nicht gänzlich unterdrücken lassen. Er betont die oppositionelle Kraft sowie den Stil und die innovativen Züge der petite presse. In vergleichbaren Texten kommt im Corsaire-Satan des Weiteren hervor, dass sich Publikationsorgane wie dieses an kultureller Wertung beteiligen und sich mit dem eigenen Einfluss, seinen Formen sowie der Wirkung teils polemisch auseinandersetzen.
181
Siehe zu Diogenes z.B. Niklaus Largier (1997): Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und früher Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik. Tübingen: Niemeyer.
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Der Titelkopf als visuelles Aushängeschild der Zeitschrift
Abb. 1: Titelkopf von Le Corsaire-Satan, Nr. 1 vom 7. September 1844 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Die ausdrucksstarke Graphik mit der Phantasiefigur des Freibeuter-Satans auf der Titelseite betont auf Anhieb den kämpferischen Charakter der Zeitung und macht sie unmittelbar als petit journal erkennbar. Sie verleiht dem Blatt seinen Wiedererkennungswert, den der Journalist Philibert Audebrand schwärmerisch ins Gedächtnis ruft: „Quʼétait-ce que le Corsaire? Un journal comme on n’en voit plus, comme on ne sait plus en faire. Imaginez une feuille de petit format, très portative, surmontée d’une vignette représentant un hardi écumeur des mers, la hache d’abordage à la main.“ 182 Sein Augenmerk gilt dem Motiv des kühnen Seeräubers mit
182
Ü.: „Was war dieser Freibeuter? Eine Zeitung, wie man sie nicht mehr sieht, wie man sie nicht mehr machen kann. Stellen Sie sich ein Blatt kleinen Formats vor, sehr handlich, eröffnet von einer Vignette, die einen kühnen Seeräuber der Meere zeigt, einen Enterhaken in der Hand.“ Audebrand (1905): Derniers jours de La Bohême, S. 248.
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dem Enterhaken. Als Vignette bezeichnet man im Druckwesen schmückende Elemente, die das Titelblatt von Zeitungen oder andere Bereiche von Zeitungen und Büchern wie Kapitelanfänge illustrieren. Vignetten im Titelkopf sind aber nicht rein schmückend, sondern dienen der Wiedererkennung und beeinflussen die Interpretation. Die Graphik auf der ersten Seite des Corsaire-Satan führt die Hauptmotive der Vorgänger zusammen und präsentiert eine hybride Phantasiefigur, die Insignien des Satans wie Flügel und Zackenkrone trägt. Sie ist in kämpferischer Pose am Rande eines Segelschiffs positioniert, das sich auf stürmischer See befindet.183 Urheber ist mit „HValentin“ mutmaßlich der Zeichner, Illustrator und Graveur Henri [auch: Henry] Valentin (1820– 1855). Titelvignetten enthalten manchmal zwei Namen oder Kürzel, darunter den des Zeichners und den des Urhebers von Druck oder Graphik. Ikonographisch erinnert die Darstellung an Eugène Delacroixʼ (1798‒ 1863) Darstellung in „Die Freiheit führt das Volk“ („La Liberté guidant le peuple“), was mit dem revolutionären Thema die Vorstellungen von Freiheit und Demokratie einschließt. In Delacroixʼ Darstellung liegen der Figur der Marianne im Mittelpunkt des Bildes Tote zu Füßen; in der Titelgraphik erinnern menschliche Köpfe der Schiffsmannschaft auf der Höhe der Füße der Phantasiefigur an diese Darstellung.
183
Die Freibeutermetaphorik sieht Fernand Hörner als „Huldigung“ an die englische Romantik, da Lord Byron ein Gedicht „The Corsair“ (1814) und eine gleichnamige Zeitschrift publiziert hat. Ders. (2008): Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie. Bielefeld: transcript, S. 142.
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Abb. 2: Titelkopf des Satan vom 2. März 1843 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Dass die Illustration so unruhig und unübersichtlich wirkt, ist nicht nur der leidlichen Qualität der Reproduktion geschuldet. Typographische Details wie Schrifttypen weisen den Corsaire-Satan als literarische Zeitschrift aus, die mit Elementen wie der Schrift experimentiert. Auch die beiden Tageszeitungen Le Siècle und La Presse haben im selben Jahr markante Titelüberschriften, doch ohne Illustration. Dagegen lenkt der gefettete, zentral gesetzte Schriftzug mit extravaganter Schrifttype und ausgeprägten Serifen im Verbund mit dem Bild die Aufmerksamkeit noch mal anders auf die Gestaltung und somit auch auf die Schriftart. In der petite presse sind es wie hier oft emblematische Figuren oder Szenen, die ins Bild gesetzt werden. Vergleicht man die Graphiken des Satan und des Corsaire-Satan, so kann man auf motivischer sowie typographischer Ebene Parallelen feststellen.
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Der Holzschnitt von Cherrier184 auf der Titelseite des Satan zeigt eine geflügelte Satansfigur, die das herausstechendste Element der düsteren Vignette bildet. Sie thront auf einer bewegten Wolke in Herrscherpose, ist im Profil mit Beinüberhang und Zepter über einer Stadtsilhouette dargestellt. Die Abbildung und das Teufels- beziehungsweise Satansmotiv fügen sich in eine beliebte zeitgenössische Ikonographie ein.185 Martina Lauster hat herausgearbeitet, dass die insbesondere ab den 1830er Jahren in der Presse populäre Teufelsfigur sich an Asmodeus, dem Diable boiteux von Alain René Le Sages Roman von 1707 orientiere. Darin sei ein „pattern for panoramic urban depiction“ erkennbar, das mit einer „characteristic […] combination of a coordinating (in the terms of this study: physiological or synthetic) view from above with the penetrating (anatomical or analytic) view of interiors“186 einhergehe. Die analytische Tradition der Stadtbeobachtung, die Lauster skizziert, wird mit der über der Stadtsilhouette thronenden Figur angedeutet, einer Figur, die ambivalent gelesen werden kann, wenn man einen Werbetext ansieht, den die Zeitschrift L’Audience für den Satan publiziert, worin es heißt: Satan; dans ses chroniques de salons, ses confidences du monde, ses indiscrétions de coulisses, flagellera sans pitié tous les Vices, Ridicules, Sottises, Folies, Vanités. Réputations usurpées, Écrivains incompris, Pirates littéraire [sic!], Bavards politiques, Champions de la veuve et de l’orphelin, Hypocrates [sic] modernes, Philanthropes, Loups-cerviers, Lions déchus.187 Satan, in seinen Salonchroniken, seinen Vertraulichkeiten der monde, seinen Indiskretionen aus den Kulissen, wird ohne Mitleid 184
185
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Er wird als „graveur de bois“ (ein Graphiker, der Holzschnitte herstellt) bezeichnet. Henri Beraldi (1885–1892): Les Graveurs du XIXe siècle. Guide de lʼamateur dʼestampes modernes. Bd. 5/13: Cherrier–Dien. Paris: Librairie L. Conquet, S. 5f. Vgl. Martina Lauster (2007): Sketches of the Nineteenth Century: European Journalism and its Physiologies, 1830–50. Houndmills; Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan, S. 129–172. Ebd., S. 130f. Zitiert nach Wagneur; Cestor (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1420.
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alle Laster, Lächerlichkeiten, Dummheiten, Wahnsinn, Eitelkeiten geißeln. Ungerechtfertigte Reputationen, unverstandene Literaten, literarische Halsabschneider, politische Schwätzer, Großmeister des Hurenkindes und der Schusterjungen, moderne Hippokrates, Menschenfreunde, Nordluchse, gestürzte Löwen.
Gemäß diesem Text ist das Titelblatt eine Kampfansage und Satan erscheint entweder als Inkarnation dieser Triebkräfte, die über der Stadt sichtbar gemacht werden sollen oder als gewaltige Instanz, die sich dieser von einer erhobenen Position aus annimmt. Was abgesehen von der imposanten Abbildung an der Titelseite auch hier noch ins Auge fällt, ist der fette, zentral gesetzte Titel mit der durch die ausgeprägten Serifen extravagant wirkenden Schrift. Hinzu kommt die ausgefallene Zeichensetzung mit dem Schrägkreuz, das hinter dem Titel steht und einen Punkt ersetzt. Es stellt eines der auffälligen typographischen Gestaltungselemente des Satan dar, von denen der Corsaire-Satan manche weiterführen wird. Jedenfalls demonstriert der knappe Vergleich, wie variabel und vielgestaltig die petits journaux ihre Titel illustrieren und mit welchen Stilen, Motiven und welcher Typographie sie experimentieren.
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Nimmt man das Titelbild einer früheren Corsaire-Ausgabe hinzu, wird deutlich, dass sich die Illustration des Corsaire-Satan aus beiden Vorgängern speist. Auch zeigt es, wie unterschiedlich auffallend die Titelillustrationen gestaltet werden. Verglichen mit den frühen Ausgaben des Corsaire Ende der 1820er Jahre, die noch vor der Julirevolution liegen und nur die Seitenansicht eines Segelschiffs auf ruhiger See abbilden, bringt die Graphik des Corsaire Anfang der 1840er Jahre bereits Aufruhr und Kampf zum Ausdruck, in dem Fall metaphorisch gegen ein Seeungeheuer.
Abb. 4: Titelgraphik von Le Corsaire vom 2. Januar 1842 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Wenn petits journaux ihre Gestaltung thematisieren, dann oft um die Qualität oder den Neuigkeitswert zu betonen. Materielle Aspekte wie Papierqualität, Formatgröße oder Schriftarten kündigen sie gern werbewirksam an. Bei Titelgraphiken kommen der künstlerische Rang oder die Fähigkeiten des Urhebers öfter zur Sprache, so dass es einer Auszeichnung gleich kommt, die Vignette gestalten zu dürfen. Ab und an wird auch die Bedeutung der Typographie angesprochen, wie im folgenden Beispiel aus
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dem Corsaire-Satan, das auf die formale Ebene der Gestaltung und deren Wechselspiel mit dem Inhalt eingeht: „Dimanche, le Corsaire-Satan, imprimé en caractères neufs, commencera la publication de plusieurs documents également neufs, afin de maintenir l’harmonie convenable entre la matière et l’esprit.“188 Die Graphiken belegen neben ihrem illustrativen Charakter Auszeichnungs- und Wertungspraktiken der Zeitschriften und demonstrieren, wie variabel die petite presse gestalterisch ist. Dabei werden typographische, inhaltliche oder sonstige Veränderungen innerhalb eines Blattes durchaus unterschiedlich behandelt. Als der Corsaire-Satan ab dem 12. März 1847 als Le Corsaire fortgesetzt wird, thematisiert die Ausgabe die Titelkürzung überhaupt nicht, wohingegen die neue Schrifttype eine Zeit lang angekündigt wurde. Da in Memoiren oder Lexikoneinträgen oft der Kurztitel kursiert, liegt es nahe, dass die Änderung von den Herausgebern als unproblematisch angesehen wurde. Sie geht zudem mit neuem Personal und neuer Ausrichtung einher, wobei das früher angekündigte neue Layout erst am 12. September 1848, also nach der Februarrevolution vom 24. Februar 1848, erscheint. Der neue Titelkopf mit dem Schriftzug aus großen Blockbuchstaben hebt sich deutlich vom alten ab und erinnert mit der modernistischen Schraffur, die einen dreidimensionalen Effekt erzeugt, an die politische Tageszeitung La Presse.189
188
189
Ü.: „Sonntag wird der Corsaire-Satan, in neuen Lettern, mit der Veröffentlichung mehrerer, ebenfalls neuer Dokumente beginnen, um die angemessene Harmonie zwischen der Materie und dem Geist zu erhalten.“ Le Corsaire-Satan vom 1. Januar 1847, S. 1. Siehe weitere Ausgaben desselben Jahres.
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Abb. 5: Titelkopf von Le Corsaire vom 12. September 1848 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Während die Überschrift dynamisch wirkt, markiert die sonst schlichte, übersichtliche Struktur des Titelkopfs optisch eine Zäsur. Entgegen dem überladenen und disparaten Erscheinungsbild von vorher erscheint das neue Design geradlinig, auf Information ausgerichtet und bis auf die Effekte der dreidimensionalen Buchstaben, die an beleuchtete ReklameSchriftzüge erinnern, möglichst unauffällig. Gestrichen wurde das Inhaltsverzeichnis und statt der Aufmerksamkeit bindenden Abbildung stehen nun nur textliche Angaben, die der Orientierung und dem Vertrieb dienen wie die Tages- und Datumsangabe sowie die Jahrgangsnennung, im Vordergrund. Hinter der neuen Optik stehen auch ideologische Umwälzungen, denn nach der Revolution ändert sich die vorwiegend liberale, republikanische Ausrichtung zu einer legitimistischen.190
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Um diesen Wandel konkret nachzuzeichnen, bräuchte es eine eigene Forschungsarbeit. Vgl. Edmond Auguste Texier (o.J.): „Le Corsaire“. In: ders.: Histoire des journaux. Biographie des journalistes, contenant lʼhistoire politique, littéraire, industrielle, pittoresque et anecdotique de chaque journal publié à Paris et la biographie de ses rédacteurs. Paris: Pagnerre, Libraire-Éditeur, S. 238–240, hier S. 239.
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Insgesamt zeigen die Gegenüberstellungen von Titelseiten, wie abwechslungsreich die petits journaux gestaltet sein können, selbst wenn sie unter demselben Titel länger bestehen. Da der Stil und die Gestaltung der petite presse ein Aspekt ist, der in der Rezeption oft als besonderes Erkennungszeichen gegenüber Tageszeitungen und etablierten Zeitschriften hervorgehoben wird, ist ein Eindruck von der Gestaltung und dem optischen Erscheinungsbild aufschlussreich.
3.1.2 „Ein bisschen von allem“191 – begeistert sammeln und mischen Bereits die erste Nummer des Corsaire-Satan zeugt davon, dass die Mischung ein entscheidendes ästhetisches Merkmal der Zeitung ist. In der Forschung wurden bereits verschiedene Metaphern genutzt, um den gemischten Charakter der Periodika zu beschreiben, deren Inhalt in „bribes“192 angeordnet ist. Zum einen prägen Rubriken mit Anekdoten, Neuigkeiten, Sprüchen oder Gedichten des Corsaire-Satan den Sammelcharakter. Zum anderen ist jede Zeitung durch die „rubricité“193 gemischt. Mit der Mischung ist ein weiteres Merkmal verbunden, nämlich das Kleine.194 Außer der Bezeichnung des Medienformats findet es sich in Genrebezeichnungen oder Überschriften wieder, welche sich der Terminologie des Kleinen, Leichten und Provisorischen bedienen und „la petitesse, le
191
192 193
194
„Un peu de tout“ ist ein wiederkehrender Feuilletontitel. Siehe z.B. Corsaire-Satan vom 26. Juli 1848. Ü.: „Bruchstücke“. Thérenty (2007): La littérature au quotidien, S. 80f. Thérenty nennt als Merkmale der „journalistischen Matrix“: Aktualität, Periodizität, Kollektivität und „rubricité“, was bedeutet, dass Texte in Rubriken eingeteilt werden. Dies. (2007): La littérature au quotidien, S. 47f. O.A. (2008): „Petit lexique des microformes journalistiques“. In: Etudes françaises, Bd. 44, Nr. 3, S. 13–22. Jurt spricht von „Mini-Gattungen“. Ders. (2013): „Das Jahrhundert der Presse“, S. 272.
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fragmentaire, le non sérieux, le léger ou l’anecdotique“195 betonen. Obwohl Kürze ein relatives Kriterium ist und verhältnismäßig kurze Texteinheiten ein allgemeines Merkmal der periodischen Presse196 darstellen, setzt sich die petite presse auch theoretisch damit auseinander, zum Beispiel mit sogenannten genres mineurs wie der Anekdote, so dass sie ein privilegierter Schauplatz des „Kleinen“197 sind. Scherze, Kalauer, Ironie sowie das Paradoxon sind gerade jene ästhetischen Merkmale und Stileigenschaften, anhand derer die Bohème und die petite presse wiederholt miteinander verglichen oder sogar gleichgesetzt werden. 198 Was den gemischten Charakter auf Textebene angeht, zeigt folgendes Beispiel aus der Rubrik „Butin et Bigarrures“199 wie inhaltlich und kommunikativ verschieden die Neuigkeiten sind: – Les journaux spéciaux qui paraissent à Paris depuis quelques années, et particulièrement les feuilles qui s’occupent de la Bourse et des chemins de fer, ont reçu du parquet l’invitation de déposer un cautionnement. // – M. Virey, membre de l’Académie de Médecine
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Stéphanie Dord-Crouslé (2009): „L’esprit du Mousquetaire“. In: Pascal Durand; Sarah Mombert (Hg.) (2009): Entre presse et littérature. Le Mousquetaire, journal de M. Alexandre Dumas (1853–1857). Genf: Droz, S. 133‒153, hier S. 133. Vgl. Pompe (2013): „Zeitung/Zeitschrift“, S. 300. Für eine Auseinandersetzung mit den ‚kleinen Formen‘ der Feuilletonpresse und des Unterhaltungstheaters im Paris des 19. Jahrhunderts s. insbesondere Ethel Matala de Mazza (2018): Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton. Frankfurt a.M: Fischer, S. 25 u.v.m. Frühere Forschung: Kai Kauffmann; Erhard Schütz (Hg.) (2000): Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Berlin: Weidler; Eckhardt Köhn (1989): Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin: Das Arsenal. Zum Stil der Bohème im Zusammenhang mit der petite presse: Berthelot (2010): „‚La Bohème: avec ou sans style?‘“, S. 115–126. Ü.: „Fund/Beute und Musterung“. Die erste Nummer des Figaro vom 14. Januar 1826 definiert „Bigarrures“ so: „Sous le titre de bigarrures, un feuilleton contiendra la chronique littéraire, les nouvelles des sciences, des arts, les anecdotes des salons, les causeries, les médisances“, S. 2. Ü.: „Unter dem Titel Musterung wird ein Feuilleton die literarische Kolumne, die Neuigkeiten der Wissenschaften, der Künste, die Anekdoten der Salons, den Klatsch, die Verleumdungen enthalten.“
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et ancien député de la Haute-Marne, vient de mourir à l’âge de soixante-onze ans. / – Cellarius donne un bal d’artistes paré dans la salle de la rue Neuve-Vivienne, le mardi 17 mars. C’est un appel qui sera entendu.200 – Die spezialisierten Zeitungen, die in Paris seit ein paar Jahren erscheinen, und besonders die Blätter, die sich mit der Börse und den Eisenbahnen beschäftigen, haben von der Staatsanwaltschaft die Einladung erhalten, eine Kaution zu hinterlegen. – H[err] Virey, Mitglied der medizinischen Akademie und ehemaliger Abgeordneter der Haute-Marne, ist im Alter von 71 Jahren gestorben. – Cellarius gibt einen festlichen Künstlerball im Saal in der Straße Rue Neuve-Vivienne, am Dienstag, den 17. März. Es ist ein Aufruf, der erhört werden wird.
Es handelt sich um drei Meldungen, die aus je ein bis zwei Sätzen bestehen. Jede enthält eine Information, zum Beispiel eine Neuigkeit oder eine Ankündigung. Feine Nuancen entstehen durch die Wortwahl und die Abweichungen in der Reihe. Indem die Meldung mit „haben die Einladung erhalten, eine Kaution zu hinterlegen“ umständlich und beschönigend formuliert, dass die Eisenbahnzeitungen fortan eine Kaution zahlen müssen, schwingt eine distanzierte Wertung mit. Die zweite Notiz ist am nüchternsten; sie meldet knapp den Tod eines Mediziners, nennt dessen Status und Alter. Die dritte Notiz spricht eine bestimmte Gemeinschaft an. Sie kündigt einen von Cellarius, mutmaßlich ein Pseudonym, ausgerichteten Künstlerball an. Zwar nennt sie Ort und Datum, aber keine Uhrzeit, so dass diese wohl gemeinhin bekannt sein dürfte. So deutet sie auf eine Verbindung zwischen der Hauptperson der Nachricht, den Leserinnen und Lesern und den Produzenten hin. Außerdem prophezeit der zweite Satz, dass das Fest, das im Übrigen in der Straße der Redaktion anberaumt ist, auf Resonanz stoßen werde. Da das Fest in der Nähe stattfindet, erscheint eine persönliche Beziehung der Redaktion zum Gastgeber gut möglich. Mit der Prophezeiung spricht die Zeitungsredaktion entweder 200
O.A.: „Butin et Bigarrures“. In: Le Corsaire-Satan vom 14. März 1846, S. 3.
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für sich und deutet an, dass sie selbst dem Aufruf folgen werde oder sie spricht aus Erfahrung, weil sie die Adressaten kennt. Anstatt ausschließlich zu informieren, wird eine Gewissheit ausgedrückt, die einen Handlungs- und Wissensrahmen vorgibt, der Autoren und Publikum verbindet. Auf der Diskursebene, also abgesehen von der inhaltlichen Mischung, zeigt der Textauszug, wie Nachrichten Nähe oder Distanz zum Berichteten zeigen und damit Identifikation herstellen können. Innerhalb der Reihe eröffnen sich durch feine Unterschiede im Ton und in der Information diesbezüglich unterschiedliche Vorstellungen. Konkret legt das Beispiel nahe, dass das Künstlerthema ein mit persönlichen Interessen der Macher verbundenes Thema ist. Sogar nachrichtliche Rubriken verweisen also auf soziale Kontexte wie das Einverständnis zwischen Handelnden und Berichtenden und auf eine mögliche Beziehung zwischen denen, die in der Nachricht vorkommen, den Autoren und der Leserschaft. Dadurch, wie ausgewählt, geordnet und gewichtet wird, entstehen über die Information hinausgehende Bedeutungen. Selbst kleine Notizen wie diese machen ein Netzwerk aus Künstlern, Journalisten und monde sichtbar, das in einer noch viel ausgedehnteren Form im Feuilleton zutage tritt.201 Die Mischung fasziniert Außenstehende sowie Beteiligte, wovon ein kurzer Text aus den gemischten Rubriken zeugt, der intern die „bizarre“ Unterschiedlichkeit der Genres, Formen und Beteiligten lobt, die die Zeitung präge: Le Corsaire est toujours avant tout le journal de son temps; c’està-dire qu’il peut écrire sur sa porte cette sage parole de Victor Hugo: LA VARIÉTÉ dans l’UNITÉ. Une vérité philosophique s’y voit volontiers coudoyée par un calembour, Frisette y trouve sa part de justice comme M. Guizot, et si ce bizarre Corsaire, si émi-
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Hier baut sich auf, was im Second Empire deutlich hervortreten wird: „ein einziges lakonisches Wort, nämlich ‚le monde‘, die das Wesentliche, ja die Summe des Zweiten Kaiserreiches benennen: die Interaktion der Milieus, das Wirken der Netzwerke, die Verzahnung der Felder“ auf eine Formel bringt. Hülk (2017): „Flaubert: Ourserie und Saltimbanquage“, S. 90.
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nemment français, a trouvé hier et trouve demain des larmes pour l’augmentation du pain et l’occupation de Ferrare, il a aujourd’hui même et aura encore après demain de bons rires pour les joyeusetés de Ravel et les excentricités de Mme de P***.202 Der Corsaire ist immer vor allem die Zeitung seiner Zeit; das heißt, dass er auf seine Tür das weise Wort Victor Hugos schreiben kann: DIE VIELFALT in der EINHEIT. Eine philosophische Wahrheit wird hier von einem Kalauer gestreift, Frisette findet hier ihren gerechten Anteil sowie H. Guizot, und wenn dieser bizarre, so eminent französische Corsaire gestern Tränen für die Preiserhöhung des Brotes und die Besetzung Ferraras gefunden hat, gibt es heute sogar und wird es noch übermorgen rechtes Lachen für die Vergnügtheiten Ravels und die Exzentriken der Mme von P*** geben.
Philosophische Einsichten und politische Neuigkeiten stehen neben Klatsch und Alltagsereignissen; high steht neben low und beides hat seine Berechtigung. Alltagsgeschehen, Einfälle und Kommentare bieten die petits journaux gesammelt und gemischt in mehreren Rubriken mit Anekdoten, Bonmots oder Epigrammen dar. Auf der institutionellen Ebene ist die personelle Mischung ein beliebtes Moment der Selbstinszenierung. Dass das Personal zumindest von seiner gedanklichen und ideologischen Ausrichtung her verschieden ist, hebt beispielsweise Auguste Vitu hervor. Er porträtiert die Zeitung in einer Serie und unterstreicht: „Dans cette rédaction, en effet, se trouvent réunis les représentans [sic] opposés de toutes idées et de tous les esprits.“203 Jules Viard greift in dem Sinne später im Figaro das gleiche Bild auf, um die Redaktion zu veranschaulichen: „[C]’était un veritable Capharnaüm que le bureau de la rédaction: classiques, romantiques, fantaisistes, réalistes, légitimistes, républicains, socialistes de toutes sectes, bonapartistes 202 203
O.A.: o.T. In: Le Corsaire vom 28. August 1847, S. 3. Die Serie erscheint vom 3. Mai bis zum 21. Juni 1846 in La Silhouette. Ü.: „In dieser Redaktion sind nämlich die gegensätzlichen Vertreter aller Ideen und aller Geisteshaltungen vereint.“ Auguste Vitu: „Article du 3 mai 1846“. In: Robb (Hg.) (1985): Le Corsaire-Satan en Silhouette, S. 37–43, hier S. 37.
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y discutaient librement du matin au soir.“204 Er formuliert den Gedanken, dass dort alle Personen trotz unterschiedlicher ästhetischer und ideologischer Ansichten und Stile frei diskutieren könnten. Das erinnert an das, was Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit später als ‚ideale‘ Öffentlichkeit im Sinne eines freien und vernünftigen Austauschs von Individuen definiert.205 Bohème ist folglich, das legt auch das Feuilleton nahe, ein Milieu von Produzenten und Konsumenten, aber keine alle umfassende Selbstbeschreibung. Literarischer Nachwuchs im Corsaire-Satan Im Blatt werden nur Feuilletonistinnen und Feuilletonisten namentlich erwähnt, sodass nicht alle Mitwirkenden bekannt sind. Über Personalfragen gibt neben der Zeitung selbst die externe, anekdotenreiche Geschichtsschreibung Auskunft. Der Redakteur Auguste Vitu erwähnt in einem Artikel in La Silhouette dreißig männliche Redakteure, darunter bekannte, mit der Bohème assoziierte Personen wie Champfleury, Théodore de Banville, Henry Murger, Philibert Audebrand, Baudelaire-Dufays [Pseudonym von Baudelaire, N.P.].206 Autorinnen bilden hier eine Ausnahme. Wenn sie wie Hermance Lesguillon und Anaïs Ségalas im Corsaire-Satan veröffentlichen, dann vorwiegend Lyrik. Ségalasʼ Gedichte „La Grisette“207 und „La Comédienne“ wenden sich zudem genderkonform Frauenrollen oder Frauenfiguren im Pariser Leben zu.
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Ü.: „[E]s war ein wirklich heilloses Durcheinander, dieses Redaktionsbüro: Klassiker, Romantiker, Vertreter der fantaisie, Realisten, Legitimisten, Republikaner, Sozialisten aller Sekten, Bonapartisten diskutierten hier frei von morgens bis abends.“ Jules Viard: „Une page de l’histoire de Figaro“. In: Figaro vom 23. April 1854, S. 3. Siehe Jürgen Habermas (1969): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 4. Auflage. Neuwied; Berlin: Luchterhand. Robb (Hg.) (1985): Le Corsaire-Satan en Silhouette, S. 113. Anaïs Ségalas: „La Grisette“. In: Le Corsaire-Satan vom 11. Februar 1846, S. 3. Grisetten sind junge Frauen aus der Arbeiterschicht, die unabhängig von ihren Herkunftsfamilien leben. Mit Alfred de Mussets Figur Mimi Pinson aus der gleichnamigen Er-
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In fiktionalisierten oder anekdotischen Erinnerungen wird Saint-Almes sonstige Personalpolitik als Mischkalkulation dargestellt. Während Beiträger mit literarischem Vermögen zur Beliebtheit der Zeitung beitrügen, gehörten auch die demi-monde und die monde, „gens du monde, des avocats, des marquises, des membres du Jockey-Club, des espèces de demiattachés d’ambassade“ 208 , zu ihrem Umfeld. Vitu teilt das Personal in zwei Gruppen ein, nämlich die junge ambitionierte Literatenbohème und die mondänen Hochstapler, die mit der publizistischen Tätigkeit ihre Geliebten (nicht selten Schauspielerinnen) beeindrucken wollten.209 Er folgt damit dem zeitgenössischen Klischee, das talentierte, an Kunst oder literarischer Qualität interessierte Autoren den Personen gegenüberstellt, die sich mit Autorschaft schmücken wollten. Der Chefredakteur Saint-Alme, der wie vielfach kolportiert, seine jungen Mitarbeiter als „petits crétins“210 bezeichnet, wohingegen diese von ihm als „père Saint-Alme“ sprechen, ist eine Schlüsselfigur der Anekdoten und Erinnerungen. Wegen seiner machtvollen Position an der Spitze der Zeitung steht er für eine patriarchale Struktur, die durch diese familiäre Formel ironisch gebrochen wird. Auguste Vitu charakterisiert ihn als Person, die demonstrativ mit ihm anvertrauten Texten auf dem Boulevard spaziere und sich damit brüste, dass er vielen Journalisten und Schriftstellern zum Aufstieg verholfen habe.211 Bei ihm liegen Drohung und Versprechungen gegenüber den Debütanten nah beieinander. An der satiri-
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zählung wird die Grisette zur Wegbegleiterin der Studenten und Bohemiens. Zur Figur auch: Alain Lescart (2008): Splendeurs et misères de la grisette. Évolution dʼune figure emblématique. Paris: H. Champion. Ü.: „Leute der monde, Anwälte, feine Damen, Mitglieder des Jockey-Clubs, Sorten von Semi-Attachés der Botschaft.“ Champfleury (1856): Les Aventures de Mlle Mariette, S. 44. Vitu: „Article du 10 mai 1846“. In: Robb (Hg.) (1985): Le Corsaire-Satan en Silhouette, S. 47. Ü.: „kleine Dummköpfe“. Henry Murger (1971): „Propos de ville et propos de théâtre“. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 5. Nachdruck der Pariser Ausgabe von 1855‒ 1861. Genf: Slatkine, S. 1‒169, hier S. 70. Vitu: „Article du 3 mai 1846“, S. 43.
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schen Zeitung als Einstiegsort für literarische Neulinge wird die Möglichkeit betont, als Autor etwas zu lernen, denn der Corsaire sei durch den knappen, pointierten Stil und die Abwechslung eine Stilschule, „une sorte de collège d’adultes où une foule de débutants littéraires s’exerçaient à toutes les malices de la plume.“212 Spöttisch nennt Auguste Vitu den Corsaire sowie den Figaro „biberon“213, was darauf hindeutet, dass hier junge unfertige Autoren großgezogen werden. Seinen besonderen esprit schreibt Vitu dem Chefredakteur und dessen Händchen für den künstlerisch-literarischen Nachwuchs zu. Vor allem die junge Bohème um Murger und Baudelaire kommt in zeitgenössischen Skizzen sowie Retrospektiven vor.214 Ihr sei der Erfolg des Blattes in der Mitte der 1840er Jahre zuzuschreiben: „Un groupe de jeunes gens entra ainsi dans la vie littéraire avec des formes neuves, qui firent de ce journal une puissance momentanée.“215 Äußerungen wie diese zeugen davon, wie medienwirksam und aufmerksamkeitslenkend die Bohème für die öffentliche Warnehmung und Rezeption der Zeitung war. Obwohl diverse Personen und Richtungen das Blatt prägen, stellt Le Corsaire-Satan den Deutungen der Zeitgenossen gemäß eine Zeitschrift der Bohème dar, die dieses Milieu in Neuigkeiten, Anekdoten sowie Erzählungen in unterschiedlicher Form repräsentiert.
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Ü.: „Das Blatt war […] unter der Leitung des alten Journalisten Lepoitevin SaintAlme eine Art Erwachsenenkolleg geworden, wo sich eine Masse literarischer Debütanten in allen Böswilligkeiten des Schreibens übte.“ Art. „Le Corsaire“. In: Larousse (Hg.) (1866–1877), Bd. 5/17, S. 204. Ü.: „Babyfläschchen“. Ebd., S. 42. „les Champfleury, les Aug. Vitu, les Fournier, et les Beaudelaire-Dufays [sic]“. Ü.: „die Champfleurys, die Aug[uste] Vitus, die [Marc] Fournier und die Beaudelaire-Dufays [sic].“ Vitu: „Article du 10 mai“, S. 49. Ü.: „Eine Gruppe junger Leute trat so in das literarische Leben mit neuen Formen ein, die aus der Zeitung eine vorübergehende Macht machten.“ Champfleury (1856): Les Aventures de Mlle Mariette, S. 42.
3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan
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3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan In der petite presse warten diverse Sammelrubriken mit Neuigkeiten aus dem Pariser Leben auf. Die Vie Parisienne ist eine Formel für das kulturelle Treiben rund um Theater, Cafés und Zeitungen, das mit dem Boulevard verknüpft ist.216 In vielen Anekdoten ist der Boulevard Handlungsort und sein Publikum Konsument der Geschichten und Neuigkeiten. Die petite presse ist eng an die mündliche Sphäre angebunden und erweitert den Kommunikationsraum der Großstadt. 217 Rubriken mit échos oder indiscrétions geben Vorkommnisse aus nicht-öffentlichen Räumen preis und tragen so zum schlechten Ruf der Presse bei: „Lʼécho est une indiscrétion, cʼest-à-dire une information obtenue dans les coulisses, qui renseigne le lecteur sur lʼenvers du décor.“218 Die Coulisses gehören dem Theater an und sind der für das Publikum unzugängliche Bereich, aus dem viele Indiskretionen stammen. Folgende zwei Vignetten aus der Zeitschrift Satan setzen ins Bild, wie vertrauliche Informationen weitergegeben werden. Die petite presse illustriert diese Praxis als gängige der High Society, wobei sie selbst Klatsch in einer gewissen Form mediatisiert.
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Eine Aufsatzsammlung zum Pariser Leben im 19. Jahrhundert: Aude Déruelle; JoséLuis Diaz (Hg.): La Vie parisienne. Actes du IIIe Congrès de la SERD. URL: https://serd.hypotheses.org/la-vie-parisienne (21.04.2020). Vgl. Vaillant (2014): „Le double jeu du journal“. URL: http://www.medias19.org/index.php?id=341 (21.04.2020). Ü.: „Das écho ist eine Indiskretion, die informiert, was hinter den Kulissen vor sich geht.“ Ferenczi (1993): Lʼinvention du journalisme, S. 33f.
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Abb. 6: Zwei Vignetten aus der Zeitschrift Satan vom 13. August 1843 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Zwei Damen der gehobenen Gesellschaft illustrieren die Sparte „Indiscrétions“, womit Klatsch als weibliches Stereotyp wachgerufen wird.219 Mit ihren Frisuren und dem Schmuck kann man sie sich in einem Salon oder bei einer Theateraufführung vorstellen. Anders erscheint eine weitere Illustration aus dem Satan, die zwei Männer zeigt, als der eine dem anderen etwas ins Ohr flüstert. Im Prinzip vollziehen sie die gleiche Handlung wie die Frauen, doch ihr Austausch ist wegen der konspirativen Pose anders konnotiert. Er deutet eher Geheimnisse als Klatsch an, was der Rubrikentitel „Les Mystères de la rue Taitbout“220 unterstreicht, während die Bildunterschrift „Petite chronique des audiences“221 auf die Welt der Sittenverstöße hindeutet. Beide Bilder zeigen Zwiegespräche, in denen Geheimnisse oder Klatsch gängige Handlungsmuster sind, die das Interesse der Medien wecken. Dem Theater und seinen Geheimnissen widmet sich 1844 eine kleine Broschüre, verfasst von Autoren, die kurz darauf im Corsaire-Satan zusammenarbeiten werden. Die anonyme Schrift Mystères galans [sic] des théâtres de Paris stammt unter anderem von Charles Baudelaire und Ale219
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Bspw. Satan vom 13. August 1843, S. 2. Vgl. zur Gendercodierung von Klatsch: Birgit Althans (2000): Der Klatsch, die Frauen und das Sprechen bei der Arbeit. Frankfurt a.M.; New York: Campus, S. 81; Beim Männerklatsch im Café werde „Sprechen als Arbeit“ angesehen, bei Frauen dagegen als „arbeitsbegleitende und -erleichternde Garnierung“, S. 154. Ü.: „Die Geheimnisse der rue Taitbout“. Ü.: „Kleine Chronik der Gerichtssitzungen“.
3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan
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xandre Privat d’Anglemont. Bei dem von Nadar [Künstlername, N.P.] illustrierten „petit livre“222 handelt es sich um eine Sammlung mit Porträts zeitgenössischer Schauspielerinnen, das man als „Potpourri des Klatsches und der Anekdoten“ bezeichnen kann, das schon den „boshaften Stil der petite presse“ vorzeichne.223 Nadars Graphik setzt zwei wichtige Aspekte der umstrittenen Schrift in Szene, nämlich das Verhältnis zwischen Journalisten sowie Schauspielerinnen und die Macht der Medien.
Abb. 7: Titelgraphik von Nadar zu Mystères galans des théatres de Paris. Paris: Cazel 1844 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
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Anonym (1844): Mystères galans des théâtres de Paris. (Actrices galantes.) Paris: Cazel, S. VI. Oder auch „brochure“, S. VI. Ü.: „ce potpourri de cancans et d’anecdotes a déjà la méchanceté de la petite presse“. Robb (Hg.) (1985): „Introduction“, S. 8.
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Das furchterregende gefräßige Monster mit Teufelshörnern reißt das Maul auf, womit sich für Betrachterinnen und Betrachter der Blick auf eine Bühne eröffnet. Bezeichnenderweise sieht man innen außer den Bühnenpersonen auch den Namen des Verlegers gedruckt. Auf dem Kopf des Monsters, der flach ist und ebenfalls als Bühne taugt, kniet eine flehende Frau neben einem Mann, der zu den Betrachterinnen und Betrachtern hin gewandt mit Text versehene Transparente in die Luft hält. Knapp gesagt verweist das Bild auf die Durchlässigkeit von Privatleben und öffentlicher Beobachtung bei Künstlerinnen und Künstlern. Hiermit wird ein absichtlicher Grenzübertritt ins Bild gesetzt. Im Vorwort wird das untermauert, denn darin diskutieren die Verfasser, inwiefern öffentlichen Personen wie Schauspielerinnen, auf deren Konnotation mit Liebesaffären der Untertitel „actrices galantes“ hinweist, eine Privatsphäre zustehe. Sie widersprechen dem vorab erhobenen Vorwurf, dass das Buch die Intimsphäre der dargestellten Personen verletze. Sie begründen das damit, dass sich bei Schauspielerinnen wegen ihrer Prominenz die Grenze zwischen privat und öffentlich relativiere. Dazu vergleichen sie die Frauen mit dem Kritiker und Dichter Gautier: [P]our la plupart de celles dont nous parleront, la vie privée […] c’est le trottoir, tout au plus la coulisse. […] si c’est de la vie privée, il est certain que M. Théophile Gautier peut se promener en sauvage sur le boulevart [sic] en réclamant la discrétion de tous les passants.224 [F]ür die Mehrheit derer, von denen wir sprechen werden, ist das Privatleben […] der Trottoir, höchstens die Hinterbühne. […] wenn das das Privatleben darstellt, dann ist sicher, dass H. Théophile Gautier unberührt auf dem Boulevard spazieren und die Diskretion aller Passanten einfordern kann.
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Anonym (1844): Mystères galans des théâtres, S. 3f.
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Théophile Gautier ist als Prominenter selbstverständlich auf dem Boulevard präsent und hat Zugang zu den Kulissen. Gautier ist in Pariser Kreisen bekannt, hat zu dem Zeitpunkt bereits in zahlreichen angesehenen Blättern wie dem Figaro, der Revue de Paris, der Revue des Deux Mondes und in L’Artiste publiziert. Seine Bekanntheit gilt als Gradmesser für die Schauspielerinnen, die ebenfalls öffentliche Personen sind, weshalb ihre Lage mit der von Autoren im Allgemeinen vergleichbar ist: Qu’est-ce qu’une comédienne? ce qu’est un écrivain: quelque chose de remuant, d’ambulant, de vif, d’aimable, de spirituel, fait pour amuser ce gros monstre ennuyé qu’on nomme public; quelqu’un qui vit de son métier, mais l’aime et le pratique avec ardeur.225 Was ist eine Schauspielerin? Das, was ein Schriftsteller ist: etwas Lebhaftes, Ambulatorisches, Lebendiges, Liebenswertes, Geistreiches, dazu gemacht, das große gelangweilte Monster namens Publikum zu unterhalten; jemand, der von seinem Beruf lebt, aber ihn mit Leidenschaft liebt und ausübt.
Berühmtheiten, auch célebrités genannt, können demnach im Pariser Stadtraum nicht privat unterwegs sein. Eine grundsätzliche Frage der zeitgenössischen Medienproduktion, zu der die Autoren der Mystères galans Position beziehen, ist, welche Informationen ein Autor über berühmte Personen verbreiten darf. Die Verfasser beobachten, dass sich diese ambivalent den Medien gegenüber verhielten. Teilweise profitierten sie davon, in der Presse beachtet zu werden, doch bei negativer Darstellung würfen sie den Verfassern Verleumdung und Indiskretion vor. Publizisten befinden sich in einer ähnlichen Lage, da sie zwar über öffentliche Personen schreiben, doch selbst Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit sind. Aus der Broschüre geht hervor, dass Neuigkeiten und Klatsch im Pariser Leben vor allem jene gesellschaftlichen Gruppen betrifft, die für interessant genug befunden werden. Journalisten befriedigen mit dem Theater-
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Ebd., S. 30.
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klatsch und dem Kulissengeplauder das Publikumsinteresse und steigern den Bedarf an Informationen, die sich anstatt auf die Texte und Inszenierungen auf deren Urheberinnen und Urheber richten. Nadars Illustration ist doppelbödig: Zwar wird die Macht des Publizisten über die Schauspielerin inszeniert, aber der Verlag bietet dem Schauspiel eine Plattform; er ist potenziell ebenso in der Kritik wie diejenigen, die er kritisiert. Während sich die Subpresse des Ancien Régime auf Klatsch des Adels konzentriert, adressiert die petite presse im 19. Jahrhundert das literarisch-kulturelle Feld, also Produzenten und Konsumenten unterschiedlichen Ranges und ihrer gemischten monde. Sie verschiebt den Fokus dessen, was als berichtenswert gilt. Beispielsweise richten die Mystères galans ihre Sittenkritik auch an die „actrice d’un petit théâtre des boulevarts [sic]“226 und weiten sie so auf die Repräsentantinnen der low culture aus. Mystères galans thematisiert, welchen Regeln und Konventionen das Preisgeben und Ausplaudern von Informationen in den Medien, darunter auch in anonymen Broschüren oder Büchern, unterliegen solle. Das ist ein Thema, das die Medienbohème als Produzenten sowie als öffentliche Personen stark beschäftigt.
3.2.1 Pikante Neuigkeiten aus der Pariser Gesellschaft in den „Nouvelles à la main“ Nouvelles à la main227 sind im Corsaire-Satan das Genre, in dem Journalisten pikante Neuigkeiten über die gehobene Pariser Gesellschaft verbreiten. Der Begriff „nouvelle à la main“ stammt aus dem Ancien Régime. „À la main“ deshalb, weil es sich um handschriftlich verfasste Nachrichtenblätter oder Briefe handelt, die sich der Zensur entziehen und
226
227
Ü.: „Schauspielerin eines kleinen Boulevardtheaters“. Ebd., S. 15 und allgemein zu der Rechtfertigung, S. 8. Kursiv, wenn es um das Genre, in Anführungszeichen, wenn es um den Begriff oder die Rubrik geht.
3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan
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oft Pikantes und Satirisches aus Stadt und Hof (la cour et la ville) vermitteln.228 Sie unterscheiden sich von denen, die durch ein königliches Privileg autorisiert herausgebracht werden. In der petite presse des 19. Jahrhunderts sind sie sehr verbreitet, bezeichnen aber nicht mehr das Medium der heimlich gedruckten, handgeschriebenen gazette, sondern eine Textsorte, „une anecdote, un trait de mœurs contemporaines plus ou moins authentique“229. Als Vorbild sind die petite presse und die nouvelles à la main des 18. Jahrhunderts, die im Ancien Régime mit Heimlichkeit und Verbot verbunden waren, für die petits journalistes jedoch nach wie vor wichtig. Davon zeugen diverse Feuilletons, die Vorläufer mit zeitgenössischen Texten in Beziehung setzen wie Jules Duvernays Feuilleton, worin er versucht durch einen Rückblick der oft deklassierten literarischen Gattung nouvelle à la main zu Anerkennung zu verhelfen: Il nous a paru piquant de justifier le présent par le passé, de comparer les Nouvelles à la main du dixhuitième et celles du dix-neuvième, et de démontrer qu’en dépit de toutes les accusations elles portent en elles de nombreux indices de courage, d’esprit, d’impartialité, et de plus, d’importants matériaux pour l’histoire.230 Es erschien uns reizvoll, die Gegenwart durch die Vergangenheit zu rechtfertigen, die Nouvelles à la main des 18. und des 19. Jahrhunderts zu vergleichen und zu zeigen, dass sie trotz aller Anschuldigungen zahlreiche Anzeichen von Mut, Geist, Objektivität in sich tragen und, außerdem, wichtige Stoffe für die Geschichte.
Im Corsaire-Satan sind die „Nouvelles à la main“ eine tragende Rubrik, die vorwiegend auf den Seiten zwei und drei erscheint. Sie umfassen gesammelte Anekdoten, Bonmots und Dialoge aus den Salons, vom Boule-
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(2008): „Petit lexique des microformes journalistiques“, S. 20. Ü.: „eine Anekdote, eine Skizze zeitgenössischer Sitten, mehr oder weniger authentisch“, ebd., S. 20f. Jules Duvernay: „La Gazette bleue“, In: Le Corsaire vom 11. August 1847, S. 1‒3, hier S. 3.
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vard, aus den Cafés oder Theatern. Wie wichtig diese Bereiche des kulturellen Lebens für die Bestimmung der nouvelle à la main des 19. Jahrhunderts ist, zeigt Marie-Ève Thérentys Definition: „La nouvelle à la main raconte généralement une rencontre sur le boulevard ou dans les cafés, une petite scène de sociabilité parsemée de noms propres et de personnalités, rythmée par un petit dialogue et close par un bon mot.“231 Typische Formeln, die die Texte einleiten, lauten „Dialogue recueilli au poste…“, „Conversation saisie au…“, „Voici un petit scandal“ und weisen auf Ereignisse und Skandälchen hin, die sich an bestimmten Orten zugetragen haben (sollen). Ob sich das Erzählte tatsächlich ereignet hat, ist zweitrangig, denn die nouvelle à la main spitzt in dem Fall Typisches und Charakteristisches zu. Somit bietet die Textform, die mündliche Situationen ins Schriftliche überträgt, eine Möglichkeit dazu, ironisch Distanz zu nehmen. Folgende nouvelle à la main parodiert beispielsweise ein Gespräch aus den Kreisen der monde und offenbart etwas über den medialen Umgang mit Diskretion. Formal fällt der exzessive Gebrauch von Auslassungssternchen auf, die Personennamen verschlüsseln, um die Handelnden zu verschleiern oder zumindest so zu tun als ob: Les plaisirs du monde. – Dites donc à B*** de se faire présenter ici, disait dernièrement, chez Mme X***, M. du M*** à M. le vicomte de N***. – Pourquoi voulez-vous que j’engage B*** à venir ici? répartit M. de N***, il s’y ennuierait à crever. – Nous nous y ennuyons bien, répliqua M. du M*** avec un accent de fierté sublime; il me semble que B*** peut bien faire comme nous.232
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Ü.: „Die nouvelle à la main erzählt im Normalfall von einem Treffen auf dem Boulevard oder in den Cafés, von einer kleinen geselligen Szene, die mit Eigennamen und Persönlichkeiten gespickt ist, ihren Rhythmus bestimmt von einem kleinen Dialog schließt sie mit einem Bonmot.“ Marie-Ève Thérenty (2006): „De la nouvelle à la main à l’histoire drôle: héritages des sociabilités journalistiques du XIXe siècle“. In: Tangence, Nr. 80, S. 41–58, hier S. 51. O.A.: o.T. In: Le Corsaire-Satan vom 7. Januar 1847, S. 2.
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Die Freuden der feinen Gesellschaft. – Sagen Sie doch B*** sich hier vorzustellen, sagte letztens bei Mme X***, M. von M*** zu M. Graf von N***. Warum wollen Sie, dass ich B*** dazu bringe, hierher zu kommen? fuhr M. von N*** fort, er würde sich hier zu Tode langweilen. – Wir langweilen uns hier richtig, antwortete M. von M*** mit einem Ausdruck erhabenen Stolzes; es scheint mir, dass B*** es mindestens so kann wie wir.
„Les plaisirs du monde“233 fungiert als Spitzmarke, die knapp das Thema des Textes benennt. Den Dialog der mondänen Gesellschaft strukturieren erzählerische Elemente. Er rekonstruiert eine Unterhaltung der gehobenen Gesellschaft, die von Langeweile und Inhaltsleere bestimmt ist. Mehrere Personen der monde führen ein belangloses, selbstreferenzielles Gespräch. Obwohl nichts Anstößiges oder Außergewöhnliches besprochen wird, sind die Personennamen verschlüsselt. Unabhängig davon, ob sie real oder fiktiv sind, charakterisiert diese Form das betreffende Milieu und offenbart den schmalen Grat zwischen Personalisierung und Typisierung. Durch die Auslassungssternchen entsteht visuell ein kryptischer Eindruck und beim lauten Lesen ein komischer Effekt, weil sich das *Zeichen häufig wiederholt. Auch das typographische Bild macht deutlich, dass die Verschlüsselung übertrieben ist, was witzig ist und irritiert. Der Text parodiert nicht nur den adeligen Personenkreis mit seinen leeren Gesprächen, sondern auch die Darstellungskonventionen der Medien. Ironisch ist, dass die adelige Gesellschaft Langeweile zum Distinktionsmerkmal erhebt. Zwar suggeriert die Form, dass das Gespräch direkt wiedergegeben wurde, doch fügen die Erzählstruktur und die schriftliche Konzeption der Szene eine Bedeutungsebene hinzu. Indem der unbedeutende Klatsch in schriftlicher Form festgehalten und in seiner Inhaltsleere sichtbar gemacht wird, bekommt die Neuigkeit parodistische Züge. Dem Verfasser kommt nur scheinbar die Rolle zu, Aufgefundes, Erlebtes oder Gehörtes weiterzugeben. Vielmehr ist es die Aufgabe des nouvelliste ge-
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Ü.: „Die Freuden der feinen Gesellschaft“.
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sellschaftliche Beobachtungen geistreich und (zu)treffend zuzuspitzen und Schwächen zu entlarven. Wo medial Gerüchte oder Neuigkeiten gestreut werden, kommt das durch Formeln, die auf Sensation und Erregung abheben, zum Ausdruck wie „les plus piquantes indiscrétions circulent dans le monde parisien“234. Darunter betonen auch manche Gemeinplätze, wenn es zum Beispiel unspezifisch heißt „on dit que“235 (man sagt bzw. es heißt), „on dit communément“ (man sagt gemeinhin) oder „chacun sait“ (jeder weiß), „on lit“ (man liest), „Il se dit dans le monde“ (es heißt in der monde), „tout le monde a donc pu lire“ (alle haben also lesen können), sowie „tous les journaux parlent de“ (alle Zeitungen sprechen von). Implizit drücken die Floskeln aus, dass es genügt, etwas gehört oder gelesen zu haben, um es medial (weiter) zu verbreiten. In den Wendungen kommt zum Ausdruck, dass die Neuigkeiten aus Gelesenem und Gehörtem stammen und ihre Form betont, dass das Publikum einen gemeinsamen Wissensstand und Erfahrungsschatz habe, was diskursiv und rhetorisch eine Nähe zwischen Produzenten und Publikum herstellt. Sie tragen dazu bei, sich über Konventionen und Allgemeinwissen zu verständigen. Harmlos im Sinne von politisch unbedarft sind diese Texte insofern nicht, als jede Anekdote oder nouvelle à la main das Potenzial hat, Abweichungen oder Alternativen zu gängigen Denkmustern, Sprechweisen und so weiter anzubieten. Genauso wie die Textsorte potenziell informelles Wissen über die gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure festigt, kann sie dies auch in Frage stellen. Deshalb ist sie gerade unter strengen Zensurbedingungen ein interessantes Genre für subversive Äußerungen. Während das zitierte Beispiel die adelige Gesellschaft betrachtet, reicht der handelnde Personenkreis in den nouvelles à la main im 19. Jahrhundert längst über sie hinaus. Schon im 18. Jahrhundert hat in Anekdoten 234 235
Ü.: „die pikantesten Indiskretionen kursieren in der Pariser monde“. „On dit“ existiert auch als Substantiv und bedeutet dann „Gerücht“. Es ist eine der gängigsten rhetorischen Wendungen, die Aussagen einer allgemeinen Volksmeinung zurechnen.
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eine „Erweiterung des anekdotischen Personals“236 stattgefunden, so dass neben Herrschenden und der adeligen Welt auch Minister, Mätressen, Gelehrte, Künstlerinnen und Künstler vorkommen. Ab den 1840er Jahren tritt in der Pariser petite presse die Bohème hinzu, indem sich zahlreiche nouvelles à la main mit ihren Sitten, insbesondere mit ihrer Ökonomie und den materiellen (Un-)Tugenden befassen. Der Bohème widmen sich einige nouvelles, entweder anhand realer Personen oder anhand von Typen. In einer spezifischen Form der Anekdote, den sogenannten Ana, bedenkt der Corsaire-Satan beispielsweise Honoré de Balzac. An Eigennamen angehängt, bezeichnet die Silben „-ana“237 bzw. „-iana“ „eine Sammlung von Aussprüchen, Witzworten, Urteilen, Notizen oder Anekdoten, welche den Träger jenes Namens entweder unmittelbar angehen oder auf ihn als Quelle zurückgeführt werden.“ 238 Im Corsaire-Satan befasst sich eine Reihe von „Balzaciana“ mit dem Romancier, Journalisten und Pressekritiker Balzac, unter anderem mit dessen Beziehungen zur Bohème: M. de Balzac, qui n’a certainement point besoin de cela faire croire à son talent, se permet toutes sortes d’excentricités gasconnes. S’il rencontre, par exemple, un de ses amis sur le boulevard, il lui dit: – Ah! mon cher, je suis aise de vous voir et de vous serrer la main aujourd’hui; demain je ne le pourrai plus. – Comment cela? – Que voulez-vous? Ma position va changer. L’empereur de Russie me donne la main de sa fille cadette; je quitte la littérature comme vous devez bien le comprendre, me voilà homme politique; je deviens sous-secrétaire d’État; puis ministère des affaires étrangères.
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Sonja Hilzinger (2002): „Anekdote“. In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Reclam, S. 7–25, hier S. 12. Im Französischen bezeichnen „anas“ Sammlungen von Anekdoten, die „berühmte Personen in kurzen pointierten Geschichten porträtieren“. Martin Kött (2004): Das Interview in der französischen Presse: Geschichte und Gegenwart einer journalistischen Textsorte. Tübingen: Niemeyer, S. 96. Art. „Ana“. In: Autorenkollektiv: Meyers Konversationslexikon. 4. Auflage. Bd. 1/16 (1885‒1892) (A‒Atlantiden). Leipzig, Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts. URL: http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=100724#Ana (21.04.2020).
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) Il faut me rompre avec mes relations de bohême; demain, par conséquent, je ne vous connaîtrai plus. A propos, c’est égal, si vous avez jamais besoin de mon crédit, comptez sur moi, écrivez-moi. – Et d’une.239 Herr von Balzac, der es sicherlich kaum nötig hat, dadurch an sein Talent glauben zu machen, erlaubt sich alle Sorten gascognischer Exzentrik. Wenn er zum Beispiel einen seiner Freunde auf dem Boulevard trifft, sagt er ihm: ‒ Ach, mein Lieber, gut, dass ich dich sehe und dir heute die Hand geben kann; morgen könnte ich es nicht mehr. ‒ Wie das? – Was wollen Sie? Meine Lage wird sich verändern. Der Kaiser von Russland gibt mir die Hand seiner jüngsten Tochter; ich verlasse die Literatur, wie sie sicher gut verstehen können, wo ich dann Politiker bin. Ich werde Vize-Staatssekretär, dann Außenminister. Ich muss mit meinen Bohèmebeziehungen brechen, morgen werde ich Sie folglich nicht mehr kennen. Übrigens, das ist egal, falls sie jemals Bedarf an einem Kredit haben werden, zählen Sie auf mich, schreiben Sie mir. – Das wäre die Erste. [Es folgen weitere Anekdoten, daher die Zählung, N.P.]
Wie für nouvelles à la main der Jahrhundertmitte typisch, schildert der Text eine (fiktive) Szene auf dem Boulevard. Indem ihn petits journaux wiederkehrend zum Handlungszentrum ihrer Geschichten machen, wird der Boulevard zum Sinnbild der öffentlich relevanten Sphäre in Paris. Geschildert wird eine Situation, in der Balzac gegenüber einem Freund über seine berufliche Zukunft spekuliert. Dass sich die Begebenheit wirklich zugetragen hat, ist keine Voraussetzung für das Genre, sondern allein die Tatsache, dass das Dargestellte möglich und charakteristisch ist. Balzac plant im Ausland gesellschaftlich aufzusteigen, was ihn dazu zwingt, seine Verbindungen zur Bohème aufzugeben. Einleitend wird seine Aussage als eine Form „gascognischer Exzentrik“ gewertet. Der Text verbindet die Beglaubigung literarischen Talents auf der einen und der exzentrischen Lebens- und Kommunikationsweise auf der anderen Seite. Die Zeitform des einfachen Futurs stellt eine nahende Veränderung 239
O.A.: „Balzaciana“. In: Le Corsaire vom 4. August 1847, S. 2.
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in Balzacs Leben als recht wahrscheinlich dar. Dass die Balzac-Figur im Text von ihren Aussichten erzählt, unterstreicht das spekulative und zukunftsorientierte Moment der Bohème, denn auf der Diskurs-Ebene deutet sich eine Vorstellung von der Bohème als „Inkubationsphase“240 an. Dass Balzac nach dem Aufstieg persönliche Beziehungen zur Bohème abzubrechen gedenkt, lässt die Bohème als temporäre und unpersönliche Schicksalsgemeinschaft erscheinen. Suggeriert wird so, dass man aus ihr austritt, sobald man eine gesellschaftlich anerkannte Stellung erreicht hat. Die Pointe ist, dass er diesen Austritt sogleich revidiert und dem Gegenüber in solidarischem Ton anbietet, es in der Not zu unterstützen. Allerdings wird die Beziehung dann keine gleichwertige, solidarische mehr sein, sondern eine zwischen Gönner und Bittsteller. Das Beispiel verbindet Werte- und Verhaltensfragen der Bohème mit einem bekannten Autor und charakterisiert mittels einer populären Person ein Milieu und umgekehrt. Manche nouvelles à la main wie die folgende widmen sich den Sitten der Bohème auch über fiktive oder unbekannte Figuren. Sie schildert die Begegnung zweier Bohemiens auf dem Boulevard und richtet die Aufmerksamkeit auf die Armut als Ideologie: Deux anciens amis en Bohême, qui ont partagé autrefois des principes religieux fort sévères, se rencontraient hier sur le boulevart [sic]. L’un a échangé sa liberté contre une position fort avantageuse, qui peut s’améliorer encore, tandis que l’autre poursuit sa carrière artistique et littéraire, incessamment accidentée par des misères de tout genre, mais éclairée pourtant d’une pâle lueur appelée l’espérance ou l’avenir. – Comment tu trouves-tu? dit le bohême, en s’adressant au civilisé. – Mais ça ne va pas mal; et toi-
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Bohème sei „nicht nur als Inkubationsphase oder Passage von Karrieren zu verstehen, sondern insbesondere als eine Art Test-, als Härtetest-Raum“. Stanitzek (2012): „Bohème – Boulevard – Stil“, S. 146. Intertextuell verweist der Text auf Balzacs Erzählung „Un Prince de la Bohême“, worin die Bohème als Milieu junger ambitionierter, zukunftsträchtiger Menschen verschiedener Berufe präsentiert wird. Der Text ist Heinrich Heine gewidmet und zuerst am 25. August 1840 in der Revue parisienne erschienen.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) même, comment mènes-tu les lettres et les arts? – Je suis toujours sur les dents; les temps sont durs. – Je l’ai bien trouvé une table pour mon dîner, mais je ne sais où trouver à déjeûner. – Oh! que tu es heureux, mon cher, de pouvoir te conformer ainsi aux prescriptions de l’église, qui ordonne le jeûne pendant en saint temps! Et le civilisé s’éloigna à ces mots, laissant son ami fort étonné de se trouver à son insçu [sic], aussi parfait chrétien.241 Zwei alte Bohème-Freunde, die früher ihre streng religiösen Prinzipien geteilt haben, trafen sich gestern auf dem Boulevard. Einer hat seine Freiheit gegen eine sehr vorteilhafte Stellung getauscht, die sich noch verbessern kann, während der andere seine künstlerische und literarische Karriere verfolgt, unaufhörlich zerklüftet von Nöten jeglicher Art, aber dennoch erhellt von einem blassen Leuchten, das Hoffnung oder Zukunft genannt wird. – Wie steht es bei dir? sagt der Bohême zum „Zivilisierten“ gewandt. – Also, es läuft nicht schlecht, und dir, wie führst du die Literatur und die Kunst? – Ich gehe auf dem Zahnfleisch, die Zeiten sind hart. – Ich habe wohl einen Tisch für mein Abendessen gefunden, aber ich weiß nicht, wo ich das Essen finden soll. – Oh, wie glücklich bist du, mein Lieber, dass du dich so den Vorschriften unserer Kirche gemäß verhalten kannst, die das Fasten in der heiligen Zeit vorschreibt! Und der Zivilisierte entfernte sich mit diesen Worten, seinen Freund sehr erstaunt zurücklassend, der sich unwissentlich als so perfekter Christ befand.
Auch in dieser nouvelle kommt eine Spannung zwischen Bohèmeleben und gesellschaftlich gesicherter Stellung zum Ausdruck. Ein ehemaliger und ein dauerhafter Bohemien treffen aufeinander und besprechen ihre Situation, bei der Karriere und Armut im Vordergrund stehen. Beide unterscheidet, dass der eine ein regelmäßiges und der andere kein planbares Einkommen hat. Der Erzähler beschreibt das Gespräch und präsentiert Enthaltsamkeit und Entbehrung als ethische Grundsätze der Bohème. Ironischerweise setzt er das mit der christlichen Glaubenslehre gleich.
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O.A. „Nouvelle à la main“. In: Le Corsaire vom 31. März 1847, S. 3.
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Schulden zu machen oder sich Geld zu leihen sind doch übliche Handlungen der Bohème, mit denen sie eigenlich vom bürgerlichen Ethos sowie der christlichen Tugend abweichen. Geldmangel und mögliche Auswege daraus sind neben sozialem Aufstieg Themen der Julimonarchie. Wiederkehrend beschreiben Anekdoten die Bohème, so dass sie in nouvelles à la main zum integralen Bestandteil des Pariser Gesellschaftspanoramas wird.
3.2.2 Klatsch und Reklame zwischen Aneignung und Zurückweisung Bohemiens sind nicht nur Gegenstand des Café- und Boulevardklatsches, sondern sie beteiligen sich an demselben, indem sie sensationelle Nachrichten und indiskrete Neuigkeiten produzieren. Was die Autonomiebestrebungen einer jungen Bohème anbelangt, die ihre Kunst platzieren und durch Autorschaft sichtbar werden will, stellt es mitunter eine große Konzession dar, genres mineurs zu bedienen, die moralische oder ästhetische Einwände mit sich bringen (können). Dazu gehört der Gedanke, käuflich zu sein, indem man Texte produziert, um sie zu verkaufen und sich somit als Autor zu prostituieren. Mit dem Dilemma setzen sich die jungen Autoren selbstkritisch auseinander. Le Corsaire-Satan gilt als Zeitung, die junge Autoren in einer gewissen Schreibweise schult. Murger reflektiert in einem Sammelband voller Anekdoten und Geschichten aus dem Pariser Leben das literarische Vorgehen beim Schreiben anstößiger Neuigkeiten. Er präsentiert eine kuriose Episode, die vorführt, dass und wie sich Autoren wie „C.B.“ (mutmaßlich Charles Baudelaire) zu den sittlichen Grenzen auf der einen Seite und den Unterhaltungsbedürfnissen auf der anderen Seite verhalten. Dem vermeintlichen Sittlichkeitsempfinden der Pariser Oberschicht trage C.B. Rechnung, indem er jeden seiner Texte zuerst einer jungen Frau vorlese, deren Reaktion als Indikator für die Wirkung diene: C…B… avait inventé un moyen assez ingénieux pour assurer que ses anecdotes restaient dans les limites de la prudence. Avant des
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) les apporter au journal, il lisait ses nouvelles à la main à une jeune ingénue qu’il rencontrait quelquefois chez lui. Si la jeune fille rougissait, cela signifiait que l’anecdote était scabreuse, et B… la déchirait pour en commencer une autre.242 C…B… hatte ein ziemlich ziemlich geniales Mittel erfunden, um sicherzustellen, dass seine Anekdoten die Grenzen der Vorsicht wahrten. Bevor er sie zur Zeitung brachte, las er seine nouvelles à la main einer jungen Naiven vor, die er ab und an bei sich traf. Wenn die junge Frau errötete, bedeutete das, dass die Anekdote anzüglich war und B… zerriss sie, um eine andere zu beginnen.
Die unwillkürliche Reaktion dient als Gradmesser für Sittlichkeit und zeigt, ob die Selbstzensur Früchte trägt. Amüsant ist, dass das Vorlesen nicht als Teil einer unsittlichen Zusammenkunft, sondern als professioneller Akt gelesen wird. Aufgelöst wird die Geschichte durch die Pointe, dass mehrere Kollegen beginnen, diesen Trick ebenfalls einzusetzen, so dass die Reaktionen der jungen Pariser Frauen abstumpfen und das „geniale Instrument“ seine Wirksamkeit verliert. In Erinnerungen an den Corsaire-Satan zeigt Auguste Vitu den Chefredakteur Saint-Alme als Trainer in Sachen provokanter Unterhaltungskunst. Faktisch regt er die Mitwirkenden zu Texten an, die provozieren und unterhalten. Als Programmhalter des Boulevards orientiert er sich für die nouvelles à la main und andere Genres an größtmöglichen Effekten wie Skandal, Sensation und Provokation, wobei die Grenze zum Sanktionswürdigen durchaus bewusst ausgereizt wird. Auguste Vitus satirische Skizze zeigt, wie Saint-Alme den literarischen Nachwuchs in der Kunst der Unterstellung unterrichtet: Voyez-vous, expliquait-il à ses élèves, il ne faut jamais dire à un homme dans un article: Vous êtes un canaille. Dire vous êtes un canaille ce n’est pas drôle. Mais insinuez-le par le doute. Demandez: Est-ce que par hasard monsieur *** serait une canaille? Ou:
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Murger (1971): „Propos de ville et propos de théâtre“, S. 76f.
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Qui donc avance que monsieur *** est une canaille? Ce n’est pas nous qui voudrions prétendre que monsieur *** est une canaille. Voilà, mes petits crétins, une forme qui prête et qui empêche le monsieur de se plaindre.243 Sehen Sie, erklärte er seinen Schülern, man darf nie zu einem Mann in einem Artikel sagen: „Sie sind ein Schurke.“ Zu sagen, „Sie sind ein Schurke“ ist nicht witzig. Aber deutet es durch Zweifel an. Fragt: „Ist es vielleicht so, dass Herr *** ein Schurke ist?“ Oder: „Wer behauptet also, dass Herr *** ein Schurke ist?“ „Es sind nicht wir, die behaupten wollten, dass Herr *** ein Schurke ist.“ Da habt ihr, meine kleinen Dummköpfe, eine Form, die sich eignet und die verhindert, dass der Herr sich beschwert.
Sowohl Unterstellungen als auch Aussagen, die durch Verneinungen oder Fragen in den Raum gestellt werden, gehören zum dubiosen Repertoire der Unterhaltungspresse. Derlei rhetorische Winkelzüge reizen die Grenze zur persönlichen Beleidigung aus. Abgesehen von anzüglichen Texten sorgen Angriffe auf Persönlichkeitsrechte durch Verleumdung und Diffamierung für den schlechten Ruf und die „fürchterliche Macht“244 der Presse. Champfleury skizziert in seinem petite-presse-Roman Les Aventures de Mlle Mariette das Bild eines Chefredakteurs, der seine Redakteure schützt, indem er diffamierten Personen nicht die Urheber pikanter Nachrichten mitteilt. Champfleury äußert sich an verschiedenen Stellen rückblickend kritisch zum boulevardesken Anspruch des Corsaire-Satan. Unter anderem distanziert er sich in Briefen davon, dass die Zeitschrift persönliche Angriffe fördere oder sie zumindest zulasse – woher wiederum gerade ihr Einfluss rühre: J’aurais pu entrer au Globe, si je ne m’étais pas compromis au Corsaire; mais je n’ose pas quitter à fait ce journal qui me donne à vivre et dont la puissance est terrible. Vous êtes à trente-deux lieues de soupçonner cette puissance. Un homme m’ennuie, me 243 244
Vitu: „Article du 3 mai 1846“, S. 42. Champfleury (1854): Contes d’automne. Paris: V. Lecou, S. 72.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) fait un mauvais tour, j’entends un homme littéraire, j’ai le droit de le clouer six mois tous les jours dans le Corsaire.245 Ich hätte zum Globe gehen können, wenn ich mich nicht im Corsaire kompromittiert hätte, aber ich wage nicht, diese Zeitung zu verlassen, die mir zum Leben gibt und deren Macht furchtbar ist. Sie sind meilenweit davon entfernt diese Macht zu erahnen. Ein Mann nervt mich, spielt mir einen schlechten Streich, ich meine einen Schriftsteller; ich habe das Recht ihn sechs Monate lang jeden Tag anzuprangern.
Champfleury zeichnet ein einflussreiches Schreckgespenst, in dem Mitwirkende ihre Position ausnutzen können, um persönlich zu profitieren, zum Beispiel, um Konkurrenten zu diffamieren. Ein Kollege Champfleurys, Corsaire-Mitarbeiter Jules Viard, merkt selbstkritisch an, dass die Anonymität der Verfasser außerhalb des Feuilletons die Hemmschwelle bisweilen heruntergesetzt habe: „j’ai commis dans mes cinq années de petit journalisme anonyme bien des légèretés et de cruautés que je n’aurais peut-être pas commises si j’avais dû les signer avec mon nom.“246 Wie andere Zeitungen hat der Corsaire-Satan als Stätte der jungen Bohème eine kurze Lebensdauer. Rückwirkend behauptet Champfleury in einem Brief an Jules de Premaray, dass er und die Gruppe junger Redakteure wie Baudelaire, Vitu und Murger das petit journal enttäuscht und sogar aus moralischen Erwägungen verlassen haben: Après trois ans de travaux, les douze jeunes gens se séparèrent et ne se revirent jamais que sur le boulevard. [C’étaient Weill, MarcFournier, Mürger, Baudelaire, Vitu, Jean de Falaise (Philippe de Chennevières), et quelques-uns dont j’ai oublié les noms. Ergänzung aus einer früheren Ausgabe des Texts, N.P.] Tous nous avi-
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Ebd. Ü.: „Ich habe in meinen fünf Jahren des anonymem petit journalisme wohl Oberflächlichkeiten und Grausamkeiten begangen, die ich vielleicht nicht begangen hätte, wenn ich mit meinen Namen hätte unterzeichnen müssen.“ Viard (1854): „Une page de l’histoire “, S. 3.
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ons pris en horreur, en haine, le petit journal où nous étions entrés avec tant d’ardeur. […] Nous sommes sortis du petit journal parce que nous étions honnêtes. […] Pour moi, j’écris pour rien toutes les fois que je crois dire la vérité; j’ai toujours refusé d’écrire contre mes opinions, quand même l’argent éborgnerait mes yeux.247 Nach drei Jahren Arbeit trennten sich die zwölf jungen Leute und sahen sich nie mehr außer auf dem Boulevard. [Es waren Weill, Marc Fournier, Mürger, Baudelaire, Vitu, Jean de Falaise (Philippe de Chennevières) und manch andere, deren Namen ich vergessen habe. Ergänzung aus einer früheren Ausgabe des Texts, N.P.] Alle konnten wir es nicht mehr ausstehen, hassten das petit journal, in das wir mit so viel Begeisterung eingetreten waren. […] Wir sind aus dem petit journal gegangen, weil wir ehrlich waren. […] Was mich betrifft, ich schreibe umsonst jedes Mal, wenn ich denke, die Wahrheit zu sagen. Ich habe mich immer geweigert, etwas entgegen meiner Anschauungen zu schreiben, auch wenn mir das Geld die Augen ausstechen würde.
Champfleury zieht eine moralische Grenze zwischen seiner Haltung beim Schreiben und den Erwartungen der petite presse. Obwohl er für Zeitungen arbeitet, behauptet er, nicht käuflich zu sein, da er sich nicht durch Geld zu einer Aussage oder einem Text verleiten lasse. Dass die jungen Autoren von sich selbst behaupten, nicht korrumpiert worden zu sein, ist eine typische Form der Zurückweisung jener Zwänge im Mediengeschäft wie denen, spannende Neuigkeiten zu schaffen. Mit der petite presse haben Zeitschriftenautoren als Kritiker und nouvellistes machtvolle Instrumente in der Hand, um sogar persönliche Fehden auszutragen, doch sie hadern damit, dem Sensationsgewinn der Medien Rechnung zu tragen. Nicht zuletzt sind die persönlichen Beziehungen und auch die eigene Rolle wichtige Bedenkenträger. Soll man Konkurrenten
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Es gibt mindestens drei veröffentlichte, teils abweichende Versionen des Texts. Eine ist: Champfleury (1854): „De la bohème“. In: Contes dʼautomne, S. 337–340. Ich zitiere aus: Champfleury (1859): „De la bohème“. In: ders.: Souvenirs des Funambules. Paris: Michel Lévy frères, S. 297–300, hier S. 298f.
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zugunsten der eigenen medialen Position verreißen? Was, wenn es sich um einem Freund handelt, und was, wenn das Gegenüber ähnlich handelt. Die moralische Frage beinhaltet auch den Gedanken und das Wissen darum, dass jeder selbst derjenige sein kann, den die Gewalt öffentlicher und medialer Bloßstellung treffen kann. Reklamestrategien und Werbung als Einnahmequelle für die Bohème Neben Klatsch ist Reklame ein attraktives und umstrittenes Tätigkeitsfeld der Autoren, das ebenfalls moralische und ästhetische Fragen nach sich zieht. Reklame hat in der Presse die Funktion, Aufmerksamkeit zu generieren.248 Im Französischen bezeichnet „Réclame“249 versteckte Werbung, die typographisch nicht gesondert im redaktionellen Teil erscheint. Zu ihr gehören erkaufte, lobende oder auch kritische Erwähnungen, die mit den Konzepten der camaraderie, also einer Art Vetternwirtschaft und den Erpressungsstrategien zwischen Presse und Theater, Schauspielerinnen und Journalisten (chantage) verbunden sind.250 Sie ist von den Annoncen (annonces) zu unterscheiden, den vom redaktionellen Text erkennbar abgesetzten, an kommerziellen Interessen ausgerichteten Text- und Bildeinheiten, die für käufliche Produkte werben. Werbeannoncen sind eigene Genres mit kommerziellen Absichten, aber sie können künstlerische, informierende oder auch kritische Inhalte mitfinanzieren. Dank Annoncen konnten die ersten großen französischen Tageszeitungen, La Presse und Le Siècle, die 1836 auf den Markt kamen, den Jahresabonnementpreis um die Hälfte senken. Vor allem die versteckte Werbung beschert den petits journaux Misstrauen. Im Corsaire-Satan können Kundinnen und Kunden laut Preisliste im 248
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Thomas Wegmann (2011): Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 15. (2008): „Petit lexique des microformes journalistiques“, S. 13–22. Die camaraderie betreffend gab es in den 1830er Jahren eine Debatte im literarischen Leben, s. Anthony Glinoer (2008): La querelle de la camaraderie littéraire. Les romantiques face à leurs contemporains. Genf: Droz.
