Die Ordnung Der Stadt: Raum Und Gesellschaft in Montreal 1880 Bis 1930 (Industrielle Welt, 79) (German Edition) 9783412205683, 3412205680


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Die Ordnung Der Stadt: Raum Und Gesellschaft in Montreal 1880 Bis 1930 (Industrielle Welt, 79) (German Edition)
 9783412205683, 3412205680

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Die Ordnung der Stadt

Industrielle Welt Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Andreas Eckert und Joachim Rückert Band 79

Nadine Klopfer Die Ordnung der Stadt

Nadine Klopfer

Die Ordnung der Stadt Raum und Gesellschaft in Montreal (1880 bis 1930)

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Umschlagabbildung: William Notman & Son, The Lookout, Mount Royal Park, Montreal, QC, 1916. Notman Photographic Archives, McCord Museum, Montreal, VIEW 16203.

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20568-3

Meinen Eltern

The mountain is the glory of Montréal. It gives to the city its distinctiveness and uniqueness. (G. S. Mooney 1939)

Voir la montagne et l’aimer. (Auguste Bourbeau 1892)

Thus, struggles, of whatever scale and focus, are always at some level struggles over the use and meaning of space and time. (Allan Pred 1990)

Montreal is a striking exception to the text that a house divided against itself cannot stand. [...] The two irreconcilable elements are Romanism and Protestantism: the armies are of French and English blood. [...] Nevertheless, this city of disunion flourishes as the green bay-tree, with a steady if not amazing growth, which is due chiefly to the separate, not the united, efforts of the races. (C. H. Farnham 1889)

Vorwort All die Jahre der Archivarbeit, des Grübelns und des Schreibens wären nicht zu bewältigen gewesen ohne diejenigen, die den Weg von der ersten Idee bis hin zum Buch begleitet haben. An erster Stelle möchte ich den Gutachtern meiner Dissertation, Michael Hochgeschwender und Elisabeth Kieven, sowie dem ursprünglichen Betreuer Udo Sautter danken. Seit dem legendären ‚Mondschein und Magnolien’-Seminar im Sommer 1998 hat sich Michael immer und immer wieder Zeit genommen, mit mir zu diskutieren; er hat all die Jahre die Geduld aufgebracht, meinen Gedankensprüngen zu folgen und auch zum x-ten Mal Sinn und Zweck symmetrischer Gliederungen zu diskutieren. Und nach jedem Gespräch bin ich mit Elan, neuen Ideen, vielen weiteren Literaturhinweisen und ein paar Knoten weniger im Gehirn zurück an die Arbeit gegangen. Danke für diese ausgezeichnete Betreuung! Dass sich mein Elan in Richtung Kanada wenden würde, ist allerdings Udo Sautter zu verdanken. Mit großem Engagement und der typischen Prise trockenen Humors hat er mich jahrelang gefordert und gefördert. Elisabeth Kieven bin ich sehr dankbar, dass sie die Zweitkorrektur dieser Arbeit übernommen hat. Dass mein Herz nach wie vor für die Architekturgeschichte schlägt, ist ihre Schuld. Hubertus Kohle und Christof Mauch sei herzlich dafür gedankt, dass sie als Prüfer in der Disputatio zur Verfügung standen. Ursula Prutsch hat sich freundlicherweise sehr kurzfristig bereit erklärt, ein drittes Gutachten zu schreiben. Ohne das Stipendium der Studienstifung des Deutschen Volkes hätte diese Arbeit nie realisiert werden können. Die Stiftung für Kanada-Studien ermöglichte mir ausgedehnte Archivreisen nach Montreal. Vittorio Magnago Lampugnani und Matthias Noell haben mir durch die Aufnahme als assoziiertes Mitglied ins Graduiertenkolleg „Stadtformen: Bedingungen und Folgen“ am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und des Städtebaus der ETH Zürich den kontinuierlichen Austausch mit Architekturhistorikern ermöglicht. In Montreal bin ich in erster Linie den Archivaren verpflichtet, die sich durch mein zunächst vages Anliegen nicht aus der Fassung bringen ließen. Lucie Pelletier und Gilles Lafontaine haben mir in den Archives de la Ville de Montréal unermüdlich Box um Box, Mikrofilm um Mikrofilm herausgesucht. Mary Houde und Gordon Burr, der mir Zutritt zum eher unzugänglichen Archiv des Royal Victoria Hospital verschafft hat, waren wichtige Ansprechpartner in den McGill University Archives. Ebenso hilfreich war Monique Voyer vom Archiv der Université de Montréal. Paul-André Linteau, Meister der Montrealer Geschichte, hat mir nicht nur als stagiaire de recherche an der Université du Québec à Montréal Zugang zu Bibliotheken verschafft, sondern auch eine unvergessliche persönliche Führung durch den Stadtteil Maisonneuve gegeben.

X

Vorwort

Was aber wären meine Montrealreisen ohne die Freunde dort geworden? Céline Trémeau, Catherine Hinault, Catherine Davis Desneiges, vor allem aber Stefania Miglio und ihre Crew italienischer Physiker haben dafür gesorgt, dass die Archivaufenthalte nicht allzu kommunikationsarm wurden und ich das Montrealer (Nacht-) leben kennenlernen durfte. Zurück in München erhielt ich von Christof Mauch die Chance, am AmerikaInstitut tätig zu sein. Christof sei auch für seine Ermutigungen gedankt, eher früher als später abzugeben. Die Idee, das ursprüngliche Thema zu halbieren, ging allerdings auf Werner Tietz zurück – der auch sonst bei zahlreichen Cappucini immer Geduld für Nordamerika-Fragen aufgebracht hat. Mindestens ebenso geduldig war Sonja Teine, die als Bürogenossin die Endphase des Schreibens hautnah miterlebte musste. Ein großes Dankeschön geht an alle, die das Manuskript in den unterschiedlichen Phasen korrekturgelesen haben. Ralf Behrwald, Melanie Heinle, Jens-Uwe Krause, Agnes Luk, Matthias Mehling, Werner Tietz, Martin Zimmermann sowie meine Eltern haben dazu beigetragen, möglichst viele Fehler zu tilgen und Unklarheiten zu beseitigen. Thomas Zimmermann war bei der Bildbearbeitung eine große Hilfe. Ulla Lehmkuhl und Andreas Etges danke ich für das Verständnis, das sie aufbrachten, als ich kurz nach Abgabe der Dissertation ziemlich urlaubsreif in Berlin am Kennedy-Institut eintraf. Die Berliner Semester werden mir nicht zuletzt aufgrund der Warmherzigkeit, mit der ich in der Abteilung Geschichte aufgenommen wurde, in schöner Erinnerung bleiben. Dass diese Arbeit 2008 den Dissertationspreis der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung und 2009 den Prix d’Excellence du Québec erhalten hat, war für mich der krönende Abschluss des Ganzen. Merci an die GSU und die Vertretung der Regierung von Québec! Für sein Engagement bei der Publikation dieser Dissertation möchte ich Anselm Doering-Manteuffel danken, der meine Arbeit immer mit Interesse verfolgt hat und mir so manches Gutachten geschrieben hat. Nicht zuletzt ist die Diskussionskultur, aus der heraus mein Interesse an wissenschaftlicher Arbeit entstanden ist, der Atmosphäre ‚seines‘ Seminars für Zeitgeschichte in Tübingen zu verdanken. Lutz Raphael hat dieses Buch für die Reihe ‚Industrielle Welt‘ vorgeschlagen; ein großes Dankeschön auch an den Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, allen voran den Herausgebern der Reihe, Andreas Eckert und Joachim Rückert, die das Buch in ihre Reihe aufgenommen haben. Dorothee Rheker-Wunsch und Sandra Hartmann vom Boehlau-Verlag haben die Drucklegung kompetent betreut. Was ich Martin zu verdanken habe, sprengt den Rahmen eines Vorworts. Immer für mich da waren die ‚meilleurs parents du monde‘. Ihnen ist daher dieses Buch gewidmet. München, Mai 2010

Inhalt

Vorwort . ...................................................................................................................... IX Stadt, Raum, Berg: Eine Einleitung........................................................................ 1. 2. 3. 4.

1

Thema, Gegenstand, Fragestellung.......................................................................... 3 Theoretische Überlegungen...................................................................................... 12 Quellen und Forschungsstand.................................................................................. 33 Gliederung und These................................................................................................ 41

1. „Way back of the mountain“? Montrealer Territorien........................... 43 1.1 Der Mont Royal und die Montréalité de Montréal...................................... 1.1.1 Defining Montreal’s space: Ein Wahrzeichen................................... 1.1.2 Defining Montreal’s history: Der Gründungsmythos.................... 1.2 „Un site incomparable“: Der Berg als Park oder Universität.................... 1.2.1 „Le Mont-Lumière“: Katholische Zukunftsvisionen.................... 1.2.2 „The Unparalleled Glory of the Mountain Park“: Viktorianische Landschaften............................................................. 1.3 Imagined geographies am Mont Royal: Räumliche Differenzierungen... 1.3.1 Einzugsgebiete, Zentralität und Peripherie.................................... 1.3.2 Die Territorien des Mont Royal in der Lokalpolitik: Entscheidungen....................................................................................

43 52 60 64 64 86 119 119 134

2. „Rising grandly from the side of the mountain“: In anglo-protestantischem Gebiet............................................................... 142 2.1 2.2

„Without distinction of race or creed“: Das Royal Victoria Hospital als konsensfähige Institution am Mont Royal.............................................. 2.1.1 Gesellschaftliche Harmonie unter britischer Herrschaft............. 2.1.2 Ein gesunder Ort für arme Kranke: Pragmatische Politik........... 2.1.3 Das Schweigen der Parklobby............................................................ „A doubt has arisen“: Disharmonien............................................................. 2.2.1 „A menace to public health“: Experten........................................... 2.2.2 „Le but superbe, l’étroitesse de l’exécution“: Ungleichheiten........

146 146 157 169 172 172 180

XII

Inhalt

3. „Overlooking the great city“: Sehen und erinnern auf dem Berggipfel......................................................................................................... 197 3.1 Der Berggipfel als „skyline“ und „observatory“........................................... 3.2 „Extremely offensive“: Die Statue der Jungfrau Maria............................... 3.3 „The very essence of Montreal“: Das Kreuz.................................................. 3.3.1 Eine weiße, christliche Geschichte................................................... 3.3.2 „Une idée toute catholique“ oder: „Ce que l’Amérique doit à la race française“........................................................................ 3.3.3 „Unsightly poles“ und „constant persecution“: Gegen das Kreuz................................................................................................

200 209 216 217 225 256

Zusammenfassung und Ausblick........................................................................... 266 Abkürzungsverzeichnis............................................................................................... 280 Abbildungsnachweis.................................................................................................... 281 Quellenverzeichnis....................................................................................................... 284 Literaturverzeichnis...................................................................................................... 288 Register.............................................................................................................................. 320

Stadt, Raum, Berg: Eine Einleitung Paris hat den Eiffelturm. Montreal hat einen Berg. Il est pratiquement impossible de visiter Montréal sans apercevoir le mont Royal. Et comme pour la tour Eiffel à Paris, il est difficile de résister à se rendre à son sommet. Dans le cœur des Montréalais, le mont Royal est beaucoup plus qu’une montagne: c’est un témoin de l’évolution de leur ville, dont le parc a réussi à être préservé du développement urbain et qui, à bon droit, fait leur fierté. […] La ville qui entoure ce „joyau vert“ a [...] beaucoup évolué mais une chose demeure: hier comme aujourd’hui, les Montréalais éprouvent le même amour pour leur montagne en pleine ville.1

Ohne Zweifel ist der Eiffelturm wohl das, was man eine landmark nennen könnte, eine Ikone der Stadt Paris, ihr Wahrzeichen. Visuell eingängig repräsentiert er Frankreichs Hauptstadt, ein ideales Label zur Vermarktung und zugleich Projektionsfläche für mit Paris verbundene Assoziationen und Sehnsüchte. Ein kühner Vergleich ist es, den die Stadt Montreal da im Jahr 2009 auf ihrer offiziellen Homepage wagt: Der Mont Royal, ein 233 m hoher Berg inmitten der Stadt – so unvermeidbar, symbolträchtig und omnipräsent wie der Eiffelturm? Der Vergleich zeichnet ein Bild vom Berg, das zwar von der Außenwirkung, vom fremden Besucher her gedacht ist, letztendlich aber die emotionale Bedeutung suggeriert, die der Mont Royal für die Einwohner Montreals hat. Es geht hier offenkundig um die große Liebe der Montrealer zu einem spezifischen Teil ihrer Stadt. Wohl kaum jemand kennt den Mont Royal, bevor er die Füße in die Metropole Quebecs gesetzt hat. Doch tatsächlich, kaum ist man dort, wird es schwer, sich seiner Präsenz zu entziehen. Für die Orientierung innerhalb der Stadt ist er der Hauptreferenzpunkt. Für die eiskalten Winde, die durch ihre Straßen fegen, wird er verantwortlich gemacht. Und nach einem langen Winter und einem kurzen Frühling ist ein Ausflug auf den Mont Royal notwendiger Bestandteil eines gelungenen Nachmittags im Sommer. Mehr als drei Millionen Menschen besuchen heute jährlich den Park auf dem Mont Royal; es muss also etwas dran sein, an der Liebe der Montrealer zu ihrem Berg. Als Aushängeschild mag er zwar noch nicht die internationale Wirkkraft des Eiffelturms erreicht haben. Doch in der offiziellen Selbstdarstellung der Stadt und für viele Montrealer scheint er eine Rolle zu spielen, die über seine praktischen Vorzüge als Freizeitort hinausgeht. Stolz verkündet die Homepage, dass es den Montrealern gelungen sei, den Mont Royal vor der Urbanisierung zu bewahren. Er scheint sich also primär durch seine 1 http://ville.montreal.qc.ca/portal/page?_pageid=174,4820368&_dad=portal&_ schema=PORTAL&nomPage=bt_parc_01, Stand 7.10.09.

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Stadt, Raum, Berg

imaginierte Lage jenseits des Städtischen auszuzeichnen, die aus ihm „beaucoup plus qu’une montagne“ macht. Scheinbar unberührt von urbanen Entwicklungen, wird der Mont Royal als eine unveränderliche, natürliche Größe dargestellt, die als Fixpunkt im städtischen Gewebe dem historischen Wandel entzogen wurde. Die Industriemoderne ist – zumindest diskursiv – spurlos an ihm vorübergegangen. Damit belegt er sowohl räumlich, als auch zeitlich die Position des grundsätzlich „Anderen“ der Metropole am St. Lorenz. Diese Bedeutung ist jedoch gerade nur aus dem Kontext der Großstadt heraus denkbar und weist damit auf die gleichzeitige, gedachte Untrennbarkeit von Stadt und Berg hin. Dementsprechend verkündet die Homepage auch unumwunden, dass man, einmal in Montreal, den Mont Royal sehen müsse und nicht umhin käme, von ihm auf die Stadt herunterzuschauen. Seine Lage „en pleine ville“, und mehr noch die Reziprozität des Blicks zwischen Berg und Stadt suggerieren eine räumliche Verflechtung zwischen beiden. Der Blick wiederum ist kein Abstraktum, sondern der Blick der Menschen in der Stadt, die sich, so die offizielle Darstellung, mit ihrem Berg identifizieren. Geradezu pathetisch schreiben die Autoren der Homepage vom Stolz der Montrealer auf dieses Juwel. Der Platz des Mont Royal ist folglich nicht nur im Herzen der Stadt, sondern auch in den Herzen ihrer Einwohner. In einer emotional eingefärbten, mentalen Landkarte Montreals liegt er im Zentrum, auch wenn, oder gerade weil er im Kern „anders“ ist, herausgehoben aus der Metropole und ihr zugleich eine Identität gebend. Denn mit der Rede von der immerwährenden Liebe zum Berg wird auch eine Einheit aller Montrealer suggeriert. Angesichts des Mont Royal scheint es nur noch „die“ Montrealer und „ihren“ Berg zu geben, Differenzen schwinden in einer grenzüberschreitenden, zeitlosen Liebe, „hier comme aujourd’hui“. Wenn die Einwohner Montreals ihre Stadt und den Mont Royal als untrennbar empfinden, so knüpft im Gegenzug der als iconic space konstruierte Berg – der zweite Eiffelturm! – eine Bande zwischen den Einwohnern. Es mag sich hier um die emotional überfrachtete, werbewirksame Rhetorik einer Website handeln, doch sind darin Themen angelegt, die keineswegs erst ein Produkt des Internetzeitalters sind, und die gleichzeitig über die Lokalgeschichte von Montreal hinausweisen. Das kurze Zitat wirft Fragen nach den Bildern auf, die von städtischen Räumen erzeugt werden, nach ihrer Wandelbarkeit oder Kontinuität, nach dem Verhältnis von urbanen und als natürlich perzipierten Räumen sowie nach der historischen Kontingenz dieser Wahrnehmungen. Fragen nach der Funktion von Stadträumen und ihrem Verhältnis zu diesen Bildern drängen sich ebenso auf wie Fragen nach den Akteuren, die sich in den Diskursen über Stadtraum bewegen und sie durch ihre Handlungen fortschreiben oder auch verändern. Das Zitat regt auch an, über Identitätskonstruktionen nachzudenken: Wer sind bloß ‚die‘ Montrealer, welche offizielle Identität wird hier suggeriert, und wie könnten unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen von dieser hegemonialen Identität abweichen? Dementsprechend ließe sich hier auch über konkurrierende Bilder des Stadtraums, über Abweichungen vom offiziellen Diskurs und über Gegenmeinungen nachdenken, was

Eine Einleitung

3

wiederum Überlegungen aufwirft zu gesellschaftlichen Bruchlinien, Koalitionen und Machtverhältnissen, zu situativen, pragmatischen Interessen, Wertvorstellungen und Glaubensmustern. Um genau diese Fragen wird es in vorliegender Arbeit gehen, denn sie nimmt sich das komplexe Wechselspiel von urbanem Raum, seiner Wahrnehmung, Identitätskonstruktionen, gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und Machtkonstellationen zum Thema. Gegenstand der Untersuchung ist dabei die Stadt Montreal zwischen den 1880er und den 1920er Jahren, genauer: Die Beziehung der Montrealer in diesem Zeitraum zu einem spezifischen Teil ihrer Stadt, dem Mont Royal.

1.  Thema, Gegenstand, Fragestellung Stadtraum ordnen: Eine nordamerikanische Großstadt der progressiven Ära

Wenn der Mont Royal heute eine Ikone Montreals ist, so ist das keineswegs eine Errungenschaft des 21. Jahrhunderts. Bereits 1853 schrieb der Engländer William Chambers über seine Reise nach Montreal: „[…] I had next a pleasant drive out of town towards the Mountain. […] As every stranger in London goes to see St Paul’s, so all who visit Montreal require to see the Mountain. Of this mountain, the inhabitants are not a little proud; and they have some reason for being so.“2 Seit den 1840er Jahren etwa, mit der Expansion der Stadt in Richtung des nordwestlich gelegenen Mont Royal, war der Berg zunehmend in das Bewusstsein der Montrealer gerückt. Zwar stellte er in den 1850er Jahren noch ein Ausflugsziel „out of town“ dar, doch sollte sich das rasch ändern. In den 1870er Jahren wurde der Parc Mont Royal/Mount Royal Park an seinen Hängen und auf dem Gipfel angelegt. Zunächst mangels Verkehrsanbindung noch kaum frequentiert, trug eine in den 1880ern errichtete Incline Railway dazu bei, den Berg einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.3 Damit hielt der Mont Royal gewissermaßen Einzug in die Stadt, wenngleich zunächst nur in den Vorstellungen ihrer Einwohner: Es sollte noch bis in die 1930er Jahre dauern, bevor er von urbaner Struktur physisch umzingelt war. Dennoch galt er bereits um die Jahrhundertwende als eine Grünfläche im Herzen Montreals.4 Der Mont Royal wandelte sich so von einem ländlichen Ausflugsziel in einen Teilraum der Stadt. Als 2 William Chambers, Things as They Are in America (1854/New York: Negro Universities Press, 1968), 67–68. 3 Forderungen nach besserer Zugänglichkeit etwa bei „The Mountain Park“, in: Montreal Herald [im Folgenden Herald] 14.5.1884. 4 Vgl. etwa „Again Deferred“, in: Herald 9.10.1905. Zur Diskrepanz zwischen der physischen Distanz des Berges zur Stadt, seiner Erreichbarkeit und der imaginierten Nähe vgl. Nadine Klopfer, „,Terra Incognita‘ in the Heart of the City? Montreal and Mount Royal around 1900“, in: Jeffrey L. Meikle and Miles Orvell (eds), Public Space and the Ideology of Place in American Culture (Amsterdam: Rodopi, 2009), 137–64.

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Stadt, Raum, Berg

urbaner Ort aber wurde er als gestaltbar empfunden und konnte sich zu einem der iconic spaces Montreals entwickeln. Die Jahre zwischen den 1880ern und etwa 1930 können damit gewissermaßen als formative years des Mont Royal gelten, sowohl was seine physische Gestaltung angeht, als auch seine verbreitete Perzeption als Wahrzeichen der Stadt. Genau diese Jahre untersucht die vorliegende Arbeit, denn hier fanden die ‚Gründungskonflikte‘ um eine bis in die Gegenwart maßgebliche landmark Montreals statt. Damit ist der Untersuchungszeitraum vom Gegenstand der Analyse, also vom Stadtraum selbst hergedacht, und nicht von einer der vielen Epocheneinteilungen, die diese Zeit in Montreal, Kanada oder Nordamerika zu strukturieren suchen.5 Dennoch spielen die gängigen Periodisierungen in vorliegende Arbeit hinein, indem sie, einem Koordinatensystem gleich, für bestimmte Fragen sensibilisieren. Die Phase zwischen den zwei großen Wirtschaftskrisen von 1873 und 1929 gilt in der Forschung zu Montreal als das Goldene Zeitalter der Stadt, in der sie einen nie gekannten Boom erfuhr.6 Allein zwischen 1871 und 1881 wuchs die Bevölkerung von 107.225 Einwohnern auf 140.747 an. 1891 waren es bereits 216.650, eine Zahl die sich bis 1921 nahezu verdreifachte auf 618.506.7 In dieser Zeit etablierte sich Montreal als Eisenbahnknotenpunkt und als Kanadas führende Industriemetropole. Mit der Entwicklung zur Großstadt geriet auch der Stadtraum selbst in den Blick der Öffentlichkeit. Umliegende Dörfer wurden annektiert, Infrastrukturen mussten erweitert, Häuser gebaut, die Zirkulation von Gütern und Personen gewährleistet werden.8 Die Stadtplanung etablierte sich in dieser Zeit erst langsam als professionelle Disziplin; zunächst versuchten vielfältige Bürgergruppen, das Gesicht der Stadt nach ihren Vorstellungen zu gestalten.9 Rivalitäten um innerstädtische Macht lassen sich daher für diese Zeit besonders gut am Stadtraum selbst greifen. Wie gingen die 5 Vor prä-etablierten chronologischen Strukturen, die an die Untersuchung von Stadtraum herangetragen werden, warnt etwa Isabelle Backouche, „L’histoire urbaine en France: Nouvel objet, nouvelles approches“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 32:1 (Fall 2003), 12: „[...] les mutations de l’espace ont leur chronologie propre.“ 6 Die Krise von 1893 traf die Stadt nicht so hart wie die anderen beiden, vgl. Paul-André Linteau, Histoire de Montréal depuis la Confédération (Montréal: Boréal, 1992), 16. 7 Linteau, Histoire de Montréal, 40; 160. Zahlen für das offizielle Territorium der Stadt zum Zeitpunkt des Zensus; seit dem Zensus von 1891 ist das Wachstum auch auf Annexionen umliegender Dörfer zurückzuführen. 8 Vgl. Claire Poitras, La cité au bout du fil: Le téléphone à Montréal, de 1879 à 1930 (Montreal: Les Presses de l’Université de Montréal, 2000), 38. 9 In Montreal etwa bestand eine erste Generation von ,Planern‘ aus Ärzten, Architekten, Ingenieuren sowie lokalen Politikern. Poitras, Cité au bout du fil, 36. Vgl. auch Thomas I. Gunton, „The Ideas and Policies of the Canadian Planning Profession, 1909–1931“, in: Alan F. J. Artibise and Gilbert A. Stelter (eds), The Usable Urban Past: Planning and Politics in the Modern Canadian City (Toronto: Macmillan, 1979), 177–95.

Eine Einleitung

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Menschen in der Stadt mit dem neuen Phänomen der Industriemetropole um, wer nahm welche Aspekte des Stadtraums als defizitär wahr, und welche Gegenmaßnahmen entwarfen sie? All diese Fragen stecken den Rahmen der vorliegenden Arbeit mit ab. Ihnen zugrunde liegt das Verständnis Montreals als eine unter vielen zeitgenössischen nordamerikanischen Metropolen, als nordamerikanische Großstadt im Zeitalter der Hochindustrialisierung. Damit aber orientiert sich diese Arbeit stärker an soziokulturellen Kontinuitäten denn an politischen Brüchen. In der USGeschichtswissenschaft wird der Untersuchungszeitraum für gewöhnlich in zwei, ja sogar drei Epochen geteilt. Das Gilded Age bis ca. 1890/1900 gilt als Epoche des rasanten Wachstums der Städte und als Blütezeit des Laissez-faire-Kapitalismus, die darauf folgende Progressive Era bis zum Ersten Weltkrieg hingegen wird als Phase der Korrektur und der vorsichtigen Interventionen in gesellschaftliche Entwicklungen verstanden; danach schließen sich die Roaring Twenties an. Für Kanada wird der Zeitraum meist in ähnlicher Weise fragmentiert, wenngleich andere Begriff verwendet werden. Der Umgang mit dem städtischen Raum wird dabei ähnlich in drei Schritten konzipiert, vom ‚planlosen‘, spekulativen Wachstum hin zum Beginn umfassender Stadtplanung um 1900, die zunächst die Form des vom Beaux-Arts-Stil inspirierten, auf axiale Perspektiven und grandiose Ensembles bedachten City Beautiful Movement annahm, bevor sich in den 1920er Jahren die dem modernen Prinzip des form follows function verpflichtete City Functional durchsetzte.10 Während jüngere Untersuchungen bereits betont haben, wie arbiträr diese strikte Trennung ist11, so bestätigt ein Blick ins Lokale, dass es deutliche Kontinuitäten gab, die den gesamten Zeitraum durchzogen. Bereits in den 1880er Jahren etwa findet sich in Montreal ein Diskurs über Stadt, der offene Räume, Licht, Luft und Grün zum sine qua non der guten Stadt erklärte. Dieser Diskurs lag sowohl der frühen Parkbewegung, als auch der City Beautiful und der City Functional zugrunde. In Anlehnung an Michael McGerr soll daher der vorliegende Untersuchungszeitraum als eine Art ‚lange‘ Progressive Era

10 Walter Van Nus, „The Fate of City Beautiful Thought in Canada, 1893–1930“, in: Gilbert A. Stelter (ed.), The Canadian City: Essays in Urban and Social History (Ottawa: Carleton University Press, 1984), 167–86; einzige Monographie zum City Beautiful Movement bleibt weiterhin William H. Wilson, The City Beautiful Movement (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989). 11 Auch die City Beautiful wies bereits funktionale Aspekte auf und kann letztlich als eine lediglich stilistisch andere Moderne gedacht werden. Vgl. Gilbert A. Stelter, „Rethinking the Significance of the City Beautiful Idea“, in: Robert Freestone (ed.), Urban Planning in a Changing World: The Twentieth Century Experience (London: Spon, 2000), 98–117. Es ging Historikern wie Stelter häufig darum, die im Rahmen des funktionalistischen Paradigmas des 20. Jhs oftmals harsch kritisierte City Beautiful zu rehabilitieren.

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Stadt, Raum, Berg

gefasst werden.12 Gerade für Kanada bietet sich das an, da hier bereits früher als in den USA staatliche Interventionen, zumal auf lokaler Ebene, gängige Praxis waren.13 Gewissermaßen kann die ‚lange Progressive Ära‘ als Schnittfläche von zwei weiteren Epochenkonzeptualisierungen gedeutet werden, die ebenfalls von Kontinuitäten her gedacht sind. Zum einen handelt es sich dabei um ein Konzept der deutschen Geschichtswissenschaft, der ‚organisierten Moderne‘. Peter Wagner versteht darunter die Epoche zwischen den 1890er und 1970er Jahren, die ihm zufolge vom Glauben daran gekennzeichnet war, dass man die sich heftig wandelnde soziale Welt rational begreifen und mittels Technik und Wissenschaft, Normierungen und Regulierungen kohärent gestalten könne.14 Der Glaube an die Möglichkeit, die Welt vernunftmäßig zu erfassen und zu formen prägte auch die Progressive Era, die damit vielleicht als eine Art nordamerikanische Version der Wagnerschen ‚organisierten Moderne‘ bestimmt werden kann. Eine solche Interpretation wirft weitere allgemeine Fragen auf, die ebenfalls den Rahmen dieser Arbeit abstecken, etwa nach der Art und Weise des Verständnisses der Welt oder nach den konkurrierenden Normierungsversuchen. Zum anderen weht durch das Montreal des Untersuchungszeitraums der Geist des viktorianischen Zeitalters, verstanden als Epoche, die auch über den Tod Queen Victorias 1901 hinausreichte.15 Als Konzept, das den Zeitraum von kulturellen Mustern und ihren Kontinuitäten her betrachtet, fokussiert das Victorian Age den Blick auf kulturelle Rivalitäten. Wie war es bestellt um die Hegemonie weißer, angelsächsi12 Michael McGerr, A Fierce Discontent: The Rise and Fall of the Progressive Movement in America, 1870–1930 (New York: Free Press, 2003). Ähnlich ausgedehnter Zeitraum auch schon bei einem der Klassiker zur Progressiven Ära Robert H. Wiebe, The Search for Order, 1877–1920 (London: Macmillan, 1967). 13 Vgl. Larry Bourne and David F. Ley, „Introduction: The Social Context and Diversity of Urban Canada“, in: dies. (eds), The Changing Social Geography of Canadian Cities (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 1993), 13; Paul Rutherford, „Tomorrow’s Metropolis: The Urban Reform Movement in Canada, 1880–1920“, in: Gilbert Stelter (ed.), The Canadian City: Essays in Urban and Social History (Ottawa: Carleton University Press, 1984), 435–55. 14 Begriff nach Peter Wagner, Soziologie der Moderne: Freiheit und Disziplin (Frankfurt: Campus, 1995), v.a. 254. Vgl. auch Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence (Ithaca: Cornell University Press, 1991), der die Suche nach Ordnung als Charakteristikum der Moderne beschrieben hat und damit Robert Wiebes Interpretation der Progressive Era nahekommt, vgl. Wiebe, Search for Order. 15 Zum Victorian Age als aus der britischen Geschichtswissenschaft übernommenes nordamerikanisches Epochenkonzept Michael Hochgeschwender, Wahrheit, Einheit, Ordnung: Die Sklavenfrage und der amerikanische Katholizismus, 1835–1870 (Paderborn: Schöningh, 2006), 26. Zur Erweiterung der Epoche über den Tod Königin Victorias 1901 hinaus vgl. Thomas J. Schlereth, Victorian America: Transformations in Everyday Life, 1876–1915 (New York: HarperPerennial, 1991), xi–xii.

Eine Einleitung

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scher, protestantischer Mittelklassenwerte, die man mit dem viktorianischen Zeitalter assoziiert?16 Dass white anglo-saxon protestant middle classes die Deutungshoheit hatten, war in Montreal alles andere als selbstverständlich. Das Montreal des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist damit zwar einerseits als typisch nordamerikanische Metropole zu verstehen, andererseits aber aufgrund der ethno-kulturellen Zusammensetzung einmalig. Auch deshalb drängen sich die oben aufgeworfenen Fragen nach Identitätskonstruktionen und Machtverhältnissen geradezu auf.17 Begegnung und Konflikt: Eine anglophone, frankophone, katholische und protestantische Stadt

Während in vielen nordamerikanischen Städten dieses Zeitalters soziale Brüche durch ethnische überlagert wurden, nahm die Fragmentierung in Montreal besondere Züge an. Montréal vit ce clivage de façon particulière à cause de la distinction séculaire entre francophones et anglophones et, de toutes ses homologues canadiennes, elle est la ville où ce phénomène se manifeste avec le plus d’acuité. A la frontière entre les territoires des deux grands groupes ethnolinguistiques du Canada, Montréal est à la fois point de rencontre, zone d’échanges et champ de bataille.18

Anders als in den meisten nordamerikanischen Städten, in denen seit dem 19. Jahrhundert die unterschiedlichsten Einwanderergruppen auf eine hegemoniale, meist WASP Kultur trafen, koexistierten in Montreal bereits zwei Bevölkerungsgruppen, die beide die Deutungshoheit über die Stadt beanspruchten. Als „,deux nations‘ maîtresses du terrain à l’origine“19, leiteten sie ihren Anspruch aus der Kolonialzeit ab. Nachdem französische Entdecker wie Jacques Cartier und Samuel de Champlain im 16 Vgl. Schlereth, Victorian America, xii. 17 Zur ,Normalität‘ und gleichzeitigen ,Einmaligkeit‘ Montreals vgl. Roderick K. MacLeod, „Salubrious Settings and Fortunate Families: The Making of Montreal’s Golden Square Mile, 1840–1895“ (Diss. McGill University, 1998), 7; Claire McNicoll, „L’évolution spatiale des groupes ethniques à Montréal, 1871–1981“ (Diss. Ecole des hautes études en sciences humaines, Paris, 1986), 16–22. 18 Paul-André Linteau, „Les facteurs du développement de Montréal“, in: Isabelle Gournay et France Vanlaethem (eds), Montréal métropole, 1880–1930 (Montréal: Boréal, 1998), 33. 19 McNicoll, „Evolution spatiale“, 263. In der folgenden Zusammenfassung anglo-frankophoner Beziehungen in Montreal orientiere ich mich an Sylvie Lacombe, „A Brief Overview of French Canadian Nationalism in the 19th Century“, www.ifs.csic.es/practica/ estlaico/lacombe.pdf, Stand 14.5.2007 und Alan Gordon, Making Public Pasts: The Contested Terrain of Montreal’s Public Memories, 1891–1930 (Montreal: McGill-Queen’s

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Stadt, Raum, Berg

16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts die Insel im St. Lorenz, auf der sich Montreal befindet, erforscht hatten, war die Stadt 1642 von einer katholischen Pariser Missionsgesellschaft unter der Führung von Paul Chomedey Sieur de Maisonneuve gegründet worden. Dank des Pelzhandels prosperierte die kleine neufranzösische Siedlung bald. Nach der britischen Eroberung 1763 übernahmen die Briten die Kontrolle über den Pelzhandel; der Wohlstand wechselte damit die Hände. Die attraktive Lage als Handelsstadt am St. Lorenz zog in der Folge immer mehr britische Einwanderer an. Noch im 18. Jahrhundert entwickelte sich Montreal zum Herzen eines großen Handelsimperiums, wobei die Agrarprodukte des Westens zunehmend den Pelzhandel als Quell des Wohlstandes ablösten. Während Lower Canada mehrheitlich frankophon und katholisch blieb, so war Montreal in den 1830er Jahren eine überwiegend anglophone Stadt.20 In Folge der Rebellionen des frankokanadischen, antiklerikalen und republikanischen Parti Patriote von 1837/3821 versuchte die britische Kolonialherrschaft, durch die Vereinigung von Lower und Upper Canada im Union Act von 1840 die Frankokanadier in einem weitgehend anglophonen Umfeld zu assimilieren. In diesen Jahren begann ein grundlegender demographischer Wandel in Montreal. Immer mehr Anglophone zogen in das nun Canada West genannte Upper Canada, während gleichzeitig viele Frankophone aus dem Umland nach Montreal migrierten. Parallel dazu machte sich ein katholisches religious revival unter der Führung des Erzbischofs von Montreal, Ignace Bourget, bemerkbar. Frankokanadischer Nationalismus wurde von nun an mit kulturellem, v. a. konfessionellem Inhalt gefüllt. Nach dem Scheitern der Rebellionen der 1830er Jahre hatten die antiklerikalen Liberalen, Rouges genannt, an Prestige verloren, so dass sich die mit dem britischen Kolonialregime kooperierende katholische Kirche als Deutungsinstanz innerhalb des frankophonen Milieus etablieren konnte. „Eventually, it would become impossible to separate the national from the Catholic, or religious, cause; together they tended to form a complex whole.“22 Als 1867 das Dominion Kanada ins Leben gerufen wurde, schützte Sektion 93 des British North America Act die Rechte der konfessionellen Schulen. Montreal war in dieser Zeit als Handels- und Verkehrsknotenpunkt, als Herz der kanadischen Finanzwelt und boomende Industriemetropole die größte Stadt des Dominions. Aufgrund der Landflucht war seit 1866 die frankophone Bevölkerung in der Überzahl. 1871 waren 53% der Einwohner Montreals französischer Herkunft, 45% britischer.23 Während Quebec – vormals Canada East – weitgehend frankophon war,

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University Press, 2001), 18–31. Vgl. auch die konzise Übersicht bei Paul-André Linteau, Brève histoire de Montréal (Montréal: Boréal, 1992). Linteau, Brève histoire, 65. Zu den Rebellionen vgl. John A. Dickinson and Brian Young, A Short History of Quebec (Toronto: Copp Clark Pitman Ltd, ²1993), 161–69. Lacombe, „French Canadian Nationalism“, 6. Linteau, Histoire de Montréal, 45.

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und das Dominion insgesamt primär anglophon, so trafen in Montreal Anglo- und Frankokanadier aufeinander. Zudem war Montreal eine der wenigen Großstädte des nordamerikanischen Kontinents, in der römisch-katholischen Glaubens zu sein nicht bedeutete, einer Minderheit anzugehören. Bereits in den 1860er Jahren war etwa die Hälfte der annähernd 100.000 Einwohner franko-katholisch, ein Viertel angloprotestantisch und ein weiteres Viertel irisch-katholisch.24 Sprach-, Ethnizitäts- und Konfessionsgrenzen überlappten einander dabei; hinzu gesellten sich noch Klassendifferenzen. Die Komplexität der gesellschaftlichen Konstellationen in Montreal, vor allem aber die Begegnung von zwei um die Deutungshoheit rivalisierenden gesellschaftlichen Gruppen bot viel Potential für Konflikte, aber auch für Machtaushandlungen zwischen den Gruppen und sich permanent wandelnde Allianzen. Identifikationsraum: Le Mont Royal/Mount Royal

Wie aber funktionierte das Wechselspiel zwischen dem Stadtraum, seiner Perzeption und Gestaltung, gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, lokalen Machtkonstellationen und der Konstruktion von ethno-kulturellen Identitäten genau? Dieser leitenden Frage soll am Beispiel des Mont Royal nachgegangen werden – dem „Eiffelturm Montreals“. Der Berg bietet sich als Untersuchungsgegenstand an, da er in den mental maps der Stadt eine besondere Position einnahm. Montreal war in den geographischen Imaginationen der Zeitgenossen eine zweigeteilte Stadt, die durch den Boulevard St-Laurent, eine nord-südlich verlaufende Achse, halbiert wurde25 (Abb. 1). Die östlichen Stadtteile galten als Territorium der Frankokanadier, die westlichen als fest in anglophoner Hand. Das binäre Ordnungsmuster, das die Montrealer Gesellschaft in zwei ethno-kulturelle Blöcke teilte, schlug sich in der Wahrnehmung des Stadtraums nieder. „Montreal is divided sharply into two parts, the French and the English, the East and the West ends. In each part the business portion lies near the

24 Rosalyn Trigger, „The Geopolitics of the Irish-Catholic Parish in Nineteenth-Century Montreal“, in: Journal of Historical Geography 27:4 (2001), 553. 25 In der Bezeichnung der Himmelsrichtungen möchte ich mich an der in Montreal gängigen Praxis orientieren, die jedoch nicht der geographischen Realität entspricht. Das, was in Montreal als Osten bezeichnet wird, ist faktisch Nord-Osten, der Westen eigentlich der Süd-Westen usw. Es hat sich eingebürgert, im Montrealer Gitternetz alle Straßen, die parallel zum Fluss verlaufen, als Ost-West-Achsen zu betrachten und die zum Fluss orthogonalen als Nord-Süd-Achsen. Gerade weil es hier weniger um tatsächliche Geographien geht, als um die Repräsentationen derselben, sollen diese traditionellen Bezeichnungen beibehalten werden. Vgl. Paul-André Linteau et Jean-Claude Robert, „Les divisions territoriales à Montréal au 19e siècle“, in: Groupe de recherche sur la société montréalaise au 19e siècle, Rapport 1972–1973 (Montréal: Département d’histoire UQAM, 1973), 5.

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Abb. 1  Der Boulevard St-Laurent in einem Stadtplan von Montreal (1931).

river, the wealthier homes near the mountain.“26 Auch wenn sozialhistorische Studien gezeigt haben, dass es faktisch in der residentiellen Geographie Montreals eine viel stärkere Durchlässigkeit gab, als der Mythos es vermuten lässt27, so prägte doch das 26 C. H. Farnham, „Montreal“, in: Harper’s New Monthly Magazine ( June 1889), 94. 27 Paul-André Linteau et Jean-Claude Robert, „Montréal au 19e siècle: Bilan d’une recherche“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 13:3 (Feb. 1985), 216; vgl. Gordon, Making Public Pasts, 25: „The famous division of the city into francophone eastern and anglophone western halves began early in the nineteenth century and was pronounced by mid-century. But it was not an absolute divide. As late as 1852, one-third of the residents in the easternmost neighbourhoods spoke English, and francophones accounted for about a quarter of those in the westernmost neighbourhoods.“ Julie Podmore, „St. Lawrence Boulevard as ,Third City‘: Place, Gender and Difference along Montreal’s ,Main‘“ (Diss. McGill Unversity, 1999), 4-5 betont, dass die Grenze zwischen Anglound Frankophonen ein Mythos ist und weist auf die ethnische Diversität Montreals hin. Allerdings schließt das m. E. nicht aus, dass die Perzeption dieser Grenze existierte. Zudem zeigt Pierre Drouilly, L’espace social de Montréal, 1951–1991 (Sillery: Septentrion,

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Konzept des Boulevard St-Laurent als Grenze zwischen Frankophonen und Anglophonen die Perzeption der Stadt und damit das Handeln im Stadtraum.28 Bis heute wirkt die Ost-West-Dichotomie in der Wahrnehmung der historischen Geographie Montreals fort.29 Als einziger Berg im städtischen Gewebe ließ sich der Mont Royal nicht in dieses binäre Schema einfügen. Während sich auf beiden Seiten der ‚Grenze‘ wohlhabende und ärmere Viertel, Einkaufsstraßen, begrünte Plätze und Industrieanlagen fanden, so gab es doch nur einen Mont Royal. Als Ort, der sich der Verdoppelung entzog, sprengte er das System der ethno-kulturellen Opposition im Stadtraum. Zwar lag der Mont Royal westlich des Boulevard St-Laurent, aufgrund seiner Einmaligkeit aber galt er als landmark der gesamten Stadt. Im „imaginaire collectif de la ville“30 machte er die Identität Montreals aus, die Montréalité de Montréal.31 Für die um Deutungshoheit rivalisierenden Gruppen war dieser gesamtstädtische Identifikationsraum daher ein symbolischer Einsatz im Spiel um die Macht; innerstädtische Rivalitäten und ihr Zusammenhang zum Stadtraum sind folglich am Mont Royal besonders gut greifbar und sollen in dieser Arbeit anhand von einigen konkreteren Teilfragen ausgelotet werden. Welche Bedeutung etwa wurde im öffentlichen Diskurs der Stadt dem Mont

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1996), 107–14; 143–50, dass selbst heute noch die Mehrheit der Frankophonen im Osten, die der Anglophonen im Westen wohnen. Während etwa die Straßen in Ost-West-Richtung das gesamte Stadtgebiet durchliefen, wurden 1905 die Hausnummern dahingehend erneuert, dass man den Bd St-Laurent als Grenzlinie zwischen den zwei Sektionen definierte und fortan sowohl nach Osten, als auch nach Westen aufsteigend zählte; die Straßen erhielten dann jeweils den Beinamen ,East/Est‘ oder ,West/Ouest‘. Commission de toponymie, Noms et Lieux du Québec: Dictionnaire Illustré (Ste-Foy: Publications du Québec, 1996), s.v. „Saint-Laurent, boulevard“; Jason A. Gilliland, „Re-dimensioning Montreal: Circulation and Urban Form, 1846–1918“ (Diss. McGill University, 2001), 12. Zur Perzeption der ,zwei Städte‘ vgl. auch Edgar Andrew Collard, Call Back Yesterdays (Don Mills: Longmans, 1965), 175– 208. In der Forschung gehen etwa Claire McNicoll, „L’évolution spatiale des groupes ethniques à Montréal, 1871–1981“ (Diss. Ecole des hautes études en sciences humaines, Paris, 1986), 400–01; 610; Julia Gersovitz, „The Square Mile, Montreal, 1869–1914“ (M.Sc. Columbia University, 1980), 30 und Aline Gubbay, A Street Called the Main: The Story of Montreal’s Boulevard Saint-Laurent (Montréal: Meridian Press, 1989), 25, von einer faktischen Gegebenheit der Division aus. Lucie K. Morisset et Luc Noppen, „Entre identité métropolitaine et identité urbaine: Montréal“, in: dies. (dir.), Les identités urbaines (Quebec: Nota Bene, 2003), 157. Ebd., 158. Begriff ,Montréalité‘ oder ,Montrealness‘ aus der Architekturgeschichte, vgl. Melvin Charney, „The Montrealness of Montreal: Formations and Formalities in Urban Architecture“, in: Architectural Review 167:999 (May 1980), 17–30; Yves Deschamps, „Montréalité“, in: ARQ: Architecture – Québec 102 (Avril 1998), 12–13.

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Royal genau beigemessen, und wodurch erhielt er seine Funktion als Identifikationsraum? Welche Konflikte gab es zwischen Anglo-Protestanten und Franko-Katholiken um den Mont Royal? Wie wurden diese ausgetragen? Welche spezifischen Diskurse überformten dabei die kollektive Imagination des Berges, welche Bilder des Mont Royal konkurrierten miteinander? Es soll auch beobachtet werden, welche normativen Gesellschaftsvorstellungen die jeweiligen Konzeptionen des Mont Royal transportierten und inwieweit sie sich in den konkreten Vorschlägen niederschlugen. Zudem stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang die Konflikte um den Berg mit innerstädtischen Machtkonstellationen und situativen Interessen standen. Inwiefern manifestierten sich in den Vorstellungen vom Berg und in den konkreten Projekten am Berg franko- und anglokanadische Identitätszuschreibungen? Welche Vorhaben am Mont Royal wurden letztlich realisiert, welche nicht? Das Erkenntnisinteresse ist dabei ein Doppeltes: Wie über zwei Seiten einer Medaille, soll diese Arbeit sowohl über die Formation nordamerikanischen Stadtraums um 1900, als auch über Identitätskonstruktionen in Montreal und kulturelle Rivalität in Kanada Aufschluss geben. Dahinter verbergen sich einige theoretische Annahmen. „When the referential is translated into narrative it effectively ceases to exist. The referential is now under the sway of imaginative interpretation.“32 Die theoretischen Prämissen, die als analytische Determinanten meine imaginative interpretation der Konflikte um den Mont Royal geleitet haben, sollen im Folgenden offengelegt werden.

2.  Theoretische Überlegungen Die „Wiederkehr des Raumes“

Während allenthalben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und angesichts der zunehmend globalen Kommunikationsnetze das Verschwinden der Territorialität33 oder die mangelnde Verortung des Einzelnen34, kurz: die These der zunehmenden Irrelevanz des Raumes diskutiert wird, hat sich der Raum – vielleicht gerade we32 Alun Munslow, „Author’s Response“, February 1999, http://www.history.ac.uk/ihr/ Focus/ Whatishistory/munslow3.html, Stand 7.6.2007. Der britische Herausgeber von Rethinking History reagiert in diesem Artikel auf die Kritik Patrick Karl O’Briens an einer bei Routledge erschienenen Buchreihe zum Verhältnis von Postmoderne und Geschichte. Vgl. auch Alun Munslow, Deconstructing History (London: Routledge, 1997). 33 Charles S. Maier, „Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era“, in: American Historical Review 105 ( June 2000), 807–31. 34 Edward S. Casey, „Smooth Spaces and Rough-Edged Places: The Hidden History of Place“, in: Review of Metaphysics 51:2 (1997), 267–96, http://sunysb.edu/philosophy/ faculty/ecasey/articles/smooth_spaces.html, Stand 6.8.2007. Zum „Abschiedsgesang auf

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gen dieser Entwicklungen? – in der historischen und kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft einen neuen Platz erobert. „Geschichte spielt nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum“: Mit dieser scheinbar banalen Feststellung rüttelte der Osteuropahistoriker Karl Schlögel 2003 die deutschsprachige Historikerzunft auf, frühere Diagnosen etwa Jürgen Osterhammels über die „Wiederkehr des Raumes“ aufgreifend.35 Dabei geht es nicht um eine Neuauflage raumgreifender Geopolitik, auch nicht um die Untersuchung geostrategisch angelegter Machträume, sondern um eine grundlegende Wiedereinführung der Analysekategorie Raum in jegliche Historiographie. Die Protagonisten der Wiederkehr des Raumes zielen erklärtermaßen darauf ab, Historiker zu sensibilisieren für diese Dimension menschlicher Geschichte, sich ihrer notwendigen Räumlichkeit bewusst zu werden und sich die Untrennbarkeit von Zeit und Raum zu vergegenwärtigen. Statt Geschichte als diachronen Ritt entlang der Zeitleiste zu betrachten, so das Postulat, soll die das historische Narrativ der Moderne dominierende Zeitlichkeit ergänzt und der Sinn dafür geweckt werden, dass Geschichte immer auch synchron stattfindet. Paradigmatisch verkörpern diese Arbeiten einen Ansatz, den Schlögel nicht zufällig mit den englischen Worten „spacing history“ fasst.36 Kam die Wiederentdeckung des Raumes in der deutschen Forschung nahezu einem Tabubruch gleich, der die Herauforderung darstellte, das Wort ‚Raum‘ zu artikulieren, ohne Assoziationen etwa mit ‚Lebensraum‘ oder ‚Volk ohne Raum‘ wachzurufen, so situiert sich Schlögel hier in einer in der anglo-amerikanischen Forschung schon seit längerem etablierten Tradition, welche sich seit den 1990er Jahren unter dem Einfluss der Postmoderne und der kulturalistischen Wende in der Geschichtswissenschaft mit der Proklamation eines spatial turn theoretisch reflektiert verdichtet hat.37 In diesem von unterschiedlichen Disziplinen wie der Geographie,

den Raum“ s. a. Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006), 161–73. 35 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit: Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (München: Carl Hanser Verlag, 2003), 9; Jürgen Osterhammel, „Die Wiederkehr des Raumes: Geographie, Geohistorie und historische Geographie“, in: Neue politische Literatur 43 (1998), 374–95. Vgl. auch Werner Köster, Die Rede über den Raum: Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts (Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag, 2002). Frühes Postulat, dem Raum eine stärkere Rolle in der historiographischen Narration zuzuweisen, bei Reinhart Koselleck, „Raum und Geschichte“, in: ders., Zeitschichten: Studien zur Historik (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000), 78–96. Kritische Auseinandersetzung mit Koselleck bei Michael Hochgeschwender, „Raum und nationale Identität in der USamerikanischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert“, in: Anke Köth et al. (Hgg.), Building America: Die Erschaffung einer neuen Welt (Dresden: Thelem, 2005), 22–24. 36 Schlögel, Im Raume, 10. 37 Vgl. Hochgeschwender, „Raum und nationale Identität“, 24–25, dort auch weiterführende Literatur.

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Soziologie und Anthropologie gespeisten raumtheoretischen Kontext verortet sich auch vorliegende kulturhistorische Arbeit. Seit Frederick Jackson Turner 1893 die frontier als sich ständig bewegende, gedachte Linie in einem scheinbar menschenleeren Raum für die amerikanische Geschichte als maßgeblichen Faktor inthronisierte, ist space auf dem nordamerikanischen Kontinent ein roter Faden geblieben, den die Historiographie mal mehr, mal weniger herausarbeitete. Auf der Suche nach dem „Amerikanischen“ an Amerika bildeten die natürlichen, geographischen Bedingungen ebenso wie die imaginären Räume des Landes – beispielsweise der mythisch überhöhte Westen – einen wichtigen Fokus der Diskussionen. Nicht zuletzt war es diese Koppelung an Fragen nationaler Identität, die dem Raum auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung eine kontinuierliche Aufmerksamkeit sicherte, weshalb ein spatial turn in den USA wesentlich besser Fuß fassen konnte als in Deutschland.38 Seinen Ausgangspunkt nahm dieser zunächst in der amerikanischen Geographie der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, und zwar in der Auseinandersetzung von neo-marxistischen Humangeographen mit postmodernen Theorien. Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft vollzog sich zu der Zeit auch in der Geographie eine Art cultural turn, der durch die Historisierung ihres ureigenen Forschungsobjektes, des Raums, neue Impulse im Fachbereich der human geography setzte und damit letztlich die Anschlussfähigkeit geographischer Theorien für die Historiographie gewährleistete.39 Paradigmatisch können hierfür die Arbeiten von Edward Soja stehen. Kern seiner Arbeiten ist das Postulat, Raum nicht als bloßen Schauplatz von menschlichen Handlungen, sozialen Beziehungen und Machtverhältnissen zu verstehen, sondern als ihr Produkt und ihre Ursache zugleich.40 Damit bewegte sich Soja nicht nur über ein Verständnis von Raum als nicht näher zu beschreibendem Behälter von Geschichte hinaus, sondern lenkte den Blick auch von der Untersuchung dessen, was Koselleck die „metahistorischen Vorgaben des menschlichen Lebensraumes“41 nannte – den räumlichen Bedingungen menschlicher Geschichte – auf die Untersuchung der „menschlich-historischen“42 Räume. Indem er in einer sociospatial dialectic die Interdependenz 38 Zum Komplex Raum, Geschichtlichkeit und nationale Identität in den USA am Beispiel der Rezeption der Frontier-These Hochgeschwender, „Raum und nationale Identität“, 27–37. 39 Vgl. Anke Ortlepp and Christoph Ribbat (eds), Taking Up Space: New Approaches to American History (Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2004). Forschungsbericht zu aktuellen kulturanthropologischen, medienwissenschaftlichen Raumansätzen Jörg Dünne, „Forschungsüberblick ,Raumtheorie‘“, http://www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4. pdf, Stand 7.8.2007. 40 Grundlegend Edward Soja, Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory (London: Verso, 1989). 41 Koselleck, „Raum und Geschichte“, 84. 42 Ebd., 85.

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des Raums mit gesellschaftlichen Prozessen formulierte, wird dieser bei Soja zu einem sich stetig neu konstituierenden und historisch kontingenten Gebilde, mit dem die soziale Welt verwoben ist. Das aber heißt, Raum als Analysekategorie zu denken, die Erkenntnismöglichkeiten nicht nur über den Raum selbst, sondern auch über die Formierung gesellschaftlicher Verhältnisse eröffnet und den Blick für die Gleichzeitigkeit sozialer Prozesse schärft. Genau dies sind die Impulse, die vorliegende Arbeit aus den theoretischen Reflexionen der human geography Sojas und seiner Gesinnungsgenossen gewonnen hat. Soja führte damit zwei bereits in Frankreich vorhandene Stränge der theoretischen Auseinandersetzung mit Raum zusammen. Einerseits bediente er sich der Untersuchungen des neo-marxistischen Historikers Henri Lefebvre, der bereits in den 1970er Jahren Raum als Produkt der gesellschaftlichen Machtverhältnisse analysiert hatte und in den USA auch durch den Geographen David Harvey rezipiert worden war, andererseits griff er die Überlegungen Michel Foucaults zum Panoptismus auf, in denen dieser die Raumgebundenheit von Macht in der Moderne untersuchte.43 In der Folge konnten eine Reihe anderer Forscher aus der amerikanischen

43 Zusammenfassend Anke Ortlepp and Christoph Ribbat, „Taking Up Space: An Introduction“, in: dies. (eds), Taking Up Space. iii. Henri Lefebvre, La production de l’espace (Paris: Anthropos, 1974), engl. Übersetzung Henri Lefebvre, The Production of Space (Cambridge: Blackwell, 1991); über Lefebvre vgl. Robert Shields, Lefebvre, Love and Struggle: Spatial Dialectics (London: Routledge, 1998). David Harvey, Social Justice and the City (London: Edward Anrold Ltd., 1973); ders., The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Originis of Cultural Change (Cambridge: Blackwell, 1989); ders., Justice, Nature, and the Geography of Difference (Cambridge: Blackwell, 1996). Michel Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994), 251–91, Originalausgabe Michel Foucault, Surveiller et punir: La naissance de la prison (Paris: Gallimard, 1975); ders., „Des espaces autres“, in: Architecture, mouvement, continuité 5 (Oct. 1984), 46–49. Vgl. auch Hochgeschwender, „Raum und nationale Identität“, 25. Zudem griff Soja die Thesen des britischen Soziologen Anthony Giddens auf, der sich mit dem Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und Akteuren befasste, die er gleichermaßen in Zeit und Raum verortet wissen wollte; allerdings ging er kaum über eine abstrakte, modellhafte Erörterung des Verhältnisses von Raum, Zeit, Strukturen und Akteuren hinaus. Vgl. Anthony Giddens, Central Problems in Social Theory: Action, Structure and Contradiction in Social Analysis (Berkeley: University of California Press, 1979); präzise Zusammenfassung der Theorie Giddens’ bei Allan Pred, Making Histories and Constructing Human Geographies: The Local Transformation of Practice, Power Relations, and Consciousness (Boulder: Westview Press, 1990), 19–24, Kritik 25–31. Sowohl David Harvey, als auch Sojas spätere Arbeiten versuchten hingegen, die theoretischen Vorgaben in der Analyse konkreter urbaner Räume einzulösen. Edward Soja, Thirdspace: Journeys to Los Angeles (London: Blackwell, 1996); ders., Postmetropolis: Critical Studies of Cities and Regions (Oxford: Blackwell, 2000).