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Annoncenteil beispielsweise Annonces, Réclames und Faits-Paris erwerben. Faits-Paris gehören zur sogenannten „publicité rédactionelle“251 und erscheinen, nicht als Reklame kenntlich gemacht, in den vermischten Rubriken aus dem Pariser Leben.252 Journale wie die Satirezeitschrift Le Tintamarre. Critique de la réclame, satire des puffistes253 demonstrieren, wie nah sich Werbung und Kritik an Reklame sein können, denn hier stehen Annoncen auf mehreren Seiten im Blatt, während die Redaktion gleichzeitig Kritik, insbesondere an versteckter Werbung übt.254 Im medienkritischen Diskurs der Zeit sind Einwände gegenüber Werbung verbreitet. Werbung wird nicht als Kunst angesehen, sondern als mindere Form der publizistischen Tätigkeit. Das gilt jedoch nur solange es nicht um eigene, publizistische Interessen geht. Zeitungen und literarische Zeugnisse zeigen, dass die Bohème nicht grundsätzlich gegenüber Reklame abgeneigt ist, sondern sie vielmehr für ihre Zwecke nutzt. Dort, wo eigene Organe gegründet werden, was in Murgers Umfeld vielfach passiert, ist Reklame für sie ein probates Mittel. Abonnentenmangel und Abonnentengewinnung sind beliebte Themen selbstironischer, humoristischer Anekdoten rund um die petite presse. Von einer bestimmten Reklamestrategie in Cafés erzählen verschiedene autobiographische und fiktionale Romane der Jahrhundertmitte, denn
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Ü.: „redaktionelle Werbung“. Martin (2011): „La publicité“, S. 1042. „une forme de réclame déguisée, publiée en tant qu’article dans les rubriques consacrées aux faits divers, essentiellement parisiens.“ Ü.: „eine Form versteckter Reklame als Artikel in einer Rubrik veröffentlicht, die sich den gemischten Nachrichten, insbesondere den Parisern, widmet“. Arina Makarova (2011): „Le carnet et les petites annonces“. In: Kalifa; Régnier; Thérenty; Vaillant (Hg.): La Civilisation du journal, S. 1049–1058, hier S. 1050. Zu Werbekritik und Werbeabhängigkeit s. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1421. Das Substantiv „puffistes“ kommt von „puff“ und ist ein veralteter Ausdruck für eine „Publicité mensongère ou outrancière, tromperie de charlatan.“ Art. „puff“. In: Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales. URL: http://www.cnrtl.fr/definition/puff (10.04.2020). Haejeong Hazel Hahn (2009): Scenes of Parisian Modernity. Culture and Consumption in the Nineteenth Century. New York: Palgrave Macmillan, S. 10.
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Zeitungslektüren finden häufig öffentlich statt, weil Lokale Zeitungen für ihre Kundinnen und Kunden abonnieren. Um für ihre Zeitung oder Zeitschrift zu werben, ordern verschiedene Medienmacher oder Freunde der Herausgeber eine Ausgabe in einem Café, wo es diese (noch) nicht gibt. Diese Reklamestrategie, die direkte Nachfrage für noch völlig unbekannte Titel an den öffentlichen Leseorten erzeugt, beschreibt zum Beispiel der Erfolgsroman von Louis Reybaud, Jérôme Paturot à la recherche dʼune position sociale von 1842. Immer, wenn der Ich-Erzähler und Chefredakteur der zum Scheitern verurteilten Zeitschrift L’Aspic mit der fleuriste Malvina ins Café geht, bestellt sie LʼAspic, was aufgrund des doppeldeutigen Begriffs zudem ein Missverständnis hervorruft. 255 Mit dem Habitus der vornehmen Leute, denen solch ein Ort nicht distinguiert genug ist, der die gewünschte Zeitschrift nicht führe, verlassen sie das Lokal. Henry Murger übernimmt die Idee in die Scènes de la vie de bohème und macht aus der Strategie eine penetrante, offensive Gemeinschaftsaktion der Bohème. Rodolphe, der Dichter und Chefredakteur einer Zeitschrift, versucht den Chef des Stammcafés Momus dazu zu bringen, die von ihm verantwortete Zeitschrift Le Castor zu abonnieren. Als der Chef dem Wunsch nicht entspricht, beginnt die Gruppe mit einer erpresserischen Werbeoffensive. Jede Viertelstunde rufen die Bohemiens lautstark nach der Zeitschrift, wodurch sie stören und Aufmerksamkeit erregen: […] mais comme M. Rodolphe et sa compagnie appelaient tous les quarts d’heure le garçon, et criaient à haute voix. ‚Le Castor, apportez-nous le Castor!‘ quelques autres abonnés, demandèrent aussi le Castor. Quelques autres abonnés, dont la curiosité était ex-
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Es bedeutet entweder „Viper“ – die Illustration der Titelseite zeigt eine solche (S. 52), aber es kann auch Sülze („Aspik“) bedeuten. Louis Reybaud (1846): Jérôme Paturot à la recherche d’une position sociale. Édition illustrée par J.J. Grandville. Paris: J.-J. Duhochet; Le Chevalier et Cie, S. 55. Der Text erschien zuerst in Le Constitutionnel, 1842 dann bei Paulin.
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citée par ces demandes archarnées, démandèrent aussi le Castor. On prit donc un abonnement.256 […] aber da H. Rodolphe und seine Begleitung jede Viertelstunde den Kellner riefen und mit lauter Stimme schrien ‚Le Castor, bringen Sie uns den Castor!‘, fragten manche anderen Abonnenten, deren Neugier von den verbissenen Nachfragen erregt wurde, auch nach dem Castor. Man schloß also ein Abonnement ab.
Le Castor ist ein monatlich erscheinendes, an das Hutmachergewerbe angeschlossenes petit journal. Es wirbt für die Produkte und unterhält die Kundinnen und Kunden zusätzlich durch literarische oder feuilletonistische Beiträge. Die penetrante Nachfrage führt schließlich zum Erfolg, da der Inhaber des Cafés die unbekannte Zeitschrift doch noch abonniert.257 Anekdoten wie diese sind mehr oder minder authentisch, es geht mehr um die Charakteristik, die das dargestellte Handeln zeigt, als um die reale Begebenheit. Die historische Aussagekraft kann man insofern anzweifeln, als diese Werbestrategie in verschiedenen Erzählungen über marginale Medienvertreter auftaucht, so wahrscheinlich erstmals in Reybauds Jérôme Paturot à la recherche d’une position sociale von 1842.258 Wovon das Narrativ zeugt, ist, dass die Bohème neue Möglichkeiten erprobt, um ein Publikum zu finden. In dem Fall inszeniert die Gruppe eine Alltagssituation, um zu werben. Die Manöver sind provokant und aufdringlich, weil das laute Rufen und die Penetranz gängigen Verhaltensnormen im öffentlichen Raum widersprechen. Für die Aktion ist kein Ka-
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Henry Murger (1971): „Scènes de la vie de bohème“. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. VIII. Genf: Slatkine, S. 120. Dasselbe Vorgehen an einem anderen Beispiel schildert Jules Vallès in der autobiographischen Romantrilogie Jacques Vingtras. Jules Vallès (1990): „Le Bachelier (Jacques Vingtras II)“. In: ders.: Œuvres II. 1871‒1885. Édition établie, présentée et annotée par Roger Bellet. Paris: Gallimard, S. 445‒714, hier S. 633. Adamy (2012): La bohème avec des gants, S. 154f. Er sieht eher Murger als Verbreiter dieser Anekdote an als Reybaud, S. 155.
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pital notwendig, denn man arbeitet mit dem vorhandenen Publikum und kommt so ohne weitere Mittel als dem eigenen Körpereinsatz aus. Reklame machen die jungen Autoren auch in der Arbeit für den CorsaireSatan, in dem Fall aber als bezahlte publizistische Tätigkeit. In der Zeitung dienen Annoncen als Einnahmequelle und an ihnen sind auch die jungen Autoren mit literarischen Ambitionen beteiligt. Das zeigt eine Episode aus der Schaffenszeit Murgers beim Corsaire-Satan, die in einer späteren Sammlung von nouvelles erscheint und Einblicke in die Werbepraxis gibt. Und zwar geht es um ein Manöver der jungen Redakteure, die im Jahr 1846, als das Blatt recht erfolgreich war, versuchen ein höheres Zeilenhonorar zu bekommen. Sie erpressen den Herausgeber damit, zur Revue des Deux Mondes zu wechseln, falls er das Honorar nicht auf zwei Sous erhöhe.259 Dass sie ihn mit dem Wechsel zur Revue des Deux Mondes zu erpressen versuchen, deutet eine überzogene Selbsteinschätzung, ihren Marktwert als Autoren betreffend an, denn die besser zahlende, hoch angesehene grande revue ist nicht für jeden Autor zugänglich. Obgleich der Versuch scheitert, weil sich der Geschäftsführer Claude Virmaître nicht erweichen lässt, tut sich Reklame als neue Einnahmequelle auf. Ein Kieferchirurg namens Williams Rogers, der in den CorsaireSatan-Annoncen regelmäßig für künstliche Zähne wirbt 260 , legt dem Chefredakteur ein selbst verfasstes, gereimtes Werbegedicht vor. Es trägt den Titel „Les Osanores ou la Prothèse dentaire“ und wird vom Redakteur Murger zum literarischen Reinfall erklärt: Il n’y avait pas, en effet, un vers qui ne fût bossu, boiteux, bancal ou pied-bot. Si M. Bovary avait vécu à cette époque, le poëme des Osanores aurait pu lui fournir une magnifique clientèle. Sur la proposition de Saint-Alme, Williams Rogers consentit à faire corriger 259 260
Murger (1971): „Propos de ville et propos de théâtre, S. 70. Annoce in Le Corsaire-Satan vom 10. Februar 1846, S. 4. „Dents Osanores“. Erklärung: „dents artificielles faites avec lʼivoire de lʼhippopotame“. Ü.: „Künstliche Zähne mit Elfenbeinbestandteilen“. URL: http://littre.reverso.net/dictionnairefrancais/definition/osanore/52764 (21.04.2020).
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son manuscrit, et à payer les corrections cinquante centimes le vers.261 Es gab tatsächlich keinen Vers, der nicht buckelig, hinkend, wackelig oder klumpfüßig war. Wenn M. Bovary zu dieser Zeit schon gelebt hätte, hätte das Zahnprothesengedicht eine wunderbare Kundschaft abgegeben. Dem Vorschlag Saint-Almes, sein Manuskript korrigieren zu lassen und die Verbesserungen mit 50 Cent pro Vers zu entlohnen, stimmte Williams Rogers zu.
Gleichsam informativ und komisch ist die Schilderung, die die fehlende Qualität des Gedichts plastisch vor Augen führt und dies noch mit der Anspielung auf Flauberts Romanfigur Charles Bovary krönt, der mit Einfalt konnotiert ist. Saint-Alme macht es zum Geschäftsmodell, Annoncentexte Dritter von seinen literarisch versierten Redakteuren verbessern zu lassen. In gewisser Weise liegt es nahe, dass sich Schriftsteller als Werbetexter betätigen. Die Anekdote nimmt literarische Kunstfertigkeit als Voraussetzung dafür an, dass Werbung wirken kann. Sie kommt darauf zu sprechen, wie Werbung und sonstige redaktionelle Texte wirtschaftlich verquickt sind. Der eigentümliche Deal besagt, dass die Redakteure, indem sie Werbegedichte schreiben, eine Gratifikation von 50 Centimes pro Vers verdienen können, was im Vergleich zu den üblichen Tarifen immens ist. Paradoxerweise erhalten die Autoren ihre Entlohnung somit nicht für redaktionelle Inhalte, sondern dafür, dass sie externe, werbende Inhalte verbessern. Wer gute Texte für den Corsaire-Satan liefert, verdient sich also gut bezahlte Zusatzarbeit. Murger listet in einem Zeitungsartikel auf, wie sich ein Anrecht auf Werbeverse erarbeiten ließ und gibt damit Bewertungen von Genres zu erkennen: Le tarif des encouragements était ainsi gradué: Un feuilleton intéressant donnerait droit à une prime de 40 vers; Une nouvelle à la main bien renseignée, 20 vers; Un article susceptible d’amener un changement de ministère, 25 vers; Un article susceptible d’amener 261
Murger (1971): „Propos de ville et propos de théâtre“, S. 73.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) en réparation, 30 vers; (Le journal, dans cette circonstance, s’engageait à fournir les témoins et le fiacre.) Une critique sanglante était rétribuée 15 vers; Le trait piquant, 5 vers; La simple boutade, 2 vers.262 Die Preisliste für Ermunterungsmaßnahmen war folgendermaßen gestaffelt: Ein interessantes Feuilleton gab Anrecht auf eine Prämie von 40 Versen, eine gut informierte nouvelle à la main, 20 Verse, ein Artikel, der dazu geeignet ist einen Minister abzulösen, 25 Verse, ein Artikel, der zur einer Wiedergutmachung führt, 30 Verse; (die Zeitung brachte sich unter diesen Umständen ein, indem sie Zeugen und eine Kutsche lieferte.) Eine blutige Kritik wurde mit 15 Versen entlohnt, eine Spitze mit fünf Versen, ein einfaches Bonmot mit zwei Versen.
Auch wenn der Wahrheitsgehalt der Geschichte nicht nachprüfbar ist, macht sie deutlich, dass die Kreativität der Mitarbeiter in allen Genres, vom Feuilleton über den Klatsch bis hin zur Werbung, gefragt ist. Die kleine Geschichte enthält typische Elemente des Boulevardgenres wie skurrile Zufälle und plötzliche Fügungen, die zur Bohème mit ihren charakteristischen Aufs und Abs passt. Die Rangliste offenbart, wie hoch der Wert unterschiedlicher Textsorten eingeschätzt wird. Zudem dokumentiert der Text, welches Produktionsethos im petit journal herrscht. Den Textsorten liegen unterschiedliche Ansprüche zugrunde; während die einen Unterhaltung bieten oder informieren sollen, werden wiederum andere an ihren provokanten Effekten gemessen. Provokation nutzt die Bohème, wie oben deutlich wurde, auch selbst, um sich in Szene zu setze und auf die eigenen literarischen und publizistischen Produkte aufmerksam zu machen.
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Ebd., S. 74f.
3.3 Die Bohème im Feuilleton des Corsaire-Satan
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3.3 Die Bohème im Feuilleton des Corsaire-Satan Das Feuilleton des Corsaire-Satan bringt in großem Umfang Darstellungen des literarischen und künstlerischen Lebens der Gegenwart und der Vergangenheit heraus. „Wie man seine Schulden zahlt, wenn man Genie hat“263 oder „Geschichtchen von gestern, die der Geschichte der Maler von heute dienen“264 lauten beispielsweise Feuilletontitel von Baudelaire und Champfleury, die sich mit der Bohème befassen und die Künstler der Gegenwart verorten. In den 1840er Jahren umfasst das Feuilleton der petite presse unterschiedliche Genres vom Gedicht über die Erzählserie oder Sittenstudien hin zu Reiseberichten, Maximen und historiographischen Texten. Doch es erscheinen auch serielle, fiktionale Formate. Aus Autorensicht ist die Rubrik ein attraktives Format, weil der Verfassername mit abgedruckt wird. Abgesehen von der populären, anekdotischen Geschichtsschreibung, mit der sich die Zeitschriften und ihre Produzenten als originell oder kämpferisch inszenieren, bietet das Feuilleton der Leserschaft „(relativ authentische) Szenen aus dem Leben der Boheme […], d.h. […] literarische ‚Kulturbilder‘ und ‚Sittenschilderungen‘ mit dem Sujet der Boheme“265. Autoren wie Champfleury, Henry Murger oder der Schriftsteller, Zeichner und Photograph Antoine Fauchery (1823–1861) führen die Leserinnen und Leser unmittelbar in die Welt der Bohemiens, ihrer Sitten, Streiche und Scherze ein. Kaum eine Erzählung gilt als so beispielhaft für die Darstellung des Bohèmelebens wie Henry Murgers „Scènes de la Bohême“, die in ihrer ersten Fassung zwischen 1845 und 1849 im Feuilleton des Corsaire-Satan
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Charles Baudelaire: „Comment on paie ses dettes, quand on a du génie“. In: Le Corsaire-Satan vom 24. November 1845, zit. n. Vaillant (Hg.) (2011): Baudelaire journaliste, S. 43‒47. Jules Fleury: „Historiettes d’hier, par servir à l’histoire des peintres d’aujourd’hui“. In: Le Corsaire-Satan vom 3. Februar 1845. Kreuzer (1968): Die Boheme, S. 67.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
erscheint. Sie befasst sich mit einem eingeschworenen Kreis junger Künstler und Medienmacher, die die Abenteuer des Bohèmedaseins durchleben. Vergleicht man Murgers Scènes de la vie de bohème mit dessen anderem Bohèmetext, der Erzählung über den Künstlerkreis der buveurs d’eau, so zeigt sich ein anderer Blickwinkel und zwar, was den Umgang mit dem Kunst- und Literaturmarkt angeht. Bei den buveurs d’eau handelt es sich um eine streng abgeschottete Gemeinschaft von Künstlern, die Autonomie und Autarkie verherrlichen, wodurch die Gemeinschaft und ihre Regeln bis ins Sektenhafte überzeichnet wirken. Anders verhält es sich mit den Bohemiens in den „Scènes“, deren Position zwar schwierig ist, die es aber wesentlich ausmacht, dass sie am Literatur-, Kunst- und Medienbetrieb beteiligt sind. Sowohl Les buveurs d’eau als auch die Scènes de la vie de bohème erscheinen zuerst als Feuilletons und später als Monographie. Sie stützen sich auf reale Erlebnisse und existente Kreise, sie bewegen sich in der „Übergangszone von Fiktion und Nichtfiktion, Erzählung und Reportage“266. Murgers Feuilleton aus dem Corsaire-Satan trägt Mitte bis Ende der 1840er Jahre dazu bei, die Sitten der Bohème medial zu verbreiten, bevor sukzessive Bühne, Roman, Oper und viel später der Film den Stoff aufbereiten. Spätere Adaptionen der „Scènes de la Bohême“ stammen zunächst vom Autor selbst, der die Fassungen je nach Medium rahmt oder verändert, teils kollaborativ wie in der Bühnenfassung, die er zusammen mit Théodore Barrière 1849 herausbringt. Obwohl literarische Kreise die „Scènes de la Bohême“ und Murger als Autor schon im Corsaire-Satan zur Kenntnis nehmen, erzielt der Text seinen weitreichenden Publikumserfolg erst mit der Bühnenfassung: „La publication de la Vie de Bohème […] fit sensation parmi les gens du métier; mais le grand succès populaire ne se développa que lorsque l’œuvre fut portée à la scène“267. Der
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Ebd., S. 82. Ü.: „Die Publikation von La Vie de Bohème […] erregte Aufsehen bei den Leuten des Metiers, aber der große populäre Erfolg entwickelte sich erst, als das Werk auf die
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Pariser Dramatiker Théodore Barrière (1823–1877) hat vor der Gemeinschaftsarbeit mit Murger bereits mehrere Vaudevilles in großen Theatern aufgeführt. Am 22. November 1849 wird La Vie de Bohême im Théâtre des Variétés, einem der bekannten Pariser Boulevardtheater, uraufgeführt. Ab dem Jahr gehört die Bohème zum Theaterrepertoire der Hauptstadt; mehrere Theater nehmen das Stück im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder auf. 1852 erscheint bei Michel Lévy ein Buch unter demselben Titel wie die Feuilletonserie Scènes de la Bohême, das die gesammelten, überarbeiteten Feuilletonfolgen enthält. Wirtschaftlich bedeutet das Buch für den Autor, der 500 Franc dafür bekommt, einen großen Unterschied. Dasselbe gilt für die Reichweite, denn sie kann laut dem Journalisten Pelloquet auf 70.000 Exemplare beziffert werden, während der Corsaire-Satan mit einer Auflagenhöhe um die 1000 Stück die einzelnen Folgen mit nur 15 Franc honorierte.268 Abgesehen von der Rezeptionsgeschichte und der Aufwertung Murgers wäre an anderer Stelle ein textkritischer Vergleich alternativer Fassungen der „Scènes“ interessant für Interpretation der Bohème als Literaten- und Künstlermilieu. Insbesondere manifestieren sich diesbezüglich zwischen der Theateradaption und der Romanausgabe große Unterschiede. Während im Vaudeville der Ungehorsam des Protagonisten gegenüber dem Onkel und damit die Abweichung der Jugend sowie darin inbegriffen die verpönte Liebesbeziehung zu einer Grisette im Vordergrund steht, ist der Roman vor allem durch den Anspruch, den das Vorwort zusätzlich auf den Punkt bringt, ein Text, der die Bohème als aufstrebendes Literatenund Künstlermilieu in der Pariser Gesellschaft beschreibt. In dem Sinne deuten auch die ersten Episoden der „Scènes de la Bohême“, die nachfolgend erneut aufgegriffen werden, die Bohème.
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Bühne gebracht wurde.“ Théodore Pelloquet (1861): Henri Murger. Paris: A. Bourdilliat, S. 12f. Ebd., S. 13.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
Die Bohèmeliteratur entwickelt sich schließlich erst in den 1840er Jahren, als unter anderem Malschülergeschichten als Genres der frühen Bohèmeliteratur in den Zeitschriften präsent sind.
3.3.1 Malschülergeschichten: Von der Künstler- zur Bohèmeliteratur Der Malschüler (le rapin) ist wie der Schriftsteller-Journalist, der Debütant269 oder die Grisette eine prototypische Figur des Mikrokosmos der Bohème der 1840er Jahre. Autoren wie Champfleury, Murger oder auch Fauchery widmen sich dieserFigur in Erzählungen, die der Corsaire-Satan publiziert. Zeitschriften sind für Publikum und Beteiligte kein vorbehaltloser Identifikationsraum, aber sie machen Angebote. Eines gilt in der Presse der 1840er Jahre dem Individuum, das gern auch als kuriose Persönlichkeit erscheint. Diverse Presseorgane zeugen davon, dass und wie die marginalen Künstler auch mittels der Geschichte ihre Verwandtschaft erfinden – „se trouver une parentèle“270. In beliebten Porträts, die unbekannte oder vergessene Intellektuelle271 vergangener Jahrhunderte als „literarische Bohème von früher“ vorstellen, wird die schwierige finanzielle und soziale Lage der Zeitgenossen auf frühere Zeiten übertragen. Die Porträts werden insbesondere im Second Empire noch an Beliebtheit gewinnen und entwickeln sich zu einem wichtigen Genre der medialen Inszenierung von Künstlerpersönlichkeiten und deren Selbstvergewisserung.272 269
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Albéric Second (1840): „Le Débutant littéraire“. In: Les Français peints par euxmême. Bd. 1/9. Paris: L. Curmer. URL: http://www.e-rara.ch/zut/content/titleinfo/9286144 (21.04.2020). Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 625. Charles Toubin: „La Bohême littéraire d’autrefois. – Théophile Viau. –“. In: Corsaire-Satan vom 26. Februar 1846, S. 1–3; ders.: „La Bohême littéraire d’autrefois. Cirnœo“. In: Le Corsaire vom 27. März 1847, S. 1‒3. Dazu auch im Kontext von Bohème: Miranda Gill (2006): „Scetching Social Marginality in Second Empire Paris: Jules Vallès and his Contemporaries“. In: The Modern Language Review, Bd. 101, Nr. 2, S. 375–387.
3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan
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Neben dem Künstler als Individuum und Außenseiter widmen sich zahlreiche Feuilletons der Bohème als kreatives Umfeld oder Gemeinschaft. Ein anderes Identifikationsangebot umfasst demnach Fragen, die Debütanten und Einsteiger ins literarische Leben umtreiben, da sie sich unter den Bedingungen der aufstrebenden Massenmedien im literarischen Leben zurechtfinden müssen. Welche Regeln und Konventionen damit verbunden sind, beschreiben für die Maler und das Kunstfeld die Malschülergeschichten. Über diese Figur reflektieren im Corsaire-Satan verschiedene fiktionale, biographische oder anekdotische Texte den Einstieg in den Kunst- und Medienbetrieb und die Position der Neulinge. Malschüler sind junge Männer, die sich gegen die akademische Strenge der Kunstakademie auflehnen und somit zu den „contre-cultures issues des ateliers des Beaux-Arts“273 gehören. Im übertragenen Sinne steht rapin abwertend für bohemische Maler, deren Fähigkeiten zweifelhaft sind oder denen eine akademische Ausbildung fehlt. Ihnen als Gemeinschaft werden bestimmte Ausdrucksformen wie Karikaturen, Scherze, Streiche oder Wortspiele zugeschrieben.274 Das Genre betrachtet die angehenden Künstler in einem bestimmten sozialen Umfeld, das sich durch Spannungen wie Regeln und Brüche sowie Individuum und Gemeinschaft auszeichnet. Jean-Didier Wagneur und Françoise Cestor zufolge ist die rapin-Literatur eines der literarischen Genres, das zuerst von einem Kollektiv als einer Persönlichkeit erzählt; es ist eine „littérature ‚de groupe‘“275. Das Genre beleuchtet, was im Grunde für den Nachwuchs im Kunst- und Medienbetrieb generell zutrifft, nämlich, wie man einsteigen kann und welchen Hierarchien und Hürden man ausgesetzt ist.
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Ü.: „Gegenkulturen, die aus den Ateliers der Beaux-Arts stammen“. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 48. Vgl. Robert Darnton (1985): Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich. München: Hanser, S. 144‒147. Darnton beschreibt die Kultur der Druckerlehrlinge ähnlich mit Späßen, Zeremonien, Riten, Witzen sowie einem eigenen Idiom. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 12.
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Champfleury hat im Corsaire-Satan verschiedene rapin-Texte publiziert. Zum einen veröffentlicht er das biographische Außenseiterporträt eines „alten“ Malschülers.276 Außerdem verfasst er die fiktionale MalschülerErzählung „Chien-Caillou“ 277 , die zuerst am 5. Oktober 1845 im Corsaire-Satan erscheint. 278 Chien-Caillou, die Hauptfigur mit dem kruden Spitznamen, ist ein Handwerkersohn, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen vor dem gewalttätigen Vater flieht und alsbald in einem Kreis von rapins aufgenommen wird. Für den Protagonisten ist dieser die erste Anlaufstelle und Zwischenstation im ‚durativen‘ Bohèmedasein: „ChienCaillou était de cette race de bohêmes malheureux qui restent toute leur vie bohêmes.“279 Wie drastisch der Schritt in diese neue Welt für die teils naiven Neulinge sein kann, schildert eine nouvelle à la main, die an das frühere Malschülerdasein eines nunmehr bekannten Malers erinnert: En ce temps-là, Charlet n’était pas le célèbre caricaturiste que vous avez tous connu, l’illustre peintre dont les pochades et tableaux sont tant recherchés par les vrais amateurs d’art. Charlet n’était encore qu’un simple rapin, mais rapin féroce, cruel, implacable; rapin par le costume et par les innombrables charges qu’il faisait subir à tous ceux qui étudiaient dans le même atelier que lui.280 Zu dieser Zeit war Charlet nicht der berühmte Karikaturist, den ihr alle kennengelernt habt, der berühmte Maler, dessen Skizzen und Bilder so gesucht von wahren Kunstliebhabern sind. Charlet war nur ein einfacher Malschüler, aber ein unbarmherziger, grausamer, unerbittlicher Malschüler, Malschüler angesichts der Kleidung und
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Champfleury: „Les grands hommes du ruisseau. III. Cannonier. Le vieux rapin.“ In: Le Corsaire-Satan vom 19. Januar 1846, S. 1‒3. Der Name ist mehrdeutig: „Chien“ heißt „Hund“ und „Caillou“ in Deutsch „Kiesel“. „Chien“ als Adjektiv bedeutet „geizig“ und „Caillou“ kann auch „Klunker“ heißen, was die naheliegendere Interpretation scheint, weil die Kombination ein Paradoxon ergibt. Champfleury (1847): Chien-Caillou. Fantaisies d’hiver. Paris: Martinon. Ü.: „Chien-Caillou war von der Spezies unglücklicher bohêmes, die ihr Leben lang bohêmes bleiben.“ Ebd., S. 20. O.A: „Une Rapinade [sic]“. In: Le Corsaire vom 3. April 1847, S. 2.
3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan
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gemäß der unzähligen Angriffe, die er all jene erleiden ließ, die in demselben Atelier wie er lernten.
Der bekannte Karikaturist von heute war früher unerbittlich gegenüber seinesgleichen. Ateliers sind Ausbildungsorte, die von Konkurrenz und Zusammenhalt, von gemeinschaftlichem Amüsement und individuellem Streben der Beteiligten geprägt sind. Sittenschilderungen der Malschülerszene arbeiten aber auch teils subversive, komische Facetten heraus. Antoine Fauchery gibt im Feuilleton „La dernière Bienvenue de l’Atelier C…“ 281 Einblicke in Aufnahmerituale von Ateliers und zeigt die Mischung aus Regulation und Chaos. Der Text beginnt wie eine Reportage mit lebendigen Eindrücken von dem Ort und erzählt dann mit hohem Dialoganteil und distanzierter Haltung von Initiationsriten, denen die Neuen unterliegen. Jedem Neuankömmling wird die umfangreiche „Charte et Réglement de l’Atelier C… Article 3.457, folio B.“282 vorgelegt. Dass es sich bei dieser Charta um ein übertrieben bürokratisches Dokument handelt, macht allein der Titel klar. Faucherys Text ist typisch für die literarischen Mischformen im Feuilleton; das Geschehen ist fiktionalisiert, doch deuten Auslassungszeichen auf ein bestimmtes, reales Atelier, nämlich auf das von Léon Cogniet, hin. Im Prinzip gibt der Text Einsichten in bestehende soziale Umgangsformen der Ateliers, die wie diejenigen der Mansarden und Druckereien für Außenstehende normalerweise unzugänglich sind. Mit Texten wie diesem erhält das nicht-eingeweihte Publikum Einblicke in eine von Beteiligten literarisierte Welt. Die rapin-Texte schreiben über den Grenzübertritt und die Werte und Normen, die im Übergang zwischen den Konventionen des Elternhauses und dem neuem Umfeld herrschen. Das ist bis in die 1860er Jahre gängi281
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Antoine Fauchery: „La dernière Bienvenue de l’Atelier C…“. In: Le Corsaire-Satan vom 26. Juli 1847, S. 1–4. Fauchery als umtriebiger Journalist beschrieben von Théodore de Banville (1857): „A P.-Malassis“. In: Antoine Fauchery: Lettres dʼun mineur en Australie. Précédées dʼune lettre de Théodore de Banville. Paris: Poulet-Malassis et de Broise, S. III–XXIII, hier S. XVIII. Ü.: „Charta und Reglement des Atelier C…, Artikel 3457, Blatt B.“
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ge Praxis, vor allem auch in den Entwicklungsgeschichten der Romane. Oft sind ihre Protagonisten intellektuell und künstlerisch ambitionierte, freiheitsliebende junge Männer, die sich von ihren Elternhäusern entfernen. Mit dem Schritt entsteht eine Lücke zwischen vorgesehenem und angestrebtem Leben, möglicherweise auch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In diesem Raum zwischen den vorgegebenen Strukturen und einem selbst gewählten Wirkungsbereich ist die Bohème verortet. Sie ist nicht regellos, sondern bietet alternative Werte und Regeln. Für Neuankömmlinge aus der Provinz dienen Bekannte und Freunde aus ihrer Heimat als hilfreiche Kontakte, was für fast alle Bohèmeromane der Zeit gilt, in denen ein junger Mann aus der Provinz in die Hauptstadt zieht. Im Feuilleton des Corsaire-Satan weiß der Journalist Alexandre Weill dazu folgendes: Quand un jeune homme arriva à Paris, il faut qu’il apporte sur son dos tout un bagage scientifique et littéraire. A Paris on n’apprend rien. […] Si l’étudiant parisien apprend quelque chose c’est de ses camarades et de ses amis, que par hasard ceux-ci soient des hommes de talent arrivés à Paris avec l’air et les veilles de la province, tant mieux pour lui, car il n’a pas besoin de livres, sinon ce sera tout au plus un avocat soit sans cause, soit à toute cause ou un littérateur sans talent ni conscience.283 Wenn ein junger Mann in Paris ankommt, ist es notwendig, dass er ein gewisses wissenschaftliches und literarisches Gepäck auf den Schultern trägt. In Paris lernt man nichts. […] Wenn der Pariser Student etwas lernt, dann von seinen Kameraden und seinen Freunden, wenn diese in Paris angekommenen, zufällig talentierten Männer mit dem Aussehen und der Wachheit der Provinz wären, umso besser für ihn, denn dann bräuchte er keine Bücher. Sonst wäre er allerhöchstens ein Anwalt entweder ohne Fall oder für alle Fälle oder ein Schriftsteller ohne Talent und ohne Gewissen.
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Alexandre Weill: „Paris et les Parisiens“. In: Le Corsaire vom 20. August 1847, S. 1– 3, hier S. 2.
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Abgesehen davon, dass Alexandre Weill im Feuilleton des Corsaire-Satan den Topos des depravierenden Großstadtlebens bedient, hebt er hervor, wie entscheidend Freunde und Kameraden für die jungen Männer in Paris sind. Nachdem sie aus ihrem familiären Umfeld herausgetreten sind, bietet die Bohème Neulingen und Außenseitern eine Infrastruktur. Bei den Malschülern findet ein Grenzübertritt in ein neues soziales Umfeld statt, das eben kein reiner Übergang von einer patriarchalen in eine freie Welt, sondern in eine neue Hierarchie mit klarer Rangordnung ist. Was die literarischen Debütanten angeht, ist der Übertritt, besonders wenn er den Einstieg in die Welt der Presse bedeutet, oft negativ konnotiert. Noch ein weiterer Aspekt ist an den Malschülergeschichten interessant. Zusätzlich dazu, dass sie herausstellen, wie das Umfeld die jungen Männer sozialisiert, versinnbildlichen sie den Übergang von der Künstler- zur Bohèmeliteratur. Das zeigt die Textgenese der ersten Folge des Feuilletons von Murgers „Scènes de la Bohême“, die am 9. März 1845 im Corsaire-Satan signiert mit „Henry Mu..ez“284 unter dem Titel „Un envoyé de la Providence. Mœurs dʼatelier“ erscheint. Sie setzt unmittelbar an einem Tag im Leben der Nachwuchsmaler Raymond und Alfred – vom Erzähler als rapins eingeführt – ein und führt Leserinnen und Leser in deren Mansarde hinein. Die Figuren werden als rapins charakterisiert, die sich malerisch gegen die akademischen Sitten auflehnen: „Dans une des mansardes-ateliers de la rue d’Enfer habitent deux jeunes rapins de cette race chevelue si forte en gueule à l’endroit des membres de l’Institut.“285 Dass sie in der Kunst von der autoritären Norm abweichen, zeigt der Neologis-
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Erst ab der zweiten Folge, die ein Jahr später unter dem vollständigen Autornamen erscheint, heißt die Serie „Scènes de la Bohême“. Die Rue d’Enfer war ein Treffpunkt der Wassertrinker. Champfleury (1872): Souvenirs et portraits de jeunesse. Paris: E. Dentu, S. 167. Ü.: „In einem der MansardenAteliers der Rue d’Enfer wohnen zwei junge Malschüler jener Spezies, die ein besonders flottes Mundwerk gegenüber den Mitgliedern des Instituts haben.“ Henry Mu..ez [sic]: „Un Envoyé de la Providence. Mœurs d’ateliers.“ In: Le Corsaire-Satan vom 9. März 1845, S. 1‒3, hier S. 1.
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mus „ingrophobe“286, der auf den Maler Ingres anspielt und die rapins charakterisiert. Außerdem wird das Leben der rapins mit einem Bettlerleben gleichsetzt: „Dire que nos rapins sont gueux, c’est faire un pléonasme.“ 287 Die beiden Protagonisten diskutieren Werte und Verhaltensnormen des Künstlerlebens, zum Beispiel wie man sich verhalten darf, um als Maler zu existieren. Alfreds Autonomiebestrebungen werden anhand eines witzigen Details seiner Arbeitsweise gezeigt: „Alfred, qui du reste est très-modeste et ne veut pas encore compromettre son nom au bas de ses œuvres, a adopté un singulier pseudonyme. – Il met des grues dans tous les tableaux. – Ses amis prétendent que c’est un symbole.“288 Die selbstironische Signatur, die der Autor unter seine Bilder setzt, zeigt, dass der Maler einerseits seinen Namen nicht kompromittieren, andererseits mittels eines Symbols seine Urheberschaft kenntlich machen möchte. Er konnotiert sich als Urheber mit einer Prostituierten und nutzt damit eine typische Metapher für die Tatsache, dass Autoren Kunst oder Literatur verkaufen müssen, um zu überleben. Die Episode legt offen, wie ironisch und komisch die Bohème ihre Sitten mediatisiert. Im Kern thematisiert der Text ein Geschäft in der Künstlermansarde, das die Strategien der Bohemiens auf verschiedenen Ebenen zeigt und eine interessante Dynamik zwischen Käufer (Bourgeois) und Maler beziehungsweise Verkäufer (Bohemien) offenbart. Hintergrund ist dieser: Der Unternehmer Blancheron kommt zufällig als Kunde zu Raymond, der in der späteren Buchfassung Rodolphe heißt, weil er ein Porträt von sich zeichnen lassen möchte. Die Bohemiens finden kreative, spontane Lösungen für ihre Notlagen und steigern den Preis, indem sie
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Ebd. Ebd. Ü.: „Zu erwähnen, dass unsere Malschüler Bettler (oder auch Vagabunden, N.P.) sind, ist ein Pleonasmus.“ Ebd. Ü.: „Alfred, der im Übrigen sehr bescheiden ist und seinen Namen noch nicht kompromittieren möchte, indem er ihn unter die Werke setzt, hat ein einzigartiges Pseudonym angenommen. – Er setzt Kraniche [bedeutet ebenfalls: Nutte, N.P.] in seine Bilder. Seine Freunde geben an, dass es ein Symbol sei.“
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den Kunden mit Überzeugungskraft bedienen und sich seinem Habitus und mutmaßlichen Denken anpassen. Von sich als Künstler überzeugt Raymond den Bourgeois dadurch, dass er sich mit der Aura des berühmten Malers Vernet ausstattet, indem er sich zu dessen Schülern zählt. Dabei spielt die Lüge keine moralische Rolle, da der naive Kunde die Anmutung dieser Idee kauft. Der Maler versucht, das finanziell Mögliche aus dem Kunden herauszuholen und zieht dafür eine Analogie heran, die den naiven Zuckerfabrikanten überzeugt, dass die Preise der Farbe wie die Farbe des Zuckers steige. Dass überhaupt ein Kunde in der Mansarde auftaucht, ist der positive Wendepunkt der Episode, der die Handlung in Gang setzt und die Freunde kurzzeitig von der Mittellosigkeit befreit. Während sich der eine Freund für eine Veranstaltung den Anzug des Gastes ausleiht, verfällt der Maler mit seinem Kunden in eine Konsumorgie, an deren Ende zwar kein fertiges Porträt, aber eine Verbrüderung steht. Die Pointe bringt erneut Widersprüche zusammen und führt die Maler in die realen Verhältnisse zurück. Während der eine Freund nach gemeinsamem Trinkgelage und Völlerei mit dem Bourgeois erschöpft eingeschlafen ist, erscheint der andere Freund mit einer spärlichen, mühsam errungenen Mahlzeit in der Mansarde. Dieser Gegensatz beschwört so die üblichen Verhältnisse der Malerfreunde herauf und zeigt die Abgeschlossenheit des zuvor Geschehenen. Die erste Episode des Feuilletons entspricht im Wesentlichen dem zweiten Kapitel, das in der Buchfassung von 1851 Murgers Scènes de la vie de bohème überarbeitet und ergänzt enthalten ist. Wie im Erstdruck bleiben die tragikomischen, burlesken Aspekte, darunter spontane Gesangseinlagen der Figuren, erhalten. Elemente wie der plötzlich auftauchende Kunde oder Ausrufe wie „fatalité“ und „providence“ erinnern an die Boulevardkomödien, genauer gesagt an die Vaudevilles. Im Kern bleiben Handlung und Pointe gleich; verändert wird die Position innerhalb des Gesamttexts, denn es handelt sich nun um das zweite Kapitel „Un envoyé
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de la Providence“289 und nicht um den Auftakt. Auffallend ist, dass die beiden Protagonisten in der Buchfassung der „Scènes“ keine rapins mehr sind, sondern Teil der Bohème, die wiederum als „stage de la vie artistique“ 290 deklariert wird. Aus Raymond wird Schaunard (Maler und Musiker) und aus Alfred wird der Maler Marcel, wobei der Name des Kunden gleich bleibt. Folglich verändert sich die Repräsentation der Figuren gemäß der „Préface“, die sich dafür ausspricht, die Protagonisten der „Scènes“ als Bohème zu lesen. Anders als in den Scènes des Feuilletons kommt im Buch eine abgrenzende und aufwertende Bestimmung der Bohème hinzu, die die Bohème von den Boulevardinterpretationen des Bohemiens abgrenzt: „Les bohèmes dont il est question dans ce livre n’ont aucun rapport avec les bohèmes dont les dramaturges du boulevard ont fait les synonymes de filous et d’assassins.“291 Murger legitimiert die Künstlerbohème, indem er sie von jenen dubiosen Figuren abgrenzt, die das Boulevardtheater als „bohémiens“ fasse.292 Eine Metareflexion zum Begriff, die Murger im Vorwort unternimmt, rückt erst nachträglich an den Anfang des Textes, während das Feuilleton direkt einsteigt und die Lebenswelt der rapins und Künstler in einem medialen Umfeld zeigt, das sie längst einordnen kann.
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Ü.: „Ein Gesandter der glücklichen Fügung“. Ü.: „Etappe des Künstlerlebens“. Murger (1971): „Scènes de la vie de bohème“, S. 6. Ü.: „Die bohèmes, von denen in diesem Buch die Rede sein wird, haben überhaupt keine Beziehung zu den bohèmes, aus denen die Boulevarddramaturgen ein Synonym für Gauner und Mörder gemacht haben.“ Murger (1971): „Scènes de la vie de bohème“, S. 1. Eine solche Interpretation der „bohémiens“ als zweifelhafte Typen, die sich in der Großstadt durchschlagen, enthält das populäre Theaterstück Les bohémiens de Paris von Adolphe dʼEnnery und Eugène Grangé, das am 27. September 1843 im Théâtre de lʼAmbigu uraufgeführt wurde.
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3.3.2 Positionen zur öffentlichen Selbstdarstellung bei Champfleury und Murger „Est-il nécessaire que le public entre dans ces détails de jeunesse littéraire?“293
Im Corsaire-Satan ist die Bohème ein verbreiteter Gegenstand der petite presse, der sowohl in Neuigkeiten und Anekdoten als auch in Feuilletons vorkommt. In diversen Texten eröffnet sich eine interne Auseinandersetzung um Formen, Darstellungsweisen und inhaltliche Grenzen der Bohèmeliteratur. Le Corsaire-Satan und andere petits journaux machen aus der Bohème laut Marie-Ève Thérenty den ersten „medialen Mythos“. Die Rede vom „mythe médiatique“294 soll ihrer Ansicht nach nicht das reale Elend der Künstler und Schriftsteller in Zweifel ziehen. Vielmehr soll laut Thérenty damit auf den zunächst konjunkturellen und beschränkten Charakter einer Repräsentation hingewiesen werden, die dann strukturierend und kollektiv wird. Bohème wird zu einer Art Ritual künstlerischer Anerkennung durch die Medien.295 Dass sich der Bohèmemythos etabliert, führt Thérenty auf die Praktiken und die Funktionsweise der medialen Sphäre zurück. Durch die „stéréophonie“296, das heißt, dass die Geschichten aufgegriffen und weitergesponnen werden, wird das Thema bekannter. Im Nachwort zu Hans Jægers Roman Kristiania-Boheme steht als erstes von zehn Geboten des Bohèmelebens: „Du sollst dein Leben schreiben“297. Wenn es allgemein zur bohemischen Existenz gehört, sich schreibend
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„A Henri Murger. – Est-il nécessaire que le public entre dans ces détails de jeunesse littéraire? D’autant plus, ce chapitre manque d’esprit et de gaieté“. Ü.: „An Henri Murger. – Ist es notwendig, dass das Publikum in diese Details der literarischen Jugend Einblick bekommt? Zumal es dem Kapitel an Geist und Fröhlichkeit mangelt.“ Champfleury (1859): Souvenirs des Funambules, S. 319. Thérenty (2009): „Les débuts de lʼère médiatique“, S. 27. Ebd. Ebd. Hans Jæger (2006): Kristiania-Boheme. Roman aus dem Norwegischen, übers., hg. und mit einem Nachwort vers. von Erik Gloßmann. München: belleville.
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oder künstlerisch bildend zu beglaubigen und von seinem Leben zu erzählen, zieht das die Frage nach sich, welchen Regeln diese Selbstdarstellungen unterliegen sollen. Literarisierte und mediale Selbstdarstellungen des prekären Künstlerlebens bringen es mit sich, dass Beteiligte diese auf ihre Glaubwürdigkeit hin lesen oder sie an eigenen Erfahrungen messen. Nachträglich, vor allen Dingen in Memoiren und Bilanzen, zeichnet sich das ab. Doch schon die frühe Bohèmeliteratur reflektiert die Möglichkeiten, Zeugnis von den Gegebenheiten abzulegen beziehungsweise einen Mythos vom Künstlerleben zu kreieren. Insbesondere Champfleury hat den mythischen Charakter der Bohèmeliteratur immer wieder direkt reflektiert. Das Mottozitat am Anfang dieses Kapitels ist eine Kapitelüberschrift aus seinem Erinnerungsbuch zum Funambules-Theater, eine seiner Wirkungsstätten, die Anfang der 1860er Jahre zum Erinnerungsort des „alten“ Paris wird, nachdem der Bau bei der Haussmannisierung weichen musste. Champfleurys Memoiren vom Ende der 1850er Jahre beinhalten Gedanken zur medialen Darstellung des Lebens der jungen Bohème. Die Überschrift des Autors lautet „Für Henry Murger“ und der von Champfleury als Autorinstanz eingesetzte Lektor schließt daran die Frage an, ob es notwendig sei, dem Publikum Details der literarischen Jugend zugänglich zu machen. Gekoppelt wird die rhetorische Frage mit einem Angriff auf die Darstellungsweise des Textes, der zu allem Überfluss nicht sehr geistreich und wenig heiter verfasst sei.298 Heiterkeit oder ein ‚pittoresker‘ Charakter ist eine Wirkung, die Murgers „Scènes de la Bohême“ regelmäßig vorgeworfen wurde. Während das Beispiel aus Champfleurys Erinnerungen Ende der 1850er Jahre publiziert wird und auf eine inhaltliche, der Diskretion geschuldete Grenze eingeht, enthalten frühere Texte aus der Zeit beim Corsaire-Satan Gedanken zur Form von Bohèmedarstellungen. Sichtbar macht das vor allem ein Text, der am 5. Oktober 1845 im Corsaire-Satan erscheint und hier aus der veränderten 298
Champfleury (1859): Souvenirs des Funambules, S. 319.
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Fassung zitiert wird, die zum Kapitel der Erzählung „ChienCaillou“ (1847 als Buch bei Martinon gedruckt) mit dem Titel „Les Mansardes des Poëtes. Les Mansardes réelles“299 wird. In „Mansarden der Dichter. Die realen Mansarden“ geht es um den Mythos der verklärten Paarbeziehung in der Bohème und zwar die kitschige Idee des Bohemiens und der Grisette, die in einer Mansarde zusammenfinden. Wie der Titel des Kapitels stellt der Text im typographischen Satz zwei Seiten in zwei Spalten gegenüber.300 Das literarische Darstellungsprinzip unterstreicht die Aussage, nämlich dass ein Kontrast zwischen der Liebe des Künstlers und seiner Mätresse in Realität und Kunst bestehe. Liebesglück und Zweisamkeit werden als Fiktion der Bohèmeliteratur entlarvt und auch der pittoreske Aspekt des Raumes wird als poetische Konstruktion gezeigt. In der linken Spalte sind dort Ausschmückungen enthalten, wo das Textbild auf der rechten Seite Leerstellen aufweist. Auslassungen im Text markieren Diskrepanzen zwischen der poetischen und der realistischen Version. Auf der einen Seite steht die Interpretation der Dichter, „Les Mansardes de Poëtes“, auf der anderen Seite stehen die wirklichen Mansarden, „Mansardes réelles“. Kritisiert werden die rhetorischen Mittel, wie die Dichter die Accessoires dekorieren, die auf ein musisch inspiriertes und kleinbürgerlich eingerichtetes Leben schließen lassen. Bei den männlichen Figuren hängt eine Geige an der Wand, während den Raum der Frauen ein blühender Rosenstock schmückt. In der realistischen Fassung ist der Raum kärger und zudem solitär. Dort, wo in der ersten Spalte die Liebesbeziehung geschildert wird, weist die parallele Spalte eine Leerstelle auf.301 Einsamkeit wird der Zweisamkeit gegenübergestellt: „Il est
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Der Text erscheint laut Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 147 bereits in einer leicht anderen Fassung im Corsaire-Satan vom 5. Oktober 1845. Für die Version im Corsaire-Satan kann das nicht überprüft werden. Die Analyse stützt sich zwar auf die Buchfassung, doch ist davon auszugehen, dass das Darstellungsprinzip mit dem der Zeitschrift übereinstimmt. Champfleury (1847): Chien-Caillou, S. 23f.
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bien convenu qu’une mansarde n’est jamais solitaire, et qu’elle a un pendant. Dans la mansarde d’en face se trouve une voisine, un voisin suivant le sexe du héros du roman“302. Die konzeptuelle Prosa stellt das zweisame bohemische Leben als Klischee dar und entlarvt dessen mythologischen Charakter. Am Ende wird die Aussage eines bekannten Verses von Bérangers Lied „Le grenier“ ins Negative verkehrt: „Dans un grenier qu’on est mal à vingt ans“303. Champfleury macht auf die problematischen Aspekte des jungen Autorendaseins aufmerksam. Trotz des realistischen Anspruchs führt seine Dekonstruktion vor, dass die realistische Fassung des Mansardenlebens genauso eine literarische ist. Champfleurys Text, der aus einer Zeit stammt, als die Bohème erst populär wird, unterstreicht, wie umkämpft die literarischen Selbstdarstellungen von Beginn an sind. Sie verdeutlichen die internen Spannungen die Frage betreffend, was als verbindlich und real gelten kann. Auch wenn die geduldeten Medieninhalte sowie deren Formen und Stile umstritten sind, festigen die verschiedenen Texte und Diskurse den Begriff Bohème als einen des künstlerisch-intellektuellen Lebens. Ein Beispieltext aus dem Corsaire-Satan demonstriert, wie sich Repräsentationskritik an die „Scènes“ anschließt. In dem Fall richtet sich die Kritik zum einen auf den pittoresken, idealisierenden Charakter, die Klischees oder kitschigen Motive. Zum anderen wird die Bohème in ihrer sozialen und moralischen Verfasstheit unter die Lupe genommen. Folgende anonyme nouvelle à la main schließt kommentierend und parodierend an die „Scènes“ an und zeugt so von einem intertextuellen Dialog mit dem Text:
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Ü.: „Es ist doch Konvention, dass eine Mansarde nie einzeln ist, dass sie ein Pendant hat. In der Mansarde gegenüber findet sich eine Nachbarin, ein Nachbar, je nach Geschlecht des Romanheldens.“ Ebd., S. 24. Ü.: „Auf einem Dachboden, wie ist man elend mit zwanzig Jahren.“ Vgl. Michela Lo Feudo (2013): „Réalisme et ‚autre de l’art‘ dans les Contes de Champfleury“. In: Recherches & Travaux, Nr. 82, S. 71–90.
3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan – Si nous avions l’esprit, si nous avions la plume caustique de l’auteur des Scènes de la Bohême, comme nous vous conterions une jolie histoire! Hélas! nous ne sommes qu’un narrateur très-ordinaire! Nous dirons donc tout simplement ce que nous savons… Ils étaient trois hommes de beaucoup de lettres et peu d’argent, dans une chambre, un matin. A trois, ils possédaient deux pantalons et une chemise. Vous dire comment, avec cette garderobe, ils recevaient décemment leurs visites, cela serait difficile; mais il y avait des cabinets; il y avait un lit. On a le droit d’être malade. Notre ami entra donc. Il les trouva fort tristes. – Qu’avez-vous donc, leur dit-il? [sic] Vous voilà blêmes comme feu Debureau? Vous êtes-vous couchés cette nuit? Non, répondit un des héros en bâillant; mais ce n’est pas cela. – Comment! vous avez fait une orgie peut-être? – Depuis deux jours; mais ce n’est rien, nous y sommes habitués, répondit un autre en s’étendant sur le lit déjà habité. – Qu’avez-vous donc? on refuse vos articles? – On les imprime, monsieur…. Et il se redressa fièrement… – Je me donne au diable pour savoir!.... – Nous voulons déjeuner!... – Ah, très-bien. – Nous avons sondé les mystères de notre caisse… Paul a quelque chose… Edmond a un peu moins… Albert a plus… Enfin, nous avons réuni SEPT SOUS. – Pour déjeuner à trois? – Ou à quatre, mon cher. – Bien obligé!... Quel roman lisez-vous là, Edmond? – Voyez le titre. – Prêtez-moi cinq francs, par X… Notre ami exécuta le titre du roman, et alla déjeuner tout seul au café de Paris… car notre ami n’est pas de la bohême… C’est pour cela qu’on lui fait lire avec tant de complaisance le titre des romans.304 Wenn wir den Geist, wenn wir die bissige Feder des Autors der Scènes de la Bohême hätten, was würden wir für eine hübsche Geschichte erzählen! Leider sind wir nur ein ganz gewöhnlicher Erzähler. Wir sagen also ganz einfach das, was wir wissen. Es waren drei Männer mit viel Literatur und wenig Geld in einem Zimmer eines Morgens. Zu dritt besaßen sie zwei Hosen und ein Hemd. Wie sie mit dieser Garderobe anständig ihre Besucher empfingen, euch das zu sagen wäre schwierig, aber es gab Arbeits-
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O.A.: o.T. In: Le Corsaire vom 22. Juli 1847, S. 2.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847) zimmer, es gab ein Bett. Man hat das Recht krank zu sein. Unser Freund trat also ein. Er fand sie sehr traurig vor. – Was habt ihr denn, fragte er sie. Ihr seid so blass wie selig Debureau? [Jean-Gaspard Debureau war Pantomime des Théâtre des Funambules und starb einen Monat zuvor, N.P.] Habt ihr heute Nacht geschlafen? Nein, antwortete eine Hauptperson gähnend, aber das ist es nicht. – Wie! Habt ihr vielleicht eine Orgie gemacht? – Seit zwei Tagen, aber das ist es nicht, wir sind daran gewöhnt, antwortete ein anderer, während er sich auf dem schon bewohnten Bett ausstreckte. – Was habt ihr also? Lehnt man eure Artikel ab? – Man druckt sie, Monsieur …. Und er richtete sich stolz auf…. – Was würde ich geben, es zu erfahren! … Wir wollen frühstücken! … – Ah, sehr gut. – Wir haben alle Geheimnisse unserer Kasse ergründet. Paul hat etwas… Edmond hat ein bisschen… Albert hat mehr… Letztlich haben wir SIEBEN SOUS zusammenbekommen. – Um zu dritt zu frühstücken? – Oder zu viert, mein Lieber. – Sehr verbunden!... Was für einen Roman lesen Sie da, Edmond? – Sehen Sie den Titel. ‒ Leihen Sie mir fünf Franc, von X… Unser Freund führte den Titel des Romans aus, und ging ganz allein ins Café de Paris [einem Café auf dem Boulevard des Italiens, N.P.] frühstücken. Denn unser Freund kommt nicht aus der Bohème… Deshalb lässt man ihn mit so viel Liebenswürdigkeit Romantitel lesen.
Die kurze, vollständig zitierte Szene veranschaulicht, dass es innerhalb der Zeitschrift einen Dialog um Darstellungsweisen des Künstlerlebens gibt. Murger ist zu dem Zeitpunkt schon als Bohème-Literat erfolgreich, die Sprechinstanz geht ausschließlich auf Murgers Stil ein. Eingangs konzediert sie in ironischem Ton, dass der Verfasser dieses Textes nicht die „plume caustique“ Murgers habe, sondern dass es sich nur um den Text eines „sehr gewöhnlichen Erzählers“ handle. Wie jener eine Szene aus dem Bohèmealltag erzählt, demonstriert die anschließende Schilderung. Angeblich solle faktenorientiert erzählt werden, „das, was wir wissen“. Zwar beginnt die Erzählung mit der Märchenformel „es war einmal“, doch das mystifizierende Element wird sogleich gebrochen. Geschildert wird eine klassische Bohèmeszene mit Nennung der Personen, Erwäh-
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nung eines typischen Ortes und Andeutung der materiellen Armut. Plakativ listet der Text das Inventar und die Habe auf: Es „waren drei Männer mit viel Literatur und wenig Geld“. Durch die numerische, einfache Gegensätze beschreibende („viel“ – „wenig“) Darstellung werden Setting und Handelnde trivialisiert. Interessant ist, aus welcher Perspektive das Geschehen beschrieben wird. Ein Freund des Erzählers ist an der szenisch dargebotenen Handlung beteiligt. Als zunächst Außenstehender tritt er neugierig, aber auch mit Vorurteilen ausgestattet in die Mansarde ein und beginnt einen Dialog mit den Anwesenden. Der Freund des Erzählers gehört nicht zu dem Kreis, den er aber sehr genau kennt. In einer Art Smalltalk erkundigt er sich nach dem Befinden der Künstler und orientiert sich dabei an Klischees wie durchgemachten Nächten, Orgien und abgelehnten künstlerischen Arbeiten. Da den Männern Geld fehlt, klagen sie dem Besucher ihr Leid. Anstatt ihn unmittelbar anzupumpen, wird das indirekt über Anspielungen gemacht. Zum einen deutet einer der Bohemiens an, dass man auch zu viert frühstücken könne, was aufgrund der Mittellosigkeit der einen klar macht, dass der andere, der Gast zahlen müsste. Die Pointe der Geschichte steckt in der mise en abyme des Romantitels. Der Romantitel, den das Buch in der Geschichte trägt, ist zum einen eine Anspielung auf typische Motive der Bohèmeliteratur wie das Schnorren. Zum anderen hat der Titel, der die Neugier des Außenstehenden weckt, einen appellativen Charakter, der ein passendes Statement zur Lage ist. Folglich deutet die Situation auf einen Zweck der Bohèmeliteratur hin und sie unterstreicht ihre Selbstbezüglichkeit. Was die Szene andeutet ist, dass das Interesse am Leben der Bohème für die Außenstehenden etwas kosten kann. Zusätzlich erscheint der Versuch zum Frühstück eingeladen zu werden nicht als reines Anpumpen, sondern vielmehr als Konsequenz daraus, dass der Außenstehende teilhaben, etwas von der Bohème und deren besonderen Leben erfahren und miterleben will – ein Wert, der jedoch in dem Fall nicht honoriert wird. Die Beispiele verdeutlichen, wie umstritten die Bohèmedarstellungen sind. Im letzten Beispiel ist die Kri-
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tik an ihrer Literatur vor allem eine Sittenkritik, aber eine, die auf das Verhältnis von privat und öffentlich hinweist. Dass die petits journaux verschiedene, aufeinander kritisch bezugnehmende Texte drucken, schmälert die Bindungs- und Faszinationskraft nicht, die die Bohème für literarische und künstlerische Neulinge hat.
3.3.3 Verliebte Debütanten in Champfleurys Les Aventures de Mlle Mariette (1853) „N’avoir pas de maîtresse“305
Auch Beziehungen mit Frauen treiben die literarischen Debütanten um. Im Motto des Kapitels warnt eine väterliche Stimme den Sohn, einen angehenden Literaten, zumindest wörtlich vor einer Mätresse. In Champfleurys Roman Les Aventures de Mlle Mariette. Contes de printemps (1853) spielt das Thema einer verhängnisvollen Liebesbeziehung, die auch das literarische Wirken beeinflusst, eine wichtige Rolle. Champfleury verbindet in der Geschichte vieles, was für die Debütanten im Corsaire-Satan-Umfeld wichtig ist. Es geht um ihre Selbstverortung in der Medienwelt, ihre Beziehungsgeflechte und die Konflikte, die der Einstieg ins literarische Feld mit sich bringt. Anders als Henry Murgers Scènes erscheint der Roman nicht zunächst in der Presse, sondern direkt als Buch bei Victor Lecou in Paris. Er ist eine Replik auf Murger und in puncto Darstellung der Autoren- und Künstlerszene eine pessimistische Deutung der jungen Debütantenbohème, die im Vergleich mit Murger „nüchtern, desillusionierend“306 erscheint.
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Ü.: „Keine Mätresse haben“. Alfred Delvau [Feu André-André père] (1865): „Mon dernier article. Conseils à mon fils“. In: Le fumier d’Ennius. Paris: A. Faure, S. 299– 315, hier S. 306. Erich Köhler (2006): „Das 19. Jahrhundert II“. In: ders.: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur, Bd. 6.2.; 2. bearb. Auflage, hg. von Henning Krauß; Dietmar Rieger. Freiburg: Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., S. 162.
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Hauptfigur des autobiographischen Romans ist ein Redakteur des unter dem Namen Petit Journal verschlüsselten Corsaire-Satan. Champfleury verarbeitet in circa zwei Jahren erzählter Zeit die Tätigkeit für dieses Blatt sowie seinen ersten Theatererfolg auf dem Boulevard du Temple. Gérard ist das literarische Alter Ego des Autors, der als Korrektor und Redakteur für die kleine satirische Zeitschrift arbeitet und unter seiner Liebe zur Titelfigur Mariette leidet. Durchzogen vom Thema der Abhängigkeit geht es im Roman vordringlich um die zwischengeschlechtliche Liebesbeziehung. Im Vorwort betont die Sprechinstanz: „Voyez l’intérêt que nous inspire Mlle Mariette et son amant Gérard (car le mot amant est écrit en toutes lettres)“307. Am Anfang der histoire steht die Liebessehnsucht des jungen Bohemiens, die eingangs als sein vordringliches Handlungsmotiv hervorgehoben wird, bevor am Ende die Desillusionierung, was Liebe und Lohn für das literarische Debüt angeht, steht. Zudem kennzeichnet der Anfang des Romans Gérard als einen Mann der Boheme: Gérard demeurait avec son ami Valentin; tous deux vivaient en bonne intelligence et demandaient seulement aux arts quelque distraction à leur pauvreté. Tout d’un coup Gérard se sentit pris de dégoût pour la peinture, la poésie, la musique, il lui semblait ne manger que des gâteaux à ses repas.308 Gérard wohnte mit seinem Freund Valentin; alle beide lebten in gutem Einvernehmen und erbaten lediglich von den Künsten ein wenig Ablenkung von ihrer Armut. Plötzlich fühlte sich Gérard angewidert von der Malerei, der Dichtung, der Musik, es schien ihm so, als ob er nur das Dessert seiner Mahlzeiten verspeiste.
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Ü.: „Sehen Sie das Interesse, das Mlle Mariette und ihr Liebhaber Gérard wecken (denn das Wort Liebhaber/liebend ist ausgeschrieben)“. Champfleury (1856): Les Aventures de Mlle Mariette, S. V. Ebd., S. 3.
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Die Zeitform des Imparfait unterstreicht Regelmäßigkeit und Konstanz und die freundschaftliche Wohngemeinschaft armer Künstler lässt auf das Milieu schließen. Kunst dient Gérard als Ablenkung von einem durch Armut bestimmten Leben. Mit dem Adjektiv „plötzlich“ wird eine Veränderung deutlich, die die Liebessehnsucht zum neuen Antrieb Gérards macht: „Ce qui me tue, Valentin, c’est que j’aime et je n’aime pas. Dans ce moment-ci j’aimerais la première femme venue: mon pauvre cœur est sec comme l’amadou; c’est mon cœur qui se meurt de rester sans travailler.“309 Liebe und Kunst sind in einer gewissen Form aufeinander bezogen. Liebe gilt in dem Bild als Lebenselixier, Kunst als Dessert; die Übersetzung transportiert, dass Gérards Selbstdarstellung auf sentimentaler Übertreibung gründet, was das Reimpaar „meurt“ und „cœur“ verdeutlicht, das aus dem alltäglichen Sprechmodus des Charakters herausfällt und auch durch den abgegriffenen Gleichklang eine ironische Distanzierung andeutet. Anders als der verträumte, optimistisch in die Zukunft blickende Gérard erscheint Valentin nüchtern-pragmatisch, wenn er lapidar nachfragt, wie Gérard eine Frau denn ernähren wolle. Dass man über materielle Mittel verfügt, macht Valentin zur Grundlage einer Beziehung, dahingegen kein übertriebenes Gefühl oder gar Sehnsucht. Eingangs werden somit wesentliche Größen des Konflikts aufeinander bezogen, und zwar Kunst und Liebe sowie Liebe und Geld. Was das Zitat überdies verdeutlicht, ist, dass Champfleurys Fassung der Debütantenbohème auf der Handlungsebene und deren Deutung als desillusionierend zu verstehen ist. Denn der Stil ist alles andere als nüchtern und stellenweise verspielt, übertreibend oder ironisch. In Mariette, der Ex-Geliebten seines Freundes, findet Gérard alsbald seine ersehnte Geliebte. Gérards und Mariettes Beziehung ist nicht nur als 309
Ü.: „Was mich umbringt, Valentin, ist, dass ich liebe und dass ich nicht liebe. Gerade jetzt würde ich die erstbeste Frau lieben: Mein Herz ist trocken wie Zunder; es ist mein Herz, das stirbt [ohne den Reim übersetzt, N.P.], wenn es nicht beansprucht wird.“ Ebd.
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Liebesbeziehung, sondern als Geschlechterbeziehung interessant. In der Bohèmeliteratur der Jahrhundertmitte sind Frauen vorwiegend als Geliebte und Weggefährtinnen, nicht als Kolleginnen oder gar als eigenständige Künstlerinnen und Intellektuelle sichtbar. Die prekäre Bohème kennt kaum schöpferische Frauengestalten, und wenn eine in Erscheinung tritt wie in Champfleurys Erzählepisode „Mariana la Peintre“ 310 , kommen dennoch nur zwei Sichtweisen auf unterschiedliche Frauen der männlichen Hauptfigur vor. Während der Protagonist die eigenständig kreative Künstlerin nicht als Liebespartnerin in Erwägung zieht, spricht er der anderen einen ebenbürtigen kreativen Geist ab. Auch die soziale Herkunft spielt in dem allgemeinen Zusammenhang eine Rolle. Wenn Frauen intellektuell wahrgenommen werden, stammen sie aus wohlhabenden Milieus und fungieren als Mäzeninnen oder als Leserinnen und Lektorinnen. Was den Mariette-Roman angeht, sind die Geschlechterbeziehungen auf den ersten Blick ebenfalls stereotyp. Die Konstellation der beiden ist durch ein Bildungsgefälle zwischen Mann und Frau bestimmt. Während der Journalist Gérard aus kleinbürgerlichem Hause ist, stammt die Analphabetin Mariette aus dem Arbeitermilieu. Die Tatsache, dass die Frauen als Geliebte der Bohemiens wenig gebildet und nicht künstlerisch tätig sind, sondern höchstens als Muse für sie und andere fungieren, sieht Elizabeth Wilson als „insulting denial of female creativity“311 an. Unter anderem zeigt sich das darin, dass die materiellen Bedingungen der Männer das Kapital bilden, um eine Frau zu erobern oder zu halten. Ein Künstler, der sich tatsächlich an Kunst und an dem Umsatz seines Werkes orientiert, droht jederzeit betrogen zu werden.
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Champfleury (1857): „Mariana la Peintre“. In: ders.: La Bohème amoureuse. Confessions de Sylvius. Édition autorisée pour la Belgique et l’étranger, interdite pour la France. Brüssel: Meline, Cans et Cie, S. 81–95. Zuerst 1845 erschienen erzählt die Sammlung in Episoden von den Beziehungen der Hauptfigur, des Malers Sylvius, unter anderem mit einer Portiersfrau, einer Grisette und einer Malerin. Vgl. dazu kritisch Elizabeth Wilson (2000): Bohemians. The Glamorous Outcasts. London: Tauris, S. 92.
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Mariette verkörpert den Frauentyp der Grisette, der junge, alleinstehende, oft aus der Provinz, der Arbeiterklasse oder kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Frauen bezeichnet, die in Paris leben und ihren Lebensunterhalt als Näherin, Modistin oder Wäscherin bestreiten. Eine zweite Bedeutung der Grisette ist „leichtfertiges junges Mädchen“312, was auf Naivität und eine Bereitschaft. sich aushalten oder kaufen zu lassen, hindeutet. Mariettes Darstellung zeigt außerdem Anklänge an die lorette, eine verwandte Bezeichnung seit den 1840er Jahren, die mit dem Stadtviertel Notre-Dame-de-Lorette und explizit mit Käuflichkeit und Prostitution verbunden ist.313 Mariette, die mehrere platonische und sexuelle Beziehungen zu Männern unterhält, wird im Roman mit den lorettes der Rue Bréda verglichen.314 Wenn den Frauen der Bohemiens ein Hang zum Konsum, zur materiellen Sicherheit, wenn nicht sogar zum Luxus nahegelegt wird, steht dieser Wunsch in Konflikt zu dem, was die Bohemiens erwirtschaften, wenn sie sich an der ‚reinen‘ Kunst orientieren. Das klassische Rollenmodell des Versorgers passt somit nicht zu den Grisetten und ihren Liebhabern, da sich die Grisetten ja selbst versorgen. Allerdings wird anhand der Beziehung Grisette – Bohemien typischerweise auch die Konfliktlinie von dieellen und materiellen Werten aufgezeigt. Während die Verbindung des auf Kunst konzentrierten, prekär lebenden Bohemiens und der Grisette als ‚reine‘ Liebe gefasst wird, treten potenziell reiche Liebhaber auf, die der Grisette das harte, entbehrliche Leben durch finanzielle Zuwendungen verschönern möchten. Indem in der Bohème bisweilen die Entbehrungen idealisiert werden und das freie Kunstschaffen nicht nur über dem 312 313
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Art. „Grisette“. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Grisette (21.04.2020). Art. „Lorette“: „Jeune femme du demi-monde, aux mœurs faciles et qui habitait au milieu du XIXe siècle principalement dans le quartier de Notre-Dame-de-Lorette, à Paris“. Ü.: „Junge Frau der Halbwelt mit lockerem Lebensstil, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich das Viertel Notre-Dame-de-Lorette in Paris bewohnte.“ In: Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales. URL: http://www.cnrtl.fr/definition/lorette (21.04.2020). Champfleury (1856): Les Aventures de Mlle Mariette, S. 198.
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Konsum, sondern sogar über einer Grundversorgung steht, gerät die Grisette in dem Moment in moralische Zweifel, in dem sie sich von diesem Leben abwendet. Jenseits des Klischees, das die Armut als Bedrohung für die Beziehung zwischen Bohemien und Grisette beziehungsweise Bohemien und lorette ansieht, sind hier im Roman die Rollen vertauscht. Der männliche Protagonist ist Identifikationsfigur der Geschichte, doch ist der Text nach der weiblichen Protagonistin Mariette benannt. Das Rollenmuster betreffend unkonventionell ist Gérards feiger, passiver Charakter, während Mariette als handlungsaktive Figur in Erscheinung tritt, was sich unter anderem dann zeigt, als Gérard der Verlust seiner Wohnung droht und sein Besitz wegen Mietrückständen gepfändet werden soll. In dem Moment entwickelt Mariette eine Strategie, um Gérards Bücher und sonstige Habe vor Gläubigern zu retten. Die ganze Episode ist von Mariettes Tatkraft bestimmt: Sie rettet mit ihren Freundinnen seine Bücher und sucht ein hôtel garni als neue Bleibe aus. Anders als Gérard hält sie an dem Plan hartnäckig fest, bis er vollständig durchgeführt und auch der letzte Sessel aus der zu räumenden Wohnung geholt wurde: „Ainsi se conduisit cette fille courageuse, qui voulut mener à bonne fin l’expédition commencée et qui rapporta le fauteuil en triomphe.“ 315 Das „mutige Mädchen“ bekommt vom Erzähler Heldinnenattribute zugewiesen, eine Heldin im emphatischen Sinne. Das „Aventures“ im Titel ruft ein von männlichen Protagonisten dominiertes Genre der Abenteuer- und Reiseliteratur auf. „Aventurière“ ist aber auch ein intertextueller Bezug auf Murgers Scènes, wo Musette, eine der Protagonistinnen, als „aventurière“316 bezeichnet wird. Bei den Haupt-
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Ü.: „So verhielt sich dieses mutige Mädchen, das die Aufgabe zu einem glücklichen Ende führen wollte und den Sessel triumphierend mitbrachte.“ Champfleury (1856): Les Aventures de Mlle Mariette, S. 42. Murger (1971): „Scènes de la vie de bohème“, S. 78. Musette wird als „Schwester von Mimi Pinson“ bezeichnet, womit auf die gleichnamige Erzählung Alfred de Mussets verwiesen wird.
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figuren sind die konventionellen Geschlechtercodes umgekehrt, was wiederum nicht bedeutet, dass im Roman moralische Verfasstheit streng an ein Geschlecht gebunden ist. Zwar ist Mariette Geliebte und Abenteurerin, mit der keine exklusive Liebesbeziehung möglich ist, doch gilt das nicht für alle Frauen im Roman. Die Liebesbeziehung zwischen Bohemien und Grisette steht für ein alternatives Lebensmodell, das familiäre und milieuspezifische Vorgaben wie Heirat oder eine standesgemäße Partnerschaft nicht einhält. Im Roman ist die Wahl der Partnerin für die Erwartungen der Eltern Gérards, der aus einem bürgerlichen Elternhaus stammt, eine Abweichung von Konventionen. Gérards Familie missbilligt die uneheliche Beziehung mit einer „femme sans position“ 317, wodurch die Beziehung etwas Unbürgerliches erhält. Gegenüber der Familie verteidigt Gérard die Beziehung, weil er die Tatsache, dass die Grisette den prekären Lebenswandel des Künstlers an dem Punkt mitträgt, als Indiz für deren Liebe ansieht.318 Folgende Eloge Gérards auf die Liebe zwischen Grisette und Bohemien hebt die Qualität der Verbindung gegenüber der bürgerlichen Ehe hervor, die auf Materialismus und Konvention gründe: Nous menons nos femmes avec nous dans tous les endroits publics où nous allons, et nous les respectons comme si nous les avions épousées; nous regardons comme un comique spectacle tous ces gens qui perdent leurs cheveux de bonne heure pour amasser quelques pièces de cent sous de rente. Nous n’avons pas de rente, mais nous avons des cheveux. Nous aimons nos femmes, et elles nous aiment. […] on ne se dispute jamais sur la dot ni sur la séparation de biens. Une femme, c’est la vie entière.319 Wir nehmen unsere Frauen mit zu allen öffentlichen Orten, die wir aufsuchen und wir respektieren sie, als ob wir sie geheiratet hätten. Wir betrachten all die Leute wie ein komisches Spektakel, die 317 318 319
Champfleury (1856): Les Aventures de Mlle Mariette, S. 86. Ebd., S. 88. Ebd.