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human geography in Bezug auf das Trio Lefebvre, Harvey und Soja in den 1990er Jahren Raumtheorie in ihren Untersuchungen fruchtbar machen.44 Jenseits dieser Konzepte von Raum als Analysekategorie kann vorliegende Arbeit auch auf eine Tradition der Stadtforschung zurückgreifen, wie sie sich seit den 1980er Jahren in einem interdisziplinären Zusammenspiel von human geography, Architekturgeschichte, urban history, Philosophie, Soziologie und Anthropologie entwickelt hat. Diese Forschungen entstanden in Abgrenzung zur new urban history, die es sich in den 1960er und 70er Jahren zum Ziel gesetzt hatte, mit Hilfe quantitativer Methoden die urbane Gesellschaft Nordamerikas zu erforschen, wobei aber dem Stadtraum selbst kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden und er zur bloßen Bühne von gesellschaftlichen Strukturen geraten war.45 Akteure und ihre Wahrnehmung des Stadtraums waren dabei ebenso unberücksichtigt geblieben wie die Form der Stadt selbst. Mit dem Paradigmenwechsel von der Sozialgeschichte zur Kulturgeschichte ist diesen Leerstellen der frühen Stadtforschung begegnet worden. Vor allem die Architekturgeschichte46, die

44 Als herausragendes Beispiel seien hier die Arbeiten des Geographen Allan Pred angeführt, dem es gelingt, die Verflochtenheit der Kategorien von Raum und Zeit mit gesellschaftlichen Prozessen an lokalen Untersuchungen aufzuzeigen und den Konnex von Macht und Raum explizit zu machen. Raum und seine Organisation erscheint bei Pred nie als neutral, sondern als Ort der Reproduktion von Machtverhältnissen sowie der Möglichkeiten, gesellschaftliche Brüche und Wandel herbeizuführen, den herrschenden Machtverhältnissen also durch den Raum zu widerstehen und sie zu transformieren. Pred, Making Histories, v.a. 6–7; 29. Vgl. auch Stanley K. Schultz, Constructing Urban Culture: American Cities and City Planning, 1800–1920 (Phildadelphia: Temple University Press, 1989), xiii, der allerdings die Produziertheit des Stadtraumes in den Vordergrund stellt, ohne auf die Rückwirkung des Raumes auf menschliches Handeln einzugehen. 45 Damit grenzte sich die new urban history von der älteren Stadtgeschichtsschreibung ab, die stadtbiographisch arbeitete und je eine Stadt in ihrer Gesamtheit untersuchte. Als eines der ersten Werke der new urban history gilt Stephan Thernstrom, Poverty and Progress: Social Mobility in a Nineteenth-Century City (Cambridge: Harvard University Press, 1964); programmatisch Stephan Thernstrom and Richard Sennett (eds), Nineteenth-Century Cities: Essays in the New Urban History (New Haven: Yale University Press, 1969). 46 Exemplarisch seien genannt Gwendolyn Wright, Moralism and the Model Home: Domestic Architecture and Cultural Conflict in Chicago, 1873–1913 (Chicago: University of Chicago Press, 1980); dies., Building the Dream: A Social History of Housing in America (New York: Pantheon Books, 1981); Spiro Kostof, America by Design (New York: Oxford University Press, 1987); ders., The City Shaped (London: Thames and Hudson, 1991).

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urban landscape studies 47, die human geography 48 und die Philosophie – allen voran Michel de Certeau49 – nahmen seit den 1980er Jahren verstärkt das Verhältnis zwischen Stadtraum und Menschen in den Blick und betonten dabei die agency individueller Akteure sowie die kulturelle Bedingtheit der urbanen Form, ohne dass freilich Raum explizit als Analysekategorie für die Geschichts- und Sozialwissenschaften konzeptualisiert wurde.50 Einige Untersuchungen griffen dann seit den 1990er Jahren die gesellschaftliche Dialektik des Sojaschen Raumbegriffs auf und verknüpften ihn mit dem Fokus auf individuelle Akteure, Stadtraum und Raumperzeptionen. Produktion, Konstruktion und Imagination des Raumes

Von diesen jüngeren Arbeiten stützt sich vorliegende Dissertation vor allem auf den Ansatz des kanadischen Soziologen Rob Shields, der Anfang der 1990er eine Theorie der social construction of space formulierte und an Fallbeispielen aus der kanadischen und britischen Geschichte erprobte.51 Während Shields die Dialektik der Beziehung von Raum und Gesellschaft von Soja übernahm, betonte er jedoch, dass sich diese nicht nur auf einer materiellen, sondern ebenso auf einer mentalen Ebene abspiele. Damit griff er die von Lefebvre als „spaces of representation“ bereits angedachte Dimension der Raumproduktion auf.52 Den Bildern, die sich Menschen von ihrer Stadt machen und dem, was sie über Räume sagen, den „pre-constructed cultural discourses about sites“53, räumte er eine mindestens ebenso große gestalterische Kraft ein wie den konkreten Handlungen im Raum. Die physischen, mentalen und sprachlichen

47 John Brinckerhoff Jackson, American Space: The Centennial Years, 1865–1976 (New York: Norton, 1972); David Schuyler, The New Urban Landscape: The Redefinition of City Form in Nineteenth-Century America (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1986). Betonung der human agency auch bei dem intellectual historian Thomas Bender, Toward an Urban Vision: Ideas and Institutions in Nineteenth-Century America (Lexington: The University Press of Kentucky, 1975). 48 Yi-Fu Tuan, Topophilia: A Study on Environmental Perception, Attitudes, and Values (Englewood Cliffs: Prentice-Hall, 1974); ders., Space and Place: The Perspective of Experience (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1977). 49 Michel de Certeau, „Pratiques d’espace“, in: ders., L’invention du quotidien, vol. 1: Arts de faire (Paris: Gallimard folio, ²1990), 139–91; engl. Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life, vol. 1 (Berkeley: University of California Press, 1984). 50 Vgl. Hochgeschwender, „Raum und nationale Identität“, 24–25. 51 Robert Shields, Places on the Margin: Alternative Geographies of Modernity (London: Routledge, 1991), bietet auch eine gute Übersicht über die Theorien Lefebvres. 52 Vgl. Lefebvre, The Production of Space, 116. 53 Shields, Places on the Margin, 31.

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Prozesse des Raumaneignens und Raumveränderns bezeichnete er als social spatialization: I use the term social spatialization to designate the ongoing social construction of the spatial at the level of the social imaginary (collective mythologies, presuppositions) as well as interventions in the landscape (for example, the built environment). This term allows us to name an object of study which encompasses both the cultural logic of the spatial and its expression and elaboration in language and more concrete actions, constructions and institutional arrangements.54

Dadurch rückt der mögliche Symbolgehalt des Raums ebenso in den Blick wie Identitätszuschreibungen und die Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse über Raum und Raumdiskurse. Shields selbst zeigte in seinen Untersuchungen, wie in Bildern – place-images – und Diskursen Orte gesellschaftlichen Gruppen zugeordnet werden. Der Raum wird so vielschichtiges Forschungsobjekt und Analysekategorie zugleich, die es erlaubt, soziale Prozesse wie Inklusion, Exklusion oder Marginalisierungen zu greifen. Gewissermaßen las Shields Lefebvre und Soja durch die Brille eines kulturalistischen Ansatzes. Die place-images von Shields wiederum kommen dem nahe, was in der Forschung bisweilen auch als mental maps bezeichnet wurde. Die Kulturgeschichte hat das aus der Kognitionspsychologie stammende Konzept der ‚mentalen Landkarten‘ historisiert und ent-universalisiert.55 Als „subjektives, inneres räumliches Bild eines Teils der räumlichen Umwelt des Menschen“56 wird die mental map als historisch bedingt und von kulturellen Kontexten geprägt verstanden. Damit lassen sich über mental maps Wertvorstellungen, Ordnungsmuster und kulturelle Codes ermitteln, die die Perzeptionen der Umwelt durch den Menschen ebenso wie sein Handeln prägen. Es mag sein, dass der Begriff der ‚mentalen Landkarten‘ geographischer konnotiert ist,

54 Ebd., 31. 55 Übersicht über die Entwicklung des Konzepts in der Psychologie seit den 1940ern und in der Geographie seit den 1960er/70er Jahren bei Angelika Hartmann, „Konzepte und Transformationen der Trias ‚Mental Maps, Raum und Erinnerung‘“, in: Sabine DamirGeilsdorf et al. (Hgg.), Mental Maps, Raum, Erinnerung: Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung (Münster: LIT-Verlag, 2005), 7–9. Meilensteine sind Peter Gould and Rodney White, Mental Maps (Harmondsworth: Penguin, 1974); Roger M. Downs and David Stea, Maps in Mind: Reflections on Cognitive Mapping (New York: Harper & Row, 1977); Denis Cosgrove (ed.), Mappings (London: Reaktion Books, 1999). 56 Frithjof Benjamin Schenk, „Mental Maps: Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung“, in: Geschichte und Gesellschaft 28:3 (2002), 494.

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als der der imagination urbaine; die Begriffe sollen in dieser Arbeit jedoch weitgehend identisch verwendet werden.57 Zu Recht ist an Shields kritisiert worden, dass er vor lauter Bemühen, die mentale Ebene von Raumkonstruktionen miteinzubeziehen, die Träger dieser Vorstellungen aus den Augen verliert.58 Tatsächlich schweben bei ihm Wahrnehmungen und Repräsentationen gleichsam körperlos als kollektive Annahmen durch den Raum, was den Blick auf Interessen, Werte, individuelle Abweichungen und konkrete Machtverhältnisse verstellt. Aus diesem Grund möchte ich daher den Ansatz Shields’ um den Fokus auf individuelle Akteure ergänzen und orientiere mich dabei an den Arbeiten der Anthropologin Setha M. Low.59 Low untersucht in Anlehnung an de Certeau die alltäglichen Verhaltensweisen der Akteure in einem spezifischen Stadtraum und kann so aufzeigen, wie sich Individuen den urbanen Raum aneignen. Dabei unterscheidet sie jedoch zwischen zwei meines Erachtens untrennbaren Untersuchungsebenen, der sozialen Produktion und der sozialen Konstruktion des Raums. Diese Dichotomie liegt implizit auch den Arbeiten Shields’ zugrunde: The social production of space includes all those factors – social, economic, ideological, and technological – the intended goal of which is the physical creation of the material setting. 57 Auch die Forschung differenziert nicht immer; gerade die cultural geography bezeichnet häufig das als imagination, was in der Kulturgeschichte als map verstanden wird. Vgl. Derek Gregory, The Geographical Imagination in America, 1880–1950 (Chicago: University of Chicago Press, 2001); Gary Y. Okihiro, Common Ground: Reimagining American History (Princeton: PUP, 2001). Bahnbrechend in der Untersuchung von geographischen Bildern Edward Said, Orientalism (New York: Vintage Books, 1979). 58 Martha Radice, Feeling Comfortable? The Urban Experience of Anglo-Montrealers (Ste-Foy: Les Presses de l’Université Laval, 2000), 9. Mehr noch gilt diese Kritik für die britischen Geographen Doreen Massey und Steve Pile sowie den Soziologen Michael Keith, die ähnlich wie Shields argumentieren, jedoch noch stärker ,soziologisch‘ im Sinne von modellhaft denken. Mit feministischem Impetus Doreen Massey, Space, Place, and Gender (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1994); Michael Keith and Steve Pile (eds), Place and the Politics of Identity (London: Routledge, 1993). S. a. David Sibley, Geographies of Exclusion: Society and Difference in the West (New York: Routledge, 1996), der versucht, die Psychoanalyse in die cultural geography zu integrieren, was ihm nur teilweise gelingt, da essentialistische Argumente so Einzug halten und seine Behauptung des konstruierten Charakters von Raum und Identität in Frage stellen. 59 Setha M. Low, „Spatializing Culture: The Social Production and Social Construction of Public Space in Costa Rica“, in: American Ethnologist 23:4 (Nov. 1996), 861–79. Ähnlich auch die Architekturhistorikerin Dolores Hayden, The Power of Place: Urban Landscapes as Public History (Cambridge: MIT Press, 1995). Literaturbericht zur anthropologischen Forschung zur Form des Raums und gebauter Umwelt bei Denise Lawrence and Setha M. Low, „The Built Environment and Spatial Form“, in: Annual Review of Anthropology 19 (1990), 453–505.

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The materialist emphasis of the term social production is useful in defining the historical emergence and political and economic foundation of urban space. The term social construction may then be conveniently reserved for the phenomenological and symbolic experience of space as mediated by social processes such as exchange, conflict, and control. Thus the social construction of space is the actual transformation of space – through people’s social exchanges, memories, images, and daily use of the material setting – into scenes and actions that convey symbolic meaning.60

Damit stehen physische Neugestaltungen des Stadtraums als Ausdruck wirtschaftlicher und politischer Strukturen der alltäglichen Aneignung eben dieser Räume durch individuelle Akteure gegenüber, die aus den vorhandenen Formen Sinn machen. Diese Dichotomie ist zwar aus heuristischen Gründen sinnvoll, jedoch nicht immer unproblematisch. Zum einen spielen auch beim Neubau von städtischem Raum, etwa durch städtische Planungsinstanzen, Werte und Bedeutungen eine Rolle. Planer agieren nicht nur nach festen ökonomischen, technischen und ideologischen Vorgaben, sondern bewegen sich in einem vielschichtigen Spannungsfeld von Diskursen, räumlichen Leitbildern, eigenen und fremden Werten und Interessen; ,bedeutungsfreies‘ material setting zu schaffen ist nicht möglich. Zum anderen gestalten auch ‚Durchschnittsbürger‘ die Stadt physisch und eignen sich ihn nicht nur durch Bedeutungszuschreibungen an.61 Gerade beim Mont Royal laufen Aneignungs- und Planungsprozesse ineinander: Durch Planungen eignen sich gesellschaftliche Gruppen den vorhandenen Stadtraum an. Urban space verstehe ich damit im Sinne Lefebvres und Sojas als die räumliche Anordnung physisch greifbarer, sichtbarer Formen in einer Stadt, die gesellschaftlich hervorgebracht wird und auf soziale Prozesse zurückwirkt. Diesen Ansatz, das Verhältnis von Mensch und Raum zu fassen, ergänze ich 60 Low, „Spatializing Culture“, 861–62. 61 In dieser Auffassung möchte ich mich der neuen Stadtplanungsgeschichte anschließen, die in den 1990er Jahren einen weiten Begriff von Planung ins Spiel brachte, der Planung als umfassendes Denken über den und Handeln im städtischen Raum versteht. Zuvor dominierte ein institutionengeschichtliches Narrativ, welches planning history als Geschichte der Ideen großer Planer und des stetigen Fortschritts zur immer besser geplanten Stadt präsentierte, etwa Mel Scott, American City Planning since 1890 (Berkeley: University of California Press, 1969). Übersicht über die Geschichte der Stadtplanungsgeschichte bei Mary Corbin Sies and Christopher Silver, „The History of Planning History“, in: dies. (eds), Planning the Twentieth-Century American City (Baltimore: Johns Hopkins University, 1996), 1–34. Beginn der neuen revisionary planning history mit David C. Hammack, „Comprehensive Planning Before the Comprehensive Plan: A New Look at the Nineteenth-Century American City“, in: Daniel Schaffer (ed.), Two Centuries of American Planning (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1988), 139–65; programmatisch Schultz, Constructing Urban Culture und Leonie Sandercock (ed.), Making the Invisible Visible: A Multicultural Planning History (Berkeley: University of California Press, 1998).

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um Shields‘ social spatialization, welche die Konstruktionen von Raum durch mentale Bilder und Diskurse als weiteren Spielball einführt; auch diese stehen in einem dialektischen Verhältnis zu gesellschaftlichen Prozessen und zum physischen Raum selbst. Gleichzeitig aber sollen die bei Shields und Low getrennten Ebenen der „symbolic realm of cultural significations“ und „real space relations“62, die construction und production, in vorliegender Arbeit zusammengedacht werden. Wenn also von Raumkonstruktionen gesprochen wird, so können damit Bilder und Vorstellungen ebenso wie die materielle Gestaltung von Raum gemeint sein und Aneignungs- ebenso wie Planungsprozesse, wobei eins beim anderen immer mitschwingt. Urban Spaces, Landscapes, Places, Territories: Begriffe

Die urbane, sichtbare Form der Stadt als urban space zu verstehen, heißt, den Begriff identisch mit urban landscape zu verwenden. Letzteres definiert der Geograph Richard H. Schein als „a tangible, visible entity, one that is both reflective and constitutive of society, culture, and identity.“63 Während Schein betont, dass landscape der umfassendere Begriff ist, der sowohl räumliche als auch visuelle Komponenten beinhaltet64, so möchte ich urban space nicht auf den abstrakten Raum, auf die erfahrbare Dreidimensionalität in Abgrenzung zur sichtbaren Form reduzieren. Letztlich ist das visuell sichtbare in der Stadt immer auch räumlich angelegt, weshalb ich die Gesamtheit urbaner Form, die durch Leerstellen und Bauten/Formen gleichermaßen artikuliert wird, als urban space bezeichnen möchte. Damit ist mit Raum auch nicht mehr der absolute Raum gemeint, sondern nach Michel de Certeau der praktizierte, dynamische Raum.65 Von ‚Raum‘ zu sprechen, scheint mir auch deshalb angemessener als landscape, da er stärker die Dynamik zum Ausdruck bringt, die dem hier verwendeten Konzept von Raum als Analysekategorie inhärent ist. Auch als Untersuchungsgegenstand impliziert space mehr denn landscape oder place ein Moment der Bewegung, und damit nach de Certeau menschliche Handlungen: Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. 62 Shields, Places on the Margin, 47. 63 Richard H. Schein, „The Place of Landscape: A Conceptual Framework for Interpreting an American Scene“, in: Annals of the Association of American Geographers 87:4 (1997), 660–80, hier 660. 64 Schein, „Place of Landscape“, 662. 65 Zu Raumkonzepten in der Philosophie zwischen absolutem und relativem Raum Schroer, Räume, Orte, Grenzen, 29–46; Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hgg.), Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (Frankfurt a.  M.: Suhrkamp, 2006), 19–102; De Certeau, „Pratiques d’espace“, 139–91.

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Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. […] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.66

Schon die Möglichkeit von Bewegung, so könnte man de Certeau ergänzen, reicht, einen Raum zu konstituieren. Damit hält Temporalität ebenso Einzug in den Raum wie Wandel, Geschichte und Akteure. Entsprechend heißt es weiter bei de Certeau: „Die Erzeugung eines Raumes scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschichte verbindet.“67 Diese Bewegung aber wäre wiederum ein Teil dessen, was Shields und Low als Raumaneignung bezeichnet haben; der Kreis zur Prozesshaftigkeit der gesellschaftlichen Konstruktion von Raum schließt sich auf diese Weise. Place dagegen, um bei de Certeau zu bleiben, […] ist die Ordnung […] nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden. Hier gilt das Gesetz des ‚Eigenen‘: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ‚eigenen‘ und abgetrennten Bereich, den es definiert. Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten.68

Orte haben nach diesem Verständnis etwas Stabileres, Statischeres als Räume. Das „Eigene“ scheint mir hier weniger im Sinn eines „zu jemandem gehörend“ gemeint, denn als in sich Abgeschlossenes. Ein Raum kann also zugleich ein Ort sein, je nach Perspektive: Will man die Abgrenzung zu anderen Räumen nach außen betonen, so bietet sich place als Terminus an. Steht der durch Handlungen produzierte Charakter, gewissermaßen die innere Dynamik eines Ortes im Vordergrund, dann ist space angebracht. Der Mont Royal kann dementsprechend beides sein; meist jedoch bezeichne ich ihn als Raum, da er in den Konflikten, die hier untersucht werden, ständig neu konzipiert und eben auch durch Bewegungen – etwa dem Errichten von Monumenten, dem Besuch des Parks – transformiert wird. Wenn es aber darum geht, ihn als Einheit von anderen Orten abzugrenzen, so wird der Mont Royal ein Ort. Die Wahl der Begriffe ist damit durch die narrative Perspektive bedingt, nicht aber durch die Aneignungsprozesse der Akteure. Aus diesem Grund ist meines Erachtens auch die in der Kulturgeschichte häufigste Definition problematisch, nämlich dass Menschen sich Räume aneignen und sie dadurch zu Orten machen.69 Dieses Verständnis impli66 Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns (Berlin: Merve, 1988), 219. 67 Ebd., 233. 68 Ebd., 217. Vgl. Martina Löw, „Raum – Die topologische Dimension der Kultur“, in: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften: Grundlagen und Schlüsselbegriffe (Stuttgart: Metzler, 2004), Bd. 1, 46–47. 69 Ortlepp and Ribbat, „Taking Up Space“, iv. Dieser Ansatz stützt sich auf die Theorien des Geographen Yi-Fu Tuan. Vgl. Tuan, Space and Place, 34.

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ziert, dass Raum abstrakt ist, der, wenn Menschen ihm Bedeutungen zuweisen und sich mit ihm verbunden fühlen, zu einem Ort wird. Die Anthropologin Martha Radice hat diesen Ansatz treffend charakterisiert und auf die oben diskutierte, problematische Trennung von Raumproduktion und -konstruktion zurückgeführt: Space is thus a universal continuum awaiting the actions of humans who, as meaningmakers, will transform particular sections of it into places, filled with significance, attachment and identity. [...] Space consists of the empty forms of the physical environment; place is the meaning-rich substance with which they will be filled. To put this in terms of social spatialization, socially produced space – the material setting – is transformed through social construction into meaningful place.70

Der in dieser Arbeit vertretene dynamische Raumbegriff versteht jedoch Raum gerade aus der Bewegung, aus dem diskursiven und physischen Belegen und Aneignen heraus; menschlich gestalteter, physischer Raum ist damit immer auch sozial konstruierter Raum.71 „Ort“, place, entspricht in meinem Verständnis aufgrund seiner Statik daher eher dem site.72 70 Radice, Feeling Comfortable?, 10. Radice selbst stützt sich daher auf die der Anthropologie entlehnte sogenannte dwelling theory, der zufolge nicht Menschen Raum mit Bedeutung versehen, sondern dieser immer schon inhärent Bedeutung trägt, Raum gar nicht ohne Bedeutung denkbar ist. Insofern, als dadurch die Bedeutungsgeladenheit der „production of space“ nach Shields/Low zum Ausdruck kommt, ist dieser Ansatz gut; auch wird dadurch deutlich, dass selbst der Raum als natürliche Bedingung, sofern er menschlich gedacht wird, immer schon mit Bedeutung versehen ist. Andererseits fällt es schwer, dem Raum an sich inhärente Bedeutungen zuzusprechen: Wie sollte Raum sui generis Bedeutung hervorbringen? Dies scheint zu essentialistisch gedacht. Ein Zusammendenken der social production und construction of space im Rahmen eines kulturhistorischen Ansatzes und die oben skizzierte, andere Unterscheidung zwischen space und place anhand des Certeauschen Raumbegriffs scheinen auch ohne die dwelling theory möglich, zumal diese einen eher auf „senses“ gestützten Erfahrungsbegriff impliziert, der für die historische Forschung schwieriger anzuwenden ist als für die Anthropologie. Zur dwelling theory vgl. Edward S. Casey, „How to Get From Space to Place in a Fairly Short Stretch of Time: Phenomenological Prologomena“, in: Steven Feld and Keith H. Basso (eds), Senses of Place (Santa Fe: School of American Reserach Press, 1996), 13–52; Timothy Ingold, „Hunting and Gathering as Ways of Perceiving the Environment“, in: Roy Ellen and Katsuyoshi Fukui (eds), Redefining Nature: Ecology, Culture and Domestication (Oxford: Berg, 1996), 117–55. 71 Vgl. Pierre Bourdieu, „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume (Frankfurt a. M.: Campus, 1991), 25–34. 72 Anti-moderne Kritik an der Gleichsetzung von place und site bei Casey, „Smooth Spaces and Rough-Edged Places“, der diese als typisch modernen Verlust von Verortung und Tendenz zum „Abstrakten“ ansieht, eine m. E. unberechtigte Kritik, wenn man space nicht als

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Eine vermittelnde Stellung zwischen place und space nimmt in dieser Arbeit das ‚Territorium‘ ein. Darin greife ich auf die maßgeblichen Untersuchungen des Geographen Robert D. Sack zurück, der territoriality als „the attempt to affect, influence, or control actions and interactions (of people, things, and relationships) by asserting and attempting to enforce control over a geographic area“73 zu fassen suchte. Während auch das territory die schiere Dimension, das Potential der Bewegung ebenso wie die Möglichkeit zu Handlungen in seinem Inneren impliziert und nicht als Punkt wie der ‚Ort‘ konzipiert ist, so betont der Begriff zugleich stärker als ‚Raum‘ die Abgrenzung nach außen. Der Mont Royal, oder Teile des Mont Royal, können in der historischen Narration von Räumen zu Territorien werden, wenn der Akzent darauf liegt, dass Individuen oder gesellschaftliche Gruppen sie für sich beanspruchten und eine klare – physische oder diskursive – Grenze um das entsprechende Land zogen. Wie beim Ort steht so die Abgrenzung im Vordergrund, allerdings eher als Prozess, als Versuch; das Territorium ist gewissermaßen labiler als der Ort. Identitäten und Machtbeziehungen

Wenn sich Akteure bestimmte Räume der Stadt aneignen, sie als die ihren betrachten und entsprechend zu gestalten suchen, so können die gemeinsamen Bilder und Gestaltungspläne eines Raums das Gruppengefühl wiederum verstärken: Man setzt sich von anderen über den physischen und imaginierten Raum ab. Community identity bildet sich auch in Beziehung zum Raum aus. 74 Abstraktum, sondern auch als bedeutungsvolles Phänomen interpretiert. S. a. ders., Getting Back into Place: Toward a Renewed Understanding of the Place-World (Bloomington: University of Indiana Press, 1993) und ders., The Fate of Place: A Philosophical History (Berkeley: University of California Press, 1997). Kritische Auseinandersetzung mit Caseys Ansatz und Überblick über philosophische Debatten zum Thema „place“ und „space“ bei Thomas Broeckelman, „Lost in Place? On the Virtues and Vices of Edward Casey’s Anti-Modernism“, in: Humanitas 16:1 (2003), 36–55. 73 Robert D. Sack, „Human Territoriality: A Theory“, in: Annals of the Association of American Geographers 73:1 (1983), 55–74, hier 55. Ebd., 56, Übersicht über abweichende Definitionen in der geographischen Forschung. Zumeist wurde Territorialität als Verteidigung eines Territoriums, auf dem sich das Individuum/die Gruppe befindet, verstanden, was nach Sacks Definition nicht unbedingt notwendig ist. Vgl. ausführlicher ders., Human Territoriality: Its Theory and History (Cambridge: Cambridge University Press, 1986). Traditionellere Definition des Territoriums bei Maier, „Consigning the Twentieth Century to History“, 808. 74 Zur Reziprozität von territory und identity im Mikrokosmos der Stadt Kathleen O’Reilly and Michael E. Crutcher, „Parallel Politics: The Spatial Power of New Orleans’ Labor Day Parades“, in: Social & Cultural Geography 7:2 (April 2006), 250; entwickelt hat sich die

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Der Begriff der „Identität“ ähnelt dem des „Raums“ dahingehend, dass er eines der Zauberworte der jüngeren Kulturgeschichte zu sein scheint.75 Angesichts der Fülle von Verwendungsweisen vor allem des für die Geschichtswissenschaft interessanten, jedoch nicht unproblematischen Konzepts der „kollektiven Identität“, ist es notwendig, das Verständnis dieses Begriffs in vorliegender Arbeit kurz zu skizzieren.76 „Most authors conceptualize identities as sets of understandings that are produced discursively and expressed culturally as well as negotiated, performed, and reshaped collectively and individually in the unequal social and class relations of daily life.“77 Allerdings würde ich die Definition dahingehend präzisieren, dass es sich um „sets of understandings“ handelt as to where one belongs. Dabei geht es nicht um ein essentialistisches Verständnis, eine ‚wesensartige‘ Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Im Gegenteil, Identitäten werden hier als Diskurse über Zugehörigkeiten verstanden, die durch Selbst- und Fremdzuschreibungen entstehen, stetig neu ausgehandelt werden und daher ständig im Fluss sind. Identitäten in diesem Sinne sind fragil, historisch kontingent, dynamisch und vielschichtig. Damit eröffnet das Konzept die Möglichkeit, die Komplexität gesellschaftlicher Positionierungen zu fassen. Identitätskonstruktionen implizieren dabei immer auch Inklusion und Exklusion. Über das ‚Andere‘ wird das ‚Eigene‘ in einem steten, wechselseitigen Prozess definiert, oftmals mittels essentialistischer Argumente, worin letztlich das Konfliktpotential von Identitäten angelegt ist. Auch Konflikte lassen sich demnach mithilfe dieses Konzepts gut analysieren, da es, aufgrund seiner Dynamik, den Blick schärft für deren historische Bedingtheit.78 Doch entlang welcher sozio-kulturell konstruierter Kategorien ordneten sich die historischen Akteure im Montreal der 1880er bis 1930er Jahre verschiedenen Gruppen zu? Von den klassischen Kategorien der Kulturgeschichte, race, class, gender, ethnicity und religion spielen in vorliegender Arbeit primär Ethnizität, Religion

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Forschung zu dieser Interdependenz mit dem Fokus auf nationale Identität und nationalen Raum, vgl. Daniel Bourgeois and Ives Bourgeois, „Territory, Institutions and National Identity: The Case of Acadians in Greater Moncton, Canada“, in: Urban Studies 42:7 ( June 2005), 1123–38; Guntram H. Herb, „National Identity and Territory“, in: Herb and David H. Kaplan (eds), Nested Identities: Nationalism, Territory and Scale (Lanham: Rowman & Littlefield, 1999), 17. Zum Boom des Begriffs auch im Alltag Lutz Niethammer, Kollektive Identität: Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur (Reinbek: Rowohlt, 2000), 9–76; Übersicht mit ausführlichem Literaturverzeichnis bei Jürgen Straub, „Identität“, in: Jaeger und Burkhard (Hgg), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd.1, 290–303. Problematisierung des Konzepts Niethammer, Kollektive Identität, 625–32. Bettina Bradbury and Tamara Myers, „Introduction“, in: dies. (eds), Negotiating Identities in 19th- and 20th-Century Montreal (Vancouver: University of British Columbia Press, 2005), 4. Vgl. Hochgeschwender, Wahrheit, 25.

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und Klasse eine Rolle.79 Race wird in Montreal um 1900 weitgehend noch ethnokulturell gedacht. Wenn in zeitgenössischen Texten etwa von „les deux races“ die Rede ist, dann sind Franko- und Anglokanadier gemeint, die man heute als ethnicities bezeichnen würde.80 Unter Ethnizität verstehe ich hier im Gefolge der ethno-kulturellen Schule, die sich seit den 1960er Jahren in der amerikanischen historischen Forschung etabliert hat, eine auf Basis des Glaubens an eine gemeinsame Herkunft, einer gemeinsamen Kultur, Konfession und Sprache konstruierte Identität.81 Dieses konstruktivistische Verständnis von ethnicity bietet sich für die Analyse der Geschichte Montreals an, da es erlaubt, die scheinbar undurchlässig und in sich homogen einander gegenüberstehenden ethno-kulturellen Blöcke in ihrer inneren Komplexität und ihren Überlappungen zu greifen. Vor allem dem konfessionellen Moment kommt dabei eine große Rolle zu. Anglokanadier waren nicht alle Protestanten, und Frankokanadier nicht alle Katholiken; je nach Situation bildeten sich konfessionell bedingte Allianzen, die durchaus sprach- und herkunftsübergreifend waren.82 Wenn allerdings in dieser Arbeit lediglich von ‚Anglophonen‘ oder ‚Frankophonen‘ die Rede ist, dann sind damit respektive Anglo-Protestanten oder Franko-Katholiken gemeint; abweichende Konfessionen werden präzisiert. Die Rolle von Konfession in der Zuweisung ethno-kultureller Identitäten ist in der Forschung schon seit längerem betont worden. Gerade aufgrund ihrer institutionellen Organisation wirkten Religionen stark 79 Selten kam es zu Allianzen von katholischen und protestantischen, anglophonen und frankophonen Frauen; wenn gender eine Rolle spielte in den Debatten um den Mont Royal, dann wird dies explizit hervorgehoben. Zu gender als Analysekategorie vgl. Joan W. Scott, „Gender: A Useful Category of Historical Analysis“, in: American Historical Review 91:5 (Dec. 1986), 1053–75. 80 Vgl. Alan Gordon, „Ward Heelers and Honest Men: Urban Québécois Political Culture and the Montreal Reform of 1909“, in: UHR/RHU 23:2 (March 1995), 26. Zur Vielschichtigkeit des Rassebegriffs in Nordamerika im 19. Jh. vgl. Hochgeschwender, Wahrheit, 22–23. 81 Zusammenfassung des ethno-kulturellen Zugriffs mit Literaturübersicht bei Hochgeschwender, Wahrheit, 11–14; ausführliche Diskussion der die Historiographie durchziehenden Kritik an diesem Ansatz Ronald F. Formisano, „The Invention of the Ethnocultural Interpretation“, in: American Historical Review 99:2 (April 1994), 453–77. Bahnbrechend Kathleen Conzen et al., „The Invention of Ethnicity: A Perspective from the USA“, in: Journal of American Ethnic History 12:1 (1992), 3–41. 82 Weitgehend setze ich Sprache und ethnische Herkunft gleich; sofern Einwanderer eine Rolle spielten, die sich einem der beiden Sprachblöcke zuordneten, ohne französischer oder angelsächsischer Herkunft zu sein, wird dies deutlich gemacht. Selten kam es vor, dass sich Montrealer britischer Herkunft dem frankophonen Sprachraum zugehörig fühlten, wie Paul-André Linteau, „Le personnel politique de Montréal, 1880–1914: évolution d’une élite municipale“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 52:2 (automne 1998), 197, für die Zusammensetzung des Stadtrats gezeigt hat.

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gemeinschaftsstiftend.83 Die Bindungskraft konfessioneller Milieus muss daher hier in ihrem Zusammenspiel mit den ethnischen Allianzen untersucht werden.84 Auch klassenspezifische Koalitionen durchbrachen die ethno-kulturellen Fronten, wenn etwa anglo- und frankophone Gewerkschaften gemeinsam agierten. Der Begriff der ‚Klasse‘ soll hier nicht streng marxistisch über die Produktionsverhältnisse definiert werden, sondern nach dem erweiterten Verständnis der nicht-marxistischen, bürgerlichen Geschichtsforschung Lebensstile, kulturelle Faktoren, Ideologien und Wertvorstellungen miteinbeziehen, die einer Vielzahl von Vereinen und Assoziationen zugrunde lagen.85 Damit wird deutlich, wie auch ‚Klasse‘ eine jener Kategorien war, die jenseits von ökonomischen Zugehörigkeiten im ständigen Prozess identitärer Konstruktionen ausgehandelt wurde. Gesellschaftliche Gruppen schrieben einander Eigenschaften zu, die mit Klassenzugehörigkeit konnotiert waren und versuchten selbst, sich im sozialen Geflecht der Stadt nicht nur materiell, sondern auch symbolisch und diskursiv am gewünschten Ort – wörtlich und metaphorisch – zu situieren.86 In den Auseinandersetzungen um den Mont Royal wird das besonders deutlich, wenn die Oberschichten der beiden Sprachgruppen einander den herausragenden sozialen Status durch klassenspezifische Zuschreibungen abzuerkennen versuchten. Auch den Begriff der ‚Oberschicht‘ möchte ich relational verstehen, anders als Roderick MacLeod, der in seiner Studie zum Stadtteil der anglophonen Oberschichten Montreals diese zwar als ‚Elite‘ bezeichnet, sie aber dennoch zur middle class rechnet, da sie nicht der ursprünglichen „colonial aristocracy“ angehörten.87 Relativ zur Stadt aber bildeten sie die Oberschicht, sowohl aufgrund ihres wirtschaftlichen Status als auch aufgrund ihres lokalen politischen Einflusses und Prestiges. ‚Elite‘ und Oberschicht werden daher in vorliegender Arbeit synonym verwendet. 83 Timothy L. Smith, „Religion and Ethnicity in America“, in: American Historical Review 83 (Dec. 1978), 1155–85. Vgl. Hochgeschwender, Wahrheit, 15, der überzeugend gezeigt hat, wie in den USA seit den 1850er Jahren auf Basis von konfessioneller Zugehörigkeit katholische Iren, Deutsche, Kreolen, Engländer und Franzosen klassen- und ethnizitätsübergreifende Haltungen entwickelten. 84 Milieubegriff aus der europäischen Katholizismusforschung und Anwendung auf Nordamerika nach Hochgeschwender, Wahrheit, 15–17; dort, 20, auch Definition von Katholizismus als „institutionell und weltanschaulich begründete, aber nicht unbedingt durch Kirchennähe geprägte, klassenübergreifende soziale Formation“, die ich auch auf den Protestantismus anwenden möchte. Literaturbericht zur Milieuforschung bei Christoph Kösters und Antonius Liedhegener, „Historische Milieus als Forschungsaufgabe: Zwischenbilanz und Perspektiven“, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), 593–601. 85 Hochgeschwender, Wahrheit, 23–24. 86 Zum Konzept des symbolischen Klassenkampfs Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, ²1988). 87 MacLeod, „Salubrious Settings“, 13–14. Diese Auffassung orientiert sich an ,Klasse‘ als rein ökonomisch determinierter Kategorie.

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Ebenso wie die Sprachblöcke durch konfessionelle oder klassenspezifische Allianzen durchbrochen werden konnten, muss innerhalb der ethno-kulturellen Blöcke differenziert werden: Katholisch zu sein beispielsweise konnte im Montreal des späten 19. Jahrhunderts Unterschiedliches zugleich bedeuten, von liberal bis ultramontan.88 Auch in diachroner Perspektive muss relativiert werden. In den 1880er Jahren bedeutete sich als frankophon-katholisch zu positionieren nicht dasselbe wie in den 1920ern. Angesichts dieser Komplexität gilt es, genau auf Wandlungen im jeweiligen Selbstverständnis der Akteure zu achten, auf die feinen Differenzierungen, und sich zu bemühen, ihnen nicht aus heutiger Sicht Zugehörigkeitskategorien überzustülpen, sondern im Sinn einer „rekonstruktiven, interpretativen Sozial- und Kulturwissenschaft“89 das Selbstverständnis und die Praxis dieser Akteure zu untersuchen. Ordnungsmuster werden dabei offengelegt und der Blick für ihre Wirkmächtigkeit in den zeitgenössischen Diskussionen geschärft.90 Welche Identitäten in welchen Situationen in Wechselbeziehung zum Raum ausgespielt und formiert wurden, wie ethnicization91, Klassenformierung und Konfessionalisierung mit spatialization verschränkt waren, das wird in dieser Arbeit zu zeigen sein. Konstruktionen von Identitäten und Alteritäten gehen zumeist auch mit Hierarchien einher, und daher mit Macht.92 Die „unequal [...] relations of daily life“93 speisen sich aus Identitätszuschreibungen ebenso wie sie diese prägen. Wenn Raum, wie oben skizziert, in einem dialektischen Verhältnis zu den sozialen Praktiken steht und Identitäten im Raum formiert werden, dann hat auch Raum etwas mit Macht

88 Definition nach Hochgeschwender, Wahrheit, 20–21, als strenge Orientierung am als unfehlbar verstandenen Papsttum und einer damit einhergehenden Zentralisierung der Kirchenstrukturen, theologisch auf gegenreformatorischen Tendenzen aufbauend. 89 Jürgen Straub, „Personale und kollektive Identität: Zur Analyse eines theoretischen Begriffs“, in: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hgg.), Identitäten (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998), 99. 90 Zur Dekonstruktion binärer, Gesellschaft strukturierender Oppositionen Edward Soja and Barbara Hooper, „The Spaces that Difference Makes: Some Notes on the Geographical Margins of the New Cultural Politics“, in: Michael Keith and Steve Pile (eds), Place and the Politics of Identity (London: Routledge, 1993), 198. 91 Begriff nach Rosalyn Trigger, „The Geopolitics of the Irish-Catholic Parish in NineteenthCentury Montreal“, in: Journal of Historical Geography 27:4 (2001), 554. Ursprünge des Konzepts der „ethnicization“ bei David A. Gerber, The Making of an American Pluralism: Buffalo, New York, 1825–1860 (Urbana: University of Illinois Press, 1989), 118–20. 92 Sabine Damir-Geilsdorf und Béatrice Hendrich, „Orientierungsleistungen räumlicher Strukturen und Erinnerung: Heuristische Potenziale einer Verknüpfung der Konzepte Raum, Mental Maps und Erinnerung“, in: dies. et al. (Hgg.), Mental Maps, 31. 93 Bradbury and Myers, „Introduction“, in: dies. (eds), Negotiating Identities, 4.

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zu tun.94 Nicht nur werden Grenzen gezogen, Territorien abgesteckt und Räume erobert, sondern es geht auch auf diskursiver Ebene um die Deutungshoheit über den Stadtraum, um kulturelle Hegemonie ebenso wie um gesellschaftspolitische Macht. Besonders für Montreal ist es wichtig, hier zu unterscheiden, da die Anglokanadier seit dem späten 19. Jahrhundert im Stadtrat zwar in der Unterzahl waren, es ihnen aber streckenweise dennoch gelang, ihr altes Prestige zu bewahren und diskursiv Macht auszuüben, etwa indem sie prestigeträchtige Teile des Stadtraums für sich reklamierten. Daher unterliegt dieser Arbeit ein Machtbegriff, der zum einen auf Antonio Gramsci, zum anderen auf Michel Foucault zurückzuführen ist. Der italienische Marxist Gramsci entwickelte bereits in den 1930er Jahren seine Theorie der kulturellen Hegemonie, unter der er die Folgebereitschaft und Zustimmung der Massen zu den Glaubenssätzen und Vorstellungen der dominanten Gruppe einer Gesellschaft verstand.95 Mit ihrer Berücksichtigung von Prestige, Symbolen, Ideen und Sprache fiel Gramscis Theorie auf fruchtbaren Boden in der neueren Kulturgeschichte, zumal sein Machtbegriff Widerstände gegen die Hegemonie nicht ausschließt.96 Die Hegemonie wird gesellschaftlichen Gruppen nicht aufgezwungen, sondern muss in einem ständigen Prozess ausgehandelt, die ‚dominanten‘ Vorstellungen müssen in andere Wertsysteme integriert oder angefochten werden.97 Damit kann das Konzept auch ausgleichende Momente fassen und spricht nicht-hegemonialen Kräften agency zu. Während Gramsci bereits den Blick auf den Zusammenhang von Sprache und Macht richtete und somit in gewissem Sinn Foucault vorwegnahm, ist Macht bei Foucault jedoch noch viel feingliedriger gedacht, als Netzwerk, das alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt und immer und überall vorhanden ist. Macht erscheint damit nicht auf Aushandlungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen – bei Gramsci vor allem Klassen – beschränkt, sondern omnipräsent in jeglicher menschlichen Interaktion und jedem gesagten Wort.98 Der Foucaultsche Begriff sensibilisiert so für Machtbeziehungen, die unterhalb der Ebene gesellschaftlicher Großgruppen angesiedelt sind, und damit auch für Differenzierungen innerhalb dieser Gruppen.

94 Hartmann, „Konzepte und Transformationen“, in: Damir-Geilsdorf et al. (Hgg.), Mental Maps, 17. Vgl. auch Pred, Making Histories, 12. 95 T. J. Jackson Lears, „The Concept of Cultural Hegemony: Problems and Possibilities“, in: American Historical Review 90:3 ( June 1985), 568. 96 Lears, „Cultural Hegemony“, 574. 97 Zur kulturhistorischen Anwendung s. a. Gordon, Making Public Pasts, v. a. 173. 98 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp,101998), 102–19. Kritische Auseinandersetzung mit Foucaults Machtbegriff bei Frank Kelleter, Amerikanische Aufklärung: Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution (Paderborn: Schöningh, 2002), 179–83.

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Stadt, Raum, Berg

Diskurse, Akteure, Strukturen

Machtbeziehungen bringen nach Foucault Diskurse hervor, welche dann wiederum Machtbeziehungen generieren. In Anlehnung an Foucault möchte ich unter dem nun schon mehrfach erwähnten Begriff ‚Diskurs‘ die Gesamtheit aller Aussagen verstehen, die zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort zu einem Gegenstand gemacht werden können, das, was zu diesem Thema gesagt – und gedacht – werden kann, ohne dass es als ‚unnormal‘ gilt; kurz: das ‚Wissen‘ um diesen Gegenstand.99 Diskursgegenstände sind in vorliegender Arbeit der städtische Raum von Montreal, genauer: der Mont Royal, ebenso wie franko- und anglokanadische Identitätskonstruktionen. Der Diskursbegriff erlaubt, zu fassen, wie nicht nur auf physischer Ebene der Stadtraum verändert wird, sondern auch durch das Sprechen über diesen. Der Mont Royal etwa war nicht per defininitionem ein gesunder Ort. Er wurde es erst, als die historischen Akteure anfingen, ihn als solchen zu betrachten und zu bezeichnen. Dass der Mont Royal gesund ist, galt damit seit dem späten 19. Jahrhundert als nicht anzuzweifelndes Wissen, das oft von konkurrierenden Gruppen als letztes, schlagendes Argument ins Feld geführt wurde, welches alle anerkennen mussten, wollten sie nicht als unwissend und unmodern stigmatisiert werden. Damit wiederum trug der Diskurs über den gesunden Mont Royal dazu bei, gesellschaftlichen Gruppen Eigenschaften zuzuschreiben und Machtbeziehungen zu etablieren oder zu festigen. Das Wissen um die wohltuende Wirkung des Berges wiederum war von verschiedenen anderen zeitgenössisch wirksamen Diskursen geprägt, einem medizinischen Diskurs über Miasmen als Ursachen von Krankheiten etwa oder einem großstadtkritischen Diskurs. Dementsprechend schwang eine Fülle von nicht explizit artikulierten Glaubenssätzen, kulturellen Codes100, im Reden vom gesunden Berg mit, die wiederum verdeutlichen können, wie sich die Akteure die Welt ordneten und welchen Platz sie sich selbst und anderen darin zudachten. Auch wenn gesellschaftliche Gruppen das ‚Wissen‘ um die gesunde Wirkung des Mont Royal teilten, so konnte es für sie zudem mit voneinander abweichenden weiteren Diskursen verknüpft sein, beispielsweise mit Diskursen über class oder anglo-saxon supremacy, was den Blick auf ein unendliches Geflecht sich überlagernder Diskurse eröffnet, mittels derer die Akteure Sinn aus ihrer Welt machten. Ebenso lassen sich zu einem Gegenstand konkurrierende Diskurse fassen, von denen sich noch keiner als ‚Wahrheit‘ durchgesetzt hatte. 99 Nach Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren: Einführung in die Historische Diskursanalyse (Tübingen: edition diskord, ²2004), 78 und Jürgen Martschukat, „,The Death of Pain‘: Erörterungen zur Verflechtung von Medizin und Strafrecht in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: ders. (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault (Frankfurt: Campus, 2002), 128. 100 Auch Foucault sprach ursprünglich von ,Code‘, um ein unbewusstes Wissen zu charakterisieren, das beispielsweise in der Wissenschaft Entwicklungen zugrundliegt. Landwehr, Geschichte des Sagbaren, 76.

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Diskurse prägen wiederum die Handlungen im Raum. Durch Interaktion mit dem Stadtraum kristallisieren sich Diskurse in all ihrer Verwobenheit gewissermaßen materiell. „Each seemingly individual decision behind any particular […] landscape is embedded within a discourse. When the action results in a tangible landscape element, or total ensemble, the cultural landscape becomes the discourse materialized.“101 Weil der Mont Royal als gesund galt, wurde dort ein Krankenhaus errichtet, was andersherum wiederum dazu beitrug, den Diskurs über den gesunden Berg fortzuschreiben und die in ihm implizierten Machtbeziehungen zu perpetuieren. Wenngleich uns auch die Praktiken aus der Vergangenheit diskursiv vermittelt werden, so möchte ich doch zwischen den Stadtdiskursen und den Interaktionen mit dem physischen Raum unterscheiden und letztere nicht ebenfalls als Teil von Diskursen betrachten, sondern als in enger Wechselwirkung mit diesen stehend. Die visuelle und materielle Komponente des Raums würde sonst völlig herausfallen; zudem erlaubt eine Differenzierung zwischen Diskurs und Handlung, aufgrund ihres Wechselspiels Dynamik und Wandel besser zu greifen.102 Dies wirft die weitreichendere Frage nach dem Verhältnis der handelnden, sprechenden Subjekte zu den Diskursen auf. Oft ist der Diskursanalyse – zu Recht103 – vorgeworfen worden, den Diskurs zum eigentlichen Akteur der Geschichte zu erheben und die Menschen als bloße Marionetten zu betrachten. In Antwort darauf formulierte Achim Landwehr auf der Basis Foucaults und Bourdieus eine für Historiker, die sich nicht gänzlich vom Subjekt verabschieden möchten, fruchtbare Auffassung von der Beziehung zwischen Diskurs und Akteur, die zwischen dem autonomen Subjekt der aufgeklärten Moderne und der Allmacht körperloser Diskurse vermittelt. […] der Diskurs [repräsentiert] tatsächlich die überindividuelle Realität des Subjekts […], weshalb das Subjekt nicht autonom gedacht wird. Der in eine bereits geordnete Welt hineingeborene Mensch ist kein Gott, der sich die Welt neu erschaffen kann […]. Es wäre allerdings ein Missverständnis, anzunehmen, dass mit der Negierung der Autonomie des Subjekts das Subjekt gänzlich verschwände. Wahrnehmungen und Erfahrungen des Subjekts sind durch die Diskurse und die Ordnungen zwar organisiert, aber diese Strukturen sind kein undurch101 Schein, „Place of Landscape“, 663. 102 Vgl. Karl H. Hörning, „Kultur als Praxis“, in: Jaeger und Burkhard (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd.1, 139–51. Anders Martschukat, „Death of Pain“, 129–30, der nach Foucault Handlungen als Aussagen innerhalb von Diskursen versteht, die mit den Diskursen Teile eines „Dispositivs“ sind. Damit aber trifft er letztendlich doch auch eine Unterscheidung zwischen Handlungen und Texten, zwischen „nicht-diskursiven Akten“ und Diskursen. Dass beide innerhalb eines kulturellen Musters gleichermaßen ,Sinn machen‘ lässt sich m. E. nachvollziehen, ohne dass die Trennung von Handlung – Diskurs aufgehoben werden muss. 103 Vgl. Martschukat, „Death of Pain“, bei dem Akteure im Rahmen von Diskursen agieren, dabei aber seltsam blass und völlig interessenlos bleiben.

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dringliches Gefängnis, sondern weisen zahlreiche Brüche und Diskontinuitäten auf. Durch das Nebeneinander verschiedener symbolischer Strukturen, durch die Konkurrenz und Verknüpfungsmöglichkeiten von Diskursen ergeben sich zahlreiche individuelle Positionierungsmöglichkeiten, die je eigene Formen der Aussage und Wahrnehmung zulassen.104

Handlungen, auch Sprechakte erscheinen in diesem Verständnis diskursiv strukturiert, haben aber gleichzeitig das Potential, Diskurse zu verändern, indem das Subjekt – bewusst oder unbewusst – Diskurse neu verknüpft oder alte Bindungen löst. Akteure sind somit nicht determiniert, sondern disponiert, etwas zu tun und verlieren nicht völlig ihre agency. Dadurch wird Wandel möglich – und auch Machtbeziehungen können sich verschieben. Ein solcher Foucault light macht den Diskursbegriff für den kulturhistorischen Ansatz nutzbar, der dieser Arbeit zugrundeliegt, im Sinne einer new cultural history, die nach den Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen der historischen Akteure fragt.105 Kulturhistorisch zu arbeiten bedeutet dabei nicht, zugunsten von Perzeptionen und symbolischen Praktiken soziale Strukturen aus dem Blick zu lassen. Es gilt allerdings, sich bewusst zu machen, dass gesellschaftliche Strukturen Konzepte sind, mit denen wir uns heute die Vergangenheit zu ordnen suchen. Es ist der Versuch, gesellschaftliche Konstellationen jenseits der Diskurse zu greifen – die aber wiederum nicht unabhängig von historischen Diskursen zu denken sind und im Wechselspiel zu diesen stehen.106 Das Konzept der Montrealer Gesellschaftsstruktur als von anglofrankokanadischer Koexistenz geprägt soll dabei als Prämisse dienen, die es mir erlaubt, meine Frage zu stellen. Aus den diskursiven Identitätszuschreibungen der historischen Akteure kann das Konzept dann relativiert und differenziert werden.107 Eine Lokalstudie eignet sich dabei besonders gut, um exemplarische Tiefenbohrungen vorzunehmen und Variationen zu erkennen und an kleinen, alltäglichen Geschichten aus dem Montrealer Stadtleben Facetten einer Zeit und eines Ortes aufzuzeigen. Individuelle Akteure erhalten so Kontur, und man kann gewissermaßen mikrohistorisch hineinzoomen ins Geschehen, um zu versuchen, im Rahmen des Großen eine sinnvolle Geschichte über das Kleine zu erzählen und gleichzeitig aus dem Kleinen heraus das in der Forschung etablierte Bild des Großen zu ergänzen. Letztlich bedient sich diese Arbeit damit eklektisch aus dem methodischen Werkzeugkasten der

104 Landwehr, Geschichte des Sagbaren, 98–99. 105 Nach Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001), 17. 106 Vgl. Pred, Making Histories, 33. 107 Weiterführende Überlegungen zum Verhältnis von agency und structure bei William H. Sewell Jr., Logics of History: Social Theory and Social Transformation (Chicago: University of Chicago Press, 2005), 124–51, der sich auch mit der Event-Theorie von Marshall Sahlins auseinandersetzt, ebd., 197–224.

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Geschichtswissenschaft und verknüpft diskursanalytische mit klassischen hermeneutischen Vorgehensweisen.108

3.  Quellen und Forschungsstand Quellen

Um die Rolle des Mont Royal im öffentlichen Diskurs der Stadt zu erarbeiten, boten sich zwei verschiedene Arten von publizierten Quellen an: Reiseführer und Werbepamphlete Montreals sowie Reiseberichte. Vor allem die Reiseführer, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach Reiseberichte als Hauptinformationsmedium über Städte ablösten109, liegen in großer Zahl vor. Ihre Autoren waren zumeist entweder prominente Bürger der Stadt, die sowohl wirtschaftlich als auch politisch zur Führungselite gehörten, oder kommerzielle Einrichtungen wie Hotels und Eisenbahngesellschaften. Beiden unterlagen wirtschaftliche Interessen: Es ging in erster Linie darum, Touristen, Geschäftsleute oder Kongresse anzuziehen oder potentiellen Investoren die Vorteile der Metropole am St. Lorenz im Vergleich zu anderen nordamerikanischen Handels- und Industriestädten anzupreisen. Teilweise nutzten sie auch städtische Jubiläen, um meist reich bebilderte Porträts der Stadt zu verfassen. Auch wenn es sich dabei um interessengeleitete Außendarstellungen handelt, so verdeutlichen diese Texte, was die Verfasser als besonders herausragend an ihrer Stadt empfanden. Dies mag auf die antizipierten Vorlieben der Besucher hin ausgerichtet gewesen sein, ist aber gleichzeitig nicht getrennt denkbar von den innerstädtischen Diskursen über ihre Stadt, in denen sich auch die Autoren der Reiseführer, vielleicht unbewusst, bewegten; gerade in ihrer Fülle können immer wiederkehrende Motive als Diskurs aus den Texten herausgefiltert werden, weshalb sie auch als schriftlicher Niederschlag des allgemeinen Redens über Montreal gelesen werden können. Dasselbe gilt für die Reiseberichte. Von denen verfasst, die Montreal besucht hatten und ihr Bild der Stadt in die Welt hinaustragen wollten, kondensiert sich hier das, was der Besucher als maßgeblich empfunden hatte. Auch hier ist das nicht von dem zu trennen, was in der Stadt selbst über die Stadt gesagt wurde. Reiseberichte und Reiseführer schrieben zusammen einen Diskurs über Montreal fort. Dieser ist wiederum nicht trennbar von den konkreten Interaktionen der Einwohner mit ihrem Berg. Um diese zu fassen, wurden drei Konflikte exemplarisch untersucht. Je Konflikt wurde eine Fülle von disparaten Quellen konsultiert, um die Ereignisse von den unterschiedlichsten Seiten zu beleuchten und so – mögli108 Vgl. Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit: Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Köln: Böhlau, 1997), 127–89. 109 Vgl. Monique Frappier, Margaret Heap et Jean-Claude Robert, „Montréal dans les récits de voyage: bibliographie“, in: Rapport et travaux, 1973–75 (Montréal: GRSM, 1975).