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frühzeitig ihre Haare verlieren, um ein paar hundert Sous Rente anzuhäufen. Wir haben keine Rente, aber wir haben Haare. Wir lieben unsere Frauen und sie lieben uns. Wir streiten uns nie über die Mitgift oder über Gütertrennung. Eine Frau, das ist das ganze Leben.
Die Erklärung an sich wirkt sehr modern, weil die Beziehung nicht durch die formale Konvention der Ehe, sondern dadurch wertvoll wird, dass sie beide erfüllt. Die Gemeinschaft wird auch öffentlich gelebt, denn das Paar bewegt sich gemeinsam im öffentlichen Raum, was hier emanzipatorisch klingt. Materialismus, kleinbürgerliche Sparsamkeit werden als etwas Degeneratives, Altes angesehen. Angesichts dessen, dass die Beziehung der beiden Hauptfiguren letztlich nicht erfüllend und gegenseitig ist, erscheint diese Idealisierung auf die gesamte Handlung gelesen jedoch hinfällig. Paarbeziehungen sind neben Freundschaft und Familie wichtige Beziehungsformen in der Bohème. Mariette und Gérard haben nicht nur unterschiedliche Vorstellungen der Beziehung zueinander – abgesehen von einer zwischenzeitlichen Episode, in der häusliche Zweisamkeit herrscht – sie pflegen auch unterschiedliche Beziehungen zu und mit anderen. Mariette ist ein Bindeglied zwischen der Welt der kleinen Künstler, der Dandys und der Bourgeois. Sie ist eine Netzwerkerin, die Beziehungen zu Männern verschiedener Klassen und Berufe pflegt und ein Netz an Gönnern und an Helfern unterhält sowie platonische Freundschaften mit Männern und Frauen führt. Mariette hat eine Schlüsselposition innerhalb der gemischten Kreise im Pariser Leben inne und verkehrt im Vergleich zu ihrem Liebhaber mit den unterschiedlichsten Personen. Ihre äußerliche und soziale Wandlungsfähigkeit ist bemerkenswert, sie erregt Aufsehen und bewegt sich geschickt zwischen verschiedenen Rollen. Mal ist sie Arbeiterin, mal Modell für einen Maler, mal Salonnière, mal Versorgerin ihrer Familie, mal Freundin von Frauen und Männern: „Autant, la veille,
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Mariette, ressemblait dans son peignoir à une courtisane grecque, autant elle s’était faite Parisienne distinguée par excellence.“320 Liebe, Kunst und Geld sind drei wichtige Säulen des Romans. Liebe und Geld sind für die Mann-Frau-Beziehung zentral. In welchem Verhältnis Kunst und Geld stehen, betrifft vor allem die Männerbeziehungen. Gérard arbeitet beim Petit Journal zum Gelderwerb. Doch materielle Sorgen und Unbeständigkeiten wie Umzüge oder Liebeskummer machen die kreative, geistige sowie journalistische Arbeit unmöglich. So korrumpieren Gefühle für die Geliebte das Arbeitsethos des Protagonisten. Als sich Mariette räumlich von Gérard trennt, folgt eine unproduktive Phase. Frauen sind für die jungen Kunstschaffenden ein doppeltes Risiko, weil man dem Klischee nach finanzielle Mittel benötigt, um sie zu halten. Zwar fasziniert die Frau das Bohèmeleben, doch sobald ihr eine bestimmte Konsumorientierung zugeschrieben wird, die andere eher erfüllen können, droht sie sich abzuwenden. In der Konstellation führt das dazu, dass sich der eine oder die andere prostituieren muss, um die eigenen Bedürfnisse mit der der anderen Person in Einklang zu bringen. Zugespitzt stellt die geschlechtliche Liebe eine Gefahr für das Kunstideal dar, sie ist ein Moment der Korruption des Künstlers und im Privaten ein fragiles Gefüge. Mit der Liebesbeziehung wird das herrschende Autonomiegebot, also sich nicht für Geld zu verkaufen, übersteigert. An den Stellen, wo die Beziehung zugunsten des Bohemiens ausschlägt, wird die Grisette als Frau verherrlicht, die das ärmliche Leben wegen der Liebe oder des Interesses am Künstlertypus mitmacht. Anders verhält es sich mit Männerfreundschaften, die, besonders wenn sie auf gemeinsamen Idealen gründen, für Konstanz stehen. Gérards Freunde; Nachwuchskünstler und Literaten, mit denen er nicht konkurriert, bieten Gemeinschaft und Rat. Sie tauschen sich über ihren Status als
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Ü.: „Ebenso sehr wie Mariette am Vorabend in ihrem Morgenrock wie eine griechische Kurtisane aussah, hatte sie nun aus sich eine vornehme Pariserin par excellence gemacht.“ Ebd., S. 23.
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Produzenten von ‚Werken‘ und in den Medien aus. Der Künstler Thomas demonstriert die Publikumsneugier und das Interesse am Alltagsleben der Künstler. Gegenüber Gérard hebt er den sensationellen Charakter des Künstlerlebens und Kunstschaffens hervor, wie es ihm angesichts der neugierigen Außenwelt erscheint. Thomas entwickelt die Phantasie, Eintritt von den Besuchern seines Ateliers zu nehmen und er adressiert die Schaulustigen, das mittelmäßige Publikum, so: Vous vous ennuyez et je vous amuse; vous vendriez chez moi tant qu’il vous plaira, mais je vous préviens que chaque heure que vous passerez dans mon atelier sera payée cinq francs. Si vous me regardez deux heures, je vaux bien dix francs; y a-t-il rien de plus curieux que de voir mes soupières et mes assiettes descendre des planches et venir se coller sur ma toile? […] c’est un spectacle magique! […] moi-même, qui suis le magicien, et qui connais les mystères, j’en suis toujours étonné: combien devez-vous apporter d’intérêt à ces opérations, vous simples curieux!321 Ihr langweilt euch und ich amüsiere euch; ihr kommt zu mir, so viel es euch gefällt, aber ich warne euch, dass ihr jede Stunde, die ihr in meinem Atelier verbringen werdet, mit fünf Franc bezahlen müsst. Wenn ihr mir zwei Stunden zuseht, bin ich zehn Franc wert; gibt es nichts Interessanteres als meine Suppenschüsseln und meine Teller von den Farbtafeln herunterkommen zu sehen und zu schauen, wie sie sich auf mein Gemälde kleben? Es ist ein zauberhaftes Spektakel! Ich selbst, der ich der Zauberer bin und die Geheimnisse kenne, bin selbst immer wieder davon erstaunt: wie viel Interesse solltet ihr erst für diese Operationen mitbringen, ihr simplen Neugierigen!
Im Atelier vollzieht sich der Schaffensprozess des Kunstwerks, den der Künstler einerseits als profan beschreibt, indem er Alltagsgegenstände zu Kunstmaterialien macht, ihn andererseits durch das Geheimnisvolle zum Spektakel erklärt. Vehement inszeniert sich der schaffende Künstler und
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fordert das Publikum auf, am Geschehen teilzuhaben, was wiederum entlohnt werden soll. Thomasʼ Ansprache zeugt von Ambivalenz, da das Publikum zwar eingeladen, aber zum anderen für die Neugier und die Distanzlosigkeit angeprangert wird. Der Monolog deutet in jedem Fall auf eine Entwicklung zwischen Künstler und Publikum hin, denn er unterstellt das Interesse am Wirken des Künstlers, das im Privaten stattfindet. Aus dem Grund wird nicht erst das offiziell ausgestellte Werk, sondern der schöpferische Akt bereits zur Erwerbsquelle gemacht. Bemerkenswert an Champfleurys Roman ist neben den aussagekräftigen Beziehungsstrukturen, dass er die Indiskretion der petite presse anhand eines Beteiligten vorführt. Und zwar porträtiert er in einem Kapitel die Zeitschrift Petit Journal eingehender. Darin tauchen viele bekannte Aspekte wie Skandalorientierung, die Hierarchie zwischen Chefredakteur und den jungen Autoren auf. An dieser Stelle ist nicht das Zeitungsporträt vordergründig – es trifft den bekannten, üblich kritischen Ton – sondern das Geschehen auf Beziehungsebene. Gérard wird nämlich als Lektor des Petit Journal mit Mariettes Untreue konfrontiert. Bevor er ahnt, dass seine Partnerin mehrere Liebschaften hat, bekommt er eine nouvelle à la main vorgelegt, die Mariettes Liebesabenteuer mit dem Maler Frédéric Guermann schildert.322 Zwar handelt es sich bei den Geschichten, die ein verärgerter Ex-Liebhaber verfasst hat, um Verleumdungen, wie sich später herausstellen wird. Aber sie weisen Gérard auf die Tatsache hin, die er lange ignoriert hat. Folgende Anekdote, die der Zeitung zukommt, zeigt, in welcher Form Personen wie Mariette entlarvt oder diskreditiert werden: „il lut sur les épreuves cette petite anecdote: ‚Dernièrement, Mlle Mariette offrait le thé en revenant du bal à trois de ses amis; il était onze heures du soir. La portière lui dit en lui remettant la clef: ‚Ces messieurs descendront-ils?‘“323
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Ebd., S. 45. Ü.: „Er las in den Korrekturfahnen diese kleine Anekdote: ‚Letztens bot Mlle Mariette, als sie vom Ball zurückkam, drei Freunden Tee an; Es war elf Uhr nachts. Die Por-
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Die Frage der Nachtwärterin spielt auf Mariettes Promiskuität an. Auch hinter dieser Spitze steckt die persönliche Rache des ehemaligen Freundes Ernest, eines Vaudeville-Autors, dessen Dramenmanuskript sie aus Versehen vernichtet hatte.324 Auch Personen wie Mariette, die tatsächlich Seitensprünge zu verbergen haben, können von der Zeitung zu Unrecht diffamiert werden. Das verdeutlicht die Macht des Petit Journal, worüber sich Champfleury auch außerhalb des Romans ausgelassen hat. Als Lektor reagiert Gérard auf die verleumderischen Texte, indem er sie vernichtet oder sie abändert. Das wiederum zeigt, dass die Redakteure kaum frei von persönlichen Interessen handeln.325 Das Thema Liebesbeziehung ist im Roman insofern übersteigert, als es nicht nur um die damit verbundenen Ideale wie Autonomie geht, sondern darüber hinaus um Privatleben und dessen Abgrenzung von der medialen Öffentlichkeit. Indiskrete Neuigkeiten und private (Liebes-)Geschichten sind nämlich ein beliebter Stoff der Klatschsparten. Dass der Klatsch auch die Produzenten selbst betrifft, problematisiert der Roman mit dem Leiden der Hauptfigur. Champfleurys Roman stellt in überspitzter Form dieselbe Frage, die auch Sittentableaus oder Essays zur Bohème aufwerfen, nämlich wo die Grenze zwischen Privatleben und Öffentlichkeit zu ziehen sei und wie man mit ihr umgehe. Die Tatsache, dass Beteiligte auf beiden Seiten stehen können, birgt eine Schwierigkeit, die bezogen auf die Selbstdarstellung der Bohème folgende Episode zeigt. Der Erzähler führt den Freund, Nachbarn und Kollegen der Hauptfigur, Streich (das Alter Ego Murgers), als eine Person ein, die zum Gefallen des Chefredakteurs biographische Geschichten aus dem Milieu der Studenten und Grisetten326 verfasst. Was darin anklingt, ist deren Beliebtheit, aber auch eine Art am autoritäten Herausgeber orientierte Auftragsliteratur. Mit Distanz wird Streichs lite-
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tiersfrau sagte zu ihr, während sie ihr den Schlüssel aushändigte: Diese Herren, werden sie wieder herunterkommen?‘“ Ebd., S. 50. Ebd., S. 51. Ebd., S. 50. Ebd., S. 54.
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rarische Arbeit als autobiographische Texte beschrieben, die er ausschließlich aus seinem Privat- und Liebesleben schöpfe: Streich avait une singulière manie: il n’écrivait que sa vie, ses amours et les amours de Rose. De temps en temps il découpait une aventure de sa vie comme on coupe une tranche de pâté, et portait cette tranche à M. de Saint-Charmay, qui recevait avec plaisir ces sortes de biographies d’étudiants et de grisettes: les infidélités de Rose procuraient une aventure par semaine à Streich, qui en publiait assez régulièrement quatre par mois.327 Streich hatte eine besondere Manie: Er schrieb nur über sein Leben, seine Lieben und die Lieben Roses. Von Zeit zu Zeit schnitt er ein Abenteuer aus seinem Leben ab, wie man ein Stück Pastete abschneidet und brachte dieses Stück M. de Saint-Charmay, der diese Art von Lebensgeschichten von Studenten und Grisetten mit Freude annahm. Die Untreue Roses lieferte Streich ein Abenteuer pro Woche, der davon sehr regelmäßig vier pro Monat veröffentlichte.
Champfleurys Erzähler kommentiert die Szenen als Ergebnis des Lebensstils, bei dem traurige Ereignisse ebenso zu regelmäßigen unterhaltsamen Feuilletons führten: „Ainsi, la disparition de Rose produisit un feuilleton d’un sentiment comique et exagéré; les chagrins domestiques de Streich se tournaient en mots plaisants.“328 Sprachlich kommt in dem langen Zitat der doppelsinnige Witz Champfleurys heraus, der zwischen „seinen“ Lieben und „Roses Lieben“ unterscheidet und damit nahelegt, dass sie ebenfalls nicht deckungsgleich sind. Der Roman umfasst eine Liebesgeschichte und er verbindet sie mit einer Darstellung des Journalistenlebens, womit Sensationslust und Abhängigkeit der jungen Redakteure von der Presse problematisiert werden. Für die Lesweise des Romans als desillusionierter Debütantenroman ist das
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Ebd. Ü.: „So produzierte Roses Verschwinden ein Feuilleton mit komisch-übertriebenem Gefühl, der häusliche Kummer Streichs wendete sich in scherzhafte Worte.“ Ebd., S. 54.
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Ende aussagekräftig. Nachdem ihn der Liebeskummer unproduktiv werden ließ, beginnt der Autor nach einer Zeit, doch wieder zu schreiben. Da er sich vorstellt, mit einem Stück die Geliebte zurückzuerobern und als Autor Erfolg und Ruhm zu erlangen, beginnt er eine féerie329 zu verfassen. Aus dem Redakteur und Korrektor wird ein Theaterautor, dessen erstes Stück, zuerst am Boulevard de Crime und dann am Boulevard des Italiens aufgeführt, zum Publikumserfolg wird. Am Ende der histoire zeigt sich, dass es im Prinzip vorwiegend um Mariettes Anerkennung geht: „Après un an de souffrances cachées, de travaux, de peines, de chagrins, il arrivait a un succès, et Mariette ne récompensait pas ce succès.“330 Wider Erwarten führt die Aufführung dazu, dass sich beide noch einmal begegnen. Dennoch endet die Geschichte für den Protagonisten in zweierlei Hinsicht ernüchternd. Zum einen zahlt sich der kurzzeitige literarische Erfolg finanziell nicht aus: Car Gérard avait vécu, depuis un an, des avances faites sur sa féerie; quoique menant une vie simple, les trois mille francs prêtés, joints à quelques mille francs de dettes indispensables que nécessite tout début dans les arts, n’étaient pas loin d’engloutir ce que rapporterait la féerie, malgré son grand succès.331 Da Gérard seit einem Jahr von den Vorschüssen für die Feerie gelebt hatte, und das obwohl er ein einfaches Leben führte, waren die dreitausend geliehenen Francs, zusätzlich einige tausende Francs unerlässliche Schulden, die jedes Debüt in der Kunst kostet, nah dran zu verschlingen, was die Feerie trotz ihres großen Erfolges einbrachte.
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Ü.: „Märchenspiel“. Theatergenre des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich wohl um Pierrot Valet de la Mort, eine Pantomime in sieben Bildern, die zum ersten Mal im September 1846 im Théâtre des Funambules aufgeführt wurde. Clouard (1891): L’œuvre de Champfleury, S. 2f. Ü.: „Nach einem Jahr versteckter Leiden, voll Arbeit, Schmerz, Kummer, gelang ihm ein Erfolg und Mariette entlohnte diesen Erfolg nicht.“ Champfleury (1856): Les Aventures de Mlle Mariette, S. 260. Ebd., S. 261.
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3 Le Corsaire-Satan als Forum der zweiten Bohème (1844‒1847)
Zum anderen zahlt sich die Arbeit als Investition in die Geliebte nicht aus, da er deren dauerhafte Wertschätzung nicht bekommt. Von den Währungen im Pariser Leben wie Geld und Ruhm erhält er kurzfristig nur letzteren, die Aufmerksamkeit und exklusive Hinwendung der geliebten Frau bleibt ihm jedoch verwehrt. Zwar hat Mariette zunächst eine Wiederbegegnung mit Gérard initiiert, die dessen Hoffnung auf eine erneute Beziehung aufflammen lässt. Dabei muss er allerdings lernen, dass es außer dem Autor noch eine weitere Rolle gibt, die mehr Öffentlichkeit und Ruhm auf sich ziehen kann und zwar die des Hauptdarstellers Coquinet: – –
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Mon ami, dit Mariette, je voudrais souper avec Coquinet. Quelle drôle d’idée! dit Gérard en riant. C’est facile: je vais commander en face le souper, et ce soir nous irons tous les trois. J’aurais mieux aimé, dit Mariette en hésitant un peu, souper seule avec Coquinet.332 Mein Freund, sagt Mariette, ich möchte mit Coquinet Abendessen. Welche witzige Idee! sagt Gérard lachend. Das ist einfach: Ich werde das Abendessen vorbestellen und heute Abend gehen wir alle drei. Ich hätte es lieber gehabt, sagt Mariette etwas zögerlich, alleine mit Coquinet zu Abend zu essen.
Im letzten Dialog mit Mariette wird Gérard vor Augen geführt, dass selbst seine Vorstellung, welchen Status er als Autor hat, ein Trugschluss war. Gérard hatte Coquinet, den ehemaligen Straßenkünstler, für die Hauptrolle seines Stücks entdeckt und durchgesetzt. In der tragikomischen Pointe zerstört Mariette jede naive Hoffnung des Protagonisten. Sie interessiert sich nur für den Mann, der noch mehr im Rampenlicht steht 332
Ebd., S. 265. Zur Interpretation des Romans von Champfleury als „Übergangsroman“ : Sandrine Berthelot (2006): „En passant par la bohème avec Champfleury. Étude des Aventures de Melle [sic] Mariette, roman de la transition“. In: Gilles Bonnet (Hg.): Champfleury, écrivain chercheur. Paris: Champion, S. 21–31.
3.2 Indiskretion und Aufsehen im Corsaire-Satan
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als der Verfasser des Theaterstücks, nämlich der gefeierte Schauspieler. Gérard, der nach Exklusivität strebt, wird am Ende zu einem der nützlichen platonischen Kontakte seiner ehemaligen Geliebten, die für Gefälligkeiten taugen. Gérards Erfolg auf der Boulevardbühne ist somit kein Etappensieg, sondern eine trügerische Illusion. Der Autor hat weder die Aufmerksamkeit seiner Geliebten noch ausreichend materiellen Lohn für seine Arbeit bekommen. Abgesehen von der professionellen Rollenfrage, untermauert das Ende des Romans auch, wie prekär das Geschlechterverhältnis ist. Anders als in manchen anderen Gesellschaftsromanen der Zeit, die vielfach davon erzählen, dass Journalisten Schauspielerinnen umwerben und begehren, ist es hier der männliche Schauspieler, den die Grisette verehrt.
4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin. Gründermanie zwischen Zentrum und Peripherie (1854) 4.1 Eine kritische Masse neuer Zeitschriften: Gründungseifer und Einsteigergeschichten Im Second Empire erlebt die kostengünstige, von Vorzensur befreite petite presse eine Blütezeit. Die ‚nicht-politische‘ Presse expandiert stark und bildet ein Übergewicht zu politischen Tageszeitungen wie La Patrie, Le Constitutionnel oder Le Pays.333 Damit prägt das ebenso beliebte wie vielfältige Medienformat den öffentlichen Diskurs. Zur petite presse gehören eigenverantwortlich redigierte Organe kleiner Gruppen und Freundeskreise ebenso wie Produkte von Unternehmern oder Verlegern. Sie sind unterschiedlich aufwändig gestaltet – „de la simple feuille autographiée à des entreprises d’envergure“334 – und ebenso unterschiedlich erfolgreich. Grundsätzlich ermöglicht die petite presse wegen der fehlenden Steuer, kostengünstig Inhalte zu verbreiten. Dies nutzen etablierte Autoren wie Alexandre Dumas, Geschäftsleute wie Dollingen oder Buchhändler und Verleger wie Poulet-Malassis. Auch relativ mittellose oder unbekannte Dichter wie Pierre Dupont oder Gustave Mathieu bringen eigene Zeitschriften im zensurfreien Format heraus. Das heißt, dass die petite presse beide Pole, sowohl unternehmerisch erfolgreiche als auch prekäre Varianten, umfasst. Gerade weil die inhaltliche
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1865 gab es in Frankreich insgesamt 1098 Zeitungen, davon 337 als „politisch“ und 761 als „nichtpolitisch“ deklarierte. In Paris herrschte mit 63 „politischen“ und 448 „nichtpolitischen“ Organen ein noch größeres Missverhältnis. Eduard Schmidt-Wießenfels (1868): Frankreich und die Franzosen. Bd. 2/2. Berlin: A. Sacco Nachfolger, S. 136. Ü.: „Vom einfachen handschriftlich hergestellten Blatt bis hin zu Unternehmen großen Formats“. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 29.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8_5
168 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin und qualitative Bedeutung der Kategorie selbst umstritten ist, ruft das auch Emanzipationsbemühungen der literarischen petite presse auf den Plan. Was viele sehr unterschiedliche Akteure und Titel im Second Empire eint, ist ihr Interesse an der Bohème. Sowohl kurzlebige, kostengünstig hergestellte Publikationen Le Sans le Sou (1854–1855) aus dem Quartier latin als auch erfolgreichere wie der Figaro ab 1854, der von profilierten Journalisten mit höherem Kapitaleinsatz lanciert und durch geschickte Vermarktung zu einer erfolgreichen Zeitschrift der Pariser Unterhaltungskultur wird, speisen Bohèmethemen ein und werden mit dem prekären, antibürgerlichen Literaten- und Künstlermilieu assoziiert. Während Beispiele wie Le Sans le Sou in redaktionellen, selbstbezogenen Texten beanspruchen, für die Bohème oder eine verwandte Gruppe zu sprechen oder wie L’Appel, der für die marginalisierte literarische Jugend eintritt, zeigt das Panorama der petits journaux Mitte der 1850er Jahre, dass das Bohèmekonzept die ganze urbane intellektuelle Elite umtreibt. Es ist der marginalisierte, antibürgerliche Künstler- oder Autorentyp, den literarische und satirische Zeitschriften ebenso ansprechen wie andere Personenkreise. Graf Charles de Villedeuil beispielsweise, ein junger, relativ vermögender, ambitionierter Mann, gründet mit 22 Jahren die Zeitschrift LʼEclair (Titelzusatz: Revue hebdomadaire de la littérature, des théâtres et des arts), die er dank finanzieller Mittel intensiv durch Plakate zum Beispiel im Omnibus bewerben kann.335 An die Popularität der Bohème schließt hierin auch die Kolumne „Bohemiana“336 an, die der Herausgeber unter dem Pseudonym Cornélius Holff in der eigenen Zeitschrift unterbringt.
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So beschreibt ihn mit kritischer Distanz Aurélien Scholl (1858): La foire aux artistes. Petites comédies parisiennes. Paris: Poulet-Malassis et de Broise, S. 134f. Dem Titel fehlten die Beiträger, nicht die Mittel, was Scholl, der u.a. mit Texten wie „Journal d’un Bohême“ selbst Autor der Zeitschrift war, spöttisch preisgibt. Cornélius Holff: „Bohémiana“. In: L’Éclair 1852, Bd. 1, S. 281‒285.
4.1 Eine kritische Masse neuer Zeitschriften
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Eigene Zeitschriften zu gründen, kann ein Emanzipationsakt sein, doch obwohl der mediale Gründungseifer zur Jahrhundertmitte groß ist, erzählen wenige Romane der Zeit Gründergeschichten. Das ändert sich offenbar, denn sobald man einen literaturhistorischen Ausblick vornimmt, findet man im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Bohèmeromane, in denen die Gründung von Zeitungen zur Selbstverständlichkeit wird. Jules Vallèsʼ autobiographischer Roman Jacques Vingtras beschreibt das rückblickend auf die 1850er Jahre bezogen, La Vache enragée von Émile Goudeau (1885)337 dagegen für eine spätere Generation von Bohemiens. Bei Goudeau teilt der Protagonist Hercule Trimard, ein benachteiligter Provinzler ohne bisherige Berührung mit der Presse, seine Gründungsabsichten Mitreisenden bereits auf der Zugfahrt nach Paris mit: „J’irai fonder un journal à Paris, ajoutait-il, et dans les clubs j’étalerai la grande misère, celle qui n’a pas de pain, peut-être pas d’âme, à peine un corps, et seulement deux yeux pour pleurer.“ 338 Eine eigene Zeitschrift ins Leben zu rufen, ist für die Figur ein selbstverständlicher Schritt, um eigene – in dem Fall politische Interessen – sichtbar zu machen und sich um die Belange der Benachteiligten zu kümmern. Die Bohèmeromane der 1850er Jahre wie Champfleurys Les Aventures de Mlle Mariette sind eher als Debütanten- oder Einsteiger- denn als Gründergeschichten angelegt. Wenn Gründerepisoden vorkommen, wie in Décembre-Alonniers Roman La Bohême littéraire (1861), stehen sie unter dem Zeichen der materiellen Notwendigkeit und werden von der Erzählinstanz abgewertet. Hauptfigur des Romans ist ein junger Autor, kein
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Émile Goudeau (1885): La Vache enragée. Paris: P. Ollendorff. Forschung zu Goudeau und der Bohème des Fin de Siècle: Émile Goudeau; Michel Golfier (2000): „Introduction“. In: ders.; Jean-Didier Wagneur (Hg.): Dix ans de Bohème. Suivi de Les hirsutes de Léo Trézenik. Introduction, notes et documents de Michel Golfier et JeanDidier Wagneur. Unter Mitarbeit von Patrick Ramseyer. Seyssel: Édition Champ Vallon. Ü.: „Ich werde in Paris eine Zeitschrift gründen und in den Clubs das große Elend ausbreiten, das, welches kein Brot, vielleicht keine Seele, kaum einen Körper und nur zwei Augen zum Weinen hat.“ Ebd., S. 101.
170 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Gründer, sondern einer von vielen ambitionierten Debütanten, der als Mitarbeiter einer Zeitschrift, die reinen Privatinteressen folgt, unter dem Einfluss eines wohlhabenden Mannes steht. Dass der junge Literat auch später mehrere Versuche anstellt, selbst Zeitschriften, darunter vor allen Dingen Werbeblätter zu gründen, erscheint im Roman als Konzession an den verbreiteten Bedarf an Reklame. Sein Ziel, darüber literarische Autonomie zu erlangen, scheitert kläglich. 339 Wie das Debütieren, ist das Gründen ein wichtiges Generationenthema, das sich anhand von Zeitschriften betrachten lässt. Es drückt (erneut) das Missverhältnis aus, das die Zeitungs- und Literaturwelt prägt, nämlich zwischen ihrer großen Bedeutung und einer fehlenden Würdigung. Neue Zeitungen zu lancieren, stellt ein Faszination und Kritik auslösendes Thema dar. Zahllose Feuilletons, Anekdoten, Satiren und Skizzen umreißen den Gründungseifer in der petite presse und üben oft auch Medienkritik. Anders als die typischerweise als Entwicklungsromane konzipierten Geschichten über die Presse der Zeit, stellen die petits journaux eine Vielzahl an Beispielen heraus. Jules Lovy spricht in der Satirezeitschrift Journal pour rire 1855 von einer „maladie épidémique“340 der Bohèmezeitschriften und bezieht sich auf massenhaft Organe, die in geringer Auflage erscheinen und sich durch extreme Kurzlebigkeit auf der einen und hohe Verbreitung sowie öffentliche Sichtbarkeit in Cafés und Lesekabinetten auf der anderen Seite auszeichnen.341 Aurélien Scholl, der seinerzeit als „roi du boulevard“342 gehandelt wird, befasst sich in seiner Feuilleton-Sammlung La foire aux artistes (1858) mit dem Gründungseifer kleiner Klatschblätter, wörtlich „gazettes“. Der Journalist wirft dort 339
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Décembre-Alonnier (1862): La Bohême littéraire. 3. Auflage. Paris: Michel Lévy Frères, S. 196f.; 212f. Ü.: „Hochgradig ansteckende Krankheit“. Jules Lovy: „Les journaux bohèmes“. In: Le Journal pour rire vom 23. Juni 1855, S. 3f. Titelzusatz: Journal dʼimages, journal comique, critique, satirique et moqueur. Ebd. Z.B. von Gaston Jollivet (1927): Souvenirs de la vie de plaisir sous le Second Empire. Paris: Jules Tallandier, S. 225.
4.1 Eine kritische Masse neuer Zeitschriften
171
die rhetorische Frage auf, wer unter den „Schiffbrüchigen des Pariser Lebens“ noch kein literarisches oder gewerbliches Journal geplant habe: „Parmi les naufragés de la vie parisienne, quel est celui qui n’a pas eu l’idée d’un canard littéraire ou industriel?“343 Außerdem unterstellt er jedem eher ärmlich anmutenden Boulevard-Spaziergänger ein Zeitungsprojekt im Kopf zu haben: „Cet individu qui promène au boulevard un chapeau feuille-morte et un pantalon frangé par le bas, soyez sûr qu’il a l’idée d’un journal.“ 344 Scholls Feuilleton ist von der ironischen Distanz der Kenner und Beteiligten bestimmt. Dass sie mit sich und ihresgleichen hart ins Gericht gehen oder sich selbst verherrlichen, ist bezeichnend für die Medienschaffenden dieser Zeit, bei denen die Grenzen zwischen kritischer Selbstanalyse („autoscopie“345) und Selbstzelebrierung („autocélébration“346) mitunter fließend sind.347 Im Allgemeinen sind neben der Produktionsweise vor allem Wirkung und Stil häufige Ziele der Medienkritik. Ein Beispiel für die teils selbstironische Reflexion auf das Gründungsumfeld bietet Jules Vallèsʼ Roman Le Bachelier, der erst Anfang der 1880er als Teil der Romantrilogie erscheint, aber unter anderem mit autobiographischen Bezügen von der Mitwirkung des Autors an diversen Zeitschriften in den 1850er Jahren, unter anderem beim Figaro, erzählt. Der Roman führt in einer Episode vor, welch phantasmagorische Gestalt ein Abonnent im Umfeld von Gründern und Machern kleiner Zeitschriften sein kann. Jacques Vingtras, 343 344
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Scholl (1858): La foire aux artistes, S. 130. Ü.: „Dieses Individuum, das auf dem Boulevard spaziert mit rotbraunem Hut und einer unten herum ausgefransten Hose, seien Sie sicher, dass es eine Zeitungsidee hat.“ Ebd. Jean-Didier Wagneur (2012b): „La vie de bohème. Une mythologie du XIXe siècle“. In: Sylvain Amic (Hg.): Bohèmes. De Léonard de Vinci à Pi¬cas¬so. Paris, GrandPalais, 26. September 2012 – 14. Januar 2013; Madrid, Fundación Mapfre, 6. Fe¬bruar 2013 – 5. Mai 2013. Paris: Réunion des musées nationaux, S. 56–64, S. 61. Ebd., S. 59. Adeline Wrona (2011): „La presse en son miroir“. In: Kalifa; Régnier; Thérenty; Vaillant (Hg.): La Civilisation du journal, S. 1587‒1599. Benoît Lenoble: „Célébrations“. In: ebd., S. 1601‒1608.
172 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Hauptfigur des gleichnamigen Romans, sucht das Büro von La Nymphe, „journal des Baigneurs“ auf, da er Arbeit sucht. Er hat von der Zeitschrift seines Freundes erfahren und gibt sich an der Haustür als Abonnent aus: [J]e chante dans l’obscurité: ‚Je suis un abonné de La Nymphe… – Vous êtes l’Abonné de La Nymphe?‘ […] ‚L’Abonné… l’Abonné… Mais où est donc mon caleçon?... L’Abonné!‘ Matoussaint (c’est bien lui), apparaît en se boutonnant. ‚Comment! c’est toi!… Tu ne pouvais pas te nommer tout de suite? … Tu me fais croire que c’est l’Abonné! Je me disais aussi, ce n’est pas sa voix. – Ils n’ont pas tous la même voix, tes abonnés? – Mes abonnés? – pas mes! – mon! Nous avons un abonné, rien qu’un!‘348 [I]ch säusle in die Dunkelheit: Ich bin ein Abonnent der Nymphe… – Sie sind der Abonnent der Nymphe? […] Der Abonnent… der Abonnent… Aber wo ist meine Unterhose [kann auch Badehose heißen, N.P.] … Der Abonnent! Matoussaint (es ist wirklich er) erscheint, sich noch zuknöpfend. Wie, du bist das! […] Konntest du nicht gleich deinen Namen nennen? … Du lässt mich annehmen, du seiest der Abonnent! Ich dachte mir doch, das ist nicht seine Stimme. ‒ Sie haben nicht alle dieselbe Stimme, deine Abonnenten? ‒ Meine Abonnenten? – nicht meine! meiner! Wir haben einen Abonnenten, nur einen einzigen!
Einen einzigen Abonnenten hat La Nymphe, die an eine reale Zeitschrift namens La Naïade, „journal d’annonces, spécialement destiné aux cabinets de bains“349, angelehnt war und von 1852 bis 1853 bestand. Das Blatt, für das neben Aurélien Scholl auch Henry Murger schrieb, griff auf eine originelle Werbestrategie zurück. Ein Teil der Auflage wurde in wasser-
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Vallès (1990): „Le Bachelier“, S. 631. Jean Berny: „La Naïade. Journal aquatique“. In: Journal pour rire, Nr. 35 vom 29. Mai 1852, S. 5f. Ü.: „Anzeigenjournal, eigens bestimmt für Baderäume“.
4.2. Alternativen bieten: Die Bohèmepresse im Quartier latin
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festem, kautschutiertem Material gedruckt, so dass man die Zeitung mit ins öffentliche Bad oder ins Café nehmen konnte, wo sie nach der Lektüre auch als nützliches Utensil für den Esstisch gereichte. Scholl berichtet in einer Erinnerungsskizze „À propos de La Naïade“ 1881 von 300 Exemplaren, die auf weißem Papier in die wichtigsten Cafés gesendet und von 50 Stück, die auf Kautschuk gedruckt in den Bädern verteilt worden sind. Seine Darstellung macht aus dem vielfach erinnerten Coup einen Werbegag. Mit kreativen Ideen wie diesen versuchen Titel Leserinnen und Leser zu gewinnen. Dass die Presse gern anekdotisch von solch spektakulären Beispielen erzählt, zeigt, inwiefern die Journalistenszene mit ihren ‚Selbstbespiegelungen‘ ein hochgradig medienaffines Terrain ist. Die genannten Werbetricks und eine an das Alltagsleben und die Konsumgewohnheiten angepasste Vermarktung gab es schon früher, aber in den 1850ern floriert sie. Sie gehört der „Boulevard Culture“350 an, die sich durch das strenge Politikverdikt der petite presse ab 1852 entwickelt. Zeitschriften richten sich mehr als zuvor auf das Pariser Leben aus, widmen sich Persönlichkeiten der Medienwelt, der Theater und der Literatur, die gern als célébrités besprochen werden. Dadurch wird die petite presse mit ihrem Klatsch und der ‚oberflächlichen‘ Unterhaltung, die oft doppelbödig und ambivalent ist, zu einem zentralen Bestandteil der Boulevardkultur.
4.2 Alternativen bieten: Die Bohèmepresse im Quartier latin
4.2.1 Le Sans le Sou als Vorbild der jungen Bohèmepresse Mitte der 1850er Jahre entsteht eine mit der Bohème des Quartier latins am linken Seine-Ufer, der sogenannten Rive gauche, verbundene petite 350
Vanessa R. Schwartz (2003): Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-deSiècle Paris. Berkeley u.a.: University of California Press, S. 15f.
174 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin presse. Wegen des Einzugsbereichs der Sorbonne ist das Quartier latin ein beliebter Wohnort für Studenten und Künstler. Hier entstehen aus jungen, republikanischen, studentischen und bohemischen Kreisen einige Zeitschriften wie Le Sans le Sou351, Cadet-Roussel352, La Terre promise (Das Gelobte Land), L’Enfant terrible, La Fronde, Le Divan, La Muselière (Der Maulkorb) und L’Original, allesamt Titel, die auf Restriktionen, Auflehnung oder Provokation hinweisen. Am 2. Oktober 1856 berichtet der Figaro von diesen Zeitschriften, deren Kennzeichen die Mittellosigkeit ihrer Produzenten sei: „Toutes se sont fondées sans argent, sans bureaux, et, parfois, sans imprimeur“ 353 . Sie weisen weder nennenswertes ökonomisches Kapital auf, noch besitzen sie repräsentative Räume oder institutionelle Anbindung wie die an Druckereien angebunden. Altève Morand, einer der umtriebigen Akteure und Chronisten dieser bohemischen Presse, wertet ihr Entstehen rückblickend als „cri de révolte et dʼémancipation“354 , einen „Aufschrei der Revolte und der Emanzipation“. Schließlich sind es vermehrt unbekannte Autoren, Außenseiter oder auch „‚parias de la littérature‘“355 , die Mitte der 1850er Jahre beginnen, eigene Zeitschriften zu gründen, um darin ihre Inhalte und Texte zu verbreiten. Altève Morand porträtiert die jungen Blätter in einer Serie namens „Les feuilles mortes“, die erscheint, nachdem viele der Zeitschriften bereits wieder eingestellt worden sind. Le Sans le Sou nennt er an erster Stelle und sieht ihn als repräsentatives Beispiel an, weil „Der Arme Schlucker“ als Initialzündung für die Produktion vieler kostengünstiger Organe gelten könne. Wegweisend ist die Herstellungs-
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Ü.: „Der Arme Schlucker“. Titelzusatz: „journal littéraire, artistique et scientifique“. Benannt nach dem Chefredakteur Auguste Roussel. Cadet heißt „der Jüngere“. Ü.: „Alle wurden ohne Geld, ohne Büro und manchmal ohne Drucker gegründet“. H[ippolyte] de V[illemessant]: o.T. In: Figaro vom 2. Oktober 1856, S. 2. Erklärung zum Auftakt der Serie „Feuilles mortes“ von Altève Morand, die Villemessant als „presse bohême“ bezeichnet. Altève Morand: „Histoire des petits journaux. Les feuilles mortes. 1855–1856“. In: Figaro vom 2. Oktober 1856, S. 2–5, hier S. 2. Ebd.
4.2 Alternativen bieten: Die Bohèmepresse im Quartier latin
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weise im Umdruckverfahren, weshalb Morand ihn als den „messie du journalisme bon marché“356, als „Messias des billigen Journalismus“ tituliert. Private publizistische Initiativen von Freunden oder Freundeskreisen haben zunächst keine Personalkosten, weil die Beteiligten oft unbezahlt arbeiten. Als Beispiel kann Le Sans le Sou dienen, der von zwei Freunden, den mittellosen Dichtern Constant Arnould und Fontan, initiiert wurde. Über beide ist wenig bekannt. Fontan ist gegen 1828 geboren und arbeitet bei Le Sans le Sou, Le Bohême, Le Triboulet, Le Diogène und anderen mit. François Marotin erwähnt Fontan als einen „der Refraktäre von Valles“357. Les Réfractaires ist der Name einer Erzählsammlung, die zuerst im Figaro als „Les Irréguliers de Paris“ erschienen ist und von einer zeitgenössischen Gruppe prekär lebender, aufständischer und sich auflehnender junger Männer erzählt. Was diese kreative und politisierte Jugend verbindet, ist der „Hass auf das Jahrhundert und die Missachtung gegenüber der Geschäftemacherei“358. Der um 1832 geborene Constant Arnould wird ebenfalls zu Vallès Umfeld der „Refraktäre“ gezählt.359 Er ist Dichter und Gründer von L’Original, Le Sans le Sou, La Bohême und La Mansarde. Sein Gedichtband Les Chants de la mansarde enthält republikanische Lieder, die den Kampfgeist des Volkes beschwören, Freundschaft, Solidarität, Arbeiterschaft und die Kraft der Musik.360 Morand erörtert, was in Relation zu den Großen weniger problematisch erscheint: Eine Zeitschrift zu gründen, kostet selbst bei petits journaux
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Ebd., S. 3. François Marotin (1997): Les années de formation de Jules Vallès (1845–1867). Histoire d’une génération. Paris: Éditions l’Harmattan, S. 135. Ebd., S. 136. Ebd., S. 124. Thomas Bremer hat Lyriker der 1830er bis 1850er Jahre, darunter Bohème- sowie Arbeiter- und Regionaldichterkreise auf ihre „alternative Öffentlichkeitsstruktur“ untersucht, S. 86f. (2009): „Bohémiens, Goguettiers und Regionaldichter: Gegenöffentlichkeiten in der Lyrik (1830–1850)“. In: Henning Krauß; Heinz Thoma (Hg.): 19. Jahrhundert. Lyrik. Tübingen: Stauffenburg-Verlag, S. 85–130.
176 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Tausend(e) Francs an Druck- und Materialkosten. Nach dem spontanen Einfall folgt die Erkenntnis, kein Geld zu besitzen, weshalb die Gründer in spe den Ausweg ersinnen, ein Journal zu gestalten, das nichts koste: „Alors fondons un journal qui ne coûte rien“, spricht der eine aus, und der andere ergänzt realistischer: „avec presque rien!“361 Arnould und Fontan wählen das Umdruckverfahren (Autographie), um die Material- und Druckkosten möglichst niedrig zu halten. Dabei werden handschriftliche Vorlagen relativ kostengüstig vervielfältigt.362 Das Verfahren nutzen übrigens auch andere Zeitschriften wie La Muselière oder Le Bohémien. Im ersten Schritt ist die Handhabung niedrigschwellig, da Autoren die in dem Fall handschriftliche Druckvorlage selbst herstellen können. Altève Morands Gründungserzählung betont, dass die beiden Dichter nichtsdestotrotz eine Vorlaufzeit benötigten, um einem Lithographen den Druckauftrag zu erteilen, weil auch diese unaufwändige Vervielfältigung von einem bezahlten Drucker vorgenommen werden musste. Da von Le Sans le Sou keine vollständige Ausgabe vorliegt, werden im Folgenden ausgehend von einer Reproduktion der Titelseite einige Beobachtungen angestellt.363
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Ü.: „Dann lass uns eine Zeitung gründen, die nichts kostet“, „mit fast nichts“. Morand: „Histoire des petits journaux“. In: Figaro vom 2. Oktober 1856, S. 3. „[C]’était le premier journal autographié qui fût publié en France“, ebd., S. 4. „Autographié“ bedeutet durch Autographie beziehungsweise im Umdruck hergestellt, im Unterschied zu „typographié“. Eine alternative Bezeichnung ist „journal manuscrit“. Siehe Art.: „petite presse“ In: Larousse (Hg.) (1875): Grand dictionnaire, S. 109. Das Projekt „Médias 19“ erfasst Titel und Akteure der französischen petite presse des 19. Jahrhunderts. Die Titelseite der ersten Ausgabe (Abb. 8) und weitere Exemplare sind hier digitalisiert. URL: http://petitepresse.medias19.org/index.php/titres/fiche/1391 (03.07.2020).
4.2 Alternativen bieten: Die Bohèmepresse im Quartier latin
Abb. 8: Titelseite von Le Sans le Sou, Nr. 1 vom 19. bis 26. November 1854 (© Médias19 / Bibliothèque nationale de France)
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178 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Auf der Titelseite erkennt man das handschriftliche Schriftbild. Morand führt die Produktionsweise der Autographie zwar auf materielle Not zurück, hebt aber gleichzeitig einen Marketingfaktor dieser Selbstgestaltungs-Ästhetik hervor. Autographie sei den Produzenten innovativ vorgekommen, habe daher kurzfristig das Interesse am „Armen Schlucker“ gefördert und sogar zu einem Gestaltungstrend im Quartier latin geführt. Die neue Aufmachung habe die Publikumsneugier in einem Maße gesteigert, das für die marginalen Medienprodukte außergewöhnlich sei. Dass der Titel, dessen Originalität ja gerade durch den Bruch mit den aktuellsten Standardverfahren zustande gekommen sei, neuerdings im typographischen Satz erscheine, habe laut Morand zu seinem Ende geführt.364 In seiner anekdotischen Jahreschronik beschreibt Firmin Maillard das Aussehen geringschätzig als „unlesbar, unsauber, ganz fleckig“365 und bewertet die Herstellungseffekte damit negativ als der Lesbarkeit und dem Erscheinungsbild abträglich. Maillards Interpretation macht ersichtlich, dass Zeitschriften sowohl als Medium mit Informationsgehalten als auch als materielles Statusobjekt angesehen werden. Abgesehen von der Handschrift hat die Titelseite von Le Sans le Sou eine recht konventionelle Struktur. Ihre Aufmachung entspricht dem Muster der literarischen Presse: Sie ist in drei Spalten gesetzt, verfügt über ein abgetrenntes Feuilleton, das im unteren Drittel in zwei Spalten erscheint. Der Kopf beinhaltet einen mittig gesetzten, in einem Rundbogen angeordneten Titel. Hinzu kommen Informationen zu Preisen, zur Periodizität, zu den Verantwortlichen und die Nennung einer großen Spannbreite an Genres oder inhaltlichen Bereichen wie Philosophie, Literatur, Geschichte, Dichtung, Theater, aber auch Naturwissenschaften („Science“), Biographien, Kritiken, Romane und „Revues“, worunter man zum Beispiel Synopsen zum Zeitgeschehen verstehen kann.
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Morand: „Histoire des petits journaux“. In: Figaro vom 2. Oktober 1856, S. 4. Maillard (1857): Histoire anecdotique et critique des 159 journaux, S. 21.
4.2 Alternativen bieten: Die Bohèmepresse im Quartier latin
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Der Aufmacher „Manifeste du Sans le Sou“ ist typisch für die junge Bohèmepresse in ihrem Bestreben den exklusiven Literaturbetrieb anzuklagen und selbst eine Alternative zu schaffen. Den „grands de la littérature“ wird Ignoranz gegenüber den Werken Unbekannter vorgeworfen, weil sie als etablierte Autoren und Personen im Literaturbetrieb die Macht hätten, neuen Autoren zur Publikation zu verhelfen. Aus dem Text spricht als „Wir“ die Gemeinschaft der „pauvres laboureurs des champs de la pensée“ 366 , die zurzeit noch unbekannt seien und demzufolge an Hunger und Kälte litten. Die Argumentation folgt der Feldlogik: nämlich der, dass die Erfolgreichen von heute Vergleichbares wie die Nachfolgenden durchgemacht hätten. Die im Laufe des Textes vehementer werdende Klage richtet sich an „Égoïstes de la pensée“, deren „aveugle despotisme“367 das Feld dominiere und sie mündet in einen kämpferischen Appell an die jungen Gleichgesinnten: A l’œuvre! à l’œuvre jeunesse artistique et littéraire! à l’œuvre jeunesse inconnue et malheureuse! Aux plumes! âmes poétiques qui animez des corps qui végetent! notre journal vous tend les colonnes, c’est le champ hospitalier où les écrivains, les penseurs et les poètes inconnus peuvent jeter les semences de leur génie! A nous bohèmes de la pensée […].368 Ans Werk! Ans Werk, künstlerische und literarische Jugend! Ans Werk, unbekannte und unglückliche Jugend! An die Federn, poetische Seelen, die vegetierende Körper belebt! Unsere Zeitschrift hält euch die Spalten hin, das ist das gastfreundliche Feld, wo die Schriftsteller, die Denker und die unbekannten Dichter die Samen ihres Genies verstreuen können! Auf uns Bohemiens der Gedanken [...].
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Le Sans le Sou vom 19. bis 26. November 1854, Nr. 1, S. 1. Ü.: „Arme Arbeiter der Gedankenfelder“ (Im Frz. bedeutet „laboureur“ bereits Feldarbeiter und „champ“ bedeutet zum einen Feld als konkrete und zum anderen als abstrakte Größe). Ebd. Ebd.
180 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Bohème ist hier eine der Selbstbeschreibungen für die künstlerische und literarische Jugend, denen die Zeitschrift eine Publikationsmöglichkeit bieten möchte. Auf eine alternative, solidarische Praxis deutet eine kurze Notiz im Titelkopf an potenzielle Autoren und Leser hin, die darüber informiert, dass eingereichte Manuskripte zurückgegeben werden. Da oft das Gegenteil praktiziert wird, ist dieses Vorgehen den interessierten Autoren gegenüber respektvoller. Le Sans le Sou teilt mit, die Wertigkeit des vorgelegten Texts anzuerkennen. Damit unterscheidet er sich zum Beispiel von La Presse und dem Figaro, der eine gewisse Zeitlang kühl darauf hinweist, dass nicht gedruckte Manuskripte verbrannt werden: „Les manuscrits non insérés seront brûlés“369. Der Hinweis im Figaro stellt radikal aus, was Pierre Bourdieu als Risiko für die künstlerischen Produkte am autonomen Pol beschrieben hat, nämlich, dass sie, sofern sie keine institutionelle Anerkennung erfahren, langfristig auf ihren materiellen Wert zurückfallen.370 Illustrieren kann man diesen Effekt auch mit einer Szene aus Henry Murgers Scènes de la vie de bohème. Als der Winter zu hart wird, entscheidet der Dichter Rodolphe, sein opulentes Dramenmanuskript namens Vengeur, das er lange erfolglos mit sich herumgetragen hat, zu verheizen. Von dem Manuskript, das den Grundstein für zukünftiges symbolisches Kapital legen sollte, bleibt letzten Endes nur noch ein ‚Papierberg‘, der wegen seiner Fähigkeit zu brennen und demnach zu wärmen einen rein praktischen Nutzen hat: Ce drame, auquel il avait travaillé deux ans, avait été fait, défait, refait tant de fois, que les copies réunies formaient un poids de sept kilogrammes. Rodolphe mit de côté le manuscrit le plus récent et traîna les autres devant la cheminée.371
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Figaro vom 19. Juli 1857, S. 1. Dasselbe liest man auch bei Le Mousquetaire von Alexandre Dumas. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 236. Murger (1971): „Scènes de la vie de bohème“, S. 108.
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Dieses Drama, an dem er zwei Jahre gearbeitet hatte, war hergestellt worden, wieder aufgemacht, neu gemacht so viele Male, dass die gesamten Seiten ein Gewicht von sieben Kilo hatten. Rodolphe legte das neueste Manuskript beiseite und schleppte die anderen vor den Schornstein.
Im Roman vollzieht sich, was das Manuskript betrifft, eine Steigerung, die in einen absoluten Wertverlust mündet: Von einem hohen ideellen Wert, dem Potenzial, das der Autor dem Manuskript zuschreibt, wird ein Papierberg, der wiederum noch einen praktischen Nutzwert hat. Am Ende steht der Ascheberg, der völlig wert- und nutzlos ist und ein Ende aller Hoffnungen und Auswege illustriert. Bei Le Sans le Sou dagegen geht mit dem ungedruckten Manuskript kein vernichtendes Urteil einher. Der Autor kann es woanders probieren und das Material behält sein zukunftsträchtiges Potenzial, irgendwann einmal ein gedruckter Text und damit ein symbolisch anerkanntes Objekt zu sein. Le Sans le Sou ist kurzlebig und gegenwärtig auch nicht mehr einfach zugänglich. Dank seines Feuilletons bekommt es einen besonderen Status für die Subpresse. Er erscheint ein halbes Jahr lang wöchentlich bis zum 13. Mai 1855 in insgesamt 25 Nummern unter dem Chefredakteur Constant Arnould, bevor dieser die Zeitschrift seinem Freund Altève Morand überantwortet, der das Projekt jedoch bald auslaufen lässt.372 Am 16. November 1854 mit 200 Exemplaren gestartet, erreicht es zwischenzeitlich wegen hoher Nachfrage eine Auflage von 1200 Stück.373 Neu gegründete Titel ohne nennenswertes Kapital im Hintergrund können nur dann bestehen, wenn sie beim Publikum rasch Erfolg haben. Unsichere Finanzierung führt zu der Kurzlebigkeit, die die Bohèmepresse ausmacht. Zum Teil ist sie sogar sporadisch und widerspricht dem festen Rhythmus der periodischen Presse, was Brocard de Meuvys Organ La
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Ebd. Morand: „Histoire des petits journaux“. In: Figaro vom 2. Oktober 1856, S. 4.
182 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Balançoire pour tous von 1856 illustriert. Im Titelzusatz heißt es „paraissant et disparaissant à volonté“374. Dass die Zeitschriften unregelmäßig erscheinen, ist typisch für die Bohèmepresse, wenn auch nicht exklusiv für die Jahrhundertmitte. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Pariser Bohème ihr Quartier in Montparnasse bezogen hat, trägt die lokale Zeitschrift La Vache enragée die Titelzusätze „Organe officiel de la Bohême de Montmartre“ sowie „journal intermittent paraissant quand il y a de l’argent“375. Léo Lespèsʼ Satire „Wie kleine Zeitungen geboren werden und sterben“376 karikiert die Bestrebungen dieser petite presse und ihrer Macher. Am Beispiel der erfundenen Indiscret verspottet er die nach kurzer Dauer mangels Abonnenten oder Lesern eingestellten Zeitschriften. Unter anderem stellt Lespès an dem genannten Beispiel eine beliebte zeitgenössische Form der Namensgebung heraus, welche sich oft auf den Personenkreis selbst oder auf ein Anliegen bezieht, das die Zeitschrift voranbringen möchte. In dem Sinne trägt auch Le Sans le Sou einen Titel, der das Medium nah ans soziale Umfeld und die Interessen der Produzenten anlehnt, eine Praxis, die Lespès in allgemeiner Form auf den Punkt bringt: „Un humanitaire veut qu’on le nomme l’Avenir. Un musicien, l’Harmonie. Un latiniste, le Palladium.“377 Viele Beispiele aus dem Quartier latin verdeutlichen diesen Selbstbezug durch ihre Titel und den Kopf der ersten Seite. Altève Morand widmet Le Sans le Sou und anderen die Porträtserie „Histoire des petits journaux. Les feuilles mortes. 1855–1856“, die im Figaro erscheint. 374
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„nach Belieben auftauchend und verschwindend“. Firmin Maillard (1874): Les derniers bohêmes. Henri Murger et son temps. Paris: Sartorius, S. 99. Ü.: „intermittierendes Journal, das immer dann erscheint, wenn Geld da ist“. „La vache enragée“ ist ein geflügeltes Wort für Armut. „Manger de la vache enragée“ bedeutet scherzhaft, umgangssprachlich „Am Hungertuch nagen“. Alfred Delvau (1866a): Dictionnaire de la langue verte. Argots parisiens comparés. Paris: E. Dentu, S. 236. Léo Lespès: „Comment naissent et meurent les petits journaux“. In: Figaro vom 23. September 1855, S. 2‒5. Ü.: „Ein Menschenfreundlicher möchte, dass man sie [die Zeitschrift, N.P.] Die Zukunft nennt. Ein Musiker, Die Harmonie. Ein Latinist, Das Palladium.“ Ebd.
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Dass die einen Zeitschriften andere porträtieren, deren Geschichten erzählen oder Personalia vermelden, ist keine Ausnahme. Selbstbezüglich sind sie nicht nur dadurch, dass sie ihr Personal und ihre Position darlegen, sondern auch dadurch, dass sie sich auf das gemeinsame Medienformat beziehen. Viele Periodika informieren über Gründungen, Personalfragen, sie verbreiten informelles Wissen und kommentieren Texte aus anderen Zeitungen. In Artikeln, wie denen Altève Morands, offenbart sich ein engmaschiges Netz an Mitwirkenden. Morand, der Gründer und Redakteur vieler kleinerer Blätter, schreibt über diese im Figaro, einer Zeitschrift, die weiter verbreitet ist als andere Produktionen und eine gewisse Popularität besitzt. Morands Artikelserie bietet mehr oder minder ausführliche Geschichten, die in eine Erzählung vom Aufstand der „parias“ eingebettet ist, also einer von der etablierten Presse ausgeschlossenen Jugend. Morand verbindet den informativen Anspruch und authentische Einblicke in einer Erzählung. Am Beispiel des Sans le Sou zeigen das Zwischenüberschriften wie „Comment le Sans le Sou fut fondé“378, die Einblicke in die Entstehung der Zeitschrift versprechen; andere wie „Grandeur et Décadence du Sans le Sou“ zitieren ein geflügeltes Wort und ironisieren eine für Legenden typische Entwicklung von Aufstieg und Fall. Morands Schilderung des Sans le Sou ist chronologisch aufgebaut, es ist eine kurzfristige Erfolgsgeschichte, die von der Gründungsidee bis zum Ende reicht. Was die Geschichte trägt, sind Hintergründe über die Verantwortlichen, die Arbeitsstätte und Interpretationen zum relativen Erfolg der Zeitschrift beim Publikum. Ein Indikator für den Erfolg ist, dass sie von der etablierten, politischen und literarischen Tagespresse wie dem Charivari oder Le Siècle rezipiert wird. Dass der Figaro die Bohèmepresse des Quartier latin vorstellt, zeugt davon, dass sich die Kulturzeitschriften für Submilieus interessieren. 378
Ü.: „Wie der Arme Schlucker gegründet wurde“. Morand: „Histoire des petits journaux“. In: Figaro vom 2. Oktober 1856, S. 2.
184 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Privaträume als Produktionsstätten der petite presse Altève Morand hat in der Gründungserzählung von Le Sans le Sou den jungen Dichtern zugeschrieben, dass sie so etwas wie eine ausgefallene Produktionsweise durchaus als Marktwert begreifen können. Etwas Vergleichbares konstatiert er für den Ort, indem er eine strategische Überlegung der Produzenten zur Ortswahl nacherzählt: On avait songé un moment à les [les bureaux, N.P.] établir sur les buttes Montmartre, dans une cabane de Bohémiens; l’idée était excellente, et Paris, alléché par l’excentricité, fût venu visiter ces étranges bureaux.379 Man hatte einen Moment daran gedacht, es [das Redaktionsbüro, N.P.] auf dem Hügel Montmartre zu errichten, in einer BohémienHütte; die Idee war exzellent, und Paris, angelockt von der Exzentrik, wäre diese merkwürdigen Räume besuchen gekommen.
Ein aufregender Produktionsort trägt demnach ebenso wie die Erscheinungsform des Mediums selbst zur Bekanntmachung der Zeitschrift bei, er kann Reklamefaktor sein.380 Sowohl die geographische Lage als auch die Stätten, an denen die Zeitungen hergestellt werden, beschäftigen die Betrachter. Tatsächlich arbeiten die Macher des Sans le Sou in einem privaten Raum, was neben Cafés eine gängige Arbeitsstätte der finanzschwachen Bohème ist. Der Privatraum, den Altève Morand in seiner Gründungsgeschichte des Le Sans le Sou beschreibt, ist das Zimmer Constant Arnoulds. Ihn hat auch der Graveur und Zeichner Léopold Flameng in einer Graphik ins Bild gesetzt. Flamengs Interpretation einer Redaktionsszene ist gemeinsam mit dem Aufsatz über die Geschichte der kleinen Zeitschriften der 379 380
Ebd., S. 3. Vgl. zur Anziehungskraft bohemischer Lokale auf die Bourgeoisie innerhalb der Kabarettkultur des Fin de Siècle: Françoise Dubor (2004): L’Art de parler pour ne rien dire. Le monologue fumiste fin de siècle. Rennes: Presses Universitaires de Rennes, S. 39f.
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1850er Jahre von Firmin Maillards „Le petit journal. Histoire de dix ans“381 im künstlerisch-literarischen Sammelband Paris qui s’en va, Paris qui vient von 1860 abgedruckt.382 Er widmet sich angesichts der Modernisierung und Umgestaltung von Paris durch die Haussmannisierung bestimmten typischen Eindrücken, Szenen und Orten aus dem Großstadtleben, so auch der petite presse. Flameng war laut einem Erklärungstext am Anfang der Serie Ideengeber für den Band, den er mit zahlreichen Zeichnungen und Gravuren bestückt hat. Léopold Flamengs Graphik setzt den Wohn- als Redaktionsraum ins Bild, der im Untertitel inklusive der Adresse „Bureau du Journal Le Sans-lesou (impasse Clopin)“ genannt wird. Dass es sich weder um eine Mansarde noch um einen Dachboden handelt, sieht man an der rechteckigen Form des Raumes, dem außerdem die für Mansarden oder Dachböden (greniers) typischen Dachgiebel und Balken fehlen. 383 Somit stellt der Raum kein bohèmetypisches Zimmer dar, das sonst oft als Lebensmittelpunkt dargestellt wird, aber es ist wie ein solches eingerichtet, wirkt klein und spärlich. Vielleicht handelt es sich um ein Zimmer in einem Hotel garni, in dem viele Bohemiens zeitweilig wohnten.
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Der Beitrag erschien zuerst im Figaro. Firmin Maillard: „701 journaux“. In: Figaro vom 27. Januar 1859, S. 5. Ü.: „Paris, das kommt und Paris, das geht“. Verschiedene (1860): Paris qui s’en va et Paris qui vient. Publication artistique. Dessinée et gravée par Léopold Flameng. 24 Ausgaben von 1859‒1860, Nr. 23, Bd. 1. Paris: Alfred Cadart. Vgl. zu dichterischen Räumen wie der mansarde und dem grenier: L. Cassandra Hamrick: „Künstler, Dichter und der urbane Raum im Paris des 19. Jahrhunderts“. In: Hülk; Schuhen (Hg.) (2012): Haussmann und die Folgen, S. 29‒52.
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Abb. 9: Léopold Flameng: „Bureau du journal Le Sans le Sou (impasse Clopin)“ (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Mansarden und Dichterräume sind gängige Kulissen der Künstlerinszenierung des 19. Jahrhunderts nicht nur in Frankreich. Man denke an Carl Spitzwegs Der arme Poet von 1839 oder an Honoré Daumiers zeichnerisches Pendant eines armen Dichters von 1847, der allein in einer schäbigen Dachwohnung im Bett sitzt und sich vor dem Regen, der durch das Dach tropft, mit einem Schirm schützt. Daumiers Bild gehört zur Serie Locataires et Proprietaires und enthält den anklagenden Kommentar „Brigand de proprietaire“, was so viel wie „Betrüger von einem (Haus)besitzer“ bedeutet. Flameng interpretiert die Künstlerwohnung Arnoulds, das Wohn- und Schlafzimmer des Redakteurs, als gemeinschaftlichen Arbeits- und Denkraum und weicht damit vom gängigen Bild des einsamen, konzentrierten,
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manchmal auch verzweifelten Dichters oder Künstlers in seiner Mansarde ab. Gemeinschaftliche Produktion, wie er sie darstellt, ist im Künstlerbild des 19. Jahrhunderts eher ein seltenes Sujet. Die Szene zeigt einen ungewöhnlichen Arbeitsraum, der im Zeichen des gemeinsamen, produktiven Wirkens der Bohème steht. Eher als Dichter werden Maler bei ihrer Tätigkeit in Gesellschaft zum Beispiel von Kollegen, Kunden oder Musen gezeichnet.384 Der Dichter oder Denker als Inbegriff und Ideal des autonomen Schöpfers erscheint sonst vorwiegend einsam im Bild, weil der Schaffensprozess eben jenseits von Interaktion oder Ablenkung verortet wird. Solch einen Rückzug des Einzelnen zeigt dieses Bild nicht, sondern eine Gruppe im intimen Innenraum. Frontal blickt die Betrachterin oder der Betrachter der Graphik in einen Wohraum hinein, der ähnlich wie ein Szenenbild auf der Bühne sechs Männer konzentriert arbeitend zeigt. Die Kulisse bildet ein schmales, karg möbliertes Zimmer mit einem Bett als Blickfang, in dem ein Mann etwas aufgerichtet liegt und damit den Blick des Betrachters auf sich zieht. Er wirkt durch den Bart und die Lage im Bett älter als die anderen und sticht heraus, da er und seine Kleidung heller gezeichnet sind, ebenso das Laken, das ihn teilweise bedeckt. Dasselbe gilt für die dekorierte Wand, die vom Betrachter oder der Betrachterin der Graphik aus im Hintergrund liegt. Weitere fünf Männer sitzen oder stehen um das Bett herum oder sind daran angelehnt. Sie hören, teils rauchend, dem Mann rechts im Bild zu, der einen Text vorliest. Bereits die Einrichtung zeigt, da nicht einmal alle einen Sitzplatz haben und es keinen Tisch gibt, dass dies kein klassischer Arbeitsraum ist. Dennoch sieht man die Männer arbeiten: Ihre Körperhaltungen und Gestik, zum Beispiel die Zeichnung der Hände, untermalen die Denkerposen und signalisieren aktives Zuhören. Lesen, Zuhören und Denken werden als kommunikative, intellektuelle Handlungen ins Bild gesetzt. Die Szene stellt einen konzentrierten Moment der Betei384
Siehe z.B. die Abbildungen in Bodo von Dewitz (Hg.) (2010): La Bohème. Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen: Steidl.
188 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin ligten dar, zwei der Sitzenden kehren den Betrachtenden sogar den Rücken zu. Dadurch, sowie durch den geschlossenen Raum, den auf jeder Seite des Bildes sichtbar eine Wand begrenzt, und die Nähe der Männer zueinander wird eine abgeschlossene Atmosphäre betont. In der Raumausstattung sind viele Details zu erkennen. Außer Sitz- und Liegegelegenheiten gibt es keine Möbel und keinen Stauraum. An der hinteren Zimmerwand hängen Utensilien, die den Raum zusätzlich als Künstlerraum markieren. Auf der Wand stehen Texte in Form von Leitsprüchen und künstlerisches Material wie Malkasten und Bilderrahmen sind dort aufgehängt, was darauf hindeutet, dass neben der literarischen Arbeit auch in anderer Form kreativ gearbeitet wird. Dass die Bilderrahmen schief hängen, wirkt ostentativ chaotisch. Elemente wie ein Totenschädel geben der Szene einen morbiden Anstrich. Der Gesamteindruck ist belebt und geordnet ungeordnet, denn Details bleiben trotz der Fülle des Wandbehangs erkennbar. Im Vordergrund rechts ist ein kleiner Hund zu sehen; ein Tier, das in der Kunstgeschichte als Symbol für Treue gilt. Eine weitere mögliche Assoziation, die zur Kargheit der Stube und den intellektuellen Posen passen würde ist, dass der Hund auf den Griechen Diogenes und den Kreis der Kyniker verweist (nach kyon: Hund). Sie haben sich der Bedürfnislosigkeit verschrieben, da ihrer Ethik nach materielle Güter nicht zum menschlichen Glück beitragen. Diogenes ist im Bohèmeumfeld jedenfalls eine wiederkehrende Vorbildfigur, was verschiedene Zeitschriften demonstrieren.385 Er bietet sich als Vorbild an, weil sich in den Anekdoten, die sich um sein Leben ranken, viele positive Stereotype niederschlagen. Er lebt einen unabhängigen Lebensstil und widersteht der Einflussnahme der Macht und des Geldes und diese Askese ist es auch, die der idealisierten Enthaltsamkeit entspricht, die die prekäre Bohème teilweise mit ihrer Not verbindet. 385
Die Titelgraphik der „feuille historique, philosophique et littéraire“ namens Diogène von 1828 zeigt einen Mann, der neben einer Tonne, dem bekanntesten Symbol des antiken Philosophen Diogenes, hockt. Auch in den 1850er und 1860er Jahren gibt es in Paris mehrere Zeitschriften namens Diogène.
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In Flamengs Graphik stellen Raum und Personen einen stimmigen Gesamteindruck her. In den Mansarden, Dachstuben und Cafés der armen Künstler sind Leben und Arbeit verbunden. Raumgestalt und Personen korrespondieren mit dem prekären Künstlerhabitus, dessen Utensilien, Unordnung und Konzentration, Kargheit und produktive Arbeit. Auf der einen Seite hat die lockere Zusammenkunft durch den im Bett liegenden Mann etwas Intimes und widerspricht Vorstellungen von arbeitsamen, öffentlichen Redaktionsräumen. In sie kann jederzeit – so beschreiben Presseromane wie Honoré de Balzacs Illusions perdues (1837 bis 1843) schon für eine frühere Zeit ab Anfang der 1820er Jahre diese Orte – ein Kunde, ein Abonnent oder ein Bewerber und somit ein Fremder eintreten. Dass das auch für den Wohnraum gelten kann, macht Morands Sans-le-SouPorträt klar, das von einem Besucher erzählt, den gerade der „aspect des pittoresques bureaux du Sans le Sou“386 überraschte. Während Redaktionsräume, insbesondere die zentral gelegenen der großen Zeitungen, Anlaufstellen und Orte der Begegnung sind, findet in der Künstlerstube ein intimes produktives Geschehen statt, das zunächst nur potenziell auf Veröffentlichung hin angelegt ist. Diese Dichotomie spiegelt sich in dem Abgebildeten, weil der Wohnraum in diesem Fall als „Büro der Zeitschrift“ ausgewiesen ist und damit sogar als gemeinschaftliche Produktionsstätte benannt ist. Natürlich kann darin auch etwas Ironie mitschwingen, weil der Ort möglicherweise mit verbreiteten Erwartungen an offizielle Arbeitsstätten bricht. Was er in jedem Fall sichtbar macht, ist, dass der Raum Teil des ‚kreativen Prozesses‘387 ist, weil darin gedacht und produziert wird, da er diese konzentrierte Arbeit zulässt. Dass man derlei Einblicke gewährt bekommt, befriedigt die Neugier, die die Produktionsstätten bei Außenstehenden wecken. Offen lässt das Bild, inwieweit es erst der Blick auf das Geschehen ist, der dem ganzen Ge386
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Ü.: „Aussehen der pittoresken Büros des Sans le Sou“. Morand: „Histoire des petits journaux“. In: Figaro, vom 2. Oktober 1856, S. 4. Fritz Paul sieht ein Desiderat darin, die „kreativen Prozesse“ in der Bohème zu erforschen. (1999): „Die Boheme als subkultureller ‚Salon‘“, S. 313.
190 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin wicht verleiht. An der kurzlebigen Zeitschrift Sans le Sou lässt sich aber sehr gut zeigen, wie alternative, mit der Bohème konnotierte Projekte Aufmerksamkeit erregen. Vor allem die anekdotische Geschichtsschreibung rühmt das Projekt, das alternative Maßstäbe setzt, und erhebt dessen skurrile, abweichende Aspekte zum Marktkriterium. Le Sans le Sou zeigt, wie Autoren mit niedrigem finanziellen Aufwand eigene Projekte auf die Beine stellen. Der Titel gilt als Initialzündung für eine Bewegung, weil er mit der günstigen Druckweise vorlebt, wie sich die jungen, mittellosen Kreativen von den Konventionen abweichend medial präsentieren können. Le Sans le Sou zeigt auch, dass das Kuriose als Marktwert in der Bohème gilt. Zudem transportiert Morand als Beteiligter und Kritiker, wie ihre Akteure, die in mehr oder weniger beachteten Organen schreiben, an der Mythisierung dieses esprits mitwirken.
4.2.2 Zeitschriftenstaffeln von Le Sans le Sou bis Triboulet Bemerkenswert an der jungen Bohèmepresse ist, wie eng verschiedene Projekte und Personen miteinander verknüpft sind. Das zeigt sich an Sans le Sou, an den sich eine Reihe von Titeln anschließen. Aus Sans le Sou wird La Mansarde und L’Appel, aus letzterem wiederum Triboulet, daraus Triboulet-Diogène, dann Diogène und letztlich Rabelais in einer Spanne von rund drei Jahren. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür, dass Titel aufrechterhalten oder dieselbe beziehungsweise eine ähnliche Gruppe ein gemeinsames, neues Zeitungsprojekt startet. Beibehaltene Namen haben einen Wiedererkennungswert, während sich ein neuer Titel anbietet, wenn das vergangene Projekt erfolglos war. Er kann auch nötig werden, wenn ein Organ von der Zensur unterdrückt wurde. Folgende Ankündigung aus einer Pressechronik zitiert eine Erklärung des Triboulet, als er in Rabelais übergeht:
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Abb. 10: Ankündigung von Rabelais, dem Nachfolgetitel von Triboulet (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Übersetzt steht dort (siehe Text von Abbildung 10): „Als Folge von Umständen, über die aufzuklären für unsere Leser nutzlos ist, nimmt unsere Zeitschrift, die sich zuerst Triboulet, dann Triboulet-Diogène genannt hat, ab heute und um ihn niemals mehr zu lassen, den Titel Rabelais an.“388 Triboulet endet wegen einer rechtlichen Auseinandersetzung mit einer Schauspielerin, die das Blatt wegen Diffamierung angezeigt hatte, nach nur zwei Nummern, doch der Titel wird nicht aufgegeben.389 1857 erscheint Triboulet unter dem „propriétaire-administraire“ Armand Sédixier, so das Pseudonym des Grafen Joseph Bossi Federigotti, der den Diogène kauft, welcher von Étienne Carjat, Amédée Rolland (1829– 1868) und Charles Bataille 1856 gegründet wurde, die später allesamt Mitarbeiter beziehungsweise mit Carjat Gründer von Le Boulevard (1861‒1863) waren. Zusammen mit Alexandre Pothey (1820–1897) erscheint im Mai 1857 für ein paar Nummern Triboulet-Diogène, bevor Sédixier anschließend Rabelais daraus macht, der vom 16. Mai 1857 bis zum 4. November 1857 in 70 Nummern unter dem Chefredakteur Alfred Delvau erscheint.390 Diese Reihe macht deutlich, wie hoch die Projektdichte ist und dass die Mitwirkenden stark vernetzt sind. Der Markt der
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Maillard (1859): Histoire anecdotique et critique de la presse parisienne, 2e et 3e années, 1857 et 1858. Revue des journaux de l’année. Paris: Poulet-Malassis et de Broise, S. 57. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1118. Journal illustré. Quartformat. Mittwochs und samstags für 20 Franc pro Jahr.
192 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin kleinen Zeitschriften ist ein dynamisches Feld, das die Bemühungen zeigt, die Publikation eigener Ideen und Texte zu gewährleisten. Vorteil dieses Vorgehens, auslaufende Projekte zu übernehmen, ist, dass man auf eine Infrastruktur von Autoren und Autorinnen, Leserinnen und Lesern, womöglich sogar Abonnements zurückgreifen kann. Auch deutlich wird, dass während die Zeitschriften fluktuieren, die meisten Beteiligten langfristig und auch parallel in verschiedenen Projekten aktiv sind. Obwohl viele einzelne Blätter kurzlebig sind, bringen manche Personen und Gruppen zusammen über Jahre hinweg Zeitschriften hervor, die in irgendeiner Form aneinander anknüpfen. Medienmachen und Mediengestalten sind also konstante Anliegen der literarischen Bohème. Es liegt demnach nahe, dass Geschichten über Gründungen und Untergang beliebte Themen der medialen Selbstdarstellung sind. Wie konkret Übergänge von einem zum anderen Titel dargeboten werden, veranschaulicht ein Blick auf Sans le Sou. Die Zeitschrift La Mansarde stellt sich wörtlich in dessen Nachfolge und behauptet sogar, „nichts anderes als Sans-le-Sou“ zu sein. Ferner charakterisiert der frühere Chefredakteur und Dichter Constant Arnould das Anliegen des ebenfalls autographisch hergestellten, literarischen Journals La Mansarde so: La Mansarde n’est rien autre que le Sans-le-Sou, c’est-à-dire qu’elle doit continuer l’œuvre par lui commencée: ouvrir le chemin de la publicité à tous les jeunes écrivains en dédaignant la cabale, les intérêts premiers et la flatterie; tendre la main à la Poésie, cette fille du Ciel que l’on voudrait exiler la Terre; dire ce que l’on pense et doit dire sans s’occuper si l’on ne va pas déplaire à quelques abonnés et les perdre […].391 Die Mansarde ist nichts anderes als Der Arme Schlucker, das heißt, dass sie das Werk fortsetzen soll, das von ihm begonnen wurde: all jenen jungen Schriftstellern den Weg an die Öffentlich-
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Constant Arnould: „Notre raison d’être“. In: La Mansarde vom 24. Februar 1856, zit. n. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1409.
4.3 L’Appel (1855) – Ein Aufstand der kreativen Jugend
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keit zu eröffnen, die die Intrige, die vorrangigen Interessen und die Schmeichlerei verachten, der Poesie, dieser Tochter des Himmels, die man gerne von der Erde vertreiben würde, die Hand reichen; sagen, was man denkt und was man sagen muss, ohne sich darum zu kümmern, ob man manchen Abonnenten nicht gefallen und sie verlieren werde […].
Aufgabe der Zeitschriften ist es demnach, Publizität für einen gewissen Kreis zu ermöglichen. Arnould nennt „Die Mansarde“ ein unkorrumpierbares Forum der Dichtung für die Jugend, in dem freie Rede, unabhängige Kritik ermöglicht und Autonomie von kommerziellen und persönlichen Interessen herrsche. La Mansarde erscheint nicht einmal zwei Monate lang wöchentlich. In einer ebenso pathetischen wie kämpferischen Ansprache am Ende der anzitierten Selbsterklärung heißt es: „À nous jeunesse littéraire et oublié, à nous parias de la pensée et de la poésie! Reprenez le fouet de la satire, les grelots de Momus et la lyre d’Orphée: En avant!!“392 Das Jugendthema verbindet viele Zeitschriften dieser Zeit, weshalb ihm ein eigener Abschnitt in dem nachfolgenden LʼAppel-Kapitel gewidmet wird.
4.3 L’Appel (1855) – Ein Aufstand der kreativen Jugend L’Appel ist der zweite, an seiner Dauer gemessen erfolgreichere Nachfolger von Le Sans le Sou, den der Journalist Altève Morand Mitte 1855 ins Leben ruft, nachdem er Sans le Sou übergangsweise ein paar Nummern geleitet und am 13. Mai daraus das neue Projekt L’Appel gemacht hat. Morand ist das Pseudonym von Altève Aumont, einem jungen Mann, der „immer dabei war eine Zeitung zu gründen oder ein Geschäft zu lancie-
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Ü.: „Auf uns, literarische und vergessene Jugend, auf uns, Parias der Gedanken und der Poesie! Nehmt die Peitsche der Satire wieder auf, die Schellen des Momos und Orpheusʼ Leier: Vorwärts!!“ Ebd.
194 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin ren“393. Er wirkt in zahlreichen Projekten wie L’Appel, Le Triboulet394 und Le Journal de Plaisir mit und bringt nach seiner Migration nach Brasilien, wo er Anfang der 1860er Jahre jung stirbt, L’Écho du Brésil heraus. Auch LʼAppel bedient sich einer bestimmten Strategie der jungen Subpresse. Die wöchentlich sonntags erscheinende Pariser Zeitschrift L’Appel trägt den Titelzusatz „Ancien Sans le Sou“ – „Ehemaliger Sans le Sou“. Dadurch, dass sie die Nummerierung des Vorgängers fortführt, kann L’Appel im zweiten Jahrgang bereits mit Ausgabe Nummer 26 starten. Der Pressechronist Firmin Maillard kommentiert derlei Verfahren als übliche Strategie von Zeitungsmachern, um Beständigkeit zu fingieren. Neue Periodika würden vorzugsweise im Dezember gegründet, um bereits nach kurzer Erscheinungsdauer „2. Jahrgang“ auf das Titelblatt schreiben zu können.395 Eine solche Strategie zeigt, dass im Medienfeld Dauer(haftigkeit) als Faktor angenommen wird, der ein Publikum von der Qualität eines Mediums zu überzeugen vermag. Nachfolgend wird L’Appel ausführlicher analysiert, da die Zeitschrift als Beispiel für die petite presse im Quartier dienen kann, die den virulenten Jugenddiskurs mitprägt und deren Medienpraxis typische Ambivalenzen kennzeichnen.
4.3.1 Programm und Leitbild: Ein offenes Forum der Jugend L’Appel hat seine Redaktion zunächst auf der Rive gauche in Saint-Germain. Die Büros in der Rue de l’École de Médecine sind täglich bis 17 Uhr geöffnet und dienen somit als Anlaufstelle für Interessierte. Eine konstante Gruppe von Redakteuren und zwar Altève Morand, Eugène Muller, Régulus Fleury, Alfred Audiffred, Alfred Deberle und François 393
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„toujours en train de fonder un journal ou de lancer une affaire“. Maillard (1874): Les derniers bohêmes, S. 244. 1857 gründet er mit der finanziellen Unterstützung des Grafen Federigotti einen neuen Triboulet, der mit bis zu 4000 Exemplaren recht erfolgreich war. Ego [Pseudonym] (1861): Bouis-Bouis, bastringues et caboulots de Paris. Paris: Chez P. Tralin, S. 140. Laut Maillard (1857): Histoire anecdotique et critique des 159 journaux, S. 5.
4.3 L’Appel (1855) – Ein Aufstand der kreativen Jugend
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Barrillot bestücken die meinungsleitenden Rubriken und besetzen Schlüsselpositionen wie Leitartikel und Kritik. L’Appel bedeutet „Aufruf“ und steht für Selbstbeschreibungen einer jungen Generation, die gegen den Ausschluss von etablierten Medien opponiert und dazu Alternativen schafft. LʼAppel, „journal littéraire, artistique et scientifique“, ist mit 750 bis 1000 Exemplaren und 200 bis 400 Abonnenten ein durchschnittliches petit journal. Es bringt Erstveröffentlichungen, vor allem Lyrik, Erzählungen und Kurzprosa, Neuigkeiten und chroniques, redaktionelle und programmatische Selbstdarstellungen, wissenschaftliche Abhandlungen, Rezensionen von Neuerscheinungen sowie Leserbriefe heraus. Die Zeitschrift treibt eine wichtige Mission voran, die sie mit anderen Außenseitermedien teilt, nämlich ein Forum für die marginalisierte Jugend zu sein. Altève Morand beschreibt in seiner Porträtserie eine „Demarkationslinie“ zwischen den Jungen der Rive gauche und den Alten der Rive droite, womit er sozusagen eine geographische Linie zieht, die kulturelle Wertungen einschließt. Während Titel, die am großen Boulevard angesiedelt und wie der Figaro auch unmittelbar auf diesen Raum bezogen sind, mit der Rive droite assoziiert werden, verbindet Morand die Rive gauche mit dem Geist und der Kreativität der Jungen. Der Jugenddiskurs ist prägend und wichtig für die Identifikation der kleinen Zeitschriften in den 1850er Jahren. Jugend versus Alter ist eine mit Auf- und Abwertung besetzte Dichotomie. Jugend wird in verschiedenen neuen petits journaux mit Innovationskraft verbunden und steht als Hochwertbegriff entgegen der Borniertheit und dem Elitarismus der etablierten Entscheider. Morand schreibt den aufflammenden petit journalisme der Jahre 1855 und 1856 den Jüngeren aus dem Quartier latin zu, wohingegen er den gesetzteren Zeitschriftenproduzenten auf der rechten Seite der Seine einen Mangel an „spontanéité“, „naïveté“ und „enthousiasme“ 396 zuschreibt.
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Ebd.
196 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Im Leitartikel der Eröffnungsnummer namens „Appel“397 umreißt Morand das Programm. Die Zeitschrift richtet sich an die talentierte Jugend, die keinerlei Anerkennung im öffentlichen Leben erhalte: „Nous voulons donner, autant qu’il sera en notre pouvoir, la gloire et la publicité à ceux qui ont un talent réel et qui sont déshérités de gloire et de publicité.“398 Die Herausgeber haben eine Schlüsselposition, weil sie Autorinnen und Autoren einen Platz einräumen, die weder Ruhm noch Öffentlichkeit genießen. Eine Anrede konkretisiert diese Gruppe als „amis de collège, d’école ou d’atelier, frères de tout pays, de tout rang, de tout fortune“399. Appel enthält teils wiederkehrende Erklärungen und ideologische Äußerungen, der Ton ist politisiert. Zum Feindbild gehören etablierte Medien und ihre Vertreter, zu Unrecht berühmte Autoren und die ‚industrielle‘ Literatur. Zusammen mit der Selbstbeschreibung setzt die Redaktion zahlreiche, teils plakativ Werte ein wie das Wahre, Gute und Schöne ebenso wie Fortschritt für die Menschheit. Einer der wichtigsten Begriffe aber ist Jugend, der mit einer Reihe von positiven Zuschreibungen wie Ernsthaftigkeit und Enthusiasmus, Zukunft, Energie und Elan bedacht wird. Die Redakteure positionieren sich und ihre Adressaten als marginalisierte, kreative Jugend400 und beschreiben sich als Teil von „inconnus, les prolétaires de la presse, et les parvenus, les brocanteurs littéraires“401
397 398
399
400
401
Altève Morand: „Appel“. In: L’Appel, Nr. 26 vom 13. Mai 1855, S. 1f. Ebd. Ü.: „Wir wollen, soweit es in unserer Macht steht, denen Ruhm und Öffentlichkeit zukommen lassen, die wirkliches Talent haben, aber an Ruhm und öffentlicher Aufmerksamkeit benachteiligt sind.“ Ü.: „Freunde vom Collège, von der Schule, aus den Ateliers, Brüder aller Länder, aller Ränge, aller Vermögen“. Fleury: „Les grands Hommes de l’Avenir. Appel à tous“. In: L’Appel, Nr. 41 vom 26. August 1855, S. 122f. Hinweis zur Seitenzählung bei LʼAppel: In den frühen Ausgaben mit acht Seiten Umfang werden die Seitenzahlen wie für Zeitschriften typisch über die einzelnen Nummern hinweg durchnummeriert. In einer Serie namens „La Jeunesse“ beschäftigt sich der Autor Louis Cullerier mit dieser besonderen Lebensphase. L’Appel, Nr. 35 vom 15. Juli 1855, S. S. 77‒79. Ü.: „unter uns die Unbekannten, die Proletarier der Presse und die Parvenus, die literarischen Trödler“. Eugène Muller: „Causerie“. In: L’Appel, 2. Jg., Nr. 48 vom 14. Oktober 1855, S. 1f., hier S. 1.
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oder als „literarische Journalisten“402, die erst für ihr Ansehen kämpfen müssen. L’Appel zeigt die Ambivalenzen der marginalen Medienakteure und wirkt fast dogmatisch in der Weise, wie sich die redaktionellen Texte von den etablierten Personen und Medien abgrenzen. Die programmatische Selbstdarstellung gibt dem Kollektiv viel Raum, das durch wiederholte pathetische Losungen eine Generation in gemeinsamer Lage mobilisiert. Ausgeschlossene, produktive Künstler und Literaten, die sich kritisch gegen das Establishment in Literatur- und Medieninstitutionen auflehnen, lassen sich der Bohème zurechnen. Doch beschreiben sich die Autoren und Redakteure selten wörtlich als Bohème. Als zentrales Fahnenwort dient Jugend, gekoppelt mit Fortschritt. Die Ausrichtung der Zeitschrift ist literarisch, kritisch und sie ist politisch in ihrem Anspruch, Partei für die Gruppe der marginalen jungen Dichter zu ergreifen und deren Interessen öffentlich zu artikulieren. Zeitschriften wie L’Appel bringen einen Generationenkonflikt zwischen den etablierten Entscheidungsträgern und den nachkommenden Außenseitern zum Ausdruck. „A la jeunesse!“403 richten sich viele Pamphlete, Programme und Selbstaussagen in den Zeitschriften. Jugend vereint als Schlagwort die oppositionellen Positionen derer, die nach Alternativen zu kommerziellen und elitären Blättern suchen. Es kommen in den Zeitschriften keine aus heutiger Sicht Jugendthemen im eigentlichen Sinne vor, stattdessen ist Jugend das Statusmerkmal der Beteiligten, die einen Zugang zum intellektuellen Feld suchen. Von den Wirkungsräumen der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, ist ein wesentlicher Aufhänger des Protests und schon der Gründungsakt kann in einer repressiven Zeit als
402
403
„nous autres, journalistes littéraires“. Eugène Muller: „Causerie“. In: L’Appel, 2. Jg., Nr. 53 vom 18. November 1855, S. 1f. Régulus Fleury; Alfred Deberle: „A la jeunesse!“. In: Le Réveil, Nr. 1 vom 11. Mai 1856, S. 1; Barrillot: „A la jeunesse“. In: Triboulet, 5. Jg., 3. Reihe, Nr. 1 vom 2. Juni 1861, S. 1. Der zu dem Zeitpunkt bereits Anfang 40-jährige Barrillot taucht als Chefredakteur als einziger namentlich auf dem Titelblatt auf. Er nennt sich dort „bouffon sérieux“ („ernster Narr“) und ruft die Jungen auf, bei der „jeune presse“ mitzumachen.
198 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Botschaft gelesen werden: „Tout éphémères qu’ils soient, [les journaux, N.P.] expriment la volonté de ranimer la flamme, de rassembler les courages, de regrouper la jeune bohème et de lui donner un drapeau.“404 Die jungen Autorinnen und Autoren suchen nach Wirkung und Entfaltungsraum und wenden sich gegen die elitären Netzwerke der großen Revuen und Tageszeitungen. Sie sind als kritische Stimme gegenüber den amoralischen Auswüchsen des Literaturbetriebs eng auf diesen bezogen. Was sie demgegenüber bieten ist ein Platz für Abweichungen oder Experimente und nicht zuletzt für die eigene Darstellung in der Öffentlichkeit, zum Beispiel in Texten, die die Lebenswirklichkeit der literarisch-künstlerischen Bohème darstellen oder Hemmnisse im Literaturbetrieb skizzieren. Ihre Stärke ist zudem das Netzwerk, das kooperiert und aufeinander verweist. L’Appel schreibt sich mit der Aufmachung der Titelseite in den Erwartungshorizont literarisch-künstlerischer Zeitschriften ein. Der namensgebende Appel schmückt auch die Frontseite der Zeitschrift, die Revolutions- und Dichterikonographie verbindet. In den Metadiskursen der Texte zeigt sich auch eine teils agitierende, politisierte Rhetorik wie sie sich in der mehrdeutigen Figur widerspiegelt.
404
Ü.: „So ephemer sie auch sind, [die Zeitschriften, N.P.] drücken den Willen aus, das Feuer wieder anzufachen, den Mut zu versammeln, die junge Bohème zu vereinen und ihr eine Flagge zu geben.“ Marotin (1997): Les années de formation de Jules Vallès, S. 130.
4.3 L’Appel (1855) – Ein Aufstand der kreativen Jugend
199
Abb. 11: Titelkopf von L’Appel, Nr. 26 vom 13. Mai 1855 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Ein Blick auf die Bildsprache der beliebten illustrierten Titelköpfe lohnt sich auch im vorliegenden Fall. Inmitten des Zeitungskopfes ist eine sitzende Frau mit langem Gewand abgebildet, die die Lyra als Dichtersymbol in der rechten Hand und ein helles Spruchband mit dem Schriftzug „En avant! C’est le mot du temps et de dieu!“405 in der linken Hand trägt. Das weibliche Geschlecht der Figur verbunden mit den Spruchbändern sowie eine Fahne oder auch eine Kopfbedeckung im Stile einer Jakobinermütze legen, ebenso wie die gut sichtbare Barfüßigkeit der Frau, eine Assoziation mit der Nationalfigur der Französischen Republik, Marianne, nahe. Ihre Sitzhaltung ist statisch, ihr Blick ist in die Ferne gerichtet auf ein über den Dingen liegendes fernes Ziel. Während der Schlachtruf zu Bewegung auffordert, deutet die Figur auf Fortschritt im Geiste hin. Die 405
Ü.: „Auf geht’s! Das ist der Ausspruch der Zeit und von Gott!“
200 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Bildqualität ist nicht gut genug, um das Frontispiz detailgenau zu analysieren. Fontan, einer der Autoren, greift es allerdings in einem Artikel auf, beschreibt und interpretiert es so: Au frontispice de ce journal, une femme est assise, tenant d’une main une lyre, symbole connu de tous, et de l’autre une oriflamme qui déroule au vent la consigne de l’avenir. Son regard soucieux trahit l’attente et semble interroger l’horizon, tandis que dans le lointain les monuments de la grande cité surnagent à peine, au milieu de la nuit profonde qui l’enveloppe. Qu’à-t-on voulu dire? Il importe, plus qu’on ne pense, de faire, même par l’image, un appel incessant à la génération qui se lève. L’absence d’hommes nouveaux, émergeant de son sein, justifie les efforts tentés dans ce sens. Craignons qu’elle ne se dessèche sur la souche et ne mérite d’être traitée comme un bois mort, tout au plus bon à jeter au feu. Pour l’arracher au sommeil qui la gagne, crions sans merci ni repos qu’il faut marquer sa trace, creuser son sillon, que telle est la volonté de Dieu, telle est la loi du temps.406 Auf dem Frontispiz dieser Zeitung sitzt eine Frau, mit einer Hand eine Leier haltend, bei allen bekanntes Symbol, und in der anderen ein Banner, das im Wind die Vorschrift der Zukunft ausrollt. Ihr sorgenvoller Blick lässt das Warten erkennen und scheint den Horizont zu befragen, während in der Ferne, inmitten der tiefen Nacht, die sie umgibt, die Monumente der großen Stadt kaum an der Oberfläche bleiben. Was hat man damit sagen wollen? Es ist wichtig, mehr als man denkt, sogar durch ein Bild unaufhörlich an die Generation, die sich gerade erhebt, zu appellieren. Das Fehlen neuer Menschen, die aus ihrer Brust hervorkommen, rechtfertigt, Bemühungen in diese Richtung zu machen. Befürchten wir, dass sie sich nicht ausdörrt im Keim und nicht verdient, wie totes Holz behandelt zu werden. Um sie dem Schlaf zu entreißen, der sie beschleicht, schreien wir erbarmungs- und ruhelos, dass sie ihre Spur hinterlas406
Fontan: „C’est le mot du temps et de dieu“. In: L’Appel, Nr. 35 vom 15. Juli 1855, S. 73f., hier S. 73.
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sen soll, ihre Furche ziehen, dass dies Gottes Wille, dass dies das Gesetz der Zeit sei.
Auf die Beschreibung des Frontispizes folgt eine pathetische Auslegung. Fontan unterstreicht die Spannung zwischen der Momentaufnahme der sitzenden, sorgenvoll den Horizont befragenden Frau, die mit dem Symbol der Lyra ausgestattet ist, das bereits auf die antike Tradition der Dichtung zurückweist und der Zukunftslosung, die einen Aufbruch von der gelähmten Generation fordert. Fontans Interpretation lässt die weibliche Gestalt nicht als Dichterin selbst, sondern als Allegorie für eine Mutter, die die zeitgenössische Generation gebiert, lesen. Nach dem didaktischen Einstieg ist der letzte Absatz voll Pathos, das dem Ton der Selbstdarstellungen und wiederkehrenden ideologischen Postulate in der Zeitschrift gleicht. Auch religiöse Losungen wiederholen sich. Die Graphik und die dazugehörige Interpretation deuten an, dass das Kunstschaffen mit gesellschaftlichen Wandel verbunden wird. Neben den Schriftzügen in der Illustration gibt es weitere Textelemente. Eine Inschrift am Rand des Frontispizes verkündet „A tous et par tous“ und dieses Motto weist auf das Leser- und Autorenkonzept der Zeitung hin, nämlich ein aufgeschlossenes Publikationsforum für jede und jeden zu sein, was Slogans wie „À tout le monde et par tout le monde“407 untermauern. Zeitschriften sind die Medien der Wahl, um Gedanken, literarische Texte und andere Ideen zu verbreiten. Veröffentlichungen bedeuten Präsenz und öffentliche Wahrnehmung. Dass die Förderung von Außenseitern und Neulingen bei L’Appel wie bei anderen Zeitschriften zum Selbstverständnis gehört, unterstreicht folgende Notiz: „Afin de donner toute la publicité possible aux œuvres des jeunes écrivains, tout ouvrage dont il nous sera communiqué un exemplaire sera au moins annoncé dans
407
Altève Morand: „Histoire des petits journaux. Les feuilles mortes. 1856–1857“. In: Figaro vom 12. Oktober 1856, S. 3–5, hier S. 5. Ü.: „An jedermann und von jedermann“.
202 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin notre journal.“408 Alle eingesandten Texte sollen möglichst gedruckt oder zumindest in einer Notiz erwähnt werden. Jene Manuskripte, die nicht erscheinen, werden wie bei Sans le Sou zurückgegeben und das inklusive einer Begründung für die Ablehnung. 409 Weitaus radikaler als L’Appel hält es damit die Zeitschrift Le Bohémien, die angibt, alle Texte abzudrucken, was Morand in einer Presseschau in L’Appel ironisch kommentiert: „Comme curiosité, nous citerons Le Bohémien, journal autographié, paraissant une fois par mois: à coup sûr, celui-là pourra vivre longtemps sans ruiner son gérant et remplira les promesses qu’il fait en inscrivant à son titre: tous les manuscripts seront insérés.“410 In L’Appel erscheinen alle Beiträge namentlich unterzeichnet; am Anfang des Textteils gibt es ein Inhaltsverzeichnis. Ihrem aufgeschlossenen Anspruch gerecht werden die Redakteure besonders in einem Punkt. Der Frauenanteil fällt im Vergleich zu den sonst männerdominierten Organen der literarischen Presse höher aus. Mit Claudia Bachi, Angélique Arnaud (1799–1884), Hermance Lesguillon, Adèle D. und anderen veröffentlichen mehrere Autorinnen und zwar nicht nur Gedichte. Die feministische, politische Autorin Arnaud schreibt im Feuilleton zum Beispiel eine mehrteilige Abhandlung über Friedrich Schiller. Auch Rezensionen widmen sich literarischen Werken von Autorinnen. L’Appel weicht neben den statusbedingten Hierarchien also auch geschlechtsspezifische etwas auf. Interesse am Peripheren, an dem, was die petite presse der Metropole vernachlässigt, zeigt sich beispielsweise 408
409
410
Ü.: „Um den Werken junger Schriftsteller die größtmögliche Aufmerksamkeit zu schenken, wird jedes Werk, von dem uns ein Exemplar übermittelt wird, wenigstens in der Zeitung angekündigt.“ L’Appel, Nr. 27 vom 20. Mai 1855, S. 9. „Les Manuscrits non insérés seront renvoyés aux auteurs avec des notes motivant le refus.“ Ü.: „Die nicht aufgenommenen Manuskripte werden den Autoren zurückgesandt mit Angaben, die die Ablehnung begründen.“ Ebd. Ü.: „Als Kuriosum erwähnen wir Le Bohémien, ein autographiertes Journal, das einmal im Monat erscheint. Todsicher wird dieses lange leben können, ohne den Geschäftsführer zu ruinieren und wird die Versprechen, die es in der Titelinschrift macht, erfüllen: Alle Manuskripte werden aufgenommen.“ Altève Morand: „De quelques journaux nouveaux“. In: L’Appel, Nr. 32 vom 24. Juni 1855, S. 49f.
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ebenfalls darin, dass Altève Morand die Presseschau „Revues des journaux“ einführt, die sich ausdrücklich den kleinen Zeitschriften aus der Provinz widmet.
4.3.2 Die Rolle der Auswahl: Faire Plattform und objektive Kritik Das Vorgehen von L’Appel bei der Textauswahl gründet auf der Vorstellung, dass das Feld in etablierte Institutionen, die den Zugang neuer Akteure verwehren, und ambitionierte Außenseiter eingeteilt ist. Die Zeitschrift fügt den eingangs genannten Verfahren aber weitere, ideelle Kriterien hinzu wie das Leitideal der „impartialité“411, das die Redaktion insbesondere zum Wertmaßstab der Kritik erhebt. Sie soll laut Chefredakteur Morand für alle „appréciations“412 in der Zeitschrift gelten. Der Kritiker ist wiederholten Äußerungen zufolge einer, der belehrt, aufklärt und dabei nüchtern urteilt. Wo die Grundlagen von Kritik und die Rolle des Kritikers reflektiert werden, zeigt sich ein durchaus traditionelles Bild. Den wirkungsästhetischen Anspruch von Literatur betreffend solle der Verfasser rhetorisch einfache oder mittlere Stilebenen wie das genus humile oder das genus medium nutzen. Anstatt starke Affekte wie mit dem ausschmückenden genus grande zu provozieren, solle der Autor belehren und moralisieren: „L’homme de lettres n’a pas, que nous sachions, le droit de flatter les passions pour se faire lire: il doit se faire lire en moralisant et en instruisant.“413 411
412 413
Ü.: „Objektivität“. Siehe z.B. Ankündigung einer neuen Rubrik, zu den Beaux-Arts auf der Weltausstellung von Morand: o.T. In: L’Appel, Nr. 39 vom 12. August 1855, S. 112. „ce sujet […] nous voulions le voir traité, dans notre journal, avec l’impartialité qui sert de règle absolue à chacune de nos appréciations.“ Ü.: „dieses Thema […] wollen wir in unserer Zeitung mit der Unparteilichkeit behandelt sehen, die als uneingeschränkte Regel allen unseren Einschätzungen zugrundeliegt.“ Altève Morand: o.T. In: L’Appel, Nr. 39, S. 112. Ü.: „Der Schriftsteller hat nicht, wie wir wissen, das Recht, den Leidenschaften zu schmeicheln, um gelesen zu werden, er muss dafür sorgen, gelesen zu werden, wenn er belehrt.“ Morand: „Appel“. In: L’Appel, Nr. 26 vom 13. Mai 1855, S. 2.
204 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Insgesamt kritisiert die Zeitschrift den bestehenden etablierten Medienund Literaturbetrieb pauschal und assoziiert ihn mit Käuflichkeit und industrieller Literatur. Konkret richten sich zahlreiche Äußerungen im Blatt gegen die verbreitete erkaufte Erwähnung oder Kritik (chantage), die Morand ebenso wie den erkauften Applaus im Theater (claque) von sich weist: „Le chantage, cette lèpre du journalisme, comme la claque est la lèpre du théâtre, n’aura aucune influence sur nous.“414 Chantage bezeichnet erpresserische Handlungen zwischen Presse und Kulturbetrieb oder Privatpersonen, die darauf gründet, dass jemand auf Gegenleistung eine gewisse Enthüllung, eine Kritik oder ähnliches druckt oder eben nicht, was dem Ruf der Theaterleute, der Schauspielerinnen, Verleger und Privatpersonen zu- oder abträglich sein könnte. Die Kritik an der chantage deutet die Macht der Presse an und weist auf Missstände wie den Warencharakter der Literatur hin. LʼAppel klagt über den „Merkantilismus“, der herrsche, aber ebenso gegen Texte, die einen schönen Stil, aber keine gedankliche Substanz hätten. Das Ethos der aufrichtigen, sachorientierten Kritik gilt der literarischen Auswahl und der kritischen Produktion gleichermaßen. Literatur soll nach ihrer Wirkung und Qualität ausgewählt werden, also weder nach Bekanntheit der Autoren noch nach persönlichen Beziehungen. Unparteilichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber der neuen Generation sind betont hohe Ansprüche: „n’être la voix d’aucune coterie, offrir aux générations nouvelles l’occasion de se faire entendre“415. Darüber hinaus lehnt L’Appel die camaraderie ab, sofern sie den Ausschluss der „Kleinen“ zur Folge habe, gleichzeitig verbrüdert sich die Redaktion mit Autoren in derselben Lage. Idealerweise ist das unabhängig davon, ob man bereits miteinander bekannt ist.
414
415
Ü.: „Die Erpressung, diese Lepra des Journalismus, so, wie die Claque die Lepra des Theaters ist, wird keinen Einfluss auf uns haben.“ Altève Morand: „Galerie artistique“. In: L’Appel, Nr. 53 vom 18. November 1855, S. 2. Wagneur (2005b): „Martyrologe du journalisme“, S. 27. Ü.: „Die Stimme gar keiner Clique zu sein, den neuen Generationen die Möglichkeit zu bieten, sich Gehör zu verschaffen“.
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Das Programm offenbart eine kritische Sicht auf das literarische Feld, indem den erfolgreich Beteiligten Korruption unterstellt wird. Zusätzlich formuliert es mit diesem negativen Blick auch Gesellschaftskritik, die über die Literatur hinausgeht. LʼAppel spricht sich für Kritik und Kunstauswahl aus, die nach sachlichen Kriterien statt nach Hierarchien geht. Die eigenen Ansprüche und Ideale werden auch in diesem Zusammenhang mit hochwertigen Begriffen durchaus plakativ mit dem Schönen, Guten und Wahren verknüpft. Auch im Bereich der (Literatur-)Kritik spielt die Dichotomie von Jugend versus Alter eine Rolle, indem die Kritiker sich der Jugend und damit einer Gruppe zurechnen, die gegen Vorurteile, Lächerlichkeit und die Laster der Gesellschaft kämpfe.416 Darin kommt eine Spannung zum Ausdruck und zwar durch den Anspruch einerseits, eine bestimmte Gruppe, nämlich Außenseiter und marginale Akteure, zu privilegieren und aufzuwerten und dabei andererseits objektiv zu sein. Wie diese Anliegen umgesetzt werden sollen, zeigt die Selbstdarstellung ebenfalls. Schon in den Hinweisen im Titelkopf deutete sich an, dass junge Autoren dadurch gefördert werden sollen, dass L’Appel ihre Texte publiziert oder sie zumindest erwähnt. Publiziert zu werden, ermöglicht es Autoren, ein Publikum außerhalb der eigenen Gruppe zu erreichen. Zeitschriften wie diese bieten eine Veröffentlichung jenseits der etablierten Kanäle wie großen Tageszeitungen und angesehenen Revuen, namentlich der Revue des Deux Mondes. Dabei ist das Verhältnis zwischen Herausgebern und den potenziellen Autorinnen oder Autoren durchaus spannungsreich. Sie bilden laut diverser Ansprachen zwar eine „Gefühlsgemeinschaft“ 417 , doch weicht
416
417
P[aul] R[aymond] Signouret: „Théatres“. In: L’Appel, Nr. 36 vom 22. Juli 1855, S. 88. Der Gedanke taucht auch bei Alfred Delvau auf, der neben einer „Armutsgemeinschaft“ von einer „communauté de sentiments“ („Gefühlsgemeinschaft“) der Nachwuchskünstler der zweiten Bohème spricht. (1866b): Henry Murger et la Bohême, S. 22f. Gabriele Thießen (2015): „Da verstehe ich die Liebe doch anders und besser“. Liebeskonzepte der Münchner Boheme um 1900. Nordhausen: Traugott Bautz, S. 16.
206 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin die Rolle der Herausgeber gravierend von der der Bewerberinnen und Bewerberinnen und Bewerber ab. Erstere haben trotz des liberalen Leitgedankens eine Schlüsselstellung bei der Distribution von Literatur inne, da sie schließlich entscheiden, was erscheint. Mit diesen Widersprüchen, die das Ansinnen eines offenen Publikationsforums mit sich bringt, setzt sich unter anderem ein Beitrag Morands auseinander, der Kritik seitens der Leserschaft aufgreift und das redaktionelle Vorgehen rechtfertigt.418 Eine Kritik zielt zum Beispiel darauf, dass eine „Einheit der Ideen“ fehle, dass somit logische Widersprüche innerhalb der Zeitschrift aufträten, weil unterschiedliche Meinungen und Stile abgedruckt würden. Die Offenheit gegenüber unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren laufe den normativen ästhetischen und intellektuellen Ansprüchen zuwider. Stilistisch ergebe sich aus den diversen Beiträgen ein Durcheinander, ein „Babel“ mit grotesker Wirkung. L’Appel erscheint aus heutiger Perspektive verglichen mit anderen Zeitschriften, deren inhaltlicher oder graphischer Aufbereitung nicht sonderlich chaotisch. Gestalterisch begünstigt der Spaltensatz sogar eine lineare Lesweise. Vielmehr geht es bei der Kritik wohl darum, ein Merkmal der Zeitungen und Zeitschriften, nämlich die Pluralität, zu problematisieren. Auf L’Appel bezogen werden inhaltliche oder ästhetische Diversität als „quelque chose de ridicule et de monstrueux“ 419 harsch kritisiert. Wie auch schon im Corsaire-Satan ist die disparate Wirkung unterschiedlicher Texte, Themen und Positionen in einem Rahmen ein Thema, allerdings in diesem Fall als Streitpunkt.420
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Sie überträgt den Begriff der „Gefühlsgemeinschaft“ auf die Schwabinger Bohème um 1900. Altève Morand: „A nos collaborateurs“. In: L’Appel, Nr. 31 vom 17. Juni 1855, S 41f. Ebd. Ü.: „etwas Lächerliches und Monströses“. Ein ähnlicher Gedanke taucht in Champfleurys Gazette von 1855 auf. „Depuis plusieurs années je suis tourmenté par le besoin d’imprimer certaines idées critiques qui perdraient de leur caractère dans une feuille faite en collaboration.“ Ü.: „Seit mehreren Jahren treibt mich die Notwendigkeit um, gewisse kritische Ideen zu drucken, die ihren Charakter in einem gemeinschaftlich produzierten Journal verlören. Champfleury
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Ein anderer, dem Selbstanspruch widersprechender Punkt, der gegen L’Appel vorgebracht wird, ist, dass die Zeitschrift gar kein offenes, vielfältiges Forum darstelle, weil sie stets dieselben Autoren und Meinungen publiziere. Morand nimmt die Einwände auf und verteidigt die redaktionell begründete Auswahl von Texten. Aus Fairness und um den Exklusionsstrategien der Medien entgegenzugehen, beschäftige man sich mit allen eingesandten Texten, nehme alles an, aber selektiere für die Veröffentlichung nach stimmigen intellektuellen und moralischen Prinzipien: [N]ous recevons tout, sans distinction d’école et de principes. Mais nous le répétons: nous avons nos convictions qui nous guident en tout et nous croirons manquer à notre conscience en admettant ce qui choque notre raison et notre sens moral.421 [W]ir nehmen alles ohne Unterschied nach Schule oder Leitsätzen an. Aber wir wiederholen es: Wir haben Überzeugungen, die uns in allem leiten und wir glauben gegen unser Gewissen zu verstoßen, wenn wir das zulassen, was unsere Vernunft und unser Moralgefühl verletzt.
Aus konzeptionellen und organisatorischen Gründen bedarf es in jedem Medium der Auswahl. Redaktionelle Arbeit fußt auf einer selektiven und ordnenden Tätigkeit, die immer angreifbar macht. Ganz praktisch gesehen ist die geringe Reichweite der Zeitschrift natürlich auch ein Manko dafür, Autorinnen und Autoren zu gewinnen, die nicht zum persönlichen Umfeld gehören. An einem konkreten Beispiel der Literaturkritik werden die Ambivalenzen deutlich, die aus den Ansprüchen entstehen.
421
(1968): Gazette de Champfleury. Nr. 1 vom 1. November 1856. Paris: Blanchard 1856. Genf: Slatkine Reprints, S. 5. Morand: „A nos collaborateurs“, S. 42.
208 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin 4.3.3 Autorenvita statt Werkkritik: Eine Feuilletonserie über den Dichter Barrillot Wie schwierig es ist, Objektivität und Förderung zu verbinden, zeigt eine Feuilletonserie über den Dichter und Journalisten François Barrillot. Barrillot (1818–1874) ist der einzige Dichter unter den regelmäßigen Mitarbeitern in L’Appel und seine herausgehobene Stellung im Blatt wird deutlich, als sein erster Gedichtband La Folle du logis mit Gedichten und Balladen erscheint. Tatsächliche und offenkundige Werbung für Barrillots Gedichtband gibt es im Annoncenteil. Praktisch beteiligt sich die Redaktion an der Verbreitung des Gedichtbandes, indem sie neben einer Buchhandlung als Verkaufsstelle fungiert. Im Feuilleton verfasst der Redakteur Alfred Audiffred zudem eine Serie in drei Folgen zu Barrillot, die eine Resonanz auf den Gedichtband La Folle du logis darstellt und hauptsächlich vom Werdegang des Autors ausgeht. Außer einer Geschichte, die die Autorbiographie als Aufsteigergeschichte erzählt, enthält die Serie auch ein paar methodische Überlegungen zum Neutralitätsdogma, aufgrund dessen die Zeitschrift immer wieder versteckte Werbung und mangelnde Objektivität anprangert. Es widerspräche dem eigenen Wertmaßstab der „impartialité“ 422 den Gedichtband eines Mitarbeiters und Freundes zu rezensieren. LʼAppel begründet den Verzicht auf eine werkkritische Besprechung auch mit der Skepsis, die Leser dieser Kritik entgegenbringen würden und sie unabhängig vom Ergebnis in ihrer Aussagekraft anzweifeln würden. An dieser Stelle zeigt sich, wie der didaktisch-moralisierende Ansatz aus Sorge vor Widersprüchen alle potenziellen Einwände antizipiert. Diese bevormundende Haltung impliziert, dass man wenig vom kritischen Geist der Leser hält. Nichtsdestotrotz soll der interessierten Leserschaft zumindest die Vita des Dichters näher gebracht werden, ohne den verbindlichen Grundsatz
422
Alfred Audiffred: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis“. In: L’Appel, Nr. 46 vom 30. September 1855, S. 1–3, hier S. 2.
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der Objektivität und Wertneutralität im Umgang mit Werken zu verletzen: [N]ous nous tairons sur le livre, laissant à nos abonnés le droit de juger la Folle du logis comme ils l’entendront. Cependant il nous semble qu’il y avait quelque chose à faire et que le silence autour de l’œuvre n’excluait point quelques mots sur l’auteur; […] en nous gardant bien, pendant le cours de cette biographie de faire aucune appréciation qu’on puisse taxer de partiale.423 [W]ir werden über das Buch schweigen und überlassen es unseren Abonnenten, la Folle du logis nach ihrem Verständnis zu beurteilen. Derweil hatten wir den Eindruck, dass es etwas zu tun gebe und dass die Stille das Werk betreffend es nicht ausschließe, ein paar Worte über den Autor zu sagen […] es versteht sich, während der Biographie keine Würdigung zu vermitteln, die man in irgendeiner Weise als parteiisch qualifizieren könnte.
Audiffred skizziert die Gratwanderung, Autoren, mit denen man selbst befreundet ist, zu fördern und gleichzeitig einen Neutralitätsanspruch zu reklamieren. Um sich der parteiischen Werkkritik zu entziehen, bespricht der Feuilletonist nicht das Werk, aber er schenkt dem Urheber als Person viel Beachtung. Audiffreds dreiteiliges Feuilleton macht aus der Lebensgeschichte des Dichters eine legendäre Vita. Der Redakteur eröffnet die Biographie Barrillots, indem er eine fiktive Szene schildert, die das Bild eines jungen Mannes wachruft, der nach „Dichtung und Ruhm“ sucht. Diese bukolisch anmutende Szene bietet der literarisch ambitionierten Jugend Identifikationspotenzial: „Tous nous avons passé par cette série d’impréssions et de désirs, et cela à propos de quelques vers inscrits n’importe où, de quelque livre poudreux oublié“424. Sie macht das beschriebene Empfinden, daraus 423 424
Ebd. Ü.: „Alle haben wir diese Reihe an Eindrücken und Sehnsüchten durchlaufen und das angesichts irgendwelcher, wo auch immer zu lesender Verse, irgendeines staubigen, vergessenen Buches“. Ebd., S. 1.
210 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin entstehende Ambitionen und Sehnsüchte zum Gemeinplatz junger Männer. Audiffreds Autorvita stellt die bemerkenswerte Geschichte eines Außenseiters und Aufsteigers aus der Provinz dar, dem man aufgrund seiner Herkunft und seiner späten selbst erkämpften Bildung eine literarische Karriere kaum zugetraut hätte.425 Barrillot ist ein „enfant du peuple“426, was ihn zum Vorbild für jene sozialen Außenseiter macht, die nach Anerkennung im literarischen Leben streben. Chronologisch geordnet präsentiert die biographische Erzählung die wesentlichen Entwicklungen und Stationen des Dichters, Arbeiters und Reisenden Barrillot von der Kindheit bis zur Gegenwart auf dem Weg aus der Provinz nach Paris. Als Halbwaise hat der Junge früh arbeiten müssen und Lesen und Schreiben im Selbststudium gelernt. Vom Analphabeten wird er zum Druckerlehrling und später zum engagierten Journalisten und Dichter, der abgesehen von seiner Eigeninitiative auch durch finanzielle und ideelle Unterstützung vorankommt. In Paris sind das einflussreiche Personen wie Victor Hugo, Alphonse de Lamartine und George Sand 427, die ihm sogar kurzweilig finanziell aushilft. Eine Reihe autoritativer Zitate beglaubigen am Ende des Textes, dass der Verfasser mit diesen Autorinnen und Autoren vernetzt ist. Mit dem Dichter Lamartine verbindet ihn zum Beispiel, dass der ihn einem Freund zur Anstellung bei der Imprimerie royale empfohlen hat, wo Barrillot dann bis 1848 arbeitete, bevor er
425
426
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Alle biographischen Angaben nach Alfred Audiffred: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis“. In: L’Appel, Nr. 46 vom 30. September 1855, S. 1–3; ders.: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis. Suite“. In: L’Appel, Nr. 47 vom 7. Oktober 1855, S. 1–3; ders.: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis. Suite et fin“. In: L’Appel, Nr. 48 vom 14. Oktober 1855, S. 1–3. Audiffred: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis“. In: L’Appel, Nr. 46 vom 30. September 1855, S. 2. George Sand, die Verse von ihm kannte und durch eine Freundin Kunde von Barrillots Elend erhielt, sendet ihm einen Brief mit dem Angebot: „j’apporte fraternellement ma coopération passagère au soutien de votre famille“. Ü.: „ich biete Ihnen brüderlich meine vorübergehende Zusammenarbeit bei der Unterstützung Ihrer Familie an“. Audiffred: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis. Suite et fin“. In: L’Appel, Nr. 48 vom 14. Oktober 1855, S. 1–3.
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wegen Artikeln in Peuple und Voix du Peuple gekündigt wurde. Barrillot arbeitet im Laufe seiner literarischen Karriere bei vielen Zeitschriften, politischen sowie literarischen mit oder übernimmt deren Leitung.428 Barrillots Lebensgeschichte, eines Dichters mit denkbar schlechten Startbedingungen, der die Gewitztheit und die Beharrlichkeit hat, sich im etablierten Literaturbetrieb der Hauptstadt durchzusetzen und finanziell unterstützt zu werden und dabei nicht dem ersten Angebot einer Erwerbstätigkeit nachgibt, taugt demnach als Vorbild für Nachwuchsautorinnen und -autoren. Die Würdigung des Menschen und Dichters Barrillot schließt Audiffred im pathetischen Duktus mit Glückwünschen und gibt voller Überzeugungskraft ein Erfolgsversprechen für das Werk ab: […] en terminant de former des vœux pour le succès de l’ouvrage qui vient de paraître, succès d’ailleurs dont nous ne doutons pas. La Folle du logis est la pierre fondamentale de l’œuvre qui arrivera à son plus grand développement, nous le croyons, car l’auteur a pour se soutenir dans la voie qu’il veut suivre trois aides tout-puissants: la foi, le talent et l’avenir!429 […] abschließend Wünsche äußern für den Erfolg des Werks, das gerade erschienen ist, Erfolg übrigens, den wir nicht bezweifeln. La Folle du logis ist der Grundstein des Werkes, das zu seiner größtmöglichen Vollendung kommen wird, das glauben wir, denn der Autor hat zur Unterstützung auf seinem Weg, dem er folgen will, drei allmächtige Hilfen: Glaube, Talent und Zukunft!
Öffentlich wird dem Freund eine große Zukunft als Dichter vorausgesagt und das eben nicht nur von einem Freund, sondern von dem Feuilletonis428
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Erste Gedichte erscheinen in seiner Heimatstadt Lyon in Commerce, LʼEntr’acte und Le Lyonnais, in Paris schreibt er für L’Union, La Lice chansonnière, Le Tam-Tam, La Ruche populaire, Le Peuple, La Voix du Peuple, La Silhouette sowie Le Divan und versucht sich als Dramatiker. 1856 leitet er die Zeitschrift Jean qui pleure et Jean qui rit, die als Tribune des poëtes fortgesetzt wird. 1861 bringt er Triboulet, „journal critique et littéraire“, neu heraus. Audiffred: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis. Suite et fin“. In: L’Appel, Nr. 48 vom 14. Oktober 1855, S. 3.
212 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin ten der Zeitschrift. Zwar ist das nicht mit einer positiven Werkrezension gleichzusetzen, aber ein interessantes Leben dürfte das Interesse am Autor ebenfalls fördern. Zumindest fußt das Auswahlprozedere des LʼAppel ja gerade darauf, dass jede Form der öffentlichen Wahrnehmung – sei es die Erwähnung eines Werks oder die Veröffentlichung eines Auszugs – einen werbenden Effekt haben kann. Wieso sollte das bei einer interessanten Vita anders sein? In L’Appel kursiert die Vorstellung eines abgeschotteten, von korrumpierenden Einflüssen wie Emotionen, ökonomischen Verlockungen freien Denkers als idealisiertes Konzept. Es ist zwar ein Ideal der Bohème, aber es trifft die Realität der umtriebigen, gründungs- und publikationsaffinen Pariser Bohème Mitte des Jahrhunderts kaum. Für die unentdeckten und unveröffentlichten Autoren zählt vor allem eines: veröffentlicht zu werden und in einem Medium mitzuwirken, das ihre Texte und Gedanken druckt und verbreitet. Nach Veröffentlichung zu suchen, ist keinesfalls gleichbedeutend damit, den Wunsch nach Selbstbestimmung aufzugeben. Audiffreds Serie führt die Verhandlung von Grenzlinien zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“, zwischen deren Wertmaßstäben und den eigenen vor und legt dabei offen, wie unabgeschlossen beides zueinandersteht. Bohèmezeitschriften der Rive gauche und des Quartier latin treten Ausschlüssen kritisch und anprangernd gegenüber, doch müssen sie selbst zwecks eigener Profilschärfe ebensolche vornehmen. LʼAppel ist ein interessantes Beispiel dafür, welche Unstimmigkeiten die Gegenprogramme zum etablierten Mainstream erzeugen können. Moralische und ästhetische Prinzipien werden während der Erscheinungszeit mehrfach wiederholt. Ein wichtiges medienethisches Prinzip ist sachorientierte Kritik und Neutralität bei der Literaturauswahl, was jedoch angesichts doppelter Zuschreibungen – jemand kann Freund und Außenseiter und damit förderungswürdig sein – zu ambivalenten Vorgehensweisen führt. In all dem Genannten scheint auf, wie vom Rand her versucht wird, einerseits die bestehenden Positionen im Feld zu problematisieren und
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eine eigene Position darin einzunehmen, jedoch ohne diese andererseits an rein ästhetische Kriterien zu knüpfen.
4.3.4 Mediale Anpassungsstrategien und Experimentalität der petite presse Die Zeitschrift L’Appel macht erkennbar, wie wandelbar die kleinen Journale gestalterisch sind und wie sie angesichts neuer Inhalte und Gestaltungsmerkmale die Position zum medialen Mainstream austarieren. Mit seiner inhaltlichen und medialen (Um)Gestaltung im Laufe eines halben Jahres zeugt L’Appel von einem prototypischen Wandel. Während der Erscheinungszeit scheinen mehrere Anpassungsstrategien an die ‚seriösen‘ Zeitungen ebenso wie erfolgreiche Boulevardzeitschriften angelehnt zu sein. Neben einem nüchternen neuen Layout und der Anpassung der Formatgröße wird auch eine unterhaltsame chronique eingeführt, die das Pariser Geschehen in den Blick nimmt. Innerhalb des ersten Erscheinungsjahres verändert L’Appel den Titelzusatz, so dass aus der literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Zeitschrift ab Nummer 42 ein „journal critique, littéraire et artistique“ wird. Folglich fällt der ohnehin relativ stiefmütterlich behandelte wissenschaftliche Teil weg und wird durch Kritik ersetzt. Schon in Nr. 34 hatte Morand eingestanden, dass das Hauptaugenmerk der Literatur gelte: „Notre Journal est surtout consacré à la littérature, il est vrai“430. Die Strategie, durch gängige unterhaltsame Genres, Publikum zu gewinnen, aber sich gleichzeitig nicht unreflektiert am Mainstream zu orientieren, belegt die Einführung der Kolumne „Causerie“. Ab Nr. 36 wird das beliebte Genre als Aufmacher eingeführt. Das als „Plauderei“ übersetzbare Genre steht für lockere subjektive Kommentare zum Zeitgeschehen:
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Ü.: „Unsere Zeitschrift widmet sich vor allem der Literatur, das ist wahr“. Altève Morand: „Nouvelle Plante Alimentaire“. In: L’Appel, Nr. 34 vom 8. Juli 1855, S. 65‒68.
214 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin „ce léger courant de propos qu’on appelle une causerie“431. Bis dato hatte L’Appel keine solche, weshalb der Autor Eugène Muller auch die Textsorte erklärt und deren Vorteile betont: „il est si agréable de voyager capricieusement, de papilloner par la pensée dans les vastes régions de l’actualité“432. Begründet wird sie nicht nur, weil sie neu ist, sondern auch, weil die Causerie eine typische Form der erfolgreichen literarischen Boulevardzeitschriften wie Figaro oder Mousquetaire darstellt. Dass sie mit Leichtigkeit konnotiert ist und weder eine strenge Form noch einen objektiven Anspruch habe, macht sie anfällig für Kritik an der negativen Seite des Klatsches. Als „cancans“, also „Klatsch und Tratsch“, übersetzt Muller die „Causerie“ und setzt sich mit ihren negativen Auswirkungen wie der Entblößung von Personen auseinander. Die kommunikative Strategie der Zeitschrift lässt es nicht zu, ein mit Klatsch und Leichtigkeit konnotiertes Genre aufzunehmen, ohne es zu rechtfertigen oder gar ideologisch umzudeuten. Muller betont die soziale Funktion des Klatsches: „je proclame les cancans un des éléments essentiels de la vie sociale“433. Wie mit der Causerie umgegangen wird, belegt, in welcher Weise sich alternative Projekte einerseits von etablierten Zeitungen und deren Formaten abzugrenzen suchen, aber gleichzeitig Publikum erfolgreich an sich binden möchten. Zu diesem Zweck orientiert man sich an den großen Spielern im Feld. So verkauft Muller die Causerie abschließend sogar als Weihe, die aus L’Appel eine der nunmehr etwas etablierteren Zeitschriften der „république des lettres“434 mache. Dass die „Causeries de l’Appel“ fortan in jeder zweiten Ausgabe als Aufma-
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Ü.: „Dieser leichte Strom von Äußerungen, den man Plauderei nennt“. Eugène Muller: „Causeries de l’Appel“. In: L’Appel, Nr. 36 vom 22. Juli 1855, S. 81‒83, hier S. 81. Ü.: „Es ist so angenehm, willkürlich mit dem Verstand in den weiten Regionen der Aktualität herumzuflattern“. Ebd. Ebd. Ü.: „ich erkläre Klatsch und Tratsch zu einem der wesentlichen Elemente des gesellschaftlichen Lebens.“ Ebd., S. 83.
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cher erscheinen werden, kann man als Hinwendung zum Boulevard sehen, der sich unterhaltend mit dem Pariser Zeitgeschehen befasst. L’Appel setzt sich wie andere petits journaux auch mit der Konkurrenz auseinander. So dienen Figaro oder Le Mousquetaire als Bezugspunkte und spielen als Vorbilder beziehungsweise vorgebliche Feindbilder eine wichtige Rolle. Sie trifft der Spott der Kleinen in verschiedener Form wie Mousquetaire-kritische Beiträge in L’Appel sowie durch Satire-Ableger wie Antonio Watripons und Alfred Delvaus Parodie des Dumas-Titels namens Le Moustiquaire.435 Zu bewerten und zu bewerben gehört zum Geschäft aller kleinen Zeitschriften, dabei wird bisweilen spielerisch, lobend und werbend, aber auch mal polemisch und böse mit der Konkurrenz umgegangen. Eine Fehde sei knapp beschrieben. In der Klatschsparte des Figaro vom 9. Dezember 1855 kommentiert Victor Cochinat, dass sich L’Appel und La Presse Théâtrale schlecht entwickelten, da sie begännen den Figaro zu loben: „Ils font notre éloge, les malheureux!“ 436 Dies ist keine schiere Behauptung, sondern die Reaktion auf tatsächliches Lob, beispielsweise des Feuilletonisten Fleury, der den Figaro ein „spirituel journal“437 genannt hat. In dem sarkastischen Satz Cochinats stecken mehrere Aspekte und zwar wird L’Appel dafür verspottet, dass er den eher theoretischen Konkurrenten Figaro lobt. Indem das als Handlung „Unglücklicher“ bezeichnet wird, weist man ersterem einen geringeren Status zu. Auf den Beitrag reagiert der Chefredakteur Altève Morand in der pressekritischen Rubrik von L’Appel. Er stellt richtig, dass sie zwar einmal Partei für den Figaro ergriffen hätten, aber dass das keineswegs die Person Cochinat einschließe. Cochinat, der aus der Stärke des Figaro heraus für diesen
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Le Moustiquaire. Journal de MM. Dumasnoir et Cie. Erscheinungszeit: 2. Februar 1854 bis 16. April 1854. Ü.: „Sie singen unser Loblied, die Unglücklichen!“ Victor Cochinat: „Échos de Paris“. In: Figaro vom 9. Dezember 1855, S. 6f., hier S. 7. Régulus Fleury: „Petite gazette“. In: L’Appel, 2. Jg., Nr. 55 vom 2. Dezember 1855, S. 3.
216 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin schreibt, wird somit demontiert, indem er nicht als Repräsentant des Figaro angesehen wird. Morands Replik ist offen feindselig und stuft Cochinat herab: M. V. Cochinat est bien bon de croire que nous lui ayions jamais accordé notre sympathie, ainsi qu’il semble dire dans les Échos de Paris. Nous avons quelquefois pris parti pour Figaro contre les sots et les jaloux, mais nous n’avons jamais songé à M. Cochinat, quand il nous est arrivé de parler des spirituels rédacteurs de cette feuille. M. Cochinat doit se trouver mal à l’aise au Figaro: il y fait tache. Qu’il aille rejoindre ses amis au Mousquetaire. Ce sont là toutes les marques de sympathie que nous pouvons lui donner.“438 Hr. V. Cochinat ist schön dumm, zu glauben, dass wir ihm jemals unsere Sympathie zugesprochen hätten, so wie er es in den Échos de Paris zu sagen scheint. Wir haben manchmal Partei für den Figaro ergriffen gegen die Dummen und die Eifersüchtigen, aber wir haben niemals an Hrn. Cochinat gedacht, wenn es uns passiert ist von den geistreichen Redakteuren dieses Blattes zu reden. Hr. Cochinat muss sich unwohl beim Figaro fühlen: Er ist dort ein Schandfleck. Gehe er wieder zurück zu seinen Freunden beim Mousquetaire. Das sind all die Sympathiebekundungen, die wir ihm geben können.
Cochinat war Autor beim Mousquetaire, bevor er zum Figaro wechselte.439 In dem Beispiel wird deutlich, was für harsche persönliche Anfeindungen auch hier gedruckt werden. Dass Personalfragen kommentiert werden, ist ein üblicher Inhalt der Pariser Nachrichtenspalten. In Reden und Gegenreden, die Bezug auf einzelne Akteure oder auf Institutionen nehmen, wird der eigene Stellenwert ausgelotet. Um reagieren zu können, muss man die Konkurrenz im Blick haben. Im Kreuzfeuer der gegenseitigen Achtung oder Missachtung können einzelne Personen besonders hervorgehoben oder demontiert werden. Das Geflecht aus gegenseitigen 438
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Altève Morand: „Revue des journaux“. In: L’Appel, Nr. 58 vom 25. Dezember 1855, S. 1f., hier S. 2. O.A.: „Nouvelles artistiques“. In: L’Appel, 2. Jg., Nr. 49 vom 21. Oktober 1855, S. 4.
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Nennungen, Einschätzungen, aus Reklame und Angriffen macht jedenfalls ein symbolisches Netzwerk sichtbar. Außer den inhaltlichen Konzepten weist das Blatt auch gestalterische Anpassungsstrategien, in diesem Fall an den massenmedialen Mainstream, auf. Sie verraten, dass sich L’Appel mit der Zeit einen seriöseren Anstrich zu geben versucht. Ab Nummer 42 erscheint das Blatt ohne Abbildung auf Seite eins, allerdings noch mit Serifenschrift im Titel und Untertitel.
Abb. 12: Titelkopf von L’Appel, Nr. 42 vom 2. September 1855 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Ab dieser Nummer enthält L’Appel vier anstatt acht Seiten, womit das Blatt den üblichen Umfang der Tageszeitungen anstatt der Zeitschriften mit acht oder 16 Seiten annimmt. Dasselbe deutet sich darin an, dass die fortlaufende Nummerierung der Seitenzahlen zugunsten einer Neuzählung pro Ausgabe aufgegeben wird. Der Titelkopf weist verschiedene Neuerungen auf, zum Beispiel, dass nicht frankierte Einsendungen abgelehnt werden. Die bildlose nüchterne Optik von Seite eins ähnelt der politischen Tagespresse. Zwar bleiben die Slogans „A tous et par tous“440 und „En avant! en avant!!“ in kleinerer Schrift erhalten, wirken aber durch ihre Größe und die schmucklose Darbietung wie Relikte und sind leicht 440
Laut Morand war das ein Wahlspruch des Vorgängers Le Sans le Sou. Morand: „Histoire des petits journaux“. In: Figaro vom 2. Oktober 1856, S. 3.
218 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin zu übersehen. Ein paar Nummern später bessert L’Appel nach, was den seriösen Anstrich, die Lesbarkeit und die Übersichtlichkeit angeht. Spätestens Ende September 1855 erscheint der Titel ohne Serifen, also in schnörkellosen Buchstaben. Ab Nummer 51 vergrößert L’Appel das Format erneut, was die kleine Zeitung mit ihrem Erfolg begründet: „L’Appel agrandit une troisième fois son format: c’est dire qu’il fait de bonnes affaires.“441 Jede Seite wird um eine Spalte von drei auf vier erweitert, so dass die Blattgröße vom Quart- ins Folioformat übergeht und sich der Preis von 15 auf 25 Centimes pro Ausgabe erhöht. Grundsätzlich vollziehen sich im Blatt sowie in der Institution 442 auch Änderungen unkommentiert, aber gerade die kommentierten zeugen von strategischen Überlegungen und von Wirkungsabsichten. Wenn sich ohne Ankündigung oder Kommentar wesentliche Grundpfeiler der Zeitung wandeln, kann das darauf hindeuten, dass es für das Projekt selbstverständlich ist, dass sich Gestalt und Ausrichtung weiterentwickeln können. Eine kommentierte Neuerung betrifft die Zuständigkeiten in der Redaktion. Der recht konstante Mitarbeiterstab wird um Paul Raymond-Signouret ergänzt, der zum „Leiter der Theaterabteilung“ ernannt wird, ab Nummer 52 kommt Henri Montazio als „Leiter der musikalischen Abteilung“ hinzu. Dass inhaltliche Bereiche bestimmten Mitarbeitern zugewiesen werden, gibt der Zeitung mehr Gewicht, ebenso die Begriffe „Leitung“ und „Abteilung“, die eine geregelte Struktur aufzeigen, auch eine bestimmte Größe andeuten, welche eine solche Einteilung notwendig
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Ü.: „L’Appel vergrößert zum dritten Mal sein Format: Das heißt, dass er gute Geschäfte macht.“ Praktische Aspekte, die sich ändern, sind beispielsweise Produktions- oder Verkaufsort. Ab Ausgabe 48 sitzt die Redaktion in der Rue de Seine 37, wo das Büro für Publikumsverkehr geschlossen wird. Zuvor hatte sie den Distributionsradius um einen literarischen Salon auf dem Boulevard Montmartre und eine von Altève Morand, Henri Montazio und Co. geleitete Künstleragentur „Agence lyrique, dramatique et chorégraphique“ erweitert, wo man fortan außer in der Redaktion ein Abonnement erwerben konnte.
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macht. Zuständigkeiten haben so wie die Gestaltung immer auch eine repräsentative Seite. Alle diese Änderungen deuten darauf hin, dass man versucht, das Blatt konzeptionell neu aufzustellen, was letztlich allerdings nicht zum Erfolg im Sinne des Fortbestehens geführt hat. Es gibt im Medium selbst keine Hinweise, warum es am 30. Dezember des Jahres 1855 ohne Ankündigung aufgegeben wird. Den Grund verschweigt auch Morand in seiner Geschichte der „feuilles mortes“ geheimniskrämerisch: „l’Appel disparut tout à coup pour des causes qu’il ne m’est pas permis d’expliquer“443. Der umtriebige Journalist Morand setzt seine Zusammenarbeit jedenfalls mit denselben Redakteuren vierzehn Tage später, am 13. Januar 1856, unter dem neuen Titel Triboulet fort.
4.3.5 Die petite presse als Refugium der Dichtung Zeitschriften wie L’Appel sind, auch wenn sie weder langfristig noch kommerziell erfolgreich sind, ein Sprachrohr für Außenseiter mit Wirkungs- und Kunstanspruch. Ihre Kritik hat mit dem etablierten Literaturund Medienbetrieb des Second Empire einen offenkundigen Adressaten. „Schaut man sich Schriftstellerviten des Second Empire an, so tragen diese Künstlerkarrieren zum ersten Mal in der Geschichte alle Kennzeichen von Künstlerexistenzen heute: das Gespenst der Prekarität“, außerdem „Kompromisse mit dem Markt, mit Kritikern und Förderern“ und „die interessierte Wahl des Genres, d. h. die Vorliebe für Prosatexte“444. Zu den Kompromissen gehört auch nicht politisch sein zu dürfen, was den petits journaux vom politischen Machtfeld vorgeschrieben wird. Angesichts des im Subtext von L’Appel verborgenen politischen Tenors soll an dieser Stelle auf den politischen Charakter der „nicht-politischen“ petite presse 443
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Ü.: „l’Appel verschwand plötzlich aus Gründen, die mir nicht zu erklären erlaubt sind“. Morand: „Histoire des petits journaux “. In: Figaro vom 5. Oktober 1856, S. 2. Hülk (2017): „Flaubert: Ourserie und Saltimbanquage“, S. 89.
220 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin zu sprechen zu kommen sein. In der petite presse der Rive gauche in den 1850er Jahren wird das geltende Politikverbot aufgegriffen und die Abgrenzung der Felder Politik und Kunst reflektiert.445 Darum, was (nicht)politisch meint, wird in den kleinen Blättern der Jahrhundertmitte auch teils ausdrücklich gerungen. Exemplarisch dafür steht die Tribune des poëtes, die 1856 bis 1857 als Nachfolgetitel von Jean qui pleure et Jean qui rit446 erscheint und zudem einige ehemalige Mitarbeiter von LʼAppel wie Audiffred und Barrillot vereint. Der Umgang mit dem Thema Politik ist unterschiedlich. So zielt in L’Appel die ganze politisierte Rhetorik expressis verbis auf die „Alten“ im Literatur- und Medienbetrieb, doch erscheinen Angriffe auf das politische Feld übertragbar. In Blättern wie der Tribune des poëtes wird die Einschränkung eigens formuliert, die Politikfreiheit jedoch zu einem positiven Kennzeichen umgedeutet. In zwei Leseransprachen betont der Herausgeber Amédée Hardy, dass der Raum für Dichtung reserviert sei. Es handle sich in Worten des prominenten romantischen Sängers Béranger bei der Zeitschrift um das „dernier asile de la poésie en France“447. Dass es die letzte Zuflucht sein soll, stellt den Raum als einzigartigen dar und weist darauf hin, dass Dichtung angesichts der Vorliebe für Romane auf dem Markt ohnehin wenig Platz habe und andere Räume somit verschlossen sind. Amédée Hardy erklärt im „Brief an den Leser“, was mit dem politischen Anspruch der Zeitschrift gemeint ist. Er stellt die literarische Zeitschrift als offenes und von literarischen Schulen unabhängiges Forum dar. Abgesehen davon, dass es ideelle Grundprinzipien wie Frieden und geistigen 445
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Wie stark Politisches in der Bohème präsent ist und wie divers die politischen Anschauungen sind, hat Helmut Kreuzer herausgestellt (1968): Die Boheme, S. 279‒363. Ü.: „Jean, der lacht und Jean, der weint“. Jean kann mit Hans übersetzt werden und ist ein Allerweltsname. Von März bis August 1856, satirisch-poetische Zeitschrift mit Barrillot als Chefredakteur. Ü.: „letztes Asyl der Dichtkunst in Frankreich.“ Amédée Hardy: „A nos lecteurs“. In: La Tribune des poëtes vom 22. Januar 1857, 2. Jg., 1. Ausgabe, o.S. Titelzusatz: Revue poétique, satirique et critique.
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Fortschritt gebe, sollen Texte mit expliziter politischer Meinung ausgeschlossen bleiben. Hardy beschreibt diesen Grundsatz als einen integrativen, welcher statt eines agitierenden Forums dem Konzept einer künstlerischen Tischgesellschaft entspreche: „table de communion où tous les convives resteront dans les hauteurs sereines de lʼart, et non un forum agité par les dissensions des partis.“448 Auf Protest hin erklärt Hardy, dass es schon eine gewisse politische Grundhaltung gebe, die „progressiste“ sei und dass sich der Ausschluss von Politik auf eine bestimmte Form von Politik beziehe: „Lorsque jʼai dit que la Tribune rejettera toute pièce ayant une nuance politique quelconque, jʼai voulu parler de la politique dʼaction ou de personnalité, que nous considérons comme incompatible avec la poésie“ 449 . Politik und Kunst sind Hardy zufolge insofern nicht voneinander zu trennen, als Künstler und Journalisten persönlich eine politische Grundhaltung haben. Eine unter den Äußerungen liegende republikanische oder aufklärerische Lesweise könne nicht per Gesetz verhindert werden. Wogegen er sich jedoch ausspricht, ist, dass die Zeitschrift als Plattform ausschließlich politischer Aktivitäten und an Personen gebundene Politik verfolge, weil diese nicht mit Poesie kompatibel seien. Diese Differenzierung gibt ein Beispiel dafür, wie selbst in der petite presse die Grenzziehung der verschiedenen Felder (Politik, Kunst) justiert und diskutiert werden. Die Tribune des poëtes als literarisch-lyrische Zeitschrift bezieht Stellung zum (a)politischen Status der literarischen Presse und differenziert zwischen einer Zeitschrift als Bühne politischer Handlungen und einer dichterischen Zeitschrift, deren Vertreter manche Ideale und Werte teilen.
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Ebd. Ü.: „Tisch der Gemeinschaft, wo die Tischgesellschaft bei den heiteren Höhen der Kunst bleiben wird und kein von den Meinungsverschiedenheiten der Parteien bewegtes Forum sein wird.“ Ü.: „Als ich gesagt habe, dass la Tribune jedes Stück mit gleich welcher politischen Nuance zurückweist, wollte ich von der Politik der Handlung oder der Persönlichkeit sprechen, die wir als inkompatibel mit der Poesie ansehen.“ Amédée Hardy: „A nos lecteurs“. In: La Tribune des poëtes vom 5. Februar 1857, 2. Jg., S. II.
222 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin L’Appel teilt mit der Tribune den Status als petit journal, bedient sich aber im Unterschied zu jener einer auf das Feld insgesamt bezogenen Außenseitersemantik, wohingegen die Tribune sich vordringlich der Gattung Lyrik widmet, welche wenig Platz in anderen Zeitschriften findet. L’Appel kritisiert die hegemonialen Akteure und Medien im literarischen Feld, ohne sie namentlich zu benennen. Hinter den Angriffen auf den etablierten Betrieb kommt eine politisierte Stimmung zum Ausdruck, man denke allein an die barfüßige Titelfigur, die Aufschrift ihrer Fahne, die rhetorisch und symbolisch mit Revolution verbunden ist. Doch eine offene Systemkritik zielt ausschließlich auf den Literaturbetrieb und seine, meist nur dem Einfluss und Rang nach benannten, ablehnenswerten Vertreter und sein elitäres Publikum.
4.4 Dokumentationseifer des Flüchtigen: Geschichte(n) in der petite presse Zahlreiche Texte reflektieren die Charakteristika der petite presse, darunter ihre Beliebtheit, die Kurzlebigkeit und Selbstbezüglichkeit oder auch alternative Praktiken sowie Werbe- und Vermarktungsstrategien. Beteiligte selbst dokumentieren das dynamische Feld, indem sie über ihre Projekte schreiben. Wie ausgeführt, tritt Altève Morand als anekdotischer Historiograph der kurzlebigen Blätter der Rive gauche auf und präsentiert die Geschichte der Bohèmezeitschriften aus der Perspektive des teilnehmenden Beobachters unter anderem im Figaro. Neutralität und Distanz zum Berichteten gehört nicht zur journalistischen Praxis der petite presse. Beispiele für die populäre und zeitnahe ‚Geschichtsschreibung‘ bieten folgende zwei Zeitungsartikel; erstens Altève Morands bereits zitierte Serie „Histoire des petits journaux. Les feuilles
4.4. Dokumentationseifer des Flüchtigen
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mortes. 1855–1856“450 und zweitens Firmin Maillards Artikel „701 journaux“451 von 1859, die beide unter anderem im Figaro erschienen sind. Sie sind mehr als die historiographischen Annalen, die sie vorgeben zu sein, nämlich Insidergeschichten, die die petite presse legitimieren sollen. Und sie machen deutlich, wie verwoben die erfolgreicheren literarischen Zeitschriften wie Figaro und dessen marginale Pendants sind. Obwohl beide Texte keine unmittelbare Beziehung zueinander haben, ähneln sich bestimmte Argumentationsmuster und Anliegen. Beide wenden sich den zeitgenössischen petits journaux beziehungsweise denen der vergangenen Jahre zu, allerdings mit unterschiedlichem Zuschnitt. Morand stellt die Bohèmepresse aus dem Quartier latin vor, an der er selbst beteiligt war, unter anderem in L’Appel, in Le Sans le Sou und Triboulet. Er setzt einen zeitlich und räumlich begrenzteren Fokus, während der Journalist Firmin Maillard von der Gesamtheit der bestechend hohen Zahl von „701 journaux“, die zwischen 1854 und 1859 gegründet werden, ausgeht. Demzufolge schließt er manche Titel, die auch Morand nennt, ein. Maillard unterscheidet inhaltlich und nicht qualitativ nach literarischen und gewerblich orientierten Zeitschriften. In seiner Aufstellung der Medienlandschaft zählt er 500 Zeitungen; ca. 43 davon kümmerten sich um Politik und Marktwirktschaft, während die anderen 457 das „Recht auf alles andere“ hätten, nämlich „sciences, littérature, beaux-arts, industrie, etc., etc. C’est dans cette seconde catégorie que nous devons chercher la petite presse.“452 Einschränkend bekundet er, dass das nicht per se Qualität verspreche, da sie schließlich unterschiedlich gelungene Beispiele wie „seriöse“ oder sogar „Käseblätter“ umfasse.
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Altève Morand: „Histoire des petits journaux. Les feuilles mortes“, zwischen dem 2. Oktober und 30. Oktober 1856 erschienen. Maillard: „701 journaux“, S. 5. Ü.: „Wissenschaften, Literatur, schöne Künste, Gewerbe, usw., usw. Es ist in der zweiten Kategorie, in der wir die petite presse suchen müssen.“ Firmin Maillard: „Le petit journal (Histoire de dix ans) 1850‒1860“. In: Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840–1870, S. 1043–1053, hier S. 1043.
224 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Maillard bezieht sich auf die repräsentativen Organe der kleinen literarischen Presse und beschreibt sie gattungsbezogen.453 Offiziell auch unter die petite presse fallende Zeitungen, „journaux à spécialités bien définies“454, darunter Gewerbezeitschriften verschiedener Berufsgruppen wie das Journal des Coiffeurs oder der Moniteur de l’Epicerie zählt er wegen des inhaltlichen Genreverständnisses nicht dazu. Morand dagegen denkt die petite presse mehr von den Produzenten und deren Ambitionen aus. Beide verdeutlichen das Ringen um einen positiv besetzten Begriff der petite presse, der nicht von einer kategorischen Unterscheidung zur grande presse abhängt. Vielmehr geht es um die spezifischen Qualitäten dieses Medienformats. Beide sind daran interessiert, Geschichten der petite presse zu schreiben und schneiden sie je auf eine Zeitschrift zu. Firmin Maillard sieht im Figaro das einzige petit journal, das er als Inbegriff der Kategorie ansieht: „aujourd’hui, il y a un petit journal, un seul“. „De ces sept cent une feuilles, qui toutes étaient descendues dans l’arène, – frémissantes et pleines de vie, – bien peu, hélas! ont survécu.“455 Morand positioniert den Sans le Sou als Ursprung einer Publikationswelle vergleichbarer, nunmehr „toter Blätter“, die er porträtiert. Beide Artikel beschreiben die zeitgenössische ephemere Produktion und verleihen ihr einen Platz in der Kultur- und Mediengeschichte. Damit historisieren sie das aktuelle Geschehen, dokumentieren Titel und Beteiligte, die dem Vergessen anheimfallen würden, wenn man ihr Bestehen nicht verzeichnete. Ihre Dokumentationen haben den Anspruch etwas festzuhalten. Abgesehen davon, dass die historische Verortung ein Argument für die Vermarktung und für die Selbsterhöhung ist, scheint das Geschichtsbe-
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„quels étaient, dis-je, les journaux chargés de représenter la petite presse?“ Ü.: „welche waren, sage ich, die Zeitungen, die dafür verantwortlich waren, die petite presse zu repräsentieren?“ Maillard: „701 journaux“, S. 5. Ebd. Ü.: „Heute gibt es nur ein petit journal, ein einziges. Von diesen 701 Blättern, die alle in den Ring herabgestiegen waren – bebend und voller Leben – haben leider! nur sehr wenige überlebt.“ Ebd.
4.4. Dokumentationseifer des Flüchtigen
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wusstsein in der nachromantischen Generation groß zu sein. Das kann man unter anderem auf die schwelende Unzufriedenheit mit der aktuellen politischen Lage, auch auf den Verlust der Republik zurückführen, der einem Freiheitsverlust der geistigen Elite gleichkommt. Hoffnung auf Aufstieg und Erfolg hat sie kaum. Von diesen Umständen desillusioniert beschreiben sich die Autoren der Generation oder deren Beobachter als welche, die zum einen im Schatten von dichterischen Vorreitern wie den Romantikern Victor Hugo und Alphonse de Lamartine stehen und aufgrund der gesellschaftlichen Umstände ihre Möglichkeiten nicht voll entfalten können. Für Autoren und Medienvertreter ist die Presse ein wichtiges Ausdrucksmedium in der Gegenwart, um als Autor oder als Gruppe wahrgenommen zu werden. Die dokumentarischen Bemühungen können folglich auch dazu dienen, das Ansehen und die Legitimität des Medienformats petite presse zu steigern. Auch auf dem Buchmarkt, der eng mit der petite presse verbunden ist, gibt es Veröffentlichungen über sie, wie eine informative, unterhaltsame Buchreihe, die Ende der 1850er Jahre periodische Neuerscheinungen der vergangenen Jahre chronologisch vorstellt. Sie stammt vom Journalisten Firmin Maillard, der zunächst zwei Ausgaben der Histoire anecdotique et critique des 159 journaux parus en l’an de grâce 1856 für drei Jahre; nämlich 1856, 1857 und 1858 herausbringt. Als der Nachfolger JeanFrançois Vaudin übernimmt, erscheint die Sammlung nunmehr als Gazetiers et gazettes. Histoire critique et anecdotique de la presse parisienne.456 Vaudin widmet sich den Jahren 1858 und 1859 (1860 publiziert) sowie 1860 (1863 publiziert). Durch die anekdotischen Jahrbücher bekommt man einen guten Überblick darüber, welche Zeitschriften in dieser Zeit erschienen sind. Dass eine Vielfalt an Printprodukten unterschiedlicher Qualität und Gestalt vorkommt, zeigt die Fülle an Bezeich-
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Firmin Maillard: „Les adieux de Firmin Maillard“. In: Jean-François Vaudin (1860): Gazetiers et gazettes. Histoire critique et anecdotique de la presse parisienne. Années 1858–1859. Paris: En vente chez tous les libraires, o.S.