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cherweise – konkurrierende Bergdiskurse zu greifen und Interessen herausfiltern zu können. Vor allem Zeitungsartikel und die Archivbestände der an den Diskussionen beteiligten Institutionen und Assoziationen bilden den Kern des Quellenkorpus. Um den jeweiligen konfliktträchtigen Event herum wurden die vier größten Montrealer Tageszeitungen konsultiert, die frankophonen La Presse und La Patrie ebenso wie die anglophonen Daily Star und The Gazette. In einigen Fällen habe ich auch andere herangezogen, etwa Le Devoir, La Minerve, The Herald und das Boulevardblatt Standard, deren Artikel sich größtenteils in den Scrapbooks der beteiligten Assoziationen fanden. Die politische Ausrichtung der Zeitungen spielte in den Konflikten um den Mont Royal keine dominante Rolle, vielmehr bildeten sich sprachliche Koalitionen. Während der konservative Star häufig gegen Frankokanadier polemisierte, bemühte sich die ebenfalls konservative, seriösere Gazette um versöhnlichere Töne. Der tendenziell liberale Herald schlug sich oft auf die Seite der Armen, gleich welcher Ethnizität.110 Auf frankophoner Seite traten die konservative, 1899 aufgelöste Minerve sowie die zunächst radikal liberale, ab 1897 unter neuer Führung gemäßigt-liberale Patrie dezidiert pro-frankokanadisch auf, während die konservative Presse gemäßigtere Töne anschlug. Am polemischsten argumentierte das Organ der Franko-Nationalisten, die 1910 neu gegründete Le Devoir.111 Für die relevanten Institutionen und Assoziationen wurden jeweils die entsprechenden Sitzungsprotokolle und die Korrespondenz zum Thema untersucht, ebenso wie Jahresberichte. Zentral waren die Bestände der Université de Montréal, vor allem ihrer Leitungsgremien, die Dokumente der Montreal Parks and Playgrounds Association, die der Verwaltungsdirektion des Royal Victoria Hospital, der Fonds der Société Saint-Jean-Baptiste und das Archiv des Erzbistums von Montreal. Ego-Dokumente im klassischen Sinne wurden nicht verwendet, da die einzelnen, briefschreibenden Akteure in ihrer jeweiligen Funktion innerhalb einer Institution auftraten. Insofern, als alle Konflikte auf öffentlichem Terrain am Mont Royal stattfanden, war die Stadtverwaltung ein weiterer wichtiger Akteur, mit dem Kompromisse ausgehandelt werden mussten. In den städtischen Akten lassen sich nicht nur offizielle Positionen der Stadt feststellen, sondern auch interne Konfliktlinien, ebenso wie Anliegen, die von außen an die Stadt – als Petition etwa – herangetragen wurden. Aufschlussreich waren hier die Protokolle der Stadtratsitzungen, die Petitionen an den Stadtrat, die Berichte und Gutachten der einzelnen Verwaltungskomitees zu bestimmten Fragen sowie die Korrespondenz dieser Komitees. Vor allem die Bestände der Commission des parcs et traverses waren hier von Relevanz. Ebenfalls nützlich wa110 Zur politischen Verortung der anglophonen Zeitungen Margaret Westley, Remembrance of Grandeur: The Anglo-Protestant Elite of Montreal, 1900–1950 (Montreal: Libre Expression, 1990), 132. 111 Vgl. André Beaulieu et Jean Hamelin, La presse québécoise des origines à nos jours (Québec: Presses de l’Université Laval, 1975).

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ren die in den Archives de la Ville de Montréal nach Themen angelegten Dossiers, die Presseüberblicke, gesetzliche Regelungen und Erlasse des Stadtrats zu dem jeweiligen Thema umfassen. Wenngleich der Schwerpunkt dieser Arbeit auf den Textquellen liegt, so wurden zusätzlich eine Reihe von visuellen Quellen konsultiert, die sowohl für konkrete Konfliktsituationen, als auch für allgemeine Repräsentationen des Mont Royal interessant sind. Die Komposition von Fotografien des Mont Royal, von Panoramaansichten vom Berggipfel auf die Stadt und Erinnerungspostkarten geben wertvolle Hinweise, welche Vorstellungen man sich vom Mont Royal machte. Ihre Verbreitung trug schließlich dazu bei, gewisse Sehgewohnheiten zu etablieren, deren Ausdruck sie zugleich waren; Sehgewohnheiten, die mit der imagination des Berges in enger Wechselwirkung standen. Stadtpläne und Katasterpläne geben Auskunft über Eigentumsverhältnisse, Distanzen und Lokalisierungen, aber auch über die Wahrnehmungen von Zentralität und Peripherie. Nicht zuletzt habe ich einen Blick auf die am Mont Royal errichtete Architektur geworfen, vor allem das Royal Victoria Hospital, das im Untersuchungszeitraum gebaut und eingeweiht wurde. Baustil und Ikonographie können verdeutlichen, welches Zeichen die Bauherren hier im urbanen Gewebe setzen wollten. Forschungsstand

Bisher sind die Prozesse der Macht- und Identitätsaushandlung zwischen Anglo- und Frankokanadiern im Montreal des 19. und 20. Jahrhunderts nicht in ihrer Verzahnung mit dem städtischen Raum untersucht worden. Allerdings gibt es jenseits der oben dargelegten, raumtheoretischen Forschung eine Fülle von Studien zur urban history Montreals und zur anglo-frankokanadischen Koexistenz im betreffenden Zeitraum, auf deren Ergebnisse sich diese Arbeit stützen kann. Sie werden zwar von anderen Fragestellungen geleitet, berühren dabei aber unterschiedliche Facetten des vorliegenden Themas. Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass in der Forschung entweder der Schwerpunkt auf räumlichen Strukturen liegt oder auf den interethnischen Beziehungen. Das jeweils andere wird dann, wenn überhaupt, meist nur sekundär erwähnt. Arbeiten, die allgemeiner die urbane Entwicklung Montreals beleuchten, beschränken sich oft darauf, beide Phänomene relativ unverbunden nebeneinander abzuhandeln; Verschränkungen finden sich meist lediglich in der Analyse der residentiellen Geographie der Ethnizitäten. Dies gilt auch für das umfangreichste Korpus, das die sozialhistorischen Untersuchungen zur Geschichte der Stadt zwischen den 1880er Jahren und dem Ersten Weltkrieg bilden, die gewissermaßen ein Fundament von quantitativen Daten zur Verfügung stellen. Diesen Arbeiten unterliegt das Bemühen, Montreal als nordamerikanische Industriemetropole zu charakterisieren, die von denselben strukturellen

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Wandlungsprozessen und sozialen Verwerfungen geprägt war wie andere Großstädte des Kontinents zur selben Zeit auch. Damit ordnen sie sich in die new urban history oder Geschichte des city-building ein.112 Zudem ist diese Forschungsrichtung eine seit den 1970er Jahren vor allem im Umfeld der historischen Fakultät der Université du Québec à Montréal (UQAM) unter der Federführung von Paul-André Linteau und Jean-Claude Robert und ihrem Groupe de recherche sur la société montréalaise au 19e siècle formulierte revisionistische Antwort auf vorherige Tendenzen der kanadischen Geschichtswissenschaft, Montreal aufgrund der bi-kulturellen Prägung der Stadt als Sonderfall zu betrachten und sich lediglich auf die – zumeist ideologisch tief eingefärbte – Betrachtung der anglo-frankophonen Beziehungen zu konzentrieren. Letztlich steckt hinter dem Fokus auf die Metropole Québecs auch das Bemühen, die in der ‚Sonderwegsthese‘ oft vertretenen Auffassungen von der Rückständigkeit des katholischen, agrarischen Québec zu widerlegen.113 In detaillierten Lokalstudien, die bis auf Stadtteilebene vordringen, werden die sozialen Schichtungen und Brüche Montreals analysiert, die lokalen politischen Machtstrukturen untersucht und die räumliche Expansion der Stadt nachgezeichnet. Darin berühren sich diese Arbeiten mit denen einiger Montrealer Geographen, die die residentiellen Strukturen bis auf Häuserebene aufgeschlüsselt haben. Auch ethno-konfessionelle Strukturen werden thematisiert, jedoch nicht in den Vordergrund gerückt: Die primären Bruchlinien sehen diese Historiker in den sozialen Schichtungen der Stadt, die dann von ethnokulturellen Differenzen gedoppelt werden. Solche Arbeiten stellen auch dank einiger exzellenter Überblickswerke ein breites Wissen über Klassen, Ethnizitäten und stadträumlichen Wandel zur Verfügung, ohne dass allerdings nach Identitätskonstruktionen, Raumperzeptionen, oder gar beidem zusammen gefragt würde. Die diskursiven Verhandlungen von Identitäten, Raum und Macht werden hier nicht gedacht.114 112 Ausführliche Forschungsberichte zur kanadischen und quebecer urban history der 1990er Jahre Claire Poitras, „L’histoire urbaine au Canada: l’espaces, les citadins et les gouvernements“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 32:1 (Fall 2003), 43–53; François Guérard, „L’histoire urbaine au Québec: la recherche récente à la maîtrise et au doctorat“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 54:2 (2000), 247–68. 113 Vgl. kritisch zu diesem Revisionismus Ronald Rudin, Making History in Twentieth-Century Quebec (Toronto: University of Toronto Press, 1997), 171–218, der in den vorherigen Kapiteln die gesamte Entwicklung der frankophonen Geschichtswissenschaft in Quebec von Lionel Groulx bis in die 1970er Jahren skizziert. 114 Das Referenzwerk schlechthin für die Geschichte der Stadt bleibt Paul-André Linteau, Histoire de Montréal depuis la Confédération (Montréal: Boréal, 1992); der Ansatz dieser Forscher wird skizziert in Paul-André Linteau et Jean-Claude Robert, „Montréal au 19e siècle: bilan d’une recherche“, in: Urban History Review 13 (Feb. 1985), 207–23. Zum city building, auch auf Stadtteilebene, der residentiellen Geographie und der räumlichen Expansion der Stadt ders., Maisonneuve ou comment des promoteurs fabriquent une ville, 1883–1918 (Montréal: Boréal, 1981); ders., „Le contrôle de l’espace et du bâti dans la

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Vom gleichen Impetus, die ‚Normalität‘ Montreals und damit letztlich die Modernität Québecs um 1900 zu demonstrieren, sind auch einige ideenhistorische Arbeiten der 1980er und 90er Jahre geleitet. Sie bemühen sich darzulegen, dass die liberale Révolution tranquille der 1960er mit ihrem Verstaatlichungs- und Modernisierunsgsschub keineswegs vom Himmel fiel, sondern aus im 19. Jahrhundert bereits angelegten liberalen Tendenzen im frankokanadischen Milieu erwuchs. Damit räumen diese Arbeiten endgültig mit dem die Forschung der 1950er Jahre dominierenden Klischee der gänzlich ultramontanen, ländlich-vormodernen Frankokanadier auf und zeigen, wie vielschichtig das frankokanadische, katholische Milieu war. Zur Vielfalt der sobanlieue montréalaise (1840–1914)“, dans: M. Garden et Y. Lequin (dir.), Habiter la ville, XVe–XXe siècles (Lyon: Presses Universitaires de Lyon, 1984), 153–74; ders. et Jean-Claude Robert, „Les divisions territoriales à Montréal au 19e siècle“, Groupe de recherche sur la société montréalaise au 19e siècle, Rapport 1972–1973 (Montréal: Département d’histoire UQAM, 1973); Claire McNicoll, „L’évolution spatiale des groupes ethniques à Montréal, 1871–1981“ (Diss. Ecole des hautes études en sciences humaines, Paris, 1986); Sherry Olson, „Occupations and Residential Spaces in Nineteenth-Century Montreal“, in: Historical Methods 22:2 (1989), 81–96; Robert Lewis, „The Segregated City: Class, Residential Patterns and the Development of Industrial Districts in Montreal, 1861 and 1901“, in: Journal of Urban History 17:2 (February 1991), 123–52. Unersetzlich für einen Überblick über die räumliche Entwicklung der Stadt ist Robert, Atlas historique de Montréal (Montréal: Libre Expression, 1994). Ein Sammelband, der sowohl architekturhistorische als auch planungs- und sozialhistorische Untersuchungen umfasst, ist Isabelle Gournay et France Vanlaethem (dir.), Montréal métropole, 1880– 1930 (Montréal: Boréal, 1998). Zur Zusammensetzung des Stadtrates und den Auseinandersetzungen innerhalb der lokalen politischen Elite Paul-André Linteau, „Le personnel politique de Montréal, 1880–1914: évolution d’une élite municipale“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 52:2 (automne 1998), 189–215; Michel Gauvin, „The Municipal Reform Movement in Montreal, 1896–1914“ (M.A. University of Ottawa, 1972); ders., „The Reformer and the Machine: Montreal Civic Politics from Raymond Préfontaine to Mederic Martin“, in: Journal of Canadian Studies/Revue d’études canadiennes 13:2 (Summer 1978), 16–26; Francine Nagant, „La politique municipale à Montréal, de 1910 à 1914: L’échec des réformistes et le triomphe de Médéric Martin“ (M.A. Université de Montréal, 1982). Kritik des gesamten Ansatzes bei Ronald Rudin, „Revisionism and the Search for a Normal Society: A Critique of Recent Quebec Historical Writing“, in: Canadian Historical Review 73:1 (March 1992), 30–61, der in dieser Forschungstendenz die Gefahr sieht, die ethnischen Beziehungen als zu harmonisch darzustellen. Meines Erachtens ist dieser Vorwurf unberechtigt, vgl. etwa Linteau, „Rapports de pouvoir et émergence d’une nouvelle élite canadienne-française à Montréal, 1880– 1914“, in: Études canadiennes: Revue interdisciplinaire des études canadiennes en France 21:1 (1986), 163–72, der die Spannungen zwischen Anglophonen und Frankophonen im Stadtrat vor dem Hintergrund der Verschiebung der Machtverhältnisse in den 1880er Jahren untersucht und keineswegs ignoriert.

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zialen Schichten gesellt sich so ein Pluralismus der Ideen; beide Ansätze machen das Potential zu gesellschaftlichen Allianzen sichtbar, die den starren ethno-kulturellen Bruchlinien entgegenlaufen. Für vorliegende Arbeit war vor allem Fernande Roys Untersuchung zur frankophonen Montrealer Geschäftswelt wertvoll, in der eine liberale, auf Konsens mit der anglophonen Elite im Rahmen des Empire bedachte und dennoch gut katholische frankophone Bourgeoisie Kontur annimmt, die der katholischen Kirche die Deutungshoheit innerhalb des Milieus streitig machte.115 Weitere ideenhistorische Untersuchungen zum frankokanadischen Nationalismus oder zum Katholizismus in Québec oder Kanada waren ebenfalls hilfreich, um die Glaubenssätze fassen zu können, in denen sich die Montrealer der Jahrhundertwende bewegen konnten, gerade in ihrer Diversität.116 Eindeutig kommt die anglokanadische Ideenwelt in den Untersuchungen zu kurz. Eine Ausnahme bildet Sylvie Lacombe, die den anglokanadischen Nationalismus und den britischen Imperialismus in ihre Überlegungen miteinbezieht.117 Einen kulturhistorischeren Ansatz mit dem Fokus auf Identitätskonstruktionen in Montreal verfolgt die Montreal History Group der McGill University in Montreal, die sich bewusst auf

115 Fernande Roy, Progrès, harmonie, liberté: Le libéralisme des milieus d’affaires francophones à Montréal au tournant du siècle (Montréal: Boréal, 1988), dort 11–43 auch ausführlicher Forschungsbericht zur Geschichte der Ideologien in Québec, in dem sie auch die älteren Ansätze zusammenfasst. Vgl. auch Yvan Lamonde, Combats libéraux au tournant du XXe siècle (Montréal: Fides, 1995). Prägnantes Beispiel für die Thesen, gegen die sich Roy wendet bei Michel Brunet, „Trois dominantes de la pensée canadienne-française: L’agriculture, l’anti-étatisme et le messianisme“, in: La présence anglaise et les Canadiens (Montreal 1964), 113–66. 116 Etwa Yvan Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 1896–1929 (Montreal: Fides, 2004); Michel Sarra-Bournet (ed.), Les nationalismes au Québec, du 19e au 21e siècles (Ste-Foy: Presses de l’Université Laval, 2001); Susan Mann, Lionel Groulx et l’  Action Française: Le nationalisme canadien-français dans les années 1920 (Montreal: vlb éditeur, 2005); kurzer bibliographischer Essay zum frankokanadischen Nationalismus bei Gordon, Making Public Pasts, 221–22. Zum Katholizismus Jean Hamelin et Nicole Gagnon, Histoire du catholicisme québécois: le XXe siècle, 1898–1940 (Montréal: Boréal, 1984); Terence J. Fay, A History of Canadian Catholics: Gallicanism, Romanism, and Canadianism (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2002); Lucia Ferretti, Brève histoire de l’Eglise catholique au Québec (Montréal: Boréal, 1999); René Hardy, Contrôle social et mutation de la culture religieuse au Québec, 1830–1930 (Montréal: Boréal, 1999). 117 Sylvie Lacombe, La rencontre de deux peuples élus: Comparaison des ambitions nationale et impériale au Canada, 1896–1920 (Québec: Presses de l’Université Laval, 2002). Vgl. auch Ronald Rudin, The Forgotten Quebecers: A History of English-Speaking Quebec, 1759–1980 (Quebec: Institut québécois de recherche sur la culture, 1985).

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die Untersuchung nicht-frankophoner und nicht-katholischer Bevölkerungsgruppen konzentriert. 118 Aus der Historiker-Schule der UQAM der 1980er Jahre haben sich zudem weitere Forschungstendenzen entwickelt, deren Untersuchungen den städtischen Raum ins Auge fassen und daher ebenfalls für diese Arbeit fruchtbar gemacht werden können. Michèle Dagenais von der Université de Montréal untersucht den öffentlichen Raum als Objekt zunehmender lokalpolitischer Intervention. Während sie in einem Aufsatz sogar den Mont Royal als Ort symbolischer Macht konzipiert und stärker als die Linteau-Schule den ideenhistorischen Kontext von Großstadtkritik und Grünflächenromantik heranzieht, geht es ihr jedoch primär um den Park am Mont Royal als öffentlichem Freizeitort und den zunehmenden Einfluss der Stadtverwaltung auf Freizeit- und Kulturleben. Politische Gremien wie den Stadtrat betrachtet sie dabei an sich als geschlossen handelnde Machtorgane, nicht als Orte, an denen konfligierende Vorstellungen aufeinandertreffen und Kompromisse ausgehandelt werden müssen. Damit kommen bei ihr konkurrierende Perzeptionen des Mont Royal und inter-ethnische Rivalitäten lediglich in Form einer Dichotomie zwischen ‚alten‘ oder ‚neuen‘ politischen Eliten mit veralteten oder modernen Freizeitkonzeptionen vor, was die ethno-kulturelle und soziale Diversität ebenso wie Stadtteilinteressen vernachlässigt.119 Ein kulturhistorischer Ansatz hingegen, der die Architektur der Stadt und ihre Repräsentationen untersucht und dies in Zusammenhang zu kollektiven Identitätskonstruktionen setzt, prägt die Arbeiten der Architekturhistoriker Luc Noppen und Lucie Morisset an der UQAM. Sie richten dabei das Augenmerk auf Identifikationsräume einer Stadt und untersuchen, welche Teile des gebauten Raums wann als charakteristisch für Montreal perzipiert wurden. Allerdings konzentrieren sie sich auf die Architektur der Stadt; der Mont Royal findet bei ihnen keine Erwähnung. Zudem liegt der Fokus auf dem Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Welche Architekturen, und damit welche Vergangenheiten der Stadt heute als patrimoine architectural und bewahrenswert gelten, ist dabei ihre leitende 118 Bradbury and Myers (eds), Negotiating Identities. 119 Zum Parc Mont-Royal Michèle Dagenais, „Entre tradition et modernité: Espaces et temps de loisirs à Montréal et Toronto au XXe siècle“, in: Canadian Historical Review 82:2 ( June 2001), 308–30; vgl. auch dies., „Inscrire le pouvoir municipal dans l’espace urbain: la formation du réseau de parcs à Montréal et Toronto, 1880–1940“, in: Canadian Geographer 46:4 (2002), 347–64. Allgemeiner zum Verhältnis von Kultur und Lokalpolitik dies., „Political Dimensions to Leisure and Cultural Activities in Canadian Cities, 1880–1940“, in: Urban History 26:1 (May 1999), 55–70; dies., „Vie culturelle et pouvoirs locaux: La fondation de la bibliothèque municipale de Montréal“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 24:2 (March 1996), 40–56. Maßgeblich für die Informationen über die Struktur der Montrealer Stadtverwaltung bleibt auch dies., Des pouvoirs et des hommes: L’administration municipale de Montréal, 1900–1950 (Montréal: McGill-Queen’s University Press, 2000).

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Fragestellung. Gleichzeitig geht es ihnen auch weniger um Konstruktionen ethnokultureller Identitäten, sondern um die Variationen der gesamtstädtischen Repräsentation in Bezug zu lokalen, regionalen, nationalen oder gar international-urbanen Referenzpunkten.120 Ähnliche Ansätze finden sich vermehrt auch unter Historikern in der anglophonen Montreal-Forschung. Alan Gordons Arbeit ist dabei hervorzuheben, da er die anglo-frankokanadische Konkurrenz anhand von Montreals public memory für genau den Zeitraum untersucht, mit dem sich auch vorliegende Arbeit befasst; seine Arbeit kommt dieser daher von Ansatz und Gegenstand her am nächsten. Er fragt jedoch nach der Produktion von öffentlicher Erinnerung durch die jeweiligen Eliten als Fokus von kollektiven Identitäten; der Raum selbst spielt lediglich insofern eine Rolle, als ein Großteil der öffentlichen Erinnerung mittels Denkmälern und Monumenten sichtbar im Stadtraum stattfand. Vorliegende Arbeit denkt andersherum von der Form des Raums her – dabei können durchaus kommemorative Eingriffe zur Sprache kommen, aber eben nicht nur. Durch seinen Fokus auf die anglo-frankokanadische Frontstellung verliert Gordon leider auch die interne Diversität dieser Gruppen aus dem Blick und das Potential zu Kompromissen, das Monumente im Stadtraum gerade aufgrund ihrer häufig vieldeutigen Lesbarkeit boten.121 Zusätzlich zu diesen allgemeinen Forschungsarbeiten zum Montrealer Stadtraum und zur anglo-frankokanadischen Koexistenz stützt sich vorliegende Arbeit auf Studien zu den an den untersuchten Konflikten beteiligten Institutionen und Assoziationen. Diese Arbeiten liefern die ‚harten‘ Rahmendaten; abgesehen davon sind sie mit Vorsicht zu genießen, da es sich zum Teil um interne Geschichtsschreibung handelt.122 Für den Mont Royal selbst, die Geschichte seiner Besiedlung und Gestaltung, 120 Lucie K. Morisset et Luc Noppen (dir.), Les identités urbaines (Quebec: Nota Bene, 2003); Noppen (dir.), Architecture, forme urbaine et identité collective (Sillery: Septentrion, 1995). Lokalstudien zu anderen Städten in Quebec mit demselbem Ansatz Morisset, Noppen et Denis Saint-Jacques (dir.), Ville imaginaire/Ville identitaire: échos de Québec (Québec: Nota Bene, 1999); Morisset, La mémoire du paysage: histoire de la forme urbaine d’un centre ville: St. Roch (St Roch: Les Presses de l’Université Laval, 2001). Vgl. auch Noppen et Morisset, „La maison québécoise: Construction et déconstruction d’un emblème“, in: Journal of Canadian Art History 22:1/2 (2001), 26–63. 121 Alan Gordon, Making Public Pasts. Programmatisch ders., „Introduction: The New Cultural History and Urban History – Intersections“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 33:1 (Fall 2004), 3–7. 122 Hélène-Andrée Bizier, L’Université de Montréal: la quête du savoir (Montréal: Libre Expression, 1993); Jean Hamelin, Histoire de l’Université Laval: Les péripéties d’une idée (Sainte-Foy: Presses de l’Université Laval, 1995). D. Sclater Lewis, Royal Victoria Hospital, 1887–1947 (Montreal: McGill University Press, 1969); Neville Terry, The Royal Vic: The Story of Montreal’s Royal Victoria Hospital, 1894–1994 (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 1994); Donna MacDonald, Lord Strathcona: A Biography of Donald

Eine Einleitung

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konnte ich auf zahlreiche Studien zurückgreifen, die sich mit dem Design des Parks durch Frederick Law Olmsted befassen. Ihnen geht es allerdings weniger um Perzeptionen des Mont Royal und ethno-kulturelle Konflikte, als um einen Meilenstein in der Geschichte der Landschaftsarchitektur.123 Lediglich Sarah Schmidt untersucht in ihrer Arbeit die Verflechtung von Parks und Macht, wobei sie sich jedoch auf gender-Beziehungen konzentriert und ethno-kulturelle Rivalitäten lediglich kursorisch streift.124 Auch zur nordamerikanischen Parkbewegung allgemein und zum um die Jahrhundertwende verbreiteten Ideal der grünen Stadt stehen fundierte Arbeiten zur Verfügung125, ebenso wie zu den symbolischen Überhöhungen von Naturphänomenen, wie etwa Bergen, als sacred spaces. 126

4.  Gliederung und These Diese Arbeit wird in drei Kapiteln drei verschiedene Regionen am Mont Royal aufsuchen. Vier Geschichten sollen dabei erzählt werden, die sich an den drei Orten abspielten, genauer: vier Konfliktfälle, an denen sich die Verzahnung von Raum und ethno-kulturellen Identitäts- und Machtaushandlungen untersuchen lässt. Bevor allerdings der Rundgang über den Berg beginnen kann, wird am Anfang des ersten

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Alexander Smith (Toronto: Dundurn Press, ²2002). Robert Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal: des patriotes au Fleurdelisé, 1834–1948 (Montreal: L’Aurore, 1975). Übersicht über die Entwicklung des Mont Royal bei Peter Jacobs, „La Montagne magique“, in: Groupe d’intervention urbaine de Montréal, La Montagne en question (Montréal: BANQ, 1988). Zum Design des Parks durch Frederick Law Olmsted vgl. Janice Eleanor Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park, Montreal: Design and Context“ (M.A. Concordia University, 1983); David Bellman, „Frederick Law Olmsted et un plan pour l’aménagement du Mont-Royal/Frederick Law Olmsted and a Plan for Mount Royal Park“, in: ders. (ed.), Mont-Royal, Montréal/Mount Royal, Montreal (Montreal: Musée McCord, 1977), 31–43; Lawrence Peter Kredl, „The Origin and Development of Mount Royal Park, Montreal, 1874–1900: Ideal vs Reality“ (M.A. York University, 1983); Jean de Laplante, Les parcs de Montréal des origines à nos jours (Montréal: Méridien, 1990), 41–50. Sarah Schmidt, „Domesticating Parks and Mastering Playgrounds: Sexuality, Power and Place in Montreal, 1870–1930“ (M.A. McGill University, 1996). Etwa Galen Cranz, The Politics of Park Design: A History of Urban Parks in America (Cambridge: MIT Press, 1982); James L. Machor, Pastoral Cities: Urban Ideals and the Symbolic Landscape of America (Madison: University of Wisconsin Press, 1987). Vgl. David Chidester and Edward T. Linenthal (eds), American Sacred Space (Bloomington: Indiana University Press, 1995); Robert L. Cohn, The Shape of Sacred Space: Four Biblical Studies (Chico, CA: Scholars Press, 1981).

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Stadt, Raum, Berg

Kapitels der herrschende Diskurs über den Mont Royal aus den Stadtbeschreibungen der Zeit herausgefiltert. Anschließend wird zu zeigen sein, wie der Mont Royal in den Konflikten mit sich vielschichtig überlagernden Bedeutungen versehen wurde und wie sich in den Interpretationsmustern und Aneignungsversuchen dieses besonders bedeutungsgeladenen städtischen Ortes normative gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen der beteiligten Akteure herauskristallisierten, welche in deren jeweiligem historisch kontingentem, ständigem Wandel unterworfenem Selbstverständnis verankert waren. In der Konkurrenz um Teile des Stadtraums kann so die Konkurrenz um kulturelle Hegemonie und gesellschafts-politische Macht in der Stadt sichtbar gemacht werden; gleichzeitig wird der komplexe Prozess transparent, in dem Stadtraum nicht nur physisch, sondern auch als Bedeutungsträger ständig neu konstruiert wurde und sich so als vielschichtiges und prozessuales Gebilde offenbart, das selbst wiederum die Handlungen der Akteure prägte. Räume – sowohl diskursiv, als auch physisch – zu besetzen, konnte Identitäten im Raum festschreiben und Machtverhältnisse ausdrücken, sie aber auch gleichzeitig zementieren: Indem sie im Raum reproduziert wurden, hatten sie das Potential, sich in den mental maps der Stadt niederzuschlagen und so wiederum die soziale Praxis zu prägen. Eine nach Räumen statt nach Chronologie der Ereignisse geordnete Vorgehensweise erlaubt es dabei, Differenzierungen innerhalb des Mont Royal wahrzunehmen und schärft auch den Blick für Diskontinuitäten einer möglichen Chronologie anglofrankokanadischer Koexistenz in Montreal. Deutlich wird, dass es – wenngleich im allgemeinen Diskurs immer auf den Mont Royal als Ganzes Bezug genommen wird – in den Konflikten selten um ‚den Berg‘ allgemein ging, sondern um ganz spezifische Zonen und Regionen am Mont Royal. Berg war nicht gleich Berg; er teilte sich in Regionen, denen wiederum unterschiedliche Bedeutungen beigemessen wurden. Vom Nordwesthang des Mont Royal, an dem die franko-katholische Université de Montréal in den 1920er Jahren einen neuen Campus plante, folgt die Erzählung im ersten Kapitel den Diskussionen um den Campus zurück an die andere Seite des Berges, an die der Stadt zugewandten Süd- und Osthänge, wo die Universität sich eigentlich hatte niederlassen wollen. Dort gerät im zweiten Kapitel das Royal Victoria Hospital in den Blick, ein anlässlich des 50-jährigen Thronjubiläums der Queen Victoria in den späten 1880er Jahren an der Flanke des Berges errichtetes, nicht ganz unumstrittenes Krankenhaus. Von da aus soll im dritten und letzten Kapitel der Gipfel erklommen werden. Hier hätte eigentlich eine Statue der Jungfrau Maria über die Stadt wachen sollen; das Projekt von 1888 wurde letztlich aber nie realisiert. Stattdessen errichtete die franko-katholische Société Saint-Jean-Baptiste 1924 ein monumentales, nachts elektrisch beleuchtetes Stahlkreuz auf dem Gipfel des Mont Royal, das bis heute weithin gut sichtbar hoch über der Stadt thront.

1.  „Way back of the mountain“? Montrealer Territorien No other city has such a place of beauty within its boundaries, where mankind may withdraw and attain touch with the infinite.1 Les yeux de la race seront tournés vers ce phare, sur le ,Mont-Lumière‘. C’est là que les Canadiens français accompliront leur destinée.2

1.1  Der Mont Royal und die Montréalité de Montréal Im Sommer 1922 sorgten 22,38 acres of land für eine öffentliche Kontroverse in Montreal.3 Stein des Anstoßes war ein Beschluss der Stadtverwaltung vom 22. Mai, der Université de Montréal (UdeM) stadteigene Ländereien auf dem Mont Royal, dem Hausberg Montreals, für den Bau neuer Universitätsgebäude zu überlassen. Nicht nur im Stadtrat, sondern auch in der lokalen Tagespresse wurde in der Folge eine heftige Debatte um die Verwendung dieser acres ausgetragen. Leserbriefe an den Montreal Star und die Gazette polemisierten gegen einen „act of vandalism“4, das „greatest disaster“ überhaupt für die Stadt Montreal und prophezeiten gar eine mögliche „national catastrophe“5. Politiker, Redakteure, Privatpersonen, Clubs und Assoziationen der Stadt bezogen in Sitzungen, Leitartikeln, Leserbriefen und Petitionen an den Stadtrat Stellung zu einer Debatte, die selbst in den Zeitungen der Provinzhauptstadt Quebec kommentiert wurde. Während die Abgabe der am Osthang des Mont Royal, am dortigen Park gelegenen knapp 23 acres einen wahrhaften Sturm der Entrüstung hervorrief, nahm die Öffentlichkeit nahezu kommentarlos hin, dass die Universität 1 „Preserve the Park“, in: Montreal Daily Star [im Folgenden Star] 10.4.1922. 2 „Notre Université“, in: Aujourd’hui 2 mars 1943. 3 Ein acre entspricht 4 047 Quadratmeter, also ungefähr 0,4 Hektar, was bei einem Quadrat eine Seitenlänge von etwa 64 Metern ausmacht. 22,38 acres wären 8,95 ha, eine Fläche mit einer Seitenlänge von ca. 300m. 4 W. Ormiston Roy, „Hands Off Mount Royal Park!“!, Letter to the Editor, in: Star 31.5.1922. 5 Allan L. Smith, „Mount Royal, the Property of the Poor“, Letter to the Editor, in: Gazette 5.6.1922.

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Abb. 2  Der Mont Royal mit den Grundstücken, die die Stadt Montreal 1922 der Université de Montréal schenkte. Die kleineren Grundstücke A und B lagen im Park am Osthang des Berges, das Grund-

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stück D nördlich am ehemaligen Steinbruch von Outremont.

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Abb. 3  Raymond Tanghe, Stadtteile von Montreal, 1928.

gleichzeitig auch ein zweites, 37,62 acres großes Stück Land auf der nördlichen Seite des Berges erhalten hatte. Dieses zweite Stück Land befand sich am Ort eines stillgelegten Steinbruchs, des Outremont Quarry, Ecke Maplewood und Bellingham Road (Abb. 2). Am vehementesten engagierte sich die überwiegend anglo-protestantische Montreal Parks and Playgrounds Association (MPPA), die gemeinsam mit dem ebenfalls anglophonen Montreal Local Council of Women (MLCW) ein Schreiben an die frankophon-katholische Universität richtete, in der sie diese aufforderte, das geschenkte Land an der Ostseite abzulehnen. Beide Organisationen prangerten die „alienation of park property“ an, und argumentierten, das der Universität übertragene Grundstück stelle ebenso wie angrenzendes Parkland für „thousands of little children, especially the French and Jewish from the nearby wards of Laurier, St. Denis, St. Jean Baptiste and St. Lawrence“ die einzige Möglichkeit dar, in den Genuss der „priceless benefits of fresh air, space, and green things“6 zu gelangen (Abb. 3).

6 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Mont-

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Ende des Jahres 1922 musste das Parks Committee der MPPA in seinem Jahresbericht enttäuscht eingestehen, dass es trotz aller Bemühungen sein Ziel nicht erreicht hatte7: Die Landschenkung wurde nicht rückgängig gemacht, und am 14. März 1923 besiegelten die Unterschriften des Bürgermeisters Médéric Martin, des city clerk René Bauset8, des Rektors der Universität Mgr Georges Gauthier, ihres Generalsekretärs Edouard Montpetit und des Notars Jean Baudouin den Transfer beider Grundstücke an die Universität.9 Ein gutes Jahr später jedoch konnten die Zeitungen berichten, dass die Universität darauf verzichten würde, auf dem umstrittenen Land zu bauen und stattdessen das zweite, größere Grundstück an der Bellingham Road (Grundstück D) (Abb. 4) durch den Kauf angrenzender Ländereien auf 150 acres vergrößert hätte, um dort ihren neuen Campus zu errichten.10 Die Debatten des Sommers 1922 endeten also zwei Jahre später damit, dass die UdeM das ihr von der Stadt gewährte Land nicht nutzte und ihren Neubau gänzlich am Nordhang des Berges plante, der, nach zahllosen Verzögerungen infolge der Weltwirtschaftskrise, 1943 eingeweiht wurde. Es scheint bemerkenswert, dass ein unbebautes Stück städtischen Grund und Bodens, das an eine Universität abgetreten wird, eine solch emotional aufgeladene Kontroverse hervorrufen konnte. Die Beschwörung einer nationalen Katastrophe, der Verweis auf das Elend kleiner Kinder und der Vergleich städtischen Handelns mit Vandalismus legen nahe, dass es hier um mehr ging als um den schlichten Verwendungszweck von knapp 23 acres einer natürlichen Erhebung. Das Land am Mont Royal transportierte in der Vorstellung der Montrealer offenbar eine besondere Bedeutung, die es für diverse Gruppen der Stadt wichtig erscheinen ließ, die Deutungshoheit über diesen Teil des Stadtraums zu besitzen, ihn sich diskursiv, aber auch de facto, physisch, anzueignen. Der Mont Royal bildete damit ein zentrales Element in der imaginary geography der Stadt, wie sie Robert Shields in seiner Studie zu marginalen Orten beschreibt: „In these recodings of geographic space, sites become associated with particular values, historical events, and feelings. Often, elements of imaginary geographies are used interchangeably as metaphors for more abstract distinctions.

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réal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9 [container]-354 [folder] „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. „Report of the Parks Committee“, in: 21st Annual Report of the Parks and Playgrounds Association of Montreal for the Year Ending Dec. 31, 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–362 “Annual Report 1922“. Funktion des city clerk/greffier bei Michèle Dagenais, Des pouvoirs et des hommes: L’administration municipale de Montréal, 1900–1950 (Montréal: McGill-Queen’s University Press, 2000), 27–29. „Sixty Arpents of Mount Royal Ceded“, in: Gazette 15.3.1923. „Park Site Ceded Will Not Be Used“, in: s.n. 25.3.1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 “Scrapbook, 1900–26“.

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Abb. 4  Lageplan der an die Université de Montréal abgetretenen Grundstücke A, B und D aus dem Montreal Daily Star, 31.5.1922.

Sites become symbols [...].“11 Diese kulturelle Kodierung des Mont Royal im Montreal des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird im Folgenden in einem ersten 11 Robert Shields, Places on the Margin: Alternative Geographies of Modernity (London: Routledge, 1991), 29. Zur kulturellen Kodierung von Räumen vgl. auch Sabine DamirGeilsdorf und Béatrice Hendrich, „Orientierungsleistungen räumlicher Strukturen und Erinnerung: Heuristische Potenziale einer Verknüpfung der Konzepte Raum, Mental Maps und Erinnerung“, in: dies. et al. (Hgg.), Mental Maps, Raum, Erinnerung: Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung (Münster: LITVerlag, 2005), 32; 41. Untersuchung des Symbolwerts von Landschaften in der human

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Teil ausgelotet. Anhand von Touristenführern, Reiseberichten, städtischen Jubiläumsschriften und Werbebroschüren soll die Frage diskutiert werden, was der Berg in der kollektiven imagination urbaine, in den mental maps der Montrealer darstellte. Dabei wird deutlich, wie der Mont Royal mit weithin anerkannten, konsensfähigen Bedeutungen aufgeladen war, wodurch er zu einem gesamtstädtischen Identifikationsraum werden konnte, der gewissermaßen für die Stadt Montreal stand. Aus diesem Grund nahm er auch die Rolle eines zentralen Spielsteins in innerstädtischen Machtverhandlungen ein. Die Definitionshoheit über den Mont Royal zu erringen und ihn sich anzueignen, stellte einen zentralen symbolischen Einsatz in der Konkurrenz um kulturelle Hegemonie und Macht in der Stadt dar. Möglicherweise ließe sich so die Heftigkeit des Konflikts um den Universitätscampus erklären. Anschließend soll dies in einem zweiten Teil am Streit selbst detaillierter untersucht werden. Warum wollte die Université de Montréal am liebsten an den Hängen des Mont Royal bauen? Es wird zu zeigen sein, dass die Symbolkraft des Mont Royals eine maßgebliche Rolle in der Motivation der Universität spielte, wenn auch offiziell andere Gründe angegeben wurden. In ihrem Bestreben, einen Campus am Mont Royal zu errichten, den Berg also ein Stück weit für sich zu besetzen, versuchte die Universität auch, den Berg mit weiteren, von ihr definierten Bedeutungsschichten zu überziehen. Eine frankophone, katholische Eliteuniversität sollte am Mont Royal ein deutliches Zeichen für die gegenwärtige Macht und die künftigen Führungsansprüche der Frankokanadier setzen. Mit dieser Gestaltung des Berges offenbarten sich Selbstverständnis und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen bestimmter Montrealer Kreise. Wie sich die Reaktionen auf diesen Aneigungsversuch gestalteten, wird nach einer kurzen chronologischen Skizze des Streitverlaufs untersucht. Welche Argumente führten die Gegner der Landschenkung an? Wie interpretierten sie den Mont Royal? In welche Diskurse schrieben sie sich ein? Dabei muss gefragt werden, welche Rolle in diesen Deutungen des Mont Royal ethnische und konfessionelle Zugehörigkeit sowie soziale Schicht spielten und welche sonstigen situativen oder konstellativen Interessen im Spiel waren. Bemerkenswert ist, dass gerade in den Augen der Gegner anscheinend Mont Royal nicht gleich Mont Royal war und verschiedene Orte des Berges unterschiedlich bewertet wurden. In einem dritten Teil geht es daher um Differenzierungen innerhalb des Berggeländes. Vor diesem Hintergrund soll abschließend die Entscheidungsfindung im Stadtrat näher untersucht werden, um zu bestimmen, wie letztlich über bedeutsamen öffentlichen Raum in einem politischen Gremium verhandelt wurde, und welche Rolle die mental maps der Stadt dabei spielten.

geography bereits in den 1980er Jahren bei Denis Cosgrove, Social Formation and Symbolic Landscape (Totowa: Barnes and Noble, 1985), 17–18; vgl. J. Nicholas Entrikin, The Betweenness of Place: Towards a Geography of Modernity (Basingstoke: Macmillan, 1991), 18–19.

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Am 9. August 1921 hatte der Rektor der UdeM, Mgr Georges Gauthier, die Commission administrative12 der Stadt Montreal darum gebeten, der Universität insgesamt 49 acres Land an der Ostseite des Mont Royal, in der Verlängerung der Avenue MontRoyal, abzutreten – dort, wo die ein Jahr später so umstrittenen 23 acres der Grundstücke A und B lagen.13 In seinem Brief bezog er sich auf die Entscheidung der Legislative von Quebec, die der Stadt Montreal 1921 in einem amendment zur city charter gestattete, der UdeM städtisches Parkland zu übertragen, vorausgesetzt, es überschreite eine Fläche von 60 acres nicht und würde zu keinem anderen Zweck als dem einer Universität verwendet.14 Damit sollte der Raumknappheit der UdeM Abhilfe geschaffen werden. Die frankophone, katholische Universität, die 1876 unter dem Namen Université Laval à Montréal als Zweigstelle der Université Laval von Quebec gegründet worden war, hatte 1919 von Rom die Erlaubnis bekommen, sich von der Mutterinstitution zu lösen. Unter dem Namen Université de Montréal erlangte sie 1920 Autonomie.15 Die alten Gebäude an der Rue St. Denis waren auch zuvor schon sehr 12 Zwischen 1918 und 1921 wurde die Stadt von einer Kommission verwaltet, die von der Provinzregierung in Quebec ernannt worden war, um der katastrophalen finanziellen Lage Montreals entgegenzuwirken. Die Macht des Bürgermeisters und der Stadträte war in dieser Zeit deutlich reduziert. Da die Commission administrative den Wählern nicht verpflichtet war, setzte sie eine Reihe unpopulärer Maßnahmen, wie etwa Steuererhöhungen, durch. Im Frühjahr 1921 wurde eine neue städtische Verfassung von der Bevölkerung angenommen. Von nun an gab es neben der städtischen Legislative (den in den 35 Stadtteilen gewählten Abgeordneten) ein vom Stadtrat ernanntes Comité exécutif/Executive Committee, das sich aus fünf Abgeordneten zusammensetzte und weitreichende Befugnisse erhielt, wie etwa Budgetverwaltung, Ernennung von Beamten und Gesetzesinitiative. Das Comité war allerdings auf die Zustimmung des Stadtrats angewiesen: Dagenais, Des pouvoirs et des hommes, 48–69. 13 Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. Der dem Schreiben ursprünglich beigefügte Plan ist weder im städtischen Archiv, noch im Archiv der UdeM erhalten. 14 Statuts de Québec/Statutes of Quebec, 11 Geo. V, 1921, chap. 111, section 23: „La cité est autorisée à céder gratuitement à l’université de Montréal une partie quelconque de l’un des ses parcs publics, pourvu que (a) le terrain ainsi cédé n’excède pas soixante arpents, et (b) que ledit terrain ne soit jamais employé à d’autres fins que celles poursuivies par l’université de Montréal.“ Zuvor war es der Stadt nicht erlaubt, Parkland abzutreten. Vgl. F. E. Meredith an Miss Watt, 13.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 15 Paul-André Linteau, Histoire de Montréal depuis la Confédération (Montréal: Boréal, 1992), 393; Gründungsgeschichte und Ablösung von der Université Laval in Quebec sowie Einbettung des Prozesses in die Konkurrenz zwischen liberalen und ultramontanen Kräften innerhalb der katholischen Kirche bei Jean Hamelin, Histoire de l’Université Laval: Les péripéties d’une idée (Sainte-Foy: Presses de l’Université Laval, 1995), v.a. 63– 69; 74–89; 137–39, der die Perspektive von Laval einnimmt. Die Montrealer Perspektive

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eng gewesen16, und mit der Unabhängigkeit begann die Universität, weitere Fakultäten zu gründen, so dass der Raummangel absehbar war. Als dann in den ersten zwei Jahren ihrer Existenz drei Brände mehrere der in der Innenstadt verteilten Gebäude zerstörten17, kam der Gedanke auf, eine neue Universität in Campusform mit größeren Kapazitäten zu errichten. 1920 lancierte die UdeM eine öffentliche souscription, mit Hilfe derer sie die nötigen finanziellen Mittel einwarb.18 Jetzt fehlte nur noch ein Ort, und wie dem Brief des Rektors zu entnehmen ist, erschien diesem der Osthang des Berges als ein „site convenable“, ja sogar als „site incomparable“19. Gauthier führte dafür in seinem Brief vor allem dringende praktische Gründe an. Der Campus sollte für Professoren und Studenten gut erreichbar sein, in der Nähe der Krankenhäuser, des Justizpalastes und der Bibliotheken liegen.20 Mit dieser Argumentation setzte Gauthier den Akzent auf die Verortung des künftigen Campus im topographischen Gefüge der Stadt. Neben diesem funktionalen Aspekt schwingt jedoch im Ausdruck „site incomparable“ etwas mehr mit, eine Qualität, die sich stärker auf den Ort selbst bezieht. ‚Unvergleichlich‘ mutet allzu enthusiastisch an als Beschreibung für einen Ort, der sich lediglich durch seine praktische Lage auszeichnet. Man könnte hier die Unterscheidung des Geographen Peirce Lewis zwischen der situation und dem site von Städten heranziehen und auf die Mikrogeographie der einzelnen Stadt übertragen. Unter situation versteht Lewis das Verhältnis eines Ortes in Bezug auf „neighboring places“, site hingegen ist nicht relativ gedacht, sondern meint den „actual real estate“ des Ortes, also seine natürlichen Bedingungen, seine nicht-relationalen Eigenschaften.21 Die Wortwahl Gauthiers lässt vermuten, dass die Unvergleichlichkeit des ausgewählten Stücks Land am Mont Royal durch den Ort selbst bedingt war. Diese

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bei Hélène-Andrée Bizier, L’Université de Montréal: la quête du savoir (Montréal: Libre Expression, 1993), 43–94; 102–105. 1931 etwa waren 1 100 Studenten in den Fakultäten des Gebäudes Rue St-Denis eingeschrieben, das ursprünglich für ca. 300 Studenten vorgesehen war. Zahlen nach „La question de l’Université“, in: Le Devoir 14.11.1931. Vgl. auch Procès-verbal de la 15e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 23.9.1923, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59. Bizier, L’Université de Montréal, 102; Linteau, Histoire de Montréal, 393. Bizier, L’Université de Montréal, 137–38. Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. Das Stück Land sollte der Beitrag der Stadt zum Neuanfang der Universität nach dem Brand sein, vgl. Procès-verbal de la 1e réunion du Comité exécutif de l’Université de Montréal, 26.3.1920, DA, UdeM, Fonds du Comité Exécutif A16. Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. Peirce F. Lewis, New Orleans: The Making of an Urban Landscape (Santa Fe: Center for American Places, ²2003), 19–20.

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Lesart wird dadurch bestärkt, dass Gauthier das Argument des unvergleichlichen site an die voraussehbare Unterstützung der Einwohner Montreals knüpfte: „[...] ce site incomparable ralliera tous les suffrages de notre population.“22 Rein pragmatische, auf den funktionalen Ablauf des Universitätsalltags bezogene Argumente hätten wohl kaum die Kraft, die Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen. Dass der Rektor sich bemüßigt fühlte, auf die sicherlich positive Reaktion der Bevölkerung hinzuweisen, zeigt zudem, dass ihm klar war, um was für ein Grundstück es sich hier handelte. Es war nicht irgendein öffentliches Grundstück in Montreal, sondern eines, dessen Weggabe in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit und möglicherweise Kontroversen hervorrufen würde, die die Entscheidung der Stadtverwaltung beeinflussen konnten. Es war ein Stück Land am Mont Royal. Wenn es einen Ort in Montreal gab (und noch gibt), der die kollektive Imagination dieser Stadt geprägt hat, dann ist es der Mont Royal. Oft einfach the mountain/la montagne genannt, brauchte ‚der Berg‘ nicht einmal mehr einen Namen. Im Bewusstsein der Montrealer stellte der die Skyline der Stadt dominierende Hügel weit mehr dar als ein schlichtes topographisches Phänomen: Er war ein konstitutiver Teil der räumlichen und historischen Identität der Stadt. Zum einen wurde er als den Raum Montreals bestimmende natürliche Gegebenheit dargestellt und als visuelles Zeichen für die Stadt wahrgenommen, zum anderen erschien er als symbolischer Ort, der eng mit der Geschichte der Stadt zusammengedacht wurde und vor allem für die Gründungsgeschichte Montreals stand. 1.1.1  Defining Montreal’s space: Ein Wahrzeichen

Zeitgenössische Beschreibungen charakterisierten Montreal häufig als einen durch zwei natürliche landmarks definierten Stadtraum, durch den St. Lorenz-Strom – und damit einhergehend die Inselsituation der Stadt – und den Mont Royal. Sowohl Fluss als auch Berg fungierten als charakteristische Merkmale für die Lage Montreals, der Raum der Stadt wurde als von beiden begrenzt dargestellt. „Lying between the river and Mount Royal, rarely has it been the good fortune of any city to have so fine a background.“23 Bemerkenswert ist hierbei, dass die beiden topographischen Gegebenheiten aus rein funktionaler Perspektive eine ganz unterschiedliche Position innehatten. Der St. Lorenz als großer Strom des Nordens war zum einen allgemein bekannter als der Mont Royal, zum anderen nahm der Berg keine dem Fluss vergleichbare Funktion im Leben und Überleben der Stadt ein. Immerhin verdankte sie einen maßgebli22 Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. 23 Souvenir of Montreal ‘93 (Toronto: The Endeavor Herald Publishing Company, 1893), 11.

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chen Teil ihrer wirtschaftlichen Blüte dem St. Lorenz. Und dennoch wurde der Mont Royal als ein die Stadt räumlich ebenso definierendes Moment wahrgenommen und dementsprechend als eines ihrer besonderen Merkmale dargestellt, das einen Teil der Montréalité ausmachte. Kind friends from the upper provinces sometimes ask, in the conclusive manner generated by the free air of the west, „What would your town be without the mountain?“ To which the Montrealer is constrained meekly to reply, „not very much, for if the mountain were levelled our city would look as dull as any of the flat western towns“24,

brachte dies das Handbook for the City of Montreal aus dem Jahr 1882 anekdotisch auf den Punkt. Diese Wahrnehmung des Mont Royal als räumliches Definitionsmerkmal für die Stadt wurde häufig durch die Akzentuierung seiner bildlichen Qualitäten ergänzt. Meist näherten sich die Reiseführer und Werbebroschüren ihrer Stadt über Beschreibungen des Stadtbildes an. Als zeichneten sie eine Stadtansicht, versuchten sie dem Reisenden einen möglichst verlockenden optischen Eindruck zu vermitteln. Was der Fremde zu sehen bekomme, wenn er sich auf dem – empfohlenen – Wasserweg der Stadt annähere, sei ein „picture that artist, merchant, or patriot, each for his own reasons, may well delight to look upon“25. Zu diesem Bild trug der Mont Royal nicht unwesentlich bei. In den Beschreibungen der Stadt spielte der Berg eine Hauptrolle. Er erschien als würdevoller visueller Hintergrund: „[...] the broad shoulders of Mount Royal uplifted in the background“26 oder gar als Bekrönung: „Mount Royal is an ideal crown for a city.“27 Kurz, er trug maßgeblich zu ihrer „situation pittoresque, unique“28 bei – eine perfekte Komposition. Ohne ihn konnte das Bild Montreals nicht ausgewogen und vollständig sein. Damit fungierte er als wiedererkennbares, gerade für Besucher eingängiges visuelles Zeichen für die Stadt selbst.29 Auch bildliche Darstellungen aller Art zogen die Perspektive auf die Stadt vor, die sie zwischen dem St. Lorenz und dem Mont Royal im Hintergrund zeigte, sei es als katholische Stadt mit den überproportional dargestellten Kirchtürmen von Notre-Dame und als von zahlreichen Segelschiffen und Dampfern besuchte Handelsstadt der Mitte des 19. Jahrhunderts (Abb. 5) oder als moderne Industriestadt der 1930er Jahre mit 24 American Association for the Advancement of Science, Hand-book for the city of Montreal and its environs (Montreal: American Association for the Advancement of Science Local Committee, 1882), 46–47. 25 Vgl. Souvenir of Montreal ’93, 31. 26 Ebd., 31. 27 Montreal 1907 (Montreal: s.n., 1907), 21. 28 F. Wolff and A. Erpicum (eds), Guide of Montreal 1908–1909 (Montreal: Mercantile Print, 1909), 3. 29 Vgl. Sarah Schmidt, „Domesticating Parks and Mastering Playgrounds: Sexuality, Power and Place in Montreal, 1870–1930“ (M.A. McGill University, 1996), 14–15.

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Abb. 5  John Henry Walker, Blick auf Montreal von St. Helen’s Island aus, um 1847.

ihren rauchenden Schloten und riesigen Hafenanlagen (Abb. 6). Wenngleich sich das Bild der Stadt selbst im Lauf der Zeit wandelte, ihre Wahrnehmung als durch Fluss und Berg räumlich definiert blieb konstant, was sich in den Sichtweisen des Mont Royal als adäquaten Hintergrund und Bekrönung im Stadtbild niederschlug.30 Damit wurde der Mont Royal als räumlich-visuelles Identitätsmerkmal der Stadt propagiert, wodurch er im öffentlichen Bewusstsein Symbolwert erreichte. Montreal war vom Mont Royal nicht getrennt denkbar, einen nahezu zeitlosen, sich dem raschen Wandel dieser Ära entziehenden Teil ihrer Identität bezog die Stadt über eines ihrer räumlichen Charakteristika, und das, obwohl – oder gerade weil? – der Berg als topographisches Phänomen die Ausdehnung der Stadt faktisch eher behinderte. Der Mont Royal gab der rasch wachsenden Metropole eine stabile Identität und dem Bild der Stadt eine ikonographische Konstante.31 30 Auch in Reiseberichten der Zeit fanden sich häufig die gleichen Perzeptionen, vgl. die Übersicht bei Monique Frappier, Margaret Heap et Jean-Claude Robert, „Montréal dans les récits de voyage: bibliographie“, in: Rapport et travaux, 1973–75 (Montréal: GRSM, 1975). Selbst in heutiger (populär-) wissenschaftlicher Literatur wird Montreal gern als von den Konstanten Fluss und Berg definiert beschrieben. Etwa Aline Gubbay, Montreal: The Mountain and the River (Montréal: Livres Trillium, 1981), 9. 31 Zur Ikonographie der Stadtfotografie im 19. Jh. vgl. Peter Hales, Silver Cities: Photographing American Urbanization, 1839–1939 (Albuquerque: University of New Mexico Press, 2005).

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Abb. 6  Der Montrealer Hafen von St. Helen’s Island aus (unbekannter Fotograf, 1930er Jahre).