226 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin nungen, die Maillard für die Medien wählt. Er nennt viele unterschiedliche Publikationstypen, die mal eher wertend als Käseblatt, mal eher typologisch-deskriptiv als Zeitschrift, kleine Zeitung, industrielle Zeitung, Bulletin, kleine Presse, Magazin für fünf Cent, handschriftliche Zeitschrift, Tageszeitung, Album, Beilage, Prospekt, Gazette, Sammelband betitelt werden.457 Die Einträge zu den Zeitschriften sind chronologisch geordnet und enthalten neben den Fakten wie Gründungs- oder Erscheinungsdatum unterschiedlich lange, wertende Kommentare und Beschreibungen, die auf Maillards Kenntnissen und Beziehungen basieren. Mal erwähnt er die Neuerscheinungen nur, mal porträtiert er deren Mitarbeiter, Agenda oder zitiert sogar aus ihnen. Dass Maillard teilnehmender Beobachter ist, belegen Äußerungen, die beispielsweise seine persönliche Beziehung zu den Personen klarmachen. Auch Morand und Maillard sind bekannt miteinander. Maillard porträtiert Altève Morand sowie L’Appel und Triboulet und dankt ihm abschließend etwas ironisch auf die camaraderie anspielend dafür, dass Morand zwei seiner Artikel positiv aufgenommen habe. Maillard zitiert häufig auch aus Zeitungen und anderen Texten der vorgestellten Personen. Seine Bestandsaufnahme räumt allen, unabhängig von Erfolg und vom Renommee der Beteiligten einen Platz ein. Im Register stehen alle Personen, die ein Periodikum gegründet, geplant oder daran mitgearbeitet haben. Rein dokumentarisch ist der Band nur dem Anschein nach, denn je nachdem, wie es um die Bekanntschaft, Erfahrungen, die Vorlieben und Kenntnisse des Verfassers bestellt ist, fallen die Einträge unterschiedlich umfangreich und sachlich aus. Es werden sogar Ankündigungen erfasst, was unterstreicht, dass schon der Gründungsabsicht ein Wert beigemessen wird. Ein neues Medienorgan anzukündigen, stellt genauso wie das Lancieren einen performativen Akt dar, mit dem sich eine Person oder eine Gruppe im literarischen Leben zu beglaubigen versucht. 457
Eine Reihe von Kategorien, die Maillard im gesamten Band verwendet. Übersetzung von mir.
4.4. Dokumentationseifer des Flüchtigen
227
Ein Beispiel dafür, dass Maillards Interesse diesen Ankündigungen gilt, bietet der nachfolgende Programmtext der Zeitschrift La Célébrité. J.-A. Luthereau veröffentlicht am 10. August 1856 eine Probenummer, deren Programm Maillard in ausgewählten Passagen zitiert und kommentiert, was im Zitat in Klammern dargestellt ist: A tout livre il faut une préface, à tout drame un prologue, à tout journal un programme. Pour nous les feuilles que nous allons jeter chaque semaine, au vent de la publicité, sont destinées à devenir un jour les archives historiques de la France; – nous pourrions même dire de l’Europe [Dites-le, dites-le, j’aime votre modestie], Tout est de notre domaine; les sciences, les lettres, les arts, l’industrie, le commerce, l’armée, le clergé, la noblesse, la magistrature, la finance, la diplomatie. [Peste!] Mais qui donc êtes-vous? Nous dira-t-on sans doute, Qui nous sommes? [Oui, qui, … qui?] Des enfants perdus de la Bohême honnête et intelligente; nous sommes l’écho de ce qui est juste et vrai, la grande voix de l’opinion publique. [Et bien, je pardonne tout cela à M. Luthereau, puisqu’il nous promet de ne pas escalader, dans ses biographies, le mur qui sépare la vie privée de la vie publique. La Célébrité n’a eu qu’un numéro spécimen, imprimé en bleu, littérature bleue… journal bleu; il n’est pas étonnant que les hommes d’intelligence et d’avenir qu’attendait M. Luthereau, ne soient pas venus seconder ses efforts.]458 [Auszeichnung der Passagen Maillards durch eckige Klammern von mir, N.P.] Jedes Buch braucht ein Vorwort, jedes Drama einen Prolog, jede Zeitung ein Programm. Für uns sind die Blätter, die wir jede Woche in den Wind der Publizität werfen, dazu bestimmt eines Tages die historischen Archive Frankreichs zu werden – wir könnten sogar Europas sagen [Sagen Sie es, Sagen Sie es, ich mag Ihre Bescheidenheit]. Alles gehört in unseren Bereich; die Wissenschaft, die Literatur, die Kunst, die Industrie, der Handel, die Armee, der Klerus, der Adel, die Richterschaft, die Finanzwelt, die Diplomatie. [Pest!] Aber wer seid ihr denn? Uns werde man zweifellos sagen, wer sind wird? [Ja, wer, … wer?] Verlorene Kinder der aufrichti-
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Maillard (1857): Histoire anecdotique et critique des 159 journaux, S. 61f.
228 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin gen und intelligenten Bohème; Wir sind das Echo des Richtigen und Wahren, die große Stimme der öffentlichen Meinung. [Na gut, ich verzeihe Herrn Luthereau all das, da er uns verspricht in seinen Biographien nicht die Mauer zu übertreten, die das Privatleben und das öffentliche Leben trennen. La Célébrité hat nur eine Eröffnungsnummer gehabt, in Blau gedruckte, blaue Literatur459... blaues Journal; es ist nicht erstaunlich, dass die intelligenten und zukunftsträchtigen Männer, auf die Herr Luthereau wartete, nicht gekommen sind, um seine Bemühungen zu unterstützen.] [Auszeichnung der Passagen Maillards durch eckige Klammern von mir, N.P.]
Im Auszug gibt es zwei Ebenen und zwar die inhaltlich-programmatische Absichtserklärung Luthereaus sowie den Kommentar Maillards. Luthereau bedient sich des Bohèmetopos zur Selbstbeschreibung seines Umfelds. Er spricht von den wöchentlich publizierten Druckerzeugnissen als den „designierten Archiven Frankreichs“, „wenn nicht sogar Europas“, was illustriert, wie Autoren die marginalen Zeitschriften als Gesamterscheinung in historischer Perspektive aufwerten. Trotz der geringen Bedeutung, die ihnen in der Gegenwart zukommt, wird ihnen eine Speicherfunktion zugeschrieben, die die Gegenwartskultur erfasse. Maillard kommentiert das Programm der geplanten Zeitung zuerst wie ein ungeduldiger Leser. Stellenweise liest sich der Kommentar wie eine gehässige Replik auf das unerfüllte Vorhaben des designierten Herausgebers. Bezeichnend ist jedoch, dass Maillard dieser Ankündigung eines nie tatsächlich publizierten Projekts so viel Raum einräumt, was einerseits dessen Scheitern unterstreicht, aber andererseits auch die Faszination und Energie offenlegt, die den kleinen Journalen beigemessen wird. Allein als Idee oder in einer programmatischen Ankündigung zu existieren, reicht aus, um von Maillards Chronik erfasst zu werden. Wer projektiert und publiziert, kann als Autor oder Initiator verzeichnet werden. So kommt
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Das lässt an die Blaue Bibliothek denken, populäre Literatur, die seit dem 17. Jahrhundert im blauen Umschlag erschien.
4.4. Dokumentationseifer des Flüchtigen
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auch das Argument des Gründers zum Tragen, dass die Zeitschriften ein Archiv seien. Maillards Ton und Haltung sind der petite presse nah. Er wechselt zwischen Information, Spott, Bewunderung und Enthusiasmus oder ironischer Distanz. Pressetexte haben in der sogenannten „témoignage-Literatur“, also der Literatur, mit der Zeitzeugen Zeugnis ablegen, eine wichtige Funktion als „hypotexte“460. Aus ihnen stammen zahlreiche Zitate und Auszüge. Zum einen machen die Sammelbände ersichtlich, wie unüberschaubar und kreativ die Presselandschaft ist. Zum anderen zeichnen sie in subjektiver Form Namen und Projekte auf. Die literarische Presse befasst sich folglich dokumentarisch-historiographisch mit sich selbst, um ihr Ansehen zu erhöhen. Gleichzeitig wird dort, wo der Schwerpunkt auf Personen gelegt wird, aber auch deutlich, dass einzelne trotz der Mitarbeit in unbekannteren Organen zu einer Würdigung gelangen können. Namentlich verzeichnet zu werden, entweder als Zeitschrift oder als Produzent, ist in dieser Zeit ein gängiger Faktor, um medial präsent zu sein.
4.5 An der Ecke zum Boulevard: Der Figaro erobert Paris „Le cœur de Paris, c’est le boulevard, c’est-à-dire la Presse“461
4.5.1 Satire, celebrity und Stil – Das Programm des Figaro Die erste Nummer des Figaro von 1854 schließt an die gleichnamige Zeitschrift aus der Restaurationszeit Figaro an, ein „journal littéraire“,
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„Cette représentation fondée sur des archives journalistiques repose sur un hypotexte, le journal.“ Ü.: „Diese auf den journalistischen Archiven basierende Darstellung beruht auf einem Hypotext, der Zeitung.“ Thérenty (2006): „De la nouvelle à la main à l’histoire drôle“, S. 48. Ü.: „Das Herz von Paris, das ist der Boulevard, das heißt die Presse.“ Jules Laforgue (1995): Œuvres complètes. Textes établis et annotés par Maryke de Courten. Édition chronologique intégrale. Bd. 2/3 (1884‒1887). Lausanne: L’Âge dʼHomme, S. 655.
230 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin das die jungen Schriftsteller Maurice Alhoy und Étienne Arago am 16. Juli 1826 gegründet haben. Beide beziehen sich explizit auf die FigaroFigur aus Beaumarchaisʼ Komödie Le Barbier de Séville ou La précaution inutile und La folle journée ou le Mariage de Figaro. Als oppositionelle Satire-Zeitschrift besteht die erste Variante des Figaro bis 1833 unter wechselnden Herausgebern mit einer Kursänderung nach der Julirevolution von 1830. Hippolyte de Villemessants Figaro von 1854 stellt nur den erfolgreichsten unter mehreren Versuchen dar, diesen Titel zu reanimieren. Der Figaro knüpft, wie es bei den petits journaux beliebt ist, an erfolgreiche Vorläufer an. Wie schon der Corsaire-Satan präsentiert der Figaro die Geschichte des erfolgreichen Vorgängers als Teil der eigenen.462 Auch später wird im Figaro über Vorläufer und persönliche Vorbilder geschrieben, wichtig ist zum Beispiel der Corsaire-Satan. Jules Viard, früherer Redakteur des Corsaire-Satan, erzählt im Figaro des ersten Jahres Insider-Geschichten, darunter hintergründige Anekdoten über Saint-Alme, den Chefredakteur. 463 Ein Artikel dient dazu, die engen Verbindungen zwischen Figaro, Satan, Coulisses und Corsaire-Satan herauszustellen. Viards Übersicht der jeweiligen Redakteure macht Überschneidungen beim Personal sichtbar.464 Insgesamt demonstrieren diese Texte, wie eng der personelle Austausch unter den Periodika ist, dass Geschichtsschreibung über die petite presse zu ihren Unterhaltungselementen gehören und dass die Zeitschriften selbst dafür sorgen, bestimmten Medien und deren Akteuren einen Stellenwert im öffentlichen Leben einzuräumen.
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H[ippolyte] de Villemessant; B[enoît] Jouvin: „Histoire de l’ancien Figaro. Première partie“. In: Figaro vom 2. April 1854, S. 2f. Jules Viard: „Mes souvenirs sur Lepoitevin Saint-Alme. IV. Saint-Almiana“. In: Figaro vom 1. Oktober 1854, S. 1f. Viard (1854): „Une page de l’histoire“, S. 3.
4.5 An der Ecke zum Boulevard: Der Figaro erobert Paris
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Mit der Eröffnungsnummer vom 2. April 1854 präsentiert sich der Figaro dem Publikum. „En guise de préface“465 heißt der Aufmacher, der statt eines prosaischen Programms eine fiktionale Gründungslegende enthält. Darin kommt Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais (1732‒1799), Schöpfer der literarischen Figaro-Figur, als Autorität und Ideengeber in einem fiktiven nächtlichen Dialog mit dem Figaro zu Wort. Anlass ist, dass Figaro, der als Personifikation auftritt, über sein Zeitungsprojekt grübelt. Beaumarchais bietet konkrete Ratschläge an, um den neuen Figaro auf die Erfolgsspur zu führen. Die drei wesentlichen Punkte betreffen den kritischen Anspruch, den Umgang mit dem Publikum und dem literarischen Feld sowie die stilistische Gestaltung des Mediums. Seine Bedenken die Möglichkeiten von Satire angesichts der Zensur betreffend, räumt Beaumarchaisʼ Alter Ego aus. Insbesondere menschlichen Berühmtheiten solle der Figaro gerecht werden, indem er sie hervorhebe und sich vielversprechenden Zeitgenossen in Porträt-Reihen wie „Les Statues de l’Avenir“466 widme. Später im Figaro erscheinende Reihen wie das „Musée des artistes contemporains“ oder das „Album de Figaro“, das Briefe von bekannten Dichtern, Staatsmännern oder Künstlern veröffentlicht, befassen sich in diesem Sinne mit illustren Personen aus Vergangenheit und Gegenwart.467 Stilistisch tritt das Alter Ego Beaumarchaisʼ als Befürworter der Kürze auf. Als wirkungsästhetisches Credo formuliert der Autor, dass stetiges Gefallen und gelegentliches Staunen Kriterien erfolgreicher Unterhaltung seien.468 Mit dem Programm tritt die neue Zeitschrift das Erbe einer anerkannten literarischen Autorität an und überträgt im Zuge dessen mit einem Understatement die Verantwortung auf eine andere Instanz: „Beaumarchais venait de dicter; il ne nous restait donc qu’à prendre la plume et à nous sou465
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B[enoît] Jouvin: „En guise de préface“. In: Figaro vom 2. April 1854, S. 1f. Ü.: „Anstelle eines Vorworts“. Ü.: „Die Statuen der Zukunft“. H. de Villemessant: „Album de Figaro“. In: Figaro vom 4. Juni 1854, S. 3. B[enoît] Jouvin: „En guise de préface“. In: Figaro vom 2. April 1854, S. 2.
232 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin venir de notre mieux.“469 So weist der Text auf Einschränkungen durch Zensur hin, nimmt aber die eigene Verantwortlichkeit zumindest rhetorisch zurück. Beaumarchais bietet als Autor Identifikationspotenzial, weil er Vertreter der aufklärerischen und komödiantischen Literatur des 18. Jahrhunderts ist. Für sein facettenreiches Leben gilt das auch, denn er ist gesellschaftlicher Aufsteiger mit Hofnähe sowie ein Schriftsteller, der Zensur und Verhaftung erlebt hat.
4.5.2 Der Figaro auf dem Weg zur erfolgreichen Boulevardzeitschrift Der Figaro sticht unter den Zeitschriften der petite presse im Second Empire hervor. Besonders machen ihn seine Langlebigkeit und diverse Anpassungsstrategien, mit denen das literarische petit journal aus dem zweiten Kaiserreich fortbesteht. Als die erste Nummer des „journal non politique“, finanziert von Hippolyte de Villemessant470 (1812‒1878) und Zacharias Dollingen (1808‒nicht genau bekannt), am 1. April 1854 mit einer Auflage von 1000 Stück erscheint, hat es noch eine gängige Versuchsgröße neuer literarischer Zeitschriften. Im September 1853 hatte Dollingen als Gründer und Herausgeber eine Probenummer der Gazette de Paris auf den Markt gebracht, die einen ähnlichen Anspruch wie der Figaro, aber weniger Erfolg hatte.471 Was den Figaro angeht, so habe er
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Ü.: „Traum, Phantasmagorie oder Eingebung, das Ergebnis von all dem waren für Figaro Prinzipien und ein vorab skizziertes Programm. […] Beaumarchais hat es diktiert, uns blieb also nur noch, die Feder zu nehmen und uns nach bestem Wissen daran zu erinnern.“ Ebd., S. 2. Umtriebiger Medienmacher, der von 1839 bis 1870 gut zwanzig Periodika herausbringt. Sophie Spandonis (2010): „Un Figaro, des Figaro: Les marges dʼun succès (1854‒1875)“. In: Blandin (Hg.): Le Figaro. Histoire dʼun journal, S. 65–86, hier S. 67. Spandonis (2008): „‚Un monde entier à remuer‘. La vie et l’esprit parisiens dans la Gazette de Paris de Dollingen (1856–1859)“. In: Aude Déruelle; José-Luis Diaz (Hg.): La Vie parisienne. Actes du IIIe Congrès de la SERD. URL: http://etudes-romantiques.ish-lyon.cnrs.fr/wa_files/Spandonis.pdf (27.04.2020).
4.5 An der Ecke zum Boulevard: Der Figaro erobert Paris
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selbst von Beginn an Wert auf die Frage gelegt, wie man die Zeitschrift dem Pariser Publikum nahe bringen könne, berichtet der Teileigner und erste Chefredakteur Villemessant. Geschickte Strategien bei der Abonnentenwerbung sind ein Erfolgsfaktor, denn der Figaro bietet öffentlichen Einrichtungen mit vielen Kundinnen und Kunden wie Hotels, Cafés, Restaurants, Lesekabinetten, Frisörsalons und Bädern das Blatt an, welches laut interner Werbeanzeige „sehr große Popularität“472 anstrebe. Vertreter auf Provisionsbasis suchen potenzielle Käuferinnen und Käufer auf und boten ihnen ein Jahresabonnement an, das sie erst nach Ablauf des ersten Jahres zahlen müssen.473 Außerdem vertreiben manche Buchhändler und Vertriebsgesellschaften, sogenannte Bureaux de Messageries, auch Einzelnummern, ein Vertriebsweg, der bei der Gründung noch nicht so ausgebaut war.474 Bis zur Jahrhundertmitte mehren sich langsam die öffentlichen Verkaufsstellen. Eine Übersicht der Kioske am Boulevard zeugt davon, dass die Linie der großen Boulevards von Saint-Martin bis La Madeleine zu einem Hauptvertriebsort der Printmedien wird.475 Bereits die Adressangabe im Impressum des Figaro stellt die räumliche Nähe zum Boulevard heraus: „48, rue Vivienne, au coin du boulevard“476. Figaro gilt als „journal conçu par le boulevard pour le boulevard“477, womit der Raum und dessen bestimmtes Publikum gemeint sind, denn die Boulevardpresse im Second Empire wurde zunächst „ausschließlich ihrer Lokalisierung we-
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Text einer Annonce im Figaro vom 2. April 1854, S. 4. H[ippolyte] de Villemessant (1873): Mémoires d’un journaliste. Bd. 3: À travers le Figaro. Paris: E. Dentu, S. 26. Ebd., S. 20. Vgl. die Übersicht von Feyel; Lenoble (2011): „Commercialisation et diffusion des journaux“, S. 199. Z.B. Figaro vom 2. April 1854, S. 1. Ü.: „Vom Boulevard für den Boulevard konzipierte Zeitschrift“. Spandonis (2010): „Un Figaro, des Figaro“, S. 71.
234 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin gen ‚presse boulevardière‘ genannt“478. Auch der Gründungsmythos, den der Ideengeber Villemessant in seinen Memoiren prägt, ist mit dem Boulevard verbunden. Schließlich begegnen sich dort Léo Lespès, später bekannter Feuilletonist, und Villemessant, bevor sie im Café Véron auf dem Boulevard Montmartre die Gründung beschließen. Ihre Zusammenkunft basiert auf einem effektiven Zufall, denn beide Männer hegen den Wunsch, eine Zeitschrift zu gründen.479 Der Figaro, den sie gründen, wird letztlich anders als die Künstler- und Studentenzeitschriften des Quartier latin wie Triboulet, L’Appel oder Le Sans le Sou neben Künstlern, Schauspielerinnen und Journalisten auch ein (groß)bürgerliches Publikum erreichen. Figaro und andere Boulevardtitel heben sich von den Blättern der Quartier-latin-Bohème ab durch ihren Erfolg bei diesem Publikum der Boulevardtheater, das über die Produzenten und Freunde hinausgeht. Gemeinsam ist beiden aber, dass sie der petite presse als einer literarischen und nicht-politischen Presse angehören und dass sie der Vorwurf der Selbstbezüglichkeit beide – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – trifft. Insbesondere Boulevardzeitschriften mit für die petite presse vergleichsweise hoher Auflage wie Figaro oder Le Mousquetaire erringen in den 1850er Jahren eine das Stadtleben betreffende, gesellschaftliche und literarische Machtposition, indem sie zum öffentlichen Ansehen von Personen des Kulturbetriebs und Schriftstellern beitragen. In den petits journaux loten Produzenten und Publikum aus, wo die Grenzen des moralisch zulässigen, des Skandals, der Sensation, der Indiskretion liegen, selbst wenn sie teils planvoll überschritten werden. Historiker und Zeitzeugen
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Walburga Hülk (2012): „Fait divers und storytelling ‒ Verhandlungen zwischen Presse und Literatur“. In: dies.; Schuhen (Hg.) (2012): Haussmann und die Folgen, S. 53– 66, hier S. 55. Zum Konzept der Boulevardpresse siehe auch Johannes Raabe (2013): „Boulevardpresse“. In: Günter Bentele; Hans-Bernd Brosius; Otfried Jarren (Hg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. 2., überarb. und erw. Auflage. Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften. Villemessant (1873): Mémoires d’un journaliste, S. 19f.
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bezeichnen die „petits journaux non politiques“ des Zweiten Kaiserreichs wie Figaro, Le Tintamarre, Le Nain jaune, Diogène oder Alexandre Dumas’ Le Mousquetaire teils wegen der räumlichen Zuordnung, aber auch schon teils wegen der Skandalisierung als presse boulevardière.480 Auch thematische Gründe nehmen auf den Begriff Einfluss, denn die Zeitschriften widmen sich in erster Linie dem Boulevard, seinen Theatern und Cafés und sind wie der Figaro nicht selten nahe am Geschehen. Das Adjektiv boulevardièr(e) kann ortsbezogen, aber zugleich als stilistisches Merkmal aufgefasst werden. Laut Larousse definiert das Substantiv „boulevardier“ eine Person, die die großen Pariser Boulevards frequentiert: „A Paris, personne qui fréquente les grands boulevards“. Das Adjektiv boulevardier meint auch Personen und Dinge, die mit dem Boulevard verbunden sind: „Qui a rapport à ces personnes, aux boulevards: l’esprit, l’argot boulevardier“481. Es wird mit einem bestimmten „Geist“ oder „Slang“482 verbunden, der sich auch in der Presse wiederfindet. Der Begriff Boulevardpresse wird erst Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchlicher und wird sowohl in der Presse für die Gegenwart als auch rückblickend auf die petite presse im Zweiten Kaiserreich übertragen. Dann etabliert sich der Boulevardbegriff endgültig in der Weise, wie er heute im deutschsprachigen Gebrauch für die Medien verwendet wird, nämlich für eine bestimmte, umstrittene Gestaltungsweise und Wirkungsabsicht von Medien. Über das 19. Jahrhundert hinaus ist die Boulevardpresse (presse boulevardière) jedoch in Frankreich anders als in Deutsch-
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Titel nach Jollivet (1927): Souvenirs de la vie de plaisir, S. 235. Ü.: „In Paris, Person, die die großen Boulevards frequentiert. Adj. Wer/Was Verbindung zu diesen Personen, zu den Boulevards hat: der Geist, der boulevardeske Jargon“. Art. „boulevardier, ière“. In: Pierre Larousse (1922): Petit Larousse illustré, nouveau dictionnaire encyclopédique. 185e édition, publié sous la direction de Claude Augé. Paris, S. 121. Zum Soziolekt und Wortschatz des Boulevards s. Jean René Klein (1976): Le vocabulaire des mœurs de la ‚Vie parisienne‘ sous le Second Empire. Introduction à lʼétude du langage boulevardier. Louvain: Bibliothèque de lʼUniversité Bureau du Recueil.
236 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin land nicht zum festen Genrebegriff geworden.483 Etwas von der frühen Entwicklung im Second Empire, durch die der Boulevard auch mit einer gewissen medialen Wirkung verbunden wird, deutet sich im Umfeld des Figaro an. Zum Beispiel in der Interpretation des Historikers Jules Bertaut, der Boulevardzeitschriften rückwirkend einen besonderen esprit zuschreibt, den er „teuflisch“ nennt. Wirkung und Verbreitung der Boulevardpresse wie dem Figaro schildert er so: […] feuilles minuscules rédigées avec un esprit infernal qui couraient tout le long des Boulevards, du Gymnase à la Madeleine, s’inséraient dans les cafés, se glissaient sous les portes des maisons bourgeoises, forçaient les demeures les plus austères pour apporter à tous de la gaieté, de l’esprit, du bruit.484 […] winzige Blätter mit teuflischem Geist verfasst, die entlang des Boulevards, von Gymnase bis Madeleine kursierten, sich in Cafés integrierten, unter den Türen der bürgerlichen Häuser hindurch hineinglitten, sie brachen die enthaltsamsten Wohnsitze auf, um allen Heiterkeit, Geist und Gerüchte zu bringen.
Außer der moralischen Konnotation werden auch die Energie und Anziehungskraft des Formats deutlich. Unterhaltung, unklare Grenzen zwischen Fakt und Erfindung sowie Ideen zeichnet diese Presse aus, die es außer in die Cafés schafft, auch in die häusliche, bürgerliche Sphäre „einzudringen“. Dieses Eindringen der Medien, deren Ruf umstritten ist, mischt die literarische und urbane Öffentlichkeit auf. Zum typischen Kundenkreis kann man das Tout-Paris zählen: eine kulturaffine städtische High Society: […] comme clients [du Figaro, N.P.], le Tout Paris, c’est-à-dire cet infiniment petit morceau de Paris qui mène son train entre le 483
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Anders verhält es sich mit dem Boulevardtheater, denn „théâtre de boulevard“ findet sich in französischen Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts ebenso wie noch heute im gleichen Sinne. Bertaut (1924): Le Boulevard, S. 211.
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Gymnase et l’Opéra, Notre-Dame-de-Lorette et la Bourse, et s’imagine exister seule: des coulissiers, des comédiens, des journalistes; sans compter la légion agitée, affairée, des bons boulevardiers qui ne font rien.485 […] als Kunden [des Figaro, N.P.], das Tout-Paris, das bedeutet dieses unendlich kleine Stück von Paris, das seine Stimmung verbreitet zwischen Le Gymnase und der Oper, Notre-Dame-de-Lorette und der Börse und sich vorstellt, ganz allein zu existieren: coulissiers, Schauspieler, Journalisten; ungerechnet die bewegte geschäftige Menge an tüchtigen Boulevardiers, die nichts tun.
Der Boulevard kanalisiert den Kommunikationsfluss der Hauptstadt: Er ist der wesentliche Handlungs- und Verbreitungsort von Neuigkeiten. Im Zitat kommt Skepsis gegenüber der selbstbezogenen Gesellschaft zum Ausdruck. Das „unendlich kleine Stück“ Paris weist auf die Unverhältnismäßigkeit zwischen Größe und beigemessener Bedeutung hin. Figaros Adressatenkreis ist ähnlich beschränkt wie der der Quartier-latin-Blätter, doch handelt es sich um eine andere, zumindest weiter gefasste Zielgruppe. Für Boulevardzeitschriften gilt, was die petite presse ohnehin auszeichnet: Publikum und Produzenten sind eng verbunden und potenziell austauschbar. Jene besondere Nähe zwischen Autoren und Publikum überspitzt Charles Monselet in einem drastischen Bild: […] un journal [der Figaro, N.P.] qui est la terreur et l’amusement des Athéniens du boulevard. On ne s’occupe guère dans ce journal que des littérateurs, des boursiers et des comédiennes. Les articles sur les boursiers y sont faits par les littérateurs; les articles sur les littérateurs y sont faits par les comédiennes. Au milieu de ce pêlemêle, de ce bruit, de cet esprit, de ces passions, de ces efforts, de
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Alphonse Daudet (1930): Trente ans de Paris. A travers ma vie et mes œuvres. 1888. In: Œuvres complètes illustrées. Bd. 12/20. Paris: Librairie de France, S. 9.
238 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin ces haines et de cette incohérence, la tête de Villemessant se dresse, joyeuse, comme une Méduse enivrée?486 […] eine Zeitung [der Figaro, N.P.], die der Schrecken und die Unterhaltung der Athener des Boulevards ist. Man kümmert sich in dieser Zeitung nur um die Literaten, die Börsianer und die Schauspielerinnen. Die Artikel über Börsianer sind dort von Literaten verfasst, die Artikel über Literaten sind von den Schauspielerinnen verfasst. Inmitten dieses Durcheinanders, dieses Rauschens, dieses Geistes, dieser Leidenschaften, dieser Bemühungen, dieses Hasses und dieser Inkohärenz dreht sich Villemessants Kopf vergnügt, wie eine betrunkene Medusa?
Affekte und Widersprüche prägen den öffentlichen Raum. Dort können Personen gleichzeitig Verfasser oder auch Inhalt einer Nachricht sein, sofern sie aus den Bereichen Kultur, Wirtschaft oder Medien stammen. Monselets Wortwahl bestehend aus „Durcheinander“, „Rauschen“, „Leidenschaften“ oder „Hass“ deutet auf heftige Emotionen und Energien hin. Dem Boulevard wird per se unterstellt, dass seine Gespräche, Ereignisse und Pointen vom Kulissengeplauder über die Redaktionsinterna hin zum Cafégespräch interessieren könnten. In Verruf bringt die Zeitschriften, dass sie private, intime Details medial verbreiten und darunter womöglich Unwahres oder Interessegeleitetes einen Platz an die große Öffentlichkeit finden kann. Dem Boulevard und dessen Klatsch verschrieben, wird der Figaro von kritischen Stimmen als „Hexenküche“487 der Pariser Gesellschaftsbeobachtung angesehen. Er steht für all das, was an Kultur- und Pressekritik in der Jahrhundertmitte aufgeboten wird, doch keineswegs neu ist: Käuflichkeit und Erpressung, Sensations- und Skandalorientierung sowie unklare Grenzen zwischen Fakt und Fiktion.
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Charles Monselet (1857): La lorgnette littéraire. Dictionnaire des grands et des petits auteurs de mon temps. Paris: Poulet-Malassis et de Broise, S. 220. Alphonse Daudet beschreibt die Figaro-Redaktion als „cuisine infernale“. Ders. (1930): Trente ans de Paris, S. 9.
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Mit und in den petits journaux im Second Empire entwickelt sich aus dem Politikverdikt eine umstrittene Tugend, da Berühmtheiten und Persönlichkeiten des kulturellen Lebens den Platz der Herrschenden des Staates einnehmen. Vor allen Dingen äußert sich das darin, dass die kulturelle Szene sich und ihresgleichen mit Biss, Ironie und Spott betrachtet. Villemessant umreißt die Ausrichtung des Figaro als notgedrungen unpolitisch: „Comme il m’était défendu de parler politique, je dus faire du Figaro un journal qui fût surtout littéraire; l’actualité des salons, des théâtres, des boulevards tenait lieu du récit des émotions de la Chambre et de variations sur des thèmes politiques.“488 Als „Echokammer des Boulevards“489 verbreitet die Zeitschrift Neuigkeiten und Mutmaßungen in unzähligen Kolumnen, die ähnliche Titel tragen und teils zur selben Zeit erscheinen, unter anderem Chronique de Paris, Chronique parisienne, Échos de Paris, Courrier de Paris, Nouvelles à la main, Nouvelles à la main du Figaro, Bruits de la ville, Petite gazette, Petit Figaro, Bruits de la semaine, Histoires parisiennes, Les Cercles parisiens, Causeries usw.490 Die Arbeitsstätte des Boulevardiers Interessanterweise rückt die Figaro-Figur die ambivalente, im Umbruch befindliche Position der Schreibenden ins Bild. Zu ihr gehört ein Nachdenken über den Raum, in dem das Schreiben stattfindet, aber auch denjenigen Raum, auf den sich das Schreiben bezieht. Um die Sparten von Journalen wie dem Figaro zu befüllen, sei es für die petits journalistes unabdingbar, wie Alfred Delvau behauptet, sich an den Stätten des Bou488
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Ü.: „Da es mir verboten war, über Politik zu sprechen, musste ich aus dem Figaro eine Zeitschrift machen, die vor allem literarisch war; Aktuelles aus den Salons, Theatern, des Boulevards kam vor, anstelle des emotionalen Berichts aus der Kammer und Variationen über politische Themen.“ Villemessant (1873): Mémoires d’un journaliste, S. 237. „chambre d’échos du boulevard“. Thérenty (2007): La littérature au quotidien, S. 166. Spandonis (2010): „Un Figaro, des Figaro“, S. 72.
240 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin levards aufzuhalten: „Pour faire du petit journalisme, pour écrire des racontars de brasserie, l’atmosphère du boulevard est nécessaire, – comme les excitants le sont à l’esprit“491. Delvau (re)formuliert damit einen einflussreichen Produktionsmythos aus dem Umfeld des petit journalisme, nämlich, dass Dabeisein und Miterleben notwendig seien. Er beschreibt den petit journaliste als Boulevardgänger, der die besondere Atmosphäre der Bars, möglicherweise sogar den Rausch, aber zumindest das Geschehen für sein Schaffen braucht. Auf dem Boulevard mit seinen dazugehörigen Etablissements als Beobachter präsent zu sein und somit auf der Straße zu arbeiten und zu schreiben, wird im Zuge dessen zum imaginären Gegenpol der Mansarden und Dichterstuben. Dieser Wandel betrifft alle Autoren, aber es sind insbesondere die Zeitungen, die sich an den Boulevards ansiedeln wie Figaro, die eine Nähe zum urbanen Geschehen der High Society und der Theater noch mal anders betonen. Wenn man möchte, kann in der Titelgraphik des Figaro eine boulevardier-Figur erkennen.
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Ü.: „Um petit journalisme zu betreiben, um Kneipenklatsch zu schreiben, ist die Boulevardatmosphäre nötig wie ein Aufputschmittel für den Geist“. Delvau (1866b): Henry Murger et la Bohême, S. 110.
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Abb. 13: Titelkopf des Figaro, Nr. 9 vom 28. Mai 1854 (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France)
Wie die früheren Figaro-Zeitschriften nutzt der neue Figaro die gleichnamige Figur als Aufmacher in einer Graphik, die den Figaro als Autor- und Bühnenfigur interpretiert.492 Mit der Feder in der rechten Hand, die ihn als Autor ausweist und einer hinweisenden Geste der linken Hand, womit er auf eine diffuse Menschenmenge im Hintergrund rechts deutet. Die abgebildeten Personen stehen eng gedrängt wie ein Theaterpublikum oder eine Masse auf der Straße und streben oder blicken teils in unterschiedliche Richtungen. Die Graphik verbindet zwei Szenerien. Figaros Handlung und Pose ist mehrdeutig, er schreibt und er präsentiert gleichzeitig. Dabei ist er von den Menschen abgewandt und gleichzeitig auf sie bezogen. Das verdeutlicht einen engen Zusammenhang zwischen Produktion und Rezeption, nämlich eine zeitliche Nähe zwischen Schaffen und Verbreiten sowie eine inhaltliche Nähe zwischen dem Geschehen im Publikum und der Schreibstube. Figaro ist Produzent, er ist Rezipient und Vermittler zu-
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Villemessant (1873): Mémoires d’un journaliste, S. 19f.
242 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin gleich. Es liegt nahe, dass sein Schreiben vom Geschehen ausgeht, auf das es bezogen ist, und sich an die Menschen im Hintergrund richtet. Unterstrichen wird das durch die Raumordnung. Auf der linken Seite zeigt sich die Schreibstube oder der Künstlerraum, der als Innenraum zu sehen ist. Das Interieur – darunter befinden sich der Schreibtisch, Bücher und eine Gitarre, die auf intellektuelle, künstlerische und literarische Beschäftigungen hindeuten – ist ungeordnet. Obwohl viele Motive in der linken Bildhälfte an eine Dichterstube denken lassen, ist der Figaro keine klassische Dichterfigur. Sein Standort ist gleichzeitig Bühne, deren Mittelpunkt der Schreibende einnimmt. Der klassische Rückzugsraum der Mansarde ist aufgebrochen. Im Bild sind zwei Öffentlichkeiten vorhanden, zum einen das abgebildete Publikum im Hintergrund, zum anderen die unsichtbaren Bildbetrachter, in deren Richtung der Figaro schaut. Nichtsdestotrotz enthält die Art und Weise, wie die Masse gezeichnet ist, eine distanzierte Note. Die Rolle des Figaros in der Interpretation der Titelseite versinnbildlicht das Wirken für die Boulevardpresse. Figaro ist der positiv konnotierte Inbegriff des boulevardiers, der das Aufbrechen der beiden Sphären – Schreibstube und Außenwelt, Literatur und Stadtraum, Autorschaft und Publikum – illustriert. Oben wurde der boulevardier nach dem Lexikon Larousse als Person definiert, die auf dem Boulevard unterwegs ist. Im Pressekontext hat die Wortschöpfung boulevardier Anfang der 1860er eine spezifischere Bedeutung. Zwar ist der Boulevardier kein ganz neuer Typus, er hat Vorläufer und Verwandte im Dandy und dem gandin493, aber er unterscheidet sich in dem Moment von anderen Typen, die auf dem Boulevard flanieren oder konsumieren, als er zum Medienproduzent wird. „Boulevardier“ wird als Neologismus dem konservativen Journalisten Veuillot zugeschrieben, der ihn als abwertende Fremdbezeichnung gebraucht: „La 493
„[Sous le Second Empire] Jeune homme très élégant, raffiné et assez ridicule“. Ü.: „[Im Zweiten Kaiserreich] Junger, sehr eleganter Mann, kultiviert und ziemlich lächerlich“. Art. „Gandin“. In: Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales. URL: http://www.cnrtl.fr/definition/gandin (04.05.2020).
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presse boulevardière – Plus libre […] que l’autre, la petite presse menait grand tapage, et ce n’était pas un mince agrément pour ceux que Veuillot baptisait déjà du nom de ,boulevardiersʻ, de se précipiter tous les samedis sur les petits journaux non politiques“494. Mit denjenigen Personen, die sich auf die kleinen, nicht-politischen Zeitschriften stürzen, können Leser, aber auch Chronisten, Klatschkolumnisten und Anekdotenschreiber gemeint sein. Gaston Jollivet verbindet die Boulevardiers mit der „freieren“ Boulevardpresse, die sich vorzugsweise der Theater, Opern und Cafés annehme und Kuriosa über Personen mit geringer Reputation ebenso wie unbedeutende, kleine Details von wichtigen Personen verbreite. 495 Damit drückt er einen boulevardesken Aspekt aus, der auch in anderen Überlegungen zum Figaro reflektiert wird. Einer der ersten, der in historischer Perspektive die Konstellation von Bohème und Boulevard(ier) für die Literaten des Zweiten Kaiserreichs kritisch auf den Punkt gebracht hat, ist Walter Benjamin. Die prekären Lebensumstände führten die Schriftsteller Benjamin zufolge zur Anpassung an die neuen Gegebenheiten: Die Assimilierung des Literaten an die Gesellschaft, in der er stand, vollzog sich dergestalt auf dem Boulevard. Auf dem Boulevard hielt er sich dem nächstbesten Zwischenfall, Witzwort oder Gerücht zur Verfügung. Auf dem Boulevard entfaltete er die Draperie seiner Beziehungen zu Kollegen und Lebeleuten; und er war auf deren Effekte so angewiesen wie die Kokotten auf ihre Verklei-
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Ü.: „Die Boulevardpresse – freier […] als die andere, die petite presse lebte auf großem Fuß und es war keine geringe Zier für die, die Veuillot schon unter dem Namen ‚boulevardiers‘ getauft hat, sich jeden Samstag auf die kleinen nichtpolitischen Zeitschriften zu stürzen“. Jollivet (1927): Souvenirs de la vie de plaisir, S. 235. Siehe auch: Louis Veuillot (1867): „Les boulevardiers“. In: ders.: Les odeurs de Paris. Paris: Palmé, S. 62‒66. Jollivet (1927): Souvenirs de la vie de plaisir, S. 235.
244 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin dungskunst. Auf dem Boulevard bringt er seine müßigen Stunden zu, die er als Teil seiner Arbeitszeit vor den Leuten ausstellt.496
Benjamins boulevardier ist ein aufmerksamer Sammler, der sich durch seine Nähe zum Geschehen auszeichnet und vor allem über Präsenz sowie seine Kontakte wirkt. Benjamin markiert in dem Zitat aus seinem Essay Charles Baudelaire einen Wendepunkt vom autonomen, kritischen Autor zum Lieferanten des Boulevards – vom Bohemien zum Boulevardier, wenn man so will. Benjamin setzt sich als einer der wenigen in funktionaler Weise damit auseinander, wie sich die Literatur im Zuge der Presseentwicklung verändert und wie sich dies auf die Schreibweise der Literaten auswirkt. Benjamins Beschreibung ist insofern ambivalent als darin eine gewisse Aversion oder zumindest eine Skepsis gegenüber der publikumsorientierten Kulturindustrie mitschwingt, aber ebenso die Bewunderung für den wandlungsfähigen Literaten, der seine Arbeitszeit ausstellt, die man in der Fortsetzung des oben genannten Zitats herauslesen kann. Des Weiteren enthält Benjamins hier zitierter Text eine Beschreibung dieser neuen Literatur, die in einen Kontext eingebettet wird. Zwar bedingt das Mitschreiben und das Aufschnappen von „Witzworten“ sowie Gerüchten eine Form der Tätigkeit, die dem bekannten Klischee der zurückgezogenen, inspirierten schöpferischen Arbeit widerspricht. Aber Benjamin kehrt neben dem Aspekt des urbanen Umfelds auch die soziale Dimension des Schreibens hervor. Und Benjamin betrachtet den Schaffensmodus des boulevardiers als einen rezeptiven, der mit Wachheit und Aufmerksamkeit verbunden ist. Der müßige Aufenthalt desjenigen Autors, der seine Rolle ausstellt, gehört zum literarischen Schaffen der Zeit, welches wiederum eng an die mediale Öffentlichkeit gebunden ist. Das Netzwerk aus Kollegen und monde ist essenziell für das Wirken des Literaten; dass es mitunter Anklänge an Korruption und Prostitution hat, 496
Walter Benjamin (1974): Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 26.
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davon zeugt der Vergleich mit der „Verkleidungskunst“ der „Kokotten“. Benjamin erfasst an dieser Textstelle, die bei weitem nicht die einzige im Buch ist, die die Presseliteraturgeschichte des Second Empire durchdringt, den neuen Modus des Schreibens und die Haltung des Schreibenden. Er legt dessen Verquickung mit dem Aufenthalt im urbanen Schaffensraum offen. Mit seinem Hinweis auf die Beziehung zu Kollegen und zur monde deutet er an, welchen Stellenwert das Umfeld in der ambivalenten und widersprüchlichen Praxis der Medienbohème innehat, in der Werte wichtig sind, Ethiken verhandelt werden und keinesfalls ein einfacher Übertritt von einer Sphäre der ‚reinen‘ in die der ‚korrumpierten‘ Szene stattfindet. Neben der historisch rückblickenden Analyse der Boulevardpraktiken, die Benjamin angestellt hat, gibt es bereits zeitgleich Kritik am Boulevard und Skepsis gegenüber dieser Figur. Zeitgenössische Kritik am boulevardier zielt auf mehrere Ebenen, was typisch für die Medienskepsis ist. Der boulevardier verdeutlicht den hybriden Status der petite presse als Medium, das die Möglichkeiten austestet, die politischen Grenzen zu wahren, ohne zu langweilen oder zu oberflächlich zu werden.497 Das, was der boulevardier kann, nämlich kunstvoll kommentieren und unterhalten, dem Umfeld der urbanen Elite den Spiegel vorhalten, stellt Ansprüche an ihn. Mit Phrasen und Klischees kann er ästhetische Ansprüche verletzten, mit persönlich motivierten Äußerungen, Indiskretionen, Enthüllungen oder sachferner Kritik moralische Grenzen überschreiten.498 In jedem Fall ist der boulevardier ein einschlägiger Vertreter dieses Kosmos, der um sich selbst kreist. Jules Claretie, 497
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Klaus Hartung bricht eine Lanze für die keineswegs unpolitische Boulevardpresse: „Die Rede von der Oberflächlichkeit der Boulevardkultur verfehlt den Geist der Epoche. Denn die kulturellen Triebkräfte und kritischen Energien hatten sich gerade an die Oberfläche geflüchtet, um ihre Wirkung zu entfalten“. (1997): „Corso-AvenueBoulevard. Die Utopie des Boulevards“. In: Verschiedene (Hg.): Boulevards. Die Bühnen der Welt. Berlin: Siedler, S. 13–55, hier S. 38f. Für den Zusammenhang von ästhetischer Wertung, Feuilleton und Boulevardkultur siehe Matala de Mazza (2018): Der populäre Pakt. Die Autorin nimmt den Stellenwert ernst, den das Feuilleton für den ‚populären Pakt‘ habe, einen „Pakt, der ein demokratisches Versprechen der allgemeinen Teilhabe ästhetisch erneuert“, S. 25. Vgl. Hülk (2016): „Phrase und Gemeinplatz“, S. 365.
246 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Schriftsteller und Theatermann, fasst diese limitierte Aufmerksamkeit für einen Raum in folgendem Bild: Le boulevardier est un provincial à rebours. Il ne s’occupe que de ce qui se passe entre le carrefour Montmartre et la place de l’Opéra. Il ne respire à l’aise que dans cet espace restreint où il se promène lentement, comme un prisonnier volontaire dans son préau.499 Der Boulevardier ist ein Provinzler gegen den Strich. Er kümmert sich nur um das, was sich zwischen dem Carrefour Montmartre und dem Place de l’Opéra abspielt. Er atmet nur in diesem beschränkten Raum behaglich durch, wo er langsam spaziert wie ein freiwilliger Gefangener in seinem Innenhof.
Dass sich der boulevardier auf ein sehr kleines Gebiet beschränkt, stellt der Journalist als Provinzgebaren gegen den Strich dar. Er deutet einen gewissen Provinzialismus durch den beschränkten Horizont an, den die boulevardiers der Metropole hätten. Hierin steckt auch Kritik, denn das Gebaren wird als „freiwillig“ beschrieben, womit politische Einschränkungen der Journalisten als Ursache für thematische Grenzen expressis verbis ausgeklammert werden. Der Vorwurf erinnert an eine von Villemessant formulierte, vielfach überlieferte Maxime, die den Nachrichtenwert der Boulevardpresse zusammenfasst: „Un chien qu’on écrase sur le boulevard est plus important qu’un grand homme qui meurt à NewYork.“500 Auf dem Boulevard wird folglich lokalen Zwischenfällen mehr Bedeutung beigemessen als einem entfernt liegenden Ereignis von vergleichsweise größerer Relevanz, was die Rede vom „großen Mann“ suggeriert. Villemessant, der ohnehin einige pressetheoretische und –poeti499
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Jules Claretie (1896): La vie à Paris: 1880–1910. 17 Bände (1881–1911). Paris: G. Charpentier et E. Fasquelle, S. 97. Ü.: Ein Hund, den man auf dem Boulevard überfährt, ist wichtiger als ein großer Mann, der in New-York stirbt.“ Léo Claretie (1908): „La Presse au XIXe siècle“. In: Louis Petit de Julleville (Hg.): Histoire de la Langue et de la Littérature française des Origines à 1900. Bd. 8/8, Dix-neuvième siècle [2.] Période contemporaine (1850‒ 1900). Paris: Librairie Armand Colin, S. 537–596, hier S. 575.
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sche Überlegungen in seinen Schriften dargelegt hat, benennt damit ein Kriterium des Boulevards, das sich durchsetzen wird, nämlich die fehlende Universalität.501
4.5.3 Der Figaro und die Bohème Stolz verkündet Villemessant im Rückblick, dass mehr oder weniger alle Autoren Mitte der 1850er Jahre beim Figaro mitgearbeitet haben.502 Dass der Figaro offen für unterschiedlichste Mitwirkende ist, bezeugt auch Jules Viard, der behauptet: „Figaro est un peu la tribune de tout le monde“503. Auf der einen Seite orientiert sich der Figaro am bürgerlich-mondänen Publikum, auf der anderen wird er als Arbeitsstätte der Bohème erinnert. Einerseits ein Aushängeschild des Boulevards zu sein und andererseits ein Magnet der Literatenbohème, ist beim Figaro kein Widerspruch. Im letztgenannten Sinne präsentiert ihn der Schriftsteller Alphonse Daudet: „On les appelait bohèmes, et ils ne s’en fâchaient point. Le Figaro, celui d’alors, non politique et paraissant une fois par semaine seulement, était le plus souvent leur tribune.“504 Im Figaro der ersten Jahre gehört die Bohème zum Themenkanon. Das betrifft jenen bestimmten Personenkreis, der mit Henry Murger verbunden wird, aber auch allgemeiner die Praktiken und Widrigkeiten des Literatenlebens, die als bohemisch gelten. Anekdoten, Neuigkeiten und Epi-
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Vgl. Jörg Hennig (1999‒2002): „Geschichte der Boulevardzeitung“. In: Joachim-Felix Leonhard; Hans-Werner Ludwig (Hg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Berlin, New York: W. de Gruyter, S. 955–964, hier S. 955. Villemessant (1873): Mémoires d’un journaliste, S. 224. Ü.: „Figaro ist ein wenig die Tribüne von jedermann“. Titel einer Sammlung von Leserbriefen: „M. de Lamartine par devant les rédacteurs du Figaro“. Jules Viard zum Figaro in einem Brief an Villemessant 22. Juni 1856, S. 4. Ü.: „Man nannte sie bohèmes und sie störten sich nicht daran. Der Figaro, der von damals, der nicht-politisch war und nur ein Mal pro Woche erschien, war allermeistens ihre Tribüne.“ Daudet (1930): Trente ans de Paris, S. 64f.
248 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin sodisches zur zeitgenössischen und früheren Bohème präsentiert sogar der Herausgeber selbst in „Paris – Bohême“505. Auch seine „Nouvelles à la main“ oder „Échos de Paris“ bringen regelmäßig kurze Texte, in denen die Gruppe auftaucht. Wie früher im Corsaire-Satan ist das Thema Geldmangel bestimmend; die wechselnden Phasen aus Mangel und Überfluss, die mit Genuss und Verschwendung zelebriert werden oder andere Aspekte, die den Bohème-Kreis als zweifelhaft auszeichnen, sind übliche Gegenstände.506 Manche Typenstudien oder Sittenporträts differenzieren den bohemischen Kosmos sogar noch aus. Der Feuilletonist Leo Lespès stellt unter dem „débiteur“507 Vorurteile und typische Verhaltensweisen gegenüber dem Künstler, der Geldmangel hat, vor. Der Bohemien ist Mitte der 1850er Jahre nach wie vor Protagonist des urbanen Gesellschaftspanoramas. Einerseits findet eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Bohème statt, ablesbar zum Beispiel an der Studie des Feuilletonisten Lespès, der der Frage, ob es eine weibliche Bohème gebe, in einer Typenstudie zu literarischen Frauenfiguren nachgeht. Insgesamt stellt Lespès eine Reihe weiblicher Typen von der lorette über die bohemische Muse und die Kameliendame bis hin zu sogar schöpferischen Frauen wie der „femme-auteur bohême“, der „bohême peintre“ und der „Actrice bohême“508 vor. Lespès weitet das urbane Typen-Panorama aus. Andererseits verbindet sich die Bohème im Medienumfeld zunehmend mit einem zweifelhaften Ruf, ein Aspekt, der im nachfolgenden Kapitel vertieft wird. Wie in LʼAppel oder in der Tribune des poëtes kommt Jugend auch im Figaro vor und zwar als positiv konnotierter Anspruch der
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H[ippolyte] de Villemessant: „Paris – Bohême“. In: Figaro vom 20. August 1854, S. 4. Siehe zum Beispiel A. de Bragelonne: „Nouvelles à la main“. In: Figaro vom 5. Oktober 1856, S. 1f.; Gustave Bourdin: „Causerie“. In: Figaro vom 7. Dezember 1856, S. 3‒5; Adolphe Legendre: „Courrier de la ville“. In: Figaro vom 25. Dezember 1856, S. 4‒6. Ü.: „Schuldner“. Villemessant zitiert die Schuldnerskizzen Lespèsʼ in seinen Memoiren. Ders. (1873): Mémoires d’un journaliste, S. 91. Léo Lespès: „La bohême femelle“. In: Figaro vom 27. August 1854, S. 3.
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petite presse. Jugend ist darin aber kein Fahnenwort, das für die Auflehnung gegenüber Machtstrukturen und Ausschlüssen steht, sondern ein Begriff, der eher für das innovative Moment und den schöpferischen Geist steht. In „Les Jeunes“509 porträtiert Eugène Wœstyn ‚neue‘ literarisch-künstlerische Talente, distanziert sich aber von den marginalen Autoren und Neuankömmlingen. Seiner Ansicht nach sei die „jeunesse en littérature“ gerade nicht die Bohème, nicht jene „bacheliers“ und „Enfants terribles de la littérature“510, die frisch aus der Provinz ankämen. Jugend in der Kunst ist für ihn nicht mit dem Lebensalter gleichzusetzen: „la jeunesse en littérature […] ne concorde pas toujours avec les registres de l’état-civil.“511 Sie ist vielmehr eine Kategorie im Literatur- und Medienbetrieb, die Interessantheit verspricht. Bezeichnenderweise füllt er diesen Anspruch mit dem Bohemien par excellence, Henry Murger, und dessen Koautor der Theaterfassung des Vie de Bohème (1849), Théodore Barrière. Beide stehen in einer Reihe mit dem angesehenen Feuilletonisten und Dichter Théodore de Banville, mit Alexandre Dumas, dem Jüngeren, mit Jules Barbier und Emile Augier. Erneut demonstriert diese Einordnung, wie disparat die Zuschreibungen sind. Obwohl viele der jungen Autoren aus kleinbürgerlichen oder Arbeiterverhältnissen stammen, fasziniert das Milieu auch die gesellschaftlichen und künstlerischen Eliten. Im Figaro wirft Philibert Audebrand die Frage auf, ob Bohème prinzipiell, was soziale Schichten angeht, „nach oben“ offen sei. Er thematisiert in dem Artikel „La grande bohême“512, inwiefern es eine „große“ Bohème im Sinne einer Bohème der gehobenen Gesellschaft gebe. Ausgangspunkt der Überlegungen, die in einzelnen Sinnabschnitten einer assoziativen Sammlung zu der Frage entsprechen, ist 509 510 511
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Eugène Wœstyn: „Les jeunes“. In: Figaro vom 20. August 1854, S. 2f. Ebd., S. 2. Ü.: „Jugend in der Literatur stimmt nicht immer mit den Personenstandsregistern überein.“ Ebd., S. 2. Philibert Audebrand: „La grande bohême“. In: Figaro vom 26. Juli 1859, S. 2‒4.
250 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin ein fiktiver Dialog. François Buloz, einer der Mitgründer und Herausgeber der renommierten Revue des Deux Mondes, befindet sich auf der Suche nach einem Autor, der eine den „Scènes“ Murgers vergleichbare Sittenstudie für die mondäne Welt schreiben könne: die „Scènes de la grande Bohême“. Die Scènes de la Bohême seien „letztes Endes nur Skizzen kleiner Leute“513, aber sie hätten eine breitere Gesellschaft inspiriert, über populäre Selbstbeschreibungen nachzudenken. Audebrand nutzt die fiktive Szene, um selbst eine Sammlung von Überlegungen zur „grande bohème“ zu platzieren, allerdings in Form der gemischten Zeitungsrubriken und nicht in der des Romans. Welchen Rang der Figaro in der Literaturszene schon früh erhält, verdeutlicht sein Ansehen gerade bei Neulingen oder Außenseitern. Villemessant erklärt in seinen Memoiren, dass der Figaro allen die Gelegenheit gegeben habe, von sich zu sprechen und meint damit, dass Personen für sich Reklame machen konnten: „chacun y trouvait plus ou moins l’occasion de parler de soi-même“514. Beispiele finden sich mit Autoren wie Charles Pradier oder Fernand Desnoyers, die Sängerdichter und Zeitschriftengründer sind. Der Bohemien Pradier515 – als solcher wird er in den 1850er Jahren beschrieben – beurteilt es als Eintritt ins „Gelobte Land“516, als er eine Seite im Figaro bekommt. Statt eines reinen Textes von sich, platziert er davor Zitate mit Aussagen prominenter Literatinnen und Literaten über sich als Person, darunter welche von George Sand, von Charles Monselet, Louis Jourdan, Alphonse de Lamartine, Arsène Houssaye und Béranger, allesamt anerkannte Persönlichkeiten. Die Briefe an ihn und Kommentare über ihn stellen ihn als interessante Person dar 513 514
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„que des esquisses de petites gens“. Ebd., S. 2. Ü.: „jeder bekam hier mehr oder weniger die Gelegenheit, über sich selbst zu sprechen.“ Villemessant (1873): Mémoires d’un journaliste, S. 34. Charles Coligny porträtiert Pradier als Person und als interessanten öffentlichen Redner, den man nicht richtig einordnen könne. Ders.: „Variétés de la Bohême. Charles Pradier“. In: LʼÉventail vom 1. September 1854, 7. Jg., Nr. 77, S. 3f. Titelzusatz: Journal des théâtres, de la littérature et des modes. Charles Pradier: „Le bouge et la rue“. In: Figaro vom 13. Januar 1856, S. 7.
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und führen vor, dass seine Zeitschrift Le Bohême sogar etablierte Abonnenten wie Lamartine gewinnen konnte. Sie bezeugen seine Glaubwürdigkeit als Beobachter der „rue“ (Straße) und der „bouge“ (Schlamm). Charles Pradier ist ein Dichter, der seinerzeit mit „literarischen Entscheidungen“517 aus dem Rahmen fällt. Als Autor und Rezitator sucht er den direkten Weg zum Publikum über öffentliche Auftritte und über seinen Gedichtband Les Bohêmiennes (1854), den er im Selbstverlag publiziert. Auf dessen Titelseite weist der Herausgeber der Zeitschrift Le Bohême auf diese hin, der Beisatz zu seinem Namen ist „Rédacteur en chef du journal Le Bohême“518. Er erhält durch seinen Status als Kuriosum Zugang zum Figaro und hebt dort selbst hervor, welche Adelung es für ihn als Autor bedeute, im Figaro veröffentlichen zu dürfen, was er metaphorisch als „Rasur“ bezeichnet – eine Anspielung auf die Rolle der Bühnenfigur Figaro als Barbier. Pradier hebt hervor, welche Autorität und welches Gehör ihm die Publikation verspreche, worin er sich durch eine spielerische, mit autoritativen Zitaten gestützte Form der Darstellung aufwertet. Als weniger profilierter Autor muss er den Raum, den eine Plattform wie der Figaro bietet, zu nutzen wissen. Auch der Dichter und Dramatiker Fernand Desnoyers (1828–1889) nimmt die Gelegenheit wahr, sich im Figaro positiv darzustellen.519 In der Ausgabe vom 9. November 1856 bezieht er in einem Leserbrief Stellung zu Champfleurys publizistischem Einmannprojekt Gazette, über das sich die Redaktion in der Ausgabe ebenso lustig macht. Desnoyers wendet sich an den „Freund“ Champfleury, um über eine Sache zu streiten, nämlich um die Wertschätzung für Dichter im Allgemeinen und die der zeitgenössischen Dichtung im Besonderen. In dem Zusammenhang stellt sich
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Im Original: „choix littéraires“. Luce Abelès zu Desnoyers (1996): „Fernand Desnoyers, ‚le dernier bohème‘“. In: Keith Cameron; James Kearns (Hg.): Le Champ littéraire 1860–1900. Amsterdam; Atlanta: Rodopi, S. 141–146, hier S. 141. Titelseite des Gedichtbands von Charles Pradier (1854): Les Bohémiennes. Poésies. Paris: chez l’auteur. Er wirbt dort für eine Zeitschrift, die noch nicht existiert. Abelès (1996): „Fernand Desnoyers, ‚le dernier bohème‘“, S. 141.
252 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Desnoyers in eine Reihe aufstrebender Dichter und verbindet Kritik mit Eigenwerbung: „Les nouveaux poètes, ceux qui ont créé, dans la forme ou dans les fonds, sont: Pierre Dupont, Charles Baudelaire, Gustave Mathieu, Théodore de Banville et moi. […] Retenez ces noms-là.“520 Eine Fußnote der Figaro-Redaktion bewertet diese selbstüberzeugte Äußerung ironisch als Bescheidenheit. Dass die Grenzen zwischen Reklame und Kritik, zwischen objektivem Urteil und subjektiver Absicht verwischen, macht die petite presse umstritten, aber auch reizvoll. Schließlich sind die Grenzübertretungen meist als solche ausgestellt. Noch etwas Anderes macht das Beispiel klar: Als Ziel der Dichter gilt der langfristige, auf Dauer gestellte Ruhm, doch in der petite presse zeigt sich der zeitgenössische Wirkungsanspruch der Kleinen. Dabei ist es durchaus heikel, den Marktwert einzuschätzen und es ist gern gesehen, dabei auf Kurioses und außergewöhnliche Aspekte der Person einzugehen. Sowohl Desnoyers als auch Pradier zeigen, dass Bohème immer wieder auch für einzelne Protagonisten der urbanen Literaturszene als Auszeichnung geltend gemacht wird. Auch Alexandre Privat d’Anglemont 521 (1815–1859), der im Figaro Anekdoten über die urbane Subkultur schreibt, bekommt von Alphonse Duchesne eine Idolfunktion für die Bohème zugeschrieben: „On lui a tant dit et répété: Tu n’es pas un bohême, tu es la Bohême“522. Als sich der Figaro etabliert, formuliert Léo Lespès im Feuilleton eine genaue Vorstellung davon, wer zur Bohème zählt: „la bohème littéraire composée de Mürger, Vitu, Champfleury, Fauchery,
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Ü.: „Die neuen Dichter, jene, die in Form oder Inhalt etwas geschaffen haben, sind Pierre Dupont, Gustave Mathieu, Ch. Baudelaire, Théodore de Banville und ich. […] Behalten Sie diese Namen.“ Fernand Desnoyers: „Correspondance. Lettre à M. Champfleury“. In: Figaro vom 9. November 1856, S. 5. Vgl. Wilson (2000): Bohemians, S. 33. Privat d’Anglemonts Anekdoten erscheinen in Paris anecdote (1854) und Paris inconnu (1861) postum. Ü.: „Man hat ihm gegenüber so oft wiederholt: Du bist nicht ein Bohemien, du bist die Bohème“. Alphonse Duchesne: „Privat d’Anglemont“. In: Figaro vom 9. August 1859, S. 2‒4, hier S. 2.
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Monselet, Nadar, Banville, etc.“523 Der beliebte Feuilletonist, der später als Starkolumnist Timothée Trimm im Petit Journal in Erscheinung treten wird, benennt die Werdegänge und Erfolge, worunter Publikationen bei großen Verlagen, Karrieren oder ein gewisses Auskommen zu verstehen sind. Es zeigt sich, dass Autoren wie Murger und Champfleury inmitten der Literaturszene stehen und die monde sowie den renommierten Literaturbetrieb inspirieren. Diese Bohème steht für welche, die es geschafft haben, was die Großen des Kulturbetriebs anregt. Im Verlag Michel Lévy erscheinen, beworben vom Figaro, typographisch aufwändige Bücher, darunter ganz vorn die Scènes de la vie de bohème zu einem günstigen Preis. 524 Murger und Champfleury gehören laut der Information zu Michel Lévys Bibliothek in den „Échos de Paris“ Mitte der 1850er Jahre dort schon zu den „beliebtesten“ Autoren. Bohème fasziniert also auch deshalb, weil sie Erfolg hat und wie das Beispiel Murgers belegt, die vorgesehenen Felder durchkreuzt, indem er in petits journaux, etablierten Zeitschriften und auf der Boulevardbühne erfolgreich ist.
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Ü.: „die literarische Bohème zusammengesetzt aus Mürger, Vitu, Champfleury, Fauchery, Monselet, Nadar, Banville usw.“ Leo ,: „L’homme de lettres“. In: Figaro, Nr. 21 vom 20. August 1854, S. 3f, hier S. 3. O.A.: „Échos de Paris“. In: Figaro vom 26. Juni 1856, S. 7f., hier S. 8.
254 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin 4.5.4 Grenzgänge(r) auf dem Boulevard: Monselets Monsieur de Cupidon (1854) „Le petit journal était alors une puissance“525
Was der Boulevard für den Literatur- und Medienbetrieb der Jahrhundertmitte bedeutet, beschäftigt auch die Fiktion. Die Romane Monsieur de Cupidon (1854) von Charles Monselet und Les hommes de lettres (1860) der Brüder Goncourt beleuchten die vernichtende Kraft der kleinen Zeitschriften mit einem fiktionalisierten Blick auf den Figaro.526 Sie befassen sich mit dem verrufenen Umfeld zweitrangiger Autoren und Journalisten, die petits journaux bestücken. Beide Romane könnten unterschiedlicher nicht sein, doch sie haben eine Gemeinsamkeit: In einer Episode bei Monselet und im ganzen Roman der Goncourts wird die potenziell zerstörerische Macht der Zeitschriften im Literaturbetrieb beleuchtet, als deren mehr oder minder offenes Vorbild der Figaro fungiert. Monselet erzählt mehrere Geschichten, die den Literaturbetrieb der Zeit und die Presse ins Auge fassen, darunter die des Schriftstellers Justin Ronan, der dem Boulevard zuarbeitet und später dessen Opfer wird. Les hommes de lettres greift diese Idee auf, erzählt den Untergang eines petit journaliste am Beispiel der Figur Charles Demailly aber ausführlich. Les hommes de lettres ist ein „roman du champs littéraire“527, bei dem anhand eines Einzelschicksals der Einfluss von Boulevardpraktiken auf Beteiligte problematisiert wird. Charles ist ein Aussteiger, ein ehemaliger petit journaliste, der sich von dem Milieu distanziert, um ein literarisches
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Ü.: „Das petit journal war damals eine Macht“. Edmond et Jules de Goncourt (1860): Les hommes de lettres. Paris: E. Dentu, S. 24. Während Les hommes de lettres, sicherlich auch wegen der Prominenz der Verfasser, bereits an verschiedener Stelle analysiert wurde, ist Monsieur de Cupidon bis dato kaum beachtet. Ihm wird in diesem Kapitel der Vorrang eingeräumt, Les hommes de lettres wird aber wegen Parallelen eingangs einbezogen. Ü.: „Roman des literarischen Feldes“. Goulemot; Oster (1992): Gens de lettres, S. 107f.
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Werk528 zu schaffen. Auf seinen Rückzug folgt eine medial ausgetragene Intrige seiner Geliebten und ehemaliger Kollegen, was den Protagonisten krank macht und ihn nach und nach körperlich und geistig verfallen lässt, bis er in ein Stadium völliger Abhängigkeit regrediert ist. Nicht so drastisch wie diese negative Entwicklungsgeschichte, aber ebenfalls als kritische Episode dient die Geschichte des Journalisten Justin Ronan in Monselets komischem, farcenhaften Zeitroman Monsieur de Cupidon. Sie diente, da der Roman Jahre vorher erschienen war, möglicherweise als Inspirationsquelle für die Goncourts. Bei ihnen ist die Polemik auf die petits journalistes vordringlich, während in Monselets Narration etwas Spielerisches dominiert, unter anderem durch die verschachtelte Erzählstruktur, die mehrere Geschichten in der Geschichte enthält. Beide Texte tragen zum Bohèmediskurs bei, der sich in der Mitte der 1850er Jahre vor allem im Kontext der Presse wandelt, denn bei beiden ist die Literatenbohème Hauptlieferant der Boulevardpresse. Sandrine Berthelot hat bereits darauf hingewiesen, dass sich das Image der Bohème im Second Empire verschlechtert. Unter bohème wird zunehmend der prekäre, dubiose Journalist verstanden. Etwas Abwertendes beziehungsweise (Selbst-)kritisches in der Perspektive auf die Handelnden enthalten beide Romane. Monselets Erzähler nennt die Autoren, die für die kleine Presse arbeiten „bohêmes de la petite littérature“529. Die Goncourts gehen noch weiter, indem sie eine Symbiose von Bohème und petit journal konstatieren und damit eine Abhängigkeit ausdrücken: „la Bohème appartenait fatalement au petit journal“530. Sowohl die Bo-
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Der „Werk“-Begriff dient im historischen Diskurs dazu, die künstlerische gegenüber der pragmatischen, zum Beispiel journalistischen Arbeit am Text aufzuwerten. Ü.: „bohêmes der kleinen Literatur“. Charles Monselet (1854): Monsieur de Cupidon. Aristide Chamois. Paris: Victor Lecou, S. 207. „bohêmes de la littérature du ruisseau“, ebd. Ü.: „Zum Hunger verdammt durch den niedrigen literarischen Lohn gehört die Bohème fatalerweise zum petit journal und das petit journal sollte in ihr die geeigneten Männer finden, eine ganz bereite Armee, eine dieser schrecklichen nackten, schlecht
256 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin hème als prekäres Milieu als auch deren Hauptmedien, die kleinen Zeitschriften, werden dem geringer geschätzten Metier des literarischen Journalismus zugerechnet. Zwar geht die Bohème nicht in der Journalistenbohème auf, doch schneiden viele Quellen der 1850er Jahre ihre Äußerungen auf diese vorgeblich prekäre, dubiose Gruppe zu: „le bohème n’est plus, aux yeux des critiques, synonyme d’artiste fantaisiste, indépendant et irrespectueux, il est devenu l’artiste asocial, débraillé et instable.“531 Zusammen mit der Literatenbohème und dem relativ zugänglichen, virulenten Medienformat petite presse werden ethische, ästhetische und soziale Grenzen verhandelt, insbesondere die zwischen privater Vertraulichkeit und Medienorientierung. Beide Romane beziehen sich auf das aktuelle Geschehen und den zeitgenössischen Literatur- und Medienbetrieb in Paris. Sie nennen teils reale Personen und Einrichtungen oder nutzen leicht entschlüsselbare Namen. Le Scandale bei den Goncourts und Sifflet d’argent bei Monselet sind Reputations- und Verleumdungsmaschinerien für literarische Debütanten und die Bourgeoisie. Le Scandale verweist wörtlich auf den Skandal als Hauptambition, während Sifflet d’argent 532 eine kommerzielle Ausrichtung nahelegt. Was die Romane unterscheidet, ist, wie vehement und auf welcher Ebene sie die Wertungen präsentieren. Auf der einen Seite steht ein polemischer Verriss, das moralische Urteil gegenüber den petits journalistes, auf der anderen Seite eine ironisch und erzählerisch gebrochene Distanzierung. Monselet legt die kruden Sitten des Boulevards offen, ohne eine reine Polemik zu verfassen. Der Roman macht den Autor keinesfalls nur zum Handlanger der Boulevardwelt, sondern auch zum Kriti-
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ernährten Armeen ohne Schuhe, die sich für eine Suppe schlagen.“ Edmond et Jules de Goncourt (1860): Les hommes de lettres, S. 22. Ü.: „der Bohemien ist in den Augen der Kritiker nicht mehr das Synonym des phantasiebegabten, unabhängigen und respektlosen Künstlers, er ist der asoziale, unordentliche und unbeständige Künstler geworden.“ Berthelot (2003): „Bohème et fantaisie chez Murger“. In: Jean-Louis Cabanès; Jean-Pierre Saïdah (Hg.): La fantaisie post-romantique. Toulouse: Presses universitaires du Mirail, S. 207‒223, hier S. 217. Ü.: „Pfiff des Geldes“.
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ker. Monselet ist Romanautor, Zeitungsmacher und petit journaliste, der in der Presse übrigens hin und wieder „Monsieur de Cupidon“ als Pseudonym für sich benutzt. Monsieur de Cupidon ist Monselets erster Roman und er erscheint 1854 zuerst bei Lecou, im selben Jahr auch bei Hachette. Er erzählt von einem Zeitreisenden in Gestalt eines jungen Mannes, der den Namen des römischen Liebesgottes Cupido trägt, und das Paris der Jahrhundertmitte besucht. Cupidon heißt er deshalb, weil eine seiner Hauptambitionen ist, Frauen „nachzujagen“, was auch ein Parisklischee bedient und eine frivole Ebene andeutet. Die Erzählhaltung ist homodiegetisch; der Erzähler trägt den Namen des Autors, nämlich Monselet und ist Teil der Handlung. Als Rahmen der Haupterzählung dient zunächst das Vorwort, das wiederum eine eigene Geschichte enthält. Es leitet zur Haupterzählebene über, innerhalb derer die Entdeckungsreise des Erzählers mit dem Zeitreisenden Monsieur de Cupidon stattfindet. Darin durchstreifen Cupidon und Monselet das Paris der Boulevards und Cafés und der Erzähler sowie ein Freund präsentieren dem Gast derweil Geschichten aus dem literarischen Leben. Diese Binnenerzählungen sind jeweils erzählerisch klar von der Haupthandlung abgegrenzt. Auf die Selbstreferenzialität des Romans, der sich (mehrfach) der mise en abyme bedient, sowie dessen pastichehafte Züge, was die von Erzählungen unterbrochene Handlung angeht, hebt bereits die Sprechinstanz des Vorworts ab.533 Der Roman übt Zeitkritik am Literatur- und Medienbetrieb in einer humoristischen Fiktion. Er bindet neben dem Protagonisten, der ein personifizierter Mythos ist, zahlreiche prägende Orte, Figuren und Narrative der Pariser Gesellschaftsbeschreibung ein: Vor allen Dingen den Boulevard, die Cafés und Mansarden, die Grisetten und Vaudevilleautoren sowie die petits journalistes. Symbolträchtig ist Cupidons erste Handlung, denn sie setzt den Boulevard in Szene, der zugleich Ausgangspunkt der Erkundungstour durch Paris ist: 533
Monselet (1854): Monsieur de Cupidon, S. 12.
258 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin Il faisait soleil. – A l’une des croisées du Café de Paris on voyait un jeune homme qui fumait en regardant sur le boulevard. […] Il regardait le boulevard […]. Ajoutons que le boulevard, de son côté, le regardait quelque peu, ‒ comme on regarde une jolie gravure aux vitres d’un magasin.534 Die Sonne schien. – An einem Fenster des Café de Paris sah man einen jungen Mann der rauchte, während er auf den Boulevard blickte […]. Er betrachtete den Boulevard. Fügen wir hinzu, dass der Boulevard, seinerseits, ihn auch ein wenig ansah, wie man eine hübsche Gravur im Schaufenster eines Geschäfts ansieht.
In der Szene wechseln Subjekt und Objekt die Rolle, indem eine mythische Figur einen anderen, gegenständlichen Mythos betrachtet, der personifiziert wird und zurückschaut. Wie spielerisch und selbstreflexiv der Roman stellenweise erzählt, deutet diese Szene an. Als intertextueller Verweis auf die Erzählstrategie dient dem Erzähler Boccaccios Novellensammlung Decamerone aus dem 14. Jahrhundert, denn während der fünftägigen Entdeckungsreise Cupidons erzählen sich die Figuren gegenseitig Geschichten, die die Haupthandlung immer wieder unterbrechen, was an die Vorlage erinnert: „Nous passions ainsi notre temps à raconter des nouvelles comme dans le Décameron“535. Somit tritt der Erzähler des Romans wiederum als mündlicher Urheber weiterer Geschichten auf. Durch das Verfahren potenziert sich der erzählerische Kosmos und die Fiktion selbst bildet den Ursprung der Geschichten. Obgleich viele der Geschichten biographisch fundiert sind, bringt die Erzählung sie und damit das Zeitgeschehen erst in der dargebotenen Form literarisch und medial hervor. Am interessantesten sind die Episoden und Geschichten, die den Zeitgeist in Literatur und Medien offenlegen. Und zwar behandeln die drei nachfolgend genauer dargestellten Geschichten die boulevardesken Facetten der Literaturproduktion, sowohl der petite 534 535
Ebd., S. 13f. Ü.: „Wir verbrachten so unsere Zeit, indem wir uns Geschichten wie im Dekameron erzählten“. Ebd., S. 188.
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presse als auch des Buchmarkts, die bestimmte exzentrische und kuriose Figuren und Themen bevorzugen und die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem aufweichen. Des Weiteren ist ein Merkmal des Boulevards, dass erfolgreiche Autorschaft erfolgsversprechender scheint, wenn sie an eine mediale (Selbst)Inszenierung geknüpft ist. Besonders kritisch daran ist, dass Journalisten ihre Einflussmöglichkeiten mitunter missbrauchen, um sich wirtschaftliche oder persönliche Vorteile zu verschaffen. Die genannten Aspekte konkretisiert der Roman in den Geschichten, die der Erzähler „Monselet“ und sein Freund Justin Ronan dem Gast präsentieren. Am Anfang steht die „komische Geschichte“ von „Berdriquet und sein[em] Romancier“. Sie widmet sich der Tendenz in der Erzählliteratur, originelle und exzentrische Figuren zu entwerfen. Ein Verleger denkt daran, ein mehrbändiges fiktionales Werk auf den Markt zu bringen, doch sein geistreicher, leidenschaftlicher und einfallsreicher Neffe hat zwar Potenzial, das Publikum zu interessieren, doch er kann nicht schreiben: „Ach, wenn mein Neffe Berdriquet schreiben könnte“, stößt er wiederholt aus. Als Ausweg dient der ausgebrannte Autor Isidore Mongeard, mit dem der Verleger ein Konzept dafür entwickelt, einen Roman, der Absatz verspricht, zu produzieren. So soll der Autor mit dem inspirierten Lebemenschen Berdriquet zusammengebracht werden, damit er aus dessen Leben einen Roman schöpfen kann: „Il sera l’idée et je serai la plume, à nous deux nous ferons peut-être un romancier complet.“ 536 Der Onkel überantwortet seinen Neffen scheinbar großzügig dem Autor, der ihn begleiten soll, um sich von dessen Leben inspirieren zu lassen: Désormais je veux changer de conduite à ton égard, et, puisqu’il faut que jeunesse se passe, passe donc la tienne comme tu l’entendras, et le plus joyeusement possible. Un de mes amis, […] t’ouvrira un crédit à satisfaire ton inclination pour les plaisirs. Tu as
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Ü.: „Er wird die Idee sein und ich werde die Feder sein, zu zweit ergeben wir vielleicht einen vollständigen Romancier.“ Ebd., S. 125.
260 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin l’esprit vif, les goûts romanesques, ‒ arrange ta vie de la façon la plus originale que tu pourras. Aime, joue, bois, ‒ cela ne me regarde plus; c’est l’affaire de nouveau patron.537 Von nun an möchte ich das Verhalten dir gegenüber ändern und, da die Jugend vorbeigehen muss, verbringe deine, wie du sie verstehst und so freudvoll wie möglich. Einer meiner Freunde wird dir einen Kredit gewähren, um deine Neigung nach Vergnügungen zu befriedigen. Du hast den regen Geist, unglaublichen Geschmack – richte dein Leben in der originellsten Weise ein, die du kannst. Liebe, spiele, trinke – das geht mich nichts mehr an; es ist die Angelegenheit deines neuen Chefs.
Die Figur des Onkels ist in manchem Roman des 19. Jahrhunderts eine völlig andere als hier, nämlich eine, die bürgerliche Interessen wahrt. Man denke zum Beispiel an Henry Murgers Theaterfassung der Vie de Bohème, wo der Onkel des Bohemiens auf einer arrangierten Ehe besteht oder Décembre-Alonniers Protagonist Edouard, dessen Onkel die Berufswahl und den Werdegang des jungen Mannes weg vom Autorendasein im Hintergrund zu lenken versucht.538 Bei dem hier beschriebenen Tauschgeschäft wird Geld für die Teilhabe an einem inspirierenden, ‚authentischen‘ Leben investiert, das Stoff für einen verkäuflichen Roman bieten soll. Der avisierte Buchtitel „Les Mystères de Berdriquet“ erinnert an Eugène Sues Les Mystères de Paris aus den Jahren 1842, 1843 und spielt somit auf einen immens erfolgreichen Feuilletonroman seiner Zeit an. Letzlich scheitert das kuriose Vorhaben, Berdriquet zur Figur zu machen, denn der eignet sich den Gedanken, dass sein Leben interessant sei, an, kehrt aber die Absicht um. Anstatt es offen zur Schau zu tragen, entzieht er sich dem Beobachter, was ihn in dessen Augen noch geheimnisvoller macht und ihn reizt, sich indiskret Zugang
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Ebd., S. 127. Théodore Barrière; Henri Murger (1849): La vie de bohême. Pièce en cinq actes, mêlée de chants. Représentée par la première fois, à Paris, sur le théâtre des Variétés, le 22 novembre 1849. Brüssel: J.-A. Lelong, S. 9 u.a.
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zu Berdriquets Privatsphäre zu verschaffen. An dem Wendepukt entwickelt sich die Handlung zur Boulevardkomödie. Um an authentische Dokumente aus Berdriquets Leben zu kommen, beauftragt der Autor ohne Sujet dessen Kammerdiener, um den privaten Briefwechsel des jungen Mannes abzufangen. Zwar ist er erfolgreich damit, doch wendet sich die Intrige am Ende gegen ihn selbst, denn die Frau, der Berdriquet unter einem Adelspseudonym schreibt, ist die des neugierigen Autors. Die Geschichte, bei der ein erfolgsversprechender Roman entstehen sollte, endet mit der Pointe, dass die Person, die zur Romanvorlage werden sollte, dem Autor einen Streich spielt: „je lui ai joué un [joli roman, N.P.], en effet, et tel que vous désiriez, ‒ mais c’est le seul qu’il n’écrira pas.“539 Sie legt durchaus moralisierend offen, dass sich der neugierige Betrachter und vermeintliche Autor am Leben des anderen bereichern will, während er sich über die intimen, in dem Fall peinlichen Aspekte des eigenen Lebens ausschweigt. Eine zweite, als Pendant der vorherigen präsentierte Geschichte namens „Tacite et son journaliste, histoire qui fait pendant à la précédente“540 handelt von einem professionellen Verhältnis zwischen einem Schriftsteller und einem Journalisten, das eskaliert. Sie stammt aus der Lebenswelt des Protagonisten Justin Ronan, der diese Geschichte als Geschichte eines Freundes deklariert. Ein Journalist betreibt eine Zeit lang für den Schriftsteller Tacite Reklame, da er überzeugt ist, dass jede Form medialer Aufmerksamkeit die Bekanntheit des Autors steigere. Um ihm das Image eines exzentrischen Typen zu verpassen, setzt der Journalist erfundene Anekdoten in die Zeitung. So kommt der Schriftsteller Tacite ein Jahr lang in zahlreichen fiktiven Meldungen vor und duldet die unwahren Be-
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Ü.: „ich habe ihm tatsächlich einen [hübschen Roman] gespielt, solch einen, wie Sie wünschten, aber es ist der einzige, den er nicht schreiben wird.“ Monselet (1854): Monsieur de Cupidon, S. 145. Ü.: „Tacite [Adjektiv für schweigsam, N.P.] und sein Journalist, Geschichte, die das Pendant zur vorherigen darstellt“. Ebd., S. 146.
262 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin hauptungen zugunsten seiner angestrebten „célébrité“541. Zunächst profitieren beide von der Verabredung. Dann allmählich bricht das Geschäft, bei dem Werbung für den einen gegen honorierte Zeilen für den anderen getauscht werden, langsam zusammen. Der Journalist erfindet eine seltsame Wette als Werbegag, der die Exzentrik des Schriftstellers belegen soll. Allerdings ist die Geschichte so abwegig, dass der Autor fürchtet, damit nur bloßgestellt zu werden. Mediale Inszenierungen durch canards (erfundene Meldungen) stellen eine Gratwanderung dar: Le jeune écrivain Tacite de K…, si connu par ses excentricités de toute nature, a gagé de louer tous les joueurs d’orgues de Paris et d’exécuter à leur tête une promenade triomphale et musicale. C’est ce qu’il a accompli mercredi sur tout le parcours des boulevards, depuis la place de la Bastille jusqu’à la Madeleine, au milieu d’un concours immense de spectateurs.542 Der junge Schriftsteller Tacite von K…, der so bekannt für seine Exzentriken jeglicher Art ist, hat gewettet, alle Leierkastenmänner von Paris zu leihen und auf ihrem Kopf einen triumphalen und musikalischen Spaziergang zu vollführen. Das ist, was er am Mittwoch auf der ganzen Strecke der Boulevards, von der Place de la Bastille bis nach La Madeleine, inmitten des immensen Beitrags zahlreicher Zuschauer vollführt hat.
In diesem Fall überschreitet die Übertreibung, die das Ganze als unwahrscheinlich oder auch albern erscheinen lässt, eine Grenze. Neuigkeiten wie diese müssen nicht wahr, aber zumindest glaubhaft sein. Gerade Neuigkeiten und nouvelles à la main, in denen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion unklar sind, taugen dazu, auf jemanden oder etwas aufmerksam zu machen. Statt einer amüsanten, werbewirksamen Aktion ist diese jedoch in den Augen des Betroffenen eine peinliche Lüge. Beschämt fürchtet der Schriftsteller nun als Gaukler oder Clown gesehen zu werden,
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Ebd., S. 150. Ebd., S. 149.
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wohingegen der Journalist noch daran glaubt, dass erfundene Kuriosa dem Image zuträglich seien. Seinen Höhepunkt erreicht der Konflikt, als sich der Sensationshunger des Journalisten völlig gegen seinen Verbündeten richtet. Als er dessen Adelstitel als Schwindel entlarvt, kostet das den Autor die geplante Heirat, woraufhin er sich von dem Pakt distanziert. Das Verhältnis von Journalisten und Schriftstellern wird als heikles Geschäft dargestellt. Ein Schriftsteller profitiert von der Berichterstattung, bis sie zu seinem Nachteil gereicht und ihm deutlich wird, dass er seine Autonomie in puncto öffentlicher Selbstdarstellung eingebüßt hat: „Rendez-moi mon nom, je ne vous demande pas autre chose“543, fordert er von dem Journalisten, der seine Reklamemethode durch canards zu einem makabren Höhepunkt steigert. Am Ende setzt er eine Todesmeldung des Schriftstellers in die Zeitung, der ihn daraufhin zum Duell fordert. Das Risiko, getötet zu werden, kommentiert er mit Blick auf die Reklamestrategie des Journalisten: „Eh bien, si je vous tue, cela me fera encore une réclame. Je reste toujours dans votre système.“544 Die Episode umfasst ein scheinbar einträgliches Tauschgeschäft, das darauf fußt, dass man Interesse am Leben von Autoren hat und dass sie als Autoren interessant werden, sobald sie exzentrische Eskapaden liefern. In der Pointe wird diese Dynamik mit dem Verweis auf den Tod im Duell als interessante Meldung auf die Spitze getrieben und letztlich kritisch gegen den gewissenlosen Journalisten gewendet. Die dritte Geschichte hat wiederum einen anderen Erzähler, aber sie stammt aus dem Leben eines Protagonisten und zwar von Justin Ronan, dessen Geschichte Monselet dem Gast Cupidon erzählt, als Ronan die Runde verlassen hat. Monselet betont ihre Interessantheit damit, dass Ronan selbst, anders als andere „eitle Geister“545 , sein Leben selbst noch 543
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Ü.: „Geben Sie mir meinen Namen zurück, etwas anderes verlange ich nicht“. Ebd., S. 152. Ü.: „Nun, wenn ich Sie töte, ist das auch Reklame für mich. Ich bleibe immer noch in Ihrem System.“ Ebd., S. 153. Ebd., S. 192.
264 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin nicht zum Stoff mehrerer Romane gemacht habe. Demzufolge kann der Erzähler mit einem neuen biographischen Erzählstoff aufwarten. Justin Ronans Geschichte ist die seit Honoré de Balzacs Roman Illusions perdues vom Ende der 1830er, Anfang der 1840er Jahre wiederkehrend erzählte eines jungen ambitionierten Provinzlers, der voller Hoffnung ins Pariser Leben startet, dort bald als petit journaliste ins literarische Feld eintritt und im Boulevardmetier brillieren wird. Viel von dem negativen Image des Metiers ist bekannt, zahlreiche Abwertungsmuster der Presse gegenüber kommen auch hier zum Ausdruck. Am Beginn seines Wegs vermittelt ihm wie vielen Debütanten ein Ratgeber die Tugenden des auf Kunst ausgerichteten Lebens, das dem langfristigen Erfolg zuspricht und die literarische Arbeit gegen Bezahlung ablehnt.546 Ideale sind Arbeit und Askese, eine Trennung des Broterwerbs von literarischer Betätigung, der Abstand vom Konsum und vom Journalismus, der als niedere Form literarischer Arbeit gedeutet wird. Wie viele andere folgt Ronan dennoch den Verführungen, weil die Faszination für den Künstlerhabitus, den Zugang zu den coulisses und den Schauspielerinnen, die Verlockung des schnellen Ruhms in der Presse zu machtvoll sind und letztlich sein Arbeitsethos verderben: „Au travail continu, régulier, fécond, succéda bientôt chez lui le travail intermittent, fiévreux, stérile.“547 Was die Episode besonders macht, ist die Reflexion auf die Boulevardpraktiken der petite presse. Wie bei Balzac ist auch hier die Deutung des Literaturbetriebs schematisch, zweigeteilt: Paris steht der Provinz gegenüber. In Paris ersetzt Ronan seine Freundin durch eine Schauspielerin, die zurückgezogene Arbeit in der Mansarde durch den Lärm der Straße: „Jus-
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Die Beziehung literarischer Debütanten und ihrer Ratgeber ist interessant genug, um sie eigens zu betrachten. Zum Themenfeld Freundschaft und Beratung: Catrin Kersten (2013): Freundschaft und Beratung. Studien zu ihrer historischen Semantik und literarischen Darstellung (Gracián, Knigge, Goethe). Berlin: Kulturverlag Kadmos. Ü.: „Auf die kontinuierliche, regelmäßige, fruchtbare folgte bei ihm bald die unregelmäßige, fieberhafte, fruchtlose Arbeit“. Monselet (1854): Monsieur de Cupidon, S. 206.
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tin Ronan avait à peu près renoncé à sa mansarde pour vivre dans le bruit.“548 Damit wendet er sich von dem Raum, der für ungestörte Schaffenskraft steht, ab. Interessant ist, dass Ronan auf dem Boulevard Karriere macht. Seine Entwicklung beschreibt der Erzähler als Aufstieg innerhalb des niederen Metiers der „kleinen Literatur“; wörtlich auch der „Literatur des Rinnsteins“: „En peu de temps, il fut signalé comme un des plus joyeux bohêmes de la petite littérature, de la littérature du ruisseau. On cita deux ou trois mots de lui, qui étaient excellents: on lui en prêta cinq ou six autres parfaitement détestables“549. Treffende Aussprüche und geistreiche Bemerkungen sind Qualitätsmerkmale des Feuilletons. Abgesehen von seinem Können ist seine Entwicklung eine, die von den Verlockungen und Mühlen des Literatur- als Pressebetriebs zeugt, in die der junge Mann hineingeraten ist. Ein Merkmal der petite presse ist wie schon beschrieben der Angriff ad personam. Monselets Erzählung arbeitet mit Ronan den Typus des gewissenlosen, erfolgreichen Boulevardjournalisten heraus und legt die Wirkungsweisen und Formen der sensationsorientierten petite presse offen. Ronan wird zum erbitterten Journalisten, weil er auf die Angriffe der Redakteure des Corsaire reagiert. Manche der genannten Einrichtungen und Personen im Roman benennen reale Vorbilder unverschleiert wie der Corsaire, das Konkurrenzblatt zu dem so bezeichneten „abscheulichsten Pamphlet von Paris“550 namens Sifflet d’argent. Ronan nutzt den Sifflet d’argent auch als Plattform, um Gegenangriffe auf die Journalisten des Cafés Divan Le Pelletier zu verbreiten.551 Journalistenfehden werden als
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Ü.: „Justin Ronan hatte halbwegs auf seine Mansarde verzichtet, um im Lärm zu leben.“ Ebd., S. 207. Ü.: „In kurzer Zeit zog er die Aufmerksamkeit als einer der lustigsten Bohemiens der kleinen Literatur, der Literatur der Gosse, auf sich. Man zitierte zwei oder drei Aussprüche von ihm, die exzellent waren: Man schrieb ihm fünf oder sechs andere zu, die hassenswert waren“, ebd., S. 207. Ü. von mir ebd., S. 208. Bei dem Café handelt es sich um einen tatsächlichen Treffpunkt der 1850er-JahreBohème.
266 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin selbstverständlich gezeigt, aber die Angriffe weiten sich aus, als Ronan angetrieben vom Machthunger zum Chefredakteur von Sifflet d’Argent aufsteigt. Er wendet die zerstörerische Macht der Medien, ihre Offenbarungen, Angriffe und Enthüllungen, auch auf unbedeutende und kleine Personen an: „Il attaquait les auteurs au coin des feuilletons, les détroussait et les laissait pour morts sur la place. Ce fut lui, un des premiers, qui mit à la mode la peine des indiscrétions de la vie privée applicable aux infiniment petits.“552 Es besteht also jenseits der Anforderungen der Sensationspresse eine moralische Grenze, die man achten oder überschreiten kann. Als Grenzlinie taucht hier die Größe beziehungsweise der Status der Person auf als Maß dafür, was eine legitime oder illegitime Äußerung ist. Journalismus kann, das zeigt Ronans Geschichte, zur Gefahr für das öffentliche Ansehen von Personen werden. Ronan wird als Diskreditierungskünstler präsentiert, dessen Volten nah an Verfahren der fiktionalen, kritisch-humoristischen Literatur sind: Cet homme, peintre à sa manière, coloriste endiablé, se créait un monde a sa fantaisie, tout rempli d’écarts, de lazzis, de gambades, d’extravagances; un monde de pasquins et d’hidalgos, qu’il empilait bon gré mal gré dans le chariot d’un nouveau Roman comique dont il se faisait le Scarron, et qu’il conduisait à grands coups de fouet, au milieu des éclats de rire des passants.553 Dieser Mann, Maler auf seine Weise, leidenschaftlicher Kolorist, kreierte sich eine Welt nach seiner Fantasie, ganz gefüllt mit Entgleisungen, Spott, Luftsprüngen, Extravaganzen; eine Welt der Pasquillen und hidalgos [Anspielung auf Don Quijote, N.P.], die er wohl oder übel aufstapelte auf den Wagen eines neuen Roman comique, zu dessen Scarron [Schriftsteller aus dem 17. Jahrhundert, 552
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Ü.: „Er griff die Autoren am Rand des Feuilletons an, plünderte sie aus und ließ sie tot auf dem Platz zurück. Es war er, einer der ersten, der die Strafe der Indiskretionen aus dem Privatleben, anwendbar auf die unendlich Kleinen zur Mode machte.“ Monselet (1854): Monsieur de Cupidon, S. 212. Ebd., S. 213.
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N.P.] er sich machte und den er in Schwung brachte inmitten des Gelächters der Passanten.
Der boulevardier wird mit Attributen des Künstlers als exzessiver Produzent polemischer Formen beschrieben. Er erscheint als eine von Künstlern und Bourgeois gleichermaßen verhasste Figur, wenn sie das „facile métier“554 des petit journal beherrscht und gewissenlos ausübt. Der „besoin de copie“555 wird als systemisches Motiv genannt, das die Notwendigkeit beschreibt, regelmäßig eine Ausgabe, im Zweifel mit intellektuell, künstlerisch oder moralisch fragwürdigen Inhalten füllen zu müssen. Angriffe auf Personen in den Medien seien, so erklärt es ein beleidigter Dandy seinem Kontrahenten Ronan, zulässig bei Waffengleichheit. Der Mann der monde benennt, worin die Grenzüberschreitung des Journalisten bestehe, nämlich Personen anzugreifen, die nicht von Berufs wegen von öffentlichem Interesse seien: „je n’appartiens ni à la politique, ni à la littérature, ni à aucun emploi public susceptible du contrôle de l’opinion. Je ne suis rien qu’un homme du monde.“556 Ronans Entwicklung sieht eine zwischenzeitliche Läuterung vor. Nach einem verlorenen Duell mit jenem Dandy, versucht er aus dem journalistischen Metier auszusteigen. Das, was klassischerweise ein Einstiegsritual in Presse- und Debütantenromanen ist, wird nun zum Ausstieg von ihm verlangt. Er soll einen anderen Autor verreißen – der Verriss eines anderen Werks ist dem Debütantenmythos der Romanliteratur nach ein beliebter Einstiegsweg.557 Seine Freundin aus der Provinz, die als klischeehafter moralischer Gegenpol zu ihm und der Affäre mit der Schauspielerin fungiert, versucht ihn davon abzuhalten. Als sie jedoch nach einem tragi-
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Ebd. Ebd., S. 214. Ü.: „ich gehöre weder der Politik noch der Literatur noch irgendeiner Stelle an, die der Meinungskontrolle verdächtig ist. Ich bin nur ein Mann von Welt.“ Ebd., S. 216. Vgl. Kapitel 5.5.2.
268 4 Figaro auf dem Boulevard – Der Arme Schlucker im Quartier latin schen Zufall stirbt, fällt Ronan vor Kummer in sein altes Muster des unerbittlichen Journalisten zurück. Die drei Beispiele sind boulevardkritische Erzählungen. Der Roman soll laut Vorwort keine Abhandlung („traité“) und keine „physiologie“, sondern eine Erzählung („conte“) oder auch ein „roman“ sein; allesamt im Text vorkommende Zuschreibungen, die auf den fiktionalen Charakter hinweisen.558 Er spielt mit der Referenzialität von Medien und Literatur durch die Art und Weise, wie Texte diese ausweisen. Durch die narrative Form der Erzählungen in der Erzählung kommt eine Distanz zum kritischen Tenor der Pressegeschichten zustande. Der Paris-Besucher Cupidon, der kritischer Rezipient der Geschichten sein könnte, bildet jedoch selbst ein Klischee. Nach zahlreichen Erzählungen unterbricht der galante Monsieur de Cupidon die thematisch einseitigen Geschichten und nennt das wahre Motiv für seinen Parisbesuch: „Assez de littérature! implora M. de Cupidon; vous êtes trop exclusif, en vérité. Je ne suis pas venu à Paris pour apprendre les nouvelles façons de bien dire; j’y suis venu pour faire l’amour.“559 Schon der Name des Liebesgottes verweist auf Bukolik und Galanterie, folglich auf Klischees einer anderen Zeit. Der ironische Bruch besteht darin, dass der Roman seinen Stoff aus den Geschichten des Boulevards selbst schöpft. Der Erzähler, der Alter Ego des Autors ist, beteiligt sich daran, indem er biographische Anekdoten erzählt. Während die Beispiele auf der Diskursebene darauf hinweisen, dass biographische Kuriosa, private und indiskrete Neuigkeiten realer Personen die Bücher und Zeitschriften füllen, lässt der Roman auch die Erzählungen aus der Fiktion heraus entstehen, die nah am realen Geschehen und an biographische Hintergründe angelehnt sind. Monselets Roman weist das (auto)biographische Erzählen in unterschiedlichen Genres wie Anekdoten, Nachrichten, Kritiken und Romanen als 558 559
Monselet (1854): Monsieur de Cupidon, S. 12. Ü.: „Genug der Literatur! flehte M. de Cupidon; Sie sind zu exklusiv, in Wirklichkeit. Ich bin nicht nach Paris gekommen, um neue Arten der Redegewandtheit zu lernen; ich bin nach Paris gekommen, um zu lieben.“ Ebd. S. 190.
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dominantes Muster zeitgenössischer literarischer Entscheidungen aus. Außerdem betont er den mündlichen Charakter. Die petite presse wird als Boulevardmedium sichtbar, die mit einem bestimmten Stil, auf Sensation ausgerichtet ist und dabei Grenzen verletzt. Der petit journaliste ist Widersacher der Künstler und Bourgeois, der aber kunstfertig Effekte und Affekte zu produzieren vermag. Monselets Biograph bescheinigt dem Roman seinerzeit eine positive Aufnahme, die dazu geführt habe, dass der Autor bald in der Presse mit dem Spitznamen der Hauptfigur als „Monsieur de Cupidon“560 angeredet wurde. Monselet nutzt den Figuren- selbst als Autornamen, was beides aufzeigt, wie gern literarische Rollen von Autor und Figur in der autobiographischen Literatur vermischt werden und wie nah die Romanliteratur mit der Presse verwoben ist.561
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Charles Monselet schreibt im Figaro eine Kolumne unter dem Autornamen Monsieur de Cupidon. In: Figaro: „Tout Paris“ vom 7. Juni 1863, S. 6. André Monselet (1892): Charles Monselet. Sa vie, son œuvre. Préface par M. Jules Claretie. Paris: E. Testard, S. 154.
5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒ 1863) Anfang der 1860er Jahre ist das Feld der petits journaux und petites revues in Paris noch ähnlich quirlig wie Mitte der 1850er Jahre. Le Boulevard, die kleine Zeitschrift, die nachfolgend im Fokus steht, ist demnach nur eine unter vielen: „Un de cent et un petits journaux qui foisonnaient sous L’Empire“562. Was sie auszeichnet und interessant macht, sind mehrere Aspekte: Sie ist alltags- und aktualitätsbezogen und das in intensiver Form zugespitzt auf den Raum, den ihr Name wachruft: den Boulevard. Unter dem markanten Titel Le Boulevard erscheint 1861 also erstmals eine Zeitschrift, die sich dem Boulevard gänzlich verschreibt. Sie führt diesen Raum als Aufenthaltsort des Publikums und Revier der Schreibenden vor, denn es gibt darin quasi nichts, was sich nicht aus ihm speist, was nicht für den Boulevard von Belang wäre oder umgekehrt. Außerdem zeichnet sich in Le Boulevard ein beeindruckendes Netzwerk ab, verbunden über die Schlüsselfigur des Gründers, Chefredakteurs, Karikaturisten, Photographen und Autors Étienne Carjat, der aus der Zeitschrift eine schulen- und generationenübergreifende Plattform für Künstler, Journalisten und Schriftsteller macht. Als gesellschaftlicher Magnet rekrutiert er in Lokalen wie dem Café de Madrid auf dem Boulevard Montmartre seine Autoren und Mitarbeiter: „Au milieu de tout ce monde, Carjat, qui venait de fonder le Boulevard et recueillait les collaborations.“563 In den Texten und Bildern der Boulevard sind zudem Erinnerungen und Nostalgie sowohl an die erste romantische Generation als auch die zweite Bohème präsent.
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Ü.: „Eine der 101 kleinen Zeitschriften, die im Kaiserreich wimmelten“. Bertaut (1924): Le Boulevard, S. 118. Ü.: „Mittendrin in dieser Welt, Carjat, der gerade Le Boulevard gegründet hatte und Mitarbeiter sammelte.“ Adolphe Perreau (1876): Confidences d’un journaliste par Maxime Rude. Paris: A. Sagnier, S. 201.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8_6
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5.1 Aufenthaltsort des Publikums und Revier der Schreibenden Als Étienne Carjat am 1. Dezember 1861 die Probenummer von Le Boulevard lanciert, ist diese gespickt mit begeisterten Leserbriefen und voll des Lobes für die Zeitschrift. Grußworte in Form von Briefen an den Herausgeber füllen die ersten beiden Seiten. Sie stammen aus dem eigenen Netzwerk von altgedienten Medienmachern, Journalisten, väterlichen Ratgebern und befreundeten Autoren, die sich fast alle als mögliche Beiträger ins Spiel bringen oder ohnehin als solche vorgesehen sind. Die Autoren kommentieren, dass die Titelwahl ein überfälliger Schachzug zur Selbstbeschreibung des intellektuellen und künstlerisch-literarischen Pariser Lebens sei. Wie Charles Bataille entlarvt, wurden sie um diese „geistreiche“ Fürsprache gebeten: „Ah! très-bien, c’est un article spirituel qu’il te faut, cher et doux photographe? car spirituel est souligné dans ta lettre.“564 Mit dem Journalisten, Dichter, Romancier und Dramatiker Joseph Méry (1797–1866) eröffnet ein Altmeister der oppositionellen Kulturpresse das Vorwort aus Kommentaren und Gratulationen: „Votre titre, le Boulevard, est excellent“565, lobt Méry die Neuschöpfung und wundert sich gleichzeitig, dass er bislang in der Pariser Presse noch nicht gewählt worden sei: Le Boulevard est un titre plus parisien que Paris, et Paris, après le Diable, a toujours passé pour le plus populaire des titres. Paris est une énorme ville qui charge la planète et cause les récentes déviations de la boussole; mais le boulevard est la grande artère du globe; l’univers palpite sous cette zone, comme il palpitait autrefois sous la ligne du Forum romain.566
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Ü.: „Ah, sehr gut, du brauchst also einen geistreichen Artikel, lieber und gütiger Photograph? Denn geistreich ist in deinem Brief unterstrichen.“ Le Boulevard, Numéro Spécimen vom 1. Dezember 1861, S. 1. Ebd. Ebd.
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Der Boulevard ist ein Titel, pariserischer als Paris und Paris galt nach Der Teufel immer als populärster unter den Titeln. Paris ist eine enorme Stadt, die den Planeten überfrachtet und kürzliche Abweichungen des Kompasses verursacht hat; aber der Boulevard ist die große Arterie des Globus; das Universum zittert unter dieser Zone so, wie es früher unterhalb der Linie des Forum Romanum erbebte.
Aus dem Zitat und der Beschreibung des Boulevards als Ort spricht Enthusiasmus, der bezogen auf die Zeitschrift durchaus als Größenwahn aufgefasst werden kann. Mit dem Vergleich mit dem Forum Romanum hebt Méry die Funktion des Boulevards als öffentliches Zentrum hervor. Auch der Schriftsteller Louis Jourdan sieht den Titel als symbolträchtiges Fundstück an: „C’est une trouvaille que votre titre. […] Le Boulevard! c’est plus que tout Paris, c’est toute la France, c’est le résumé de toutes nos splendeurs et de tous nos travers, de toutes nos richesses et de toutes nos misères sociales, de nos vertus […] et de nos vices, à coup sûr.“567 Mit dem Boulevard greift das Blatt einen der wichtigen Orte des Pariser Lebens im 19. Jahrhundert auf, mit dem sich noch darüber hinaus zahllose Stadtbeschreibungen in Zeitschriften, Broschüren und Sammelbänden befassen. Der Boulevard ist für die Zeitschrift nicht nur titelgebend, sondern er benennt seinen wesentlichen Gegenstand. Le Boulevard hat eine mehr oder minder klar begrenzte lokale Referenz und zwar handelt es sich um einen bestimmten Teilbereich der großen Pariser Boulevards, die sich auf der nördlichen Seite der Seine, der Rive droite, von West nach Ost erstrecken. Die entsprechende Formel für diesen Abschnitt, „De la Madeleine à la Bastille“568, ist in Stadtpanoramen
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Ü.: „Ihr Titel ist ein Fundstück. […] Der Boulevard! Das ist mehr als ganz Paris, das ist ganz Frankreich, das ist die Verbindung all unserer Herrlichkeit und all unserer Schwächen, all unserer Reichtümer und all unseres sozialen Elends, unserer Tugenden […] und unserer Laster, ganz gewiss.“ Ebd., S. 2. Schon bei Honoré de Balzac (1853 [1845‒1846]): „Histoire et Physiologie des Boulevards de Paris – De la Madeleine à la Bastille ‒“ In: Verschiedene (Hg.): Le Diable à Paris. Paris et les parisiens… Paris: Marescq, S. 164–167. In Le Boulevard kommt
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und Reiseführern vielzitiert. Dass es sich bei dem Boulevard um einen kleinen Raum handelt, dem übersteigerte Beachtung geschenkt wird, drückt sich hier erneut aus. Die Formel markiert die äußeren Grenzen dieses Bereichs des Boulevards. Beide Zitate verdeutlichen, dass sich im Boulevard eine zentralistische Vorstellung von Paris widerspiegelt. Der Boulevard wird als der entscheidende Kultur prägende Raum gedeutet, der Publikum, Spaziergänger und Produzenten gleichermaßen anzieht. Neben der mondänen Stadtgesellschaft finden sich in diesem Gebiet auch deren Beobachter ein: Kritiker, Journalisten, Autoren und Künstler. Im Boulevard kondensiert das Pariserische, hier ist das Tout-Paris zugegen. Er wird zudem zum Gravitationszentrum des Journalismus, weil sich dort Neues aus den kulturellen Institutionen und Stätten wie den Cafés, Opern, Theatern und von der Straße sammeln oder auffinden lässt. Dass zur Pariser Stadtliteratur maßgeblich Boulevardbeschreibungen gehören, bleibt bis mindestens um die Jahrhundertwende 1900 so, als noch ein deutscher Pariser Sittenbeobachter behauptet: „Diese Allthingstätte [sic] der Völker von Paris findet sich auf jenem Teil der großen und inneren Boulevards, der sich von der Rue Montmartre bis zur Oper hinzieht, und den der Pariser schlechthin ‚le boulevard‘ nennt. Mit dem Boulevard, diesem Herzen und Hirn der Stadt, muß man jede Beschreibung von Paris und seiner Bevölkerung anfangen“569. Der Boulevard als Sehnsuchtsort Dass der Boulevard keine rein geographische Größe ist, wird schon Anfang des 19. Jahrhunderts klar, wo vor allem der Boulevard des Italiens – ihn zeigt übrigens die Titelgraphik der Zeitschrift – mit seinen Cafés als
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die Formel ebenfalls öfter vor, so z.B. im Gedicht von Ange Pechméja: „De la Madeleine à…“, Nr. 11 vom 16. März 1862, S. 3 und in Bilderserien wie bei Daumier: „Madeleine – Bastille“, Nr. 11 vom 16. März 1862, S. 5. Karl Eugen Schmidt (1909): Pariser Typen. Berlin: Max Lande, S. 7.
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Ort einen gewissen Kommunikations- und Lebensstil repräsentiert. 570 Sich diesem in Form von Aufzeichnungen zu nähern, fasst ein Beiträger der Zeitschrift als Aufgabe und Anliegen der Boulevardjournalisten auf: […] on espère pouvoir, sans outrecuidance, sténographier cette conversation qui s’improvise tous les jours sur l’asphalte entre Athéniens de Paris. Libre-échange des nouvelles de la littérature et des arts, d’idées, sérieuses parfois, cachées sous une forme toujours frivole. Pain quotidien d’une jeunesse qui aime le bon, admire le beau, cherche le vrai, mais qui ne dédaigne pas la fantaisie, ‒ sous prétexte que les choses dites sérieuses ne sont pas plus utiles et sont beaucoup plus ennuyeuses.571 […] man hofft, diese Konversation, die jeden Tag zwischen den Pariser Athenern aus dem Stegreif entsteht, ganz unverfroren mitstenographieren zu können. Freier Handel der Neuigkeiten von Literatur und Kunst, Ideen, manchmal ernsthafte, immer versteckt in einer oberflächlichen Form. Tägliches Brot einer Jugend, die das Gute liebt, das Schöne bewundert, das Wahre sucht, aber nicht die fantaisie verachtet, ‒ unter dem Vorwand, dass die sogenannten ernsthaften Sachen nicht nützlicher und sehr viel langweiliger sind.
Im Zitat klingt die Sehnsucht der Jugend nach Leben und Freiheiten wie offener Meinungsäußerung an. Wegen des politischen Regimes verberge die kleine Presse ihre subversiven Inhalte in oberflächlichen Formen.572 Gespräche und Neuigkeiten sind dem Autor zufolge die Medieninhalte der kleinen Presse, die deren Repräsentanten aufzuzeichnen versuchen. Der Boulevard als Raum prägt soziale Praktiken, denn „Le Boulevard“ ist 570
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Siehe zum Beispiel Anne Martin-Fugier (1990): La vie élégante ou la formation du Tout-Paris: 1815‒1848. Paris: Fayard. O.A.: „Préface. Les bienvenues au nouveau-né“. Le Boulevard, Numéro Spécimen vom 1. Dezember 1861, S. 1. Zur französischen Boulevardpresse gibt es bislang wenig Forschung. Einzelne Aspekte finden sich bei Brunhilde Wehinger, die sich dem Zusammenhang zwischen Theater und Presse widmet (1988): Paris-Crinoline. Zur Faszination des Boulevardtheaters und der Mode im Kontext der Urbanität und der Modernität des Jahres 1857. München: Fink, S. 44‒55.
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nicht nur topographisch ein Bestandteil des Pariser Zentrums. Schon allein durch die hohe Dichte an Cafés, Theatern und Zeitungsverlagen spielen sich dort kulturelle Aktivitäten ab. Bereits im frühen 19. Jahrhundert weisen ihm Zeitgenossen zum Beispiel in der Stadtliteratur neben der geographischen auch eine ökonomische und symbolische Funktion zu.573 In dem Zusammenhang gilt der Boulevard als Ort des Tout-Paris – einer einflussreichen gesellschaftlichen Elite bestehend aus Politikern, Unternehmern sowie Künstlern und Journalisten. Reale Beobachtungen stellt man dort an, erdachte oder typisierte Szenen verortet man auf dem Boulevard (vgl. Kapitel 3.2). Demzufolge wird er nicht nur mit der sociabilité574 und bestimmten Kommunikationspraktiken, sondern auch mit der Medienpraxis und ihren Effekten wie der Personalisierung oder dem Skandal assoziiert. Nicht nur der Bourgeois, auch der Bohemien bewegt sich im Stadtraum, hält sich im Café auf, besucht die Theater, beteiligt sich am Stadtgespräch und ist Gegenstand desselben. Gesellschaftliche Außenseiter, marginale oder debütierende Künstler, Schreibende, die ihren Schaffensraum ebenso wie ihr Publikum suchen, konzentrieren sich somit auf dieses Terrain und werden darin sichtbar (gemacht). Der Boulevard stellt einen Raum der Nähe dar. Seine Repräsentation in der Presse lebt von Formen, die als weniger seriös, als unterhaltsamer, personenorientierter gelten. Durch diese Konzentration auf bestimmte Themen und bestimmte Zugriffsweisen auf das Alltagsgeschehen und die Kultur wird die petite presse ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Aufhänger nicht nur von ästhetischen, sondern auch von medienethischen Fragen.
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Martin-Fugier (1990): La vie élégante, S. 325. Ü.: „Soziabilität, Geselligkeit“. Der Terminus wird öfter verwendet, um Gemeinschaftsformen der Literaten- und Künstlerkreise zu beschreiben. Bsp. Joëlle BonninPonnier (2007): „Les lieux de sociabilité de la bohème“. In: Cahiers Edmond et Jules de Goncourt, Nr. 14 (Les Goncourt et la bohème), S. 103‒124.
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Boulevard als Beobachtungs- und Handlungsraum Mehrere Texte der Probenummer widmen sich ausdrücklich dem Boulevard als Beobachtungs- und Handlungsraum, womit sie in thematischer Hinsicht stellvertretend für die weiteren Ausgaben der Zeitschrift steht. Charles Asselineau verortet in dem Aufmachertext „Les Boulevards de Paris“ die gehobene Boulevardgesellschaft. Neben der wirtschaftlichen sei dort vor allem die intellektuelle, künstlerische und an Kultur interessierte Elite vertreten. Allerdings nutzen Kulturproduzentinnen und -produzenten, -konsumentinnen und -konsumenten, Spaziergängerinnen und Spaziergänger den Raum anders als Geschäftsleute: Une promenade où passe journellement tout Paris, non-seulement le Paris de la Banque et des affaires, le Paris agent de change et juge au tribunal de commerce, le Paris financier, boursier, rentier et créancier, mais encore tout le Paris des ateliers et des salons, le Paris abonné des concerts du Conservatoire, le Paris qui comprend M. Ingres, qui applaudit Gluck et madame Viardot, et lit le dernier roman de M. Jules Janin; le Paris artiste enfin, intelligent et lettré; une telle promenade est autre chose qu’un passage banal conduisant de la Bourse aux magasins Deslisle, et bordé de boutiques, de cafés et de bureaux d’omnibus.575 Ein Spazierweg, wo täglich ganz Paris, nicht nur das Paris der Banken und Geschäfte, das Paris der Börsenmakler und Richter beim Handelsgericht, das Paris der Finanziers, Börsianer, Privatiers und Gläubiger, sondern auch noch das ganze Paris der Ateliers und Salons, das abonnierte Paris der Konzerte des Konservatoriums, das Paris, das Ingres versteht, das Gluck und Madame Viardot applaudiert, und den letzten Roman von H[errn] Jules Janin liest; das Paris der Künstler letztlich, intelligent und gebildet; ein solcher Spazierweg ist eine andere Sache als eine banale Passage, die von der Börse zum Geschäft Deslisle, umsäumt von Boutiquen, Cafés und Fahrkartenhäuschen, führt.
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Charles Asselineau: „Les boulevards de Paris“. In: Le Boulevard, Numéro spécimen vom 1. Dezember 1861, S. 6.
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Der Autor unterscheidet den geschäftigen Durchgang vom müßiggängerischen Aufenthalt auf dem Boulevard. Flaneure und Vagabunden bezeichnet er als „wir“; sie verleihen durch ihre Handlungen dem Raum eine andere Bedeutung. Für sie ist der Boulevard „das Paris-da“, das sie – die Künstler, Literaten und Journalisten – „jeden Tag belauern“576. Belauert wird ein bestimmtes Umfeld auf Neuigkeiten, auf geistreiche Impulse, auf lächerliche und mitteilenswerte Vorkommnisse. Für die Medienakteure stellt sich die Frage, in welcher poetischen und ästhetischen Form diese Darstellungen stattfinden sollten. Zudem schließen sich ethische und moralische Fragen an, namentlich wie man sich als Autor und Beobachter im Revier der Schreibenden bewegen kann und wie das Gehörte, Gesagte und Beobachtete in die Medien transferiert werden sollte. Die boulevardiers als Experten der Boulevardkommunikation, Autoren wie Aurélien Scholl oder Charles Monselet, wie Adrien Marx577, Charles Bataille oder Albert Wolff578 liefern geistreiche und pikante Unterhaltung, die gelungen ist, wenn sie die Grenze zur Geschmacklosigkeit nicht überschreitet. Boulevardiers verbinden den Aufenthalt in diesem Umkreis mit literarischer Produktivität. Sie sind die potenziellen Vermittler und Kolporteure der Dialoge, der Begegnungen und Ereignisse, sie sind ein Gewinn sowie ein Risiko für die selbstbezügliche Gesellschaft, weil sie Unbeteiligte teilhaben lassen und aus Beteiligten potenzielle Medienfiguren machen. Vom Boulevard aus wird die Gesellschaft studiert und beschrieben. Die Boulevardliteratur und die Boulevardmedien prägen somit bestimmte Formen der Gesellschaftswahrnehmung von Personen oder Gruppen. 576 577
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„Ce Paris-là nous le guetterons chaque jour“. Ebd. Der Publizist Marx (1837‒1906) bestückt beim Boulevard die Kolumne „Propos de table“ und hat laut Kött die französische Interviewtradition begründet. Er stand „An der Schwelle vom ‚chroniqueur‘, der mündlich verbreitete Anekdoten sammelt, zum ‚reporter‘, der Informationen berichtet, die er selbst vor Ort und aus erster Hand erhoben hat.“ Kött (2004): Das Interview in der französischen Presse, S. 97. Der deutschstämmige Schriftsteller und Journalist Wolff (1835‒1891) arbeitet bei verschiedenen populären Zeitungen wie Charivari und Figaro mit.
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Boulevardstudien im Feuilleton Das erste literarische Feuilleton der Zeitschrift, Jean du Boysʼ „Les Fantômes du Boulevard“ 579 , ist eine Boulevardstudie, die Gesellschaftsbeschreibung mit Fiktion verbindet. Sie beginnt damit, dass ein Erzähler in objektivierender Perspektive vom Pariser Leben als Spektakel berichtet, wie es sich einem Cafébesucher, der Spaziergängerinnen und Spaziergänger betrachtet, darbietet. Vor dem Auge des Beobachters und Erzählers spielt sich die lebhafte Inszenierung des Alltäglichen ab. Eine Theaterallegorie macht aus dem Boulevard eine Bühne, aus den Beobachtern „Abonnenten“ eines „Spektakels“ und aus dem alltäglichen Geschehen eine „comédie“. Der Beobachter, ein „Parisien pur sang“580, liest die Zeichen und Codes aus dem Stil und der äußerlichen Erscheinung von Menschen. Ein Spaziergänger auf dem Boulevard scheint im Prinzip etwas Alltägliches zu sein, das sich dem Beobachter darbietet, doch in dem Feuilleton erscheint plötzlich ein Mann, der durch seinen wiederkehrenden Auftritt besonders mysteriös erscheint. Die im Text als „fantôme“ bezeichnete Person wird zu einer Figur, die das Bekannte und Lesbare durchkreuzt. Sie stellt in ihrer Physiognomie, in ihrer Kleidung ein Geheimnis aus. Bis hierhin stellt diese „Sittenstudie“581 den allgemeinen Charakter des Boulevards als gesellschaftliches Panorama in den Vordergrund. Um das besondere Ereignis zu erzählen, wechselt der Erzähler in den Modus des Erlebnisberichts und in die Ich-Form: „Il y a trois ans déjà que j’ai été pour la première fois hanté, en plein boulevard, par un de ces spectres de la civilisation moderne.“ 582 Kursiviert gedruckt ist die Jagdmetapher sicher nicht nur, um das Bild zu unterstreichen, sondern um auf die beliebte 579
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Jean du Boys: „Les fantômes du boulevard“. In: Le Boulevard, Numéro Spécimen vom 1. Dezember 1861, S. 2f. und S. 6f. Ü.: „Vollblutpariser“. Ebd., S. 2. Vom Erzähler „études de mœurs“ genannt. Ebd., S. 3. Ü.: „Drei Jahre ist es schon her, dass ich mitten auf dem Boulevard zum ersten Mal von einem dieser Gespenster der modernen Zivilisation verfolgt wurde.“ Ebd.
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Form des Jagens nach interessanten Neuigkeiten hinzuweisen. Bei dem Gespenst handelt es sich um einen Bürger, der die Neugier des Erzählers weckt, welcher daraufhin beginnt, die Person wie besessen zu beobachten. Das Feuilleton zeigt mehrmals, wie eng das Geschehen auf dem Boulevard, besonders die menschlichen Erscheinungen, mit der Presse verbunden ist. Und zwar verweist der Erzähler wiederholt darauf, welche Zeitung das Geschehen in welcher Weise aufgreift bzw. aufgreifen würde (in der fiktionalen Lesweise). Als der Erzähler das geheimnisvolle Individuum charakterisiert hat, deutet er an, dass die real existente, juristische Zeitschrift Gazette des Tribunaux die Hintergründe der Geschichte aufdecken werde. In einem dritten Schritt erzählt er selbst eine Variante der Geschichte, wodurch aus der Sittenstudie vom Boulevard eine Hintergrundgeschichte wird. Markant ist der Bruch in der Erzählperspektive, denn plötzlich weiß der Erzähler genau über die Person Bescheid. Sie ist nun Protagonist der Erzählung und heißt M. Dumontel. Dieser ist seiner großen Leidenschaft, der Erfindung eines Mechanismus, beraubt worden und geistert seither als auffallende Person auf dem Boulevard herum. An diesem Punkt sticht eine gesellschaftskritische Note hervor, denn der Mann ist zweifach „Opfer“ der Entwicklungen. Zuerst wird seine Stelle durch die Industrialisierung überflüssig, dann entwickelt er sich zu einem manischen Erfinder einer „mécanique“, die er wie einen Schatz hütet. Als die Erfindung von der Haushälterin gestohlen wird, tritt er ganz aus dem bürgerlichen Leben heraus. Die Pointe der Geschichte bildet eine fiktive Zeitungsnotiz aus der ebenfalls realen Zeitung Droit, die von dem Moment berichtet, als der Mann erkennt, dass sich jemand anders seine Erfindung zueigen gemacht hat. Er verschwindet letztlich aus der Öffentlichkeit, weil er verrückt wirkt und daraufhin von Ordnungshütern mitgenommen wird. Jean Du Boysʼ Erzählung widmet sich einer Person, die Neugier weckt, weil sie öffentlich exzentrisch auftritt, abweicht und weil sie dem Beobachter unbekannt ist. Das Feuilleton ermöglicht, dass sich Genres der Alltags- und
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Sittenbeobachtung mit fiktionalen Geschichten vermischen. Aus dem Journalisten wird in ein- und demselben Text ein Erzähler, wodurch die Grenzen zwischen Berichterstattung und Literatur verwischen. Boulevardeske Formen in Nachrichten Der Beobachtungsraum Boulevard bringt bestimmte Formen der Kommunikation hervor, die man als boulevardesk beschreiben kann. Beispielhaft wird nachfolgend eine Neuigkeit aus Carjats Klatschrubrik „Petites Nouvelles“ herangezogen, die zumeist am Ende der Ausgaben platziert ist. Sie setzt mit der Aussage „Il a plu le 8 juin!“583 ein. Zu Anfang der Rubrik wird etwas Alltägliches wie der Regen spektakularisiert. Die Tatsache, dass es am 8. Juni geregnet hat, wird durch das Ausrufezeichen zu einer bedeutsamen Nachricht stilisiert. Liest man den ersten Kurztext sowie die darauffolgenden „nouvelles“, wird deutlich, dass es weniger um den Regen als vielmehr darum geht, schlechte Befürchtungen zu verbalisieren. Dass der Regen auf etwas Anderes verweist, deuten die weiteren Sätze an: „Le 8 juin jour de la Saint-Médard. Date fatale, au dire des astronomes, car une seule goutte d’eau tombée ce jour-là nous présage sept semaines de pluie diluvienne et consécutive.“584 Schon hier dürften Zeitgenossen eine metaphorische Ebene herauslesen können. So bezieht sich die Nachricht auf ein unerfreuliches Ereignis, das weitere negative Konsequenzen birgt. Der nächste Absatz erweckt den Anschein, dass von einer Nichtigkeit und Alltäglichkeit wie dem Regen ausgehend willkürlich assoziiert wird. „La pluie“ wird hier von der Sprechinstanz, die die Leser adressiert, mit weiteren Wörtern aus dem Begriffsfeld und letztlich als „l’ennui“ übersetzt: „l’ennui enfin, ce réaliste hébété, voilà ce qu’engendre cette plaie de la 583
584
Ü.: „Es hat geregnet am 8. Juni!“ Étienne Carjat: „Petites nouvelles“. In: Le Boulevard, Nr. 24 vom 15. Juni 1862, S. 8. Ü.: „Der 8. Juni, Tag des Heiligen Medardus. Fatales Datum, so sagen die Astronomen, denn ein einziger gefaller Tropfen an diesem Tag sagt uns sieben Wochen durchgehenden und sintflutartigen Regen voraus.“ Ebd.
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nature appelée la pluie!“585 Hier wird die metonymische Verschiebung explizit gemacht und zwar steht das kursivierte „pluie“ nicht für die Bezeichnung der Sache, den Regen, sondern für die Konsequenzen und die Wirkungen auf die Menschen, die dieser allein schon in der Vorstellung erzeugen kann. Im dritten Absatz wird dann doch noch eine mögliche, im Rahmen der Zensur zulässige Bedeutungsebene offengelegt. Und zwar beziehen sich die negativen Aspekte auf den Kulturbetrieb: „Et dire qu’il y a des gens qui aiment la pluie! O honte! Des hommes intelligents – ou du moins regardés comme tels – des directeurs de théâtre, ne craignent pas de sourire au moindre nuage plombé qui pèse sur l’horizon.“586 Der Beitrag endet mit einer Gegenüberstellung der Positionen von Theaterdirektoren und von der einfachen Besetzung als Ausbeutungsverhältnis, in dem die Bewertung äußerer Umstände völlig unterschiedlich verläuft. Der sukzessive Aufbau, in dem sich die Sprechinstanz von einem unbedeutenden Alltagsereignis zu einer konkreten Kritik steigert, zeigt, dass die Kurznachrichten vielschichtige Bedeutungsangebote machen. Übersteigerte Banalität wird von dem Publikum, das die Konventionen der petite presse genau kennt, auch ironisch gelesen. Möglicherweise ergibt sich ein machtkritischer Subtext. Banalität und Alltagswissen werden ausgestellt und als Ereignis verkauft. Die kleinen Neuigkeiten, mit denen in Le Boulevard diverse Kolumnen mehrerer Autoren bestückt werden, kommentieren und ironisieren den Kulturbetrieb und kritisieren dessen Eliten auf einer konnotativen Ebene. Le Boulevard enthält zahlreiche Konvolute von Sprüchen, Anekdoten, gemischten Neuigkeiten sowie anderen Kurztexten, die gesammelt und graphisch abgesetzt als einzelne Einheiten in einer wiederum eigens betitelten Rubrik oder Kolumne erscheinen. Das interessante an den Rubriken 585
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Ü.: „[…] der Überdruss schließlich, dieser stumpfe Realist, da sieht man, was diese Plage der Natur, genannt der Regen, verursacht!“ Ebd. Ü.: „Und sagen, dass es Leute gibt, die den Regen lieben! O Schande! Intelligente Menschen – oder zumindest als solche angesehene – Theaterdirektoren, fürchten nicht, bei der kleinsten bleiernen Wolke, die schwer am Himmel liegt, zu lächeln.“ Ebd.
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mit unterhaltsam-spöttischen nouvelles à la main, mit Anekdoten, informativen, werbenden Neuigkeiten, geistreichen Sprüchen und anderen hintersinnigen Zeitungsnotizen ist deren Funktion für die Repräsentation des gesellschaftlichen Lebens. Sie geben Gespräche wieder, geben alltägliche Vorkommnisse preis, eröffnen Gedanken und Neuigkeiten, die auf dem Boulevard und dessen kulturellen Stätten, in den Salons und auf der Straße jeden Tag entstehen. Das gemeinsame Wissen von Produzenten und Publikum ist, wie Kapitel drei gezeigt hat, ein rhetorisches Grundmuster der Genres. Zunächst dient das Gemeinsame und Bekannte als Aufhänger der Nachrichten, woran sich in Form von Pointen und Witzen etwas Neues und Geistreiches anschließen kann. Um zu zeigen, wie Le Boulevard das aus dem Alltag aufgelesene, medial transformierte Stadtleben ordnet und präsentiert, eignen sich die Kolumnentitel. Sie deuten auf den vermischten, vorläufigen oder auch auf den als zweitrangig eingeschätzten Charakter der Sammlungen und den Status ihrer Produzenten hin. Man präsentiert mit ihnen „Bric-A-Brac“ („Durcheinander, Trödel“), „Pensées Détachées“ („Voneinander losgelöste Gedanken“), „Broussailles“ („Gestrüpp“), 587 „Glanures“ („Nachlese“), „Petites cocottes en papier („Kleine gefaltete Papiervögel“), „Cocottes“ („Putput“), „Fausses notes“ („Falsche Notizen“), „Des petits mots d’amitié“ („Kleine Worte der Freundschaft“). Teils adaptiert und demonstrativ ausgestellt werden so offenkundig externe Werturteile gegenüber dem geringen Gewicht der Produzenten, ihrer Werklosigkeit („un journaliste sans ouvrage“), dem Unernst oder der nicht-Zusammengehörigkeit und Inkohärenz des Gedruckten. Stellenweise wird in den Kolumnen auch auf eine Darstellungsform Bezug genommen, die dem Boulevard(begriff), wie man ihn heute versteht,
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Siehe exemplarisch Étienne Carjat: „Broussailles“. In: Le Boulevard, Nr. 21 vom 24. Mai 1863, S. 7.
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nahe kommt.588 So spielt Le Boulevard damit, dass möglichst intime oder auch belanglose Informationen von öffentlichen Personen, gern auch Prominenten sensationalistisch aufbereitet werden. Lemercier de Neuvilles Sparte „Petites nouvelles“ nimmt sich zum Beispiel privater Geschehnisse im Leben der „célébrité galante“ 589 Anna Deslions an. Als Neuigkeit wird erwähnt, dass die Frau Teile ihres Mobiliars verkaufe, woran sich eine zweite Notiz anschließt, die das angebliche Stadtgespräch aufgreift. Die Notiz hält fest, dass viel gerätselt werde, warum Deslions ihren Luxus loswerden wolle. Abschließend heißt es zum unklaren Hintergrund des Geschehens pointiert: „L’Europe attend anxieuse. Le Boulevard informe.“590 Die Prägnanz der beiden Sätze erinnert an Schlagzeilen. Indem eine Unruhe („anxieuse“) des Publikums behauptet wird, auf die das Medium mit Sachlichkeit („informe“) reagiere, verkehrt die Zeitschrift ihr Vorgehen ins Gegenteil. Da sie zuerst diese Nachricht verbreitet und zudem verspricht, weiterführende Informationen zum Geschehen zu bieten, stellt sie eine vermeintliche Sensationslust aus. „Angespanntes Warten“ ist als Affekt ebenso wie das Interesse ganz Europas an der Neuigkeit übertrieben dafür, dass es sich zwar um eine ungeklärte, aber eben um die belanglose Neuigkeit des Möbelverkaufs einer Frau aus der Halbwelt handelt. Le Boulevard präsentiert sich besonders im letzten Beispiel als Informationsmedium, was mediengeschichtlich interessant ist, da die ab den 1860er Jahren aufkommende billige Massenpresse, wie sie Le Petit Jour-
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Zu den darstellerischen und ökonomischen Aspekten der Boulevardisierung siehe Renger (2000): Populärer Journalismus, S. 161f., der dort den Nachweis führt, dass die „viel und oft kritisierte Kommerzialisierung bzw. Boulevardisierung vor allem der heutigen Printwelt […] aus historischer Sicht kein aktuelles Phänomen, sondern seit mehr als 150 Jahren schon längst vollzogen“ ist. Ü.: „galante Berühmtheit“. Zu célébrité und Exzentrik im 19. Jh. siehe Miranda Gill (2009): Eccentricity and the Cultural Imagination in Nineteenth-Century Paris. Oxford; New York: Oxford University Press. Ü.: „Europa wartet unruhig. Le Boulevard informiert.“ L. Lemercier de Neuville: „Petites nouvelles“. In: Le Boulevard, Nr. 12 vom 25. März 1862, S. 8.
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nal verkörpert, als Hinwendung zur Informationspresse und Alternative zu der politischen Meinungspresse gesehen wird.591 Der Begriff Informationspresse ist dabei in diesem Kontext durchaus erklärungsbedürftig. Informationspresse wird nämlich mit der Penny Press oder Yellow Press assoziiert, in der Neuigkeiten und Indiskretionen als Information gelten und nicht neutrale und objektive Berichterstattung. Im Vergleich zu anderen Ländern gilt Frankreichs zweigeteilte Medienlandschaft als historisch besonders, weil sich die Tageszeitungen im 19. Jahrhundert erst verzögert an Informationen orientieren und lange Zeit stark meinungsorientiert und somit auch politisch durchdrungen waren. Überlegungen zum Boulevard- als Medienbegriff in diesem Sinne stellt auch noch mal indirekt der Journalist Méry in der letzten Nummer der Boulevard im Rahmen einer Klage gegen die Repression und Benachteiligung der Zeitschrift dar: Au moment où Paris publie une foule de boulevards sur son pavé, […] le vôtre, un boulevard spirituel, moins heureux que ses confrères matériels, est exproprié pour cause d’inutilité publique, et sans la moindre indemnité municipale.592 Jetzt, wo Paris eine große Menge an boulevards auf seinem Pflaster veröffentlicht, […] wird Ihrer, ein geistreicher boulevard, weniger glücklich als seine materiellen Brüder, wegen öffentlicher Nutzlosigkeit enteignet, ohne die geringste Entschädigung zu erhalten. [Kursivierungen von mir, N.P.]
Mérys Gebrauch deutet an, dass sich „Boulevard“ zu einem Genrebegriff beziehungsweise zu einer Bezeichnung für ein Medienformat entwickelt.593 Jedoch ist der Begriff nicht an eine bestimmte Qualität gekoppelt, denn Le Boulevard wird ja gerade als „geistreiche“ Variante dieses 591 592 593
Vgl. Renger (2000): Populärer Journalismus, S. 53. Méry: „Farewell“. In: Le Boulevard, Nr. 24 vom 14. Juni 1863, S. 1f., hier S. 1. Ähnlich verwendet bei Victor Luciennes: „Philosophie transcendentale. De la Pêche à la Ligne. A Étienne Carjat“. In: Le Boulevard, Nr. 47 vom 23. November 1862, S. 6f.
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Formats aufgefasst. Das Boulevardblatt erscheint als gängiges Medienformat, das verschiedene Ausprägungen haben kann und nicht unbedingt negativ bewertet werden muss.
5.2 Boulevardbilder und Boulevardszenen einer illustrierten Zeitschrift Le Boulevard hat einen Schwerpunkt auf bildkünstlerischen Beiträgen, womit die Zeitschrift, die im ausladenden Folioformat gedruckt ist und den Zusatz „illustrierte Zeitschrift“ trägt, von Beginn an wirbt. Mit zunächst zwei großformatigen Abbildungen hat sie einen hohen Bildanteil, den ein gedoppelter Hinweis im Titelkopf ausstellt, indem dort auf „104 Dessins / et 936 colonnes de texte / par an“594 hingewiesen wird. Dass diese Informationen im Titelkopf auch als Werbeträger dienen, zeigt der geänderte Hinweis im zweiten Jahrgang, wo oft nur noch eine Graphik gedruckt wird und es nunmehr heißt: „Une grande lithographie, portraitscaricatures, actualités dans chaque numéro“595. Statt ihrer hohen Quantität wird nun die Vielfalt und Aktualität der bildkünstlerischen Inhalte betont. Carjat bringt sich als Vorreiter der Porträtkunst auch künstlerisch stark in die Zeitschrift ein.596 Seine Porträtphotographien bilden das Panoptikum der damaligen Bohème und kulturellen Elite von Paris ab. Redaktion und Studio Carjats sitzen in der Rue Laffite, die den Boulevard Haussmann kreuzt und sich somit im Einzugsbereich des Boulevards befindet. Dort hält er auch Soiréen ab, zu denen er das künstlerische ToutParis einlädt. Carjats Schlüsselrolle umfasst die Leitung der Zeitschrift und daran anknüpfende Netzwerkaktivitäten. Carjat vereint die Rollen
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596
Ü.: „104 Zeichnungen / und 936 Spalten Text / pro Jahr“. Le Boulevard, 1. Jg. jeweils S. 1. Die Zeitschrift nummeriert den 2. Jahrgang neu. Ü.: „Eine große Lithographie, Porträtskizzen, Karikaturen, Aktualitäten in jeder Nummer“. Le Boulevard, 2. Jg., jeweils S. 1. Vgl. Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 45.
5.2 Boulevardbilder und -szenen einer illustrierten Zeitschrift
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des Herausgebers, des Kolumnisten und des Zeichners. So adressieren Leserbriefe und manche Kolumnen oder Widmungsgedichte vorwiegend ihn neben dem Geschäftsführer Alphonse de Launay, der mit für das Blatt verantwortlich zeichnet. Anders als Chefredakteure und Herausgeber wie Saint-Alme oder Villemessant ist Carjat selbst Künstler und nutzt die Zeitschrift intensiv, um seine photographische Arbeit zu bewerben. Annoncen auf der letzten, achten Seite bieten Porträts und Biographien von bekannten Persönlichkeiten wie die des Journalisten Émile de Girardin, der Schauspielerin Adélaide Ristori oder des Malers Gustave Courbet feil, die beispielsweise im Panthéon Parisien, einem Photoalbum zeitgenössischer Berühmtheiten, versammelt sind. Carjats neue Zeitschrift Le Boulevard führt das Genre der ‚illustrierten Biographie‘597 weiter, das Carjat in dem zusammen mit Amédée Rolland und Charles Bataille im August 1856 gegründeten Wochenblatt Diogène598 entwickelt hat. Jede Ausgabe der vierseitigen Zeitschrift Diogène enthält ein großformatiges Personenporträt von Carjat, das Berühmtheiten vorwiegend aus dem Kulturbereich, aber auch Politiker wie Adolphe Thiers zeigt und mittelbar der Publicity der Abgebildeten dient. Neben Diogène gibt es eine zweite inoffizielle Vorgängerzeitschrift der Boulevard, nämlich die Revue fantaisiste, die unter dem Chefredakteur Catulle Mendès vom 15. Februar 1861 bis 15. November 1861 erschienen ist und nahezu alle Autoren beschäftigt hat, die auch später beim Boulevard mitarbeiten.599
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Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 45f. Wöchentlich sonntags im Folioformat mit Titelzusatz „Portraits et biographies satiriques des hommes du dix-neuvième siècle“. Mit einer Auflage von 2000 gestartet müssen die Gründer Diogène bald wegen finanzieller Schwierigkeiten aufgeben, so dass das Blatt nur vom 10. August 1856 bis zum 26. April 1857 erscheint. Auf den Titel folgt Rabelais. Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 46. Zu den Mitarbeitern gehören Théophile Gautier, Jules Noriac, Charles Coligny, Léon Gozlan, Amédée Rolland, Villiers de l’Isle-Adam, Charles Bataille, Alcide Dusolier, Champfleury, Banville, Baudelaire, Léon Cladel, Glatigny u.a.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
Fast jede Ausgabe der Boulevard enthält von Beginn an eine gezeichnete Porträtkarikatur, ein sogenanntes portrait-charge, von Carjat. Seine Karikaturen haben einen unverkennbaren Stil und konzentrieren sich auf eine oder zwei Persönlichkeiten, die als Paar – Geschwister oder Kollegen – abgebildet werden. Sie sind allesamt männlich und dem Beruf oder der Berufung nach Musiker, Dirigenten, Komponisten, Maler, Schriftsteller, Theaterdirektoren, Journalisten, Wissenschaftler und Ärzte. Carjats Porträts haben einen gewissen Marktwert, denn wer für eine Studie ausgewählt wird, den hält der Porträteur für interessant genug und das kann das öffentliche Interesse an einer Person zusätzlich befördern. Dass es als Auszeichnung verstanden wurde, von Carjat gezeichnet zu werden, legt beispielsweise eine Anfrage des Politikers Léon Gambetta offen.600 Diejenigen, deren portraits-charges er veröffentlicht, haben ihre Einwillligung dazu gegeben, was unter anderem Antwortbriefe der Angefragten bezeugen, die Le Boulevard teils abdruckt.601 Zu jedem Kunstwerk erscheint ein Kommentar, der je nach Verfasser mal mehr biographisch-informative, mal mehr das Bild interpretierende Züge hat. Mit der Porträtkunst tragen Zeitschriften wie Le Boulevard zu einem Persönlichkeitskult bei; die bildlichen stellen wie die zahlreichen textuellen Inszenierungsformen von Personen einen wichtigen Aspekt der boulevardesken petite presse dar. Exemplarisch dafür ist die Probenummer, die zwei bekannte Persönlichkeiten in verschiedener Weise porträtiert. Carjat karikiert den Künstler und Karikaturisten Honoré Daumier, der zu dem Zeitpunkt bereits solch eine Anerkennung in der Presse genießt, dass die Erlaubnis, auch von ihm mehrere Karikaturen abzudrucken in Le Boulevard stolz und werbend angekündigt wird.602
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Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 29. Ebd., S. 102. Étienne Carjat: „H. Daumier“. In: Le Boulevard vom 1. Dezember 1861, ohne Paginierung, S. 2.
5.2 Boulevardbilder und -szenen einer illustrierten Zeitschrift
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Abb. 14: Porträtkarikatur von Étienne Carjat: „H. Daumier“ aus Le Boulevard
Daumier hatte als Künstler bereits früher abseitige, urbane Personenkreise skizziert, darunter die Bohème und andere Typen, die dubiose, unbürgerliche Lebensformen und Verhaltensweisen zeigen. Ihnen widmete sich seine Lithographieserie aus den Jahren 1840 bis 1842, die im Charivari unter dem Titel „Les Bohémiens de Paris“ erschienen war. 603 Carjats Karikaturen sind üblicherweise Ganzkörperdarstellungen einzelner Persönlichkeiten, die wie hier Daumier mit charakteristischen Insignien ausge-
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Auswahl aus der Serie abgedruckt in: Sylvain Amic (Hg.) (2012): Bohèmes. De Léonard de Vinci à Picasso. Paris, Grand-Palais, 26. September 2012 – 14. Januar 2013; Madrid, Fundación Mapfre, 6. Februar 2013 – 5. Mai 2013. Paris: Réunion des musées nationaux, S. 262–264.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
stattet sind. Zumeist sind es Gegenstände, die die Profession sichtbar machen, gerne ein Arbeitsgerät wie in diesem Fall die Farbpalette. Zumeist haben die Porträtierten einen in Relation zum Körper überdimensionierten Charakterkopf und werden im Stehen dargestellt. Ausdrucksstark und auch rätselhaft ist im Falle dieses Porträts von Daumier die Blickrichtung des Dargestellten, die in dieselbe Richtung wie der Stab führt. Das sieht in Kombination mit der Farbpalette beinahe wie eine Geige aus, was darauf hindeuten könnte, wie meisterhaft Daumier dieses Instrument beherrscht. Die zweite in der Probenummer dargestellte Person ist Charles Baudelaire, der selbst Autor in Le Boulevard war, und als Persönlichkeit mit der Bohème assoziiert ist. Es handelt sich um eine Lithographie von Émile Durandeau, die eine chaotische Mansardenszene unter dem Serientitel „Messieurs de la Lyre“ 604 zeigt. Im Untertitel „Les Nuits de Monsieur Baudelaire“ wird deutlich, dass sie den Dichter der Fleurs du Mal darstellen soll.
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Le Boulevard vom 1. Dezember 1861, ohne Paginierung, S. 3. Diese Serie wird übrigens nicht fortgesetzt.
5.2 Boulevardbilder und -szenen einer illustrierten Zeitschrift
Abb. 15: Lithographie von Émile Durandeau: „Messieurs de la Lyre. Les Nuits de Monsieur Baudelaire“
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
Der Dichter im Bett eines Mansardenzimmers ist ein bekanntes Motiv der bildlichen Künstlerdarstellung im 19. Jahrhundert. Allerdings zeigt ihn die Darstellung beim nächtlichen Schlaf und damit in einer besonders intimen Situation. Das nach hinten gekippte Bett, das nur einen Blick auf die Füße der darin liegenden Person erkennen lässt, ist dysfunktional, es schwebt auf einer Seite in der Luft. Über die Kante des unteren Bettrandes hinaus ragen zwei Füße in unterschiedlicher Länge, was eine Schieflage des Schlafenden anzeigt. Das Bett bildet den Blickfang des chaotischen Raumes. Die Dachbalken, das Bettgestell und die Regale verlaufen teils diagonal, teils über Kreuz und unterstreichen das Durcheinander mit ihren Linien. Über seinem Kopf zeichnet sich ein Schatten ab, der die Silhouette vom Kopf der schwarzen Katze wieder aufnimmt. Er ist aber deutlich größer und kann in seiner Form an einen Teufel mit Hörnern denken lassen. Der Raum trägt phantastische, unheimliche Züge und die morbide Szenerie entsteht durch viele kleine Gegenstände und Lebewesen wie Teufel, Katzen, tote Mäuse, Skelette, Totenköpfe und alchimistische Gefäße. Auch nützliche Alltagsgegenstände wie Besen oder Bücher liegen verstreut herum. Eine Mansarde ist ein Wohn- und Schaffensraum und die alptraumbehaftete Schlafphase, die der Raum in einer grotesk verzerrten Szene spiegelt, kann als Anspielung auf Baudelaires Poetik gelesen werden. Théodore de Banvilles Begleitkommentar zur Abbildung legt dies nahe. Er betrachtet Durandeaus Zeichnung als ironisch wie einer Phantasie des kulturell uninformierten Bourgeois entsprungen, der eine verfremdete Vorstellung vom Künstlerleben habe: „Les Nuits de Monsieur Baudelaire…comme se les figurent les rentiers fossiles de la rue Cocatrix, qui prennent M. Marue pour une avocate et George Sand pour un capitaine de cavalerie.“605 Baudelaire, der selbst Autor der Zeitschrift ist, wird darin immer mal wieder 605
Ü.: „Die Nächte Baudelaires, wie sie sich die fossilen Rentner der Rue Cocatrix vorstellen, die M. Marue für einen Anwalt und George Sand für einen Leutnant der Kavalerie halten.“ T. de B.: „II. Messieurs de la lyre par Émile Durandeau“. In: Le Boulevard, Numéro Spécimen vom 1. Dezember 1861, S. 7.
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erwähnt, in Widmungen bedacht oder in Geschichten eingebunden.606 Als Autor publiziert er eine Kritik zu Victor Hugos Les Misérables sowie mehrere Sonette, womit die Zeitschrift sogar Baudelaires Hauptmedium seiner Presseveröffentlichungen in den Jahren 1861 bis 1863 ist.607 Le Boulevard bringt im Wesentlichen Porträts sowie Karikaturen zum Großstadtleben und dem Boulevard, seinen Milieus und Personenkreisen heraus. Die konstante Graphik der Boulevard enthält die Titelseite der Probenummer.
Abb. 16: Titelseite von Le Boulevard, Probenummer vom 1. Dezember 1861
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Als Figur in Hortensius Stornfels: „Les Immortels“. In: Le Boulevard, Nr. 1 vom 5. Januar 1862, S. 2. In derselben Ausgabe kommt Baudelaires Kandidatur für die Académie Française zur Sprache; Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 132. Ebd., S. 145.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
Es handelt sich um eine Illustration des Künstlers Émile Bénassit (1833– 1902) und gibt Einblick in das mondäne Boulevardtreiben.608 Die Boulevardszene zeigt eine bestimmte soziale Schicht an einen wichtigen Ort und gängige Praktiken wie den Cafébesuch, das Flanieren oder den Erwerb von Zeitungen oder anderen Gütern an einem Kiosk. Im Hintergrund ist eine eng gedrängte Menge von Damen und Herren der gehobenen Gesellschaft zu sehen. Im Vordergrund hebt sich eine kleine Gruppe ab, die an einem Tisch des Café Riche sitzt und Konversation betreibt. Der Kiosk links, an dem zwei Männer stehen, zeigt den Boulevard als Distributionsort von Zeitungen. Das schon Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Café Riche, das man an der Markisenaufschrift erkennt, war in der Jahrhundertmitte ein beliebtes Café auf dem Boulevard des Italiens. Alfred Delvau beschreibt es als Zuhause der literarisch-künstlerischen Elite dieser Zeit.609 Die Vignette zeigt die gesellige Konversation im Café, den Spaziergang oder die Flanerie – den Aufenthalt im öffentlichen Raum. Die Personen auf diesem Bild erscheinen als homogene Gruppe, die einen bürgerlichmondänen Habitus vermittelt. Ein auffallendes Detail ist angesichts der sonst ausschließlich erwachsenen Personen im Bild ein kleiner Junge, der im Vordergrund links zu sehen ist und mit seinem vorgestreckten Bauch vorwitzig wirkt. Indem er am Rand steht und entgegen der Bewegungsrichtung der anderen in das Geschehen hineinblickt, nimmt er eine Beobachterposition ein. Man kann diesen Jungen als Detail übersehen oder aber ihm eine Bedeutung zuweisen, was durch seine Sonderposition angesichts des Alters und der Haltung plausibel erscheint. Mit dem Kon-
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Die Graphik enthält zwei Kürzel, eines ist nicht entzifferbar. Da Le Boulevard in Nr. 2 von der „Feder“ und den „Zeichnungen“ Bénassits spricht, gehe ich davon aus, dass er gezeichnet hat und die Lithographie von einer anderen Person angefertigt wurde. „Le Café Riche. 1862 […] il reçoit l’élite de la société parisienne, de la bonne, – la société littéraire et artistique.“ Ü.: „Das Café Riche. 1862 […] empfängt es die Elite der Pariser Gesellschaft, aber die gute – die literarische und künstlerische Gesellschaft“. Delvau (1862): Histoire anecdotique des cafés et cabarets, S. 254.