Doch selbst als markantes visuelles Zeichen in der Landschaft war der Mont Royal im wahrsten Sinne des Wortes nicht wirklich herausragend. Die Reiseführer waren sich dessen auch bewusst und bemühten sich nach Kräften, das potentielle Belächeln ihres Hügels durch Nicht-Montrealer vorwegzunehmen und argumentativ zu entkräften. So heißt es weiter im Handbook von 1882: „But then Montrealers have no intention of flattening out their mountain, for although they are often reminded by strangers from the east that it is a very small mountain – nothing like a hill in fact – they are proud of it such as it is, and do not wish it to be higher.“32 Sicherlich fügt sich die Beschwörung des Montrealer Markenzeichens ,Mont Royal‘ ein in eine Zeit der beginnenden touristischen Kommerzialisierung. Seit den 1890er Jahren lösten Reiseführer, gezielt an ein touristisches Publikum gerichtet, die alten Reiseberichte ab und „tourist sites themselves became brand names“.33 Es ist jedoch anzunehmen, dass diese Außendarstellungen des Berges in den Werbebroschüren, Reiseführern und Handbüchern nicht lediglich auf den „tourist gaze“ hin ausgerichtet waren und nicht losgelöst von innerstädtischen Diskursen und Vorstellungen zu denken sind.34 32 American Association for the Advancement of Science, Hand-book for the city of Montreal, 46–47. 33 Alan Gordon, Making Public Pasts: The Contested Terrain of Montreal’s Public Memories, 1891–1930 (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2001), 48; 11–14. 34 Ebd., 48. Vgl. John Urry, The Tourist Gaze: Leisure and Travel in Contemporary Societies (London: Sage, 1990); am Beispiel von Orten öffentlicher Erinnerung zeigt Regina Bendix, „Tourism and Cultural Displays: Inventing Traditions for Whom?“, in: Journal of

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Man kann davon ausgehen, dass der Berg nicht nur eine besondere Bedeutung in der imagination urbaine der Stadt einnahm, weil er ein landschaftliches Merkmal war, das als visuelles Wahrzeichen nach außen hin diente, sondern auch andersherum, dass seine räumliche Bedeutung so stark hervorgehoben wurde, weil er in innerstädtischen Diskursen mit bestimmten symbolträchtigen Bedeutungen belegt war, die vielleicht für den fremden Reisenden auf den ersten Blick hin gar nicht fassbar waren. Nicht-Montrealern wurde deshalb häufig gleich erklärt, dass der Berg zwar ein Hügel sei, aber Berg genannt werde, „the hill which we call the Mountain“35. Zu dieser Annahme passt, dass der Mont Royal in den Beschreibungen rhetorisch mit sehr viel mehr Macht und Größe im Verhältnis zur Stadt ausgestattet wurde, als es sein Umfang nahe gelegt hätte. Denn er wurde nicht nur als Begrenzung des Stadtraums und schöner Bildhintergrund präsentiert, sondern auch noch mit einer darüber hinausgehenden Wertigkeit im Verhältnis zur Stadt versehen. Das räumliche Verhältnis zwischen Stadt und Mont Royal wurde meist so formuliert, dass ihre Lage am Fuß des Berges oder vor dem Berg hervorgehoben wurde, während sie selbst wiederum den St. Lorenz dominierte: „A ses pieds, coule avec noblesse et majesté le fleuve des fleuves, le Saint-Laurent [...]; sur ses derrières s’élève le Mont-Royal aux flancs couverts de verdure, aux coins discrets et aux replis enchanteurs [...].“36 Dabei wurde dem Mont Royal eine die Stadt beschützende Funktion zugeschrieben, gleich einer „[...] venerable sentinel brooding in silent and protecting watchfulness over the city, which lies between its southern base and the majestic sweep of the St. Lawrence.“37 Interessant ist, dass dieser Topos so wirkmächtig war, dass er auch noch zu einem Zeitpunkt bemüht wurde, als sich Montreal bereits um den Berg herum ausgedehnt hatte und sich keinesfalls auf ein kleines Gebiet zwischen Fluss und Berg beschränkte, das von letzterem dominiert wurde, wie ein Stadtatlas von 1912 verdeutlicht (Abb. 7).38 Die hohe Wertschätzung des Berges und seine Assoziation mit Macht ordnen sich hier in die Nachwirkung romantischer Topoi des 19. Jahrhunderts ein, die auch

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American Folklore (April–June 1989), 131–46, dass die Innenwirkung dieser markanten Orte mindestens ebenso wichtig ist wie die Außenwirkung. John J. C. Abbott (President Royal Victoria Hospital, Montreal) an Henry Saxon Snell (Architect, London), 10.11.1887, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Adminstrative Services, Letter Book No. 1 1887–1897. Adrien Leblond De Brumath, Guide de Montréal et de ses environs (Montréal: Granger Frères, 1897), 30. Ähnlich Frank X. Langelier, Suburban Tours on the Montreal Park & Island Railway (Montreal: s.n., ca. 1920s); Auguste Bourbeau, „La Montagne de Montréal“, 1892, AVM, DP, B258-2.46. Langelier, Suburban Tours (ohne Seitenzahlen). Zu den Annexionen, die die Stadt um den Berg herum ausdehnten Linteau, Histoire de Montréal, 202; 207. Vgl. auch Jean-Pierre Collin, Histoire de l’urbanisation de la paroisse de Montréal, 1851–1941 (Montréal: INRS-Urbanisation, 1984).

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in Nordamerika mit einer Überhöhung der wilderness einhergingen. Gerade Berge als besonders offenkundige natürliche Phänomene erschienen in den Theorien der Transzendentalisten wie etwa Henry David Thoreau als ideale Orte, an denen die Menschen aufgrund ihrer Imaginationskraft und Seele in der Natur die materielle Welt transzendieren und eine Verbindung zur universellen spirituellen, göttlichen Wahrheit finden könnten. Damit boten Berge und andere natürliche Gegebenheiten eine Nähe zum Göttlichen, die sich in der Stadt nicht finden ließ.39 Der Mont Royal wurde zum landmark, weil ihm in innerstädtischen Diskursen Macht zugesprochen wurde. Gleichzeitig wirkte er nach innen hin einheitsstiftend: Dissidente Stimmen, die die Besonderheit des Mont Royal und seine Wirkung für die Montréalité anzweifeln, finden sich nicht. Zum Topos des mächtigen Berges gehörte in Montreal neben dem Sinnbild der beschützenden Macht über und hinter der Stadt auch die Beschreibung des Mont Royal als königlich. Sätze wie „Montreal is situated at the foot of the royal mountain [...]“40 oder „Mount Royal, the majestic height of land which gave at once to Montreal hername and her beauty“41 sind hierfür nur einige Beispiele, die demselben Diskurs entstammen wie die Metaphern des Bergs als Bekrönung der Stadt. ,Königlicher Berg‘, allein sein Name scheint auf die Bedeutung, die dem Hügel zugemessen wurde, abgefärbt zu haben. Die genauere Betrachtung des Namens und seiner Herkunft aber kann noch tiefgreifendere Hinweise darauf geben, mit welchen Bedeutungen der Berg eigentlich aufgeladen war. Er wurde nicht nur als mächtiger Teil der räumlichen Identität Montreals, sondern auch ihrer historischen Identität wahrgenommen.

39 Dass der Mont Royal keineswegs ,unberührt‘ war, spielt dabei keine Rolle; selbst Thoreau strebte an, die Welt der ,Zivilisation‘ und der ,Wildnis‘ zu verbinden und das Beste aus beidem zu finden. Als von Menschenhand geprägter Naturraum in der Stadt kam der Mont Royal diesem Ideal recht nahe, waren doch die Ideen der Transzendentalisten einer der ideologischen Ausgangspunkte für den Landschaftsarchitekten des Parks am Mont Royal, Frederick Law Olmsted. Vgl. Roderick Nash, Wilderness and the American Mind (New Haven: Yale University Press, ³1982), 84–95; 106–07; Roderick MacLeod, „Salubrious Settings and Fortunate Families: The Making of Montreal’s Golden Square Mile, 1840– 1895“ (Diss. McGill University, 1998), 30–32; Galen Cranz, The Politics of Park Design: A History of Urban Parks in America (Cambridge: MIT Press, 1982), 5–7. Zur langen Tradition der Verehrung von Bergen bereits in der biblischen geographischen Imagination Robert L. Cohn, The Shape of Sacred Space: Four Biblical Studies (Chico, CA: Scholars Press, 1981), 26–41, der am Beispiel des Berges Zion aufzeigt, wie ein relativ kleiner Berg für Göttlichkeit, Ordnung und Macht zu stehen kam. 40 Norman MacMillan Hinshelwood, Montreal and Vicinity (Montreal: Desbarats, 1903), 38. 41 Suburban Montreal as seen from the Routes of The Park and Island Railway (Montreal: Desbarats, ca. 1920), 8.

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Abb. 7  Charles E. Goad, Stadtplan von Montreal, 1912. Zu diesem Zeitpunkt war der Mont Royal bereits von

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urbanisiertem Gebiet umgeben.

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1.1.2  Defining Montreal’s history: Der Gründungsmythos

In den populären Erzählungen der Geschichte Montreals vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war der Mont Royal ein immer wiederkehrender Referenzpunkt, vor allem, wenn die Gründungszeit beschrieben wurde.42 Als 1535 mit Jacques Cartier das erste Mal ein Franzose seinen Fuß auf das Gebiet des heutigen Montreal setzte, befand sich dort eine Indianersiedlung namens Hochelaga. Der Legende nach wurde Cartier von einem – wohlgesonnenen – Indianerhäuptling auf den Gipfel des Berges geführt.43 Cartier zeigte sich so beeindruckt von der Aussicht, dass er den Berg prompt zu Ehren des Königs von Frankreich „Mont Royal“ nannte.44 Erst 1575 aber tauchte der Name „Montreal“ in einem historiographischen Werk des Franzosen François de Belleforest auf, als Bezeichnung für die Indianersiedlung. „Royal“ und „real“ waren im Französischen des 16. Jahrhunderts gleichbedeutend; Belleforest bevorzugte letzteres wohl deshalb, weil Cartiers Berichte über seine Reisen in die neue Welt primär in ihrer italienischen Übersetzung des venezianischen Geographen Giovanni Battista Ramusio verbreitet wurden, der von „Monte Real“ schrieb.45 Als nächster besuchte Samuel de Champlain bei seiner Expedition 1611 Hochelaga und verzeichnete in seiner Karte unter dem Namen „Montreal“ den heutigen Mont Royal; in einer späteren Karte von 1632 allerdings nannte er den Hügel bereits „Mont Royal“ und die Insel „Isle de Mont-real“.46 Zum Zeitpunkt von Champlains Besuchen existierte das von Cartier beschriebene Indianerdorf längst nicht mehr. Lediglich zwei alte Indianer fanden sich, so die Erzählung, „to conduct him to the summit of Mount

42 Zur Faszination der Gründungsgeschichte Montreals seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs bis weit ins 20. Jh hinein vgl. Fernande Roy, „Une mise en scène de l’histoire: La fondation de Montréal à travers les siècles“, in: Revue d’histoire de l’Amérique française 46:1 (été 1992), 7–36. Zur Gründungsgeschichte Marcel Trudel, Montréal: La fondation d’une société, 1642–1663 (Montréal: Fides, 1976); Yves Landry (ed.), Pour le Christ et le Roi: La vie au temps des premiers montréalais (Montréal: Libre Expression, 1992). 43 American Association for the Advancement of Science, Hand-book for the city of Montreal, 20; Hinshelwood, Montreal and Vicinity, 6; 85. 44 Henry P. Phelps, Montreal for Tourists (New York: s.n., ca. 1904); Murray’s Illustrated Guide to Montreal and Vicinity (Montreal: Norman Murray Publisher, 81893), 25; Cécile Grenier et Dinu Bumbaru, „Le Mont Royal“, in: La Presse Plus (1985), 2, AVM, DP, B258-3.64. Allerdings ist nicht überliefert, ob Cartier ihn tatsächlich zu Ehren des Königs benannte oder allgemein für königswürdig befand. Aktueller Forschungsstand zur Toponymie Jean Poirier, „Origine du nom de la ville de Montréal“, in: Revue d’histoire de l’Amérique française 46:1 (été 1992), 43. 45 Poirier, „Origine“, 39–40. 46 Commission de toponymie, Noms et lieux de Québec: Dictionnaire illustré (Sainte-Foy: Publications du Québec, 1996), s.v. „Montréal, Ile de“; Poirier, „Origine“, 43.

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Royal, and relate the story of the ruin of their people.“47 In der Folgezeit bürgerten sich für die Insel und ihren Berg Champlains Bezeichnungen ein.48 1642 schließlich war das Jahr, in dem die Franzosen dann eine permanente Siedlung auf der Ile de Montréal errichteten. Eine Expedition der Pariser „Société de Notre-Dame de Montréal“ unter der Führung von Paul de Chomedey, Sieur de Maisonneuve, gründete die Stadt am 17. Mai 1642 mit einer Zeremonie „near the foot of the mountain“49. Die neue Siedlung sollte als Vorposten des katholischen Glaubens in Neufrankreich dienen. Aus diesem Grund nannte man sie auch zu Ehren der Jungfrau Maria „VilleMarie“.50 Im Januar 1643, so will es der um 1900 in den populären Texten kolportierte Mythos, erklomm Maisonneuve mit einem Kreuz auf dem Rücken an der Spitze einer kleinen Prozession den Gipfel des Mont Royal, als Dank dafür, dass im Winter zuvor angesichts eines drohenden Hochwassers seine Gebete erhört und die kleine Siedlung gerade noch gerettet worden war. Das Kreuz wurde auf dem Gipfel errichtet und diente in der Folge als Pilgerstätte für die gläubigen Kolonisten.51 Erst im Lauf des 18. Jahrhunderts setzte sich der Name „Montreal“ auch für die Stadt durch, während „Ville-Marie“ in Vergessenheit geriet. Es ist wahrscheinlich, dass sich der Name der Stadt einfach von der in den frühen Karten verbreiteten Bezeichnung der Insel ableitete, die ihrerseits auf die des Berges zurückging.52 Möglicherweise spielte dabei die zunehmend säkulare, wirtschaftliche Funktion der Stadt als Umschlagplatz für den Pelzhandel eine Rolle, die ihren katholischen Missionscharakter ablöste. Interessant ist hier aber weniger die Frage, wie und warum es genau zu dem Zeitpunkt zur Umbenennung kam, sondern vielmehr, wie die Geschichte der Namensgebung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erzählt wurde. Diese Erzählungen betonten, dass Montreal seinen Namen vom Berg erhielt; ihm wurde gar eine Art Namenspatenschaft für die Stadt zugesprochen. Die genauen Formulierungen sagen dabei einiges aus über den Stellenwert, den der Mont Royal im populären Geschichtsdiskurs Montreals zu jener Zeit einnahm. Einige der Texte beschränkten sich nicht darauf, von einem ‚Ableiten des Namens‘ zu sprechen – „[...] the mountain, from which the city derives its name [...]“53 – sondern schrieben dem Berg an sich in der Benennung 47 American Association for the Advancement of Science, Hand-book for the city of Montreal, 20. 48 Lionel Groulx, „Ville-Marie: Joyau de l’histoire coloniale“, in: Collection du Troisième Centenaire 1 (1940), 8; Poirier, „Origine“, 44. 49 St. Lawrence Hall Montreal: Tourists Guide 1911 (Montreal: A. J. Higgins, 1911), 23. 50 Eloge auf die katholische Gründungsgeschichte der Stadt bei Lionel Groulx, „Ville-Marie: Joyau de l’histoire coloniale“, in: Collection du Troisième Centenaire 1 (1940). 51 So William D. Lighthall, Montreal after 250 Years (Montreal: F. E. Grafton and Sons, 1892), 48. 52 Commission de toponymie, Noms et lieux du Québec, s.v. „Montréal (ville)“. 53 Canadian Pacific Railway Company (ed.), Montreal: The Canadian Metropolis and Its Picturesque Environments (Montreal: C.P.R., 1904), 6–7. Ebenfalls Hinshelwood, Montreal

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der Stadt Handlungsmacht zu: „Mount Royal, the extinct and tree-clad volcano that gives the city its name.“54 Auch wenn das nicht wörtlich gemeint war, so war es doch eine Redeweise, die den Mont Royal stärker als Akteur und die Stadt als Empfänger positionierte. Sie erscheint klar in seiner Abhängigkeit, auch dies ein Indiz dafür, welche Bedeutung dem Berg in der Darstellung der Geschichte Montreals beigemessen wurde. In all diesen Szenen der Kolonialgeschichte, wie sie um 1900 geschildert wurden, spielte also der Mont Royal mit. Cartier erklomm ihn und benannte ihn, Champlain bestieg ihn, um das Land einzusehen, Maisonneuve gründete Ville-Marie zu seinen Füßen und pilgerte samt Kreuz auf seinen Gipfel. Später dann gab der Berg der Stadt ihren Namen. Vermutlich war der Mont Royal für die ersten Siedler tatsächlich ein herausragendes topographisches Merkmal im neu zu besiedelnden Land, ein Orientierungspunkt. Doch für die kurzen Geschichtsüberblicke der hier untersuchten Literatur ist bemerkenswert, wie verhältnismäßig viel Mont Royal dem Leser präsentiert wurde und welche zentrale Rolle er in den Darstellungen einnahm. Daraus lässt sich schließen, dass der Mont Royal als ein konstitutiver Faktor für die Gründung Montreals wahrgenommen wurde – von der ersten Sichtung der Gegend hin zur Namensgebung der Stadt. Ohne den Berg, so könnte man annehmen, hätte es die Stadt Montreal nie gegeben. Er erscheint in den Erzählungen als Motiv, das sich durch die Narrative der diversen Besiedlungsversuche durchzieht, sie verklammert und der Rhetorik der Gründungsgeschichte ihren inneren Zusammenhalt gibt. Somit war er fester Bestandteil des Gründungsmythos der Stadt, der durch diese populären Geschichtsabrisse fortgeschrieben wurde.55 Genau wie Montreal in räumlicher Hinsicht als durch den Mont Royal definiert angesehen wurde, wurde es auch in seiner historischen Genese als durch den Berg bestimmt verstanden; in beiden Fällen wurde eine klare kausale Abhängigkeit perzipiert. Diese beiden Aspekte lassen sich nicht trennen. Denn wenn der Mont Royal als visuelles landmark für Montreal repräsentiert wurde, so hing das sicher über die Tatsache seiner rein faktischen Erhebung in der Landschaft hinaus damit zusammen, dass er mit historischer Bedeutung aufgeladen war. Andersherum beruhte seine Integration in den Gründungsmythos der Stadt zum großen Teil auf seiner physischen Präsenz. Zusammen mündeten beide Aspekte in eiand Vicinity, 38; American Association for the Advancement of Science, Hand-book for the city of Montreal, 19; Douzième Congrès International de Géologie, Guide de Montréal 1913 (Montréal: Beauchemin, 1913), 4. 54 The Ritz-Carlton Hotel, Montreal and Its Attractions Summer and Winter (S.l.: s.n., 1913), 3. Ebenso Suburban Montreal as seen from the Routes of The Park and Island Railway, 8. Dass der Mont Royal ein Vulkan war, ist ebenfalls ein Mythos. 55 Vgl. Janice Eleanor Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park, Montreal: Design and Context“ (M.A. Concordia University, 1983), 25–26. Die menschlichen Helden dieses Gründungsmythos in der Historiographie Montreals untersucht Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 7–36.

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nen Diskurs über Montreal, der die Stadt als untrennbar vom Mont Royal darstellte. Ohne ihn war sie als Montreal schlicht nicht denk- und sagbar.56 Die Montréalité de Montréal beruhte zu einem gewichtigen Teil auf dem Mont Royal – eine große Bedeutung, mit der der Haushügel der Stadt um 1900 aufgeladen war. Letztlich verweist auch die Tatsache, dass die Texte der Jahrhundertwende häufig auf Begriffe aus dem majestätisch-königlichen Wortfeld zurückgriffen, darauf hin, dass der Berg im Zusammenhang mit herrschaftlichen Ansprüchen gedacht wurde. Bezeichnend ist dabei auch, für welchen Teil der Geschichte der Stadt der Mont Royal stand, nämlich für ihre Gründung. Dadurch wurde er nicht nur als ein für die Stadt definitorisches Moment betrachtet, sondern auch in einen Eroberungsdiskurs im weiteren Sinne eingeschrieben, der ebenfalls mit Macht zu tun hatte, genauer, mit der Eroberung und Beherrschung des als unbesiedelt empfundenen Landes durch die französische Krone.57 Wer den Berg eroberte, konnte die Stadt gründen und das Land besetzen. So verwundert es nicht, wenn die populären Erzählungen die Eroberer der Reihe nach dieses Land von oben, von der Bergspitze aus, in Augenschein nehmen ließen – gewissermaßen in einem Herrschaftsgestus von oben herab.58 Sicherlich reflektierten die Reiseführer, Werbeprospekte und dergleichen dies alles nicht bewusst. Nichtsdestotrotz schrieben die Texte, unabhängig von ihrer möglichen Intention, diesen Diskurs fort. Als Produkte der führenden Mittel- und Oberschichten aus Politik, Wirtschaft und Medien ging es ihnen vermutlich primär darum, in der Außendarstellung Montreals das Profil der Stadt zu schärfen und sie von anderen nordamerikanischen Städten abzugrenzen, um sie für Touristen als attraktives Ziel zu propagieren. Gleichzeitig aber kann man sich vorstellen, dass der in den Texten reproduzierte Diskurs nach innen identitätsstiftend wirkte. Durch die Stilisierung des Mont Royal zum räumlichen Fixpunkt und zum Referenzpunkt einer gemeinsamen Vergangenheit scheint hier eine Montrealer Identität konstruiert worden zu sein, die die inneren gesellschaftlichen Brüche überbrücken sollte.59 56 Rob Shields fasst derartige Identifikationsprozesse treffend als „process of identification […] [that] allows the differentiation of both places from space and places from each other (a city is identified by the mountain in the middle, and is different from the one with seven hills).“ Shields, Places on the Margin, 47–48. 57 Weiterführend zur Negierung der Eroberten und Entdeckten Anne McClintock, Imperial Leather: Race, Gender and Sexuality in Colonial Context (New York: Routledge, 1995), v. a. 121. 58 Zur Funktionsweise symbolischer Landnahme in der Kolonialzeit vgl. Robert S. Michaelsen, „Dirt in the Court Room: Indian Land Claims and American Property Rights“, in: David Chidester and Edward T. Linenthal (eds), American Sacred Space (Bloomington: Indiana University Press, 1995), 55–56. 59 Zur Begründung von „Wir-Bewusstsein“ durch die Erfindung von Traditionen vgl. KarlHeinz Kohl, „Ethnizität und Tradition aus ethnologischer Sicht“, in: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hgg.), Identitäten (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998), 281.

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Als die Stadt definierender Ort aber konnte er in der Praxis auch fragmentierend wirken. Gerade die enge Bindung des Bergs an die Gründungsgeschichte der Stadt wirkte nicht immer nur harmonisierend, konnte doch diese Geschichte ganz unterschiedlich interpretiert und als Legitimation für Ansprüche auf den Berg verwendet werden. Wer aber den Berg besetzen konnte – sei es physisch, sei es diskursiv – hatte die symbolische Macht und Deutungshoheit über Montreal inne. Es ist daher naheliegend, dass der Mont Royal als wichtiger Einsatz im Spiel um die kulturelle und gesellschaftliche Hegemonie in der Stadt betrachtet wurde.

1.2  „Un site incomparable“: Der Berg als Park oder Universität 1.2.1  „Le Mont-Lumière“: Katholische Zukunftsvisionen

Wenn folglich Mgr Gauthier im August 1921 in seinem Brief an die Stadtverwaltung das Land am Mont Royal als „site incomparable“60 bezeichnete, so ist es durchaus möglich, dass die Unvergleichlichkeit des Ortes nicht nur durch die Zugänglichkeit für Studenten und Professoren sowie die Nähe zu Bibliotheken ausgemacht wurde, sondern auch durch den im öffentlichen Bewusstsein verankerten Symbolcharakter des Berges. Um das besser beurteilen zu können, sollen im Folgenden die pragmatischen Argumente Gauthiers für diesen site näher beleuchtet und gegebenenfalls dekonstruiert werden. Eine praktische Lage? Funktionalistische Rhetorik

Das 49 acres große Areal, auf das die Universität ursprünglich Anspruch erhob, lag an den Ausläufern der östlichen Seite des Berges. Wie das Grundstück genau begrenzt war, ist unklar, da der von Gauthier dem Antrag beigelegte Plan fehlt. Allerdings spricht er von drei Sektionen – A, B und C –, von denen A und B im Frühjahr 1922 dann tatsächlich an die Universität abgetreten wurden. Es handelt sich hierbei um die berühmten 23 acres, die in der Folge den Streit auslösten (vgl. Abb. 2, Abb. 3). Diese Sektionen befanden sich an der Stadtgrenze zwischen Montreal und der Cité d’Outremont, in der Verlängerung der west-östlich verlaufenden Avenue Mont-Royal, auf der Bergseite der nord-südlichen Avenue du Parc. Letztere trennte das zum Parc du Mont-Royal gehörende Gelände von einem dem Berg vorgelagerten flachen Wiesenstück, das unter dem Namen Fletcher’s Field bekannt war und vorwiegend als Spiel- und Picknickplatz genutzt wurde.61 Nach Süden hin schloss sich der Incline Railway an, der in der Verlängerung der Rue Duluth gelegen war. 60 Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. 61 Vgl. Handy Guide to the City of Montreal (Montreal: La Presse, 1907), 43.

„Un site incomparable“: Der Berg als Park oder Universität

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War nun dieser Ort für die Professoren und Studenten der Université de Montréal gut erreichbar? Wer war überhaupt die Klientel der Universität? Als autonome Nachfolgerin der Université Laval à Montréal richtete sich die Université de Montréal gezielt an die Elite der frankophon-katholischen Bevölkerung der Stadt.62 Trotz ihrer Unabhängigkeit von Quebec wurde sie doch weitgehend von denselben geistlichen Autoritäten geleitet wie zuvor. Monseigneur Georges Gauthier, ihr erster Rektor, war zuvor Generalsekretär von Laval gewesen. Zwar waren einige Ökonomen oder Juristen wie Edouard Montpetit, Generalsekretär der UdeM von 1920 bis 1950, erstmals führend beteiligt, doch waren auch die meisten Professoren Geistliche, die schon an der Universität gelehrt hatten, als diese noch Quebec unterstellt war. Personelle Kontinuität war folglich weitgehend gewährleistet, und ebenso rekrutierten sich die Studenten aus demselben Milieu. Gezielt sollte der zahlenmäßig wachsenden frankokanadischen Bevölkerung eine Bildungsinstitution zur Verfügung gestellt werden, die es mit der anglo-protestantischen McGill University aufnehmen konnte. Dass die Zielgruppe der alten Université Laval und ihrer Nachfolgerin der Nachwuchs der franko-katholischen Bourgeoisie war, spiegelte sich auch in ihrer geographischen Lage innerhalb der Stadt. Ihren Hauptsitz hatte sie seit 1895 an der Rue St-Denis (Ecke Rue Ste-Catherine), an einer der Hauptarterien des Quartier Saint-Jacques. Zusammen mit einigen anderen Straßen und Plätzen, wie der sie kreuzenden Rue Sherbrooke oder der Rue St-Hubert, war die Rue St-Denis Teil eines wohlhabenden, frankophonen Viertels, dessen residentielles Herzstück der Square St-Louis bildete und dessen südlicher Teil aufgrund der zahlreichen Bildungseinrichtungen Quartier Latin genannt wurde. Die Ansiedlung der Universität wiederum zog immer mehr frankophone Akademiker und Geschäftsleute nach sich, so dass der Stadtteil am Ende des 19. Jahrhunderts fest in der Hand der frankokanadischen Mittel- und Oberschichten war.63 „Remontons la rue St-Denis, la rue la plus élégante de la partie canadienne-française de la cité, rue essentiellement bourgeoise, d’où le commerce est presque entièrement exclu, et nous voyons à droite l‘Université Laval, la grande université française [...]“64, bemerkte ein Reiseführer von 1897. Und 1909 hieß es: „Remontons la Rue St-Denis à gauche et en face de la Gare Viger. Cette rue très longue est la plus élégante du quartier canadien-français et est essentiellement bourgeoise [...]“65. Ein karikaturhafter Stadtplan in einer Studentenzeitung des Jahres 1915 skizzierte die Lage dieses Viertels und die mentalen Abgrenzungen seiner Bewoh62 Vgl. St. Lawrence Hall Montreal: Tourists Guide 1911, 45: „Laval University, situated on St. Denis St. [...], is for French Catholics what McGill is for the English Protestant element.“ Auch Linteau, Histoire de Montréal, 239. 63 Bizier, L’Université de Montréal, 61–63. Zur Einweihung der Gebäude 1895 „L’Université Laval“, in: La Presse 7./8.10.1895. 64 Leblond De Brumath, Guide de Montréal, 67. 65 Wolff and Erpicum (eds), Guide of Montreal 1908–1909, 29. Text in englisch und französisch. Vgl. auch Montreal 1907, 26.

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Abb. 8  Plan des Montrealer „Quartier Latin“ aus der Studentenzeitung L’Escholier, 23.12.1915.

ner von den anliegenden Stadtteilen, wie etwa den primär von jüdischen Einwanderern besiedelten Regionen im Nordwesten („Jérusalem“), dem direkt westlich angrenzende Chinatown („Pékin“) oder dem östlich angrenzenden, mit dem Bild eines geldsackschwenkenden, zigarrenrauchenden Mannes geschmückten „Royaume des Philistins“, eine sehr deutliche Anspielung auf die von populistischen, frankophonen Politikern und ihren Parteimaschinen dominierten frankokanadischen Arbeiterviertel im Osten der Stadt (Abb. 8). Die Universität befand sich also nicht nur in einem Viertel, in dem viele ihrer Professoren und Studenten wohnten, sondern das auch in der allgemeinen Wahrnehmung als Territorium der frankophonen Bourgeoisie galt.66 Allerdings machte sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein Wandel bemerkbar. Die Rue St-Denis wurde 66 Lighthall, Montreal after 250 Years, 44.

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immer kommerzieller67, und Teile der wohlhabenden frankophonen Schichten zogen nach Outremont, einer eigenständigen Stadt, die sich zunehmend zum Rückzugsort der reichen Frankokanadier entwickelte.68 Dennoch blieb der Stadtteil weitgehend frankophon, und gerade die Ecke St-Denis/Ste-Catherine galt als sein lebendiges Zentrum.69 Insofern ist das Anliegen Gauthiers, dass der neue Ort der Universität für die Professoren und Studenten gut erreichbar sein sollte, nachvollziehbar, wollte man doch nicht unzugänglicher gelegen sein als vorher. Tatsächlich wäre das neue Grundstück am Osthang des Mont Royal für viele Studenten der Universität gut erreichbar gewesen, wohnte doch ihre Mehrheit westlich von St-Denis.70 Allerdings setzten sich die Stadtviertel, die direkt an den begehrten site incomparable (A+B) auf der Ostseite angrenzten, eher aus Bevölkerungsgruppen zusammen, die weniger der Klientel der UdeM entsprachen. Im östlichen St-JeanBaptiste wie auch im nördlichen Laurier, entlang der Achsen der Rue St-Urbain und des Bd St-Laurent, wohnten mehrheitlich Einwanderer aus der zweiten Immigrationswelle des späten 19. Jahrhunderts.71 Die anderen überwiegend frankophonen Stadtteile lagen relativ weit entfernt im Osten der Stadt. Im Frühjahr 1922, nachdem die Universität die Sektionen A und B von der Stadt erhalten hatte, wurde dies auch seitens frankophoner Kritiker der Schenkung bemängelt. Denn nicht alle Frankokanadier, die in den Debatten Position bezogen, standen vereint hinter dem geplanten Campus. Als der Beschluss der Stadtverwaltung im März 1922 bekannt wurde, geriet der Stadtrat ins Kreuzfeuer der empörten Tagespresse. Der Abgeordnete Alexandre Mongeon berichtete dabei dem Star zufolge von einigen Bewohnern seines Viertels, die der Meinung waren, dass die UdeM im Osten der Stadt bleiben solle wie eh und je.72 Einige schlugen den Parc Lafontaine als idealen Ort vor. Mongeon selbst jedoch hielt den „mountain site“73 für den besseren. Er vertrat den Stadtteil St-Jean, der nordöstlich von Outremont lag, jenseits der Gleise des Canadian Pacific Railway (CPR), also näher an den Grundstücken am Mont Royal als am traditionellen Ort der Universität. Vermutlich erhoffte er sich eine Aufwertung seines nicht Douzième Congrès International de Géologie, Guide de Montréal 1913, 57. Vgl. Robert Rumilly, Histoire d’Outremont, 1875–1975 (Montreal: Leméac, 1975). Vgl. Douzième Congrès International de Géologie, Guide de Montréal 1913, 56–57. Bizier, L’Université de Montréal, 117. Linteau, Histoire de Montréal, 80–81. Das allerdings ist nur aus einem Artikel des Star überliefert, es könnte sich daher auch um Propaganda dieser nicht sehr frankophilen Zeitung handeln. Alderman Trépanier bspw. wies in einer der folgenden Stadtratsitzungen darauf hin, dass er in eben diesem Artikel mit Aussagen zitiert worden sei, die er nie gemacht habe. Vermutlich hätten sich dann aber wohl auch andere Abgeordnete zu Wort gemeldet, denen ebenfalls falsche Aussagen in den Mund gelegt worden waren; dies war aber nicht der Fall, insofern kann der Artikel als glaubwürdig gelten. „Proposed New Site for Université de Montréal“, in: Star 31.5.1922. 73 „Proposed New Site for Université de Montréal“, in: Star 31.5.1922.

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gerade wohlhabenden Stadtteils durch die Nähe zur prominenten Bildungseinrichtung (vgl. Abb. 3). Den der residentiellen Struktur des Stadtteils entsprechend wenig begüterten, frankokanadischen Anwohnern, die Mongeon angesprochen hatten, war die Nähe der Universität offenbar nicht sehr wichtig; die Einrichtung der Bourgeoisie sollte wohl auch in einem bourgeoisen Stadtteil bleiben. Selbst die Quebecer Zeitung L’Evénement stellte in Reaktion auf den Streit um den Campus im Sommer 1922 fest, dass das Geschenk der Stadtverwaltung an die Universität großzügig, aber unklug sei, da es die Universität weit entfernt von den Vierteln der Frankokanadier etablieren würde. Der Parc Lafontaine, so die Zeitung, wäre daher die bessere Wahl gewesen.74 Der von Gauthier ins Feld geführte gute Zugang für Professoren und Studenten scheint insofern nicht die Unvergleichlichkeit der Lage am Mont Royal ausgemacht zu haben. Was die übrigen praktischen Argumente des Rektors für diese Lokalisierung angeht – die Nähe zu Krankenhäusern, Bibliotheken oder dem Justizpalast – so trafen auch sie nur bedingt zu, und auch sie unterschieden das Grundstück am Mont Royal kaum von anderen möglichen Orten wie etwa dem Parc Lafontaine. Das Hôtel-Dieu, „le plus ancien établissement religieux et hospitalier du Canada“75, befand sich seit 1861 östlich der Avenue du Parc auf der Avenue des Pins, also am südlichen Ende von Fletcher’s Field. Da es sich um ein katholisches Krankenhaus handelte, ist es zwar gut möglich, dass die Universität eine Zusammenarbeit mit diesem Hospital plante.76 Aber das eigentliche Lehrkrankenhaus der Université Laval à Montréal war das Hôpital Notre-Dame, das sich bis 1924 am Champ de Mars befand und dann an den Parc Lafontaine zog.77 Der Justizpalast lag ebenfalls im Vieux-Montréal an der Rue Notre-Dame, nahe des Champ de Mars, also ganz und gar nicht in der Nähe des Mont Royal, und die große Bibliothèque municipale wurde ab 1915 an der Rue Sherbrooke, gegenüber des Parc Lafontaine errichtet (Abb. 9).78 Es ist daher naheliegend, dass wir es bei diesen pragmatischen Argumenten Gauthiers mit einer Rhetorik zu tun haben, die auf die Überzeugungskraft scheinbar funktionaler Argumente setzte, andere Gründe für die Wahl des Areals am Mont Royal aber verschwieg. 74 Artikel auf Englisch abgedruckt in „The French Press: The University Site – A Quebec View“, in: Gazette 5.7.1922. 75 Leblond De Brumath, Guide de Montréal, 69. 76 1903 z. B. hatte es 230 Betten, und 98% der Patienten waren römisch-katholisch. Hinshelwood, Montreal and Vicinity, 75. 77 Bizier, L’Université de Montréal, 74; vgl. Denis Goulet, Histoire de l’Hôpital Notre-Dame de Montréal, 1880–1980 (Montreal: VLB, 1996). 78 Michèle Dagenais, „Vie culturelle et pouvoirs locaux: La fondation de la bibliothèque municipale de Montréal“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 24:2 (March 1996), 52. Auch die anglophone Bibliothek des Fraser Institute, Ecke Dorchester/University St., lag nicht gerade am Mont Royal.

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„A princely gift“: Eine Stadt auf dem Berg

Der weiter oben bereits erwähnte Artikel in der Quebecer Zeitung L‘Evénement lässt vermuten, dass sich die Universitätsleitung des Bedeutungsgehalts der Lage am Mont Royal durchaus bewusst war. In den Debatten des Sommers 1922, in denen es um das gewünschte Grundstück am Osthang ging, stellte die Zeitung pragmatisch – aus der sicheren, neutralen Distanz des entfernten Quebec – fest: The University of Montreal has just obtained from the municipal authority of that city an extraordinary gift – that of a large site for a new building at the foot of the mountain. It is one of the most beautiful situations in the metropolis. It would be difficult to assess the value of this property in money. It is worth, perhaps, millions of dollars. And as it stands in the centre of this cosmopolitan city, it goes without saying that the princely gift of the aldermen does not please everybody.79

Die Spekulationen der Zeitung über den Preis des Grundstücks weisen auf mögliche tieferliegende Ursachen für die Begehrtheit gerade dieses Ortes. Ein ähnlich großer Teil des Parc Lafontaine wäre, so die Annahme der Zeitung, sicherlich weniger wert gewesen. Dies deutet darauf hin, dass es tatsächlich die Lage am Mont Royal war, die das Grundstück nahezu unbezahlbar machte: Es war zwar ein hügeliges, bewaldetes, nicht einmal sonniges Fleckchen80, das sich in seinen praktischen Vorteilen nicht wesentlich von anderen Orten unterschied – aber es befand sich eben am Mont Royal. Und selbst wenn der Preis gar nicht so hoch gewesen wäre, wie der Artikel spekulierte, zeigt allein die Tatsache, dass derartige Mutmaßungen im Umlauf waren, welchen Stellenwert der Mont Royal im öffentlichen Bewusstsein einnahm. Das führt zurück zur eingangs geschilderten Bedeutung, mit der dieser Berg in der imagination urbaine der Stadt aufgeladen war, und es ist naheliegend, dass es der Universitätsleitung bei aller funktionalistischen Rhetorik um den Symbolcharakter eines Grundstücks am Mont Royal ging. Am Mont Royal, dem für die Identität der Stadt so wichtigen Berg, zuhause zu sein, hätte auf eine angesehene, bedeutungsvolle Stellung der Université de Montréal im Leben der Stadt hingedeutet und gleichzeitig ihr Prestige verstärkt. Dafür, dass die Symbolik des Berges für die UdeM eine große Rolle spielte, dafür spricht auch das Universitätswappen, das der Rechtsprofessor und Vorsitzende des Collège héraldique der Société Historique de Montréal, Victor Morin, in Zusammen-

79 „The French Press: The University Site – A Quebec View“, in: Gazette 5.7.1922, zitiert die Quebecer Zeitung L’Evénement. 80 Als die Universitätsleitung 1924 beschloss, ihren Campus am site des ehemaligen Steinbruchs von Outremont, im Norden des Berges, zu errichten, führte sie für ihre Entscheidung u. a. die schlechten Lichtverhältnisse an der Ostseite als Grund an. Vgl. den Artikel „Park Site Ceded Will Not Be Used“, in: s.n. 25.3.1924, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–26“.

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Abb. 9  Die Lage des HôtelDieu, des Justizpalastes, der Stadtbibliothek und des Krankenhauses Notre-Dame in einem Stadtplan von 1931.

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arbeit mit dem Künstler Louis-Joseph Dubois und dem Vize-Rektor Emile Chartier 1920 entwarf (Abb. 10).81 In seiner heutigen, lediglich stilistisch modernisierten Version von 1951 stellt das Wappen ein festungsartiges Bauwerk vor blauem Hintergrund dar, das einer von zwei runden Ecktürmen begrenzten Stadtmauer ähnelt. Der linke Turm ist von einem goldenen, der rechte Turm von einem silbernen fünfzackigen Stern bekrönt.82 Das gesamte Bauwerk Abb. 10  Aktuelles Wappen der Université de Montréal. steht auf einem Berg. Gerahmt wird das Wappen von Ahorn- und Eichenranken, und auf einer Banderole darunter befindet sich die Devise der Universität: „Fide splendet et scientia“, „Sie leuchtet durch Glaube und Wissenschaft“. Herkömmlich wird das Wappen als Symbol für die Klöster der Sulpizianer und der Religieuses de la Congrégation de Notre-Dame interpretiert, die zu Kolonialzeiten den Völkern Nordamerikas den durch den Goldstern dargestellten Glauben sowie die durch den Silberstern symbolisierte Wissenschaft brachten. Der Ahorn steht für Kanada, die Eichen für die Stärke der Institution.83 Bemerkenswert an dieser Stelle ist aber vor allem, dass das Bauwerk, Träger von Glaube und Wissenschaft, auf einem Berg steht. Das Motiv des festungsartigen Bauwerks auf einem Berg bildete mit dem blauen Hintergrund von vornherein den Kern des Wappens, wie es dem Vize-Rektor der UdeM vorschwebte.84 Es ist bereits in den ersten Entwürfen des Wappens vorhanden (Abb. 11) und wurde in der Folge nur leicht variiert; andere Vorschläge konnten sich dagegen nicht durchsetzen. Zwar war nicht die moderne Universität selbst auf dem Berg thronend abgebildet, sondern ein mittelalterlich anmutendes Gebäude. Aber indem das Wappen auf die missionarische und lehrende Tätigkeit der frühen Glaubenskongregationen Bezug nahm, stellte sich die UdeM geschickt in eine Tradition, die bis in die Gründungszeit der Stadt zurückführte, genauer: in eine französische, katholische, Neuland er81 Division des Archives de l’Université de Montréal, „Nom, blason et logo“, in: Forum 38:28 (19 avril 2004), Internetpublikation des Archivs der Université de Montréal, unter http://www.iforum.umontreal.ca/Forum/ArchivesForum/2003-2004/040419/ article3476.htm, Stand 10.9.07. 82 Vgl. offizielle Beschreibung des Generalsekretärs Edouard Montpetit: Secrétaire général de l’Université de Montréal an Mademoiselle Vanasse, 17.6.1937, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #338. 83 Victor Morin an Mgr Georges Gauthier, 28.9.1920, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #338. Division des Archives de l’Université de Montréal, „Nom, blason et logo“. 84 Victor Morin an Mgr Georges Gauthier, 28.9.1920, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #338.

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obernde und beherrschende Tradition. Darauf verwies auch der blaue Hintergrund: „Pour une université catholique et française, le champ d’azur rappelle discrètement la France ancienne dont l’écu était ,d‘azur semé de fleurs de lis d’or‘“85. Die Kolonialgeschichte Montreals stellte den Referenzpunkt dar, und sie wiederum war nicht vom Mont Royal getrennt denkbar. Macht und Einfluss bei der Gründung der Stadt, sogenannte zivilisatorische Wirkung und Missionstätigkeit der Orden in früheren Zeiten sowie ihre kulturelle Hegemonie wurden unter anderem durch das Bauen auf dem Berg versinnbildlicht. Der Bezug auf die Gründungsge- Abb. 11  Entwurf eines Wappens für die Université de Montréal, 1920. schichte der Stadt erfüllte eine doppelte Funktion: Zum einen legitimierte er das Selbstbewusstsein einer eigenständigen Montrealer Universität gegenüber Quebec, zum anderen den Anspruch auf Land am Berg. Das anlässlich der Unabhängigkeit der Montrealer Universität entworfene Wappen blendete so glorreiche Vergangenheit und Zukunftswunsch ineinander, wobei der Mont Royal als Ort und Symbol für vergangenen und zukünftigen Erfolg der Lehre und Wissenschaft in Montreal fungierte. Genau wie die katholische Kolonialgeschichte sollte die moderne katholische Universität mit dem Berg verbunden werden. Die Devise „Fide splendet et scientia“ drückte selbstbewusst den Führungsanspruch der UdeM aus und fügte sich in das Bild der Universität auf dem Berg ein: Als festungsartige Bastion des Glaubens und der Wissenschaft sollte sie von ihrer wörtlich und metaphorisch erhöhten Position aus strahlen. Man kommt folglich nicht umhin, neben der ersten rein deskriptiven, an der Gegenwart orientierten Ebene des Wappens – die UdeM liegt am Berg – und der zweiten, der lokalhistorischen Bedeutungsebene – Bezugnahme auf die besondere Rolle des Mont Royal in Geschichte und Geographie der Stadt – noch eine dritte, in die Zukunft weisende Bedeutungsebene zu vermuten. Mit seinen Zinnen erscheint das Bauwerk auf dem Hügel wie die bildliche Darstellung einer city upon the hill. Die Wurzeln dieses nordamerikanischen Topos der Stadt auf dem Berg finden sich im Alten Testament als Symbol für das Neue Jerusalem, dem Zentrum eines neuen Israel, das von einem Berg aus der Welt als Ort Gottes und Vorbild des Glaubens

85 Société Historique de Montréal, Projet d’armoiries pour l’Université de Montréal, s.d., DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #338.

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leuchten wird; im Matthäus-Evangelium wurde dieses Sinnbild aufgegriffen.86 John Winthrop begründete 1630 mit seiner Rede A Modell of Christian Charity an Bord des Schiffs Arbella auf dem Weg nach Neuengland die amerikanische Tradition der city upon the hill, indem er die biblische Metapher auf die junge, auf einem Vertrag zwischen Gott und den Puritanern beruhende Gemeinschaft in der neuen Welt übertrug. Neuengland sollte in Abgrenzung zu dem als korrupt, von Gott entfremdet und autokratisch empfundenem Staatensystem Europas als leuchtendes Vorbild für eine neue Form von Gemeinschaft vorangehen.87 Diese Gemeinschaft war dabei integral an ein bestimmtes Territorium geknüpft, das auserwählte Volk an einen auserwählten Ort.88 Als religiöse Chiffre für die Auserwähltheit und den Modellcharakter einer community, die auch räumlich definiert war, wurde die city upon the hill in der Folge zu einem festen Bestandteil des weißen, angelsächsischen, protestantischen Gründungsmythos in den USA. Auch wenn es problematisch ist, diesen primär WASP US-amerikanischen Gründungsmythos auf die frankokanadische, katholische community zu übertragen, und wenn auch vielleicht kein expliziter Bezug gewollt war, so kann doch angenommen werden, dass die city upon the hill einen Topos darstellte, der weithin bekannt war. Vielleicht rekurrierte man unbewusst auf diesen Topos, indem man das Territorium des Mont Royal mit den Bedeutungen von Auserwähltheit und Führungsanspruch konnotierte. Unabhängig von der spezifisch puritanischen Tradition wirkte hier zudem möglicherweise eine allgemeinere biblische geographische Imagination nach, in der Bergen eine göttliche Kraft zugesprochen wurde.89 Gerade in Montreal, einer Stadt, die zu Zwecken der Glaubensverbreitung in Nordamerika gegründet wurde, scheint das nicht zu abwegig, selbst wenn dieser Glaube römischkatholisch war. „[Montreal] was an attempt to found in America a veritable ‘Kingdom of God’, as understood by devout Roman Catholics.“90 Die mythisch-religiöse Überhöhung der Gründung Montreals wurde zudem teilweise in ähnlichen Termini gefasst, wie sie aus dem anglo-protestantischen Raum bekannt sind. „Dans le lointain se dessine tout d’abord, en sa frondaison naissante, le cône arrondi du Mont-Royal. [...] Devant l’apparition de la terre promise, une suprême émotion secoue la petite compagnie.“91 So schilderte der Priester und Professor für Geschichte an der UdeM Lionel Groulx nur 20 Jahre später die erste Annäherung der Siedler an die Ile de Mon86 Jesaja 2, 1–3; Matthäus 5, 14–16. Vgl. James L. Machor, Pastoral Cities: Urban Ideals and the Symbolic Landscape of America (Madison: University of Wisconsin Press, 1987), 20– 21. 87 Machor, Pastoral Cities, 51–52; David Jacobson, Place and Belonging in America (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2002), 27–58. 88 Jacobson, Place and Belonging, 31; 37–39. 89 Cohn, The Shape of Sacred Space, 26. 90 American Association for the Advancement of Science, Hand-book for the city of Montreal, 17. 91 Groulx, „Ville-Marie“, 11.

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tréal im Jahr 1642. Montreal, das war eine auserwählte Stadt, und ihr Mont Royal war ein weithin sichtbares Zeichen dafür. Die religiös-sakrale Überhöhung des Berges, die sich im Übrigen auch in der häufigen Großschreibung von „la Montagne“92 ausdrückte, war eine weitere Bedeutungsschicht, mit der der Mont Royal im Bewusstsein der Zeitgenossen überzogen war, ergänzend zu seiner Bedeutung als geographischer und historischer Referenzpunkt. Er konnte so als visuelle, greifbare, an die Identität der Stadt, ihre Geschichte, ihren Raum geknüpfte Vergegenwärtigung eines allgemeineren Berg-Mythos wahrgenommen werden. Einen Campus, eine Universitätsstadt, am Mont Royal zu bauen hätte auch aus diesem Grund einen Prestigegewinn bedeutet. Nicht nur hätte die UdeM einen Teil des Ortes besetzt, den man als maßgeblich für die Identität der Stadt betrachtete, sondern dem außerdem der sakral überhöhte Beigeschmack des Auserwählten anhing. Nirgends sonst wäre die eigene Bedeutung für die Stadt besser zum Ausdruck gekommen: „Un rêve dont la réalisation assurerait le prestige intellectuel de notre race“, wie es der Rektor der UdeM 1924 ausdrückte.93 In nüchternerem Ton brachte dies ein Sitzungsprotokoll der Commission des études auf den Punkt: „[...] le versant de la Montagne [sic] semble plaire au plus grand nombre si on se place au point de vue national et esthétique.“94 Der ,nationale‘ Sinn des Unterfangens leuchtete allerdings nicht allen führenden Frankokanadiern ein. In schärfstem Ton kritisierte die Montrealer, franko-nationalistisch ausgerichtete Tageszeitung Le Devoir die Pläne am Berg, vor allem als die Wirtschaftskrise von 1929 die Bauprojekte gefährdete und die Universität beinahe vollständig ruinierte. Das habe sie nun davon: Eine Schnapsidee sei es gewesen, an den Berg ziehen zu wollen, viel zu teuer und vor allem weit entfernt vom Osten der Stadt, wo die frankokanadische Universität ihre Wurzeln habe. Noch sei es möglich, wieder in die angestammten Viertel am Parc Lafontaine zurückzukehren, mahnte die Zeitung.95 Offenbar empfanden es einige Frankokanadier als abwertend für die eigenen Stadtteile und als unwürdig, dass die Universität sich einen Standort wünschen sollte, der deutlich in anglophonem Territorium lag – als wäre der Nordwesten etwas Besseres als der Osten. Dazu gesellten sich pragmatische Überlegungen: Ein Leitartikel von 1926 fragte tatsächlich, wo all die frankokanadischen Studenten unterkommen sollten in einem mehrheitlich anglophonen Viertel und forderte „qu’on examine s’il 92 Ebd., 23, im Englischen auch häufig „the Mountain“, vgl. John J. C. Abbott (President Royal Victoria Hospital, Montreal) an Henry Saxon Snell (Architect, London), 10.11.1887, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Adminstrative Services, Letter Book No. 1 1887–1897. 93 „Les progrès accomplis par l’université de Montréal“, in: s.n. 25.3.1924, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #431. 94 Procès-verbal de la 29e réunion de la Commission des études de l’Université de Montréal, 29.11.1923, DA, UdeM, Fonds de la Commission des études A33. 95 „L’Université de Montréal: Une solution pratique pour la tirer de ses embarras“, in: Le Devoir 6.2.1933.

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ne serait pas beaucoup plus avantageux de construire l’université française et catholique au sein de la population catholique et française de la partie est de Montréal.“96 Das Denken in Ost-West-Kategorien war bei den Franko-Nationalisten des Devoir offenbar stärker verankert als bei den Autoritäten der UdeM, die den symbolischen Verlockungen des Berges erlagen. Auch die Tatsache, dass die Universität zwei Jahre nach den heftigen Debatten auf den ursprünglich gewünschten site verzichtete, obwohl sie im Frühjahr 1922 zumindest die Sektionen A und B zugesprochen bekommen hatte, legt nahe, dass es ihr primär um die symbolischen Bedeutungen des Mont Royal ging. Das Landstück D, Teil des am Nordhang gelegenen ehemaligen Steinbruchs, das die UdeM dann stattdessen wählte, wies keinen der von Gauthier im ursprünglichen Anschreiben an die Stadtverwaltung genannten funktionalen Vorteile auf. Die 37,62 acres lagen vom Fluss aus gesehen auf der anderen Seite des Berges und gehörten zum 1908 unter dem Namen „Quartier Mont-Royal“ eingemeindeten Dorf Notre-Dame-des-Neiges. Nach Norden hin wurde das Grundstück durch die Maplewood Road, nach Osten durch die Bellingham Road begrenzt, welche die Stadtgrenze zu Outremont markierten. Im Westen schlossen sich einige unbebaute Ländereien von Privateigentümern an, im Süden befand sich der katholische Friedhof Notre-Dame-des-Neiges (vgl. Abb. 2). Außer für die Bewohner Outremonts und des zu der Zeit kaum besiedelten Notre-Dame-des-Neiges war dieser site nicht gut zu erreichen: Von den traditionellen frankophonen Vierteln aus gesehen lag der Berg dazwischen. Auch Einrichtungen wie Bibliotheken, Krankenhäuser und der Justizpalast befanden sich auf der anderen Seite des Berges. Dementsprechend klar war das Urteil der Tageszeitung The Gazette im Sommer 1922 ausgefallen: „[...] the abandoned quarry parcel may be discarded as practically valueless.“97 Der einzig praktische Vorteil war, dass die Universität dort angrenzende Ländereien erwerben und so einen sehr viel größeren Campus etablieren konnte als es bei A und B je möglich gewesen wäre. Wenn die Universität sich folglich 1924 so gut mit einer Lage anfreunden konnte, die kaum eine der in Gauthiers Brief vom August 1921 aufgeführten Bedingungen erfüllte, deutet auch dies darauf hin, dass bei der Wahl des Wunschortes entgegen aller Rhetorik nicht pragmatische Überlegungen ausschlaggebend gewesen waren, sondern vielmehr das Bedürfnis, sich am Berg zu etablieren – zur Not eben an einem als wertlos eingestuften Grundstück wie der Sektion D. Ein Ausblick auf die Einweihung des neuen Hauptgebäudes bestätigt das. In den Einweihungsfeierlichkeiten des 3. Juni 1943 bildete die Verortung am Mont Royal eine Kernfigur der Eröffnungsansprachen, die über den Berg eine Verbindung zwischen der UdeM und ganz spezifischen Zeitpunkten der Montrealer Geschichte herstellten. Vor Hunderten von Gästen verkündete der Kanzler der Univer96 „Université de Montréal“, in: s.n. 20.10.1926, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #421. 97 „The University Site“, in: Gazette 10.7.1922.

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sität, Mgr Joseph Charbonneau: „En 1643, M. de Maisonneuve plantait la croix sur la montagne de Montréal. A 300 ans de distance, en 1943, nous inaugurons sur cette même montagne du Mont Royal, la cité du savoir.“98 Mit der ins Mythische verklärten Kreuzerrichtung durch Maisonneuve wählte Charbonneau einen Referenzpunkt, der symbolischer nicht verstanden werden konnte: Er bezog sich auf den Moment in der Geschichte Montreals, an dem ein französischer Eroberer durch ein Kreuz auf dem Mont Royal das Land auf der Insel im St. Lorenz symbolisch besetzte und so die Hoheit Frankreichs, vor allem aber auch den Anspruch der neugegründeten Stadt, Missionsvorposten des katholischen Glaubens zu sein, im Raum sichtbar machte. Charbonneau schlug also – ganz wie das Wappen – den Bogen von der UdeM zurück in die Gründungszeit der Stadt, und dieser Bogen war ein französisch-katholischer, verortet am Mont Royal. Damit stellte er die Universität gekonnt in die Tradition der Gründerväter Montreals und behauptete so über ihre Lage am Berg ihr Selbstverständnis als essentiellen Teil dieser Stadt. Sämtliche der miteinander verwobenen Bedeutungsebenen des Mont Royal finden sich hier wieder: seine Assoziation mit der Gründung Montreals, seine räumliche Dominanz der Stadt sowie seine religiöse Aufladung. Sie alle wurden zur Glorifizierung der Universität eingesetzt und die gedankliche Linie Mont Royal – Gründung Montreals/räumliche Beherrschung Montreals – Auserwähltheit/Ansehen/Herrschaft für die franko-katholische Bevölkerung reklamiert.99 Diese Denkfigur wies zudem stark elitäre Züge auf, ging es doch weniger um breite Bildungschancen für die Arbeitermassen, als um die Festigung der Position der frankokanadischen Mittel- und Oberschichten. „Notre élite s’était donné rendezvous, hier après-midi, à la Montagne“100 resümierte die Presse am Tag nach der Einweihung und brachte damit die Verbindung von heiligem, großgeschriebenem Berg und gesellschaftlicher Stellung auf den Punkt. Nicht nur in Worten, auch in Ritualen und bildlicher Repräsentation war die Einweihung reich an Symbolik, in der der Berg Dreh- und Angelpunkt war. Reden und katholische Zeremonien wechselten einander ab. Herzstück der Feier war die Segnung des Gebäudes durch Mgr Charbonneau (Abb. 12).101 In den offiziellen Fotos stellte sie sich als eindrucksvoller Aufmarsch von geistlichen und universitären Würdenträgern dar, allen voran der Erzbischof in segnender Geste. Die Perspektive der 98 „Grandiose inauguration de l’Université de Montréal“, in: La Presse 4.6.1943. 99 Vgl. auch das Pamphlet „L’Université de Montréal“, 1943, AVM, DR, B114-2.2: „Le troisième centenaire de la fondation de Ville-Marie (1942) a marqué l’inauguration solennelle du nouvel immeuble de la montagne, monument élevé à la glorification de l’enseignement universitaire français, catholique.“ 100 „Les invités d’honneur à l’Université“, in: La Presse 4.6.1943. 101 Programm des Tages im Heft Université de Montréal: Gala d’Inauguration sous les auspices de l’  Association générale des Diplômés de l’Université de Montréal, 3.6.1943, DA, UdeM. Reden und Fotos in „Grandiose inauguration de l’Université de Montréal“, in: La Presse 4.6.1943.