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textwissen zur petite presse kann man ihn als einen Außenseiter interpretieren, der involviert, aber gleichzeitig Beobachter ist. Das Text-Bild-Ensemble des Titelkopfs ist auf mehrere Ebenen bezogen: Le Boulevard benennt einen konkreten Raum und verweist auf das dortige Treiben des mondänen, (groß)-bürgerlichen Publikums. Gleichzeitig ist die Zeitschrift selbst der Boulevard: Sie produziert Gespräche, verbreitet Neuigkeiten und regt den Austausch von Produzenten und Rezipienten an. Die Kiosksäule im Bild ist der Ort, an dem die Zeitschrift möglicherweise ihren Zugang zum Publikum findet. Auch wenn sich einzelne Angaben im Impressum verändern; die Vignette bleibt während der gesamten Erscheinungszeit dieselbe. Allerdings stellt sie keineswegs das einzige Bild des Boulevards dar. Vielmehr bringt die Zeitschrift Boulevardszenen in Hülle und Fülle hervor, die von Gesprächen, Begegnungen, Geschäften, teils auch Konfrontationen sozialer Milieus geprägt sind. Der Boulevard wird in den sonstigen Texten und Bildern keineswegs so homogen präsentiert wie in der Vignette. Le Boulevard ist Kulisse von Begegnungen und ein Rahmen für die Inszenierung von Typen und Milieus. Le Boulevard ist eine Bühne, auf der selbst die nebensächlichste Tätigkeit, allein die Anwesenheit zur Aussage wird. Eine einfach gekleidete, korpulente Frau betritt den Bus und die schlanken bürgerlichen Frauen schauen sie indigniert an. Kommentiert wird diese von Honoré Daumier dargebotene Szene im Boulevardbus „Madeleine – Bastille“ ironisch mit: „Un zeste, un rien […] et l’omnibus se trouve complet.“610 Auf die Konsequenzen der Haussmannisierung spielt Daumiers Lithographie „Le nouveau Paris“611 an, die eine dynamische, überfüllte Boulevardszene zeigt. Ein gehetzt blickender Kutscher und eine bürgerliche Familie als Spaziergänger stehen sich gegenüber und die Bildunterschrift der Karika-
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Ü.: „Eine Spur, ein Nichts und der Bus ist voll“. Le Boulevard, 2. Jg., Nr. 11 vom 16. März 1862, S. 5. Honoré Daumier: „Le nouveau Paris“. In: Le Boulevard, Nr. 14 vom 6. April 1862, S. 5.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
tur kommentiert ironisch: „Comme c’est heureux pour les gens pressés, qu’on ait élargi les voies de communication!!!“612 Die Bezeichnung „Voies de communication“ ist doppeldeutig, da es sowohl „Verkehrswege“ als auch „Kommunikationswege“ bedeuten kann, womit der Boulevard sowohl als Durchgangsweg als auch als Aufenthaltsraum und Medium erfasst wird. Eine Zeichnung von [Jean] Pastelot (1820‒1870) aus der Serie „De la Madeleine à la Bastille“ zum „Boulevard St Martin“613 unterstützt die Idee des Boulevards als Bühne. Seine Boulevardszene fängt einen Moment ein, in dem die Verflossene eines Kellners nun an der Seite eines Bourgeois in mondäner Robe vorbeischreitet, wodurch der Spaziergang etwas von einem Auftritt hat. Zwei Lebenswirklichkeiten treffen sich in einem Bild und der neue Stand der Frau wird mit „Mon Ancienne!...oh là là!...“614 kommentiert. Émile Durandeaus Serie „Les Inutiles“ nimmt in zackigen Konturen ärmere oder dubiose Personen in Augenschein. So als ob sie den bürgerlichen Habitus imitierten, zeigt eine Graphik aus dieser Serie ein ärmliches Paar, das Seite an Seite zusammen mit einem Hund mit Stachelhalsband spaziert, ironisch kommentiert mit „Môssieu et sa dame!“615. Dass der Boulevard im Zweiten Kaiserreich ein Raum der Mischung, der Kontraste und bisweilen der Konfrontation ist, fangen die erwähnten künstlerischen Skizzen augenscheinlich ein. In dem Sinne äußert sich auch der Journalist Albert Wolff in seinen Mémoires du Boulevard:
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Ü.: „Welch ein Glück für die Leute in Eile, dass man die Verkehrswege verbreitert hat!!!“ Ebd. Pastelot: „De la Madeleine à la Bastille. Boulevard St Martin“. In: Le Boulevard, Nr. 26 vom 29. Juni 1862, S. 6. Ebd. Le Boulevard, Nr. 20 vom 18. Mai 1862, S. 4.
5.3 Werbestrategien in Le Boulevard
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Tout quartier de Paris a sa physionomie déterminée; seul le boulevard change dʼaspect à chaque instant. Cʼest un terrain neutre où se rencontre une société panachée. On y voit la gloire et la honte... le travail et la paresse... les Parisiens et les étrangers... les grands financiers et les petits filous... les hommes dʼesprit et les idiots... les sublimes et les grotesques... et sur la chaussée passent les honnêtes femmes et les autres; enfin on y trouve tout Paris, c’est-àdire cette population étrange, capable de tout héroïsme et de toute bassesse, et qui est comme une sorte de carte dʼéchantillon de ce qui vit, se meut et sʼagite au-dessus de nous, comme de ce qui grouille et rampe à nos pieds.616 Jedes Viertel in Paris hat seine bestimmte Physionomie, nur der Boulevard wechselt sein Erscheinungsbild in jedem Augenblick. Es ist ein neutrales Terrain, wo man eine gemischte Gesellschaft findet. Man sieht dort Ruhm und Schande… Arbeit und Faulheit… die Pariser und die Ausländer… die großen Finanziers und die kleinen Gauner… die Männer mit Geist und die Idioten… die Erhabenen und die Grotesken… und die Chaussee passieren die ehrlichen Frauen und die anderen. Letztlich findet man dort ganz Paris, das heißt diese merkwürdige Bevölkerung, die jedes Heroismus und jeder Niedrigkeit fähig ist und wie eine Art Musterkarte ist, von dem, was lebt, sich über uns bewegt und umtreibt, wie von dem, was zu unseren Füßen wimmelt und kriecht.
5.3 Werbestrategien in Le Boulevard Le Boulevard nutzt diverse kommerzielle und nicht-kommerzielle Reklamestrategien, zunächst zur Selbstvermarktung der Beteiligten und zur Unterstützung von Freunden, später auch, um die Zeitung wirtschaftlich zu machen. Als Grundform der offenen Reklame erscheinen Werbeannoncen im Blatt auf der letzten Seite. Im ersten Jahrgang widmen sie sich ausschließlich Produkten des Kultur- und Medienbetriebs wie Verlagen, Unternehmen und Neuerscheinungen von Büchern und Zeitschriften.
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Albert Wolff (1866): Mémoires du boulevard. Paris: Librairie centrale, S. 1f.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
Vorzugsweise werden nahestehende Autoren oder Verlage beworben wie Poulet-Malassis, der Verleger von Baudelaires Fleurs du Mal, bei dem viele weitere Autoren des Boulevard publizieren.
Abb. 17: Werbeannoncen in der Probenummer von Le Boulevard
Der hohe Anteil an Anzeigen für das Unternehmen La Photographie Carjat et Cie belegt, dass die Zeitschrift für Carjat ein Publikations- und
5.3 Werbestrategien in Le Boulevard
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Werbemedium ist. Zeitweise erscheinen auf der letzten Seite ausschließlich Annoncen für seine Arbeiten. Zeitschriften haben einen finanziellen Bedarf, der womöglich eine Finanzierung über Dritte oder eine Querfinanzierung nötig macht. Ökonomisch ist die Zeitschrift, die Carjat im selben Jahr wie sein Photostudio gründet, ein Zuschussgeschäft. Als er das Studio 1861 eröffnet, hat er eine gewisse Reputation zum Beispiel durch Auszeichnungen auf Ausstellungen und dadurch sogar finanzkräftige Kunden.617 Mit der Zeitschrift jedoch macht er letztlich Schulden, nach Schätzungen eines Zeitgenossen hat ihn das Unternehmen circa 30.000 Franc gekostet.618 Für die Probenummer wirbt Le Boulevard mit Gratisexemplaren, die in Paris verteilt werden.619 Prämien dienen dazu, Leser und Abonnenten zu gewinnen und zu binden. Die Werbemethoden sind auf die Gewohnheiten des (städtischen) Publikums abgestimmt. Viele originelle Werbestrategien, die sich später auch die Massenmedien zueigen machen werden, stammen aus der petite presse.620 Beliebt sind Abo-Prämien wie Kunstobjekte, Eintrittskarten für bestimmte Veranstaltungen und Photographien, die entweder zuzahlungsfrei oder durch einen Aufpreis erhältlich sind. Bereits die Probenummer offeriert den neuen Abonnenten zwei Gravuren von J. Levasseur. Acht Franc kostet die Zuzahlung für zwei Gravuren, die im Handel sonst 40 Franc kosten würden und 20 Franc für eine Photographie, die sonst 50 Franc kostete. Welche Prämien ausgewählt und wie sie beworben werden, verdeutlicht, welches Publikum angesprochen werden soll: „nos gravures sont, en effet, / Les plus belles étrennes artistiques / que l’on puisse offrir, et, sans aucun doute, celles qui coûtent le moins.“621 Mit der Werbung wendet sich Le Boulevard an eine bürgerli-
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Vgl. Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 31; S. 53. Ebd., S. 49. Ebd., S. 13. Siehe zu den Reklamestrategien in der petite presse auch Kap. 3.2.2. Ü.: „unsere Gravuren sind tatsächlich die schönsten künstlerischen Einweihungen, die man anbieten kann und ohne jeden Zweifel die, die am wenigsten kosten.“ „Condi-
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
che Leserschicht, die Geld für Kunst erübrigen und sich für Originalität und Qualität zu einem verhältnismäßig günstigen Preis begeistern kann. Eigenwerbung ist eine wichtige Strategie, um die Reputation der Zeitschrift, ihrer Mitarbeiter und Fähigkeiten zu erhöhen und damit auch den Verkauf der Zeitung voranzubringen. Von ihr rückt die Zeitschrift im Laufe der Erscheinungszeit zunehmend ab und versucht ökonomisch gewinnbringende Anzeigen zu nutzen. Innerhalb des Netzwerks wird die Zeitschrift anfangs kostenlos herausgegeben und zwar für alle „Freunde der Presse oder des Ateliers“622, also für Künstler und Kollegen. In der 20. Nummer wird der Gratisservice nur noch für Theater sowie Auftragsmitarbeiter angeboten.623 Auch die Werbestrategie wird im zweiten Jahr seines Bestehens kommerzialisiert, indem gewerbliche Anzeigen von außerhalb integriert werden: „A partir du prochain numéro, le Boulevard sera timbré et recevra des annonces industrielles.“624 Über direkten Kontakt mit der Redaktion und der Druckerei können Kunden Inhalte in der Zeitung platzieren und zwar in Form einer klassischen Annonce, einer Reklame oder eines faits divers sowie eines Artikels, der im redaktionellen Teil erscheint.625 Le Boulevard führt also käufliche Inhalte ein, die sowohl im Annoncenteil als auch im redaktionellen Bereich erscheinen können. Weitere Indizien deuten darauf hin, dass Carjat versucht, die Zeitschrift wirtschaftlicher zu machen. So reduziert er den Kaufpreis pro Nummer von 40 auf 35 Centimes und
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tions d’abonnement au journal et avantages offerts aux abonnés“. In: Le Boulevard, Numéro spécimen vom 1. Dezember 1861, S. 7. „Gravées par J. Levasseur d’après les tableaux de Hamon.“ „nos amis de la presse ou de l’atelier“. In: Le Boulevard, Nr. 20 vom 18. Mai 1862, S. 5. O.A.: „Avis“. In: Le Boulevard, Nr. 20 vom 18. Mai 1862, S. 3. Ü.: „Ab der nächsten Nummer wird Le Boulevard gestempelt sein und gewerbliche Annoncen annehmen.“ O.A.: „Avis“. In: Le Boulevard, Nr. 14 vom 5. April 1863, S. 3. Eine einfache Annonce für 60 Centimes pro Zeile; eine Reklame für zwei Franc, ein faits divers für vier Franc, ein Artikel im Zeitungskorpus für sechs Franc. „Annonces“. In: Le Boulevard, Nr. 15 vom 12. April 1863, S. 8.
5.3 Werbestrategien in Le Boulevard
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spart ab der 40. Nummer Graphiken von anderen Künstlern ein und platziert in erster Linie seine eigenen Arbeiten. Neben genannten Werbestrategien gibt es welche, die dem sozialen Netz dienen. Man nutzt die Plattform zum Beispiel, um mittellose Autoren zu unterstützen, was ein Aufruf für den Schauspieler und Dichter Albert Glatigny zeigt. 626 Auch Spendenaufrufe bei Todesfällen in den eigenen Reihen oder von angesehenen Autoren sowie Subskriptionsaufrufe für Buch- oder Zeitschriftenprojekte kommen vor.627 Es gehört zum üblichen Repertoire der petits journaux und revues für Kollegen und Freunde in unterschiedlicher Form zu werben. Manchmal überschneiden sich in dem freundschaftlich-kollegialen Netzwerk auch Eigen- und Freundeswerbung. Eine große Annonce weist auf das illustrierte Journal Jean Diable hin, bei dem viele Mitarbeiter von Le Boulevard, sogar Carjat, mitwirken. Der Neugründung Le Hanneton. Journal des Toqués 628 bietet Le Boulevard unaufgefordert eine Reklame an, woraus sich ein Dialog mit dem Herausgeber ergibt, der in einer Korrespondenz Genaueres zum Programm der neuen Zeitschrift verrät. 629 Getauscht wird eine Erwähnung gegen eine exklusive Information. Wenn für konkurrierende Zeitschriften geworben wird, kann man das als solidarische Werbung verstehen. Freundschaften und kollegiale Solidarität unterscheiden sich voneinander, doch gehören sie beide zum sozialen Kapital, das für die marginalen Literatenkreise von großer Bedeutung ist. Der Begriff des Freundes ist interessanterweise nicht nur für Personen gebräuchlich, sondern wird auch bisweilen auf andere Publikationsorgane bezogen. Aufeinander bezogene Kommentare, lobende Erwähnungen, Glückwünsche und sonstige Nennungen inszenieren ein solidarisches
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Le Boulevard vom 28. Oktober 1862. Vgl. Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 202. Z.B. in: Le Boulevard, Nr. 21 vom 25. Mai 1862, S. 8. Ü.: „Der Maikäfer. Zeitung der Bekloppten“. Julien Lemer: „Correspondance“. In: Le Boulevard, Nr. 47 vom 25. November 1862, S. 8.
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Submilieu, das sich nicht nur auf „Freunde“ im engen Sinne beschränkt. Es stärkt das Ansehen der petite presse insgesamt, wenn ein Organ andere desselben Formats positiv hervorhebt. Was in kleinen Zeitungen ebenso verbreitet wie verpönt ist, sind gekaufte Kritiken oder nicht ausgezeichnete Reklame. Eine klassische Selbstbehauptung der Medien dieser Zeit ist, gegenüber Erpressung und Tauschgeschäften mit dem Buchhandel und den Theatern, die Bücher und Eintrittskarten gegen positive Kritiken vergeben, resistent zu sein. Offenkundige Eigenwerbung thematisiert Carjat im Folgenden offensiv, indem er auf den Vorwurf der Vetternwirtschaft eingeht: On nous a maintes fois accusé de prodiguer les réclames dans les colonnes du Boulevard. Nombre de lecteurs se sont récriés et nous ont engagés, par lettres, – le plus souvent anonymes, nous devons l’avouer, – à racheter désormais, par une juste sévérité, nos éloges passés à l’endroit de certains noms de lettres et des arts. L’un d’eux terminait son épître grondeuse par le mot d’Henry Monnier dans: Grandeur et décadence de Joseph Prud’homme: ‚Pas de népotisme, monsieur, pas de népotisme!‘630 Man hat uns mehrfach beschuldigt, in den Spalten von Le Boulevard Reklame zu verbreiten. Zahlreiche Leser haben dagegen protestiert und uns veranlasst, durch Briefe – allermeistens anonym, das müssen wir zugeben – von nun an durch eine wahre Strenge unsere Elogen wiedergutzumachen, die gegenüber gewissen Namen der Literatur und der Künste gefallen sind. Einer von ihnen beendete seine verärgert klingende Epistel mit dem Ausspruch Henry Monniers aus Grandeur et décadence de Joseph Prud’homme: ‚Keinen Nepotismus, der Herr, keinen Nepotismus!‘
Carjat gesteht ein, dass Lobhudeleien zugunsten bestimmter Literaten und Künstler vorkämen. Er beendet diesen Einfall mit einem Zitat aus einer Komödie Henry Monniers, der mit dem Monsieur Prudhomme einen Pro-
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Étienne Carjat: „Petites Nouvelles“. In: Le Boulevard, Nr. 32 vom 10. August 1862, S. 7.
5.3 Werbestrategien in Le Boulevard
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totyp des kleinbürgerlichen Spießers entworfen hat. Carjat lässt einen bekannten Spießer als Kritiker der Vetternwirtschaft sprechen, der in Monniers literarischer Vorlage den eigenen Neffen wegen einer schulmeisterlich vorgebrachten Regel nicht als Mitarbeiter einstellt. Dadurch, dass Carjat am Ende den Kleinbürger zitiert, der die Vetternwirtschaft anprangert, erscheint die Bekundung, Reklame zu bedauern, ironisch. In die Werbestrategien eingebunden sind neben der Zeitschrift als Medium auch die Zeitungsredaktionen als Orte. Sie sind im Alltagsgeschäft Anlaufstellen für Abonnenten, Beschwerdenträger sowie Neueinsteiger. Als Institutionen richten Zeitschriften auch Veranstaltungen aus, in denen sie Publikum und Produzenten zusammenzubringen. Mit der Zeitung Figaro-Programme veranstaltet Le Boulevard beispielsweise eine Soirée mit künstlerischem Programm bei den Sängern Hippolyte und Anatole Lionnet. Bestellt ein Kunde viele Karten, erhält er ein Porträt von Carjat: „Jede Person, die eine Loge oder fünf Buchten nimmt, bekommt einen Anspruch auf ein großes Porträt von E. Carjat, rue Laffite, 56.“631 In der petite presse des Second Empire sind Veranstaltungen beliebte Themen der Berichterstattung und der chroniques. Für die Publicity von Carjats Veranstaltungen sorgt Le Boulevard selbst. Der Journalist Méry berichtet von einem Abend bei Carjat, an dem sich die künstlerische Elite und die jungen Hoffnungsträger versammeln. Im Dialog des Autors und Erzählers mit einem namenlosen Besucher aus der Provinz, den die anwesende Prominenz bei Carjat fasziniert, wird diese Anziehungskraft als Reichtum herausgestellt: L’étranger visiteur a dit alors à l’auteur de ce dénombrement: – M. Carjat doit avoir une immense fortune pour attirer ainsi chez lui tant dʼartistes et d’auteurs?
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„Toute personne prenant une loge ou cinq stalles, aura droit à un grand portrait photographié par E. Carjat, rue Laffite, 56.“ Le Boulevard, Nr. 51 vom 21. Dezember 1862, S. 8.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863) – Oui, monsieur, a répondu l’autre; il a son crayon, son esprit et trois cents amis de rente. Trouvez-moi beaucoup de millionnaires qui en aient autant.632 Der fremde Besucher hat dann zum Autor dieser Aufzählung gesagt: ‒ Herr Carjat muss ein großes Vermögen haben, um so viele Künstler und Autoren anzulocken. ‒ Ja, der Herr, hat der andere geantwortet: Er hat seinen Stift, seinen Geist und dreihundert Freunde Rente. Finden Sie mir viele Millionäre, die so viel davon haben.
Ein interessantes Umfeld zu haben, wird gegenüber dem neugierigen Besucher als Vermögen dargestellt. Das Kapital der Kunstwelt ist ein soziales. Es gründet darauf, dass freundschaftliche Bindungen bestehen und interessante Personen anwesend sind, für die sich die Presse interessiert. Kunstfertigkeit plus Freunde sind aus dieser Perspektive im Ergebnis mehr wert als das ökonomische Kapital der Millionäre. Mérys kleine Erzählung von der Soirée wirbt für den Zeitschriftenmacher ebenso wie für die anderen Personen, die er namentlich auflistet, wodurch ein Panorama der zeitgenössischen Künstlerszene entsteht. Bei Carjats Soireen teilen elitäre Literatenkreise ihre Aufenthaltsorte und Feiern mit der produktiven, prekären Bohème, was manche Beteiligten provoziert. Jules und Edmond de Goncourt beispielsweise drücken ihre Abneigung gegen „die Bohème“ in einem Eintrag des Journal aus. Sie loben Carjat, den großzügigen Gastgeber für seine Soirée, doch äußern sich besorgt darüber, dass sich auch „die Bohème“ bei ihm einfinde und auf seine Kosten trinke: „Cette fête, cette bière, me pénètrent d’un immense attendrissement et d’une grande pitié pour ce pauvre, charmant et généreux Carjat: j’ai toujours vu la Bohème porter malheur à la fortune
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Méry: „Une soirée du grand monde“. In: Le Boulevard, Nr. 22 vom 1. Juni 1862, S. 6.
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des gens qui lui donnent à boire!“633 Für die „Kultur der Gabe und Verschwendung“634, die die Bohème ausmacht, haben sie nichts übrig. Stattdessen sehen sie die Verbindung von Personen mit ungleichen materiellen Voraussetzungen als ruinös für die Wohlhabenderen an und diffamieren Bohemiens als Bittsteller.635 Was die Goncourts ärgert, ist für die Presse interessant, denn wenn über solche Anlässe berichtet wird, steht oft gerade die Mischung im Fokus, die in vielen Gesellschaftsbeschreibungen ein beliebter, positiv besetzter Topos ist. Aufsehen und Anstoß erregende Neulinge, Außenseiter oder vielversprechende Autoren und Künstler sind Teil der mondänen Feste, die zeigen, dass das Second Empire die „Epoche einer erstaunlichen Durchlässigkeit von Netzwerken“ 636 ist, von der Artikel wie Alphonse Duchesnes „Medianoche artistique“637 im Figaro vom 6. Dezember 1863 zeugen. Oft werden in Festberichten Personen von Rang und Namen aufgezählt und auch diese Gästelisten tragen zur öffentlichen Personendarstellung bei. Im Nachtleben und bei bestimmten Veranstaltungen anwesend zu sein und zur Kenntnis genommen zu werden, ist also durchaus nicht nur im privaten Interesse.
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Ü.: „Diese Feier, dieses Bier befallen mich mit einer immensen Rührung und einem großen Mitleid für diesen armen, charmanten und großzügigen Carjat: Ich habe immer gesehen, wie die Bohème den Menschen Unglück bringt, die ihr zu trinken geben!“ Edmond et Jules de Goncourt: Journal 1861–1863, Bd. 5, S. 206f. Zu Carjats Empfängen auch: Maillard (1905): La cité des intellectuels, S. 393. Stanitzek (2015): „Die Bohème als Bildungsmilieu“, S. 94. Paule Adamy, der die Bohème in zwei, wenn auch verbundene Fraktionen aus mondänen Dandys und prekären Bohemiens einteilt, nennt die Brüder Goncourt in der gleichnamigen Monographie von 2012 „Bohème avec des gants“ (Ü.: „Bohème mit Handschuhen“). Hülk (2017): „Flaubert: Ourserie und Saltimbanquage“, S. 91. Alphonse Duchesne: „Medianoche artistique“. In: Figaro vom 6. Dezember 1863, S. 3 und 5.
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5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard
5.4.1 Selbstverständliches am Rande: Bourgeoisie-Kritik und BohèmeIdentifikation Le Boulevard bezieht sich vielfach auf Bohèmethemen wie den prekären Status des Schriftstellerdaseins, ohne sie explizit als solche zu markieren. Wo das Milieu dagegen deutlich markiert wird, ist zum einen bei Erinnerungen an die zweite Bohème sowie zum anderen bei der Besprechung von zeitgenössischen Bohèmeromanen. Le Boulevard mischt gleichzeitig das Interesse an und die Identifikation mit der Bohème und der nostalgischen Erinnerung an die zweite Generation.638 Das zeigt sich bereits in der Probenummer, wo die Bohème als Bezeichnung zwar gar nicht vorkommt, aber der einzige programmatische Text dieser Ausgabe die antibürgerliche Haltung des Blattes als selbstverständlich ausstellt. In „Les Boulevards de Paris“ zeichnet Charles Asselineau von den Beteiligten das Bild einer kritischen und kreativen Bohème, in der besonders die Nachwuchsmaler (rapins) Platz finden. Die Gruppe, die hinter Le Boulevard steht und die der Autor mit „Wir“ bezeichnet, werde dem Bourgeois mit Kritik und Satire begegnen: „Nous entendons choisir nos victimes et que, dans ce journal fondé par un artiste, le rapin garde son droit de haute et basse justice sur le bourgeois.“639 Asselineau prangert Geistlosigkeit, Konsumorientierung und Amoral an, weist Satire und Parodie dagegen als Zeichen von Ernsthaftigkeit aus. Er zieht somit einen Dualismus heran und dreht die darin mutmaßlich enthaltene bürgerliche Wertung um. Zudem nimmt die Sprechinstanz einen Einwand gegen den 638
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Romantiker, vor allem Victor Hugo, spielen auch eine wichtige Rolle, die hier aber nicht eigens beleuchtet wird. Ü.: „Wir gedenken, unsere Opfer zu wählen und beabsichtigen, dass in dieser von einem Künstler gegründeten Zeitschrift der Malschüler das Recht der hohen und niederen Gerichtsbarkeit über den Bourgeois behält.“ Asselineau: „Les boulevards de Paris, S. 6.
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üblichen Vorwurf der Leichtigkeit und Oberflächlichkeit der petite presse vorweg: Nous voulons rire de ce qui est risible, nous moquer de ce qui est sot, caricaturer ce qui est laid et battre ce qui est méchant. Ce sera notre manière d’être sérieux, dans un temps où le ridicule, la sottise, la laideur et l’hypocrisie portent de si dignes cravates et de si majestueux gilets ruisselants de chaînes d’ôr.640 Wir wollen über alles Lächerliche lachen, uns über alles, was dumm ist, lustig machen, karikieren, was hässlich und bekämpfen, was böse ist. Das wird unsere Art sein, seriös zu sein, in einer Zeit, wo das Lächerliche, die Dummheit, die Hässlichkeit und Heuchlerei so würdige Krawatten und so majestätische, vor Goldketten triefende Westen tragen.
Es ist ein stereotypes Feindbild, das Materialismus und Amoral personifiziert, gegen das sich Spott, Satire und kritische Aufmerksamkeit richten sollen. Kunst zu privilegieren, wird als ernsthaftes Anliegen ausgewiesen. Jene Ablehnung der Bourgeois, gegen die sich die Produktivität und Energie der Malschüler und ihrer Meister richte, macht deutlich, dass hier die Bohème gemeint ist. Allerdings kommen explizit begriffserklärende oder -bestimmende Texte zur Bohème in Le Boulevard kaum (noch) vor, woraus sich schließen lässt, dass sich der Begriff als Fremd- und Selbstbezeichnung etabliert hat. Berufsbezeichnungen, auch durchaus unterschiedliche, sind dagegen sehr verbreitet. Oft werden also, wenn die Rede von Literaten ist, neutrale und die Profession betonende Bezeichnungen wie „homme de lettre“, „écrivain“, oder „artiste“ sowie spezifischere wie „romancier“ gewählt. Anekdotensammlungen und nouvelles à la main spielen in Le Boulevard nach wie vor eine große Rolle. Gerade die gemischten Zeitungsrubriken bieten stets Platz für Anekdoten und Neuigkeiten aus der Bohème. Tatsächlich
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erscheinen auch in Le Boulevard noch vereinzelte Anekdoten, die die Sitten und Praktiken der Bohème in Augenschein nehmen und an die beliebten humoristischen Sparten von Corsaire-Satan und Figaro erinnern. Folgende Anekdote ist ein Beispiel dafür und kann überdies den Bohèmebegriff in den 1860er Jahren erhellen. Sie behandelt ein klassisches Thema, nämlich das Geldleihen, innerhalb einer ungleichen Freundschaftsbeziehung: Un bohême – je veux dire un bohémien – faisait commerce d’amitié avec un riche fils de famille. Ce dernier arrive un jour chez lui, les yeux remplis de larmes. Ah! mon cher Castor, s’écrie-t-il, tu me vois navré… ma maîtresse me trompe! Aussi, je viens te faire mes adieux, car je quitte la France et ne te reverrai peut-être jamais! Alors, prête-moi vingt francs, répondit Castor avec un soupir.641 Ein bohême – ich meine ein bohémien – betrieb einen Freundschaftshandel mit dem Sohn einer reichen Familie. Letzterer kommt eines Tages mit tränengefüllten Augen bei ihm an. Oh, mein lieber Castor, schreit er, du siehst, ich bin sehr betrübt… meine Geliebte betrügt mich! Auch komme ich, um dir ‚Auf Wiedersehen‘ zu sagen, denn ich verlasse Frankreich und werde dich vielleicht nie wiedersehen! Also dann, leih mir 20 Franc, antwortete Castor mit einem Seufzen. [Kursivierung von mir, N.P.]
Zwei ungleiche Freunde begegnen sich jeweils im Zustand des Mangels. Der „bohemische“ Freund des reichen und unglücklichen Mannes ist mittellos und bei Kontakten auf den eigenen finanziellen Vorteil bedacht. Der Pointe nach ist ein unglücklicher Freund, der die Stadt verlässt und nie mehr auftauchen wird, eine gute Gelegenheit zum Geld pumpen. Statt Empathie für das Leid des anderen zu haben, zieht der „bohémien“ aus der Geschichte seines Freundes einen Vorteil. Der „Freund“, der abreist, ist ein nützlicher Geldgeber. Die Qualität der Beziehung beschreibt der
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Adrien Marx: „Propos de table“. In: Le Boulevard, Nr. 4 vom 26. Januar 1862, S. 3.
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paradoxe Neologismus „commerce d’amitié“ 642 , was man in etwa mit „Freundschaftshandel“ übersetzen kann. Ihre zentrale Bedeutung verleiht der Anekdote die korrigierende Unterscheidung der Begriffe „bohême“ und „bohémien“. „Bohême“ steht klar emanzipatorisch für prekäre Künstlermilieus und ist in seiner Konnotation vom „bohémien“ unterschieden, der abwertend gemeint ist. Zwar passt das Geldleihen sowohl zum „bohême“ als auch zum „bohémien“, doch schreibt die Sprechinstanz das gewissenlose Schnorren dem „bohémien“ zu. Sie korrigiert die Bezeichnung der handelnden Figur, sagt zuerst „bohême“ und dann zutreffender „bohémien“. Nur wenn beide Konzepte und deren Nuancen bekannt sind, kann eine kleine Verschiebung von bohême zu bohémien eine Bedeutung haben. Die Unterscheidung zwischen „bohémien“ und „bohème“ ist eine ganz entscheidende, um die die zweite Bohème kämpft.643 Beide Kategorien interessieren sie, doch ist die zweite die, die als Selbstbeschreibung genutzt wird. Was diese konkrete Anekdote angeht, ist der bohémien darin die unehrenhafte Variante des Schnorrers. Grundsätzlich ist es nicht verwerflich, einen Freund anzupumpen, aber es zeugt von schlechtem Charakter, die Not des anderen auszunutzen. Problematische wirtschaftliche Verhältnisse und deren soziale und moralische Konsequenzen beschäftigen die Sittenkritik stetig. Anekdoten problematisieren die Einstellungen der Milieus – in dem Fall zugunsten einer Unterscheidung und Ehrenrettung der
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Nicht wörtlich übersetzbar. Das Substantiv verbindet Handel mit Freundschaft, was eine paradoxe Note hat. Den Ausdruck „faire commerce d’amitié“ verwendet auch Louis Pollet in „Les Inutiles“. In: Le Boulevard, Nr. 20 vom 18. Mai 1862, S. 6. Es ist der Begleittext zu einer Durandeau-Zeichnung der gleichnamigen Serie. „Bohémien“ oder „Inutiles“ bezeichnen zu dieser Zeit Typen, die dubiose Formen wählen, um beispielsweise an Geld zu kommen sowie oft keine angesehene Profession ausüben. Théodore de Banville, der in Nr. 9 vom 2. März 1862 den Begleittext zur Serie „Les Inutiles“ verfasst, bezeichnet diese Typen ebenfalls als „bohémiens“, S. 7. Ursprünglich und zuerst bedeutet „bohémien“ „Zigeuner“. Unter anderem belegt das Champfleury (1852): Les Excentriques. Paris: Michel Lévy Frères, S. 241.
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Bohème. Durch stetiges Wiederholen verbreiten sie gesellschaftliche und moralische Ansprüche. Inhaltlich orientieren sich die Geschichten nach wie vor an klassischen Themen wie dem prekären Leben mit dem Geldmangel, dem Schnorren und dem Hunger. Angesichts des als Klischee verbreiteten Ideals ‚reiner Kunst‘, für die sich der Künstler aufopfert, werden Armut und Hunger teils zur Tugend stilisiert. Genauso gehören Exzesse und das Auskosten des phasenweise vorhandenen Überflusses zur Bohème, ein Wechselspiel, das Helmut Kreuzer bereits umfassend aufgearbeitet hat. Ein weiterer Klassiker, der in der Zeitschrift zusammen mit der Bohème aufgerufen wird, ist die Vorliebe für die petite presse und ihre Geschichte(n). In einer der vielen nouvelles à la main signiert Sylvius (Pseudonym) eine ältere Anekdote über Murgers Zeit beim Corsaire. Eingeleitet von einer etwas mysteriösen, weil historisches Wissen voraussetzenden Märchenformel, erzählt der kurze Text von einer Situation in der Corsaire-Redaktion: Du temps que la reine Berthe filait, et que les bestes parloient, en 1846, on faisait un jour des nouvelles à la main au bureau du Corsaire. La matinée était bonne; on avait rajeuni des anecdotes passables. Enfin Louis Boyer en trouve une jolie, amoureuse, admirable, et miracle! que personne ne connaissait. Personne… excepté Murger, qui eut l’impolitesse de couper la parole au conteur et de dire avant lui son trait final. ‒ Ah! quel malheur, fit Boyer avec découragement, Murger la connaît! ‒ Ça ne fait rien, répondit flegmatiquement Murger; on peut la mettre tout de même: je ne suis pas un abonné!644 Zu der Zeit als die Königin Berthe vorbeizog, und die Tiere noch sprachen, 1846, machte man einen Tag nouvelles à la main im Büro des Corsaire. Der Morgen war gut, man hatte annehmbare Anekdoten verjüngt. Dann findet Louis Boyer eine davon hübsch,
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Sylvius [Pseudonym]: „Propos de table“. In: Le Boulevard, Nr. 1 vom 5. Januar 1862, S. 6.
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verliebt, bewundernswert, und Wunder! Niemand kannte sie. Niemand… außer Murger, der die Unhöflichkeit besaß, dem Erzähler das Wort abzuschneiden und vor ihm die abschließende Spitze zu sagen. – Ach, welch Unglück, sagte Boyer entmutigt, Murger kennt sie! – Das macht nichts, antwortete Murger phlegmatisch; man kann sie trotzdem drucken: Ich bin ja kein Abonnent!
Eingangs umschreibt der Text das Jahr 1846 als übertrieben weit zurück liegend mit Anspielungen aufs Mittelalter. Der Corsaire hat zu diesem Zeitpunkt zwar seit einem Jahrzehnt die Arbeit eingestellt, dürfte aber noch bekannt sein. Der Text widmet sich zudem einem der bekanntesten Bohemiens und Redakteure der kleinen Zeitung, Murger, der als Spielverderber im redaktionellen Auswahlprozess unterhaltsamer Geschichtchen präsentiert wird. Maßstab der Anekdote ist eine unterhaltsame, möglichst unbekannte Neuigkeit. Sylvius stellt es als selbstverständlich dar, dass neue Geschichten durch Aktualisierung von Bekanntem entstehen. Die nouvelle ist somit doppelt selbstreferenziell; einmal thematisch, weil sie die Auswahl der Anekdoten für eine Zeitschrift betrachtet und weil sie überdies etwas Früheres in die Gegenwart holt. Der Kern der Anekdote, seine Pointe, lässt einen anecdotier wie Murger aussagen, dass sich die Auswahl der Zeitschriften am Publikum ausrichtet, von dem sich der Schreibende unterscheidet. Interessant an der Anekdote ist neben dem Bohèmebezug der Erscheinungsrahmen. Sylviusʼ Kolumne heißt „Propos de table“, was die Bohèmeanekdote zu einem Thema der (womöglich sogar gehobenen) Tischgespräche macht. Auffallend oft behandelt die Zeitschrift die Bohème in Bezug auf urbanen Lebensstil und Konsum. In Le Boulevard kreisen viele Texte um das mondäne Leben, spielen in Cafés, zu Tisch und befassen sich mit den Möglichkeiten in Paris ein gutes Leben als Autor, Künstler oder Journalist zu führen. Als Kolumnist widmet sich Charles Monselet in Le
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Boulevard regelmäßig kulinarischen Themen. 645 Eine seiner Kolumnen trägt den provokanten Titel „Éloge de la faim“646 und umfasst Aphorismen, geflügelte Worte, Sprüche und Anekdoten. Ein weiterer Text Monselets setzt sich mit dem Klischee des Hungers und der Armut als notwendiger Tugend der Geistesmenschen auseinander. In seiner Erzählung „Mémoires d’outre-table“ 647, die an Chateaubriands Mémoires-d’outre-tombe angelehnt ist, zu denen Monselet das Vorwort verfasst hat, geht es um einen jungen, literarisch erfolglosen, entmutigten Autor, der sich wiederholt dazu entschließt, am Hunger zu sterben. Alle seine Selbstmordabsichten, bei denen er sich an öffentlichen Orten dem Schicksal hinzugeben versucht, scheitern. Immer dann, wenn er sich zum Sterben entscheidet, wird er von anderen Menschen davon abgehalten, indem sie ihn beispielsweise spontan zum Essen einladen, als Zeugen für ein Duell nutzen und so weiter. Seine Versuche, das Sterben öffentlich zu inszenieren, erfasst der Ich-Erzähler mit der Formel „théâtre de mon agonie“648. Er scheitert und versucht es zuletzt im Rückzugsraum der Mansarde. Aber auch dieser Ort ist kein rein privater für den armen Dichter, denn er wird von einem Gläubiger aufgesucht, der ihn nicht so einfach aus seiner Schuld entlassen will und ihm erneut zu essen gibt. Die absur-
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Charles Monselet wird mit einer Leidenschaft für leibliche Genüsse und kulinarische Themen verbunden. Er hat sogar ein eigenes gastronomisches petit journal namens Le Gourmet, journal des intérêts gastronomiques (1858) herausgebracht, dessen Chefredakteur und Geschäftsführer er war. Carjat karikiert ihn in Le Boulevard einmal als fülligen Bacchus bei einem opulenten Mahl, Nr. 11 vom 16. März 1862, S. 4. Ü.: „Lob des Hungers“. In: Le Boulevard, Nr. 8 vom 25. Februar 1862, S. 2f. Charles Monselet: „Mémoires d’outre-table“. In: Le Boulevard, Nr. 11 vom 16. März 1862, S. 2f. Ü.: „Erinnerungen von jenseits des Tischs“. Laut Wagneur waren die Stücke, die seinen Erfolg im literarischen Leben begründet haben, eine Einführung zu Chateaubriands Mémoires-d’outre-tombe („Erinnerungen von jenseits des Grabes“), die im Feuilleton von La Presse am 17., 18., 19. August 1849 erschienen und der Roman Monsieur de Cupidon. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1368. Monselet: „Éloge de la faim“, S. 3.
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de Pointe lautet, dass er noch nie so gut gegessen habe wie in der Zeit, in der er hungers sterben wollte. Bei der Erzählung handelt es sich um eine Betrachtung zweier verbundener Lebenswelten. Zwar wird der junge Dichter von der noblen, bourgeoisen Gesellschaft nicht ignoriert, doch wird er nicht als das gewürdigt und gefördert, was er ist oder zumindest sein möchte: ein Künstler.
5.4.2 Henry Murgers Tod: Bedauern, Würdigungen, Nostalgie „Ils ont tous fait d’avance leur épitaphe“649
Henry Murgers früher Tod fällt in den Erscheinungszeitraum der Boulevard. Das Aufsehen, das er erregt, ist nicht auf Zeitschriften wie diese beschränkt, aber es schlägt sich auch darin nieder. Zum Tod des Schriftstellers am 28. Januar 1861 – beerdigt wird er am 31. Januar 1861 – erscheinen zahlreiche Nachrufe, Erinnerungen und Berichte in Zeitschriften und Tageszeitungen. So populär wie Murgers Bohèmedarstellungen seinerzeit sind, so steht seine Person schon zu Lebzeiten symbolisch für die zweite Generation: „What made Murger of so much interest was that he stood for Bohemia.“ 650 Verschiedene Stimmen begleiten das traurige Ereignis medial und nutzen die Gelegenheit, den Bezug zur Bohème hervorzuheben wie ein dem Verstorbenen gewidmetes Gedicht von E. Simon, das Murgers Tod bedauernd mit dem Ende der Bohème gleichsetzt: „Comme le chien du pauvre, en suivant ton convoi, / Je t’ai conduit, Mürger, à ta triste demeure; / […] Et j’ai pleuré… car la bohême… / Comme le chien
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Ü.: „Sie haben ihr Epitaph alle im Voraus gemacht.“ So der Feuilletonist Léon Gozlan über die Künstlergruppe der Jeunes Frances. „Les Romantiques à la Suite“ vom 19. Oktober 1931 (o.S.). In: Théophile Gautier (1979): Les Jeunes Frances. Roman goguenards. Suivi d’un dossier du Figaro de l’époque. Paris: Éditions des autres. Seigel (1999): Bohemian Paris, S. 151.
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du pauvre à suivi ton convoi!“651 Das Gelegenheitsgedicht enthält einen Abgesang. Es hebt mehr als den Betrauerten die Trauergemeinde hervor, für die das Ich repräsentativ steht. Statt des Verlusts der Person Murger wird sein Tod vor allem als Verlust der Bohème gedeutet. Unmittelbar nach seinem Tod erscheinen in der petite presse zahlreiche Texte, die Murger als Person oder sein Werk würdigen und in den 1860er Jahren entstehen erste Biographien. 652 Dass einem Künstler postum besondere Aufmerksamkeit oder Zuwendung zuteilwerden, fasst Murgers Schriftstellerkollege Nadar über seinen Freund mit der Formel „La croix! – Et du pain…?“653 zusammen. Der kurze Ausspruch fasst die paradoxe Lage vieler Schriftstellerexistenzen zusammen. Er spielt darauf an, dass Murger zum Chevalier de la Légion d’honneur erhoben wurde, aber zeitlebens prekär lebte.654 Dass er das Ehrenkreuz und damit ideelle Anerkennung bekommen hat, bedeutet also nicht, dass seine Versorgung mit dem Notwendigsten gesichert gewesen wäre. Nadar problematisiert dieses Missverhältnis und klagt gegen die Verherrlichung der Armut. An anderer Stelle dazu Champfleury, der den finanziellen Einsatz für den Nachruhm kritisiert: „mais la plus modeste aisance manque à ceux qui labourent leur intelligence, et Murger, s’il eût su qu’après sa mort une souscription publique servirait à lui élever un monument, se serait écrié certainement: ‚Avancez-moi l’argent de mon tombeau.‘“655
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Ü.: „Wie der arme Hund deinem Konvoi folgend / habe ich dich geleitet, Mürger, zu deinem traurigen Verbleib; / und ich habe geweint… denn die Bohème / ist wie der Hund des Armen deinem Konvoi gefolgt!“ E. Simon: „A Henry Murger“. In: Le Tintamarre vom 5. Februar 1861, S. 1. Pelloquet (1861): Henri Murger; Delvau (1866b): Henry Murger et la Bohême. Ü.: „Das [Ehren]Kreuz – Und Brot…?“. (1862): Histoire de Mürger, S. 258. Charles Monselet (1866): Portraits après décès. Avec lettres inédites et fac-similé. Paris: A. Faure, S. 260. Ü.: „Aber der bescheidenste Wohlstand fehlt denen, die mit ihrer Intelligenz arbeiten, und Murger, der, wenn er gewusst hätte, dass ihm nach seinem Tod eine Subskription helfen würde, ein Monument zu errichten, hätte er gewiss entrüstet gerufen: ‚Zahlen Sie mir das Geld für mein Grab im Voraus.‘“ Champfleury (1872): Souvenirs et portraits, S. 103.
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Murgers Tod veranlasst Kollegen dazu, sich mit dem Thema Nachruhm zu befassen. Le Boulevard kündigt ein Jahr danach an, dass ein Ehrendenkmal für den Schriftsteller eingeweiht werde. Carjat informiert über den Termin und den Anlass und prophezeit abschließend zum Ablauf der Gedenkfeier: „Tous les amis du poëte tant regretté viendront rendre ce nouvel hommage à sa mémoire et se donneront rendez-vous à cette pieuse cérémonie. Le tombeau monumental qui doit être inauguré, est dû, on le sait, à l’habile ciseau de M. Aimé Millet. Donc, à jeudi!“656 Carjat betont, dass „alle Freunde“ des Dichters der Hommage beiwohnen werden. Mit der abschließenden, informellen Formel „Also dann, bis Donnerstag“ drückt er Selbstverständlichkeit und persönliche Nähe zum Geschehen aus. Im Text wird deutlich, dass die Grabeinweihung zwei Ebenen hat. Zum einen die gemeinschaftliche Ebene des Gedenkens und Erinnerns, das die Gäste verbindet. Außerdem verbindet sie auch die Neugier, denn die Einweihung der bildhauerischen Gelegenheitsarbeit Aimé Millets ist zugleich mit einem schöpferischen Akt verbunden – das Grabmal ist ein Erinnerungsort und künstlerische Arbeit zugleich.657 Beteiligte verbinden das Bohèmeleben mit Gefühlen und Erfahrungen; es ist Bestandteil ihres eigenen Lebens. Diejenigen, die sich mit der Bohème identifizieren, streiten sich darum, was sie bedeutet (hat) und wo ihre inneren und äußeren Grenzlinien verlaufen. Diese Diskussion wird in der petite presse geführt, aber sie durchzieht ebenfalls Erinnerungsbücher. Murgers Tod lässt repräsentationskritische Äußerungen sichtbar werden, die demonstrieren, wie umkämpft die Repräsentation der Bohème innerhalb der Beteiligten war. 656
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Ü.: „Alle Freunde des so vermissten Dichters werden ihm zum Andenken diese neue Ehre zuteilwerden lassen und werden zu dieser ehrenvollen Zeremonie zusammenkommen. Das monumentale Grab, das eingeweiht werden soll, stammt, man weiß es, vom geschickten Meißel Herrn Aimé Millets. Also dann, bis Donnerstag!“ Étienne Carjat: „Inauguration du tombeau d’Henry Murger“. In: Le Boulevard, Nr. 4 vom 26. Januar 1862, S. 1. Carjat porträtiert Aimé Millet (1819–1891) beim Anfertigen der Büste. Le Boulevard, Nr. 5 vom 2. Februar 1862, S. 4.
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Dies lässt sich an journalistischen Texten aus Le Boulevard zeigen, vor allen Dingen in der chronique, jener Kolumne zum Zeitgeschehen, die oft als Aufmacher der Zeitschrift fungiert. Sie befasst sich wiederholt mit Murgers Tod. Während Amédée Rolland in seinem Feuilleton zur Grabeinweihung Murgers dessen Rang anerkennt und ihn wertschätzend einen „älteren Bruder“658 nennt, relativiert Charles Bataille aufgrund des Aufstiegs dessen Rolle als idealen Bohemien, der sich ja bereits nach zwei Jahren Bohèmeleben davon distanziert und sich distinguierten Kreisen zugewandt habe. Sein Grenzübertritt in eine feine Boulevardgesellschaft, welche andere Werte und Umgangsweisen pflegt, disqualifiziere ihn als bohemische Identifikationsfigur: „Ce club a ses séances chaque jour, de onze heures du soir à une heure du matin, dans un café du boulevard des Italiens. On y discute simultanément l’art de poser une mouche, de mettre sa cravate, de trouver une rime et d’intercaler un adjectif.“659 Bataille grenzt die feine Gesellschaft dadurch von der Bohème ab, dass sie sich mit Kleidungskonventionen genauso befasse wie mit Literatur, wobei die gut sitzende Krawatte wie Literatur als reines Distinktionsmerkmal tauge. Dass Murger mit seinem Erfolg in andere urbane Kreise gelangte, erwähnen die Brüder Goncourt ebenfalls, indem auch sie seine Abkehr von der Bohème zugunsten der mondänen Gesellschaft beschreiben: „Murger, est en train de renier la Bohème, et de passer, armes et bagages, aux lettrés, gens du monde“660. Murgers Tod ist Anlass, um den Autor zu würdigen und die Bohème sowohl zu bewerten als auch zu erin658
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„frère ainé“. Amédée Rolland: „Inauguration du tombeau élevé à la mémoire d’Henry Murger“. In: Le Boulevard, Nr. 5 vom 2. Februar 1862, S. 1. Ü.: „Dieser Club hat seine Sitzungen jeden Tag, von elf Uhr abends bis ein Uhr morgens in einem Café des Boulevard des Italiens. Man diskutiert gleichzeitig die Kunst sich eine Fliege zu binden, eine Krawatte anzulegen, einen Reim zu finden und ein Adjektiv einzubauen.“ Charles Bataille: „Chronique parisienne“. In: Le Boulevard, Nr. 5 vom 2. Februar 1862, S. 2. Ü.: „Murger ist dabei, die Bohème zu leugnen und mit Sack und Pack zu den gebildeten Männern von Welt überzulaufen“. Edmond et Jules de Goncourt (1888): Journal des Goncourt. Mémoires de la vie littéraire. Bd. 1/9 (1851‒1861). G. Charpentier et Cie, S. 210.
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nern. Le Boulevard nutzt außer der Grabeinweihung weitere Anlässe wie zum Beispiel Neuerscheinungen, um auf die Bohème als Thema zu sprechen zu kommen. Der Pariser Verleger Hetzel bringt 1862 eine Erinnerungsschrift heraus, die Neuigkeiten und Korrekturen aus der Bohèmezeit Anfang der 1840er Jahre zutage fördert. Sie wird in Le Boulevard zwar nicht eigens beworben, aber aufgegriffen. Die Histoire de Mürger pour servir à l’histoire de la vraie bohème par trois buveurs d’eau ist von den Schriftstellern Adrien Lelioux und Léon-Noël sowie dem Photographen und Schriftsteller Nadar verfasst worden.661 Das im Titel enthaltene Autorenpseudonym „von drei Wassertrinkern“ geht auf die gleichnamige Fiktion Les buveurs dʼeau von Murger zurück. In drei Episoden erzählt Murger darin von einer besonderen Künstlergemeinschaft, deren Wirken besonders streng auf autonome Kunst ausgerichtet ist und Enthaltsamkeit von Konsum und den Verlockungen der Literatur- und Kunstindustrie predigt. 662 Zuerst 1853 bis 1854 als Feuilleton in der renommierten Revue des Deux Mondes erschienen, wurden die drei Episoden 1855 von Michel Lévy als Buch publiziert. Die fiktive Künstlergruppe findet ihr reales Vorbild in einem Ende der 1830er, Anfang der 1840er Jahre lose verbundenen Kreis überwiegend bildender Künstler und einiger Schriftsteller. Les buveurs d’eau ist ein typisches Beispiel dafür, dass oder wie Künstlerkreise nachträglich durch Literarisierung als solche erst genauer gefasst werden. Die Autoren der ‚Wassertrinkermemoiren‘ rechnen sich und Murger zu dem Kreis und nennen außerdem als der „société des Buveurs d’eau“663 zugehörig die Brüder Joseph und Léopold Desbrosses, Cabot, Tabar, Vastine, Vilain, Guilbert, Chintreuil. Das Buch enthält Erinnerun-
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(1862): Histoire de Mürger pour servir à l’histoire de la vraie bohème par trois buveurs d’eau contenant des correspondances privées de Mürger. 2. Auflage. Paris: J. Hetzel. Ü.: „Die Geschichte Mürgers, um der wahren Geschichte der Bohème zu dienen von drei Wassertrinkern inklusive privater Korrespondenzen Mürgers“. Murger (1855): Les buveurs d’eau, S. V; S. 6. Ebd., S. 33f.
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gen und porträtiert die Beteiligten teils anonym, teils namentlich. Eine besondere Rolle spielen Anekdoten und Zitate, vor allem aus dem Werk Murgers sowie Briefe von Murger an einen der Autoren, Léon-Noël. Das Buch verbindet drei Perspektiven, es ist kein „récit unique et homogène“664. Im ersten Teil setzt sich Adrien Lelioux mit den realen Hintergründen zu Murgers fiktionaler Erzählung Les buveurs d’eau auseinander. Léon-Noël präsentiert und kommentiert im zweiten Teil eine private Korrespondenz und zwar Murgers Briefe an ihn aus der Jugendphase der Jahre 1841 bis 1845. Im dritten Teil von Nadar, der laut eigener Aussage und anders als es der Titel besagt, kein Mitglied der Wassertrinker war, sind Briefe Murgers aus einer späteren Phase von 1851 bis 1861 zum Beispiel an seine Geliebte Anaïs abgedruckt. Dass das Buch drei Kapitel hat, entspricht Murgers Erzählung Les buveurs d’eau, die drei Einzelepisoden je einer Figur aus der Künstlergemeinschaft widmet. Die Histoire de Mürger verspricht, sich der „wahren“ Geschichte der Bohème anzunähern. Erinnerungen sind jedoch notwendigerweise subjektiv. Da die Autoren mit dem ‚Geheimwissen‘ der Beteiligten und privaten Korrespondenzen Einblicke geben, die Außenstehenden bislang verwehrt waren, kann man „wahr“ auch als Synonym für etwas Neues und bislang Unbekanntes lesen. Es suggeriert, dass alles bis dato Bekannte nicht unbedingt der Realität entsprochen hat und macht damit neugierig auf den neuen Text. Dass man das Ausplaudern inszeniert, kommt in Bohèmeerinnerungen öfter vor. Es passt zur Erinnerungsliteratur von Subkulturen, auf Indiskretion zu setzen, um sich interessant zu machen: „Il est temps, je crois, de publier les secrets de cette association qui nous valut dans notre entourage des railleries acharnées et même – qui pourrait le croire? – quelques inimitiés sérieuses.“665 Indiskretion begründen die Autoren der Memoiren jedoch nicht nur mit dem Wunsch, 664 665
Ü.: „einheitliche, homogene Erzählung“. „Avis de l’éditeur“. In: ebd., S. 1f., hier S. 2. Ü.: „Es ist Zeit, Geheimnisse dieser Gemeinschaft zu veröffentlichen, die uns in unserer Umgebung hartnäckigen Spott und sogar – wer könnte das glauben – manche ernsthaften Feindschaften einbrachte.“ Histoire de Mürger, S. 9.
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dem Voyeurismus des Publikums nachzugeben, sondern damit, dass sie auf eine negative Außensicht reagieren. Das „Wahre“ ist also nicht nur das bisher Unbekannte, sondern das, was das Publikum dazu bewegen kann, seine Sicht auf das beschriebene Umfeld zu ändern. Fiktionalität und Faktualität sind in der Histoire de Mürger verschränkt, was die Titelanordnung und die Autorennamen der Publikation illustrieren. Sie unterzeichnen als Wassertrinker und greifen somit auf den literarischen Namen einer Gruppe anstatt auf ihren bürgerlichen Namen zurück, so dass die „wahre“ Geschichte Murgers von literarischen Figuren und nicht von den realen, historischen Personen erzählt wird. Das Alter Ego der Romanfiguren zu sein, gehört zu ihrer Geschichte und prägt ihre Sicht darauf. Insbesondere Lelioux nimmt Murgers Bohèmetexte als Ausgangspunkt und zitiert passagenweise daraus, um die Aussagen zu ergänzen oder zu relativieren. Folglich wird keine realhistorische Fassung mit einer anderen, individuellen Narration kontrastiert, sondern eine gemeinsame, dem Publikum und den Autoren bekannte Geschichte aufgegriffen, um Änderungen vorzunehmen und Lücken zu füllen. Jene bestimmte, dem Publikum bekannte Geschichte ist nicht die Geschichte. Autoren und Erzähler sind dadurch legitimiert, dass sie Teil der Erzählung sind. Das Buch bietet drei verschiedene Stimmen und Herangehensweisen, die in einem Buch zur Geschichte Murgers verbunden werden. Die (auto)biographische Erinnerungsschrift konzentriert sich einhellig auf den Autor und Freund, auf das Leben und Werk Murgers. Sie gewährt Einblicke in die Anfangszeit seiner literarischen Karriere und zeigt auch die jungen, um Anerkennung und Veröffentlichungen kämpfenden Schriftsteller als Netzwerk, das sich konstruktiv berät und unterstützt. Sie korrigieren und redigieren ihre Texte und empfehlen sich weiter, wenn sich die Möglichkeit bietet. Was sie verbindet, ist zum einen ihre Lage. Durch die gemeinsamen Bedingungen, durch Armut, Krankheit ebenso wie ge-
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meinsame Ideale wie Kunst und Freundschaft entsteht ein „Wir“, auch wenn das Gemeinschaftliche nicht immer reibungslos abläuft.666 Die Histoire de Mürger ist nicht nur deswegen interessant, sondern weil sie selbst Bohèmepraktiken widerspiegelt. Beispielsweise die positive Selbstdarstellung, indem hohe Werte wie die Gabenkultur667 benannt werden oder auch Widerspruch gegenüber Vorurteilen ausgesprochen wird, zum Beispiel Schulden zu machen, ohne sie zurückzuzahlen. Eine weitere Praxis ist der bohemische Freundschaftskult, der schon in der Widmung stark gemacht wird, die auf die Freundschaft zwischen Murger und den Autoren hinweist. Das Buch selbst ist einem dritten Freund Murgers, Paul dʼHormoys (beziehungsweise Dhormoys, 1829‒1889) gewidmet, der Murger trotz der vergleichsweise jungen Freundschaft am Lebensende begleitet hat: A Paul dʼH…ys / A vous qui avez assisté, pendant les jours et les nuits, / sans le quitter un instant, l’ami que nous avons perdu; / A vous qui, l’un des tard venus près de lui, avez bravement accepté et accompli la besogne des amis anciens / que la mort prête à frapper n’avait pas avertis. // Nous dédions ce livre en signe de notre affectueuse estime et de notre reconnaissance.668 Für Paul d’H…ys / Ihnen, die Sie ihm während der letzten Tage und Nächte zur Seite gestanden haben / ohne ihn einen Moment zu verlassen, den Freund, den wir verloren haben; / Ihnen, einen der spät zu ihm Gekommenen, die Sie tapfer die Pflicht alter Freunde angenommen und erfüllt haben / welche der nahende Tod nicht alarmiert hatte. // Widmen wir dieses Buch im Zeichen unserer liebevollen Achtung und unserer Anerkennung.
Mit der Histoire de Mürger setzen die Autoren der Freundschaft ein Denkmal und drücken die Fürsorge als Pflicht und gleichzeitig achtens-
666 667 668
Ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 227‒231. Widmung ebd., o.S.
5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard
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werte Handlung aus. Als ältere Freunde machen sie einerseits eine Hierarchie alte versus neue Freunde klar, schätzen aber andererseits das freundschaftsgemäße Handeln der Sterbebegleitung als Kompensation für die fehlende Dauer hoch ein. In den drei Erinnerungen gibt es ebenfalls viele Stellen, die die Bohème als ‚Gefühlsgemeinschaft‘ zeigen. Die Verbindung der Bohemiens ist durch Zuneigung und Intimität, „affection“ und „intimité“ 669 geprägt, die Mitglieder des cénacles teilen ihre künstlerische Arbeit, Ideale und auch ihre Schwierigkeiten. Ökonomisch und sozial herrscht die bereits erwähnte ‚Kultur der Gabe‘: „On se connaissait du matin, et le soir on pouvait se demander jusqu’à son dernier sou, jusqu’à son dernier morceau de pain, jusqu’à sa dernière pipe. La bourse de chacun, petite ou grosse, était à tous bien véritablement; ainsi du toit et de la table.“670 Anders als die Widmung besagt der Passus, dass die Bohemiens sich mit hoher Geschwindigkeit mit Gleichgesinnten verbrüdern und ihre Habe teilen. Dass es trotzdem Spannungen gibt, auch wegen der Armut, wird nicht verschwiegen. Insgesamt zeigt das Buch, wie die Erinnerungsliteratur im Umfeld von Murgers Tod neben Korrekturen und Einsprüchen noch einmal den Umgang mit materiellen Gütern und Werten wie Freundschaft betont. Das Buch macht klar, dass das Erinnern eine wichtige, literarische Selbstdarstellungspraxis der Bohème ist. Presseartikel haben keine dauerhafte Präsenz. Wenn sie doch überliefert werden, geben sie Einblicke in das Selbstverständnis. Murger ist der Mittelpunkt vieler Erinnerungen, ohne seine Prominenz wären Texte wie die Wassertrinkermemoiren eher nicht auf den Buchmarkt gelangt. Populäre Bohemiens schaffen folglich Raum für an sie anknüpfende Gelegenheitsarbeiten und schreiben somit die Geschichte fort. Von der Histoire de Mürger angeregt und von Erinnerungen 669 670
Ebd., S. 227. Ü.: „Man kannte sich vom Morgen und abends konnte man sich nach dem letzten Groschen fragen, nach dem letzten Stück Brot, nach der letzten Pfeife. Jedermanns Börse, groß oder kein, gehörte wirklich allen, ebenso das Dach und der Tisch.“ Ebd., S. 93.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
bewegt – „Ce livre a remué en moi tout un monde de souvenirs“671 ‒ sendet der Maler Pierre Bisson, einer der Künstler aus dem Umfeld der buveurs d’eau, der ebenfalls in der Histoire erwähnt wird, Carjats Boulevard Anfang des Jahres 1862 einen Leserbrief. Darin kommt er auf die Bohèmezeit zu sprechen und fügt einen Brief Murgers aus dem Jahr 1841 bei, der die enge Freundschaft der beiden belegen soll. Bissons Leserbrief enthält zudem Korrekturen zu ausgewählten Textstellen aus den ‚Wassertrinkermemoiren‘, worin er „versehentliche kleinere Fehler“ 672 sehe. Außerdem macht er sich als Zeitzeuge interessant und gibt an, weitere unveröffentlichte Dokumente zu dieser „schon alten, aber immer noch interessanten Geschichte der Bohème“ zu besitzen.673 Bisson und die Wassertrinker nutzen das Interesse an Murger, machen sich mitunter auch wichtig, indem sie ihren Anteil an der Geschichte bekunden, deren Version sie inklusive repräsentationskritischer Aspekte platzieren. Nachhall der Wassertrinkergeschichte in den Erinnerungen Schannes Auch wenn die Memoiren Schannes, Souvenirs de Schaunard, erst später erscheinen und somit einen kleinen Exkurs darstellen, sind sie doch von Interesse für die Erinnerungsliteratur. Schließlich beschränken sich Erinnerungen an die zweite Bohème weder auf ihr unmittelbares zeitliches Umfeld noch auf Murger. Zuletzt sei mit ihnen somit eine aufschlussreiche Schrift aus der Erinnerungsliteratur erwähnt und kurz in ein paar Aspekten vorgestellt. Auch der Maler Alexandre Schanne nutzt in seinen Souvenirs de Schaunard, die in seinem letzten Lebensjahr 1887 erscheinen, das öffentliche Interesse am Mythos Bohème.674 Der Maler, Musiker
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Ü.: „Dieses Buch hat in mir eine ganze Welt der Erinnerungen geweckt“. Pierre Bisson: „Correspondance“. In: Le Boulevard, Nr. 15 vom 15. April 1862, S. 7. Ebd. Vgl. ebd. Einen interessanten intertextuellen Bezug bilden Champfleurys Souvenirs des funambules (1859). Sie sind Schanne gewidmet, stellen sein Porträt vorweg und widmen ihm ein Kapitel.
5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard
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und spätere Spielzeugfabrikant hatte Henry Murger zu Schaunard, einer der Hauptfiguren aus den Scènes de la vie de bohème, inspiriert. Schanne zeichnet als Autor mit seinem bürgerlichen Namen, nennt das Buch aber Souvenirs de Schaunard, nach der Figur aus Murgers Fiktion. Damit geht eine gewisse Distanzierung einher, weil die Erinnerungen in der dritten Person Singular, also von „Schaunard“, erzählt werden. Dass zwischen Schanne und Schaunard nicht streng unterschieden wird, zeigt die Bildunterschrift unter dem Porträtphoto des Autors, das zum Epitext des Buches gehört und mit „Schaunard aujourd’hui“ („Schaunard heute“), unterschrieben ist. Zum Namen äußert sich Schanne an mehreren Stellen im Buch und erklärt zu Beginn der Erzählung: „Schaunard, c’est Alexandre Schanne; c’est moi.“675 Gewidmet ist das Buch den Freunden und Geburtshelfern seiner Autobiographie.676 Zum einem Henry Murger und zum anderem dem „hartnäckigen Freund“677 Albert de Lasalle, der Schaunard dazu ermuntert habe, seine Erinnerungen zu verfassen. Wenn er formuliert, eigentlich von den anderen und von sich nur als „Vorwand“ 678 schreiben zu wollen, ist das keine reine Bescheidenheitsgeste. Denn viele Kapitel in der Lebensgeschichte, die er erzählt, sind nach Murger, nach dessen Texten oder Figuren benannt. Einzelne Kapitel dienen der Geschichte der Personen hinter den Romanfiguren. Schanne, der als Malschüler Anfang der 1840er Jahre mit Murger und Lelioux in Kontakt kam, erzählt seine Geschichte als Künstlerbiographie, die in der Gegenwart endet. Rückblickend greift er, um sich selbst zu verorten, auf die sinnstiftende Abgrenzung zwischen „artiste“ und „bourgeois“ zurück und konstatiert an einer Stelle: „Et me voilà bourgeois du
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Ü.: „Schaunard, das ist Alexandre Schanne, das bin ich.“ Alexandre Schanne (1887): Souvenirs de Schaunard. Paris: G. Charpentier, S. 2. „A la mémoire de mes Parrains de Lettres“. Ü.: „Im Andenken an meine Literaturpaten“. Schanne (1887): Souvenirs de Schaunard, S. 334. Ebd., S. 4.
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Marais!“ 679 Schanne hat die Geschäfte seines Vaters übernommen, das Künstlerleben ad acta gelegt. Etwas Wehmut und Melancholie gehören dazu, weil die Bohème unweigerlich mit Jugend verknüpft ist, aber nicht nur mit Jugend, sondern auch mit Bedeutsamkeit. Schanne hat durch Murger einen Namen bekommen, er ist zur (Referenz einer populären) Figur geworden. Die Tatsache, dass immer wieder Autoren, unter anderem Murger680 selbst, das Pseudonym Schaunard genutzt haben, um in der Presse zu publizieren, thematisiert er im Kapitel „Die falschen Schaunards“681. In der petite presse kommen Figurennamen aus der Schlüsselliteratur der Bohème als Autorennamen häufiger vor.682 Schanne gibt die Geschichte seiner Namensschöpfung zum Besten, die auf ein zeitweilig beliebtes Spiel mit bestimmten Nachsilben zurückgeht, dem nach sein Umfeld Wörter mit der Nachsilbe „-ard“ bildete, wobei es ein Druckfehler gewesen sei, der aus Schannard letztlich Schaunard gemacht habe. Was die Anekdote deutlich macht, ist, dass man kaum auf eine historische Bohème ohne ihre Erzählungen zugreifen kann. Es wäre aber schade, die Anekdoten der Bohème nicht mehr zu erzählen, nur weil sie sie selbst erzählt hat. Schließlich machen sie einen Teil ihres Unterhaltungswertes aus und dieser speist sich aus anderen Inhalten als es die Selbstbeschreibungen der Bourgeoisie tun (würden). Angesichts der Memoiren Schannes aus den 1880er Jahren, die schon mit ihrem Titel an Murgers Scènes de la vie de bohème erinnern, lässt sich abschließend festhalten, dass die Bohèmeliteratur und deren reale Erlebnisse die Beteiligten der zweiten Generation auch noch später beschäftigen. Sie sind sowohl zeitgleich als auch retrospektiv ein Ankerpunkt für die literarische Selbstdarstellung. Zeitschriften wie Le Boulevard aktuali-
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Ü.: „Und ich nun, Bourgeois des Marais!“ Ebd., S. 329. Schaunard: „Souvenirs du Corsaire-Satan“. In: Figaro vom 19. Juli 1857, S. 1f. Schanne (1887): Souvenirs de Schaunard, S. 283. Murger publiziert als Schaunard, Jules Vallès als Jacques Vingtras chroniques für den Gil Blas, also unter dem Namen seines Alter Egos aus der gleichnamigen autobiographischen Trilogie.
5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard
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sieren die Bohème, woran sich auch bereits Erinnerungen anschließen und ein Andenken an die Beteiligten hergestellt wird. Das Blatt animiert im Zuge dessen auch jüngere Nachwuchsautoren, ihre Haltung dazu zu formulieren, Sympathie zu bekunden oder Kritik zu üben. Die Bohèmezeit als vergangene zu betrachten, setzt Nostalgie und Wehmut frei. Das Interesse an der Bohème ist ein genuines von Literatur- und Kunstzeitschriften wie Le Boulevard, die viele Autoren aus ihrem Umfeld zählt. Obwohl die Selbstbezeichnung als Bohème Anfang der 1860er Jahre für das aktuelle Geschehen keine tragende Rolle mehr spielt, kann man Elizabeth Fallaizes Sicht auf Le Boulevard unterstreichen, nämlich dass darin dennoch die Idee und Erinnerung an das Bohemetum noch sehr lebendig waren: „the idea and memory of bohemianism was still much alive“683.
5.4.3 Inszenierung eines Endes in der Abschiedsausgabe von Le Boulevard Das Kommen und Gehen von Medienorganen ist Anfang der 1860er Jahre nach wie vor ein Thema und das gilt auch für Le Boulevard. Obwohl viele aus heutiger Sicht prominente Autoren und Künstler für die aufwändig und visuell vielfältig gestaltete Zeitschrift arbeiten, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie ein kurzlebiges und oft gefährdetes Projekt ist. Nach anderthalb Jahren, am 14. Juni 1863, stellt die Zeitschrift ihr Erscheinen ein und übersetzt dieses Ende im Blatt in eine visuelle Form. Auf der Titelseite umgibt den Satzspiegel ein gefetteter schwarzer Rahmen, so dass die ansonsten konventionell gestaltete Seite wie eine Todesanzeige aussieht. Sie bedient sich einer Symbolsprache, die alle verstehen. Üblicherweise betreffen Traueranzeigen Personen, doch durch die Übertragung auf eine Zeitung wird diese personifiziert.
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Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 90.
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Abb. 18: Seite eins der letzten Ausgabe von Le Boulevard
5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard
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Die geläufige Geburts- und Sterbemetaphorik beschreibt den stark in Bewegung befindlichen Zeitschriftenmarkt: „Pour un enterrement dans la vie, on compte dix nouveau baptêmes. Ainsi dans la littérature“684, kommentiert Charles Bataille in seinen „Chroniques parisiennes“ den publizistischen Gründungseifer. Wie endgültig der Abschied von Le Boulevard sein wird, bleibt in der Ausgabe unklar. Ein „Brief an die Leser“ des Chefredakteurs Étienne Carjat und des Geschäftsführers Alphonse de Launay fassen zunächst recht kurz und unsentimental den Stand zusammen. Er informiert, dass Aurélien Scholls Zeitschrift Nain jaune 685 die Abonnenten übernehmen werde. Warum die Zeitschrift eingestellt wird, erklären Andeutungen zu politischer Restriktion und Willkür. Dies zeigt sich in der nachfolgend zitierten Erklärung, die besagt, dass das Blatt im Laufe von anderthalb Jahren zweimal die Druckerei wechseln musste, weil eingeschüchterte Verleger den Druck verweigerten. Diese Umstände behindern die Arbeit der Herausgeber und entmutigen sie, zumal sie immer wieder vorkommen können: „Devant une pareille situation, renouvelable à volonté, nous ne pouvons que suspendre notre publication jusqu’à ce que de plus habiles et de moins suspectés rendent l’existence du pauvre journal qui ne demandait qu’à continuer sa lutte pour le bien dans la vie, pour le beau dans l’art.“ 686 Obwohl Le Boulevard vergleichsweise wenige offen politisie-
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Ü.: „Für eine Beerdigung im Leben zählt man zehn neue Taufen. So ist es in der Literatur“. Charles Bataille: „Chronique parisienne“. In: Le Boulevard, Nr. 2 vom 12. Januar 1862, S. 1f., hier S. 1. Scholls Nain jaune wird nach einem Jahr vom „literarisch-satirischen“ zum „politischen“ Blatt. Manevy; Manevy (1958): La Presse française, S. 322. Ü.: „Angesichts dieser Situation, die sich stets wiederholen kann, können wir unsere Veröffentlichung nur unterbrechen, bis dass Klügere und weniger an der Rechtschaffenheit Zweifelnde der armen Zeitschrift, die nichts weiter verlangte als ihren Kampf für das Gute im Leben, das Schöne in der Kunst fortzusetzen, die Existenz zurückgibt.“ Étienne Carjat; Alphonse de Launay: „A nos lecteurs“. In: Le Boulevard, Nr. 24 vom 14. Juni 1863, S. 1.