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Abb. 12  Einweihung des Hauptgebäudes der Université de Montréal, 1943.

Fotos, die nicht den zentralen Turm der Universität zeigten sondern die Gruppe der bergab hinter dem Erzbischof vereinten, emporblickenden Ehrengäste, akzentuiert die Lage des Gebäudes am Hang. Fast könnte man meinen, all diese katholischen Würdenträger hätten soeben wie Maisonneuve 300 Jahre zuvor den Mont Royal erklommen. Euphorisch titelte die Presse: „Le temple est là, il faut y entrer“.102 Die city upon the hill war bereit, den franko-katholischen Führungsnachwuchs zu empfangen. Die Einweihungsfeier war kein Einzelfall des Versuchs, in Rhetorik und Inszenierung den Mont Royal zum Markenzeichen der Universität zu machen und damit die Bedeutungen des Berges für sich zu beanspruchen. Bereits während ihrer langjährigen, vielfach unterbrochenen Baugeschichte warb die Universität immer wieder mit ihrer Lage am Berg um öffentliche Unterstützung (Abb. 13). Einige Monate vor ihrer Einweihung hatte ein Artikel über die Universität in der Zeitschrift Aujourd’hui in ganz ähnlicher Weise wie Charbonneau Berg und Universität mit den Ansprüchen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe verwoben:

102 „Le temple est là, il faut y entrer“, in: La Presse 5.6.1943.

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L’Université de Montréal est une institution de haut savoir. Son destin est de devenir la plus grande université catholique et française du continent américain. Elle doit devenir le cerveau directeur, non seulement de la ville de Montréal et du Québec, mais le cerveau national de la race française et catholique de l’hémisphère de l’ouest, et notre beau Mont-Royal sera désormais notre ,Mont-Lumière‘. De la colline où s’élève sa masse imposante, elle répandra sur le continent son enseignement chrétien et sa pensée française, tout en poussant sa culture scientifique jusqu’aux dernières limites. [...] Les yeux de la race seront tournés vers ce phare, sur le ,Mont-Lumière‘ C’est là que les Canadiens français accompliront leur destinée. [...] C‘est des universités que sortent les dirigeants. Notre belle institution de la montagne ne doit donc pas se contenter d‘exercer son influence sur les centaines d’étudiants présents; son action doit sortir de son enceinte et enrichir la nation pour la conduire vers des sommets toujours nouveaux et plus élevés.103

Die Lage am Berg wurde hier metaphorisch geradezu ausgeschlachtet. Sie erlaubte es, die Prominenz des Mont Royal (im doppelten Sinn) auf die Universität zu übertragen und sie und ihre Aufgabe mit einer Sprache zu beschreiben, die dem Diskurs der allgemeinen Bergsymbolik entstammte. Zum einen findet sich hier die Sprache des Berges als eroberungsartige Herausforderung („jusqu’aux dernières limites“, „sommets toujours nouveaux et plus élevés“), zum anderen die des Berges als erhobener Ort, von dem aus eine Signalwirkung und Vorbildfunktion ausgeht („s’élève“, „répandra“, „phare“).104 Der Mont Royal wurde damit zum Sinnbild für die Chance und den Anspruch der Frankokanadier, mittels Bildung in der Montrealer, Quebecer und kanadischen Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes aufzusteigen – gleichermaßen hinter Abb. 13  „Besuchen Sie unsere Universität am Berg“, Charbonneau und den WürdenPlakat der Université de Montréal, 1940. 103 „Notre Université“, in: Aujourd’hui 2 (mars 1943), 82–83. 104 Dieselbe Sprache findet sich auch in anderen Artikeln, etwa „L’Université de Montréal ouvre ses portes“, in: La Patrie 30.5.1943.

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trägern der Einweihungszeremonie her – und leitende Positionen einzunehmen. Die Lage am Mont Royal war also mit einem Führungsanspruch dieser gesellschaftlichen Gruppe verknüpft; ihre physische Präsenz am Mont Royal demonstrierte weithin sichtbar die Möglichkeiten der Frankokanadier. Gleichzeitig aber handelte es sich um ein reziprokes Verhältnis zwischen Mont Royal und Universität, denn es färbte nicht nur die Bedeutung des Berges in den mental maps der Stadt auf die Universität ab, sondern andersherum wirkte auch die neue Lage der Universität auf den Berg. Der gesamte Mont Royal wurde zu einem „Mont-Lumière“ umdefiniert, wörtlich ‚Lichtberg‘. Neben dem ‚Strahlen‘ und ‚Leuchten‘, das sich in das oben genannte Wortfeld um den Berg als Leuchtturm fügt, suggerierte dies, dass der Mont Royal durch die Ansiedlung der herausragenden Universität maßgeblich geprägt und nun ein Ort des Wissens und der Forschung geworden sei. „Notre“ Mont Royal wurde als „MontLumière“ diskursiv von der UdeM vereinnahmt, auch wenn die UdeM nur einen Bruchteil des Berges, und gar noch einen abseits gelegenen physisch okkupierte. Die Universität baute also nicht nur ihren Campus an den Hängen des Berges, sondern versuchte, ihn auch diskursiv als zentralen Ort der „race française et catholique“ zu besetzen und ihm so eine neue, zusätzliche Bedeutungsebene zu verleihen. Sie zelebrierte in der Folge ihren Neubau auf Grundstück D als Eroberung des Mont Royal und zeigte damit explizit, dass sie sich der Symbolträchtigkeit dieses Ortes im Montrealer Stadtraum bewusst war. Es scheint, als wäre es für die UdeM wichtiger gewesen, auf der anderen Seite des Berges zu bauen als gar nicht am Mont Royal – praktische Nachteile hin oder her. Durch seine teilweise physische, größtenteils diskursive Besetzung demonstrierte die Universität ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Gefüge der Stadt. Diese Strategie ging offensichtlich auf, strichen doch selbst Zeitungen anderer Städte die Lage der UdeM am Berg als ihr besonderes Merkmal hervor; auch visuell festigte sich die Assoziation von Berg und Universität in den logo-artigen Grafiken, mit denen viele Montrealer Unternehmen ihre in den Programmheften und Pamphleten zum Einweihungstag abgedruckten Glückwünsche an die UdeM schmückten (Abb. 14). Der Mont Royal und die UdeM wurden fortan miteinander identifiziert.105 Noch 2004 betitelte Le Devoir einen Artikel über die Geschichte der Universität: „La conquête du Mont-Royal“.106 1943 war natürlich nicht 1924, und man kann die franko-nationalistische Stimmung der 1940er Jahre nicht auf die 1920er zurück projizieren. Angesichts der großen Rolle aber, die die Lage am Mont Royal in der Selbstdarstellung der Universität 1943 spielte, kann davon ausgegangen werden, dass man sich dessen bereits bei der Wahl des Grundstücks D bewusst war. Der Rektor der UdeM hatte immerhin 1923 105 Vgl. etwa „Université de Montréal“, in: Cenco News Chats, Toronto, 24 (oct. 1943), AVM, DR, B114-2.29: „In majestic beauty on the top of Mount Royal stands the Université de Montréal.“ 106 „La conquête du Mont-Royal“, in: Le Devoir 10/11.1.2004.

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die Studienkommission der Universität aufgefordert, doch bitte das Grundstück D hinter dem Berg zu besichtigen; ihm gefalle es, da es am Mont Royal sei, was „du point de vue national“ nicht besser sein könnte.107 Der frankokanadische Nationalismus befand sich seit den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg in kontinuierlichem Aufwind. Eine neue intellektuelle Elite, die dem klerikalen Milieu eng verbunden war – darunter Ideologen wie Henri Bourassa (1868–1952) und Lionel Groulx – propagierte ein ethno-kulturell fundiertes Selbstbewusstsein, das Frankophonie und Katholizismus als Zugehörigkeitsmerkmale identifizierte, amalgamierte und daraus einen frankokanadischen Nationalismus ableitete. Frankophonie und Katholizismus waren dabei als Hauptmerkmale frankokanadischer Identität nicht voneinander losgelöst denkbar. Der Referenzpunkt für diesen Nationalismus war ein imaginiertes, prärevolutionäres Frankreich, das in der Vorstellung der frankokanadischen Ideologen zum Idealbild der Einheit von Frankophonie und Katholizismus wurde. National, katholisch und französisch waren daher Begriffe, die in einem Atemzug und teilweise austauschbar verwendet wurden, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten; es ist insofern angebrachter, von ‚Nationalismen‘ zu sprechen. Für Bourassa beispielsweise war Separatismus nie eine Option. Bei allem Großbritannien-kritischen Anti-Imperialismus hielt er an der kanadischen Konföderation fest und stellte in Konfliktfällen zwischen französischem und irischem Klerus in Nordamerika die Autorität Roms, das den anglophonen Klerus stützte, über nationalistische Bestrebungen der Frankokanadier. Groulx hingegen liebäugelte schon Abb. 14  Rückseite des Programmhefts der Einweihungsgala in den 1920er Jahren mit der Université de Montréal, 3.6. 1943. 107 Procès-verbal de la 29e réunion de la Commission des Études de l’Université de Montréal, 29.11.1923, DA, UdeM, Fonds de la Commission des études A33.

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separatistischen Tendenzen und sah die einzig mögliche Zukunft des Katholizismus in seiner Bindung an die frankokanadische Kultur. Zwischen frankophonem Nationalismus und Katholizismus wählen zu müssen, das kam für ihn nicht in Frage.108 In Montreal förderte ein deutlich feststellbarer Wandel der Gesellschaftsstruktur ebenfalls das Selbstbewusstsein der Frankokanadier. Tatsächlich hatten sich die Machtverhältnisse in der Stadt im Laufe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewandelt. Bis zur Zeit der Confederation waren die Anglophonen deutlich in der Mehrheit in Montreal. Durch den Zustrom der nahezu ausschließlich franko-katholischen ländlichen Bevölkerung sowie aufgrund zahlreicher Annexionen umliegender Gemeinden dominierten ab 1866 die frankophonen Montrealer zahlenmäßig.109 Gleichzeitig machte sich auch ein qualitativer Wandel bemerkbar, was die Zusammensetzung der frankokanadischen Bevölkerung anging. Der wirtschaftliche Aufstieg einer neuen frankophonen Bourgeoisie seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts trug dazu bei, die Klassenstrukturen in der Stadt langsam zu verändern.110 Anders als die alteingesessene anglophone Elite schottischer Herkunft, die ihre Macht auf die eng an britisches Kapital geknüpfte Beherrschung des internationalen Handels und der Hochfinanz gründete, waren die Frankophonen dieser moyenne bourgeoisie meist Aufsteiger vom Land, die sich in Industrie und Agrarwirtschaft, aber zum Teil auch in Finanzwesen und Handel hocharbeiteten. Ihre Stellung beruhte auf den erweiterten regionalen Märkten sowie auf gestiegener lokaler Nachfrage im Rahmen des Wirtschaftsbooms nach 1867; ihre Klientel war die Masse der Einwohner Montreals derselben ethnischen Herkunft. Die Gründung einer eigenen Handelskammer im Jahr 1887, der Chambre de commerce du district de Montréal, als paralleles Organ zum anglophonen Board of Trade, stand paradigmatisch für das neue wirtschaftliche Selbstbewusstsein dieser Montrealer Frankokanadier, eines parteipolitisch und ideologisch weitgehend liberalen katholischen Milieus, das die Beteiligung der Frankokanadier an der urbanen Wirtschaftswelt reklamierte und sich neben dem Klerus als Führungsschicht etablierte. Anders als Groulx und die radikaleren Nationalisten war 108 Zur Abgrenzung von Bourassa und Groulx s. a. Susan Mann, Lionel Groulx et l’ Action Française: Le nationalisme canadien-français dans les années 1920 (Montreal: vlb éditeur, 2005), v. a. 153–56; Groulx’ frühe separatistische Tendenzen bei Yvan Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 1896–1929 (Montreal: Fides, 2004), 160. 109 Paul-André Linteau, „Rapports de pouvoir et émergence d’une nouvelle élite canadiennefrançaise à Montréal, 1880–1914“, in: Études canadiennes: Revue interdisciplinaire des études canadiennes en France 21:1 (1986), 164; ders., „Le personnel politique de Montréal, 1880–1914: Évolution d’une élite municipale“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 52:2 (automne 1998), 195–96. 110 Paul-André Linteau et Jean-Claude Robert, „Montréal au 19e siècle: bilan d’une recherche“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 13:3 (Feb. 1985), 217; Fernande Roy, Progrès, harmonie, liberté: Le libéralisme des milieux d’affaires francophones à Montréal au tournant du siècle (Montréal: Boréal, 1988), 109.

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für diese Frankokanadier die frankokanadische ‚Nation‘ integraler Bestandteil der kanadischen. Aus beiden Milieus rekrutierten sich die Führungskräfte der UdeM.111 Es dauerte nicht lange, bis sich die neuen Zahlenverhältnisse sowie das gestiegene Selbstbewusstsein der frankophonen Bourgeoisie auch im Stadtrat niederschlugen. Seit 1882 stellten dort die französischsprachigen Abgeordneten die Mehrheit. Dementsprechend mussten seit 1883 sämtliche offizielle Dokumente der Stadt in Französisch und Englisch verfasst werden.112 Eine neue Generation von Politikern, zum Teil eng mit dem frankokanadischen Wirtschaftsmilieu verbunden, beherrschte von nun an die Stadtverwaltung. Einer der ersten in dieser neuen Führungsriege war der Anwalt Raymond Préfontaine, Bürgermeister von 1898 bis 1902, der aus den frankophonen Arbeitervierteln des Ostteils der Stadt stammte und ebenfalls Mitglied der Chambre de commerce war.113 Die Regierungszeiten Médéric Martins (1914–24; 1926–28), der zur Zeit des UdeM-Streits als Bürgermeister amtierte, und seines Nachfolgers Camillien Houde gelten als Höhepunkt einer populistischen Ära und die 1920er als ein Erfolgsjahrzehnt für die Frankokanadier in Montreal. Mit der Tradition, dass immer abwechselnd ein anglophoner und ein frankophoner Bürgermeister die Geschäfte der Stadt führten, wurde 1914 durch den Wahlsieg Martins gebrochen. In der Folge dominierten frankokanadische Politiker die städtische Politik, die sich auf die frankophonen Massen stützten.114

111 Vgl. Un siècle à entreprendre: La Chambre de commerce de Montréal, 1887–1987 (Montréal: Libre Expression, 1987), v.a. 45–55; Linteau, „Rapports de pouvoir“, 167–68. Eine ausführliche Analyse dieses Milieus, die die These der rückwärtsgewandten, agrarnostalgischen Frankokanadier endgültig beiseite räumt, sowie Überlegungen zur Bedeutung des Begriffs ‘liberal’ in Quebec gibt Roy, Progrès, harmonie, liberté; zur Chambre de commerce ebd., 72–91. 112 Dagenais, Des pouvoirs et des hommes, 29. 113 Statistiken zur Machtverschiebung innerhalb der Lokalpolitik bei Linteau, „Le personnel politique de Montréal“, 189–215. Zur Allianz dieser neuen politischen Elite mit den Arbeiterschichten des Montrealer Ostens vgl. Annick Germain, „L’émergence d’une scène politique: Mouvement ouvrier et mouvement de réforme urbaine à Montréal au tournant du siècle“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 37:2 (septembre 1983), 187–88. Biographie Préfontaines bei William H. Atherton, Montreal, 1535–1914 (Montreal: The S.J. Clarke Publishing Co., 1914), vol. III: Biographical, 651–55; vgl. Claude-V. Marsolais et al., Histoire des maires de Montréal (Montréal: VLB, 1993), 172– 78. 114 Linteau, „Rapports de pouvoir“, 164; Marsolais et al., Histoire des maires de Montréal, 217–23. Vgl. auch Francine Nagant, „La politique municipale à Montréal, de 1910 à 1914: L’échec des réformistes et le triomphe de Médéric Martin“ (Magisterarbeit Université de Montréal, 1982); Dagenais, Des pouvoirs et des hommes, 19. Zur Entstehung einer politischen Szene, in der politische Macht nicht unbedingt auf wirtschaftlicher Macht

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Zum Zeitpunkt des UdeM-Streits machte die neue frankokanadische Bourgeoisie den anglophonen Eliten den Führungsanspruch in der Stadt also nicht nur streitig – in der Politik hatten die Frankokanadier sie bereits abgelöst und im wirtschaftlichen Bereich waren sie auf dem besten Wege aufzuholen, während ihre Intellektuellen einen frankokanadischen Nationalismus propagierten.115 Das neue Selbstbewusstsein drückte sich daher auch im Kultur- und Bildungssektor aus. Städtischer Raum wurde nunmehr auf Französisch benannt, und der Nachwuchs sollte eine adäquate französische und katholische Ausbildung als Schlüssel zum Erfolg erhalten. Mit dem sozialen Aufstieg und dem quantitativen Zuwachs wurde das ethno-kulturelle Selbstbewusstsein radikaler artikuliert; in diesem Kontext situierten sich die Ansprüche der UdeM auf einen angemessenen Standort. Nur ein „site incomparable“ war ein „site convenable“ für eine Universität, die den Nachwuchs der Franko-Katholiken adäquat auf gesellschaftliche Führungspositionen vorbereiten sollte.116 Dabei muss in einer weiteren Hinsicht differenziert werden: Letztlich war die UdeM eine Elite-Universität, die jeder besuchen konnte, der die Studiengebühren zahlte.117 Theoretisch stand sie damit auch Anglophonen offen, was in der Praxis jedoch kaum eine Rolle spielte. Die UdeM bediente tatsächlich eine französischsprachige, katholische Klientel, allerdings eine zahlungskräftige. Mehr als ein allgemein franko-katholischer Anspruch auf den Mont Royal war der neu geplante Campus also der Versuch einer – in sich diversifizierten – frankokanadischen Führungsschicht, die eigene Position zu festigen. Dementsprechend prominent war beispielsweise die Delegation der Universität, die 1921 bei der Stadt vorsprach. Neben Mgr Gauthier gehörten ihr Sir Lomer Gouin (1861–1929) an, liberaler Premier Quebecs zwischen 1905 und 1920 und erster Präsident der UdeM, sowie die liberalen Senatoren Raoul Dandurand (1861–1942) und Frédéric-Liguori Béique (1845–1933),118 die später auf Gouin als Präsidenten folgten. Béique war in den Anfangsjahren der UdeM Vorsitzender ihrer Commission d‘administration. Kurz: Es war nicht die die Mehrheit der franko-katholischen Bevöl-

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beruhte und erste ,Profipolitiker‘ das Geschehen prägten, vgl. Germain, „L’émergence d’une scène politique“, 185–99. Zur Koexistenz verschiedener frankophoner Eliten Linteau, „Rapports de pouvoir“, 167–69. Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. Vgl. Diskussion um Anglophone an der UdeM bei Allan L. Smith, „The University Site“, Letter to the Editor, in: Gazette 10.7.1922. Extrait du procès verbal d’une assemblée de la Commission Administrative tenue le 26 septembre 1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. Die Zusammensetzung der Delegation war bereits 1920 festgelegt worden, Procès-verbal de la 2e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 26.4.1920, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59. Biographisches zu Gouin bei Atherton, Montreal, vol. III, 583–84.

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kerung Montreals ausmachende Arbeiterschaft, die den Mont Royal belegen wollte, sondern die führenden Schichten, und zwar Klerus und liberale Bourgeoisie gemeinsam in einer sonst nicht gewöhnlichen Allianz.119 Mit dem Verzicht auf einen Campus bei A und B, auf ihrem ursprünglichen Wunschterrain, gab die Universität dem Protest nach, der sich seit Frühjahr 1922 in Petitionen und Zeitungsartikeln Ausdruck verschafft hatte. Allerdings profitierte sie auch davon: Den Wert des ihr übertragenen Grundstücks A und B machte sie sich geschickt zunutze, indem sie es der Stadt gegen eine stattliche Summe Geld zurückverkaufte, so dass die Schenkung einer Art indirekten Geldspende gleichkam, die es ihr erlaubte, das Grundstück D durch Ankäufe zu erweitern.120 Mit dieser Lösung waren UdeM und Protestler gleichermaßen zufrieden. Die UdeM konnte am Berg bauen, und die Grundstücke A+B blieben frei. Gegen einen Campus auf der anderen Seite des Berges, an der Maplewood Road, wandte niemand etwas ein, auch wenn dieser site ebenso am Mont Royal lag.121 Im Gegenteil, sowohl die frankophone als auch die anglophone Presse zeigte sich 1924 von der neuen Standortwahl überzeugt. Einige Artikel verkündeten, bei der Wahl habe es sich um eine taktische und kluge 119 Gouin beispielsweise gehörte zu der Fraktion der Frankokanadier, die 1908 die vom britischen Generalgouverneur Lord Grey inszenierten Feiern zum 300jährigen Gründungsjubiläum der Stadt Quebec unterstützten. Das nationalistische, franko-katholische Milieu hatte die Übernahme der Feierlichkeiten durch Grey als Inszenierung imperialer Tendenzen kritisiert und forderte eine stärkere Erinnerung an die franko-katholischen Wurzeln der Stadt, wohingegen der kanadische Premierminister Wilfrid Laurier sowie Gouin und ihre Anhänger bemüht waren, alles Katholische aus den in ihren Augen säkularen, staatlichen Feiern herauszuhalten und die Einheit der races innerhalb der kanadischen Nation zu propagieren. Ronald Rudin, „Contested Terrain: Commemorative Celebrations and National Identity in Ireland and Quebec“, in: Gérard Bouchard et Yvan Lamonde (eds), La nation dans tous ses Etats: Le Québec en comparaison (Montreal: L’Harmattan, 1997), 201. Zur Annäherung von liberalem Milieu und katholischer Kirche im späten 19. und frühen 20. Jh. Roy, Progrès, harmonie, liberté, 60–61. Zur liberalen Politik der Senatoren Dandurand und Béique Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 186, der aber auch auf Reibereien gerade zwischen Béique und Dandurand auf der einen und dem Vize-Rektor Chartier auf der anderen hinweist; Jean Hamelin et Nicole Gagnon, Histoire du catholicisme québécois: Le XXe siècle (Montréal: Boréal Express, 1984), 246–49. Vgl. auch Marcel Hamelin (ed.), Les mémoires du sénateur Raoul Dandurand, 1861–1942 (Québec: Presses de l’Université Laval, 1967). 120 Vgl. Procès-verbal de la 17e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 18.1.1924, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59. 1933 gab die Universität das Grundstück tatsächlich gegen eine stattliche Summe an die Stadt zurück, vgl. AVM, CRD, 3e série, #46180. 121 Procès-verbal de la 9e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 30.6.1922, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59.

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Entscheidung der UdeM gehandelt, die dem Streit, der im Sommer 1922 entflammt war, ein Ende gesetzt hätte.122 Schließlich hatte Senator Béique bereits im Februar 1924 angedeutet, dass sich die Leitung der Universität der „strong objections“ bewusst sei, die „by a number of associations and by some of the English newspapers of Montreal“ gegen „the idea of infringing on Mount Royal park for the location of the University“123 erhoben worden waren. Was aber machte den Unterschied im Bedeutungsgehalt zwischen den beiden Orten am Berg für die heftig Protestierenden aus? Dazu muss geklärt werden, wer überhaupt die Gegner waren und welche Argumente sie anführten. Eine kurze Schilderung des Protestverlaufs soll im Folgenden dazu dienen, die Chronologie der Ereignisse zu etablieren und zu skizzieren, wer sich überhaupt an der Kontroverse beteiligte. Es wird in einem zweiten Schritt zu zeigen sein, dass der Mont Royal über die anfangs erläuterten allgemeinen Bedeutungen hinaus von den Protestierenden mit zusätzlichen Bedeutungsschichten überzogen wurde, die sich auch teilweise nur auf bestimmte Bereiche des Bergs erstreckten und den Interpretationen der UdeM entgegenstanden. Indem sie ihr Verständnis des Mont Royal propagierten und durchzusetzen versuchten, beanspruchten sie ebenfalls die Deutungshoheit über diesen symbolisch wichtigen Teil des Montrealer Stadtraums. Dabei muss die Art ihrer Interpretation des Mont Royal genauer untersucht werden: Die Gegner des Campus sahen den Mont Royal primär als Park, um dessen Existenz sie nun fürchteten. Der ehemalige Steinbruch bei Grundstück D hingegen war ihnen gleichgültig. Diese Parkrhetorik soll detailliert nachvollzogen und der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutungen der Park für seine Befürworter hatte und welche Vorstellungen von Gesellschaftsordnung jenseits aller Rhetorik der Vision des Mont Royal als Park inhärent waren. Daran anschließend wird in einem dritten Schritt gefragt, welche vielfältigen gesellschaftlichen Fragmentierungen sich in diesem Konflikt um den Mont Royal herauskristallisieren. 1.2.2  „The Unparalleled Glory of the Mountain Park“: Viktorianische Landschaften Chronologie und Akteure des Protests

Erste Spuren des Konfliktes um die Landschenkung an die UdeM finden sich in den Unterlagen des Parks Committee der MPPA. Bereits am 15. Dezember 1919 verfasste dieses eine interne Resolution, in der es die eigene Position gegen „alienation of parks, playgrounds or other open spaces“ unterstrich. Dem Komitee war zu Ohren gekommen, dass „certain persons are endeavouring to obtain the consent of the City 122 Etwa „May Leave Intact Mount Royal Park“, in: Gazette 15.2.1924; „Mount Royal Park Saved“, in: Star 14.2.1924. 123 „May Leave Intact Mount Royal Park“, in: Gazette 15.2.1924.

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of Montreal to a proposal to alienate a large portion of park property belonging to the citizens“.124 Über ein Jahr später, Ende März 1921, wandte sich das Komitee in einem warnenden Brief an E. R. Decary, den Vorsitzenden der Administrative Commission der Stadt. Zeitungen hatten über den Vorschlag, dass der UdeM Parkland übertragen werden solle, berichtet, und das Parks Committee bezog dagegen dezidiert Stellung.125 Ein weiteres Jahr später, am 22. Mai 1922, entschied der Stadtrat schließlich in einer Sondersitzung, einer Empfehlung seines Comité Exécutif und dessen Vorsitzenden Joseph-A.-Adélard Brodeur zu folgen und der UdeM sowohl die Grundstücke A und B als auch D zu übertragen.126 Damit war die Schenkung sowohl der Sektionen an der Avenue Mont-Royal als auch des Grundstücks in Notre-Dame-des-Neiges beschlossene Sache. In der Folgezeit regte sich dagegen massiver Widerstand in der Öffentlichkeit. Die Tageszeitung Montreal Daily Star etwa druckte am 31. Mai 1922 einen Plan mit den Grundstücken, polemisierte heftig gegen die Schenkung und zitierte Interviews mit den Abgeordneten, die fast durchweg entschuldigend behaupteten, sie hätten nicht gewusst, an welch prominenter Stelle des Berges A und B tatsächlich lagen.127 Leserbriefe in verschiedenen Zeitungen schlossen sich der Kritik an.128 Am 6. Juni beschloss auch das Parks Committee der MPPA, in Aktion zu treten und zu protestieren129; eine Petition des MLCW traf eine Woche später im Stadtrat ein.130 Weitere drei Tage später lagen ihm zudem „protests from various associations re. cession of certain land to the University of Montreal“ vor.131 Aus den Stadtratsprotokollen geht hervor, dass bis Ende Juni Petitionen verschiedener Organisationen eingegangen waren, die sich sowohl für als auch gegen die Landabtretung aussprachen. Die Montrealer Öffentlichkeit zeigte jedenfalls großes Interesse an der Frage. Mit überwiegender Mehrheit stellte sich der Stadtrat in einer entscheidenden Sitzung Ende Juni allerdings trotz des Aufruhrs in der Öffentlichkeit hinter seinen

124 Resolution Parks Committee MPPA, 15.12.1919, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 125 Chairman Parks Committee MPPA an E. R. Decary Esq Chairman Administrative Commission, 30.3.1921, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 126 Procès-verbal du Conseil, lundi 22 mai 1922, AVM, PVC, B35; Procès-verbal de la 58e réunion du Comité Exécutif de l’Université de Montréal, 5.6.1922, DA, UdeM, Fonds du Comité exécutif A16. 127 „Proposed New Site for Université de Montréal“, in: Star 31.5.1922. 128 Z. B. Allan L. Smith, „Mount Royal, the Property of the Poor“, Letter to the Editor, in: Gazette 5.6.1922. 129 MPPA Parks Committee Minutes, 6.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 130 Procès-verbal du Conseil, lundi 12 juin 1922, AVM, PVC, B35. 131 Procès-verbal du Conseil, mardi 15 juin 1922, AVM, PVC, B35.

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Entschluss vom 22. Mai und verweigerte eine Revision der Schenkung.132 Zunächst einmal blieb es also dabei: Die UdeM erhielt von der Stadt Montreal die Grundstücke A, B und D am Mont Royal. Damit war den Protesten diverser Organisationen und der Presse allerdings kein Ende gesetzt. Polemische Zeitungsartikel beschuldigten Brodeur dubioser Machenschaften – er habe die Lage der Grundstücke absichtlich nicht korrekt dargestellt133 – und die MPPA beschloss, nun direkt die Universitätsleitung mit einer Delegation protestierender Organisationen aufzusuchen.134 Auch der MLCW organisierte Anfang Juli eine Protestkampagne und sandte eine Petition an die Universität.135 Kurz darauf wurde in den Zeitungen publik gemacht, dass der Rektor der UdeM, Mgr Gauthier, bereits am 30. Juni dem Comité Exécutif des Stadtrates erklärt hatte, die Universität stehe den Kritiken in der englischen Presse nicht indifferent gegenüber. Der Rektor zeigte sich sichtlich bemüht, die Wogen zu glätten; er betonte, dass die Universität sich bemühen werde, die Interessen der Öffentlichkeit mit ihren eigenen zu vereinen. Ohnehin habe man keine Eile mit dem Neubau und werde dessen genauen Ort in Ruhe überdenken.136 Zwar trafen auch danach noch Protestschreiben bei der UdeM ein137, zumindest aber die anglophone Tageszeitung Gazette schlug einen versöhnlicheren Ton an und äußerte die Hoffnung, der Streit sei nun beigelegt138 – ein Artikel, der von der frankophonen La Presse zustimmend kommentiert wurde.139 Im Dezember 1922 musste das Parks Committee der MPPA in seinem Jahresbericht dennoch eingestehen, dass seine Bemühungen, das Geschenk

132 Procès-verbal du Conseil, lundi 26 juin 1922, AVM, PVC, B35. 133 „People’s Playground is Taken from People by Aldermanic Trick“, in: The Axe 30.6.1922. 134 MPPA Parks Committee Minutes, 30.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. Zuvor hatte sie überprüfen lassen, ob die Landschenkung juristisch tatsächlich wasserdicht war. F. E. Meredith an Miss Watt, 13.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 135 „Women Will Protest Against Giving Away Part of Mount Royal“, in: Gazette 5.7.1922. Petition: Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d. MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 136 „Rector’s View on University Site“, in: Gazette 8.7.1922; ausführliches Statement des Rektors in den internen Unterlagen der Universität, Procès-verbal de la 9e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 30.6.1922, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59. 137 Procès-verbal de la 10e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 25.9.1922, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59. 138 „The University Site“, in: Gazette 10.7.1922. 139 „The French Press – The University Site“, in: Gazette 12.7.1922.

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an die UdeM rückgängig zu machen, gescheitert waren.140 Der Landtransfer wurde im März 1923 durch Unterschriften der beteiligten Parteien besiegelt141, und die Proteste verloren sich. Knapp ein Jahr später, im Februar 1924, verkündete die Universitätsleitung überraschend, sie werde auf ihr Recht, bei A und B zu bauen verzichten: Dank des Ankaufs von an D angrenzenden Grundstücken sollte der Campus nun auf der anderen Seite des Mont Royal entstehen, womit der Streit endgültig begraben wurde.142 Wie aus der Chronologie des Konfliktes bereits ersichtlich, organisierten vor allem die MPPA und der MLCW den Protest gegen die Abgabe des Grundstücks am Osthang. Als Organ bot sich ihnen die anglophone Tagespresse an, die ihre Aktivitäten dokumentierte. Einzelne Leser dieser Zeitungen äußerten sich zudem kritisch in Leserbriefen. Mehrheitlich entstammten die Protestierenden den anglophonen Ober- und Mittelschichten Montreals. Die MPPA, führend in der Parkkoalition, war 1902 aus der Parks Protective Association hervorgegangen, die bereits im Winter 1895/96 von anglophonen Ladies aus der Oberschicht gegründet worden war, um gegen die Pläne der Montreal Street Railway Company, eine Straßenbahn durch den Park am Mont Royal zu führen, vorzugehen.143 Aus der kanadischen Politik und Wirtschaft bekannte Namen wie Drummond oder Hingston schmückten das Mitgliederverzeichnis der frühen Organisation144; über Jahre hinweg waren dieselben prominenten, überwiegend anglophonen Namen in den Mitgliederlisten zu finden. Auch 1922 noch bewegte sich in den Reihen der MPPA die crème de la crème der anglophonen, mehrheitlich protestantischen Montrealer Oberschicht, wie etwa Sir Vin140 „Report of the Parks Committee“, in: 21st Annual Report of the Parks and Playgrounds Association of Montreal for the Year Ending Dec. 31, 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–362 „Annual Report 1922“. 141 „Sixty Arpents of Mount Royal Ceded“, in: Gazette 15.3.1923. 142 „May Leave Intact Mount Royal Park“, in: Gazette 15.2.1924; „Mount Royal Park Saved“, in: Star 14.2.1924; „Park Site Ceded Will Not Be Used“, in: s.n. 25.3.1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–26“. 143 Zur Geschichte der MPPA Jeanne M. Wolfe and Grace Strachan, „Practical Idealism: Women in Urban Reform, Julia Drummond and the Montreal Parks and Playgrounds Association“, in: Caroline Andrew and Beth Moore Milroy (eds), Life Spaces: Gender, Household, Employment (Vancouver: B.C. University Press, 1988), 65–80, v. a. 67–68. Untersuchung des Tramkonflikts von 1895/96 und nachfolgender ähnlicher Auseinandersetzungen bei Schmidt, „Domesticating Parks“, 37–48. 144 Der in Schottland geborene Zuckermagnat, Präsident der Bank of Montreal und Senator George A. Drummond war der erste Präsident der MPPA. Wolfe and Strachan, „Practical Idealism“, 69. Biographisches zu Drummond bei Atherton, Montreal, vol. III, 306– 10. Der irischstämmige Arzt, ehemalige Bürgermeister von Montreal und konservative Senator Sir William H. Hingston war einer der wenigen Katholiken in diesen Kreisen. Ebd., 641–43.

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cent Meredith, Charles Meredith, Frank Redpath, Lady Hingston, Miss Van Horne und Miss A. H. Blackader.145 Sie alle gehörten einer Elite an, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Spitze der Montrealer Gesellschaft stand. Ihre führende Position leitete sich vornehmlich aus ihrer Wirtschaftskraft ab, die auf ihren guten Beziehungen zum britischen Mutterland basierte.146 Jahrzehntelang dominierte das Netzwerk dieser Elite das politische und kulturelle Leben der Stadt. Aus ihren Kreisen stammten die wohltätigen Sponsoren der McGill University im späten 19. Jahrhundert, und die meisten unter ihnen waren selbst Alumni der anglophonen Eliteuniversität.147 Doch auch einige große frankophone Namen erscheinen in den Mitgliederlisten der MPPA, unter ihnen 1922 ausgerechnet Senator Béique und Senator Dandurand.148 Zwar waren all diese herausragenden Persönlichkeiten des Montrealer Stadtlebens nicht die im Tagesgeschäft der MPPA Aktiven, aber es zeigt sich doch, auf welch hochkarätige Unterstützung die Assoziation im Ernstfall zurückgreifen konnte. So bot beispielsweise Sir Vincent Meredith, Präsident der Bank of Montreal, dem Parks Committee im Juni 1922 seine Hilfe im Kampf gegen die „alienation“ des Mont Royal durch die UdeM an.149 Es zeigt auch, dass das Anliegen der MPPA grundsätzlich im Sinn der Montrealer Oberschicht war, kurz: wo in der Gesellschaft diese Organisation ihren Sitz hatte. Die MPPA war letztlich von ihren Grundzügen her eine primär anglo-protestantische, zum Teil ethno-konfessionell übergreifende Vereinigung der Führungsschichten. Aktiv im UdeM-Streit allerdings engagierte sich das Parks Committee der MPPA, in dessen Mitgliederlisten französische Namen fehlen; auch sonst in der MPPA aktive Katholiken wie etwa Lady Hingston glänzten hier durch Abwesenheit. 1922 setzte sich das Komitee aus Mr A. D. Braithwaite, Mrs Colin Campbell, Miss D. Shepherd, Mrs W. M. Skinner, Mr G. H. Hooper, Mr. William D. Lighthall, Mrs W. R. Miller und Miss E. I. Watt zusammen150, allesamt aus den 145 21st Annual Report of the Parks and Playgrounds Association of Montreal for the Year Ending Dec. 31, 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–362 „Annual Report 1922“. Lady Hingston war die ebenfalls katholische Ehefrau von Sir William Hingston. Atherton, Montreal, vol. III, 642; Wolfe and Strachan, „Practical Idealism“, 68. 146 Vgl. MacLeod, „Salubrious Settings“, 10–13. 147 Margaret Westley, Remembrance of Grandeur: The Anglo-Protestant Elite of Montreal, 1900–1950 (Montreal: Libre Expression, 1990), 14–38 nennt in ihrem etwas persönlich eingefärbten, auf oral history basierenden Buch einige Namen der wichtigsten Familien in diesen Kreisen und zeigt die engen Verbindungen zwischen ihnen auf, da sie meist nur untereinander heirateten. 148 21st Annual Report of the Parks and Playgrounds Association of Montreal for the Year Ending Dec. 31, 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–362 „Annual Report 1922“. 149 MPPA Parks Committee Minutes, 6.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 150 21st Annual Report of the Parks and Playgrounds Association of Montreal for the Year Ending Dec. 31, 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–362 „Annual Report 1922“.

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Kreisen der im städtischen Leben reformerisch engagierten anglophonen middle classes bekannte Namen.151 Es verwundert nicht, dass die MPPA Mitglied der Montreal City Improvement League war, unter deren Dach sich die Reformassoziationen der Stadt bündelten.152 Viele ihrer Mitglieder waren zudem in anderen reformerisch gesinnten Organisationen aktiv oder entstammten zumindest demselben, durch diese Netzwerke konturierten Milieu.153 Ebenfalls sehr engagiert im Konflikt von 1922 war der MLCW. Der 1893 gegründete Frauenclub war explizit als „non-sectarian“ und „non-political“ gedacht, repräsentierte aber de facto den weiblichen Teil der anglo-protestantischen Oberschicht.154 In den ersten Jahren seiner Existenz waren zwar auch prominente franko-katholische Frauen wie Mme Rosaire Thibaudeau, Josephine Marchand Dandurand, Marie GérinLajoie und Caroline Béique Mitglieder, jedoch gründeten sie 1902 eine separate Frauenorganisation, das Comité des Dames Patronesses de l’  Association St-Jean-Baptiste, aus der 1907 die Fédération nationale St-Jean-Baptiste (FNSJB) hervorging.155 Erste Präsidentin des MLCW war Julia Drummond, Ehefrau des Präsidenten der MPPA, George A. Drummond, die selbst auch in der MPPA aktiv war. Das Milieu, dem die Mitglieder des MLCW zuzurechnen waren, entsprach folglich dem der MPPA; 151 Der Anwalt und leidenschaftliche Reformer William D. Lighthall beispielsweise war Gründer der Canadian Union of Municipalities, Vize-Präsident der National Municipal League of America, Mitglied in zahllosen anderen reformerischen Vereinigungen und Verfasser ebensovieler reformerischer Pamphlete, vgl. Atherton, Montreal, vol. III, 542–44; Gordon, Making Public Pasts, 51–53; William D. Lighthall, „Westmount: A Municipal Illustration“, in: Samuel Morley Wickett, Municipal Government in Canada (Toronto: University of Toronto Press, 1907), 25–34. 152 Wolfe and Strachan, „Practical Idealism“, 65–80. 153 21st Annual Report of the Parks and Playgrounds Association of Montreal for the Year Ending Dec. 31, 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–362 „Annual Report 1922“. 154 Vgl. hierzu und zum Folgenden Wolfe and Strachan, „Practical Idealism“, 65–80. 155 Anlass der Gründung war der Wunsch, die in finanzielle Schwierigkeiten geratene frankokanadische Nationalorganisation, die Association St-Jean-Baptiste (ASJB), zu unterstützen. Der Bau ihres neuen Sitzes, des Monument National, hatte deren Mittel weit überschritten. Den Vorsitz der Frauenorganisation hatte zunächst Caroline Béique inne, Ehefrau von Senator Béique, der zu der Zeit Präsident der ASJB war. Marie Lavigne, Yolande Pinard et Jennifer Stoddart, „La Fédération Nationale Saint-Jean-Baptiste et les revendications féministes au début du 20e siècle“, in: Marie Lavigne et Yolande Pinard (dir.), Les femmes dans la société québécoise: Aspects historiques (Montréal: Boréal, 1977), 91; Robert Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal: Des Patriotes au Fleurdelysé, 1834–1948 (Montréal: L’Aurore, 1975), 183–84; 198–99; Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 95. Vgl. Yolande Pinard, „Les débuts du mouvement de femmes à Montréal, 1893–1902“, in: Marie Lavigne et Yolande Pinard (dir.), Travailleuses et féministes: Les femmes dans la société québécoise (Montréal: Boréal, 1983), 177–98.

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beide Assoziationen arbeiteten eng zusammen und waren personell vernetzt.156 Es ist anzunehmen, dass die sich in Briefen an den Star und die Gazette äußernden Leser einem ähnlichen Milieu zuzurechnen waren. Diese beiden Tageszeitungen waren die bedeutendsten anglophonen Presseorgane Montreals und politisch eher konservativ ausgerichtet.157 Auch aus beruflichem Interesse stimmten einige Montrealer in den Protest gegen den Campus mit ein, wovon der polemische Leserbrief des Landschaftsarchitekten des Mount Royal Cemetery, W. Ormiston Roy, zeugt.158 Die Träger des Protests gegen einen Campus der UdeM an der Avenue Mont-Royal rekrutierten sich also primär aus den gut situierten anglo-protestantischen Mittelschichten und Oberschichten. Teilweise gehörten auch katholische, sogar franko-katholische Eliten den protestierenden Organisationen an, wie etwa Lady Hingston und die Senatoren Béique und Dandurand; sie engagierten sich allerdings nicht aktiv in dem im UdeMStreit meinungsbildenden Komitee. Parkrhetorik

Das zentrale Argument der Gegner eines Campus in den Sektionen A und B des Mont Royal lässt sich in einem Begriff auf den Punkt bringen: ‚Park‘. Fast einer Zauberformel gleich wurde der Park wieder und wieder beschworen, um das drohende Unheil eines Universitätscampus abzuwenden. „Park alienation“ hieß dementsprechend das Vergehen, dessen man die Stadtväter bezichtigte. Schon lang bevor die UdeM das Land überhaupt offiziell beantragt hatte, hatte das Parks Committee der MPPA im Dezember 1919 eine Art Grundsatzerklärung verfasst, in der es sich gegen jegliche „alienation of parks, playgrounds, or other open spaces from the purposes for which they were purchased“159 aussprach. Die Formel „No park property should be alienated“ fand auch Eingang in eine Vierpunkte-Prinzipienerklärung des Komitees

156 Vgl. MPPA Parks Committee Minutes, 30.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. Wolfe and Strachan, „Practical Idealism“, 69. 157 Westley, Remembrance of Grandeur, 132. 158 W. Ormiston Roy, „Hands Off Mount Royal Park!“, Letter to the Editor, in: Star 31.5.1922. Vgl. Chairman of Executive Committee an W. Ormiston Roy, Landscape Architect Mount Royal Cemetery, 20.9.1926, AVM, CRD, 3e série, #25071. 159 Resolution Parks Committee MPPA, 15.12.1919, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. Dem Komitee war zu Ohren gekommen, dass ,gewisse Personen‘ anstrebten, die Zustimmung der Stadt zur „alienation“ eines großen Teils des Mont Royal Parks zu erhalten – vermutlich waren Informationen über universitätsinterne Diskussionen um den Ort für einen möglichen Neubau in die Kreise der MPPA durchgesickert.

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im Juni 1922, mitten im Konflikt um den Universitätscampus.160 Tatsächlich lagen die heißumstrittenen Sektionen A und B in dem Bereich des Mont Royal, der zum Park gehörte. Neben dem am Nordwesthang gelegenen Friedhof Cimetière de NotreDame-des-Neiges nahm der Park den größten Teil des Berges auf Montrealer Stadtterritorium ein. Er okkupierte den südlichen und östlichen Bereich des Mont Royal und umfasste den östlichsten und höchsten seiner drei Gipfel. Große Flächen belegten außerdem noch der Mount Royal Cemetery im Norden, der innerhalb der Stadtgrenzen Outremonts lag, sowie der sich im Westen erstreckende, ebenfalls selbständige Vorort Westmount. Das Land, das den Parc Mont-Royal bildete, war 1875 nach mehrjährigen Rechtsstreitigkeiten mit den Eigentümern der Ländereien und einer Reihe von Zwangsenteignungen in den Besitz der Stadt übergegangen. Der Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmsted, der sich mit dem Central Park in New York einen Namen gemacht hatte, gestaltete in der Folge den Park auf dem Berg. Am 24. Mai 1876 wurde der Parc Mont-Royal offiziell eröffnet.161 In der Außendarstellung der Stadt wurde der Park am Mont Royal als eine ihrer bedeutendsten Sehenswürdigkeiten und einzigartige Landmarke gepriesen – ganz wie der Berg selbst. Oftmals schienen in den Erzählungen Berg und Park in ihrer Besonderheit aufeinander abzufärben. So war der Mont Royal selbst auch deshalb ein so erwähnenswertes Merkmal der Stadt, weil er einen Park beherbergte. Schon 1882 hieß es im Handbook for the City of Montreal: „They [Montrealers] feel that it [Mount Royal] is a great ornament to their city, and it answers their purpose much better than Mont Blanc or Mount Washington would, because, being the height it is, they have been enabled to turn it into a park, which is their delight, and will be that of

160 MPPA Parks Committee Minutes, 6.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“; Formulierung auch in: „Report of the Parks Committee“, Parks and Playgrounds Association, n.d (ca Sommer 1922), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 161 Chronologie der Entstehung des Parks bei David Bellman, „Frederick Law Olmsted et un plan pour l’aménagement du Mont-Royal/Frederick Law Olmsted and a Plan for Mount Royal Park“, in: ders. (ed.), Mont-Royal, Montréal/Mount Royal, Montreal (Montreal: Musée McCord, 1977), 31–43; Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park“; Lawrence Peter Kredl, „The Origin and Development of Mount Royal Park, Montreal, 1874–1900: Ideal vs Reality“ (M.A. York University, 1983); Jean de Laplante, Les parcs de Montréal des origines à nos jours (Montréal: Méridien, 1990), 41–50; JeanClaude Marsan, Montréal en évolution: Histoire du développement de l’architecture et de l’environnement montréalais (Montréal: Fides, 1974), 299–302. Fokus auf die formale Gestaltung durch Frederick Law Olmsted bei Alex L. Murray, „Frederick Law Olmsted and the Design of Mount Royal Park, Montreal“, in: Journal of the Society of Architectural Historians 26:3 (1967), 163–71.

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their children.“162 Gleichzeitig wurde der Park zu einem der schönsten auf dem nordamerikanischen Kontinent erklärt, weil er ein „Mountain Park“ war. Gerade diejenigen, die sich der „alienation“-Formel bedienten, sprachen sogar hin und wieder von „Mount Royal“, wenn sie eigentlich „Mount Royal Park“ meinten. Sich selbst und Gleichgesinnte bezeichnete das Parks Committee im Kontext des UdeM-Konfliktes lapidar als „persons interested in preserving Mt Royal“163. Den Berg zu bewahren, meinte hier eigentlich, den Park zu bewahren. Indem der Berg für den Park stand, wurde impliziert, dass der Park das war, was den Mont Royal ausmachte; würde der Park angetastet, so würde der gesamte Berg Schaden erleiden. Diese Identifikation hatte bereits der Landschaftsarchitekt Olmsted vorgenommen. In seiner Abhandlung über den Mont Royal hatte er angeregt, bewusst auf die Bezeichnung ‚Park‘ zugunsten der älteren, würdevolleren und suggestiveren Bezeichnung ‚Berg‘ zu verzichten. Programmatisch fügte sich das bei Olmsted in sein landschaftsarchitektonisches Ideal ein, den natürlichen Charakter des site als Ausgangspunkt und Leitrahmen für seine Eingriffe zu verstehen.164 Die Verteidiger des Parks dachten damit in gewissem Maße den Berg als Park und den Park als Berg. Alle anderen geographischen Bereiche und Funktionen des Mont Royal blendeten sie aus. Mit ihrer Interpretation des Berges als Park vereinnahmten die Parkanhänger diskursiv den gesamten Mont Royal, wodurch andersherum auf die Idee ‚Park‘ die allgemeinen, im öffentlichen Bewusstsein verankerten Bedeutungen des Berges übertragen wurden. Letztlich konnte in dieser Perspektive der Berg in seiner Bedeutung für die Stadt Montreal nur erhalten bleiben, wenn er auch Park blieb. Damit erschien der Park als etwas Natürliches, Gegebenes, Unantastbares und nicht als ein von Menschenhand geschaffener Raum, der beliebig umgestaltet werden konnte. Gleichzeitig stilisierten sich die Parkgruppen selbst zu Rettern des gesamten Berges, über den sie die Deutungshoheit reklamierten. Der Aufschrei gegen die Schenkung der Grundstücke A und B fiel in der Öffentlichkeit also deshalb so heftig aus, weil es sich um Parkland handelte, wohingegen die Sektion D lediglich auf dem Gebiet eines alten Steinbruchs lag. Es ist naheliegend, dass sich eine Assoziation wie die MPPA, insbesondere ihr Parkkomitee, vor allem für Parks einsetzte, zog sie doch die eigene Daseinsberechtigung aus deren Existenz. Insofern scheint der Protest im Namen der Parkerhaltung auf einer ersten Ebene nach162 American Association for the Advancement of Science, Hand-book for the city of Montreal, 46–47. 163 MPPA Parks Committee Minutes, 30.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“; ähnlich „Alienation of part of Mt Royal“ statt „part of Mt Royal park“ in MPPA Parks Committee Minutes, 6.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 164 Frederick Law Olmsted, Mount Royal, Montreal (New York: Putnam, 1881). Vgl. Peter Jacobs, „La Montagne magique“, in: Publication du Groupe d’intervention urbaine de Montréal, La Montagne en question (Montréal: BANQ, 1988), 15.

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vollziehbar und konsequent. Auf einer zweiten Ebene allerdings kann man durchaus fragen, warum eine Koalition von Montrealern – schließlich protestierte nicht nur die MPPA – sich derart vehement für 23 acres Parkland einsetzte. Genauer: Warum sollte der so bedeutsame Mont Royal ausgerechnet ein Park sein? Dazu muss gefragt werden, was die urbane Raumform ‚Park‘ eigentlich für ihre Verteidiger bedeutete. Wenn die Autoritäten der franko-katholischen Universität den Mont Royal mit der zusätzlichen Bedeutungsschicht des Bildungsortes für eine neue frankokanadische Führungselite zu überziehen trachteten, um eine gewisse gesellschaftliche Stellung zu demonstrieren und zu festigen, was repräsentierte dann der Park für ihre Kontrahenten? Im Folgenden soll den Werten und gesellschaftlichen Ordnungskonzepten, die sich hinter dieser Vorstellung von Stadtraum verbargen, nachgegangen werden. „Fresh Air, Space and Green Things“: Park, Gesundheit und Moral [...] All park property was purchased with money provided by the taxing of the citizens as a community for the purpose of providing open spaces for the health & recreation of all classes and with the constant increase of population the need of parks & playgrounds becomes more and more essential to public health. [...] park properties are now held in trust for the people by the City of Montreal and cannot therefore be alienated without a breach of faith.165

Die Resolution, die das Parkkomitee der MPPA im Dezember 1919 fasste, enthielt nahezu alle Argumente der Gegnerkoalition des UdeM-Campus. Die 23 acres am Mont Royal waren Parkland, das vom Steuergeld der Bürger Montreals erworben worden war, um offenen Raum zur Verfügung zu stellen, welcher der Erholung aller Einwohner dienen sollte. Damit stellte der Park einen maßgeblichen Faktor für die öffentliche Gesundheit dar, dessen Relevanz angesichts des steigenden Bevölkerungswachstums rapide zunahm. Da die Stadt Montreal ihre Bürger repräsentierte, war sie Treuhänder dieses Landes und konnte es nicht veräußern, ohne die eigenen Bürger zu verraten. In ihren Grundzügen war dies die Argumentation der Parkkoalition, die sich in leichten Variationen um zwei eng miteinander verbundene Kernpunkte organisierte, welche für das Verständnis des Konzeptes ‚Park‘ und die darin transportierten Gesellschaftsvorstellungen zentral sind. Zum einen hoben die Parkanhänger die Funktion des Parks als Ort der Erholung und Gesundheit hervor, zum anderen seinen Status als allen zugänglichen, den Bürgern gehörenden, also öffentlichen Raum. Zusammengenommen resultierte daraus die Annahme, Parks seien unerlässlich für die öffentliche Gesundheit. Hinter diesen zwei Kernpunkten verbarg sich eine Reihe normativer Annahmen. Die positive 165 Resolution Parks Committee MPPA, 15.12.1919, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“.

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Wirkung des Parks auf die Gesundheit der Bevölkerung führten seine Verteidiger auf sein Hauptcharakteristikum als open space zurück. Davon habe Montreal nicht genügend, und in Zukunft werde es angesichts des rasanten Wachstums der Bevölkerung und der Stadt noch weniger offene Flächen geben.166 Durch die Bezeichnung ‚offener Raum‘ konstruierten sie hier einen Gegensatz zum restlichen, ‚geschlossenen‘ Raum der Stadt; unbebaute Flächen im städtischen Gewebe setzten sie der bebauten Struktur entgegen. In der Parkrhetorik war diese binäre Opposition keineswegs ein wertfreier Kontrast.167 Der bebaute Stadtraum wurde mit für die Zeitgenossen negativ konnotierten Begriffen wie „congested“ belegt, wohingegen open space weiten, offenen Raum suggerierte, der die bereits eingangs zitierten „priceless benefits of fresh air, space, and green things“168 mit sich bringen sollte. Bedeutete der Park ein Plus an Gesundheit, so war dichte Bebauung und Besiedlung, „congestion“, mit ‚Krankheit‘ assoziiert. Je weniger Freiflächen in Form von Parks oder Gärten es gab, je dichter besiedelt, desto ungesünder musste der Stadtteil sein. Der Park fungierte dabei als räumliches Korrektiv für bestimmte skeptisch betrachtete Aspekte der modernen Metropole.169 Die Normativität der Begriffe open space und park war auf den ersten 166 Vgl. Chairman Parks Committee MPPA an E. R. Decary Esq Chairman Administrative Commission, 30.3.1921, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“; „Report of the Parks Committee“, Parks and Playgrounds Association, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 167 Vgl. Gary Y. Okihiro, Common Ground: Reimagining American History (Princeton: PUP, 2001), 3–27, der am Beispiel des Ost-West-Denkens in der amerikanischen Geschichte binäre räumliche Denkstrukturen und ihre Bedeutungen untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass sie meist Hierarchien und Ungleichheitsbeziehungen etablieren. 168 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. Zur Dialektik von „spaciousness“ und „crowding“ als kulturell bedingtes Phänomen vgl. Yi-Fu Tuan, Space and Place: The Perspective of Experience (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1977), 51–56; Barbara Hooper, „The Poem of Male Desires: Female Bodies, Modernity, and ,Paris, Capital of the Nineteenth Century‘“, in: Leonie Sandercock (ed.), Making the Invisible Visible: A Multicultural Planning History (Berkeley: University of California Press, 1998), 235–36. 169 Michèle Dagenais, „Entre tradition et modernité: Espaces et temps de loisirs à Montréal et Toronto au XXe siècle“, in: Canadian Historical Review 82:2 ( June 2001), 310 sieht im Wunsch nach offenem Raum eine grundsätzliche Ablehnung des Urbanen, das sich durch die Dichte seines Raums auszeichne. Angesichts der Integration des offenen Raums in das städtische Gewebe ist m. E. eher von einem Korrekturversuch zu sprechen, der die grundsätzlichen Funktionsweisen des Stadtlebens nicht in Frage stellte.

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Blick hin in der Parkrhetorik kaum erkennbar. Denn die mit ihnen verbundenen Kategorien „healthy“ und „sick“ entstammten ebenso wie „congested“ dem scheinbar objektiven medizinischen Diskurs.170 Dass der Park – und sein Gegenpart, die ‚verstopfte‘ Stadt – mit medizinischen Begriffen qualifiziert wurden, ließ diese normative binäre Setzung in der Öffentlichkeit als objektive, wissenschaftlich fundierte Tatsache erscheinen. Als gesundheitsfördernder Stadtraumtypus, so die Annahme, musste die Bewahrung von Parkland einfach im Interesse aller Stadtbewohner sein – auch der UdeM. Das führt zum zweiten Kernpunkt in der Argumentation der Gegner eines UdeM-Campus am Mont Royal: dem Charakter des Parks als öffentlichem Raum. In der Rhetorik seiner Anhänger sollten nicht nur einige wenige vom Park profitieren, sondern alle Bewohner der Stadt. Jeder vom modernen Leben in der Industriemetropole Geplagte sollte in den Genuss seiner wohltuenden Wirkung kommen. „We should be proud of what we have as these open spaces are and will be more and more of incalculable value to the community and unless all attempts to give away portions of our parks are frustrated, future generations will consider us terribly negligent of the public welfare“171, monierte das Parks Committee der MPPA. Ebenso wie durch den Bezug auf die gesunde Wirkung des Parks eine gewisse wissenschaftliche Objektivität des Anliegens suggeriert wurde, vermittelte die Betonung seines Wertes für die community, dass es nicht um eigene Interessen der Parkanhänger ging. Ein Park, so ihre Botschaft, war eine objektiv und wissenschaftlich feststellbare Notwendigkeit für das Allgemeinwohl. Damit positionierten sie sich zugleich selbst als gut informierte, auf modernes Expertenwissen zurückgreifende, frei von Wertungen und uneigennützig handelnde Verteidiger der öffentlichen Gesundheit. Das Parkkomitee resümierte dementsprechend Ende 1922: „During the past year the Parks Committee has been mainly occupied in preserving Mount Royal Park for the people.“172 In ihrem Selbstverständnis als Akteure im Namen des Volkes hoben sie sich implizit aus der breiten Masse der parkbedürftigen Bevölkerung hervor. Sie definierten Stadtraum als ge170 Zur Normativität von ,krank‘ und ,gesund‘ vgl. Michel Foucault, Naissance de la clinique: Une archéologie du regard médical (Paris: Presses Universitaires de France, 1963), 36; Hooper, „Poem of Male Desires“, 237, interpretiert diese Normensetzung in Anlehnung an Foucault als ersten Schritt einer „disciplinary strategy“, zu der noch zwei weitere gehören: „[…] the attempt to provide these norms with architectural and urban forms; and […] the rise of the power of professional experts who, with governments, produce and operate the normalizing disciplines.“ Alle drei Schritte finden sich hier wieder. 171 „Report of the Parks Committee“, Parks and Playgrounds Association, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 172 „Report of the Parks Committee“, in: 21st Annual Report of the Parks and Playgrounds Association of Montreal for the Year Ending Dec. 31, 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–362 „Annual Report 1922“.

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sund- oder krankmachend und propagierten ihre normativen Vorstellungen als für das Wohl der Gemeinschaft essentiell. Allerdings war für die MPPA und assoziierte Gruppierungen Öffentlichkeit nicht gleich Öffentlichkeit, denn die dichotomische Strukturierung des städtischen Raums in offen vs verstopft, gut vs schlecht bedeutete auch eine Wertung der Einwohner dieser Stadtteile. Als Gegenstück zum dichten, bebauten Stadtraum sollten die Parks primär denjenigen zugute zu kommen, die in den „crowded areas“ oder „districts congestionnés“173 wohnen mussten, im Fall des Mont Royal den eingangs zitierten armen französischen und jüdischen Kindern der nahegelegenen Distrikte. Sie waren primär mit „the people“ gemeint. Das impliziert einerseits Sorge um das Wohlergehen dieser Schichten, andererseits aber auch, dass die Bevölkerung dieser Stadtviertel als besonders gesundheitsbedürftig und damit als potentielle Bedrohung für das Gemeinwesen erschien. Dahinter steckte die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzende Auffassung, die Stadt – und auch die Gesellschaft insgesamt – funktioniere wie ein menschlicher Organismus: Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung des Lebens in den Metropolen, der Erfahrung der Interdependenz der Individuen in der modernen Gesellschaft gelangten manche Reformer zu dem Schluss, dass ein krankes Glied dem Gesamten schadete.174 Hinweise auf Untersuchungen zur Sterblichkeitsrate unter Kindern und zur Verbreitung der Tuberkulose untermauerten die These, dass derartige Gefährdungen der öffentlichen Gesundheit in kausalem Zusammenhang zum „manque d’air et d’espace“175 standen. Physische Erscheinungen des Stadtraums wurden so mittels medizinischer Normen 173 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. Vgl. auch Allan L. Smith, „The University Site“, Letter to the Editor, in: Gazette 10.7.1922: „[...] robbing the poor of their summer vacation on the slopes of the mountain“. Ähnlich „People’s Playground is Taken from People by Aldermanic Trick“, in: The Axe 30.6.1922. 174 Vgl. die Studie des Unternehmers und Reformers Herbert Brown Ames (1863–1954), der 1897 die Lebensbedingungen in einem Montrealer Arbeiterstadtteil soziologisch untersuchte, Herbert Brown Ames, The City below the Hill: A Sociological Study of a Portion of the City of Montreal, Canada (1897/Toronto: University of Toronto Press, 1972), 7. Zur Erfahrung der gesellschaftlichen Interdependenz als Kern reformerischer Bestrebungen Thomas Bender, A Nation Among Nations: America’s Place in World History (New York: Hill and Wang, 2006), 250–51; Arthur S. Link and Richard L. McCormick, Progressivism (Wheeling: Harlan Davidson, 1983), 68–69; Maureen A. Flanagan, America Reformed: Progressives and Progressivisms, 1890s–1920s (New York: Oxford University Press, 2007), 28. 175 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Mon-

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gewertet und mit den jeweiligen Bewohnern assoziiert. Inwieweit diese normativen Dimensionen über die Form des Raums hinaus auf gesellschaftliche Bereiche wirkten, die so konstruierten Dichotomien des Stadtraums letztlich gesellschaftliche Dichotomien waren, das zeigt ein Blick auf ein weiteres Wort, das in der Rhetorik der Parkanhänger im Umfeld von ‚gesund‘ kreiste. Mit healthy verband sich im Parkdiskurs nämlich noch ein anderer Begriff, der zum einen auf weitere normative Implikationen des Redens von Gesundheit verweist und zum anderen auch die Rhetorik des uneigennützigen Allgemeininteresses relativiert: der Begriff der Moral. Die ‚gesunde‘ Wirkung des Parks wurde oft mit einer ‚moralisch gesunden‘ Wirkung konnotiert, Moral und Gesundheit in einem Atemzug genannt.176 Ein Leser der Gazette begründete damit seine Kritik an den Plänen der UdeM: The moral effect of open spaces in a city is not the least part of the question. Children who have open spaces near at hand for recreation do not develop into the criminals that are bred by confinement in narrow and over-crowded streets and by lack of playgrounds. Therefore the issue becomes one of economic importance.177

Schon die Sprache stellte hier eine Verbindung zwischen dem medizinisch-biologistischen Diskurs und gesellschaftlich-moralischen Normen, bzw. der Abweichung davon her. Einer Krankheit gleich würden Kriminelle in den überfüllten Straßen „bred“, also ausgebrütet, herangezüchtet. Enge, dicht besiedelte Straßen und Häuser machten ihre Einwohner nicht nur physisch krank, sondern auch unmoralisch, was wiederum dem wirtschaftlichen System Schaden zufügen könnte. Im Umkehrschluss waren Parks essentiell, um die Moral der Bevölkerung, genauer: die gefährdete Moral der ärmeren Einwohner und damit die Wirtschaftskraft der Stadt zu wahren. Auch die Prinzipienerklärung des Parks Committee der MPPA stellte die Verbindung zwischen Park und Wirtschaft her: „1. Parks and Playgrounds are a necessity not a luxury. Parks insure against citizens being unable to pay their taxes, Playgrounds against juvenile delinquency.“178 ,Moralisch‘ meinte hier ebenso wie ,gesund‘ primär, sich reibungslos in die Wirtschafts- und damit im weitesten Sinne in die gegebene Gesellschaftsordtréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917– 1924“. Ähnlich Ames, City below the Hill. 176 Etwa „Dans l’espoir d’améliorer la santé, la morale et l’instruction en général [...]“, Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 177 H. P., „The Alienation of Mount Royal“, Letter to the Editor, in: Gazette 1.7.1922. Vgl. Claire Poitras, La cité au bout du fil: Le téléphone à Montréal, de 1879 à 1930 (Montreal: Presses de l’Université de Montréal, 2000), 41. 178 MPPA Parks Committee Minutes, 6.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“.

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nung einfügen zu können. Orte und Menschen wurden dabei in den mental maps der Stadt assoziiert und färbten aufeinander ab.179 Dementsprechend meinte ‚Park‘ in der Rhetorik der Parkverfechter auch nicht nur eine beliebige offene Fläche, die jeder zur freien Verfügung nutzen konnte. Open space war als Gegenteil zur bebauten Stadt lediglich ein notwendiges Merkmal für einen Park, der eine spezifische Ausformung des offenen Raums darstellte. Diese hing eng mit der Vorstellung zusammen, die sich die Parkanhänger von der optimalen Erholung für den gestressten Städter machten. Der Parc Mont-Royal war ein entlang der Grundprinzipien der Landschaftsarchitektur des späten 19. Jahrhunderts durchgeplanter Ort, der durch gewundene Wege, unterschiedlich bepflanzte Grünflächen, einem See und Aussichtspunkten strukturiert war. Die domestizierte Natur des Parks war in ihrer Wildheit inszeniert, pittoreske Durchblicke kalkuliert, Fuß- und Fahrwege klar angelegt und mit elektrischem Licht versehen. Den Parkanhängern schwebte ein geordneter Stadtraum vor, dessen Form einen weitgehend passiven Besucher verlangte, der zu Fuß oder von der Kutsche aus in Szene gesetzte Landschaftsbilder genoss, sich an der Natur erfreute und deren Sublimität zu schätzen wusste (Abb. 15).180 In gelenkten Bahnen und an dafür vorgesehenen Orten sollte im Park auch aktiveres Freizeitverhalten stattfinden: Für Spiel, Sport und Picknick waren auf Fletcher’s Field, am Fuß des Osthangs, entsprechende Anlagen eingerichtet. Der gute, weil gesunde Stadtraum hatte also eine ganz spezifische formale Ordnung, die auf ein bestimmtes Verhalten seiner Besucher hin angelegt war bzw. dieses hervorrufen sollte. Ein von den Parkgruppen definiertes Regelwerk legte das adäquate Benehmen im Park fest und schloss damit abweichendes Verhalten aus. So war es etwa verboten, Alkohol in den Park mitzubringen, Waren zu verkaufen oder dem Glücksspiel zu frönen. Damit waren die Regeln eindeutig von Wert- und Moralvorstellungen geleitet, die tief in der viktorianischen Gesellschaft verankert waren und deren Normen sie im Raum umzusetzen suchten: „All persons visiting or frequenting the Mount Royal Park are forbidden – [...] To utter loud, threatening, abusive or indecent language, or do any indecent or obscene act.“181 Regeln und quasi-rituelles Verhalten markierten den Park als eine Art heiligen Raum, der vor den Unannehmlichkeiten der Moderne bewahrt werden sollte. Ganz in der Tradition der 179 Zu diesem Prozess des „placing“ vgl. Shields, Places on the Margin, 47–48. 180 Vgl. Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 311–12. Das entsprach auch weitgehend den Intentionen des Landschaftsarchitekten Olmsted. Olmsted, Mount Royal, Montreal. Vgl. Murray, „Frederick Law Olmsted and the Design of Mount Royal Park“, 16–71; Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park“, 83–94. Zur Kultur des Sublimen als Naturerfahrung im 19. Jh. vgl. Andrew Wilson, Turner and the Sublime (Toronto: Art Gallery of Ontario, 1980). 181 By-Law concerning the Mount Royal Park, 8.5.1876, AVM, DP, B258-2.33.

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Abb. 15  Der Hauptweg im Park des Mont Royal (Studio Wallis & Shepherd, um 1900).

romantischen Naturverehrung des 19.  Jahrhunderts war es für die Parkanhänger die vermeintliche Natürlichkeit des Berges, die ihn zu einem sacred space mit moralischer Kraft machte. Zwar verwendeten auch die Vertreter der UdeM religiöse Metaphern, wenn sie über den Standort am Berg sprachen, allerdings beruhte für sie die ‚Heiligkeit‘ nicht auf seinem natürlichen Charakter, sondern auf der Präsenz einer katholischen Universität. Der primär in protestantischen Mittel- und Oberschichten verbreiteten Naturverehrung im Sinne der Transzendentalisten hingen sie offenbar nicht an. Die katholische Kirche und ihre Institutionen, nicht die individuelle Erfahrung in der Natur begründeten sacred space, womit sich zwei gänzlich unterschiedliche Konzepte gegenüberstanden. Indem die Parkanhänger den Park zu einem natürlichen Ort stilisierten, suggerierten sie, dass die Verhaltensregeln für diesen Ort dem Raum selbst entsprangen und daher selbstverständlich waren; damit erschienen die Regeln als nicht hinterfragbar, und ihre Wertgebundenheit blieb verdeckt. Für die Parkanhänger war der Park umfassendes Allheilmittel gegen Krankheiten, Unmoral und daraus möglicherweise resultierender ‚Unordnung‘ im Sozialgefüge; ihm kam so eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zu. Abweichende Verwendungsformen konnten nicht nur den Park entweihen, sondern auch die Gesellschaftsordnung bedrohen und mussten daher unterbunden werden.182 182 Zur (De-)Sakralisierung von Orten David Chidester and Edward T. Linenthal, „Introduction“, in: dies. (eds), American Sacred Space, 1–16; zur Bindung von Verhaltensregeln

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Progressivistische Traditionen: Öffentliches Interesse, Experten und Landschaftsparks

Mit ihrer Rhetorik und ihren Ordnungsvorstellungen standen die MPPA und ihre Verbündeten in der Tradition progressivistischer Reformer der Jahrhundertwende.183 Diese heterogene, in der Forschung immer wieder kontrovers diskutierte, im Kern auf die Phase zwischen den 1890er Jahren und dem Ersten Weltkrieg datierte nordamerikanische Bewegung beruhte auf einer Reihe von lokalen Einzelinitiativen, deren gemeinsamer Nenner das Ziel war, die als Fehlentwicklungen wahrgenommenen Wandlungen der Moderne zu korrigieren und Ordnung in das als chaotisch empfun-

an ein bestimmtes Territorium Robert D. Sack, „Human Territoriality: A Theory“, in: Annals of the Association of American Geographers 73:1 (1983), 59. 183 Zum kanadischen Progressivismus Alan F. J. Artibise and Paul-André Linteau, The Evolution of Urban Canada: An Analysis of Approaches and Interpretations (Winnipeg: Institute of Urban Studies, 1984), 28; Paul Rutherford, „Tomorrow’s Metropolis: The Urban Reform Movement in Canada, 1880–1920“, in: Gilbert Stelter (ed.), The Canadian City: Essays in Urban and Social History (Ottawa: Carleton University Press, 1984), 435–55; Paul Rutherford, Saving the Canadian City, 1880–1920 (Toronto: University of Toronto Press, 1974); John C. Weaver, „Tomorrow’s Metropolis’ Revisited: A Critical Assessment of Urban Reform in Canada, 1890–1920“, in: Stelter (ed.), The Canadian City, 456–77. Über die urbanen Reformen der Progressive Era in den USA, die von ihrer Grundstruktur her ähnlich wie die kanadischen gelagert waren, gibt es eine Fülle an Literatur. Gute Einführungen sind Flanagan, America Reformed; Raymond A. Mohl, The New City: Urban America in the Industrial Age, 1860–1920 (Arlington Heights: Harlan Davidson, 1985), v. a. 81–137; Link and McCormick, Progressivism mit bibliographischem Essay zur älteren Forschung; John D. Buenker and Edward R. Kantowicz (eds), Historical Dictionary of the Progressive Era, 1890–1920 (New York: Greenwood Press, 1988). Neuere Synthesen: Michael McGerr, A Fierce Discontent: The Rise and Fall of the Progressive Movement in America, 1870–1930 (New York: Free Press, 2003); John W. Chambers II, The Tyranny of Change: America in the Progressive Era, 1890–1920 (New Brunswick: Rutgers University Press, ²2000) mit ausführlicher Bibliographie; Steven J. Diner, A Very Different Age: Americans of the Progressive Era (New York: Hill & Wang, 1998); Blick auf den Transfer zwischen Europa und Amerika Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age (Cambridge: Belknap, 1998). Fokus auf nationale Ebene und politische Geschichte bei John Milton Cooper Jr., Pivotal Decades: The United States, 1900–1920 (New York: Norton & Company, 1990). Klassiker zum Thema sind Richard Hofstadter, The Age of Reform: From Bryan to F.D.R. (New York: Alfred A. Knopf, 151989) und Rober H. Wiebe, The Search for Order, 1877–1920 (London: Macmillan, 1967), kurze aktuelle Bewertung dieser beiden „brilliant syntheses“ bei Bender, A Nation Among Nations, 247–48.

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dene Leben der Industriegesellschaft zu bringen.184 Als interventionistisches Korrektiv zum Laissez-faire-Denken der Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg entstanden, entfalteten progressivistische Reformbemühungen ihre breiteste Wirkung in zahlreichen lokalen Initiativen, die vielfältige Bereiche des politischen und sozialen Lebens berührten und den Staat als Instrument zur Durchsetzung von Reformen zu benutzen trachteten. Gerade die Metropolen waren Kristallisationspunkte reformerischer Bestrebungen. Diese setzten auf lokaler Ebene an den unterschiedlichsten ‚Übeln‘ der Stadt wie Armut, Alkoholkonsum, Korruption in der Stadtverwaltung, Straßenverkehr und vielem mehr an, bestrebt, die Bedingungen des Lebens in den Großstädten zu verbessern. Damit war jedoch keine grundsätzliche Infragestellung der modernen Industriegesellschaft nordamerikanischer Prägung verbunden. Reformen der Progressive Era wiesen keine grundlegend antimoderne Stoßrichtung auf. Ziel war im Gegenteil deren Perfektionierung im Namen amerikanisch-liberaler Grundprinzipien wie etwa der Chancengleichheit und individuellen Freiheit, die man durch einige Entwicklungen bedroht sah. Angesichts der komplexen, in sich verzahnten, arbeitsteiligen, aber dadurch auch stärker spezialisierten und als fragmentiert wahrgenommenen Industriegesellschaft, waren vor allem sogenannte „special interests“ ein rotes Tuch für die Reformer. Darunter verstanden sie jegliche Interessengruppen, die versuchten, eigene Interessen ohne Rücksicht auf das Wohl der Gemeinschaft durchzusetzen und so die Chance der Mitbürger auf Selbstverwirklichung und die Freiheit des Einzelnen einschränkten. Insofern gehörte es zur progressivistischen Rhetorik und zum Selbstverständnis der Reformer integral dazu, im Namen des public, des people, oder der community zu agieren, was ja auch bei den Gegnern des UdeM-Campus eine ständig wiederkehrende rhetorische Figur war. Ihre eigenen Interessen artikulierten sie dabei selten explizit, was in der späteren Progressivismus-Forschung kritisch reflektiert wurde. In Abgrenzung zu frühen, enthusiastischen Untersuchungen machte diese Forschung das Streben nach social control als – durchaus nicht nur negativ interpretierten – festen Bestandteil der reformerischen Philanthropie aus, je nach Reformgruppe unterschiedlich stark ausgeprägt.185 Die Basis der Selbstpositionierung als neutrale Experten für das allgemeine Wohl, der Bezug auf medizinische Topoi, war ebenfalls typisch für die Rhetorik des Progressivismus. Sie wurzelte in dem Glauben daran, dass mittels rationalen Denkens und wissenschaftlicher Methoden, kurz: mittels der Fähigkeiten von Experten gesell184 So die nach wie vor gültige Grundthese von Wiebe, Search for Order, vgl. auch McGerr, A Fierce Discontent. 185 Zu den unterschiedlichen Tendenzen der Progressivismusforschung Link, Progressivsm. Vgl. Chambers, Tyranny of Change, 142; 162–65. Das Konzept der social control als Mittel, auf demokratische Weise eine soziale Ordnung herzustellen, wurde 1901 durch den Soziologen Edward A. Ross geprägt, vgl. dazu Cranz, Politics of Park Design, 236–39; Bender, A Nation Among Nations, 252.

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schaftlicher Fortschritt im Sinne einer effizienteren, harmonischeren und gerechteren Gesellschaft erzielt und soziale Konflikte gelöst werden könnten. Der Experte verkörperte das Ideal eines Zeitalters: das Ideal des neutralen Beraters, der sein wertfreies Spezialwissen für das Allgemeininteresse einsetzte. Gerade weil Expertenmeinungen als wertfrei, weil wissenschaftlich fundiert wahrgenommen wurden, wurde die normative Kraft ihrer Deutungen der Gesellschaft und der von ihnen festgelegten Standards kaum hinterfragt. Referenzen auf Expertendiskurse untermauerten in der Öffentlichkeit die Neutralität und ‚Wahrheit‘ des reformerischen Anliegens. Welche Expertendiskurse allerdings maßgeblich herangezogen wurden, wandelte sich im Lauf der Zeit – tendenziell machten mit dem beginnenden 20. Jahrhundert Ingenieure und Architekten den Medizinern die Expertenhoheit über die Stadt streitig. Die Assoziation von Gesundheit, Moral und Klassenzugehörigkeit jedenfalls war einer der Topoi progressivistischer Reformer um 1900, der fester Bestandteil des medizinischen Diskurses der Zeit war.186 Auch hinsichtlich ihrer Leitbilder vom idealen Stadtraum standen die Gegner der UdeM im Jahr 1922 in einer langen Tradition urbaner Reformbestrebungen. Als erste große Errungenschaft der nordamerikanischen Parkbewegung wird in der Forschung für gewöhnlich der New Yorker Central Park angeführt, den der Landschaftsarchitekt Frederick Law Olmsted in den 1850er Jahren realisierte. Die Parkbewegung nahm damit zwar deutlich vor der Progressive Era ihren Ausgang, erlebte aber im späten 19. Jahrhundert einen regelrechten Boom, als eine Vielzahl an Städten dem Beispiel New Yorks folgten und Parks anlegten. Sie schlägt so eine Brücke zwischen romantischen Naturidealen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den progressivistischen Reformansätzen der Jahrhundertwende. Das Büro Olmsted & Sons aus Massachusetts erlangte internationale Berühmtheit nicht zuletzt dadurch, dass Olmsted 1893 für die Weltausstellung in Chicago die Grünanlagen gestaltete; landscape architecture

186 Zur verbreiteten Gleichsetzung von Armut und Unmoral vgl. Schmidt, „Domesticating Parks“, 47–53. Vgl. auch Ames, City Below the Hill, der zu dem Ergebnis kommt, dass die engen Lebensbedingungen in den städtischen Slums Ursache für Krankheit, Unmoral und Kriminalität waren. Wie das neue medizinische Arbeitsfeld der „santé publique“ und der damit verbundene hygienistische Diskurs mit der Selbstpositionierung der Mediziner als Experten einhergingen untersucht Claudine Pierre-Deschênes, „Santé publique et organisation de la profession médicale au Québec, 1870–1918“, in: Revue d’histoire de l’Amérique française 35:3 (décembre 1981), v. a. 361–375. Ihre Analyse konzentriert sich auf die frankokanadischen Ärzte, die ebenso wie ihre anglophonen Kollegen bestrebt waren, die Gesellschaft den Normen der „théorie sanitaire“ gemäß zu formen und dabei die eigene Profession zu stärken. Zum Einfluss der Ingenieure auf die Stadtplanung Stanley K. Schultz, Constructing Urban Culture: American Cities and City Planning, 1800–1920 (Philadelphia: Temple University Press, 1989), 183–205.

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wurde am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer renommierten Profession.187 Wie auch andere viktorianische Landschaftsparks war der Parc Mont-Royal auf passive Erholung, contemplation und promenade angelegt, wobei der Akzent auf die ästhetische und erhebende Wirkung der natürlichen Umgebung gesetzt wurde. Formal standen die Parks dieser Generation damit in der Tradition der englischen Landschaftsparks, die möglichst informell gestaltet waren, mit asymmetrischen Anlagen und gewundenen Wegen, um einen pittoresken Effekt zu erzielen.188 Eine nordamerikanische Stadt, die etwas auf sich hielt, konnte am Ende des 19. Jahrhunderts nicht ohne einen solchen öffentlichen Park auskommen; als Zeichen für Fortschrittlichkeit, effiziente Stadtverwaltung und finanzielles Potential war ein Park essentiell für ihr gutes Renommee.189 Die Vorstellung, dass eine Stadt einen Park haben musste, ist im größeren Rahmen der Sehnsucht nach Licht, Luft und Grün einzuordnen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kritische Stadtperzeptionen prägte.190 Konfrontiert mit ganz neuartigen – infrastrukturellen, verwaltungstechnischen und sozialen – Problemen, die das rasante Wachstum der Metropolen Nordamerikas begleiteten, versuchten die städti187 Neuere Biographie Olmsteds mit Überblick über die ältere Olmstedforschung: Lee Hall, Olmsted’s America: An ‘Unpractical’ Man and His Vision of Civilization (Boston: Little, Brown and Co., 1995); zu Olmsteds Theorie Melvin Kalfus, Frederick Law Olmsted: The Passion of a Public Artist (New York: New York University Press, 1990), 259–340; Zusammenhang zwischen Olmsteds Parktheorie und der zeitgenössischen Stadtplanung bei Irving D. Fisher, Frederick Law Olmsted and the City Planning Movement in the United States (Ann Arbor: UMI Reserach Press, ²1986). Gute Abbildungen bei Charles E. Beveridge and Paul Rocheleau, Frederick Law Olmsted: Designing the American Landscape (New York: Rizzoli, 1995). Zum Ursprung der Parkbewegung im Großbritannien des 19. Jhs Hazel Conway, People’s Parks: The Design and Development of Victorian Parks in Britain (Cambridge: Cambridge University Press, 1991); Fokus auf die Entwicklung in Nordamerika bei Cranz, Politics of Park Design, zur Professionalisierung der Disziplin v. a. ebd., 168–72; internationale Parkbewegung als ideeller Hintergrund für den Parc Mont-Royal Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park“, 13–20. 188 Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 311–12. Bourgeoises Ritual der promenade bei David M. Scobey, „Anatomy of the Promenade: The Politics of Bourgeois Sociability in Nineteenth-Century New York“, in: Social History 17:2 (1992), 203–27. Über das Pittoreske und das Ideal der natürlichen, informellen Gestaltung als Leitbilder des Park Designs Cranz, Politics of Park Design, 24–26; 32–56. Vgl. auch Kalfus, Frederick Law Olmsted, 277–79. Zum Design britischer Parks Conway, People’s Parks, 76–107, Besuch Olmsteds im englischen Birkenhead Park ebd., 89. 189 Michèle Dagenais, „Inscrire le pouvoir municipal dans l’espace urbain: La formation du réseau des parcs à Montréal et Toronto, 1880–1940“, in: Canadian Geographer 46:4 (2002), 355; Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park“, 4. Zum Parkboom der 1880er und 1890er Jahre und der zunehmenden Rolle des Parks in der urbanen Ikonographie vgl. Hales, Silver Cities, v. a. 192. 190 Machor, Pastoral Cities, 146–56; 172–74.

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schen Führungsschichten um die Jahrhundertwende, diese auch durch physische Veränderungen des Stadtraums anzugehen, kurz: die Stadt in ihrer Form zu verändern. Gesellschaftlichen Problemen sollte so abgeholfen werden. Dieser Ansatz beruhte auf der reformdarwinistischen Prämisse, dass der Mensch von seiner Umwelt geprägt sei, aber im Unterschied zum Tier auch in diese Umwelt eingreifen könne, um offenkundigen Missständen entgegenzuwirken.191 Eine bessere Umwelt, so die Progressivisten, werde nicht nur positiv auf die Physis des Menschen wirken, sondern auch eine Verbesserung des menschlichen Charakters und der Moral nach sich ziehen. Ein solcher environmentalism, der eine radikale Abkehr von der Laissez-faire Philosophie des Gilded Age darstellte, prägte die progressivistischen Bewegungen maßgeblich.192 Die gesellschaftlichen Probleme wurden damit verräumlicht, weshalb man entsprechende Lösungsansätze häufig ebenfalls im Räumlichen suchte.193 Die als hässlich wahrgenommenen Metropolen mit ihren rauchenden Schloten, dichten Elendsvierteln und verdreckten Straßen sollten schöner, gesünder und geordneter gestaltet werden. Licht und Luft, Helligkeit und Klarheit sollten mittels der Integration von Natur ins urbane Gewebe Einlass in die Städte finden und einen Gegenpol zum Stadtleben bilden, der Gesundheit und Moral der Bevölkerung gewährleistete.194 Parks schienen die ideale Weise, dies zu realisieren. Kern des Parkdiskurses war das Verständnis der Parks als „lungs for the city“, was wiederum dem bereits erwähnten biologistischmedizinischen Diskurs entstammt.195 Als Orte der Kontemplation und geruhsamen 191 Der Begriff ,Reformdarwinismus‘ wurde durch Eric F. Goldman, Rendezvous with Destiny: A History of Modern American Reform (New York: Vintage Books, 1955) geprägt. Vgl. Link and McCormick, Progressivism, 22; Richard Hofstadter, Social Darwinism in American Thought (New York: George Braziller, 1965), v. a. 143–169. Kritik des Begriffs bei Mike Hawkins, Social Darwinism in European and American Thought, 1860–1945: Nature as Model and Nature as Threat (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), 151–83. 192 Chambers, Tyranny of Change, 140; David M. Scobey, Empire City: The Making and Meaning of the New York City Landscape (Philadelphia: Temple University Press, 2002), 159; Schultz, Constructing Urban Culture, 112–14, hebt hervor, dass die Ursprünge des moral environmentalism bereits in den Reformbewegungen der Antebellum-Ära liegen. Zusammenhang zum Sozialdarwinismus und Beispiele für environmentalistische Reformen der Jahrhundertwende bei Mohl, New City, 166–79; Roy Lubove, The Progressives and the Slums: Tenement House Reform in New York City, 1890–1917 (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1963). 193 Dagenais, „Inscrire le pouvoir municipal dans l’espace urbain“, 348. 194 Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 310; Elizabeth Blackmar and Roy Rosenzweig, The Park and the People: A History of Central Park (Ithaka: Cornell University Press, 1992), 4; Flanagan, America Reformed, 172–73. 195 Bereits 1845, nach der großen Cholera-Epidemie, propagierte der britische Second Report on the State of Large Towns and Populous Districts die öffentlichen Parks als Lungen

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Erholung in der Natur sollten die Parks besonders denjenigen zugute kommen, die sich keine Gärten leisten konnten. Ein bißchen großstadtkritische Naturnostalgie lag dem park movement also trotz aller grundsätzlichen Bejahung des Urbanen durchaus zugrunde. In den Parks sollte das scheinbare Paradoxon einer picturesque city realisiert, Urbanität und das Pastorale vereint werden in „a place to stroll and stare, to dream and imagine“196. Sie waren Sinnbild für Ruhemomente, für Stabilität in den sich ständig wandelnden, von hektischer Betriebsamkeit und Verkehrschaos ebenso wie von vielfachen gesellschaftlichen Konflikten gekennzeichneten Industriestädten – und damit standen sie für geordneten, kontrollierten Fortschritt. Von der großen Bedeutung der Parks in der urbanen Imagination des späten 19. Jahrhunderts zeugt auch ihr Aufstieg in den ikonographischen Kanon der Stadtfotografie, die die Parks nach Vorbild der Landschaftsmalerei inszenierte und so das Bild der pittoresken und ordentlichen urbanen Oase visuell verbreitete.197 Stadtfotografie und Parkentwicklung selbst waren so, wie Peter Hales treffend zusammenfasst, eng mit den „dominant institutions of urban development and urban wealth“ verbunden.198 Der Parc MontRoyal, von Frederick Law Olmsted selbst geplant, ordnet sich in eben diesen Kontext ein, und noch im Jahr 1922 verteidigten die Gegner der UdeM den Park mit einer Argumentation, die in der Anfangsphase der Montrealer Parkassoziation wurzelte: In ihrer Vision des idealen öffentlichen Raumes verbanden sich environmentalistische Vorstellungen des Effekts der Umwelt auf den Menschen mit dem Streben nach Verbesserung des Stadtlebens zu einer normativen Obsession mit Licht, Luft und Natur, die in einer progressivistischen Rhetorik des öffentlichen Wohls daherkam, aber durchaus an klassenspezifische Ordnungsinteressen gebunden war.199 Nicht nur in ihrer Argumentation, auch von ihrer sozialen Herkunft her scheinen die Gegner der UdeM den Trägern der progressivistischen Bewegung entsprochen zu

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der Stadt und gab damit der Parkbewegung in England einen entscheidenden Impuls, s. Conway, People’s Parks, 54–55. Die Parallele zwischen medizinischem und urbanistischem Diskurs im 19. Jh. untersucht Hooper, „Poem of Male Desires“, 239 am Beispiel von Haussmanns Paris. Hales, Silver Cities, 191. Zu dieser Ambivalenz Scobey, Empire City, 229–30, der sie auf die doppelte Vision von Stadt im 19. Jh zurückführt, nämlich als Verkörperung von „capitalist energy and civilizational order“. Das allerdings erklärt nicht, warum „civilizational order“ in ländlicher Form gestaltet werden sollte; die Ambivalenz des Parks scheint mir über die von Scobey genannte Dichotomie hinauszugehen und viel eher Ausdruck einer grundlegend zwiespältigen Haltung zur Stadt zu liegen, die durchaus anti-urbanes Potenzial hat. Vgl. Machor, Pastoral Cities, 169–70; Cranz, Politics of Park Design, 3–5; Scobey, Empire City, 229. Ausführlicher zur Rolle der Stadtfotografie in der Entwicklung eines bestimmten Stadtbildes im 19./20. Jh. Hales, Silver Cities, zur Parkfotografie v.a. 188–94. Ebd., 191. Vgl. Conway, People’s Parks, 203–07; Cranz, Politics of Park Design, 183–206.

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haben. Die Frage nach den Trägerschichten des Progressivismus ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden, und sie hängt eng mit der Frage nach den Interessen und Ambitionen der Akteure und nach ihrer Vorstellung von social order zusammen. Konsens ist, dass vorwiegend Angehörige der städtischen WASP Mittel- und Oberschichten die Reformen vorantrieben, dabei aber von Fall zu Fall Koalitionen mit den unterschiedlichsten Gruppierungen eingingen und sich so eine breite Basis sicherten. Auch die Rolle von Frauen aus wohlhabenderen Kreisen ist herausgestrichen worden. Richard Hofstadters status-revolution theory, gemäß derer die alten Mittelklassen mittels der Reformvorhaben um den Erhalt ihres Status rangen, den sie an Profipolitiker und big business zu verlieren drohten, ist in der Forschung stark kritisiert worden und wurde vor allem durch Robert Wiebe in The Search for Order reformuliert.200 Wiebe sah in den Trägern der Reformen vor allem Angehörige der new middle classes, etwa Ingenieure, Sozialwissenschaftler, aber auch Verwaltungsfachleute und Angestellte, also einer zukunftsorientierten neuen Schicht, die überhaupt erst durch den Modernisierungsprozess entstanden war. Ihr ging es weniger darum, eine alte Stellung zu wahren, als sich mittels ihrer spezifischen Qualifikationen überhaupt einen Platz in der Gesellschaft zu sichern. In beiden Theorien aber wurde angenommen, dass bei aller altruistischen Rhetorik den Reformern auch an ihrer eigenen Positionierung innerhalb der Gesellschaftsordnung gelegen war und daran, eine Ordnung zu bewahren, die ihren eigenen Interessen entsprach und ihnen ein gewisses Maß an social control sicherte, ein Ergebnis, das auch den Kern der neueren Synthese zur Progressive Era von Michael McGerr bildet.201 Wenn die Gegner des Campus der UdeM sich 1922 also bemühten, Parkland zu bewahren, dann ging es ihnen in doppeltem Sinn darum, die bestehende Gesellschaftsordnung zu stabilisieren. Zum einen signalisierte die anglophone Elite allein durch die Tatsache, dass sie dem öffentlichen Raum Montreals ihre Idee eines idealen Stadtraums aufprägen und diesen erhalten konnte, ihren Einfluss, zum anderen schrieb sie durch die spezifische Form dieses Stadtraums – den klassischen englischen Landschaftspark – ihre Ordnungsvorstellung physisch in das Gewebe der Stadt ein. Die prägende Kraft dieses Ortes sollte normativ auf seine Besucher wirken. Geregeltes Freizeitverhalten in der ‚natürlich‘ geplanten Natur sollte die armen städtischen Massen daran hindern, sei es durch Krankheit oder moralisches Abweichen von der Norm, der althergebrachten Gesellschaftsordnung Schaden zuzufügen – einer Gesellschaft, zu deren Spitze die Parkverteidiger zählten. Die Verherrlichung von Licht, 200 Hofstadter, Age of Reform; Wiebe, Search for Order. 201 McGerr, A Fierce Discontent. Im Gegensatz zu Wiebe betont McGerr das Klassenbewusstsein der middle classes, die bei ihm nicht nur von ihren professionellen Fähigkeiten motiviert wurden; insofern schließt er an Hofstadters Theorie der status anxiety an, wobei er den Ängsten dieser Schichten eine größere Wirkungsweise über die Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft hinaus zuspricht.

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Luft, Ordnung und Klarheit ist insofern nicht nur als rein physische Normsetzung zu verstehen; die Begriffe verweisen im übertragenen Sinne auch auf die Furcht der alteingesessenen Oberschichten, selbst von den als Chaos wahrgenommenen Entwicklungen der Metropolen fortgespült zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Der Parc Mont-Royal entsprach damit einer Art kollektivem Mittel- und Oberschichtsgarten, dessen Ideal eine klassenspezifische Stoßrichtung hatte. Hinter dem Bild des Landschaftsgartens steckte eine bestimmte Vorstellung des Verhältnisses zwischen den sozialen Schichten, die man mit David Scobey als „class stewardship“ bezeichen könnte. Eine kultivierte Elite zivilisierte die Massen auf subtile Weise zu ihrem eigenen Wohl: Diese Vorstellung lag den urbanistischen Visionen, wie sie sich im Parc Mont-Royal äußerten, zugrunde;202 den Park anzutasten, kam einer Infragestellung der kulturellen Hegemonie und Gestaltungsmacht dieser Montrealer Führungsschicht gleich. „Deux langues, deux tempéraments“: Perzipierte Bruchlinien

Derartige Vorstellungen waren eine Sache der städtischen Führungsschichten, der Mittel- und Oberschichten, ohne jedoch an eine spezifische Ethnizität oder Konfession gebunden zu sein. In der Progressivismus- und Parkbewegungsforschung wurden meist WASPs als Impulsgeber von Reformen ermittelt und ein sie verbindendes progressive ethos ausgemacht, dass sich aus einem im Protestantismus wurzelnden moralischen Idealismus und dem festen Glauben an neue wissenschaftliche Methoden im Kampf gegen den Zerfall der Nation in einzelne Interessengruppen zusammensetzte: Moral und Effizienz gingen Hand in Hand.203 Diese Forschungsergebnisse sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass sich in den meisten untersuchten nordamerikanischen Städten tonangebende Oberschicht und WASP-Elite deckten, was in Montreal nicht uneingeschränkt der Fall war. Führende Köpfe der UdeM bewegten sich im selben als progressivistisch zu bezeichnenden Licht-Luft-Raum-Diskurs wie die Kritiker des Campusplans. Dr. T. Parizeau, directeur des études der medizinischen Fakultät, strich einige Jahre nach der Entscheidung der Universität, am Hang des Mont Royal in Notre-Dame-des-Neiges zu bauen, die Vorteile dieses Ortes heraus. Wegen seiner Großzügigkeit und Lage in der Natur würde es Sportplätze und Wohnheime geben, so dass die Studenten in einer „atmosphère de calme et de beauté“ leben könnten. „Songez en plus que, quelle que soit la densité future de notre population, quel que puisse être jamais l‘encombrement qui englobe le pourtour du Mont-Royal, l’Université jouira à jamais de ces libres espaces et de cette vie largement aérée.“204 Wenn auch Parizeau hier nicht einen Park zum Gegenpol von „densité“ und „encombrement“, den Horrorszenarien der künftigen Stadtentwicklung, erhob, sondern 202 Scobey, Empire City, 209–16; 236–40; vgl. Hales, Silver Cities, 194; Conway, People’s Parks, 203–07; Cranz, Politics of Park Design, 183–206. 203 Vgl. Chambers, Tyranny of Change, 138–40. 204 «La question de l’Université“, in: Le Devoir 14.11.1931.

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einen Campus, so war dies doch der positive Entwurf einer offenen, weiträumigen, ruhigen, natürlichen und schönen Fläche – und damit nicht allzuweit entfernt von der Vision, die die Gegner der UdeM mit dem Park an der anderen Bergseite verteidigten. Diese räumlichen Merkmale empfand auch die Universitätsleitung als ästhetisch205 und obendrein als moralisch. Denn aus internen Universitätsdokumenten geht ein pragmatischer Grund für die Wahl des Berges hervor, der auch wieder in Zusammenhang steht mit der Perzeption des Mont Royal als heiligem, auserwähltem Ort für eine city upon the hill. Den traditionellen Standort der Universität an der Ecke von St-Denis und der großen Geschäftsstraße Ste-Catherine, nicht allzu weit entfernt vom Rotlichtviertel, das sich um die Ecke St-Denis/Bd St-Laurent entfaltete, empfand die Universitätsleitung als den Sitten der Studenten nicht gerade zuträglich. Die Isolation im Grünen auf einem Berg dagegen versprach ein optimales, moralisch integres Ambiente für eine franko-katholische Universität.206 Bestimmte urbanistische Leitbilder, konkrete moralische Erwägungen und abstraktere, religiöse Auserwähltheitsgedanken gingen auch für die Franko-Katholiken Hand in Hand und wirkten aufeinander. Demgegenüber fiel die Tatsache, dass gerade der Mont Royal mit Vorliebe auch für ‚unmoralische‘ Taten genutzt wurde207, kaum ins Gewicht, was abermals die Kraft der Raumperzeptionen verdeutlicht, hinsichtlich derer sich die miteinander konkurrierenden Eliten offenbar nicht unterschieden. Die Mitgliedschaft prominenter Frankophoner wie Béique und Dandurand in der MPPA zeigt zudem, dass auch diese dem Parkgedanken keineswegs abgeneigt waren. Als Teil der Montrealer Oberschicht und Mitglieder der MPPA befürworteten sie grundsätzlich die Einrichtung städtischer Parks und bewegten sich im damit zusammenhängenden Parkdiskurs und seiner normativen, klassengebundenen Stoßrichtung. Aus der spezifischen Situation des Konflikts um den Campus kann folglich nicht geschlossen werden, dass der Parkgedanke an sich ausschließlich WASP war. Der Landschaftspark muss demzufolge eher als Raumform der Mittel- und Oberschichten begriffen werden.208 205 Procès-verbal de la 29e réunion de la Commission des Études de l’Université de Montréal, 29.11.1923, DA, UdeM, Fonds de la Commission des études A33. 206 Internes Papier zur Frage „Pourquoi ne pas rester dans le quartier où l’université a élu domicile depuis 1895?“ (ca. 1937), DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35. 207 Vgl. Schmidt, „Domesticating Parks“, 103–14. 208 Dafür spricht auch der gemeinsame Einsatz von Béique, Drummond, Meredith und anderen gegen ein Restaurant auf dem Berggipfel im Park, „Again Deferred“, in: Herald 9.10.1905: „A strong committee composed of many of Montreal’s most respected citizens both French and English speaking […]“. Diese Überlegung weist auf den größeren Komplex der Forschungen zu progressivistischen Reformen in Quebec, die die Frage diskutieren, inwiefern in Montreal ethno-konfessionelle Konfrontationen Klassenkonflikte überlagerten. Artibise and Linteau, Evolution of Urban Canada, 28, halten fest, dass die Reformbewegung zwar meistens „a case of class struggle“ war, jedoch Montreal eine Ausnahme bildete: „Here, the reform movement rested essentially on an Anglo-

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Allerdings überwog im Konflikt von 1922 die Loyalität Béiques und Dandurands zur UdeM; schließlich hatten sie beide eine führende Stellung an der Universität inne. Dagegen zeigt das Beispiel von F. E. Meredith, dass vereinzelt auch der UdeM nahestehende Personen im Konflikt von 1922 für die Parkbewegung und gegen die Universität Partei ergriffen. Als Anwalt in der renommierten Kanzlei Meredith, Holden, Hague, Shaughnessy & Heward stand Meredith dem Parkkomitee mit Rechtshilfe zur Seite209 – und das, obwohl er sich selbst als „University of Montreal man“210 bezeichnete. Aus diesem Grund bemühte er sich aber darum, „in a quiet way“ zu helSaxon elite who fought a populist-type political machine dominated by Francophones and with the support of some Anglo-Saxon politicians, principally Irish.“ Andererseits hat Dagenais, Des pouvoirs et des hommes, 10–20, festgestellt, dass sowohl anglophone, als auch frankophone Geschäftsleute wie etwa Hormidas Laporte die Hauptträger der reformerischen Stadtverwaltung von 1910–14 waren, wobei sie dennoch eine Bevorzung des (anglophonen) Westteils der Stadt durch die Reformadministration ausmacht. Michel Gauvin, „The Reformer and the Machine: Montreal Civic Politics from Raymond Préfontaine to Mederic Martin“, in: Journal of Canadian Studies/Revue d’études canadiennes 13:2 (Summer 1978), 16–26 hat überzeugend gezeigt, dass es Frankophone auf beiden ,Seiten‘ gab. Vgl. auch seine ausführlichere Analyse Gauvin, „The Municipal Reform Movement in Montreal, 1896–1914“ (M.A. University of Ottawa, 1972). Für dieses Ergebnis spricht auch, dass Béique beispielsweise nicht nur in der MPPA, sondern auch in anderen reformerischen Organisationen mit der anglophonen Oberschicht zusammenarbeitete, etwa in der Montreal League for the Prevention of Tuberculosis, vgl. Dr. E. S. Harding, Secretary Montreal League for the Prevention of Tuberculosis, an Alderman L. Payette, Chairman of the Committee of Finance, City Hall, 17.4.1906, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS4, D4, Box 121-0307-03. Ähnlich wie Gauvin argumentiert auch Alan Gordon, „Ward Heelers and Honest Men: Urban Québécois Political Culture and the Montreal Reform of 1909“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 23:2 (March 1995), 20–32. Ebenso zeigen Lavigne, Pinard et Stoddart, „La Fédération Nationale Saint-Jean-Baptiste“, 95–96, dass anglo- und frankophone Frauenclubs, die sich primär aus den oberen Mittel- und Oberschichten rekrutierten, in reformerischen Anliegen gemeinsame Sache machten, etwa im Kampf gegen den Alkohol. Während man allgemein festhalten kann, dass die progressivistischen Reformen wohl eine ethnizitätsunabhängige Sache der in der Wirtschaft prominenten Oberschichten war – die jedoch zumeist anglophon waren –, so muss doch situativ differenziert und die Positionierung der Beteiligten von Fall zu Fall untersucht werden. Vgl. auch Annick Germain, Les mouvements de réforme urbaine à Montréal au tournant du siècle (Montreal: Les Cahiers de CIDAR, Département de Sociologie, Université de Montréal, 1984). 209 F. E. Meredith an Miss Watt, 13.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 210 MPPA Parks Committee Minutes, 30.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“.

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fen und bat das Komitee um Diskretion.211 Sein Verhalten könnte daher wiederum den Verdacht erhärten, dass in diesem Konflikt die Loyalität weniger von institutionellen Bindungen, der Einstellung zu öffentlichen Parks oder rein klassenspezifischen Interessen geleitet war, als von der ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeit – dies aber möglichst nicht publik gemacht werden durfte. Im Konflikt um den UdeMCampus scheint es daher weniger um die Frontstellung zwischen Parkanhängern und Parkgegnern gegangen zu sein, als um die Konkurrenz zwischen anglokanadischen Oberschichten und ihrem frankokanadischen Gegenpart in der diskursiven wie physischen Belegung des Mont Royal. Der Verdacht, dass selbst den radikalsten Parkbefürwortern nicht nur daran gelegen war, arme Montrealer aus welchen Gründen auch immer mit Parkfläche zu versorgen, wird durch die geringe Größe und die Lage der an die UdeM abgetretenen Sektionen A und B im Parc Mont-Royal weiter verstärkt. Denn die Masse der Bevölkerung nutzte vor allem den Fletcher’s Field genannten flacheren Teil an der Avenue du Parc (vgl. Abb. 3). Die Sektionen A und B lagen zwar in dessen Nähe, gehörten aber schon zum ansteigenden, bewaldeten Teil des Parks, der von der Masse der Erholungssuchenden weniger frequentiert wurde.212 Fletcher’s Field selbst blieb durch die Schenkung unberührt. Dass den selbsternannten Verteidigern Montrealer Parkflächen besonders der Mont Royal am Herzen lag und weniger die Gesamtfläche an Parkland, dafür spricht auch ihr Vorschlag, doch lieber einen Teil des sich in der Planungsphase befindlichen Parc Maisonneuve zu verschenken.213 Als 1924 die Entscheidung der Universität gefallen war, auf die Sektionen A und B zu verzichten und bei D zu bauen, verkündete der Star erleichtert, dies würde den „final seal upon the sanctity of Mount Royal Park“214 setzen. Versöhnlich gestimmt schlug die sonst so polemische Zeitung vor, die Stadt solle der Universität irgendein anderes Grundstück übergeben, die Proteste hätten sich ja nur gegen die „violation of Montreal’s greatest asset and greatest blessing, the

211 MPPA Parks Committee Minutes, 30.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 212 „Rector’s View on University Site“, in: Gazette 8.7.1922. In ihrer Petition bezeichnete der MLCW auch die Sektionen A und B als „cette partie du Parc Mont-Royal la plus accessible au public“; einige Anglophone glaubten am Anfang der Debatte irrtümlich, es sollten Teile von Fletcher’s Field abgetreten werden. Die Leitung der UdeM stellte das sehr bald richtig, dennoch verstummten die Proteste nicht. Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 213 Chairman Parks Committee MPPA an E. R. Decary Esq Chairman Administrative Commission, 30.3.1921, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 214 „Mount Royal Park Saved“, in: Star 14.2.1924.

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unparalleled glory of the Mountain Park“215 gerichtet. Es ging zwar offiziell darum, Parkfläche für die Armen zu bewahren, aber vor allem auch darum, den Park am Mont Royal nicht anzurühren – selbst (oder vielleicht gerade?) in den Sektionen, die von den Massen kaum frequentiert wurden. Vor dem Hintergrund der symbolischen Kraft des Mont Royal ist es wahrscheinlich, dass die Protestler die wohltätigen Wirkungen des Parks bis zu einem gewissen Grad als Vorwand benutzten, um einen Campus der UdeM am Mont Royal zu verhindern; dieser Park war ‚heiliger‘ als andere. Obwohl sie in ihren Protesten die UdeM explizit in Schutz nahmen – diese könne ja nichts dafür, dass die Stadt ihr das Land geschenkt habe – richteten die Gegner des Campus in den Debatten des Sommers 1922 immer wieder versteckte Spitzen gegen die franko-katholische Universität. Ihre Selbstpositionierung als Interessenvertreter des public beispielsweise suggerierte, dass andere Meinungen im Konflikt automatisch den Interessen der Allgemeinheit entgegenstanden. Gleichzeitig betonten sie, dass das Wohl aller doch bestimmt auch im Interesse der Universität liege, vor allem aber das Wohl der ärmeren Montrealer Kinder, die von dem Park am meisten profitierten.216 Als Bildungsinstitution könne es ja nur im Sinne der UdeM sein, den Nachwuchs zu fördern und ihm Raum zur Entfaltung zu geben. Dabei scheuten die Kritiker der Landschenkung nicht vor pathetischen Appellen an die Universität zurück. Die UdeM, so eine Petition, [...] gagnera les bénédictions présentes et futures du peuple en prenant un soin précieux du plus grand bien de tous les citoyens et en ayant une grande solicitude pour la pauvre existence des enfants miséreux des districts congestionnés qui peuvent encore cependant produire des étudiants d‘avenir qui iront chercher la lumière et la science dans ses murs.217

Das Wohl der armen Kinder aber war ein Argument, dem sich in der Öffentlichkeit keiner ernsthaft widersetzen konnte, schon gar nicht eine Universität. Obendrein ist es wohl kaum ein Zufall, dass die Kritiker betonten, gerade der arme französische und jüdische Nachwuchs würde durch den Campus seines Spielfeldes am Mont Royal beraubt. Dadurch positionierten sie sich selbst als von ethnischer Zugehörigkeit unabhängige Verteidiger des Volkes, suggerierten aber gleichzeitig, dass doch eigentlich die UdeM auch verantwortlich für die armen Kinder sei. Geschickt sprachen sie damit der UdeM die Position des wohltätigen Förderers des öffentlichen Interesses zu und setzten sie so unter Zugzwang: Wurde sie dieser Position nicht gerecht, so konnte die Univer215 Ebd. 216 Vgl. „Women Will Protest Against Giving Away Part of Mount Royal“, in: Gazette 5.7.1922. 217 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917– 1924“.

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sität in der öffentlichen Darstellung rasch in die Kategorie des privaten, elitären special interest-Vertreters abgleiten, der sich nicht einmal um die ärmeren Kinder der eigenen ethnischen Herkunft kümmerte, geschweige denn so übergreifend philanthropisch handelte wie die Parkanhänger. Vermeiden konnte die Universität dies nur, indem sie auf den Parkdiskurs einging und einen Kompromiss anbot: bei D, nicht bei A und B zu bauen. Dass die MPPA die UdeM im Grunde als Interessenvertreter einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung ansah, geht aus ihrer Resolution vor, die sie im Kontext des Konfliktes im Sommer 1922 verfasste. „No person or company should be given any vested interest in any park“218, heißt es da. Auch die anglophonen Zeitungen betonten den Kontrast zwischen „the people“ und der „privileged institution“.219 Höchst emotionale Leserbriefe, wie der des Landschaftsarchitekten W. Ormiston Roy, spielten die Armen der Stadt gegen die Universität aus: „[...] it is actually proposed to take from the poor their heritage in park lands and open spaces, by giving this invaluable tract to an institution that can only serve the comparatively rich.“220 Der Gegensatz, der so aufgebaut werden sollte, war der zwischen dem Volk und der Universität als Institution der Oberschicht. Nur indem sie den drohenden Klassenkonflikt bemühten und sich selbst als Retter der Armen darstellten, konnten die – selbst zu den Wohlhabendsten der Stadt zählenden – Parkanhänger hoffen, die Öffentlichkeit und damit den Stadtrat hinter sich zu vereinen. Vorhandene Brüche zwischen den sozialen Schichten der Montrealer Gesellschaft instrumentalisierten sie damit in einer Konkurrenzsituation zwischen den ethno-konfessionell heterogenen Oberschichten. Es ist bemerkenswert, dass der Rektor der UdeM in seinem Schreiben an die Stadt, in dem er um die Grundstücke bat, die public-private-Argumentation der Gegner bereits antizipierte. Aus seinem Brief spricht das Bemühen, die breite Unterstützung, die das Universitätsprojekt in der Bevölkerung genoss, ebenso herauszustreichen wie dessen Bedeutung für die Öffentlichkeit und den Ruf der Stadt Montreal: „Lors de la souscription nationale qui nous a apporté de si précieuses sympathies, il nous semblait que la ville de Montréal ne pouvait refuser son concours en faveur d‘une oeuvre d’intérêt public qui ajoute à son importance et à son renom.“221 Auf diese Weise identifizierte Gauthier die Pläne der UdeM mit dem Allgemeininteresse. Gleichzeitig versuchte er auch schon prophylaktisch, der 218 MPPA Parks Committee Minutes, 6.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 219 Allan L. Smith, „The University Site“, Letter to the Editor, in: Gazette 10.7.1922. 220 W. Ormiston Roy, „Hands Off Mount Royal Park!“, Letter to the Editor, in: Star 31.5.1922. 221 Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. Dennoch spendeten eher frankophone Bürger, Unternehmen sowie katholische Gemeinden für die Universität; vgl. die detaillierten Namenslisten der Spender in DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #298; #299.