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rende Texte druckt, bedroht die repressive Zensur die Existenz. 687 Wo Projekte unterdrückt werden, tritt alsbald die lebendige und vernetzte Szene der Autoren und Projektemacher hervor, zum Beispiel namentlich das neu gegründete Journal Nain jaune, das die Leserinnen und Leser der Boulevard übernimmt. Für Le Boulevard heißt es aber tatsächlich Abschied nehmen und für diesen Titel samt positiver Selbstdeutung nutzt das Herausgeberduo die letzte Nummer, in der noch einmal der implizite Wertekanon formuliert wird. Neben Carjat und de Launay betont auch Méry, der nach den Willkommensgrüßen auch die Abschiedskorrespondenzen einleiten darf, den gemischten Charakter lobend. Tatsächlich wird selten so ein umfangreiches Künstler-, Autoren- und Verlegernetzwerk sichtbar wie in Le BouleBoulevard. Gemischt ist das Blatt, was die Reputation der Beteiligten angeht, denn neben „exzellenten“ Autoren wie Baudelaire oder Banville gehören auch Nachwuchshoffnungen zum Autorenkreis, „toute la jeune pléiade, espoir de l’avenir“688. Die Verfasser geben an, vergleichbar den Quartier latin-Zeitschriften, den von Zeitschriften ausgeschlossenen Dichtern ein „Asyl“689 geboten zu haben. Dass sie vielen unbekannteren Schreibenden offenen und großzügigen Zugang gewährt hat, macht Le Boulevard zu einem Medium der jugendlichen Avantgarde. 690 Sowohl 687
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Ein kampfbetontes Gedicht von Gustave Mathieu, „A L’Assassin!!! / En Pologne“, bildet den Aufmacher von Le Boulevard, Nr. 20 vom 17. Mai 1863, S. 1f. Vgl. Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“ zu politischer Positionierung, die das Regime alarmierte, S. 16‒21 u.a. zu Mathieu. Ü.: „das ganze junge Aufgebot, Hoffnung der Zukunft“. Méry: „Farewell“. In: Le Boulevard, Nr. 24 vom 14. Juni 1863, S. 2. Man sei das „seul asile périodique de la poésie exilé des revues“. Ü.: „das einzige periodische Asyl der aus den Zeitschriften vertriebenen Dichtung“. Carjat; de Launay: „A nos lecteurs“. In: Le Boulevard, Nr. 24 vom 14. Juni 1863, S. 1. Das erinnert an die Tribune des poëtes von 1857 und andere Zeitschriften. „le journal le plus typiquement représentatif de la jeunesse d’avant-garde, par sa largeur de vues, la générosité de son accueil, par son attitude envers le pouvoir, à la fois prudente et ferme.“ Ü.: „das typischste repräsentative Journal, das die avantgardistische Jugend darstellt, durch die Aufgeschlossenheit, die großzügige Aufnahme, durch seine Haltung gegenüber der Macht, gleichzeitig vorsichtig und bestimmt.“ Vgl. Luc
5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard
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Bohemiens als auch deren dezidierte Gegner haben in der Zeitschrift einen Platz gefunden, die insgesamt über eine auffallend große Anzahl an Beiträgerinnen und Beiträgern verfügt. Folgendermaßen wird all denen gedankt, die daran mit „Herz“ und „Hand“ mitgearbeitet haben:
Abb. 19: Dank an die Mitwirkenden, Le Boulevard, Nr. 24 vom 14. Juni 1863
Badesco (1971): La génération poétique de 1860. La jeunesse des deux rives. Milieux d’avant-garde et mouvements littéraires. Les œuvres et les hommes. Bd. 2/2. Paris: Éditions A.-G. Nizet, S. 769.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863) Avant de clore cette dernière page de notre vie, il nous est doux de tourner les feuillets de notre livre écourté et d’y chercher les noms amis de ceux qui nous ont aidés du cœur et du bras. C’est, du reste, avec un légitime sentiment d’orgueil que nous citerons pour la dernière fois les chers collaborateurs auxquels les destins nous obligent à dire adieu.691 Bevor wir die letzte Seite unseres Lebens beschließen, ist es uns angenehm die Blätter unseres verkürzten Buches umzuwenden und dabei die befreundeten Namen zu suchen, die uns mit Herz und Hand unterstützt haben. Es ist im Übrigen mit einem legitimen Gefühl von Stolz, das wir zum letzten Mal die lieben Mitarbeiter nennen, denen Adieu zu sagen uns das Schicksal zwingt.
Gedruckt ist der Text wie eine Traueranzeige in einem schwarz umrahmten Kasten. Außerhalb des Rahmens liegt die Überschrift „P.P.C.“, was womöglich die verkürzte Formel für „das kleinste gemeinsame (Vielfache)“ ist. Das kleinste Gemeinsame wäre, dass alle Genannten ehemalige Mitarbeiter einer Zeitschrift sind, die es nicht mehr geben wird. In der Liste erscheinen alphabetisch sortiert, nach Berufsgruppen und Geschlechtern geordnet, mehrere Bildende Künstler sowie zahlreiche Schriftsteller, unter denen zwei Autorinnen die deutliche Ausnahme darstellen: Rédaction: MM. Frédéric Armand. – Charles Asselineau. – Xavier Aubryet. – Alexis Azevedo. – Hippolyte Babou. – Théodore de Banville. – Barillot [sic]. – Armand Barthet. – Charles Bataille. – André Bauchet. – Charles Baudelaire. – Jean Du Boys. – Jacques Brochard. – Fortuné Calmels. – Henry Cantel. – Champfleury. – Auguste de Chatillon. – Arthur de Ciplet. – Léon Cladel. – Jules Claretie. – Cournet. – Ernest Daudet. – Camille Debans. – J.-J. Debillemont. – Auguste Deleurence. – Louis Depret. – Émile Deschamps. – Fernand Desnoyers. – Charles Diguet. – Joseph Doucet. – Alcide Du-
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Carjat; de Launay: „P.P.C.“ In: Le Boulevard, Nr. 24 vom 14. Juni 1863, S. 8.
5.4 Aktuelle und vergangene Bohème in Le Boulevard
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solier. – Emmanuel Durand. – Erkmann-Chatrian. – Emmanuel des Essarts. – Paul Féval. – Albert de la Fizelière. – Antoine Gandon. – Benjamin Gastineau. – Albert Glatigny. – Edmond et Jules de Goncourt. – Ernest d’Hervilly. – Charles Joliet. – Albert Delasalle. – Leconte de Lisle. – Charles Ledru. – L. Lemercier de Neuville. – Arthur Louvet. – Victor Luciennes. – Frédéric Maillard. – Hector Malot. – Auguste Marc-Bayeux. – Adrien Marx. – Gustave Mathieu. – Catulle Mendès. – Méry. – Charles Monselet. – Jules Noriac. – Théodore Pelloquet. – Adolphe Perreau. – Florian Pharaon. – Hippolyte Philibert. – Alexandre Piédagnel. – Louis Pollet. – Pothey. – Bénédict Révoil. – Henry Rey. – Amédée Rolland. – Victor Roussy. – Eusèbe de Salles. – Gaston-Robert de Salles. – Aurélien Scholl. – Seinguerlet. – Édouard Siebecker. – Comte W. Sollohub. – Angelo de Sorr. – Léopold Stapleaux. – Auguste Vacquerie. – Charles Valette. – Jules Vallès. – Valery Vernier. – Jules Viard, etc. Mesdames: Mary de la Croix, – Adèle Esquiros. Illustration: MM. Émile Bénassit. – Émile Bouquet. – Cuisinier. – A. Darjou. – Daumier. – Durandeau. – Pastelot. – S. le Pippre. – Félix Régamey.692
Aufgeführt sind nicht einmal alle, die je in Le Boulevard publiziert haben. Ein „etc.“ lässt darauf schließen, dass es noch mehr sind, obwohl die Liste einen beeindruckenden Umfang von 82 Personen zählt. Elizabeth Fallaize führt die Beiträger und Beiträgerinnen in ihrer Forschungsarbeit namentlich auf und zählt mehr als hundert, darunter wenige Pseudonyme und anonyme Verfasser.693 Le Boulevard ist ein überaus diverses Forum mit Autoren unterschiedlicher Couleur, eindeutig kein Organ eines einzelnen cénacles. Zwar handelt es sich nur um eine von zahllosen Zeitschriften, doch hat sie eine sehr hohe Integrationskraft. Mit seinem Fokus
692 693
Ebd., S. 7. Fallaize (1987): Etienne Carjat and „Le Boulevard“, S. 274‒285.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
auf dem Lebens- und Arbeitsraum der Kunst- und Medienschaffenden trägt das Blatt zur Selbstbeschreibung der Literaten und Künstler auf dem Boulevard und im Pariser Leben des Second Empire maßgeblich bei.
5.5 Märtyrer und Machtlose: Neue Romane zur alten Bohème
5.5.1 Lächerlich und werbewirksam: Léon Cladels Les martyrs ridicules Auch auf dem Buchmarkt zieht in den 1860er Jahren eine literarische Generation Bilanz. Roman-Neuerscheinungen wie Les martyrs ridicules (1862) von Léon Cladel oder Émile Desdemaines Les Impuissants (1867) befassen sich mit der postromantischen Generation.694 Als wirkungslos, machtlos, dumm oder lächerlich charakterisieren die Romanciers ihre Hauptfiguren und rufen damit Erinnerungen an bereits bekannte vernichtende Urteile wach. Les martyrs ridicules von Léon Cladel findet in Le Boulevard besondere Beachtung. Sein Blick auf die Bohème wird nachfolgend ebenso kurz ausgeführt wie die Bemühungen innerhalb der Zeitschrift, den Roman bekannt zu machen. Er ist neben Jules Vallès’ Les Réfractaires und LʼInsurgé, dem dritten Teil seiner autobiographischen Trilogie Jacques Vingtras, „eine der beiden wichtigsten Aufkündigungen der Bohèmeklischees nach Murgers Tod“695. Die Hauptfigur des Romans mit dem sprechenden Namen Alpinien Maurthal ist ein Antiheld der Gegenwart, den ein Mangel auszeichnet: „Alpinien Maurthal avait vingt-cinq ans. Sa bouche sans sourire, des yeux sans caresse, ses épaules lourdement voûtées, sa démarche incertaine lui enlevaient tout aspect de jeunesse.“696 Alle Eigenschaften, die ihn beschrei694 695
696
Vgl. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1227. „deux magistrales dénonciations des clichés bohèmes après la mort de Murger“. Ebd., S. 1227. Ü.: „Alpinien Maurthal war fünfundzwanzig Jahre alt. Sein Mund ohne Lächeln, die Augen ohne Zärtlichkeit, seine Schultern gewölbt, sein unsicherer Gang nahm ihm
5.5 Märtyrer und Machtlose: Neue Romane zur alten Bohème
333
ben, sind negativ, zwei Eigenschaften werden durch die Präposition „ohne“ als fehlend beschrieben. Er ist körperlich deformiert, krumm, sein Gang unsicher und somit sind positive Zuschreibungen der Jugend wie geistige oder körperliche Energie kaum vorhanden. Außerdem ist bei Alpinien das Schreiben als nur krisenhafter Versuch, phasenweise als quälende Leerstelle seines Alltags vorhanden: „Maurthal reprit ses travaux littéraires; mais ses livres, ses vieux amis, ne le connaissaient plus, et sa plume infidèle trébuchait à mille obstacles que la pensée ne savait plus soulever.“697 Das Literatendasein wird dadurch gekennzeichnet, dass diese Facette der Hauptfigur im Roman so kurz kommt beziehungsweise, dass bei ihm andere Rollen vordergründiger beschrieben werden, allem voran der Liebhaber und letztlich auch der Konsument. Die Liebesbeziehung, deren Schwierigkeiten für den Lebenswandel Champfleury beschrieben, ihre Dramatik, die Murger mit seinen Frauenopfern698 gezeigt hat, steht bei Maurthal im Mittelpunkt. Cladel montiert Klischees und macht eine Reihe von ihnen als solche sichtbar. Neben der Jugend wird die Liebe für eine Frau beziehungsweise mehrere Frauen im Roman als wahnhafte überzeichnet. Maurthal ist kulturell nur noch Konsument, den die Bohème zu einem bürgerlichen Theaterbesuch anregt. Statt im Leben des Protagonisten ist die Bohème in der Unterhaltungskultur der Gegenwart verankert. Als produktive, antibürgerliche Gemeinschaft kommt sie nur anfangs am Rande vor. Murger und die Bohèmedeutung betreffend gibt es eine Schlüsselstelle, die auch Baudelaire in seinem Vorwort zum Roman hervorhebt. Dort besuchen Maurthal und seine Freundin eine Aufführung des Vie de Bohême,
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jegliche jugendliche Erscheinung.“ Léon Cladel (1862): Les martyrs ridicules. Avec une préface de Charles Baudelaire. Paris: Poulet-Malassis, S. 10. Ü.: „Maurthal nahm seine literarischen Arbeiten wieder auf, aber seine Bücher, seine alten Freunde kannten ihn nicht mehr und seine untreue Feder stolperte vor tausend Hindernissen, die das Denken nicht mehr heben konnte.“ Ebd., S. 43. Die beiden Frauenfiguren Francine und Mimi sterben in den Scènes de la vie de bohème.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
also der populären Theaterfassung von Murgers „Scènes“ im Théâtre des Variétés: Qui ne connaît cette émouvante pièce, – la Vie de Bohême, – où les larmes sont pleines de sourires, et pleins de larmes les sourires; où la matière est si vaillamment combattue par le rêve; où la noblesse de lʼâme est sans cesse harcelée par la misère; où lʼintelligence se débat en riant entre les baisers et la faim; où la jeunesse, cette imprudente incorrigible, jongle capricieusement avec les exigences de la vie; où lʼon tremble de voir ceux qui roulent la pierre de la réalité, – nouveaux Sisyphes, – être écrasés par sa chute. [...] La Vie de Bohême, quels souvenirs à ce titre! que de larmes, douces et amères, nʼappelle-t-il pas! et cependant il est des gens qui laissent, à ce mot: Bohême, errer des sourires dédaigneux sur les lèvres.699 Wer kennt nicht dieses bewegende Stück – das Leben der Bohême – wo die Tränen voller Lächeln und voller Tränen das Lächeln ist; wo der Stoff so beherzt vom Traum bekämpft wird, wo die Erhabenheit der Seele unentwegt vom Elend bedrängt wird, wo sich die Intelligenz lachend wehrt gegen die Küsse und den Hunger, wo die Jugend, diese leichtsinnige Unverbesserliche launisch mit den Erfordernissen des Lebens jongliert, wo man zittert, jene zu sehen, die den Stein der Realität rollen, neue Sisyphosse, die durch seinen Fall zerquetscht werden. […] Das Leben der Bohême, welche Erinnerungen an diesen Titel! Nichts als Tränen, süß und bitter, ruft er sie nicht! Und dennoch gibt es Leute, denen beim Wort Bohême ein verächtliches Grinsen die Lippen umspielt.
Cladel, der Roman-Debütant, der eine bissige Parodie auf die Bohème schreibt, erhält unabhängig davon, wie distanziert seine Auseinandersetzung mit der Bohème scheint, viel Unterstützung aus deren Kreisen. Poulet-Malassis, der als Verleger der dichterischen Avantgarde, Baudelaires, Banvilles, Gautiers sowie Leconte de Lisles selbst mit Schulden, Bankrott und Gefängnis zu kämpfen hat, bringt ihn heraus.700 Le Boulevard annon-
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Cladel (1862): Les martyrs ridicules, S. 213. Bourdieu (1998): Les règles de l’art, S. 89.
5.5 Märtyrer und Machtlose: Neue Romane zur alten Bohème
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ciert den Text in der ersten Ausgabe, was jedoch nicht die einzige Erwähnung in der Zeitschrift bleibt. In einer Kritik zum Roman spricht ein Kritiker von dem „seltsamen Buch“, das zu Baudelaires Verleger PouletMalassis passe, der ja Spezialist für „merkwürdige Bücher der jungen Literatur“ sei.701 Cladel ist bei Erscheinen seines Debütromans kein völliger Neuling im Literaturbetrieb, in Le Boulevard sind bereits Erzählungen und Porträts erschienen. Außerdem vertritt er ab und an Théodore de Banville, der unter den Mitarbeitern eine unvergleichbare Stellung besitzt, mit Theaterkritiken. Nichtsdestotrotz stellt sein Roman einen unkalkulierbaren Erstling dar, noch dazu ist er ein bohèmekritisches Buch. So eines zu verlegen, gilt als Risiko und das „traue“702 sich der Verleger nur, so ein Insider, mit einem Vorwort des in Literatenkreisen angesehenen Dichters Charles Baudelaire einzugehen. Cladel ist einer von sehr wenigen Schriftstellern, deren Roman auf der ersten Seite der Zeitschrift angekündigt wird. Anerkennend wird er von der Redaktion dort mit Murgers Bohèmedarstellung verglichen: „les Martyrs ridicules une œuvre remarquée où l’analyse a les violences cruelles de la dissection sur le vif, et qui fut considérée comme la sombre contrepartie de la joyeuse Bohême de Henry Mürger.“703 Murgers Bohèmerepräsentation hat eine Form der literarischen Selbstbeglaubigung junger Autoren geprägt, die den den damaligen Erwartungshorizont bestimmt. Darin verortet der Literaturkritiker Albert Glatigny (1839–1873) Cladels Roman: „Un tout jeune homme, M. Léon Cladel, vient de faire, lui aussi,
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„livres curieux de la jeune littérature“; „un volume étrange de M. Cladel“. J. Duboys: „Histoire de ma mort par Antonin Mulé“. In: Le Boulevard, Nr. 29 vom 20. Juli 1862, S. 8. Vgl. Perreau (1876): Confidences d’un journaliste, S. 162. Ü.: „Die lächerlichen Märtyrer ein bemerkenswertes Werk, wo die Analyse die grausame Gewalt der Sektion vor Ort hat und die als düsterer Gegenpart der freudvollen Bohème von Henry Mürger gesehen wurde.“ Ankündigung auf der Titelseite von Le Boulevard, Nr. 4 vom 25. Januar 1863, S 1.
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sa vie de Bohême, qu’il intitule Les Martyrs ridicules.“704 Autobiographische Romane, die das Leben eines Protagonisten als Bohèmeleben erzählen, deutet er als Konvention oder Standardhandlung junger Autoren der Zeit. Glatigny gibt in einer poetisierten Beschreibung die pessimistische Interpretation junger Künstler und Liebender wieder, die er in Cladels Roman sieht: Hélas! qu’ils sont malheureux et qu’ils sont ridicules aussi, ces pauvres chercheurs d’art et d’amour, qui ont banni de leur pauvreté la foi enthousiaste et la sérénité! Ils s’aiment avec haine; ils veuveulent violenter la gloire dans la nuit; leur vin c’est la funèbre absinthe, leur ciel c’est le plafond enfumé de la mansarde où agonise une courtisane poitrinaire.705 [Versalien kursiviert, N.P.] Leider! sind sie unglücklich und auch lächerlich, diese armen Kunst- und Liebessucher, die von ihrer Armut den enthusiastischen Glauben und die Heiterkeit verbannt haben! Sie lieben sich mit Hass; sie wollen dem Ruhm in der Nacht Gewalt antun; ihr Wein ist der trübe Absinth, ihr Himmel ist die verräucherte Decke der Mansarde, wo eine schwindsüchtige Kurtisane im Sterben liegt. [Versalien kursiviert, N.P.]
Glatigny greift negative Klischees des Romans auf und bestätigt sie in ironischer Weise. Auffallend ist, dass er über eine Gruppe schreibt, obwohl der Roman vorwiegend von einer einzelnen Person ausgeht. Glatignys Sprache ist kraftvoll, so dass sie trotz der Klischees vor allem Emotionen anspricht, vor allem, wo die psychischen, moralischen und mentalen Merkmale der elenden Jugend angesprochen werden. Das abschließende Bild der „schwindsüchtigen Kurtisane“ in der Mansarde interpretiert die Bohèmefrauen anders als beispielsweise Murgers Erzählungen, wo Francine und Mimi, die Grisetten, die am Ende sterben, einfache 704
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Ü.: „Ein ganz junger Mann, H[err] Léon Cladel, hat gerade, nun auch er, sein Leben der Bohême gemacht, das er Die lächerlichen Märtyrer nennt.“ Albert Glatigny: „Livres“. In: Le Boulevard, Nr. 1 vom 5. Januar 1862, S. 7 Ebd.
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Frauen und keine Kurtisanen im eigentlichen Sinne, nämlich höher gestellte, aber eben gekaufte Frauen sind. Für die Illusionen der Bohème spricht das Bild des Himmels, der mit etwas Großem konnotiert ist, auf das man im religiösen Deutungskontext sogar hoffen kann. Die Metonymie – Mansardendecke als Himmel – verdeutlicht den Trugschluss derer, die das Leben in diesem Raum fälschlicherweise mit dem „Himmel“ verbinden. Durch Oxymora und Metaphern illustriert Glatigny eine Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen Innen und Außen. Was Übertreibung und Überzeichnung angeht, korrespondiert die Kritik mit Cladels Roman. Baudelaire als Vorwortautor von Les martyrs ridicules Baudelaires Vorwort zu Cladels Roman befasst sich mit ähnlichen Aspekten wie die oben genannten Kritiken sowie insbesondere mit der Bohèmedarstellung. Das Vorwort erscheint als Epitext in Auszügen bereits im Oktober 1861 einen Monat vor Erscheinen des Buches in der Revue fantaisiste.706 Außer der „Préface“ für den Dichter und Chansonnier Pierre Dupont, zu dessen Liedsammlung Chants et Chansons von 1851 Baudelaire eine Einleitung geschrieben hat, verfasst er keine Vorworte, was dem Akt besondere Qualität verleiht. 707 Anders als es in der „Préface“ klingt, pflegten Baudelaire und Cladel nur kurzzeitig persönlichen Austausch. Baudelaire unterstützte den Jüngeren unter anderem durch eine Empfehlung bei der Revue européenne und Poulet-Malassis zufolge hat Baudelaire den Roman vollständig redigiert.708 Baudelaires Vorwort 706
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Charles Baudelaire: „Livres. Les Martyrs ridicules, par M. Léon Cladel“. In: Revue fantaisiste, 17e livraison, Bd. 3/3, Nr. 13 bis 19 vom 15. August bis 1. November 1861. Genf: Slatkine Reprints 1971, S. 316‒320. Eine Fußnote kündigt den Text als Préface der kommenden Buchausgabe an. Pascal Durand (2010): „Le ratage sans gloire. À propos des Martyrs ridicules de Léon Cladel“. In: Brissette; Glinoer (Hg.): Bohème sans frontière, S. 151–161, hier S. 151. André Guyaux (2003): „Le Baudelaire de Léon Cladel“. In: Pierre Glaudes; MarieCatherine Huet-Brichard (Hg.): Léon Cladel. Toulouse: Presses Universitaires du Mirail, S. 17‒29, hier S. 18.
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ist ein Paratext der Buchausgabe, der für den Debütroman wirbt, indem sich der Dichter differenziert mit ihm auseinandersetzt. Doch wirbt Baudelaire damit auch für sich selbst in einem Moment, wo er auf dem Höhepunkt seines zeitgenössischen Renommees ist, da in dem Jahr auch gerade die zweite Ausgabe der Fleurs du Mal erscheint.709 Inhaltlich ist das Vorwort eine Auseinandersetzung mit Mustern der Bohèmerepräsentation sowie Cladels literarischer Darbietung. Baudelaire erklärt eingangs, dass das Vorwort als Freundschaftsdienst für den Verleger zustandegekommen sei. Poulet-Malassis habe ihn dazu bewegt, den Roman überhaupt zu lesen. „Jugend“ stoße ihn ab, weil er selbst nicht mehr dazugehöre. Dass er zu Beginn Widerstand gegen den Roman und die „Jugend“ ausdrückt, verstärkt die in der Gesamtschau positive Rezension des Romans noch. Baudelaires Romanpräsentation schließt an einen zeitgenössischen pejorativen Bohèmediskurs an. Die literarische Jugend, die „jeunesse réaliste“710 sieht er als eine Variante der jungen Pariser Oberschicht, der sogenannten „gentry parisienne“. Baudelaire problematisiert die Mentalität der jungen Bohemiens, die bekannte Muster imitiere, aber sie entstelle: „[C]e n’est pas dans ses nobles attitudes qu’elle s’appliquera à l’imiter, mais dans ses crises de fatuité, dans ses fanfaronnades de paresse“711. Zu ihren Fehlern gehöre, dass sie gute Sitten des Künstlerdaseins missachte wie eine Poetik der Arbeit, die Bereitschaft sich aufzuopfern, nach einem ‚Werk‘ und nicht nach Status zu streben. Was er ihnen vorhält, ist mangelnde künstlerische Moral. Das macht er fest an einem Lebensstil, der ein künstlerisch und literarisch inszeniertes Künstlerleben aus Romanen und Bildern des Zeichners Paul Gavarni nachahme: „[E]lle découpe sa vie sur le patron de certains romans, comme les filles en-
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Durand (2010): „Le ratage sans gloire“, S. 160. Charles Baudelaire (1862): „Préface“. In: Cladel: Les martyrs ridicules, S. I‒XII, hier S. IIf. Ü.: „[E]s ist nicht in ihren edlen Haltungen, dass sie sich bemüht, sie zu imitieren, sondern in ihren Selbstgefälligkeitsanfällen, in ihrer großtuerischen Trägheit“. Ebd., S. III.
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tretenues s’appliquaient, il y a vingt ans, à ressembler aux images de Gavarni, qui lui, n’a peut-être jamais mis les pieds dans un bastringue.“712 Baudelaire weist darauf hin, dass es ein Missverhältnis zwischen der Fiktion, und sei sie realistisch, und der Realität gebe. Populäre Vorstellungen wie die Bilder Gavarnis vom Nachtleben können durchaus der Phantasie der Autoren zuzurechnen sein, aber dürften dennoch einen Einfluss auf Nacheifernde haben. Cladels literarisches Verdienst sei es, die „lamentable petite caste“713 der realistischen Bohème, ihre „Illusionen“, „Sitten“ und „Gewohnheiten“ mit einer besonderen Energie dargestellt zu haben. Wie alle anderen Kritiker setzt auch Baudelaire Cladels mit Murgers Text in Beziehung, der darin ein Muster der Bohèmedarstellung sieht, das sich durch Leichtigkeit und eine scherzhafte Umgangsweise mit traurigen und ernsthaften Umständen auszeichnet. Cladels Form dagegen sei analytisch und satirisch und als Autor studiere und stelle er beharrlich, mit der Haltung eines Kasuisten die negativen Seiten heraus, der „manie le péché en curieux, le tourne, le retourne, examine complaisamment les circonstances, et déploie dans l’analyse du mal la consciencieuse ardeur d’un casuiste.“ 714 Baudelaire betont mehrmals die Form des Titels „lächerliche Märtyrer“, der durch eine Antithese zum Ausdruck bringe, mit welcher leidenschaftlichen Aufopferung sich die Hauptfiguren des Romans den Lächerlichkeiten wie der Dummheit, Faulheit und den Liebschaften annähmen.715 Cladels Roman hat zum Zeitpunkt seines Erscheinens prominente Fürsprecher und dennoch hat er keinen großen literarischen Erfolg gehabt. Er
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Ü.: „[S]ie schneidet ihr Leben nach dem Muster gewisser Romane zurecht, wie die leichten Mädchen vor zwanzig Jahren den Bildern Gavarnis zu ähneln suchten, der wiederum vielleicht niemals einen Fuß in ein Tanzlokal gesetzt hat.“ Baudelaire (1862): „Préface“, S. IV. Ebd. Ü.: „als Neugieriger die Sünde beherrscht, dreht sie, wendet sie, untersucht gefälligerweise die Umstände und entfaltet in der Analyse des Schlechten die gewissenhafte Leidenschaft eines Kasuisten.“ Ebd., S. VI. Ebd., S. V.
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erhellt durch Baudelaires und Poulet-Malassis Fürsprache, wie der Verleger mit einem Freundschaftsdienst versucht, einen Text zu fördern. Nicht zuletzt lässt er erneut erkennen, wie stark die zeitgenössische Wirkung von Murgers „Scènes“ ist, dass nahezu jeder Kritiker der Bohème oder ihrer Literatur auf seine Erzählung eingeht.
5.5.2 Émile Desdemainesʼ Bohèmeroman Les Impuissants (1867) „Tu as, mon cher, fait de la littérature une bucolique, et c’est un champ de bataille.“716
Der Bohèmeroman des Journalisten Émile Desdemaines Les Impuissants717 ist ein Roman über die petite presse der 1850er Jahre, der als autobiographische Erzählung gerahmt ist. Der Autor selbst war „journaliste dans les petits journaux des années 1855“718 und arbeitete in mehreren Zeitschriften wie Triboulet, Rabelais oder Tribune des poëtes (vgl. Kapitel 4) mit. Seinerzeit und darüber hinaus blieb der Autor weitgehend unbekannt, es finden sich wenige unterzeichnete Texte von ihm. Desdemainesʼ Roman Les Impuissants stellt somit einen Glücksfall der Bohèmeliteratur dar, weil er unbekannt ist und obwohl er an vielfach beschriebene Muster anschließt, eine besondere Metareflexion zur journalistischen Bohème der Jahrhundertmitte beinhaltet. Schlüsselromane wie dieser erzählen von desillusionierenden Erfahrungen, die Autoren im Literaturbetrieb gemacht haben.719 Ursprünglich erschienen ist die erste Fassung des Textes 1857 als Serie in der Revue espagnole et portugaise
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Ü.: „Du hast, mein Lieber, aus der Literatur eine Idylle gemacht, und sie ist ein Schlachtfeld.“ Desdemaines (1867): Les Impuissants, S. 2. Ü.: „Die Machtlosen, Ohnmächtigen“. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1271. Durand (2010): „Le ratage sans gloire“, S. 154.
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unter dem Titel „Les Haillons de l’art. Mœurs contemporaines“720. Als Roman in Buchform erscheint der Text, auf dem die nachstehende Analyse aufbaut, erst 1867 in Caen, vom Autor auf eigene Kosten gedruckt. Wie Monselets Roman und der der Goncourts ist Les Impuissants zwar auf das Zeitgeschehen bezogen (vgl. Kapitel 4.5.4), aber in eine etwas frühere Zeit versetzt, denn die histoire der Romanfassung vollzieht sich im Pariser Bohème- und Journalistenmilieu der 1840er und 1850er Jahre. Erzählt wird von einem jungen Autor, der zur vielfach beschriebenen unglücklichen Nachfolgegeneration der Romantiker gehört. Mit der Geschichte Daniel Aussards wird keine grundlegend neue erzählt, sondern der Werdegang eines jungen Mannes, der aus bürgerlichen Verhältnissen stammt und früh seine Vorliebe für Dichtung entdeckt. Er sucht die Nähe zu Madame de Thorigny, einer Salondame seiner heimatlichen Provinzstadt, welcher er seine Gedichte anvertraut. Mit dem erfolglosen Versuch ihr seine Kunst näherzubringen, erfährt er seine erste öffentliche Demütigung, da Madame die Gedichte indiskret zur Schau stellt. Dass die Literatur aus Sicht des fiktiven Autors der Geschichte ein hartes Metier darstellt, deutet sich in diesem Moment erstmals an. Die Scham bewegt Daniel nach Paris zu gehen, wo er durch seinen Freund Roger alsbald in einen Kreis von petits journalistes gerät. Als Versammlungsort der „jeunesse littéraire et artistique“721 fungiert dort die Brasserie Roquepère, wo die Nachrichten der literarischen Welt produziert werden: „Là se faisaient, en premier ressort, les réputations du jour; là se préparaient […] les petites calomnies, et les grosses médisances, qui devaient être imprimées le lendemain.“722
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Ü.: „Die Lumpen der Kunst. Zeitgenössische Sitten“. Am 20. März, 5. April, 20. April, 5. Mai, 20. Mai, 20. Juli und 5. September 1857. Wagneur; Cestor (Hg.) (2012a): Les bohèmes 1840‒1870, S. 1271. 721 Desdemaines (1867): Les Impuissants, S. 37. 722 Ü.: „Da wurde in erster Linie die Reputation des Tages gemacht; dort bereitete man die kleinen Verleumdungen, die große üble Nachrede vor, die am folgenden Tag gedruckt werden sollte.“ Ebd., S. 37.
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Für Debütanten und Neuankömmlinge sind, wenn sie ins literarische Leben eintreten, Beziehungen zu anderen Beteiligten entscheidend. Als beinahe aussichtslos stellt der Protagonist Charles aus Les hommes de lettres in seinem Tagebuch daher das Debütantendasein ohne Beziehungen dar: „Point d’amis, point de relations, tout fermé!“723 Mehr als das literarische Schaffen selbst entscheiden sie darüber, welchen Weg die Autoren und Künstler gehen und ob sie Erfolg haben werden: „Aujourd’hui, pour réussir, il est nécessaire d’avoir des relations“724, heißt es auch in Balzacs Illusions perdues und der Rat von Autoritätspersonen in puncto nützlicher Beziehungen oder solcher, die man meiden sollte, ist nicht selten im literarischen Betrieb der Zeit. Die Wahl der richtigen Beziehungen ist ein wiederkehrendes Thema in den Presseromanen der Jahrhundertmitte, das auch Desdemaines verarbeitet. Der junge Debütant Daniel aus Desdemainesʼ Roman wird als Literat in der Pariser Bohème sozialisiert. Sein Freund Roger Bisson bietet ihm seinen Erfahrungsvorsprung an, um zielstrebiger in die literarische Welt einsteigen zu können: „Je vais, puisque tu le veux, t’épargner les premiers tâtonnements, et te servir d’introducteur dans notre monde.“725 Rogers Rolle als erfahrener Mentor führt einmal mehr vor Augen, dass in der Bohème spezifisches Wissen mit Freunden geteilt wird. Der Bekannten- und Freundeskreis aus Gleichgesinnten rückt das Wertesystem der kleinbürgerlichen Herkunftsfamilien unweigerlich zurecht. Freunde treten als Wissensvermittler und Vorbilder für das alternative Leben auf, in denen Erlerntes revidiert oder Wissen ergänzt wird. Die familiäre Sozialisa-
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Ü.: „Keine Freunde, keine Beziehungen, alles geschlossen!“ Edmond et Jules de Goncourt (1860): Les hommes de lettres, S. 78. Ü.: „Heute braucht man Beziehungen, um Erfolg zu haben“. Honoré de Balzac (1952): „Illusions perdues“. In: ders.: La comédie humaine. Bd. IV. Études de mœurs: Scènes de la vie de province. Bd. 2. Texte établi par Marcel Bouteron. Paris: Éditions Gallimard, S. 464–1056, hier S. 705. Ü.: „Ich werde dir, wenn du es willst, die ersten Versuche ersparen und derjenige sein, der dich in unsere Welt einführt.“ Desdemaines (1867): Les Impuissants, S. 45.
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tion, die sein Denken besonders in der ersten Pariser Zeit noch bestimmt, wird durch den Freundeskreis nachjustiert. Das Journalisten- und Künstlermilieu ist eine Welt, in deren Regeln und Sitten man eingeführt werden muss. Im Vergleich zu der mondänen Welt der adeligen Salondame ist es weniger exklusiv und zugangsfreundlicher. Nach kurzer Zeit erhält Daniel durch seine Bekanntschaft mit Roger die Möglichkeit, einen Probeartikel zu verfassen. Dabei lernt er, dass das private Leben zum Medienstoff werden und der eigene Name in das Kreuzfeuer der Journalisten geraten kann. Als sein Freund Roger in Zugzwang ist, einen Artikel zu liefern, greift er nämlich auf Daniels intime Erfahrung mit der Salonniere zurück und verfasst „avec une verve diabolique, l’épisode de ses [Daniels] brefs amours avec madame de Thorigny.“726 Ein Verrat an der Intimsphäre des Freundes also, der zu dem petit journal passt, welches er bestückt, denn dort steht laut Erzählinstanz an der Tür: „Ici on vend des calomnies au rabais“727, was die Gewissenlosigkeit und Käuflichkeit der Beteiligten unterstreicht. Ein Punkt, den es bei der Mitwirkung in den Boulevardzeitschriften zu bedenken gilt, ist, wie man sein persönliches Umfeld schützt, das wegen der Nähe besonders prädestiniert ist, intime Informationen preiszugeben. Der Roman reflektiert Freundschaft als eine Form der verbindlichen Beziehung, die von äußeren Einflüssen unabhängig ist und derlei Versuchungen widersteht. Sichtbar wird somit, dass ein Kritiker oder Autor eine Position innehat, die prekär ist, weil sie Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit überschreiten und im Falle des Literaten- und Journalistennetzwerks auch die Freundschaft tangieren kann. Desdemaines beschreibt die Literatenkreise so, dass sie an Balzacs zweigeteiltes Bohèmemilieu in den Illusions perdues erinnern. Er knüpft damit an ein nunmehr tradiertes Schema an, das versucht, eine moralische Grenze
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Ü.: „mit einem teuflischen Witz, die Episode seiner [Daniels, N.P.] kurzen Liebschaft mit Madame de Thorigny.“ Ebd., S. 66. Ü.: „Hier verkaufen wir Verleumdungen mit Rabatt“. Ebd., S. 58.
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zwischen den der Öffentlichkeit und den Zeitschriften zugewandten Autoren und denen, die sich abgrenzen, zu ziehen. Wie in der prominenten Vorlage lernt der junge Autor nacheinander die verschiedenen Schriftstellerkreise und ihre Werte kennen. Zuerst schließt sich Daniel seinem alten Freund Roger und dessen Clique um den Zeitungsmacher Borel und den Journalisten Brémont, „roi du petit journal“728, an. In der Clique herrschen Zynismus, eine schnelle, wirkungsorientierte Produktion, die darauf zielt, einen Ruf herzustellen oder zu zerstören, Skandale zu provozieren. Journalismus wird als amoralisches Geschäft dargestellt, in dem Erpressung gang und gäbe ist. Als Daniel eine Verfehlung begeht und einen verarmten Künstler verunglimpft, wird er von Jacques Le Brun, dem Freund des Bloßgestellten aufgesucht und zur Räson gerufen. Der Cénacle um Jacques Le Brun ähnelt dem von d’Arthez729 in Balzacs Illusions perdues, Jacquesʼ Losung „ayez des amis et n’ayez point de connaissances“730 ist eine intertextuelle Anspielung auf diesen Roman. Sie rät dem Künstler nämlich dazu, sich zurückzuziehen, da Bekanntschaften von der Kunst ablenkten. Wie Balzac in den Illusions perdues zeichnet Desdemaines die konfliktreiche Beziehung zwischen Presse und Literatur nach. Sie wird anhand von zwei Kreisen dargestellt, die für verschiedene Werte und Haltungen im Umgang mit Autorschaft stehen; einem autonomen Kreis, der die Freundschaft hochhält und einem korrumpierten, in dem die Kameradschaft zählt. Jacques Le Brun und dessen Freunde stehen für den ‚autonomen‘ Cénacle; Roger, Brémont und Borel dagegen für die Journalistenclique. Beide pflegen moralisch unterschiedlich bewertete Umgangsweisen 728
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Ü.: „König des petit journal“. Dieser Ehrentitel wird erfolgreichen Feuilletonisten zugeschrieben. Ebd., S. 218. D’Arthez steht für den aufrichtigen Freund, der sich nicht von der Presse locken lässt. Bezogen auf die zweite Bohème nennt Jules Troubat (1900) eine Monographie zu Champfleury, Courbet und Max Buchon Une amitié à la d’Arthez. Erschienen bei Lucien Duc in Paris. Desdemaines (1867): Les Impuissants, S. 135. Ü.: „Freunde haben und gar keine Bekanntschaften haben“.
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und Beziehungsformen. Um die gesellschafts- und alltagsbezogene Pressearbeit zu leisten, muss man im urbanen Leben präsent sein. Erlebnisse und Konsum stellen ebenso wie Liebesbeziehungen in den Romanen Murgers und Champfleurys eine Bedrohung der intellektuellen und künstlerischen Leistung dar.731 Geld mit Literatur zu verdienen, ist in der zweiten Gruppe generell nicht angesagt. Das Ziel derjenigen, die man mit Bourdieu am autonomen Pol verorten kann, ist allerdings nicht Nachruhm, sondern der Erfolg im etablierten Literaturbetrieb anstatt der kurzlebigen Erfolge als Kritiker. Das erreicht im Roman nur Jacques Le Brun, der sich in erster Instanz als Autor von den Medien fernhält, jedoch am Ende auch nicht ohne ihre Wahrnehmung auskommt. Die histoire endet nicht wie eine typische Entwicklungsgeschichte, bei der der Protagonist am Ende zu einer Einsicht gelangt und sich in vorgefasste Strukturen einfügt, sondern damit, dass er in dem bohemischen Mikrokosmos in Paris verbleibt. Die Erzählinstanz rekapituliert am Ende der Binnenerzählung die Werdegänge der Haupt- und Nebenfiguren. 732 Den wichtigsten Protagonisten Daniel bezeichnet sie als „unrettbaren“ Bohemien, da er weder materielle noch ökonomische Anerkennung für seine Arbeit bekommen habe noch einen Ausstieg versuche. Hierin zeigt sich die erzählerische Wertung, die eine literarische Karriere nur gutheißt, wenn sie in einem gewissen Zeitraum erfolgreich ist. Skeptisch bilanziert der Erzähler nicht nur das Ergebnis des bisherigen Werdegangs, sondern die Tatsache, wie beharrlich und verwachsen der Protagonist mit seinem Milieu trotz des Elends sei: „Il faudrait un miracle pour le sauver; et si le
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Der am Beispiel von Champfleury dargestellte Konflikt (Kapitel 3.2.3) findet sich auch in Murgers Scènes de la vie de bohème. Extradiegetische Erzähler sind typisch für den Feuilletonroman, sie zeigen „auktoriale, moralisierende Präsenz“. Hülk (2012): „Fait divers und storytelling“, S. 56.
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miracle se présentait, il n’accepterait pas. Tirez-le de son milieu, il aura nostalgie de la fange.“733 Jene „fange du journalisme“ kehrt als Bezeichnung wieder; im ersten Brief hatte der Autor der Geschichte seinem Freund gegenüber so seine Lage beschrieben. Dort erklärte er desillusioniert: „Quand je suis venu à Paris, j’avais de la foi, du talent et du cœur. J’ai perdu tout cela […] je croupis dans la fange du journalisme, et je ne peux pas, – je ne veux pas en sortir.“734 Folgt man Kreuzers Typologie der Bohèmeliteratur deutet sich hier eine ‚durative‘735 Bohèmeexistenz an. Innerhalb der Pariser Journalistenszene lebt der Protagonist sein erfolgloses, unstetes Bohèmeleben weiter. Allerdings hat er am Ende die Rolle gewechselt, indem er zum Älteren geworden ist: „Il vit d’expédients, ne pouvant plus vivre de sa plume. – Si vous entrez à la brasserie Roquepère, vous pourrez la voir en face d’une choppe [sic], au milieu d’un groupe de jeunes gens qui l’écoutent en l’admirant, et dont il escompte l’admiration en soupers et en emprunts.“736 Dass er Erfahrungen mit dem Lebensweg hat, den sie anstreben, macht ihn für Neulinge interessant. Seine Erfahrung und seine Geschichten sind sein Kapital, das er gegen Essen und Geld eintauschen kann. Einsteigergeschichten wie diese bringen zur Anschauung, wie die Literaten von der Presse und ihrem Versprechen vom schnellen Geld, Ruhm oder nach öffentlicher Wahrnehmung angezogen werden. Die skizzierte 733
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Ü.: „Es bräuchte ein Wunder, um ihn zu retten; und wenn sich das Wunder auftäte, akzeptierte er es nicht. Nehmen Sie ihn aus seinem Umfeld, er wird Heimweh nach dem Morast haben.“ Desdemaines (1867): Les Impuissants, S. 240. Ü.: „Als ich nach Paris gekommen bin, hatte ich Glaube, Talent und Herz. Ich habe all das verloren […] ich verkomme im Schmutz des Journalismus und ich kann nicht, ich will dem nicht entkommen.“ Ebd., S. 7. Kreuzer (1968): Die Boheme, S. 85. Ü.: „Er lebt von der Hand in den Mund, nicht mehr von seiner Feder leben könnend. Wenn Sie in die Brasserie Roquepère eintreten, können Sie ihn vor einem großen Humpen sehen, inmitten einer Gruppe junger Menschen, die ihm zuhören und ihn bewundern, und von denen er sich Bewunderung in Form von Soupers und Leihgaben erhofft.“ Desdemaines (1867): Les Impuissants, S. 240.
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Handlung gehört zu der Binnengeschichte des Romans, der durch einen Briefwechsel gerahmt ist. Beide Elemente – Rahmen und Binnengeschichte – befassen sich mit Wertekonflikten und Stilfragen, die das Medienschaffen und das Bohèmeleben mit sich bringen. Ein freundschaftlicher Briefwechsel als Metakritik Les Impuissants enthält einen Rahmen, der das Verhältnis von Selbstbeschreibungen junger Pariser Nachwuchsautoren und deren fiktionalen Vorbildern reflektiert und versucht die subjektive Wirklichkeit einer Figur mit den Schilderungen der Beteiligten abzugleichen. Innerhalb der Binnenerzählung wird die biographische Geschichte Daniels in personaler Form präsentiert. Jene ist wiederum von einem freundschaftlichen Briefwechsel gerahmt, der auf die Binnengeschichte eingeht. Briefwechsel zwischen zwei Freunden kommen öfter in den Romanen vor, auch wiederholt zwischen Paris und Provinz, zwischen der Heimatstadt und dem Zielort, an dem die Literatenkarriere erprobt wird. Während die Binnengeschichte eine von vielen Geschichten ist, in der die Bohème zweigeteilt und die petite presse als problematisches Metier erscheint, hebt sich der Rahmen von Les Impuissants ab. Er besteht aus einem Briefwechsel zwischen Edmond, der als Schriftsteller in Paris lebt, und seinem Freund Georges, der in der Herkunftsstadt Caen lebt. Zu dem Briefwechsel gehören vier Briefe und zwar drei, die die Geschichte einleiten („I Edmond à Georges.“, „II Georges à Edmond.“ und „III Edmond à Georges.“) und einer, der den Roman abschließt („Georges à Edmond“). Edmond deutet an, das reale Vorbild des Protagonisten des biographischen Romans zu sein, den er im zweiten Brief seinem Freund Georges übermittelt: „lis cette histoire que j’ai rédigée pour toi; je te laisse libre de croire que c’est la mienne.“737
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Ü.: „Lies diese Geschichte, die ich für dich geschrieben habe; ich stelle dir frei, zu glauben, dass es meine ist.“ Ebd., S. 17.
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Die Briefe bilden einen Metadiskurs zur fiktionalisierten autobiographischen Erzählung im Mittelteil. Beide Autoren setzen sich in den Briefen inhaltlich mit Haltungen zur Kunst und mit autonomer Kunstproduktion auseinander. Überdies geht es um die Faszination für das Literatendasein und dessen Realität in Paris. Fraglich ist vor allem, wie man beides literarisch oder medial vermittelt. Georges hat die Rolle des mahnenden, zurückgelassenen Freundes, wobei er keine naive Variante des kleinbürgerlich argumentierenden Provinzlers darstellt, sondern einen ernstzunehmenden Gegenpol, der sich gedanklich mit Kunst und ihrer Ausübung beschäftigt. Der Dialog befasst sich damit, wie autobiographische Bohèmeliteratur entsteht. Zum einen entstehen Texte und Selbstdarstellungen nah am Medienbetrieb. Zum anderen prägen bekannte Bohèmeerzählungen wie Murgers und Balzacs die Vorstellung und dienen den Dialogpartnern als Referenz. Anfangs greift Edmond, um dem Freund seine Lebenssituation zu beschreiben, auf den bekannten Stoff von Murgers Vie de bohème zurück: „Tu as lu, comme tout le monde, le roman d’Henry Mürger, – La vie de Bohême […] Tu n’as vu dans ce livre que le côté drôle, – mais le côté dramatique? – J’ai pleuré moi, en le lisant.“738 Edmond behauptet, dass sein Gegenüber in der Fremde den Ernst der Lage der Bohème nicht erkenne. Weinen und Lachen, Unterhaltung und Dramatik werden als die beiden möglichen Wirkungen der Erzählungen aufgefasst. Immer wieder positionieren sich die Vertreter und Kritiker der Bohème zu den beiden Repräsentationsformen Tragik und Ernsthaftigkeit versus Unterhaltung und Komik. Wie die beiden Männer sich auseinandersetzen, zeugt davon, dass der Wissens- gegen den Erfahrungsschatz steht. Während der eine etwas Erlebtes mitteilt, meint der andere mit analytischer Distanz dieses bereits zur Genüge zu kennen, beziehungsweise darin eine altbekannte Repräsen-
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Ü.: „Du hast wie jeder den Roman von Henry Mürger gelesen – La vie de Bohême […] Du hast in diesem Buch nur die lustige Seite gesehen, aber die dramatische? Ich habe geweint, als ich es gelesen habe.“ Ebd., S. 5.
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tation zu erkennen. Georges, der die Erfahrungsberichte aus dem Pariser Leben liest, äußert sich wiederholt auf der metakommunikativen Ebene. Er beurteilt die Aussageweise und den Stil des Gegenübers, kritisiert sie teils als unauthentisch. Beispielsweise unterstellt Georges seinem Freund, dass einer der Brief und damit eine persönliche, vertrauliche Mitteilung einem Leitartikel gleiche. Auf der anderen Seite warnt der Paris-Erfahrene Edmond den Freund Georges, ihm nicht nach Paris zu folgen, da die Stadt voller Amoral und Missstände sei: „Tu y trouverais de la boue partout, sur les pavés, sur les vêtements – et sur les consciences“739. Georges hat verschiedene Funktionen. Er ist Dialogpartner, Lektor, aber auch Kritiker und Ratgeber, wenn er den leidenden Schriftsteller beispielsweise an einer Stelle auffordert, wieder heimzukehren: „Viens t’y réfugier; oublie et laisse-toi oublier.“740 Sein letzter Brief enthält eine kritische Rezension der autobiographischen Binnenerzählung. Georgesʼ Rezeption ist sehr kritisch, was mit der enttäuschten Erwartungshaltung zu tun hat, die Edmond durch seine emotionalen und emphatischen Briefe heraufbeschworen habe. Der Freund kritisiert den Roman zum einen auf repräsentativer Ebene (wie wird die Bohème dargestellt), aber auch inhaltlich (was erfährt man). Er hatte erwartet, etwas Neues zu erfahren und in „mœurs mystérieuses“741 eingeweiht zu werden. Außerdem wolle er sehen, dass die Figuren gegen Hunger und Elend ankämpften, dahingegen sehe er erfolglose, verkrachte Existenzen, die in Brasserien und in schlechten Zeitschriften zu Hause seien, sich betränken und andere verleumdeten. Der Freund in der Provinz wirkt stellenweise fast überheblich in seiner Überzeugung, die Geschichten bereits zu kennen und zwar besser als der, der sie erlebt hat, insofern als er vom Ende her an Auswege und Alternativen denkt. Als Maßstab der ideologischen Kritik dienen ihm bekannte 739
740 741
Ü.: „Du fändest überall Schlamm, auf dem Pflaster, auf den Klamotten – und auf den Gewissen“. Ebd., S. 7. Ü.: „Komm fliehen; vergiss und lass dich vergessen.“ Ebd., S. 249. Ü.: „mysteriöse Sitten“. Ebd., S. 244.
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5 Das Herz der Metropole im Visier: Le Boulevard (1861‒1863)
Romane über das Schriftstellerleben von Balzac und Murger. Den vorliegenden Roman nennt er dagegen ein Pamphlet. Edmond habe versucht, ein Gegenstück zu Murgers la Vie de Bohême [im Roman so, N.P.] zu konzipieren sowie ein schlechtes Imitat von Balzacs „Un grand Homme de Province à Paris“ [ebenso, N.P.] vorzulegen. Bis zu den Figuren habe sich Edmond an Balzac orientiert und dabei eine schlechte Kopie hergestellt: „Compare Daniel à Lucien de Rubempré, Brémont à Lousteau, Claudine à Coralie, Jacques à d’Arthez“742. Und er rügt weiter: „Quand on a l’audace d’imiter Balzac, il faut l’imiter de plus loin et avec plus de respect.“743 Kritisch beurteilt er das Epigonenhafte, da der Autor auf vorhandene Erzählungen und Handlungsmuster zurückgreife. Was der Roman besonders zuspitzt, ist die Ohnmacht der Neulinge. Impuissance ist eine klischeebehaftete Zuschreibung für diejenigen der nachromantischen Generation, die es in ihrer Karriere zu keiner literarischen Anerkennung und Wirkung bringen, die sich in unbedeutenden Medien verdingen oder gar unproduktiv sind. „Impuissant“ ist durchaus eine Bezeichnung für Autoren, die wenig Erfolg haben. Der Streit der beiden Freunde setzt die fiktionale, aber aus dem eigenen Leben inspirierte Literatur der pathetischen Repräsentationskritik aus. Wo reale Bezüge präsentiert und faktuale Referenzen eingespeist werden, treten die Autoren unweigerlich in eine Diskussion mit anderen Beteiligten ein. Auch das Publikum dieses Romans hat bereits einen Erwartungshorizont – es ist durch die Literatur mit dem Bohèmeleben vertraut. Wie sich subjektives Erleben und kulturelle Deutung in Form von Texten und Bildern, die bereits zirkulieren, verbinden lassen, ist das Streitthema im Briefwechsel. Desdemaines konfrontiert die Erfahrung, die zu keinem besseren Wissen führt, mit der Skepsis gegenüber der Erlebnisdarstellung. Skeptisch ist der Betrachter, der Freund und Lektor deshalb, weil er die Geschichte be742
743
Ü.: „Vergleiche Daniel mit Lucien de Rubempré, Brémont mit Lousteau, Claudine mit Coralie, Jacques mit d’Arthez“. Ebd., S. 248. Ü.: „Wenn man so kühn ist, Balzac nachzuahmen, muss man ihn etwas entfernter und mit mehr Respekt imitieren.“ Ebd., S. 249.
5.5 Märtyrer und Machtlose: Neue Romane zur alten Bohème
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reits als eine zum Mythos gewordene Erzählung kennt. Interessanterweise ist der Freund aus der Provinz letztlich derjenige, dessen Meinung den veröffentlichten Text entschieden prägt. Er schlägt seinem Freund Edmond vor, den Roman „Les Impuissants, – par un impuissant“ 744 zu nennen, anstatt Les Déceptions, wie es der Verfasser vorgesehen hatte. Mit diesem Vorschlag endet der Roman. Der Autor ist tatsächlich dem Rat, den sein fiktives Alter Ego Edmond erhalten hat, gefolgt. Schließlich trägt der Roman den Titel Les Impuissants. Während „Die Enttäuschungen“ das persönliche Erleben in den Mittelpunkt rückt und das Geschehen individualisiert, lenkt der Kollektivplural die „Machtlosen“, „Ohnmächtigen“, „Wirkungslosen“ den Blick auf einen Systemaspekt hin. Der Akt der Titelgebung hat also eine sowohl innerhalb als auch außerhalb der Erzählung liegende Bedeutung und drückt damit ein Urteil über die Protagonisten aus.
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Ü.: „Die Machtlosen – von einem Machtlosen“. Desdemaines (1867): Les Impuissants, S. 250.
6 Fazit und Ausblick Am Ende der Arbeit steht ein Roman, der sich mittels eines Beobachters kritisch damit befasst, wie die zweite Pariser Bohème lebt, wie sie wirkt und wie sie sich in Geschichten, Briefen und Zeitungen inszeniert. Der Text enthält vieles von dem, was in der zweiten Bohèmegeneration wichtig ist. Da ist in erster Linie die Notwendigkeit, sich an den Medien zu beteiligen sowie die (erneute) Sozialisation, die die jungen Männer innerhalb der Bohème erfahren, durch die sie eine Haltung zu den Fährnissen der Medien und Öffentlichkeit entwickeln. Während die Widrigkeiten dieses bohemischen Lebens wie Armut, Hunger, Krankheit, Ausgrenzung und Misserfolg altbekannt sind, machen alle hier behandelten Romane darüber hinaus deutlich, dass die Medienaktivitäten der Bohème wie diejenigen der Hauptfigur in Desdemainesʼ Roman in einem sozialen Kontext stehen, der durch verschiedene Einflussbereiche und Kreise so geformt ist, dass er die Positionssuche des Individuums verkompliziert. Hinzu kommt, dass die literarischen Erzählungen der Bohème insbesondere die populären Darstellungen der Pressebohème wie Honoré de Balzacs Illusions perdues (1837–1843) und Henry Murgers Scènes de la vie de bohème (1845–1849) für die Selbstverortung der jungen Literaten eine immens wichtige Rolle spielen. Dies gilt für den gesamten betrachteten Zeitraum, weil sich Erzählungen zur literarischen Bohème von den 1840ern bis in die 1860er Jahre nämlich sehr oft auf diese beiden Texte beziehen. Alle in dieser Arbeit analysierten Bohèmeromane und zwar Champfleurys Les Aventures de Mlle Mariette, Charles Monselets Monsieur de Cupidon und Émile Desdemaines Les Impuissants wurden im Zusammenhang mit einem zeitgenössischen Zeitschriftenprojekt betrachtet, mit dem sie entweder inhaltlich oder durch ihre Publikationsgeschichte verbunden sind. Die ausgewählten Romane sind (in Deutschland) kaum bekannt, da sie alle drei bislang nicht übersetzt wurden. Die Analyse bietet daher zu-
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8_7
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6 Fazit und Ausblick
nächst einmal Einblick in unbekanntes Quellenmaterial. Das gilt noch stärker für die Zeitschriftenanalyse, da diese Texte bis vor ein paar Jahren allgemein und über Frankreich hinaus größtenteils schwer zugänglich, geschweige denn übersetzt waren. Erst das steigende Interesse an der Presseforschung mit systematischen und grundlegenden Arbeiten sowie die sukzessive Digitalisierung haben die Grundlage für die Erforschung der Medienbohème gelegt. Noch viel wichtiger ist aber, dass die Zusammenführung von Zeitschriften und Romanen auch für die Fragestellung der Arbeit einen Erkenntnisgewinn bietet. Dieser liegt darin, dass die Zeitschriften, ihre Gestaltungsweisen und Genres beispielsweise erhellen können, worauf sich medienkritische Stimmen beziehen, wenn sie die boulevardesken Praktiken wie den haltlosen Verriss, die erfundenen Klatschgeschichten oder die Offenlegung intimer Äußerungen kritisieren oder wenn sie von ersten Erfolgen eines Literaten in der Öffentlichkeit erzählen, der Vorliebe für mots, réclame oder faits divers. In Romanen führen diese oft dazu, dass sowohl Protagonisten als auch die Medien abgewertet werden und sich somit wenige Zwischentöne in Bezug auf die Medienpraxis zeigen. Umgekehrt bieten die Romananalysen für die Einordnung der Zeitschriften einen Mehrwert. Sie (re)konstruieren als Gesellschaftsromane, denen zumeist Entwicklungsgeschichten zugrundeliegen, das soziale Geflecht der Bohème umfangreicher als viele Genres in der petite presse wie Anekdoten oder Fortsetzungsromane im episodischen Stil der Scènes de la vie de bohème. Im Wechselspiel mit jenen machen sie durch ihre Kohärenz stiftenden Geschichten auf die Brüche und die Leerstellen innerhalb der sprunghaften, nicht chronologischen Erzählungen aufmerksam. Die analysierten Romane offenbaren zum Beispiel entscheidende Handlungsmotive wie die Suche nach einem alternativen Leben oder dem Eintritt ins Feld sowie Karriereentscheidungen und machen diese als Wendepunkte sichtbar. Das gilt angesichts der Vielstimmigkeit auch dann noch, wenn die Erzählhaltung stark wertend ist und Pessimismus oder Skepsis gegenüber den jungen Protagonisten verbreitet. Beide Genres tragen also
6 Fazit und Ausblick
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durch ihre jeweiligen Darstellungsformen und -konventionen dazu bei, der Bohème als sozialem Milieu mit dessen Wertekonflikten zu medialer Anerkennung zu verhelfen. Zeitungen und Zeitschriften machen besonders durch ihre Wiederholung von Themen und das dialogische Netz, das Marie-Ève Thérenty beschrieben hat, die Bohème zu einer festen Größe der Großstadtkultur Mitte des 19. Jahrhunderts. Zeitschriften sind anders als Romane unter anderem durch Anonymität sowie (vermeintliche) Kurzfristigkeit ihrer Wirkung und durch die Vielzahl an Stimmen experimentierfreudiger angelegt. Anhand von frechen Postulaten, kühnen Behauptungen, sporadischen Äußerungen, neugierig machenden Zuschreibungen und Wertungen oder auch (selbst)ironischen Gedanken prägen die Periodika bestimmte Vorstellungen der marginalen, kreativen Produzentenmilieus. Über sie sucht und erlangt die Bohème ihre Position im alltäglichen urbanen Kontext ihrer Zeit. Einschränkend ist zu sagen, dass die analysierten Quellen alle schriftlich sind. Auch wenn sie, wie Anekdoten und Neuigkeiten, eng an die mündliche Sphäre angeschlossen sind, sie vermeintlich Gehörtes und Gesagtes weitertragen, geben sie nie einen unverstellen Einblick in die historische Wirklichkeit vor dem Text. Diese Schwierigkeit lässt sich insbesondere am Status der Anekdoten festmachen. Als Gattung beziehen sie sich eigentlich auf eine wahre Begebenheit und legen Faktizität nahe.745 Gerade in der Presse des 19. Jahrhunderts tritt aber auch die begriffs- und gattungsgeschichtliche Verbindung der Anekdote mit Indiskretion und Sensation hervor.746 Teilweise dient sie, wie in ihrer spezifischen Form als nouvelle à la main dazu, Charakteristisches zuzuspitzen. Anekdoten dienen sowohl der Popularisierung als auch der kritischen Reflexion oder dem Moralisieren.
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Sie erzählen eine „wahre, noch unbekannte, merkwürdige Begebenheit“. Dieter Lamping (Hg.) (2009): Handbuch der literarischen Gattungen. In Zusammenarbeit mit Sandra Poppe. Stuttgart: Kröner, S. 12‒16, hier S. 15. Im französischen Ancien Régime sind das Indiskretionen und Neuigkeiten vom Hofe.
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6 Fazit und Ausblick
Die Tatsache, dass man auf die historische Bohème nicht zugreifen kann, ohne ihre Anekdoten und den Klatsch einzubeziehen (oder ihn mitunter sogar zur Erkenntnisgrundlage zu machen), stellt eine Herausforderung für die aktuelle Forschung dar. Während sich manche Arbeiten recht unbedarft an dem unterhaltenden Potenzial der Bohème freuen und sich gerade auf dieses Merkmal konzentrieren747, ist die anekdotische Qualität vieler Texte aus dem ‚Memoirenschatz‘ ein auch durchaus mit Skepsis betrachteter Aspekt. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Zentrum der Forschung das Interesse an dem realen, alltäglichen Leben der historischen Bohème steht, da die Betrachtungen und Erinnerungen der Bohemiens gespickt mit Legenden sind und mythischen Charakter haben. Kurzum: Einwände gegenüber der distanzlosen Faszination und unreflektierten Reproduktion ihrer Mythen prägen Teile der Bohèmeforschung.748 Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sowohl Zeitschriften als auch Bücher, sowohl Anekdoten als auch Romane dazu beitragen, den Mikrokosmos Bohème als gesellschaftliches Milieu und als Medienproduzenten zu manifestieren. Gerade die Quellenanalyse über Medien- und Genregrenzen hinweg macht eine inhaltliche Gemeinsamkeit sichtbar. In Zeitschriften wie dem Corsaire-Satan oder Romanen wie Les Impuissants erscheint eine medienreflektierte Bohème, die Mythen erzeugt und gleichsam mythenkritisch öffentlichkeitswirksame Darstellungen wie Murgers und Barrières Vie de bohème (also das breit rezipierte Bühnenstück) hinterfragt. Alles in allem kommt die Bohème nicht ohne diese verbindende, Identifi-
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„And so I made my own voyage into Bohemia. I am not an academic, but a researcher. I make no apology for my fascination with the laundry-list view of history.“ Siehe zum Beispiel Virginia Nicholson (2003): Among the Bohemians. Experiments in Living 1900–1939. London: Penguin, S. XVI. Elizabeth Wilson (1999) sieht die Forschenden teils die Nostalgie der Bohème reproduzieren: „The Bohemianization of Mass Culture“. In: International Journal of Cultural Studies, Bd. 2, Nr. 1, S. 11–32, hier S. 14. Georg Stanitzek beobachtet mitunter „monumentalisierende Tendenzen“ der Forschung, die „bohemischen Selbstdarstellungs- und Rechtfertigungsgesten“ folgen (2015): „Die Bohème als Bildungsmilieu“, S. 82.
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kation stiftende oder Reibungsfläche bietende Repräsentation aus. Viele bildliche und textuelle Selbstinszenierungen und -entwürfe, die moralische und ästhetische Widersprüche aufzeigen, setzen wirkmächtige Mythen des Dichters wie das Schaffen in der Mansarde und das abgeschiedene, im intimen Kreis stattfindende Arbeiten fort, aber es gehen in der Jahrhundertmitte auch neue Figuren, die sich im Zuge einer sich wandelnden Medienpraxis entwickeln, wie der boulevardier, in sie ein. Dass die Medienpraxis etwas ist, das die zweite Bohème stark bewegt, zeigt der schlaglichtartige Blick auf die beiden Jahrzehnte zwischen Mitte der 1840er bis Anfang der 1860er Jahre. Das breite Korpus von Printmedien einerseits und die Einzeltitel andererseits erlauben konkrete Einblicke in die Medienaktivitäten der Autoren und Künstler der zweiten Pariser Bohème. Sowohl Produzenten als auch Titel sind institutionell sowie medial verflochten. Angesichts des diskursiven Geflechts, das die kleinen Zeitschriften und Zeitungen durch wechselseitige Beobachtung knüpfen, tritt ein symbolisches Netzwerk zutage. Darüber hinaus zeigen sich auf längere Sicht erstaunliche Konstanten, die noch einmal mehr verdeutlichen, wie wichtig die Zeitschriften für die Literatur im 19. Jahrhundert sind. Man denke an die in Kapitel vier vorgestellte Reihe zwar kurzlebiger, aber immerhin stets aufeinanderfolgender Zeitschriftenprojekte von Sans le Sou, La Mansarde beziehungsweise L’Appel, Triboulet, Diogène, Rabelais und Le Boulevard, dessen Publikum wiederum dem Nain jaune überantwortet wird. Zwar haben die kurzlebigen Titel sehr oft Projektcharakter, doch arbeiten manche Freundeskreise oder Gruppen mehr oder minder konstant an verschiedenen Zeitschriften über Jahre zusammen. Was die Mitwirkung an petits journaux überhaupt angeht, die man übrigens auch in den Autorenbiographien verfolgen kann, herrscht bei manchen Autoren erstaunliche Kontinuität. Das gilt namentlich für Théodore de Banville, der in dieser Arbeit ein wenig kurz gekommen ist, aber ein gutes Beispiel dafür ist, wie sich Reputation als Dichter und Kanonisie-
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rung und eine ausdauernde sowie vielfältige Mitwirkung an unterschiedlichsten Periodika nicht ausschließen. Was die Gestalt(ung) der Zeitungen angeht, konnte gezeigt werden, dass es bestimmte Unterscheidungsmerkmale gibt, die ein petit journal von einer Tageszeitung schon auf den ersten Blick abheben. Wichtig für die Legitimationsbestrebungen der Medienakteure im literarischen Feld ist zudem, dass sie das Medienformat selbst einschließen. So sprechen sich Journalisten und Redaktionen statt der offiziellen Kategorisierung ihrer Titel als „nicht-politische“ Organe immer wieder dafür aus, die feldeigene, also literarische und ästhetische Dimension der Zeitschriften stärker zu betonen. Da die Zeitungen sehr vielfältig sind und die Medienlandschaft sich wandelt, werden publizistische Kategorien (wie Zeitung, Zeitschrift und andere) noch durchaus variabel eingesetzt. Trotz ihrer Vielfalt zeichnet die petite presse Mitte des 19. Jahrhunderts ein gattungs- oder genrebezogenes Traditionsbewusstsein aus, da Titel und Motive wiederholt genutzt werden oder auf Vorgänger und Wurzeln der beliebten Textsorten hingewiesen wird. Wider die feldtheoretische Verortung zeugen die petits journaux oder petites revues von einer großen Durchlässigkeit zwischen den Formaten der high und low culture. Sie reflektieren die Vielgestaltigkeit ihrer Formen und Inhalte und befassen sich nicht unkritisch, oft mit Ironie und formulierten Paradoxa mit derlei Widersprüchen. Ein Effekt ihrer modernité ist auch, dass sie den Status der eigenen Produktion als flüchtige in dokumentarischen und historisierenden Formen innerhalb und außerhalb von Zeitungen begleitend betrachtet. Dadurch, dass in der vorliegenden Arbeit mehrere Zeitschriften chronologisch betrachtet und damit eine Auswahl aus mehreren Jahrzehnten getroffen wurde, konnten bestimmte Konstanten sowie Veränderungen gezeigt werden. Eine richtet sich auf die Mediengestaltung selbst. Auch wenn nicht alle Aspekte eigens berücksichtigt werden konnten, so zeigt sich exemplarisch an einem Aspekt wie der Autornennung in den Sammelrubriken, dass sich mit den Zeitschriften auch populäre Formen eta-
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blieren und Anerkennung im literarischen Feld erhalten können. Während Murgers nouvelles à la main (und ähnliche Kurztexte), die er für den Corsaire-Satan in den 1840er Jahren schreibt, noch anonym in einer Sammelrubrik mehrerer Verfasser erscheinen, so wird aus den „nouvelles à la main“ schon im Figaro eine Rubrik, die unter anderem der Chefredakteur selbst bedient, während es noch später in Le Boulevard gleich mehrere Autorkolumnen dieser Art gibt, die Autoren wie Charles Monselet, Adrien Marx oder Étienne Carjat unterzeichnen. Medienkritik gehört zur Medienpraxis im 19. Jahrhundert und genuin zur Bohème. Bohemische Medienkritik ist keine, die auf die von Bourdieu skizzierten Pole von symbolischen oder kommerziellen Einflüssen beschränkt ist. Stattdessen lotet sie aus, was legitime Produktion in den Medien sein kann. Zwar richtet sie sich auch auf altbekannte Mechanismen wie die Ablehnung der käuflichen und schnellen Produktion, aber sie ist besonders dann entscheidend für die Bohème, wenn diese mit anderen, gemeinschaftlichen Interessen oder der Ethik des Milieus kollidieren. Reklame beispielsweise kann durchaus akzeptiert sein, wenn sie der richtigen Sache dient. Was die Positionierung zu Mechanismen und Formen des Mainstreams wie Reklame, Vetternwirtschaft oder Unterhaltung sowie die Kritik daran angeht, ist der Vergleich zweier Beispiele hilfreich. Während sich die Jugend in L’Appel von 1855 gegen die Aufschlüsse auflehnt und mit dem Versuch der Fairness, der Objektivität und der Rigidität an die Grenzen des Dogmas und der Langeweile stößt, sieht man in Le Boulevard, der ohnehin sehr breit mit kanonisierten und neuen Autoren auftritt, dass dort Selbstironie, Flexibilität und Problembewusstsein herrschen und die Bohème selbstverständlich integriert ist. Was das Beispiel noch einmal deutlich macht, ist, dass die Widersprüche zu for-mulieren und vorzuführen nicht nur ein vordergründiges Wirkungs-, sondern ein Handlungsmuster der Bohème darstellt.749 749
Zu den Ambivalenzen der Bohème aus einer kulturtheoretischen Perspektive siehe Christine Magerski (2015): Gelebte Ambivalenz.
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Betrachtet man die hier vorgestellten Zeitschriften vom Corsaire-Satan bis zum Boulevard als Wirkungsstätten der Bohème, so bieten sie den jeweils darin repräsentierten Milieus die Möglichkeit, sich literarisch, künstlerisch und kreativ in einem gemeinschaftlichen Projekt einzubringen sowie ihren Anliegen und Interessen Ausdruck zu verleihen. Ihre Publikationen sind für die Bohème als ‚Soziotop‘ prägend. Sich auf den Markt zu begeben, bringt abgesehen von dem Konfliktpotenzial auch relevante Erfahrungen mit sich, aus denen sich Wissen schöpft. Die Bohème tritt somit als Raum der Sozialisation hervor, wo Werte für die Herausforderungen auf dem literarischen Markt und in der medialen Öffentlichkeit ausgehandelt werden. Sie bietet den Beteiligten Knowhow, aber auch emotionale Stabilität sowie Gedankenaustausch, eine „communauté d’idées“750. Gemeinschaft und Pluralität sind aber keineswegs der alternative, unproblematische Pol im Autoren- und Künstlerleben. Was das Spannungsfeld aus individuellen und gemeinschaftlichen Arbeiten in und für die Medien angeht, könnten sich durchaus noch Forschungen anschließen.751 Eingangs wurde auf die Historizität der Bohème hingewiesen. Dadurch, dass manche Autoren im Corsaire-Satan ihre Karriere starten und dass Le Boulevard das Ende des Lebens von Murger aufgreift, wird auch eine Entwicklung innerhalb einer Künstlergeneration anhand ihrer Medien sichtbar. Auch für die Bohème sind bestimmte Zäsuren und Momente im Leben wichtig, wie es am Beispiel des Debüts oder der Suche nach einem Netzwerk gezeigt wurde. Mittels der chronologischen Perspektive wurde auch herausgearbeitet, wie sich die Bohèmegeneration selbst historisiert und im selben Zuge eine persönliche sowie kulturelle Dimension der Bohème einbezieht. Während anfangs die Debütanten im Vordergrund ste750 751
Décembre-Alonnier (1862): La Bohême littéraire, S. 86. Medienkritik richtet sich nämlich wie beispielsweise in Kapitel vier angesprochen wurde auch auf die Beschränkungen, die Zeitungen mit ihrem Rhythmus, ihrem Raum und den Wirkungsmöglichkeiten des Einzelnen angesichts der Pluralität der Stimmen praktisch für die Autoren haben.
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hen, zeigt sich durch den Tod Murgers, der übrigens nicht die einzige jung verstorbene Person in dem Kreis ist, dass die Bohème einen Anfang und ein Ende hat. Und, dass auch die zweite Bohème wie andere ihr Ende findet. Doch das Ende der zweiten Bohème bedeutet nicht notwendigerweise das Ende der Fragen, die sie bewegt haben. Wie handelt man angesichts der Öffentlichkeit, die man braucht und die man sucht, wenn man selbst und das Umfeld ein interessantes ist, in dem Skandal oder Sensation für das Publikum nicht abwegig sind? Diese Frage stellen sich auch spätere Bohèmegenerationen wie die schon weitgehender erforschte französische des Fin de Siècle und der Jahrhundertwende. Aber auch in der deutschen Berliner und Münchner Bohème sind Anknüpfungspunkte zu sehen, was die Grenzverhandlungen von zulässiger und unzulässiger, achtenswerter oder amoralischer Äußerung und Mitwirkung in und gegenüber den Medien angeht, wie man bei Erich Mühsam, Franziska zu Reventlow oder sogar in Otto Julius Bierbaums Roman Stilpe verfolgen kann. In einer Arbeit wie dieser, die Grundlagen darstellt und viel Übersetzungsarbeit leistet, können manch interessante Aspekte nicht vertieft werden. Aller Voraussicht nach wird das Forschungsfeld der französischen Presse im 19. Jahrhundert auch über Frankreich hinaus bald noch intensiver erforscht. Jede Forscherin und jeder Forscher ist angesichts der Masse an Periodika vor allem gefordert, eine Auswahl zu treffen und sich zu beschränken. In Deutschland und der Romanistik hat die vergleichende, historische, deutsch-französische Bohèmeforschung nach dem Ende des Projekts zu „Boulevard, Bohème und Jugendkultur“ leider an Zugkraft verloren. Gerade wegen der Bohèmediskussion, die ab 2000 medial angesichts zeitgenössischer Bohèmephänomene und den Diskussionen um Kreativität und Prekariat wieder aufgeflammt ist, sind historische Bohèmekreise als Folie interessant geworden. Sie sind es aber auch für sich in ihrem Kontext.
Bibliographie Bis auf folgende Ausnahmen sind die zitierten und ausgewerteten Zeitungen/Zeitschriften und einzelne Artikel, wenn nicht anders angegeben, via Gallica, das Digitalisierungsprojekt der Französischen Nationalbibliothek zugänglich (Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France): Le Boulevard, journal littéraire illustré, 1861–1863: Faksimile in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Le Corsaire-Satan vom 7. September 1844 bis 11. März 1847 als Mikrorollfilm in Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung Bibliothek. Gallica stellt ebenfalls (weitere) Jahrgänge des Corsaire(-Satan) bereit. Titelseiten der Zeitschrift Le Sans le Sou sowie weitere Digitalisate der petite presse finden sich auf der Seite des Projekts Médias19. URL: http://petitepresse.medias19.org/. Zeitschriften (chronologisch) Le Corsaire-Satan 1844‒1847 Figaro 1854‒1855 L’Appel 1855 Le Boulevard 1861‒1863 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel im Einzelnen Anonym: „Année 1846“. In: Le Corsaire-Satan vom 1. Januar 1846, S. 1f. Arnould, Constant: „Notre raison d’être“. In: La Mansarde vom 24. Februar 1856, o.S. Asselineau, Charles: „Les boulevards de Paris“. In: Le Boulevard, Numéro spécimen vom 1. Dezember 1861, S. 6. Audebrand, Philibert: „La grande bohême“. In: Figaro vom 26. Juli 1859, S. 2‒4. Audiffred, Alfred: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis“. In: L’Appel, Nr. 46 vom 30. September 1855, S. 1–3. Audiffred, Alfred: „Feuilleton de l’Appel. La Folle du logis. Suite“. In: L’Appel, Nr. 47 vom 7. Oktober 1855, S. 1–3. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 N. Pöppel, Die Pariser Bohème in der petite presse, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05748-8
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