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Parkargumentation den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er betonte, dass der „caractère de propriété publique“ dieses Teils des Berges gewahrt werden und die Bauten ein „ornement dont la ville aura raison d’être fière“222 sein würden. Der Universitätsleitung war also von Vornherein bewusst, dass man ihr möglicherweise vorwerfen würde, die Interessen einiger Weniger zu vertreten. Beide Kontrahenten versuchten folglich, ihr Ziel als im Sinn der Allgemeinheit zu präsentieren. Wer sich durchsetzen würde, hätte nicht nur einen Schlüsselort der Stadt, den Mont Royal, belegt, sondern auch demonstriert, dass er in der Position war, sich glaubwürdig als Vertreter der ‚Öffentlichkeit‘ darzustellen, ein Stück öffentliches Land in seinem Sinne zu verwenden und damit festzulegen, wer ‚die Öffentlichkeit‘ war – nämlich diejenigen, die im Konflikt auf seiner Seite standen. Der Weg zu diesem Ziel führte allerdings über einen weiteren Akteur im Konflikt von 1922, der die ‚Öffentlichkeit‘ offiziell repräsentierte: den City Council. Schließlich standen städtische Grundstücke im Zentrum des Streits, Grundstücke also, die die Stadt als Repräsentant der Einwohner im Namen aller Montrealer verwaltete. Im öffentlichen Diskurs, wie er beispielsweise aus den Debatten in der Presse hervorgeht, wurde vom Stadtrat erwartet, uneigennützig im Interesse der Bürger im allgemeinen zu handeln; so sollte es ja auch dem Selbstverständnis des gewählten Volksvertreters entsprechen. Das Reden im Namen der Öffentlichkeit kann daher auch als Strategie beider Gruppen verstanden werden, den Stadtrat bei seinem offiziellen Selbstverständnis zu packen und für das eigene Anliegen günstig zu stimmen. Divergierende Interessen innerhalb der Oberschichten, die auf einen handfesten interethnischen, anglo-frankophonen Konflikt gedeutet hätten, wurden dementsprechend in der öffentlichen Debatte nie explizit erwähnt. Im Gegenteil, es ist bemerkenswert, wie sich gerade die Protestierenden nahezu krampfhaft darum bemühten, den Anschein zu erwecken, Ethnizität und Konfession spielten keine Rolle. Für die UdeM kann hierzu nur schwer eine Aussage getroffen werden. Da sie ja nicht direkt angegriffen wurde, hielt sich die Universitätsleitung insgesamt mit Äußerungen zurück und verhielt sich diplomatisch, indem sie ankündigte, alles in Ruhe überdenken zu wollen.223 Aus internen Dokumenten allerdings geht hervor, dass sie die Angriffe durchaus als ‚englische‘ Attacken begriff, die in „journaux anglais“ und durch „diverses oeuvres sociales anglaises“ geäußert wurden.224 Und allein die Häufigkeit, mit der ihre Kontrahenten eine Einheitsfront aller Ethnizitäten und Konfessionen hinter 222 Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. 223 „Rector’s View on University Site“, in: Gazette 8.7.1922. 224 Procès-verbal de la 9e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 30.6.1922, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59; Procès-verbal de la 10e réunion de la Commission d’administration de l’Université de Montréal, 25.9.1922, DA, UdeM, Fonds de la Commission d’administration A59.

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dem Parkgedanken betonten, legt nahe, dass ethnische und religiöse Kategorien eine entscheidende Rolle spielten. „[...] I have been unable to find one single individual, French, English, Jew or Gentile, who is not diametrically opposed to giving away any part of Mount Royal for any purpose whatsoever“225, schrieb ein empörter Leser im Juli 1922 an die Gazette. Auch der Vorsitzende des Parkkomitees hielt in seinem Beschwerdebrief an die Stadt für erwähnenswert: „The policy of this Association has always been ,hands off our parks‘ to one and all irrespective of their nationality, creed or object.“226 Die Autoren der Petition an die UdeM betonten, dass dies kein Konflikt entlang ethnischer Linien war. „L‘Université de Montréal a reçu nombre de témoignages de respect et d‘admiration tant des citoyens de langue anglaise que de ceux de langue française durant sa récente campagne pour secours financier [...].“227 Demgegenüber fand der Verfasser eines Briefes an Béique als Vorsitzenden der Commission d’  Administration der UdeM zunächst sehr klare Worte: „Being an ardent believer in the need for l’entente cordiale, I greatly fear the lasting effect of a monument of discord between our two races such as the erection of any building on the mountain slope would of a surety prove“, nur um dann klarzustellen: „Were I French and not Anglo-Saxon, I can assure you that I should be even more strongly opposed to the choice of the University site than I am.“228 Insgesamt scheint es, als hätte bloß keiner auf den Gedanken kommen sollen, eine anglo-protestantische Koalition versuche die franko-katholische Universität daran zu hindern, am Mont Royal zu bauen, weil sie die Institution einer frankophonen Elite war – was man nicht hätte betonen müssen, wenn die Gefahr dazu überhaupt nicht bestanden hätte. Dazu gesellten sich diskrete Appelle an die UdeM, im Namen der interethnischen Harmonie in der Stadt dem Anliegen der Parkanhänger nachzugeben und das geschenkte Land abzulehnen. „Une telle action aiderait beaucoup à faire naître un nouveau bon vouloir et une nouvelle amitié, dans cette ville enrichie en culture par deux langues et deux tempéraments, quoique quelques fois les deux races furent éloignées par des différences de manière de voir.“229 Die gemäßigte anglophone Tageszeitung Gazette stieß in dieselbe Rich225 Allan L. Smith, „The University Site“, Letter to the Editor, in: Gazette 10.7.1922. 226 Chairman Parks Committee MPPA an E. R. Decary Esq Chairman Administrative Commission, 30.3.1921, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. 227 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917– 1924“. 228 A. K. S. Hemming an Hon. F. L. Béique, 5.7.192?, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #421. 229 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–

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tung vor, indem sie befand, dass die Universität in Ruhe überlegen sollte, ob sie das Geschenk überhaupt akzeptieren wolle.230 Daraufhin antwortete die gemäßigte frankophone La Presse, dass sie hoffe, der Artikel der Gazette werde der bedauerlichen Kontroverse ein Ende setzen, in einer Stadt, in der „English and French plume themselves on the maintenance of their fraternal relations.“231 Ganz gleich, ob versöhnlich oder provozierend im Ton, all diese Aussagen unterstreichen, dass die Bevölkerung Montreals durchaus entlang der Kategorien „english“ und „french“ dachte. Ähnliches geht auch aus den internen Dokumenten des Parkkomitees hervor. Seine Mitglieder sahen „english“ und „french“ im Konflikt dichotomisch angelegt, waren aber gleichzeitig bemüht, diesen Gegensatz nach außen hin zu überspielen. So diskutierte das Komitee Anfang Juni 1922 die Möglichkeit „of getting some French Ladies to come on the Committee“ und beschloss, einige frankophone Damen gezielt um Unterstützung zu bitten.232 Als es Ende des Monats um die Unterzeichnung der Petition an die UdeM ging, wurde im Sitzungsprotokoll festgehalten: „[...] all the Women’s [sic] (English) were willing to sign such a petition“233. Die Petition blieb eine anglophone Sache. Auch außerhalb Montreals wurde der Streit um den Mont Royal als ethnischer Konflikt wahrgenommen. Eine Quebecer Zeitung bedauerte, dass alle anglophonen Zeitungen sich gleichzeitig gegen die Landschenkung aussprachen und um der Harmonie in der Stadt Willen erwarteten, dass die Leitung der UdeM aus Takt davon Abstand nehmen würde. Das sei, so die Zeitung, eine kaum versteckte Drohung.234 Ethnizität spielte also im Konflikt von 1922 eine tragende Rolle, und die Tatsache, dass sich die Gegner des UdeM-Campus so offenkundig bemühten, als ethno-kulturell unabhängige Verteidiger des Gemeinwohls zu erscheinen und offene interethnische Konflikte zu vermeiden, spricht dafür, dass ethnicity für ihr eigenes Handeln weitaus wichtiger war als öffentlich propagiert. Konfessionelle Kategorien hingegen wurden auch intern kaum benannt. Allerdings waren in Montreal mit den ethnischen Kategorien implizit auch meist die konfessionellen gemeint bzw. das aus Konfessionsund Sprachzugehörigkeit bestehende ethno-kulturelle Amalgam – auch wenn dann

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1924“. Beispiel für offene Konflikte zwischen Anglophonen und Frankophonen wären die Demonstrationen und Gegendemonstrationen von McGill- und Laval-Studenten im Rahmen des Burenkriegs 1900, Linteau, Histoire de Montréal, 164. „The University Site“, in: Gazette 10.7.1922, bezugnehmend auf „Rector’s View on University Site“, in: Gazette 8.7.1922. „The French Press – The University Site“, in: Gazette 12.7.1922. Angefragt werden sollten Mme Thibaudeau, Mme Terroux, Mrs Angus und Mrs T. Sise. MPPA Parks Committee Minutes, 6.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. MPPA Parks Committee Minutes, 30.6.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. Artikel zusammengefasst in „The French Press: The University Site – A Quebec View“, in: Gazette 5.7.1922.

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frankophone Protestanten oder anglophone Katholiken wie etwa Lady Hingston aus dem Raster herausfielen. Lediglich in einem Briefwechsel mit Erzbischof Gauthier erwähnte der Eisenbahnmagnat Lord Shaughnessy (1853–1923), dass die prominenten Bürger, die gegen einen Campus am Hang waren, auf jeden Fall eine Kampagne „on religious grounds“ gegen das Projekt vermeiden wollten.235 Das mag allerdings daran gelegen haben, dass der Erzbischof der Adressat war und Shaughnessy Katholik irischer Abstammung, der allerdings enge Bindungen zu Großbritannien pflegte und daher als Mittler zwischen den Parteien auftreten konnte. Wenn also die Gegner des Campus das Schreckensbild privater Interessen zeichneten, die einen Teil des öffentlichen Raums zu besetzen drohten, dann meinten sie die franko-katholische Führungsschicht, repräsentiert durch ihre Bildungsstätte UdeM. Es liegt nahe, dass hier die alteingesessene, anglophone Elite Montreals ihre Machtstellung bedroht sah und die drohende Besetzung des Berges durch die frankokatholische Konkurrenz als allzu sichtbares Zeichen für einen Wandel im sozialen Gefüge der Stadt auffasste. Nur aus dem Kontext der Konkurrenz zwischen den verschiedenen führenden Schichten Montreals lässt sich daher die Brisanz und Emotionalität dieses besonderen Konfliktes um 23 acres Parkland verstehen. Letztlich instrumentalisierten hier die anglo-protestantischen Führungsschichten den Park und die unteren sozialen Schichten als Mittel gegen die UdeM auf zwei Ebenen. Zwar stellte der Park keine physische, territoriale Belegung des Mont Royal durch die anglophonen Oberschichten dar, wie der Campus es für die frankophone Konkurrenz war, da er ja öffentlicher Raum blieb, den alle betreten konnten. Aber er hatte durch seine bloße physische Existenz die Kraft, Bauten der frankophonen Elite am Berg zu verhindern, und das im Namen der Bedürftigen. Gleichzeitig wurde seine physische Existenz als Selbstverständlichkeit konstruiert, wie der häufige Gebrauch des Wortes „alienation“ verdeutlicht: Der Begriff lässt Fremdheit anklingen, Naturwidrigkeit, und so erscheint der Park als die naturgegebene, einzig richtige und adäquate Interpretation des Mont Royal.236 Eine franko-katholische Universität war hier fehl am Platz. Eine weitere, subtilere Ebene kommt an dieser Stelle hinzu. Der Park war zwar keine spezifisch WASP Form der Raumgestaltung, sondern ein städtisches Idealbild der Oberschichten allgemein. Indem die anglophonen Parkverteidiger aber die Universitätsleitung als Parkgegner konstruierten, suggerierten sie, dass die franko-katholischen Mittel- und Oberschichten nicht genuin zu den modernen Führungsschichten gehörten, sonst wären sie sich der Bedeutung eines Stadtparks bewusst. Der bereits zitierte W. Ormiston Roy formulierte es in seinem Lesebrief wie folgt: Als „institu235 Lord Shaughnessy an Archbishop Gauthier, 19.6.1922, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #431. 236 Entsprechend häufig wurde betont, dass der Mont Royal von der Natur als ideale Stätte eines Parks vorgesehen war. Vgl. Frederick Todd, „The Lookout on Mount Royal“, in: Canadian Municipal Journal ( January 1905), AVM, DP, B259-2.6.

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tion of learning“ sollte die UdeM doch wohl die erste sein „to teach us to prize and appreciate the trees and other natural beauties of our glorious Mount Royal.“237 Damit stellt er die Qualität der Universität als Bildungseinrichtung grundlegend in Frage und sprach obendrein den franko-katholischen Führungszirkeln ihren sozialen Status ab.

1.3  Imagined geographies am Mont Royal: Räumliche Differenzierungen 1.3.1  Einzugsgebiete, Zentralität und Peripherie

Die Symbolwirkung des Mont Royal, wie sie in den Stadt- und Reiseführern, in den Werbepamphleten der Stadt und populären Erzählungen zum Ausdruck kommt, konzentrierte sich für die Gegner des Campus in dem Teil des Berges, der als Park gestaltet war. Dementsprechend legten sie auch keinen Widerspruch ein, als die Universität 1924 verkündete, bei Grundstück D bauen zu wollen. Die Emotionalität, die die Proteste prägte – das Reden von „alienation“, „invasion“, „disaster“ oder „catastrophe“, die Aufforderungen zum „hands off “ – beruhte aber noch auf einer weiteren Bedeutung dieses Teils des Mont Royal. Der Park lag schwerpunktmäßig an der Süd- und Südostseite des Berges, die unzertrennlich mit der anglophonen Erfolgsgeschichte in Montreal verknüpft war und als Ausdruck anglophonen Triumphes in der Vergangenheit betrachtet wurde. Wenn auch das Konzept des Landschaftsparks an sich nicht spezifisch WASP war, der Park auf dem Berg war es aufgrund seiner Lage in der mental map der Stadt. Er befand sich an der Peripherie eines genuin angloprotestantischen Territoriums, dessen Herzstück an der Südseite des Berges gelegen war: der heute zu Downtown gehörenden Golden Square Mile. The Golden Square Mile: Eine anglophone Erfolgsgeschichte

Angesichts der wachsenden Bevölkerungszahlen und des zunehmenden Raumbedarfs von Industrie und Handel in der Innenstadt waren seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die prosperierenden anglophonen Mittel- und Oberschichten nach Westen aus der Stadt hinausgezogen, ins Grüne an die Ausläufer des Mont Royal. An dessen Südhang entstand in der Folge eines der ersten suburbanen Viertel Montreals. Die riesigen ländlichen Anwesen, die die Unternehmer dort erwarben, ließen sie in großzügige Baugrundstücke, sogenannte „villa lots“ unterteilen und legten Straßen

237 W. Ormiston Roy, „Hands Off Mount Royal Park!“, Letter to the Editor, in: Star 31.5.1922.

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an.238 Zunächst wurde dieser neue Vorort New Town genannt, nach dem Ersten Weltkrieg erhielt er aber den Spitznamen The Square Mile: Innerhalb einer Quadratmeile wohnten um 1900 die Familien, die 70% des Reichtums von Kanada kontrollierten, weshalb das Viertel später vor allem von Außenstehenden auch Golden Square Mile genannt wurde.239 Im nördlichen Teil des damaligen Quartier St-Antoine gelegen, wurde der Stadtteil durch die Pine Avenue im Norden, die Gleise des CPR im Süden (etwas südlich vom heutigen Boulevard René-Lévesque, früher Dorchester Street), der Côte des Neiges Road im Westen und Durocher, Aylmer und St-Alexander Street im Osten begrenzt (Abb. 16).240 Zur Zeit des Konflikts um die UdeM war dieses Areal Teil des Viertels St-André. Die Golden Square Mile bildete seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den geographischen Kern des wohlhabenden anglo-protestantischen Milieus, einen Ort, an dem sich die Elite Montreals abseits von den Unannehmlichkeiten der Stadt und ganz unter sich in einer closely-knit community den Gepflogenheiten viktorianischer Oberschichten widmen konnte. Der Berg war dabei integraler Bestandteil der Freizeitbeschäftigungen der Square Milers, sei es für Spazierfahrten, Ausritte, Schlittenpartien oder Schneeschuhwandern.241 Die ursprüngliche Bezeichnung New Town spielte direkt auf das Vorbild, Edinburghs New Town, an, was auch eine kulturelle Aussage darstellte. Nicht nur orientierte man sich an einer schottischen Stadt, sondern ausgerechnet an dem Stadtteil Edinburghs, der dort als bewusstes Signal für die Anglisierung der lokalen Kultur gebaut worden war. Die neue Stadt sollte sich von der alten mit ihren primär katholischen und seigneurialen Institutionen und Landaufteilungen abgrenzen.242 In Edinburgh waren sämtliche Straßen der New Town nach Angehörigen des Hauses Hannover benannt, und auch die Golden Square Mile erhielt eine Hanover Street. „Montreal’s New Town was an implicit symbol of the sort of assimilation Scots had experienced within the British empire, and which Lord Durham had recently recommended as a means to deal with ethnic strife in Canada.“243 Die Relokalisierung der anglikanischen Kathedrale Christ Church ins Herz der Square Mile 238 Bereits zu Anfang des 19. Jhs hatten sich einige wohlhabende anglophone Pelzhändler an den Hängen des Berges niedergelassen und in den 1830er/40er Jahren waren nach englischem Vorbild erste terraces gebaut worden, vgl. David B. Hanna, „Creation of an Early Victorian Suburb“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 2 (October 1980), 41. 239 Ebd., 51–52; Westley, Remembrance of Grandeur, 25; MacLeod, „Salubrious Settings“, 1; Jacobs, „La Montagne magique“, 46. 240 MacLeod, „Salubrious Settings“, 1. 241 Zum Lebensstil der Einwohner der Square Mile Donald MacKay, The Golden Square Mile: Merchant Princes of Montreal (Vancouver: Douglas & McIntyre, 1987), 85–108; Westley, Remembrance of Grandeur; MacLeod, „Salubrious Settings“, 205–31. 242 Ebd., 52–53; 157–63. 243 Ebd., 53.

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Abb. 16  Der „Golden Square Mile“ genannte Stadtteil in einem Stadtplan von 1931.

1857 markierte diesen Stadtteil obendrein als protestantisch.244 Le mille carré doré stand damit für die Blüte einer anglo-protestantischen Wirtschaftselite vorwiegend schottischer Herkunft, die jahrzehntelang die Geschäfte der Stadt dominierte und sich vollauf mit dem Empire identifizierte. Damit stand der Stadtteil letztlich auch für eine Zeit, in der Montreal als zentraler Handelsstützpunkt des British Empire dessen Anspruch in der Neuen Welt verkörperte. Zwar residierten später auch einige Frankophone wie der Financier und Senator Louis-Joseph Forget (1853–1911) oder gar Senator Béique, die den Aufstieg in die grande bourgeoisie um 1900 geschafft hat244 Ebd., 158–59.

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ten, in der Golden Square Mile; allerdings bildeten sie eine verschwindend geringe Minderheit.245 Mit einer luxuriösen Architektur in historisierenden Stilen markierten die einzelnen Familien um die residentielle Prachtstraße Sherbrooke Street ihre Stellung im Machtgefüge der Stadt.246 Als Ikone dieser Zeit gilt Ravenscrag (1861–64),

Abb. 17  Ravenscrag, die Villa von Sir Hugh Allan am Mont Royal.

die Villa von Sir Hugh Allan (1810–82), der in der Dampfschifffahrt ein Vermögen gemacht hatte (Abb. 17). Wie sehr solche Bauten urbanes Territorium besetzten und im öffentlichen Bewusstsein als das ihre markierten, wie lange das auch fortwirkte, zeigt die Tatsache, dass Ravenscrag in den Landkarten des Mont Royal und seiner Umgebung (von 1903 und 1907) eingezeichnet ist – als einziges privates Wohnhaus,

245 MacKay, Golden Square Mile, 7; 67–84; 130. Die frankophone Bourgeoisie wohnte zu einem überwiegenden Teil weiter im Osten der Stadt in den Achsen Rue St-Denis und Rue Sherbrooke Est. Vgl. Linteau, Histoire de Montréal, 168–69; 173. 246 Marsan, Montréal en évolution, 257–64; Grundprinzipien der residentiellen Architektur in der Golden Square Mile sowie einzelne Bauwerke analysieren François Rémillard et Brian Merrett, Demeures bourgeoises de Montréal: Le mille carré doré, 1850–1930 (Montréal: Méridien, 1986).

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Abb. 18  Ravenscrag in einem Stadtplan von Charles E. Goad (1903).

das sich auf diese Weise als landmark in der Repräsentation der Stadt behauptete (Abb. 18).247 Die Einwohner der Golden Square Mile waren es auch, die sich in den 1870er Jahren dafür einsetzten, Teile des Mont Royal zu einem öffentlichen Park zu gestalten. So wie der Park in der Folge angelegt wurde, erstreckte er sich zu gut zwei Dritteln direkt oberhalb der Wohnviertel der anglophonen Elite und griff über auf die östliche 247 Zu Allan und Ravenscrag vgl. MacKay, Golden Square Mile, 67–84; Rémillard et Merrett, Demeures bourgeoises, 78–83.

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Bergseite. Konsequenterweise wurde der Park an Victoria Day 1876 eingeweiht und der Union Jack auf seinem Gipfel gehisst248, ein Signal, das – wenn auch nur temporär – deutlich machte, wer diesen Park als Territorium beanspruchte. Die bildliche Darstellung dieses Ereignisses in den Zeitungen erinnert tatsächlich an eine Kriegsszenerie (Abb. 19), so dass Begriffe wie ‚Flagge hissen‘ oder ‚erobern‘ nicht fehl am Platz scheinen. Lediglich in den zwei Vignetten am unteren rechten Bildrand finden sich Szenen des friedlichen – gutbürgerlichen – Parkgebrauchs. Rein physisch war in den Anfangsjahren des Parks der Zugang nahezu ausschließlich für die Oberschichten möglich, die zum einen in seiner Nähe wohnten und zum anderen die Höhen mit ihren Kutschen überwinden konnten.249 Sarah Schmidt hat überzeugend herausgearbeitet, wie die anglophone Elite den Park nicht nur physisch, sondern auch diskursiv als Ausdehnung ihres Territoriums konstruierte, das sich damit von den Füßen des Mont Royal bis hoch zum östlichen Gipfel erstreckte. Trotz seines

Abb. 19  Darstellung der Einweihung des Parks am Mont Royal in der Zeitung L’opinion publique, 8.6.1876.

248 „Her Majesty’s Birthday“, in: Gazette 25.5.1876. Vgl. Schmidt, „Domesticating Parks“, 18. 249 Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 312.

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öffentlichen Charakters, so die Ergebnisse von Schmidt, war der Park am Mont Royal letztlich ein Raum weißer, anglo-protestantischer, viktorianischer Werte, der mittels subtiler Exklusionsstrategien zum Garten der in der Nähe wohnenden Mittel- und Oberschichten wurde. Schmidt zeigt das unter anderem an der Sprache der Parkbefürworter. Ständig griffen sie auf den Topos der natürlichen Reinheit des Parks zurück, die durch Fremdeingriffe verletzt werden könnte, ein Topos, von dem Schmidt aufzeigt, wie sehr er mit gender-Vorstellungen konnotiert und religiös aufgeladen war. Der Park wurde so diskursiv als unantastbar reiner Ort der harmlosen Freizeitbeschäftigung für die viktorianische Lady und Mutter konstruiert, Natur und Frau ineinandergeblendet und mit einer Aura der Unberührbarkeit und Heiligkeit versehen; dadurch gehörte er letztlich zur Sphäre der domesticity.250 Als bedrohlich empfundene Mitbürger mussten daher möglichst ferngehalten werden. Schmidt resümiert: „Identified as solutions to urban pathology brought on by industrial capitalism, the park, focussing on mothers and families, was constructed as a domestic enclave in which to uphold female propriety and bourgeois domesticity [...]“251. Die Sprache der religiös aufgeladenen, an Geschlechtervorstellungen geknüpften Natürlichkeit findet sich auch in der Debatte von 1922 wieder, wenn beispielsweise der Star am Ende des Streits den Rückzug der UdeM als „final seal upon the sanctity of Mount Royal Park“ deutet und zufrieden ist, dass eine „violation“ des Parks verhindert wurde.252 Gleichzeitig dürfen wirtschaftliche Motive nicht unterschätzt werden. Unbebautes, langfristig vor Bebauung geschütztes Land steigerte den Wert der angrenzenden Grundstücke deutlich. Die gesamte Square Mile profitierte auch in dieser Hinsicht von der exklusiven Lage am Park.253 Dass die anglophonen Mittel- und Oberschichten dabei ausgerechnet hier an einer Raumform festhielten, die in den 1920er Jahren nicht mehr das Neueste im Urbanismus war, passt gut ins Bild: Der Typus des Landschaftsparks, wie ihn der Parc Mont-Royal darstellte, entstammte der Zeit ihrer eigenen gesellschaftlichen Hochphase des späten 19. Jahrhunderts. In ihren Untersuchungen zum Parksystem in Montreal hat Michèle Dagenais darauf hingewiesen, dass der klassische Landschaftspark im frühen 20. Jahrhundert nach und nach von einem anderen Parkkonzept abgelöst 250 Vgl. auch Kalfus, Frederick Law Olmsted, 295–96: „The great, pastoral urban parks, then, would be family life writ large.“ Allerdings interpretiert Kalfus die Rolle von Weiblichkeit im Naturverständnis Olmsteds psychoanalytisch dahingehend, dass die Natur für Olmsted die „idealized mother“ darstellte; auf das Bild der ehrenhaften Lady geht er nicht ein. Zur „purification“ von Orten mittels Ritualen in quasi-religiöser Weise Chidester and Linenthal, „Introduction“, 2–16; Schmidt, „Domesticating Parks“, 18–48. 251 Ebd., 183. 252 „Mount Royal Park Saved“, in: Star 14.2.1924. Dieselbe Sprache findet sich auch in „People’s Playground is Taken from People by Aldermanic Trick“, in: The Axe 30.6.1922; „profanation“ gehört auch zum Diskurs, vgl. „Again Deferred“, in: Herald 9.10.1905. 253 Julia Gersovitz, „The Square Mile, Montreal, 1860–1914“ (M.Sc. Columbia University, 1980), 62.

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wurde, das sich in den 1920er Jahren definitiv durchsetzte, dem sogenannten neighborhood park.254 Ästhetisierende Naturanlagen zur passiven Kontemplation wurden von funktionaleren, oft formal strenger angelegten rekreativen Flächen verdrängt, die aktive Freizeitbeschäftigung förderten. Passend zu den urbanistischen Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts verschob sich, so Dagenais, der Akzent in der Parkplanung von der Ästhetik zum Funktionalismus. Ein kleinerer Park für jedes Viertel entsprach auch viel eher dem Geist des zoning, der durch die 1920er Jahre wehte, kam er doch einer Art sektionalem containment der jeweiligen Einwohner gleich. Das Streben nach gesellschaftlicher Ordnung nahm hier lediglich eine andere Form an als in den großen Landschaftsparks. Die neuen Auffassungen von Freizeit gingen auch am Parc MontRoyal nicht spurlos vorüber: Das an die umstrittenen Sektionen A und B grenzende Fletcher’s Field erfüllte die Funktion eines gut erreichbaren, mit Spiel- und Sportmöglichkeiten versehenen neighborhood park. Auch die MPPA hing in den 1920ern dem Konzept der kleineren, lokalen Parks an. Beim Parc Mont-Royal aber hielt sie an jedem, auch von der Bevölkerung wenig genutzten Zentimeter des klassischen Landschaftsparks fest, weil es ihr Park par excellence war. Das zeigt zum einen, dass die in der Forschung oft propagierte Dichotomie zwischen den Konzepten des 19. und des 20. Jahrhunderts, zwischen der Gestaltung nach ästhetischen und nach funktional-rekreativen Kritierien zu relativieren ist; die gleichen Akteure konnten für unterschiedliche locations situationsgebunden andere Konzepte vertreten, sie schlossen sich nicht per definitionem aus.255 Zum anderen wird deutlich, dass der Parc Mont-Royal als territoriale Erweiterung des wohlhabenden anglophonen Wohnviertels all das repräsentierte, wofür auch die Golden Square Mile stand und so über die oben aufgezeigten Bedeutungen des klassischen Landschaftsparks hinaus eine spezifisch lokale, in der imagination urbaine Montreals verankerte Bedeutung erlangte, die zudem mit dem allgemeinen Symbolcharakter des Berges verschmolz. Der gesamte Mont Royal erhielt den Beigeschmack des Anglophon-Elitären: „The Mountain became an exten254 Darunter wurden kleinere Parks in den jeweiligen Stadtvierteln verstanden, die mit Spielplätzen, Sportfeldern und Picknickmöglichkeiten für die lokale community ausgestattet waren. Vgl. Dagenais, „Inscrire le pouvoir municipal dans l’espace urbain“, 355– 58; Laplante, Les parcs de Montréal, 70–71; kritische Analyse des Konzepts bei Schmidt, „Domesticating Parks“, 61–83. Cranz, Politics of Park Design, 80–99 fasst dieses Parkkonzept unter dem Oberbegriff des reform park, den er im Zeitraum von 1900 bis 1930 verortet. 255 Cranz, Politics of Park Design, trennt m. E. zu stark zwischen dem Landschaftspark des 19. Jhs und dem reform park des frühen 20. Jhs. Lediglich letzteren ordnet er der progressivistischen Reformbewegung aufgrund der Rolle des organisierten Spiels zu, was aber die auch dem pleasure ground des 19. Jhs zugrundeliegenden Ideen wie etwa der Verbesserung des Menschen durch die Natur ignoriert und einen überspitzten Gegensatz aufbaut, ähnlich Scobey, Empire City, 267, der diese Dichotomie als Victorian vs Progressive zu fassen sucht.

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sion of the Square Mile, where the wealthy could retreat from their increasingly urban environment [...].“256 Obwohl die umstrittenen Sektionen A und B eher am nordöstlichen als am östlichen Hang des Parks lagen und viele wohlhabende Anglophone in den 1920er Jahren bereits weiter nach Westmount gezogen waren, gehörten diese Grundstücke damit in der mental map der anglo-protestantischen Oberschichten zu ihrem Einzugsgebiet, das auf ihre machtvolle Vergangenheit wies.257 Dies war anglophones Territorium, und eine franko-katholische Bildungsinstitution war darin nicht erwünscht. Hinzu kam noch die Tatsache, dass es sich bei der UdeM ausgerechnet um eine Universität handelte. Denn die anglophone Eliteuniversität McGill, eine der zentralen anglo-protestantischen Institutionen, war prominent am Südosthang des Mont Royal gelegen. 1821 gegründet, stellte sie eine zentrale Institution im Netzwerk der Square Milers dar, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dank großzügiger finanzieller Unterstützung seitens der anglophonen Oberschichten einen Aufschwung erlebt hatte.258 Die UdeM hätte zwar weniger eine faktische Konkurrenz bedeutet – die Universitäten bedienten nicht dieselbe Klientel – aber doch den Aufstieg und den Führungsanspruch der franko-katholischen Oberschichten in nächster räumlicher Nähe versinnbildlicht; sie wäre so in der mentalen räumlichen Hierarchie mit McGill gleichgezogen. Vielleicht könnte dies auch erklären, warum der Rektor der UdeM in seiner ursprünglichen Anfrage an die Stadt gerade um ein Grundstück am Osthang gebeten hatte. Die Institution, in der eine neue frankophone Elite herangezogen werden sollte, wäre somit nicht nur am symbolträchtigen Mont Royal zu Hause gewesen, sondern auch noch an dem Hang, der traditionell anglophon besetzt war und für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Erfolgsgeschichte der AngloProtestanten in Montreal stand. Indem die Universität mit einem Stück des Parks am Berg liebäugelte, traf sie einen neuralgischen Ort in der Selbstwahrnehmung der anglo-protestantischen Elite. In den mental maps wirkten damit Mont Royal und die ihn belegenden gesellschaftlichen Gruppen in einer reziproken Bewegung aufeinander. Der Mont Royal repräsentierte Macht und Ansehen in der Stadt, folglich war es Ausdruck der eigenen Macht, dort präsent zu sein. Die Bedeutungen des Stadtraums konnten auf die Akteure übertragen werden, die ihn als den ihren beanspruchten. Der Raum trug dazu bei, eine Gruppenidentität herauszubilden. Im Gegenzug markierte die lange Tradition anglo-protestantischer Elitenpräsenz an der Süd- und Südostseite des Mont Royal diesen Teil des Berges als spezifisch anglophon und (re-)produzierte ihn damit als 256 Gersovitz, „The Square Mile“, 62. 257 Vgl. MacLeod, „Salubrious Settings“, 180–81. 258 Vgl. Linteau, Histoire de Montréal, 238. Geschichte der Universität, wenngleich aus interner Sicht, bei Stanley Brice Frost, McGill University for the Advancement of Learning (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 1984), vol. II: 1895–1971.

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anglo-protestantisches Oberschichtenterritorium, was wiederum aufgrund der herausragenden gesellschaftlichen Stellung der anglophonen Elite den Mont Royal mit machtvollen Positionen assoziierte.259 In einer Art Dreieckskonstellation verschmolzen in den urbanen Imaginationen anglo-protestantische Oberschicht, kulturelle und politische Hegemonie und ein großer Teil des Mont Royal. Die Leitung der UdeM und die anglophonen Parkanhänger scheinen sich folglich in denselben mental maps bewegt zu haben, in denen der Mont Royal als prestigeträchtig und die Parkseiten als sein Herzstück markiert waren. Schließlich hätte die UdeM mit einem Neubau im weitgehend frankophonen Osten der Stadt ja auch ein Signal gesetzt, vielleicht sogar ein noch stärkeres und selbstbewussteres. Ihre Präsenz hätte dazu beitragen können, die Stadtteile aufzuwerten und möglicherweise in der imagination urbaine neu zu gewichten. Ganz abwegig ist diese Überlegung nicht. Außer den Einwohnern des St-Jean ward, die dem Abgeordneten Mongeon gegenüber die Meinung vertreten hatten, die UdeM solle da bleiben, wo sie schon immer war, polemisierte die nationalistische Zeitung Le Devoir heftig gegen einen Campus am Berg.260 Daher muss innerhalb des franko-katholischen Milieus differenziert werden. Die radikaleren frankokanadischen Nationalisten grenzten stärker als die Führungsebene der UdeM oder die Lokalpolitiker aus dem Stadtrat Frankokanadier von Anglokanadiern ab. Die Zeitung L’Ère nouvelle stichelte angesichts der Pläne, bei D zu bauen, man wolle mit dem Geld der Frankokanadier aus dem Osten dem Westen ein schönes Monument schenken.261 Hinter den zwei Standortvorlieben steckte eine unterschiedliche Perzeption des Mont Royal. Offenbar nahmen ihn die Autoritäten der UdeM als stadtweites Symbol der Macht wahr, das als historisch angestammter Ort der Franko-Katholiken beansprucht werden konnte. Die Nationalisten hingegen sahen ihn als anglophonen Raum inmitten von anglophonem Territorium im Wes259 Theoretische Überlegungen zum Wechselspiel von Raum- und Identitätskonstruktionen bei Michael Keith and Steve Pile (eds), Place and the Politics of Identity (London: Routledge, 1993), 9; Guntram Herb, „National Identity and Territory“, in: Herb and David H. Kaplan (eds), Nested Identities: Nationalism, Territory and Scale (Lanham: Rowman & Littlefield, 1999), 17. Shields, Places on the Margin, 22 bezeichnet diesen Zusammenhang in Anlehnung an Roland Barthes, „Éléments de sémiologie“, in: Communications 4 (1986), 106 als „universal semantisation of usage“: „Objects acquire symbolic status signifying not only their function but also the context of their use, the social relations through which they are used or operated, and the people who commonly use a given object may come to be associated with it and it with them.“ Dies ist auf Orte übertragbar. 260 „L’Université de Montréal: Une solution pratique pour la tirer de ses embarras“, in: Le Devoir 6.2.1933. 261 „Marions toutes nos filles chez nous“, in: L’Ère nouvelle s.d., DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #431; ähnlich „L’Université catholique et française de Montréal au sein de la population catholique et française“, in: L’Ère nouvelle 24.10.1926, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #427.

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ten der Stadt, auch wenn die Stadtteile bei Grundstück D eher frankophon waren.262 Dorthin zu streben, hätte bedeutet, die Besonderheit dieser anglophonen Sektion anzuerkennen. In ihrem mentalen Stadtplan war die Ost-West-Dichotomie prägender als die historische Bedeutung des Mont Royal mit ihren symbolischen Implikationen, prägender auch als die siedlungsstatistischen Fakten. Folglich sahen sie eine größere Machtdemonstration darin, dem Berg etwas Gleichwertiges, Anderes entgegegenzusetzen – und zwar im Ostteil der Stadt. Möglicherweise waren hier gerade im Licht der Konkurrenz zwischen anglo-protestantischen und franko-katholischen Oberschichten die etablierten führenden Zirkel der Stadt für die Bedeutungen des Mont Royal empfänglicher als der Montrealer Durchschnittsbürger oder vor allem die aufstrebenden frankokanadischen Nationalisten. Denn die zwei Standortvorlieben lassen letztlich auch auf zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen über die Art und Weise schließen, in der die Stellung der Frankokanadier in Montreal verbessert werden sollte. Entweder zielte man auf eine Art „rattrapage“, um einen Slogan der Liberalen der 1960er Jahre vorwegzunehmen, der die grundlegende Akzeptanz des Gesellschaftssystems implizierte und die Macht der Frankophonen innerhalb dieses Systems zu erweitern suchte. Fernande Roy hat diese Haltung für das von ihr untersuchte frankophone milieu des affaires in Wirtschaftsfragen herausgearbeitet: „Plutôt que d‘envier les anglophones ou de les mépriser, il faut, au contraire, les imiter.“263 Während also die Autoritäten der UdeM oder die frankophonen Politiker mit den Anglophonen gleichziehen und den Mont Royal belegen wollten, erschien dies den radikaleren frankokanadischen Nationalisten als Nachahmung, die das Gesellschaftssystem lediglich perpetuieren würde und dem etwas Eigenes entgegenzusetzen sei. Grundlegende Vorstellungen von Gesellschaftsordnung und gesellschaftlichen Brüchen führten zu Variationen der urbanen mental maps und schlugen sich auf diesem Weg in divergierenden Positionen im lokalpolitischen, städtebaulichen Alltagsgeschäft nieder. Vorne, im Zentrum und oben sein

Zusätzlich zu dem, was der Parkteil des Berges aufgrund seiner historischen und räumlichen Verwurzelung in der Golden Square Mile repräsentierte – den Erfolg einer anglo-protestantischen Elite – transportierte er noch eine weitere Bedeutung: Er wurde als ‚vorne am Berg‘ gedacht, wohingegen die Nordseite ‚hinter‘ dem Mont Royal lag.264 Unter der Schlagzeile „Mount Royal Park Saved“ verkündete der Star seinen Lesern im Februar 1924 erleichtert, die UdeM würde ihren Campus nun „at 262 Zeitungsartikel „L’Université de Montréal: Les raisons qui motivent la construction au Mont-Royal“, in: s.n. 21.10.1926, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #421. 263 Roy, Progrès, harmonie, liberté, 243. 264 „Behind the mountain“ bei W. Ormiston Roy, „Hands Off Mount Royal Park!“, Letter to the Editor, in: Star 31.5.1922.

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the rear of the Mountain“ errichten.265 In der hitzigsten Phase des Streits verteidigten sich die von der anglophonen Presse angegriffenen Stadträte mit der Begründung, sie hätten fälschlicherweise gedacht, das zur Debatte stehende Land sei hinter dem Berg. „I was under the impression that it was way back of the mountain and had no idea that it was facing Park avenue“266, gab Alderman Gabias entschuldigend zu Protokoll. Zwar wurde kaum explizit von der ‘Vorderseite’ gesprochen, aber die umstrittene Seite wurde klar als Gegensatz zur hinteren Bergseite gedacht. Diese dichotomische, ,vorne‘ und ,hinten‘ definierende Wahrnehmung der räumlichen Orientierung des Berges setzte eine bestimmte Perspektive voraus. Referenzpunkt war die Stadt, wie sie sich vom südöstlich des Mont Royal am Fluss gelegenen Vieux-Montréal ausgehend im Laufe der Jahrhunderte erweitert hatte (Abb. 20). Die der historischen Stadt zugewandte Seite des Berges galt als Vorderseite des Berges, was zur Wahrnehmung des Verhältnisses von Berg und Stadt passt, wie sie in den eingangs herangezogenen Stadtbeschreibungen und Reiseführern zum Audruck kam. Dort wurde die Stadt meist mittels ihrer Lage vor dem Mont Royal charakterisiert, der als Hintergrund fungierte. So wie die Stadt kaum ohne Verweis auf den Mont Royal beschrieben wurde, so wurde der Mont Royal räumlich nicht unabhängig von der Stadt gedacht, was die enge und reziproke Beziehung zwischen Stadt und Berg noch einmal hervorhebt. „Back of the mountain“ war dabei keine wertfreie Beschreibung, denn sie weist auf ein Zentrum hin, von dem aus gedacht wurde. Der umstrittene site an der vorderen Bergseite wurde nämlich als „in the centre of this cosmopolitan city“267 verortet. Vorne am Berg bedeutete also, im Verhältnis zur Stadt zentral gelegen zu sein, während „back of the mountain“ irgendwo an der Peripherie in agrarisches québécois Niemandsland mündete. Im Streit von 1922 ging es eben auch darum, im Zentrum zu sein. Wörtlicher geographischer und übertragener gesellschaftlicher Sinn verschmolzen dabei. Studien wie der Klassiker zum Thema „space/place“ von Yi-Fu Tuan haben die Prestigeträchtigkeit des Zentrums, der Zentralität, als menschliche Konstante ausgemacht und auf die Zentrierung des Menschen in seinem Körper und die davon ausgehende Organisation des Raums um den Körper herum zurückgeführt. Weitergedacht und in den historischen Kontext einer Stadt übertragen, ergibt sich daraus die Frage nach der im städtischen Diskurs dominierenden Perspektive.268 Bemerkenswert ist, dass die Perzeption von „back of the mountain“ auch in den 1920ern noch vorherrschte, obwohl die besiedelten Ge265 266 267 268

„Mount Royal Park Saved“, in: Star 14.2.1924. „Proposed New Site for Université de Montréal“, in: Star 31.5.1922. „The French Press: The University Site – A Quebec View“, in: Gazette 5.7.1922. Tuan, Space and Place, 38. Tuans Arbeit läuft die Gefahr, das Streben nach Zentralität zu essentialisieren und losgelöst von kulturellen Bedingungen zu betrachten. Henri Lefebvre hingegen hat das Prestige von „centrality“ historisiert und im Kontext der westlichen bürgerlichen Gesellschaft verortet, s. Charles S. Maier, „Consigning the Twentieth

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Abb. 20  Stadtplan von Montreal, 1890. Erst im Laufe des 19. Jhs dehnte sich die Stadt vom am Fluss gelegenen Vieux-Montréal in Richtung Mont Royal aus.

biete nach und nach den Berg umschlossen (vgl. Abb. 7). Mit Mount Royal Town und Hampstead waren im Zuge der Suburbanisierung wohlhabende anglophone Vororte dort gebaut worden, wenngleich sie administrativ nicht zur Stadt Montreal gehörten. Notre-Dame-des-Neiges war 1908 von Montreal annektiert worden. Zu der Zeit noch ländlich, urbanisierte sich der Sektor seit Mitte der 1910er und vor allem in den 1920er Jahren.269 Das Stadtzentrum im engeren Sinne eines Central Business District befand sich zwar an der Rue Ste-Catherine, und zur Idee der suburbs gehörte per definitionem die Entfernung von Stadtzentrum und die Lage an deren Peripherie.270 Aber faktisch war ‚hinter dem Berg‘ nicht mehr nur das in die typischen länglichen Felder geteilte Quebecer Agrarland, sondern städtisches Territorium mit Straßen und aus-

Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 ( June 2000), 821. 269 Jacobs, „La Montagne magique“, 48. 270 Zum Montrealer CBD Gunter Gad, „Downtown Montreal and Toronto: Distinct Places with Much in Common“, in: Canadian Journal of Regional Science/Revue canadienne de sciences régionales 23:1-2 (1999), 143–70.

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gelegten Grundstücken, auch wenn es teilweise noch dünn besiedelt war.271 In der imagination urbaine Montreals lag dennoch weiterhin die anglo-protestantisch konnotierte Parkseite vorne am Mont Royal. Die mentalen Karten der Stadt scheinen mit den urbanistischen Veränderungen nicht Schritt gehalten zu haben. Stärker als von der faktischen Entwicklung der Stadt waren sie von der Perspektive des Betrachters abhängig. Diejenigen, die „centre“ und „back of the mountain“ in diesem Sinne gegeneinander ausspielten, waren wohl in den süd- und südöstlich des Berges gelegenen Vierteln zu Hause, oder dachten das Zentrum sehr eingegrenzt als den traditionell von der anglophonen Wirtschaftselite dominierten Central Business District. Solche geographischen Zuordnungen sind nicht als naturgegeben und faktisch-objektiv zu betrachten, sondern als Setzungen, in denen die Wertigkeit des Raumes aus dem Blickwinkel des Betrachters mitschwingt und gleichzeitig Identität konstruiert wird. Peripherien mentaler Landkarten, in der kulturgeographischen Forschung bisweilen als „marginal spaces“ bezeichnet, mussten nicht immer auch tatsächlich geographisch peripher gelegen sein: „[…] they have been placed on the periphery of cultural systems of space in which places are ranked relative to each other.“272 Dass auch ganz andere Sichtweisen der Orientierung des Mont Royal existierten, zeigt etwa das Beispiel eines Montrealer Reiseführers des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Verfasser Leblond de Brumath lokalisierte darin „Outremont, au pied de la montagne; Westmount, de l’autre côté de la montagne [...]“273. Damit verschob er die bisher skizzierte Perspektive um 90° und verlagerte Westmount, den nach Westen an die Golden Square Mile anschließenden, wohlhabenden anglophonen Vorort, auf die ‚andere‘ Seite des Berges, wohingegen er Outremont – dem Namen und der dominierenden Perspektive gemäß ‚jenseits‘ des Mont Royal – zu dessen Füßen lokalisierte. Diese Blickweise vom Osten der Stadt her blieb jedoch eine Ausnahme. Möglicherweise wirkte auch die Bedeutung, die die am Südhang liegenden Stadtteile in der Geschichte Montreals erlangt hatten, auf die räumliche Wahrnehmung zurück: Wo die anglophone Elite zu Hause war, das konnte nur als ‚vorne‘ und ‚Zentrum‘ gedacht werden. Traditionelle Strukturen der mental map, die den Berg aus der Perspektive der anglophon do-

271 Linteau, Histoire de Montréal, 364; Gratton, Roger et al. (eds), Pignon sur rue: Les quartiers de Montréal (Montréal: Guérin, 1991), 202. 272 Shields, Places on the Margin, 3–4. Dieses Prinzip der Oppositionen prägte zu einem großen Teil das geographische Denken, wie Susan Schulten, The Geographical Imagination in America, 1880–1950 (Chicago: University of Chicago Press, 2001), 117, gezeigt hat. In der Geographie wurde häufig die Identität des Lokalen aus der Kontrastierung zum Entfernten konstruiert; beides erlangte nur in Abgrenzung zum anderen Bedeutung. Zur geographischen Konstruktion des Lokalen und des Anderen, Entfernten vgl. Edward Said, Orientalism (New York: Vintage Books, 1979), v. a. 71–72. 273 Leblond De Brumath, Guide de Montréal, 81.

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minierten Stadt des 19. Jahrhunderts, von ihren wirtschaftlichen und residentiellen Zentren her werteten, wirkten über ihren historischen Entstehungskontext hinaus.274 Da es sich beim Mont Royal um einen Berg handelte, kam eine weitere räumliche Dimension hinzu. Gesellschaftliche Hierarchien, oben und unten, konnten sich im Stadtraum abbilden und wurden auch durch diese binären geographischen Oppositionen weiter zementiert, sowohl Raum als auch soziale Konstellationen durch sie strukturiert und geordnet.275 Auf den gesellschaftlich-kulturellen Bereich übertragen, wurden die Begriffe „low“ und peripher/marginal dabei ebenso wie ihre Gegenstücke „high“ und zentral häufig ineinandergeblendet: „The social definition of marginal places and spaces is intimately linked with the categorisation of objects, practices, ideas and modes of social interaction as belonging to the ‘Low culture’, the culture of marginal places and spaces, the culture of the marginalised.“276 Obwohl sie letztlich ,hinter‘ dem Berg bauten, sprachen die Autoritäten der UdeM dementsprechend dezidiert von ihrem Campus als „là-haut“277. Wenn sie auch ‚hinten‘ waren, so waren sie zumindest ‚oben‘. Wer sich gar am vorderen Hang des Mont Royal etablieren konnte, war dagegen ‚vorne‘, ‚oben‘ und im Zentrum. Er erhob sich visuell sichtbar über der Stadt – und beherrschte den Raum der Stadt zu seinen Füßen.278 Die fortbestehende Perzeption der geographischen Anordnung von Mont Royal und Stadt prägte das Konfliktverhalten im Streit um den Campus. Als die UdeM beschloss, ‚hinten‘ an den Berg zu ziehen, protestierte keiner, da das Grundstück am alten Steinbruch „back of the mountain“ und damit an der Peripherie der mental map Montreals lag. Letztendlich strebte auch die UdeM danach, zentral lokalisiert zu sein. Im Gegensatz zu ihren Kontrahenten wies die Leitung der Universität aber eine größere Flexibilität im Denken von sich wandelnden Stadtstrukturen auf. Die Situation des neuen Campus „en fera tôt ou tard, et cela avant longtemps, le centre de cette ville“279, verkündete der directeur des études der medizinischen Fakultät Dr. 274 Shields, Places on the Margin, 47 fasst diesen Zusammenhang wie folgt: „Places and spaces are hypostatised from the world of real space relations to the symbolic realm of cultural significations. Traces of these cultural place-images are also left behind in the litter of historical popular cultures: postcards, advertising images, song lyrics and in the setting of novels. These images connected with a place may even come to be held as signifiers of its essential character. Such a label further impacts on material activities and may be clung to despite changes in the ‘real’ nature of the site.“ 275 Zum Zusammenspiel von „high and low“ als grundlegende Struktur von Sinn- und Ordnungsstiftung in europäischen Kulturen Shields, Places on the Margin, 4. 276 Ders., 4–5. Zu Strategien der simultanen Definition des Anderen, am Rande der Zivilisation Befindlichen als „low“ und „marginal“ Said, Orientalism. 277 „La question de l’Université“, in: Le Devoir 14.11.1931. 278 Tuan, Space and Place, 37–38. Das Gegenstück zum Mont Royal stellte die „City Below the Hill“ dar, vgl. Ames, City Below the Hill. 279 „La question de l’Université“, in: Le Devoir 14.11.1931.

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T. Parizeau 1931. Gleichzeitig mag das ein Versuch gewesen sein, aus der Not eine Tugend zu machen, die Zentralität der eigenen Stellung im Stadtraum von Montreal diskursiv herbeizubeschwören und die imagination urbaine der Stadt zu den eigenen Gunsten zu verschieben. In der Tat gab der Bau der Universität am Nordhang des Mont Royal diesen Stadtteilen in den 1930er und 40er Jahren einen entscheidenden Urbanisierungsimpuls.280 1.3.2  Die Territorien des Mont Royal in der Lokalpolitik: Entscheidungen

Eine franko-katholische Universität am Hang des Mont Royal auf einem Stück Park zentral über der Stadt thronend, das war für die anglophonen Mittel- und Oberschichten wohl einfach eine Zumutung. Dennoch blieben sie sehr vorsichtig in ihrer Kritik an der UdeM. Man war sichtlich bemüht, den Eindruck eines inter-ethnischen Konfliktes zu vermeiden. Ihre Polemik richtete sich daher in der Öffentlichkeit gegen den Stadtrat, den sie viel schärfer angriffen als die Universität selbst. Dabei konnten sie die angebliche Dichotomie zwischen öffentlichem und privatem Interesse rhetorisch wirksam einsetzen und sie, wie auch in den weiter oben skizzierten indirekten Spitzen gegen die Universität, zum Kern des Konfliktes stilisieren. Schuld am ganzen Aufruhr, so betonten sie, waren die Stadträte, die mit dem öffentlichen, ihnen anvertrauten Land gedankenlos umgingen und es privaten Interessen zukommen ließen. Der MLCW polemisierte, ‚Stadtväter‘ seien diese nur auf dem Papier.281 Zudem lenkten die Protestierenden so nicht nur von möglichen eigenen Interessen ab, sondern warfen den Abgeordneten vor, durch die Landschenkung überhaupt erst einen Antagonismus zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen in der Stadt zu provozieren282 – womit sie allerdings auch implizit eingestanden, dass es hier tatsächlich um widerstreitende Interessen zwischen Sektionen der Bevölkerung ging und nicht um den vielbemühten Konflikt private vs public interest. In emotionsgeladener Weise griff die anglophone Presse diese Rhetorik auf. Die Überschrift „People’s Playground Is Taken from People by Aldermanic Trick“283 etwa legte in reißerischer Form einen Gegensatz zwischen den – angeblich in einer Einheitsfront vereinten – Einwohnern Montreals und ihren Repräsentanten, dem Stadtrat, nahe. Dabei wurde den Stadträten nicht nur vorgeworfen, private Interessen über das öffentliche Wohl zu set280 Jacobs, „La Montagne magique“, 48. 281 „Women Will Protest Against Giving Away Part of Mount Royal“, in: Gazette 5.7.1922. 282 Anna Lyman, President of the Montreal Local Council of Women and Convener of the Special Committee, Petition an die Commission Administrative de l’Université de Montréal, s.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence, 1917–1924“. Auch Allan L. Smith, „The University Site“, Letter to the Editior, in: Gazette 10.7.1922. 283 „People’s Playground is Taken from People by Aldermanic Trick“, in: The Axe 30.6.1922.

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zen und Differenzen zwischen den Bürgern der Stadt hervorzurufen, sondern auch persönliche Ziele zu verfolgen. Besonders ins Kreuzfeuer geriet Alderman Brodeur, der Vorsitzende des Comité Exécutif, der die Landabgabe zur positiven Abstimmung empfohlen hatte. Andere mögliche Konfliktstellungen, gar Fragmentierungen des „people“ von Montreal oder Bruchlinien innerhalb der politischen Organe wurden dadurch in den Hintergrund gedrängt. Im Folgenden soll der Entscheidungsprozess im Stadtrat nachgezeichnet und näher untersucht werden. Welche Positionen gab es, und mit welchen Interessen hingen sie zusammen? Zog sich die anglo-frankophone Konkurrenzlinie bezüglich des Mont Royal auch durch dieses Gremium? Welche Faktoren wirkten auf den Entscheidungsprozess ein? Wie funktionierte letztlich die politische Entscheidungsfindung über die Verwendung eines öffentlichen Raumes, der mehrschichtige Bedeutungen transportierte? Die Protokolle der Sitzungen, die hier als Quellen dienen, geben keinerlei Aufschluss über die Motivationen der einzelnen Abgeordneten, sondern halten lediglich ihre Anträge und die jeweiligen Abstimmungsergebnisse fest.284 Daran lassen sich aber zwei chronologisch aufeinanderfolgende Frontstellungen beobachten: die eine innerhalb der frankophonen Abgeordneten vor dem Beschluss vom 22. Mai 1922, die Grundstücke A, B und D tatsächlich zu verschenken, und eine zweite Frontstellung zwischen Anglophonen und Frankophonen nach diesem Beschluss. Innerfrankophone Differenzen

Zwischen März und Ende Juni 1922 beschäftigte sich der Stadtrat mehrmals mit der Landschenkung an die UdeM. Innerhalb dieses Zeitraums fiel der Entschluss, der Universität die gewünschten Sektionen abzutreten; nach den darauffolgenden Protesten wurde das Thema erneut debattiert. Als sich der Stadtrat am 27. März 1922 zum ersten Mal mit der geplanten Schenkung befasste, war bereits ein halbes Jahr verstrichen, seit die Delegation der UdeM um die später so umstrittenen Sektionen A und B gebeten hatte.285 Die Abgeordneten Damase Généreux und Jean-Baptiste Rochon brachten in dieser Sitzung den Antrag ein, das Comité Exécutif solle untersuchen, ob es nicht besser sei, statt des gewünschten Landes der UdeM ein Grundstück „bounded by Bellingham and Maplewood avenues“ abzutreten. Der Vorteil von diesem Grundstück sei, dass die Universität es durch den Ankauf von angrenzendem Land nach Belieben erweitern könne. Dies ist die erste Erwähnung der später „D“ genannten Sektion in Notre-Dame-des-Neiges am alten Steinbruch. Aus den Sit284 Daher lassen sich zwar die Fragen, die die Lokalpolitik bewegten, herausschälen, allerdings muss vorsichtig versucht werden, herauszuarbeiten, welche Interessen die jeweiligen Abgeordneten vertraten. Zu dieser methodischen Herausforderung vgl. Dagenais, „Vie culturelle et pouvoirs locaux“, 44. 285 Extrait du procès verbal d’une assemblée de la Commission Adminsitrative, 26.9.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705.

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zungsprotokollen geht hervor, dass sich allerdings sofort Widerstand gegen diesen Vorschlag regte. Der Abgeordnete Arthur Vaillancourt beantragte, die Debatte zu verschieben, zog seinen Einwand später aber wieder zurück, woraufhin Bürgermeister Martin einsprang und den Antrag von Généreux und Rochon für „out of order“ erklärte: Die Legislatur sehe vor, der UdeM ein Stück städtisches Parkland zu schenken, das ihr reichen sollte; Enteignungen anderer Landbesitzer wären zu vermeiden.286 Am 4. April 1922 brachten die beiden Abgeordneten erneut ihren Antrag ein.287 Diesmal setzten sich die beiden durch, und der Stadtrat erhielt am 22. Mai den Bericht des von Brodeur präsidierten Comité Exécutif, welches empfahl, der Universität sowohl Grundstück D, als auch A und B abzutreten.288 In einer Sondersitzung am selben Tag stimmte der Stadtrat diesem Vorschlag auf Antrag von Généreux und Rochon ohne große Diskussion zu.289 Hier lässt sich folglich eine erste Konfliktlinie innerhalb des City Council ausmachen, und zwar zwischen denen, die die UdeM lieber ‚hinten‘ am Berg sehen wollten, und denen, die das ‚vordere‘ Grundstück bevorzugten. Allerdings wurde dieser potentielle Konflikt durch die Empfehlung Brodeurs, beide Areale abzutreten, vermieden. Über die Beweggründe der Abgeordneten kann nur spekuliert werden. Warum waren Généreux und Rochon für D? Waren sie etwa dagegen, die Universität am prestigeträchtigen, zentraleren Osthang bauen zu lassen? Wohl kaum, denn Brodeurs Lösung, A, B und D abzutreten, war ein Kompromiss, der sowohl die Befürworter von D, Généreux und Rocher, als auch die D kritisch gegenüber eingestellten Vaillancourt und Martin zufriedenstellte. Daraus lässt sich schließen, dass beide Parteiungen weniger etwas gegen den jeweils anderen Ort hatten, als dass sie die UdeM unbedingt am von ihnen propagierten site lokalisiert wissen wollten. Grundsätzlich standen sie alle den Landschenkungen an die Universität positiv gegenüber. Die vor allem symbolischen Vorteile von A und B – der enorme Prestigegewinn, den ein Campus am Mont Royal und dazu noch an der traditionell anglophonen Seite für die Frankokanadier in Montreal bedeutet hätte – sind weiter oben ausführlich erläutert worden. Es verwundert also nicht, dass der frankokanadische Bürgermeister Martin an diesem Ort festhielt und in D keine adäquate Alternative sah. Als Bürgermeister dachte Martin stadtweit im Interesse der Frankokanadier. Und als eingefleischter Populist versuchte er ohnehin, ein möglichst breites Wahlpublikum zu erreichen, was ihm wohl am ehesten über eine postulierte Einheit aller Frankophonen der Stadt gelingen konnte. Martin wusste vermutlich genau, wie man einen Konflikt zwischen den beiden ethnischen Hauptgruppen der Stadt wahltechnisch wirkungsvoll instrumentalisierte, welche die 286 Procès-verbal du Conseil, lundi 27 mars 1922, AVM, PVC, B35. 287 Procès-verbal du Conseil, mardi 4 avril 1922, AVM, PVC, B35. 288 Comité Exécutif, J. A. A. Brodeur Président, an Conseil de Ville de la Cité de Montréal, 22.5.1922, AVM, CRD, 3e série, #10705. 289 Procès-verbal du Conseil, lundi 22 mai 1922, AVM, PVC, B35.

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Macht der Symbole war und wie man den neuen Campus einer franko-katholischen Eliteuniversität an prominenter location propagandistisch einsetzen konnte. All das wog für ihn wohl mehr als ein Stückchen Parkland. Obendrein schien er davon auszugehen, dass die Sektion D durch Enteignungen erweitert werden müsste – die natürlich nicht gerade populär beim Wahlvolk gewesen wären. Der Abgeordnete Vaillancourt hingegen vertrat den Stadtteil Mercier, weit im Osten, östlich von Maisonneuve gelegen (vgl. Abb. 3).290 Eine Universität am Nordhang des Berges zu besuchen, wäre von diesem Stadtteil aus einer halben Weltreise gleichgekommen. Warum Rochon und Généreux der UdeM unbedingt Land in Notre-Dame-desNeiges schenken wollten, kann nur vermutet werden. Rochon repräsentierte den Stadtteil Mont-Royal, in dem das Grundstück D lag, und sah möglicherweise die Chance zur Aufwertung dieser Sektion durch die Universität. Généreux allerdings kam aus St-Jacques, dem traditionellen Viertel der UdeM (vgl. Abb. 3). Es ist unklar, warum er die Universität nicht eher in der Nähe wissen wollte. Anzunehmen ist, dass er ein weitgehend frankophones Publikum vertrat, das sich der geringen Größe des Parklandes am Osthang bewusst war und die Erweiterungschancen bei D erkannt hatte. Diese kleinen Meinungsdifferenzen bezüglich der Lokalisierung der UdeM unterstreichen, dass das in den öffentlichen Protesten sichtbar gewordene Schema franko-katholisch vs anglo-protestantisch hier zu kurz greift, waren doch alle erwähnten Abgeordneten sowie der Bürgermeister Frankokanadier. Keineswegs waren die Ansichten der Frankophonen homogen. „Den“ Stadtrat, der in der anglophonen Kritik so polemisch angegriffen wurde, gab es ebenfalls nicht. Jeder Abgeordnete versuchte, möglichst im Sinne von lokalen Interessen des von ihm vertretenen Viertels zu handeln. Diese konnten auch stärker sein als die Aussicht auf ein stadtweit frankonationalistisches Signal. Während der Bürgermeister eher die Repräsentation der Frankophonen allgemein, als deren Sprecher er sich sah, im Kopf hatte, so waren die Abgeordneten in ihren jeweiligen Stadtteilen verwurzelt. Dank des Vorschlags von Brodeur und dem Comité Exécutif wurde dieser kleine innerfrankophone Konflikt im Conseil jedoch relativ rasch beiseite gelegt. Sowohl A und B, als auch D abzutreten kann gewissermaßen als Versöhnungsplan gewertet werden, der beide Seiten hinter sich vereinte. Geschickt schaffte es hier das Comité Exécutif, die divergierenden Lokalinteressen der frankophonen Abgeordneten in Einklang zu bringen und die Einheit wiederherzustellen. Das allerdings deutet wiederum darauf hin, dass Ethnizität in diesem Konflikt auch im Stadtrat sehr wohl eine Rolle spielte. Keiner der hier erwähnten Akteure brachte grundsätzliche Bedenken gegen das Schenken der bedeutungsgeladenen Sek290 Zuordnung der Abgeordneten zu ihren Stadtteilen auch im Folgenden nach Ville de Montréal, Division des Archives, Les membres des conseils municipaux de 1900 à 1954, Zusammenstellung als pdf im Internet unter http://www2.ville.montreal.qc.ca/ archives/democratie/democratie_fr/expo/savoir-plus/index.shtm, Stand 10.1.07.

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tionen A und B ein; keiner argumentierte so, wie die anglophonen Protestgruppen es kurze Zeit später tun würden. Zwar versuchten die Abgeordneten, den größtmöglichen Vorteil für ihr Viertel herauszuschlagen, aber alle an diesen Meinungsverschiedenheiten Beteiligten waren damit einverstanden, die UdeM am symbolträchtigen Osthang des Mont Royal bauen zu lassen, egal welchen Stadtteil, welche Schichten sie repräsentierten; und sie alle waren frankophon. Einen Grundkonsens entlang ethnischer Linien scheint es auch im Stadtrat gegeben zu haben. Es überrascht daher nicht, dass sich in den Unterlagen der UdeM Dankesschreiben sowohl an den Urheber der Kompromisslösung, Brodeur, als auch an Généreux und Rochon finden.291 Anglo-Frankophone Differenzen?

Vor diesem Hintergrund könnte man erwarten, dass die anglophonen Abgeordneten des Stadtrats gegen den sehr großzügigen Lösungsvorschlag des Comité Exécutif Widerspruch einlegten. Doch der Antrag Brodeurs ging ohne jegliche Proteste durch.292 Waren die ethnischen Grenzen im Konflikt also doch nicht so klar abgesteckt? Schließlich protestierten ja auch nicht alle Montrealer anglophoner Herkunft gegen den Campus, sondern nur einige wenige Gruppen, die ein besonderes Interesse an der spezifischen Seite des Mont Royal hatten. Andererseits ließ sich aus der Analyse der Proteste erkennen, dass es sich sehr wohl um einen anglo-frankophonen Konflikt handelte, auch wenn er nur bestimmte Gruppierungen direkt berührte, genauer: innerhalb der Oberschichten ausgetragen wurde. Wo aber blieb dann der Einspruch der Repräsentanten dieser anglophonen Elite, die ein lokales Interesse an der Parkseite des Mont Royal hatte? Es scheint, als wären sie erst durch die öffentlichen Proteste wachgerüttelt worden. Hatten sie am 22. Mai den Antrag Brodeurs noch widerstandslos durchgewunken, so meldeten sie sich zu Wort, kaum dass erste kritische Artikel in der Presse erschienen waren.293 Ob die Abgeordneten den großzügigen Vorschlag des Comité Exécutif einfach nicht genau gelesen oder die in der Bevölkerung mit dem Mont Royal verbundenen Emotionen unterschätzt hatten, kann nicht definitiv gesagt werden. Jedenfalls reichte am 6. Juni der Abgeordnete John Jennings Creelman den Antrag ein, die Landabgabe zu überdenken, einen Antrag, den er am 26. Juni unterstützt von Louis Rubenstein erneut vorbrachte.294 In dieser Sitzung muss es recht hitzig zugegangen sein. Eine Diskussion entbrannte, und der Bürgermeister Martin „left the Chair“; Alderman Seybold leitete nun die Sitzung. Aufgrund weiterer Diskussionen führte Creelman sein Anliegen ausführlicher aus, 291 Alle Schreiben vom 29.5.1922, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #421. 292 Procès-verbal du Conseil, lundi 22 mai 1922, AVM, PVC, B35. 293 Etwa „Proposed New Site for Université de Montréal“, in: Star 31.5.1922; Allan L. Smith, „Mount Royal, the Property of the Poor“, Letter to the Editor, in: Gazette 5.6.1922. 294 Procès-verbal du Conseil, mardi 6 juin 1922, AVM, PVC, B35; Procès-verbal du Conseil, lundi 26 juin 1922, AVM, PVC, B35.

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wurde aber von Brodeur unterbrochen, der monierte, Creelman dürfe lediglich seine Beweggründe für den Antrag nennen, nicht aber darüber hinausgehen. Inwiefern er das getan hatte, geht aus dem Protokoll leider nicht hervor.295 Daraufhin nahm der Bürgermeister wieder den Vorsitz ein und erklärte Brodeurs „point of order“ für gültig, womit er Creelman indirekt zurechtwies. Eine Abstimmung beendete das Thema. Mit 28:6 Stimmen wurde der Antrag von Creelman/Rubenstein abgelehnt. Eine große Mehrheit war demzufolge nach wie vor dafür, dass die UdeM sowohl die Sektionen A und B des Parks als auch das Grundstück am ehemaligen Steinbruch in Notre-Dame-des-Neiges erhalten sollte.296 Die zweite Meinungsverschiedenheit im Stadtrat konfrontierte folglich Creelman und Rubenstein mit Brodeur und dem Bürgermeister, die von der Mehrheit unterstützt wurden. Creelman vertrat den wohlhabenden anglophonen Stadtteil St-André, auf dessen Gebiet der Park und die Grundstücke A und B lagen; seine Klientel waren die Protestierenden.297 Im Gegensatz zu Rochon im Stadtteil ‚hinter dem Berg‘ empfanden Creelman und die Anwohner des reichen St-André die Perspektive auf einen Campus der UdeM in ihrem Viertel nicht als Aufwertung. Rubenstein repräsentierte St-Laurent, den westlich des Boulevard St-Laurent gelegenen, eher ärmeren Stadtteil, in dem vorwiegend jüdische Einwanderer lebten (vgl. Abb. 3). Es ist anzunehmen, dass es ihm tatsächlich um die Spielfläche der Kinder dieses dicht besiedelten Viertels ging. Ein Blick auf das Abstimmungsergebnis zum Antrag von Creelman/Rubenstein legt die Koalitionen und Bruchlinien in dieser Frage weiter offen. Der Antrag, die Schenkung zu überdenken, wurde lediglich von vier weiteren Abgeordneten unterstützt: Lyon-W. Jacobs, Harold-Leroy Shaw, James Newton Drummond und Seybold. Shaw vertrat den Stadtteil St-Georges, der südöstlich an St-André grenzte und die alte Golden Square Mile umfasste. Ähnlich wie bei Creelman lassen sich hier die wohlhabenden anglophonen Interessen vermuten. Die anderen drei aber entstammten sehr unterschiedlichen Vierteln. Seybold vertrat Notre-Dame-de-Grâce (NDG), ein weit im Westen, jenseits von Westmount gelegenes Viertel der oberen Mittelschichten, in dem neben Anglokanadiern vorwiegend deutsche Einwanderer ansässig waren. Drummond kam aus Rosemont, einem Stadtteil im Nordosten, in dem Arbeiter und kleine Angestellte lebten, die teils einen französischen, teils britischen Hintergrund hatten – eines der wenigen Viertel im Osten der Stadt, das von einer beträchtlichen anglophonen Präsenz gekennzeichnet war aufgrund der anglophonen Arbeiter in den Angus Shops, den zum CPR gehörenden Eisenbahnfabriken. Jacobs schließlich vertrat St-Louis, ein Viertel, das das Herz des traditionellen Viertels der frankophonen Bourgeoisie, den Square St Louis 295 Ebd. 296 Ebd. 297 Creelman war Ende 1922 auch der einzige Abgeordnete, der sich gegen eine Tramlinie auf den Berg aussprach. „Small Percentage of Montreal’s People Go to Top of Mountain“, in: Standard 26.11.1922.

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umfasste, sich aber vorwiegend zwischen Rue St-Denis und um den Boulevard St-Laurent nach Norden in die italienischen und jüdischen Arbeiterviertel erstreckte (vgl. Abb. 3). Die drei letztgenannten standen dementsprechend nicht für die elitären anglophonen Interessen wie Creelman und Shaw. Für Jacobs spielten wahrscheinlich ähnliche Gründe eine Rolle wie für Rubenstein – der Parkbedarf für die dicht besiedelten inneren Viertel – aber die Motivationen von Seybold und Drummond bleiben unklar. Der Verdacht drängt sich auf, dass ihr Abstimmungsverhalten nichts direkt mit der Lokalisierung der UdeM im Verhältnis zu ihrem Stadtteil zu tun hatte, lagen doch sowohl NDG als auch Rosemont abseits von allen vorgeschlagenen Standorten. Es scheint eine klassenübergreifende Allianz von Abgeordneten gewesen zu sein, deren jeweilige Lokalinteressen ihnen diktierten, einen Campus der UdeM ‚vorne‘ am Berg zu verhindern. Jenseits von lokalen Interessen war diese Koalition primär dadurch geeint, dass sie nicht frankophon war. Ein Blick auf die Gegner des Antrags von Creelman/Rubenstein bestätigt das. Unter den 28 Befürwortern der großzügigen Schenkung fanden sich sämtliche frankophonen Abgeordneten: Turcot, Vandelac, Brodeur, Bédard, Desroches, Carmel, Sansregret, Daoust, Généreux, Langlois, Emond, Quintal, Gabias, Trépanier, Riel, Lalancette, Lalonde, Vaillancourt, Angrignon, Rochon, Gareau, Mongeon, Tessier, Jarry und Bray298, darunter einige traditionsreiche Montrealer Namen. Lediglich drei Abgeordnete waren nicht frankophon: Thomas O‘Connell, William James Hushion und Joseph Elie. Sie repräsentierten die primär irischen Arbeiterviertel des Westens der Stadt, in denen allerdings auch frankophone Arbeiter wohnten, respektive Ste-Anne, St-Joseph und St-Gabriel (vgl. Abb.  3). Eine stadtteil- und schichtenübergreifende, durch die Brodeursche Maximallösung geeinte frankophone Gruppe war folglich der Träger der Schenkung an die UdeM; unterstützt wurde sie von den ärmeren südwestlich gelegenen Stadtteilen. Anders als die Vertreter der inneren Einwandererviertel hatten diese wohl kein direktes Interesse am Parkland am Mont Royal, der sowieso außerhalb ihrer Reichweite lag. Möglicherweise wirkten hier konfessionelle Faktoren dahingehend, dass die primär irischen Arbeiterstadtteile das Wohl einer katholischen Eliteuniversität unterstützten. Die ethnischen Brüche wurden so in dieser Frage durch konfessionelle überlagert. Die Hauptbruchlinien im Stadtrat wurden folglich von Lokalinteressen bestimmt, die zum Teil von ethno-kulturellen Überlegungen informiert waren, etwa im Fall von Creelman. Diese divergierenden Lokalinteressen drückten sich auch in den innerfrankophonen Reibungen aus. Es scheint, als hätten die Abgeordneten primär in Stadtteilkategorien gedacht, deren Interessen sie bedienen mussten, um wiedergewählt zu werden. Erst wenn die Lokalinteressen zufriedengestellt waren, zogen die franko-katholischen Abgeordneten an einem Strang, und das auch klassenübergreifend. Über das Basisraster der vielfältigen innerstädtischen Konkurrenzen legte sich also die ethno-kulturelle Dichotomie. Die Abgeordneten, bei denen 298 Procès-verbal du Conseil, lundi 26 juin 1922, AVM, PVC, B35.

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keine direkten, lokalen Interessen involviert waren, stimmten loyal mit ihrer ethnokulturellen Gruppe, wobei andere, aus der binären Opposition Anglo-Protestanten vs Franko-Katholiken herausfallende Abgeordnete sich gemäß ihrer Konfession auf eine der beiden Seiten schlugen. Dass konfessionelle Zugehörigkeit hier stärker wirkte als sprachliche, mag daran liegen, dass der Bildungssektor traditionell konfessionell strukturiert war. Dazu passt auch das Verhalten von Seybold und Rubenstein, integrierten sich doch deutsche und jüdische Einwanderer eher ins anglo-protestantisch getragene Schul- und Universitätssystem.299 Der Konflikt von 1922 um den Campus der UdeM am Mont Royal zeigt so ein differenziertes, komplexes Bild der Machtauseinandersetzungen im Stadtrat, in dem ethnische, klassen-, konfessionelle und lokale Interessen ineinanderspielten, sich teilweise überlappten und die Grenzen und Bruchlinien nicht immer eindeutig waren. Was allerdings klar wird, ist, dass der Stadtrat in dieser Frage durchaus fragmentiert war und dass die primär frankophone, teils irische, katholische, klassenübergreifende Koalition die Mehrheit innehatte. Das Wettern der anglophonen Protestierenden gegen ‚den‘ Stadtrat, der seine Pflichten als Repräsentant ‚des‘ Volkes vernachlässige, entpuppt sich daher letztlich auch als eine Polemik gegen ein mehrheitlich frankophones Organ, aller progressivistischen Rhetorik des public vs private interest zum Trotz. Die Dominanz der Frankokanadier im Stadtrat war ebenso Ausdruck des Aufstiegs einer neuen frankokanadischen Elite und der zahlenmäßigen Verhältnisse in der Stadt wie die Bestrebungen der UdeM. Gegen Lokalpolitiker zu polemisieren war aber wohl machbarer als gegen eine ehrwürdige Bildungsinstitution vorzugehen. Was ebenfalls klar wird, ist, dass die Abgabe von Grundstücken an die UdeM ein Thema war, das den Stadtrat beschäftigte und das auch heftig diskutiert wurde. Es kam nicht so häufig vor, dass der Bürgermeister den „chair“ verließ. Wie der Mont Royal an welcher Stelle genutzt werden sollte, wer Ansprüche an welchen Teil des Berges stellen konnte, das waren Fragen, die im Stadtrat Brüche sichtbar werden und Koalitionen entstehen ließen. Die Besetzung von öffentlichem Stadtraum war definitiv eine Angelegenheit von politischem Interesse. Vor allem solche Orte wie der Mont Royal, an dem sich vielfache Bedeutungsschichten überlagerten, wiesen ein hohes Konfliktpotential auf, da es bei ihrer Besetzung um symbolische Macht ging.

299 Linteau, Histoire de Montréal, 388.

2  „Rising grandly from the side of the mountain“: In anglo-protestantischem Gebiet Au pied du Mont Royal, sur l’un de ses plateaux où l’oeil embrasse la métropole du Canada, le grand fleuve et les campagnes des environs, où l’air est plus pur, la brise se fait plus douce, s’élève un édifice aux dimensions imposantes, à l’architecture légère. [...] Certes, de fidèles sujets de Sa Majesté ne pouvaient laisser à la postérité meilleur et plus utile souvenir du jubilé royal de leur souverain.1

„Je ne veux pas rappeler, Messieurs, qu’il y a un précédent, et que la ville a déjà donné à une oeuvre moins importante que la nôtre une portion considérable de ce parc.“2 Mit diesen Worten hatte der Rektor der Université de Montréal, Mgr Georges Gauthier, die Stadt Montreal in seiner Bitte um ein Stück Land am Mont Royal darauf hingewiesen, dass es nicht ohne Beispiel sei, Teile des Parks an Institutionen zu vergeben. In einem weiteren, nicht signierten, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls von Gauthier stammenden Brief an die Stadt nur einige Tage später beklagte sich der Verfasser über die restriktive Haltung des Stadtrates in noch deutlicheren Worten: „Il nous semble encore qu’après s’être montrée si généreuse à l’égard de l’Hôpital Victoria, il siérait mal à la Ville de l’être moins pour nous.“3 Auch in der Tagespresse finden sich Vergleiche mit dem Royal Victoria Hospital: A recent issue of The Gazette quoted La Presse as defending this grant to the University of Montreal on the ground that a grant of a similar kind was once made to the Royal Victoria Hospital. I never pass the hospital without wishing that this building stood somewhere else. There are plenty of other sites that would have answered the hospital’s purpose admirably, and it seems a pity that this land is not being used for a playground. But two wrongs do not make a right, and the fact that much valuable ground has already been lost makes it all the more imperative for us to guard what is still untouched.4 1 „L’hôpital Victoria“, in: La Presse 2.12.1893. 2 Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705. 3 Brief auf Briefpapier des Archevêché de Montréal an Jules Crépeau, 13.10.1921, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, #421. 4 H. P., „The Alienation of Mount Royal“, Letter to the Editor, in: Gazette 1.7.1922.

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Die frankophone Presse und die Vertreter der UdeM jedenfalls schienen die Landschenkung von 1888 an das Krankenhaus als Präzedenzfall zu betrachten und suchten so, die Argumente der Parkanhänger und Gegner der UdeM zu entkräften. Angesichts der Konfliktlinien in diesem Streit lässt sich der unausgesprochene Vorwurf, eine dem Namen nach explizit anglophone Institution wäre es wert, ein Stück des Parks zu erhalten, warum also sollte eine frankophone nicht in den Genuss kommen – und das, obwohl man doch so viel wichtiger sei! –, leicht zwischen den Zeilen lesen. Wiewohl in diesem Fall der Verfasser des Leserbriefs betonte, beide Schenkungen seien ein Fehler – aus seinem Schreiben geht auch hervor, dass zumindest retrospektiv das Royal Victoria Hospital in Teilen der Montrealer Öffentlichkeit als ein der UdeM ähnlich gelagerter Fall wahrgenommen wurde, als ein Baustein des ethnisch und religiös aufgeladenen Streits um den Berg der Stadt. Gleichzeitig deutet sein Hinweis, dass es auch für das Krankenhaus nicht zwingend notwendig sei, am Mont Royal lokalisiert zu sein, darauf hin, dass bereits die Erbauer des RVH aus anderen als pragmatischen Gründen besonders auf diesen site erpicht waren. Im Folgenden soll die Geschichte des RVH am Mont Royal näher beleuchtet und kontextualisiert werden. Ausgangspunkt ist die Frage, ob es bereits in den späten 1880er Jahren ähnliche Debatten um den Berg gab wie in den 1920ern. Der Gründungsprozess des RVH soll dazu genau beobachtet werden. Dabei gilt es zu untersuchen, inwieweit in der Ansiedlung des RVH gerade am Mont Royal Gesellschaftsordnung räumlich gedacht und welches Ideal einer sozialen Ordnung hier im Stadtraum umgesetzt und reproduziert werden sollte. Bereits in diesen Jahren fanden sich die eingangs erläuterten bedeutungsvollen Zuschreibungen zum Hausberg der Stadt. Welche Visionen des Mont Royal sich in Konkurrenz zueinander über diese erste, grundsätzliche Bedeutungsschicht legten, vergleichbar der Idee des Parks und des Mont-Lumière von 1922, welche Brüche und Koalitionen innerhalb der Montrealer Gesellschaft sich darin offenbarten und durch die jeweiligen Vorstellungen und angestrebten Funktionen des Mont Royal perpetuiert werden sollten, das allerdings verschob sich zwischen den 1880er und 1920er Jahren. Sowohl die Raumvorstellungen als auch die gesellschaftlichen Konstellationen sind daher hier als historisch kontingente Phänomene zu betrachten, die in reziprokem Verhältnis zueinander standen. Vor der Folie des Streits von 1922 können die Kontinuitäten und Brüche im Wechselspiel von ethnicity, class, Religion, Konkurrenz um Macht in der Stadt, Vorstellungen von Gesellschaftsordnung und dem Mont Royal als physischem und mentalem Ort herausgearbeitet sowie feine Unterschiede an die je spezifische historische Situation differenziert rückgebunden werden. Im April 1887 legte der Bürgermeister von Montreal, John J. C. Abbott, dem Stadtrat einen Brief vor, der ein finanziell verlockendes Angebot zweier sehr wohlhabender Bürger der Stadt enthielt. Sir Donald A. Smith und Sir George Stephen schlugen die Errichtung eines neuen Krankenhauses anlässlich des 50jährigen Regierungsjubiläums der Queen Victoria vor und boten zu diesem Zweck der Stadt einen

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Deal an: „[…] we desire to say that if the Corporation [of Montreal] will appropriate and donate a suitable site for the purposes of the proposed hospital, we will each of us give five hundred thousand dollars, making a total endowment of one million dollars for the erection and maintenance of that hospital […]“5. Was sie unter einem „suitable site“ verstanden, davon hatten die beiden Stifter sehr genaue Vorstellungen: „[…] a detached portion of the City property of Mount Royal Park, lying immediately north of the reservoir, with a frontage on Pine avenue […] comprising an area of about ten acres, is the only site available that would, in all respects, be suitable for the proposed hospital.“6 Einstimmig befand der Stadtrat mit „grateful appreciation“, dass er Smith und Stephen in ihrem Projekt unterstützen würde, und rief ein Sonderkomitee ins Leben, das die Frage des site klären sollte.7 Am 2. Dezember 1893 wurde das neue Krankenhaus unter dem Namen Royal Victoria Hospital durch den Generalgouverneur Lord Aberdeen eingeweiht, ein gesellschaftliches Ereignis, das in der Presse überschwenglich kommentiert wurde.8 Gerade die bemerkenswerte Lage des Krankenhauses „au pied du Mont-Royal [...] dans l’une des plus belles parties de la ville“9, „rising grandly from the side of the mountain“10, „campé pittoresquement dans un site merveilleux sur le flanc du Mont-Royal“11 oder gar „on the mountain“12, wurde fortan in den höchsten Tönen gelobt. Der von den Stiftern des Krankenhauses favorisierte Bauplatz mit der Katasternummer 1801 lag am Südosthang des Mont Royal, an der Pine Avenue, und damit am Rande der wohlhabenden anglophonen Golden Square Mile.13 Hangabwärts, auf der anderen Seite der Pine Avenue, befand sich ein städtisches Wasserreservoir, das McTavish Reservoir, an das sich südlich der Campus der McGill University anschloss (Abb. 21). Auf dem westlich an den bevorzugten site angrenzenden Grundstück war Ravenscrag, die berühmte Villa von Sir Hugh Allan, gelegen. Es war also eine durchaus repräsentative Örtlichkeit, die die Stifter des Hospitals von der Stadt als Entgegenkommen für ihre großzügige Spende forderten. 5 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14. Der kanadische Dollar ist heutzutage nahezu 20 Mal so viel wert, vgl. Donna MacDonald, Lord Strathcona: A Biography of Donald Alexander Smith (Toronto: Dundurn Press, ²2002), 536. 6 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14. 7 Ebd. 8 Etwa „Royal Victoria Hospital: Formally Opened by the Governor General“, in: s.n. 2.12.1893, MUA, RVH, RG95, c382, 1400F „Scrapbook on opening of the RVH 1893“. 9 „L’hôpital Victoria“, in: La Minerve 24.11.1893. 10 „The Royal Victoria Hospital“, in: Standard 14.8.1909. 11 Votre Montréal No. 26 (Montreal: La Compagnie des Tramways de Montréal, 1927), AVM, DR, B28-13.3.1. 12 „The Royal Victoria’s 50 Years“, in: s.n. 9.3.1944, AVM, DR, B28-13.35. 13 Grundstück mit Katasternummer P 1801. Vgl. Plan von 1938 in AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié).

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Abb. 21  Der von den Stiftern des Royal Victoria Hospital bevorzugte Bauplatz mit der Katasternummer 1801, gegenüber des McTavish Wasserreservoirs (Plan des Mont Royal von Charles E. Goad, 1890).

Die Ausgangskonstellation von 1887 erinnert in weiten Teilen an den späteren Konflikt um den Campus der UdeM. Eine Institution bat die Stadt um ein spezifisches Grundstück an einer der zentrumsnahen Seiten des Mont Royal, an der sich der Park befand, und begründete es damit, dass allein dieses Grundstück angemessen sei.14 In der Öffentlichkeit wurde in beiden Fällen die Besonderheit dieser Lage eigens hervorgehoben. Dass das RVH dabei wahlweise als am Hang des Berges, an seinem Fuß oder gar als auf dem Berg liegend beschrieben wurde, verdeutlicht, dass es die grundsätzliche Lage am Mont Royal war, die einen Konsens der Bewunderung hervorrief. Man könnte also meinen, dass dem RVH ähnliche Probleme begegnet wären wie 35 Jahre später der UdeM. Der zentrale Unterschied ist jedoch, dass das RVH letztlich am gewünschten Ort gebaut wurde – bzw. lediglich um ein Grundstück weiter nach Osten verschoben. Retrospektiv mag es so erscheinen, als sei das Projekt Royal Victoria Hospital am Mont Royal widerstandslos realisiert worden, doch gab es im Verlauf der Bau14 „Suitable“ für das RVH, Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14; „convenable“ bei der UdeM, Mgr Georges Gauthier an M. Le Président et MM les commissaires de la ville de Montréal, 9.8.1921, AVM, CRD, 3e série, #10705.

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planung und nach der Einweihung diverse Protestaktionen, die in unterschiedlichen Interessen begründet lagen. Zunächst jedoch schien es, als wäre das Krankenhaus ein konsensfähiges Vorhaben, ein Akt der Wohltätigkeit am Mont Royal, hinter dem Stadtverwaltung, Wirtschaftselite und Bevölkerung in trauter Eintracht standen. Im Folgenden werden zuerst die in dieser Harmonie transportierten Vorstellungen des Mont Royal, die ihr unterliegenden Ideale sowie die Interessen der Konsensträger näher analysiert, um anschließend abweichende Stimmen in den Blick zu nehmen.

2.1  „Without distinction of race or creed“: Das Royal Victoria Hospital als konsensfähige Institution am Mont Royal 2.1.1  Gesellschaftliche Harmonie unter britischer Herrschaft Eine Hommage an die Queen

Gesellschaftliche Harmonie gehörte von vornherein zum Programm des Krankenhauses. In ihrem Schreiben an den Stadtrat nannten Smith und Stephen drei Ziele, die das RVH erfüllen sollte. Oberstes Ziel war „to improve the existing provisions of hospital accomodation for the sick poor of the city of Montreal“, aber zusätzlich sollte die Klinik auch der „medical education“ und der Ausbildung von „professional nurses“ dienen.15 Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen sollten offenbar vom RVH profitieren. Den Ärmsten der Stadt sollte dank einer prestigeträchtigen Spende der Reichsten eine erweiterte medizinische Versorgung zuteil werden, die mehrheitlich der Bourgeoisie entstammenden künftigen Ärzte umfassendere Ausbildungschancen erhalten und Frauen die Möglichkeit bekommen, sich zu professionellen Krankenschwestern ausbilden zu lassen, kurz, auch Teile der alten und neuen professional middle classes sollten profitieren.16 Durch diese geplante Lehrtätigkeit war das RVH nicht zuletzt als ein Ort der Modernisierung des Krankenhauswesens gedacht. Welche armen Kranken genau gemeint waren, auch das präzisierten die Stifter: Das RVH war „for the use of the sick and ailing without distinction of race or creed“17 intendiert. Explizit wurde betont, dass arme Kranke ungeachtet ihrer ethnischen Zu15 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14. 16 Nordamerikanische Krankenhäuser integrierten erst im letzten Drittel des 19. Jhs die Funktion des medizinischen Lehr- und Forschungsbetriebs mit ihrer klassischen Aufgabe der Krankenpflege, wodurch ihr gesellschaftliches Ansehen deutlich stieg. Die großen universitär angebundenen medical centers des 20./21. Jhs finden hier ihren Ursprung. In den USA etwa wurden seit den 1870er Jahren infolge der Erfahrungen des Bürgerkriegs Krankenschwestern professionell ausgebildet. Vgl. Paul Starr, The Social Transformation of American Medicine (New York: Basic Books, 1982), 112–16; 145–62. 17 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14.

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gehörigkeit – was mit „race“ gemeint war – oder ihres Glaubens behandelt werden konnten. Der „deed of transfer“ des Grundstücks zwischen den Vertretern des Krankenhauses und der Stadt vom September 1887 führte die Rechte der Konfessionen sogar noch genauer aus: It is an absolute condition of the present lease that the Clergy of every Church and denomination shall be on a perfectly equal footing as regard access to patients belonging to their respective creeds and that in the construction of the said Hospital every precaution will be taken and provision will be made so as to secure for all times that the conditions herein mentioned shall be adhered to.18

Indem sie das Postulat der Offenheit für alle ohne Rücksicht auf race oder creed zum zentralen Grundsatz des Krankenhauses machten, entwarfen Smith und Stephen die Vision des RVH als eines Ortes, von dem nicht nur unterschiedliche gesellschaftliche Schichten profitierten, sondern der auch die als nennenswert wahrgenommenen ethnischen und religiösen Brüche in der Stadt Montreal transzendierte. Wie dieses Zusammensein der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgerichtet sein sollte, in welche höhere Ordnung es sich einfügte, geht deutlich aus einem weiteren, symbolischen Zweck des Krankenhauses hervor. Das RVH als Ort gesamtgesellschaftlichen Konsenses sollte in „permanent form“ an den „beneficent reign“ der Königin Victoria erinnern und die „loyalty and affection with which the citizens regard their sovereign“19 ausdrücken, daher sein Name: Royal Victoria Hospital. Damit implizierten die Stifter, dass an einem Ort, der dem britischen Staatsoberhaupt gewidmet war, gesellschaftliche Fragmentierungen überbrückt werden konnten. Das Royal Victoria Hospital war so ganz im Geist der Confederation von 1867 als Ort der Harmonie unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen innerhalb des britischen Herrschaftssystems lesbar. Die britische Krone erschien dabei als Fundament und Rahmen für eine Konsensgesellschaft, die von den Stiftern paternalistisch angeführt wurde und in der alle Bürger loyal hinter der Königin standen. Zugleich wurde die Herrschaft der Königin Victoria auch mit Modernität, in diesem Fall mit wissenschaftlichem Fortschritt in der Medizin, assoziiert – was für die „Victoria Jubilee rhetoric“ in Kanada typisch war.20 Sir George Stephen und Sir Donald Alexander Smith gehörten zu einer kleinen Elite anglophoner Unternehmer, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die oberste Spitze der Montrealer Gesellschaft bildete und die Wirtschaft des gesamten Landes dominierte. Beide standen exemplarisch für den Typus des schottischen Im18 Notarieller Akt vom 17.9.1887, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 19 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14. 20 Alan Gordon, Making Public Pasts: The Contested Terrain of Montreal’s Public Memories, 1891–1930 (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2001), 83.

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migranten, der im Rahmen des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Konföderation und des Booms der 1880er Jahre in Montreal sein Glück machte und als Wirtschaftsmagnat in die anglo-protestantische grande bourgeoisie aufstieg.21 Sir Donald Alexander Smith (1820–1914), später Lord Strathcona, begann seine Karriere in der Hudson’s Bay Company, in der er es bis zum Hauptaktionär brachte. Als durch Spekulationen reich gewordener Financier investierte er in zahlreiche Montrealer Unternehmen und pflegte enge Beziehungen zur größten Bank Kanadas, der Bank of Montreal.22 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – also auch zum Zeitpunkt der Stiftung des RVH – war er die herausragende Figur der Montrealer Bourgeoisie schlechthin, bis er 1896 den Posten des Hochkommissars von Kanada in London annahm, wo er seit 1897 sogar dem House of Lords angehörte.23 Sir George Stephen (1829–1921), später Lord Mount Stephen, war Smiths Cousin. Den Grundstock seines Wohlstands hatte er als Textilfabrikant und –händler gelegt, avancierte aber in den 1870er Jahren zu einem der wichtigsten Financiers von Montreal, so dass er 1876 Präsident der Bank of Montreal wurde. Anfang der 1880er war Stephen zusammen mit Smith und dem ebenfalls aus Schottland immigrierten Generaldirektor der Bank of Montreal Richard B. Angus federführend bei der Gründung der Eisenbahngesellschaft Canadian Pacific Railway (CPR).24 Sowohl der Hauptsitz als auch die Produktionsstätten der CPR, die die erste kanadische transkontinentale Eisenbahnlinie erbaute, befanden sich in Montreal und trugen in der Folge dazu bei, die Stadt im Zeitalter der Eisenbahn als Hauptverkehrsknotenpunkt Kanadas zu etablieren. Mit Smith und Stephen verbanden sich daher machtvolle wirtschaftliche Institutionen – die Bank of Montreal, die CPR und die Hudson’s Bay Company.25 Innerhalb der Montrealer Gesellschaft waren die Stifter des Royal Victoria Hospital Teil der „couche supérieure, dominante, de la bourgeoisie montréalaise et le noyau principal de la grande bourgeoisie canadienne“26, die an der Spitze von kanadaweiten Finanz-, Handels- und Industrieimperien stand. Ihre Bindungen an Großbritannien waren eng und beschränkten sich nicht nur auf wirtschaftliche Kontakte, wie die späte politische Karriere Sir Donald Smiths in London und beider Ernennung zum Lord, aber auch die Lebensweise der anglophonen Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts in Montreal 21 Paul-André Linteau, Histoire de Montréal depuis la Confédération (Montréal: Boréal, 1992), 16–17; Paul-André Linteau et Jean-Claude Robert, „Montréal au 19e siècle: bilan d’une recherche“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 13:3 (Feb. 1985), 216. 22 Linteau, Histoire de Montréal, 23. 23 Ebd., 167. Eine detaillierte Biographie Smiths bietet MacDonald, Lord Strathcona. 24 Zur Biographie Stephens vgl. das von Library and Archives Canada bereitgestellte Dictionary of Canadian Biography Online, s.v. „Stephen, George“, unter www.biographi.ca, Stand 12.6.2007. 25 Linteau, Histoire de Montréal, 24. 26 Ebd., 57.

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zeigt.27 Als einflussreiche Untertanen Ihrer Majestät verkörperten sie Dominanz und Erfolg des viktorianischen Großbritanniens in der erst seit kurzer Zeit mehrheitlich frankophonen, katholischen Wirtschaftsmetropole des Dominions. Es verwundert also nicht, dass Smith und Stephen mit dem Royal Victoria Hospital ihrer Queen und der von dieser repräsentierten Gesellschaftsordnung ein Denkmal setzen wollten. Das Krankenhaus fügte sich so in eine Repräsentationspolitik des Empire ein, die in frankokanadischen Gebieten darauf abzielte, der Öffentlichkeit eines zu demonstrieren: „that this was British territory in which two former enemies now lived happily together.“28 Während das RVH damit zwar keine explizit anti-frankophone Stoßrichtung aufwies, ist es doch im Rahmen eines aus der imperialen Politik Großbritanniens im 19. Jahrhundert bekannten Diskurses über Gesellschaftsordnung lesbar, der das unausgesprochene angelsächsische Selbstverständnis als freiheitsbringend und fortschrittlich transportierte. Aus diesem Selbstverständnis leitete sich ein Führungsanspruch allen nicht-anglo-protestantischen „races and creeds“ gegenüber ab, der sich auch in paternalistischer Wohltätigkeit diesen gegenüber niederschlagen konnte.29 Man mag es kaum als Zufall werten, dass die Stifter zu diesem Zweck ihr Augenmerk auf ein Grundstück am Mont Royal richteten, und das ausgerechnet an der vornehmsten, der Stadt zugewandten und zum Einzugsgebiet der Golden Square Mile gehörenden Flanke des Berges. Ihre großzügige Spende knüpften sie explizit an die Bedingung, dass die Stadt ihnen einen entsprechenden site zur Verfügung stellte, und das einzige, was sie als adäquat betrachteten, war das Grundstück am Mont Royal.30 In welcher Hinsicht genau dieses Stück Land das einzig angemessene war, präzisierten sie nicht. Es kann sich aber nicht um rein pragmatische Aspekte gehandelt haben. Schließlich umfasste das begehrte Grundstück lediglich 10 acres; freies städtisches Land von einer solchen 27 Roderick MacLeod, „Salubrious Settings and Fortunate Families: The Making of Montreal’s Golden Square Mile, 1840–1895“ (Diss. McGill University, 1998), 10–12; ausführlicher zum Weltbild der anglophonen Montrealer Elite Gordon, Making Public Pasts, 80–85, der es als „situational conservatism“ charakterisiert im Sinne einer Mischung zwischen den liberalen Werten von Fortschritt und Freiheit und der an Edmund Burke angelehnten Vision einer organischen Gesellschaft. Vgl. auch Margaret Westley, Remembrance of Grandeur: The Anglo-Protestant Elite of Montreal, 1900–1950 (Montreal: Libre Expression, 1990); Kenneth Price, „The Social Construction of Ethnicity: The Case of English Montrealers“ (Diss. York University, 1980). 28 Ronald Rudin, „Contested Terrain: Commemorative Celebrations and National Identity in Ireland and Quebec“, in: Gérard Bouchard et Yvan Lamonde (dir.), La nation dans tous ses Etats: Le Québec en comparaison (Montreal: L’Harmattan, 1997), 196. 29 Vgl. Catherine Hall, Civilising Subjects: Metropole and Colony in the English Imagination, 1830–1867 (Chicago: University of Chicago Press, 2002); Adele Perry, On the Edge of Empire: Gender, Race, and the Making of British Columbia, 1848–1871 (Toronto: University of Toronto Press, 2001). 30 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14.

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Größe hätte es beispielsweise auch zur Genüge auf dem Gelände des späteren Parc Lafontaine, das zu der Zeit noch Logan’s Park hieß, gegeben (vgl. Abb. 20). Allerdings befand sich dieses auf der als frankophon wahrgenommenen Seite der Stadt, am Rande des Viertels, in dem die frankokanadische Bourgeoisie residierte. Möglicherweise spielte also für Smith und Stephen ihre geographische Imagination der Stadt durchaus eine Rolle bei der Ortswahl. Eine Stiftung zu Ehren der Queen Victoria sollte vermutlich zum einen in einem würdevollen anglo-protestantischen Stadtteil liegen, zum anderen am repräsentativsten Ort der Stadt überhaupt, der obendrein in der Öffentlichkeit mit zahlreichen Bedeutungen konnotiert war, die ihn mit der räumlichen und historischen Beherrschung der Stadt identifizierten – sicherlich angemessen für die Ehrung des Mutterlandes. In einer „permanent form“31 würde so eine Hommage an die glanzvolle Herrschaft der Queen Victoria in den Mont Royal eingeschrieben. Die Assoziation mit Macht, die die Imaginationen des Mont Royal prägten, könnte die anglokanadische Elite Montreals durch den Transfer des physischen Terrains für sich beanspruchen, was gleichzeitig dazu beitragen würde, den durch die Siedlungspraxis der Golden Square Mile bereits begonnenen Prozess der Identifikation des Berges als angestammten anglo-protestantischen space fortzusetzen. Bemerkenswert ist dabei, dass Smith und Stephen eine Institution, die ja auf praktischer Ebene die Funktion erfüllte, arme Kranke aufzunehmen, zudem auch noch „without distinction of race or creed“, sozusagen in ihrem eigenen backyard ansiedeln wollten. Anscheinend wog hier das mit dem Ort und dem RVH verbundene Prestige eines modernen Ausbildungskrankenhauses zu Ehren der Queen stärker als das in der Forschung häufig für städtische Eliten beschriebene Phänomen, sich räumlich abschotten und gerade die Kranken als Abweichungen von der Norm ausgrenzen zu wollen.32 An einem gesunden Ort

Gleichzeitig darf man den Stiftern auch nicht jegliche altruistische Motivation absprechen. Schließlich war das RVH nicht nur ein repräsentatives Monument, sondern ein Krankenhaus, das pragmatische Funktionen zu erfüllen hatte. Auch dafür eignete sich der Mont Royal in den Augen der Stifter perfekt. Von anderen open spaces der Stadt unterschied sich der Ort am Mont Royal nämlich nicht nur durch seine Prestigeträchtigkeit. Zwar finden sich keine direkten Aussagen von Smith und Stephen zum Thema, aber zu ihrer Zeit galt der Berg als ein besonders gesunder Ort in der Stadt. Stärkster Befürworter der Lage am Berg in der Planungsphase des RVH war der Rektor der McGill University, Sir John William Dawson (1820–99), der in einer Reihe von programmatischen Leserbriefen an die Gazette die gesundheitsför31 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14. 32 Zum Krankenhaus als Ort der „exclusions“ Michel Foucault, Naissance de la clinique: Une archéologie du regard médical (Paris: Presses Universitaires de France, 1963), 14–15.

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dernden Wirkungen des Mont Royal erläuterte. Nachdem Kritiker moniert hatten, das RVH sei für viele Kranke zu schlecht erreichbar, kehrte Dawson die Lage des Krankenhauses an der Peripherie der Stadt in einen seiner Hauptvorteile um. Kern seiner Argumentation war die wohltuende Wirkung der guten Luft – „the pure air of heaven“ – auf den Höhen des Mont Royal, die zur raschen Genesung der Kranken beitragen würde, fern jeglicher feucht-warmer Ausdünstungen der Großstadt.33 Der Wunsch, das Krankenhaus auf den Höhen oberhalb der Stadt zu errichten, weil dort die Luft besonders gesund für die Patienten sei, entsprang den Glaubenssätzen der bis etwa in die 1880er Jahre im Bereich der public health dominanten Miasmenlehre, die sogenannte Miasmen – verrottende organische Abfälle und die daraus entstehenden Dämpfe – zur Hauptursache von Krankheiten erklärte. Dieses environmentalistische Verständnis der Ursachen von Krankheit und die daraus resultierenden Methoden der sanitation, des Herstellens öffentlicher Gesundheit über eine Veränderung der physischen Lebensbedingungen, ordnen sich in denselben medizinisch-urbanistischen Diskurs über Stadtraum ein, in dem sich auch die Parkanhänger bewegten. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den rasant wachsenden Industriemetropolen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen vielen Zeitgenossen die Städte als Kristallisationspunkte von ,Ungesundheit‘.34 Open space dagegen wurde mit frischer Luft, Ruhe und nichts weniger als ,Leben‘ identifiziert, wovon die häufige Verwendung von Begriffen wie etwa „invigorate“35 in diesem Kontext zeugt, und als räumliche Opposition zu einer überfüllten, lauten, stickigen Stadt konstruiert. Auch die neue, in den 1880er Jahren aufkommende germ theory änderte nichts an diesem Bild und den environmentalistischen Ansätzen – Dawson selbst beispielsweise bewegte sich im Schnittfeld beider Theorien und verortete in der Stadt nicht nur Miasmen, sondern auch „disease germs“36. Wenngleich eine solche Denkweise die Stadt als Lebensform der Moderne nicht grundsätzlich in Frage stellte, so war ihr doch ein großstadtkritisches Moment inhärent, das die Zeitgenossen einen nostalgischen Blick auf die ,Natur‘ und das ,Land‘ werfen ließ und das Verlangen weckte, die Metropole mittels diverser infrastruktureller Systeme wie etwa Wasserversorgung oder Müllabfuhr

33 „Hospital Sites“, Letter to the Editor, in: Gazette 16.7.1889. Vgl. D. Sclater Lewis, Royal Victoria Hospital, 1887–1947 (Montreal: McGill University Press, 1969), 14–15. 34 Martin V. Melosi, The Sanitary City: Urban Infrastructure in America from Colonial Times to the Present (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2000), 58–71; Suellen Hoy, Chasing Dirt: The American Pursuit of Cleanliness (Oxford: Oxford University Press, 1995), 104–10. 35 „Hospital Sites“, Letter to the Editor, in: Gazette 16.7.1889. 36 Ebd. Vgl. Melosi, Sanitary City, 103–16; Denis Goulet, „Des miasmes aux germes: L’impact de la bactériologie sur la pratique médicale au Québec (1870–1930)“ (Diss. Université de Montréal, 1992).

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entweder gründlich zu ,reinigen‘ oder sie durch das – ebenfalls planmäßige und systematische – Einfügen von ,Natur‘ zu verbessern.37 In der Perzeption der Montrealer war der Berg der natürliche Gegenpol zum Stadtleben par excellence. Anders als die geplanten Parks war er immer schon da gewesen, und stärker noch als andere Freiflächen drängte er sich durch seine Topographie, durch seine sichtbare Abgehobenheit von der Stadt, als ein besonders ,natürlicher‘ und ,anderer‘ Ort ins Bewusstsein. Aufgrund seiner Höhe befand man sich auf dem Mont Royal „lifted above [...] the city“, räumlich über den Unannehmlichkeiten und Gefährdungen der zu seinen Füßen gelegenen Metropole erhaben, selbst wenn der Berg von der Stadt eines Tages umschlossen werden sollte.38 Die Stifter des RVH, Smith und Stephen, standen höchstwahrscheinlich hier den programmatischen Ideen Dawsons nahe; ein Krankenhaus konnte nur dann wirklich gut sein, wenn es auch die Kraft der surroundings für seine Patienten einsetzte. Diese Idee wirkte lange fort. Noch 20 Jahre nach der Gründung des RVH lobte ein dem Krankenhaus gewidmeter Zeitungsartikel dessen site unter anderem, weil er „[...] swept by life-giving breezes“ sei, die ein „tonic to the convalescent patients on the balconies [...]“39 darstellten, und die Compagnie des Tramways de Montréal stilisierte das RVH 1927 in einer Werbebroschüre vor dem Hintergrund des Mont Royal zu einem sich in Bäumen und Wiesen verlierenden Anwesen (Abb. 22). Wie allerdings bereits für den Streit um die UdeM herausgearbeitet, verbanden sich in diesem Diskurs über ,Stadt‘ mit der Lebens- und Gesundheitssemantik weitere normative Begriffe aus den Bereichen von Moral und Hygiene. Auch im Fall des RVH wird das deutlich. Die gesunde Wirkung der Umgebung beruhte laut Dawson auf Qualitäten, die mit Adjektiven wie „pure“ und „clean“ charakterisiert wurden. Als Attribute des Stadtraums gehörten sie zu einem modernistischen, normativen urban narrative, das moralische Begriffe mit medizinisch-hygienischem und urbanistischem Vokabular verschmolz. Frische, Sauberkeit, Reinheit, Ruhe, gute Luft, das alles kenn37 Ausführlicher zum Leitbild einer Stadt, die die positiven Aspekte von Stadt und Land in sich vereint, James L. Machor, Pastoral Cities: Urban Ideals and the Symbolic Landscape of America (Madison: University of Wisconsin Press, 1987), 5–14, der dafür den Begriff des urban pastoralism einführt. Zu den Theorien des 19. Jhs über die gesunde Wirkung offener Flächen ebd., 146–50. Stanley K. Schultz, Constructing Urban Culture: American Cities and City Planning, 1800–1920 (Philadelphia: Temple University Press, 1989), 15–31, weist für die USA auf die Ursprünge dieses Leitbildes in der stadtutopischen Literatur aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg hin, in der das Ideal der Verbindung von Land und Stadt bereits angelegt war. Überblick über Montrealer Initiativen am Ende des 19. Jhs, die Stadt zu reinigen und gesünder zu gestalten, bei Claire Poitras, La cité au bout du fil: Le téléphone à Montréal, de 1879 à 1930 (Montreal: Les Presses de l’Université de Montréal, 2000), 40–49. 38 „Hospital Sites II“, Letter to the Editor, in: Gazette 24.7.1889. 39 „The Royal Victoria Hospital“, in: Standard 14.8.1909.

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Abb. 22  Werbebroschüre Votre Montréal der Montrealer Tramgesellschaft mit dem Royal Victoria Hospital, 1927.

zeichnete die Umgebung des Krankenhauses und fügte sich perfekt zur im Krankenhaus selbst angestrebten „neatness and order and cleanliness“40. Die Faszination mit Licht, Luft und offenen Flächen gehört zum selben Denken wie die Begeisterung für elektrische Straßenbeleuchtung, Begrünung oder Zirkulation (Luft und Verkehr), allesamt Vorgänge, die letztlich eine Aufwertung der Phänomene ,Licht‘, ,Offenheit/ 40 Ebd.

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Freiraum‘ und ,Bewegung/Fluss‘ bedeuteten. Eine solche Sprache des Lichts, der Klarheit, der Offenheit, aber auch der geordneten Dynamik, die sich durch Rationalität und wissenschaftliche Erkenntnisse zu legitimieren suchte, zeugt vom Bedürfnis zu sehen, zu verstehen, zu wissen, folglich auch: ans Licht zu bringen, zu überwachen – in einer als dunkel, chaotisch, undurchdringbar und daher als Bedrohung empfundenen Stadt.41 Nur so schien das wahrhafte, gesunde Leben in einem ständigen Prozess des kontrollierten Fortschritts erreichbar. Die in diesem Diskurs erzeugte binäre Opposition zwischen den physischen Eigenschaften verschiedener Stadtformen, der sauberen, frischen Stadt auf der einen Seite, der überfüllten, engen Stadt auf der anderen, war eine klar hierarchische Opposition, mittels derer die Protagonisten versuchten, dem möglichen Verlust einer gegebenen Ordnung entgegenzutreten.42 Gleichzeitig waren den physisch beschriebenen, hierarchisch strukturierten Stadträumen immer auch Menschen zugeordnet, denen dieselben Eigenschaften wie ihrer Umwelt zugesprochen wurden, was letztlich in eine Art moralische Geographie des Stadtraums mündete.43 Was im Fall des RVH auf den ersten Blick hin lediglich wie die Konstruktion eines Kontrastes zwischen Großstadt und verklärter Natur wirkt, entpuppt sich daher als Ausdruck der von den Zeitgenossen perzipierten Dichotomie zwischen einer aufgeräumten, stillen, hygienischen, gesunden und ordentlichen idealen Moderne und einer im Gewusel der Industriemetropolen versinnbildlichten chaotischen, kranken, ,anderen‘ Moderne. Diese drohte nicht nur sämtliche vom Urbanisierungsprozess noch verschonten Leerflächen der Stadt zu besetzen – was gerne als „encroachment“44 bezeichnet wurde –, 41 Vgl. Barbara Hooper, „The Poem of Male Desires: Female Bodies, Modernity, and ,Paris, Capital of the Nineteenth Century‘“, in: Leonie Sandercock (ed.), Making the Invisible Visible: A Multicultural Planning History (Berkeley: University of California Press, 1998), 234. Als Beispiel kann die Faszination mit elektrischer Straßenbeleuchtung dienen, vgl. Mark J. Bouman, „Luxury and Control: The Urbanity of Street Lighting in NineteenthCentury Cities“, in: Journal of Urban History 14 (1987), 7–37. 42 Vgl. Hooper, „Poem of Male Desires“, 231. 43 Zur moralischen Geographie Elsa Barkley Brown and Gregg D. Kimball, „Mapping the Terrain of Black Richmond“, in: Kenneth W. Goings and Raymond A. Mohl (eds), The New African American Urban History (Thousand Oaks: Sage Publications, 1996), 66– 115. Vgl. auch Robert Shields, Places on the Margin: Alternative Geographies of Modernity (London: Routledge, 1991), 47; 60; zur Setzung räumlicher Oppositionen und ihrer Rolle in der Strukturierung menschlicher Lebenswelten sowie zu damit einhergehenden Phänomenen der Inklusion und Exklusion Sabine Damir-Geilsdorf und Béatrice Hendrich, „Orientierungsleistungen räumlicher Strukturen und Erinnerung: Heuristische Potenziale einer Verknüpfung der Konzepte Raum, Mental Maps und Erinnerung“, in: dies. et al. (Hgg), Mental Maps, Raum, Erinnerung: Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung (Münster: LIT-Verlag, 2005), 31. 44 So Dawson, „The Royal Victoria’s 50 Years“, in: s.n. 9.3.1944, AVM, DR, B28, 13–35.

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sondern Gesellschaftsordnungen in Frage zu stellen – konkret die viktorianische, bürgerliche Gesellschaftsordnung des britischen Dominion und die Position ihrer anglo-protestantischen Führungsschicht; allgemeiner, um mit Barbara Hooper zu sprechen, hatte diese andere Moderne das Potential, den „Enlightenment dream of a known, transparent society“45 unsanft zu beenden. Dem Licht-Luft-Grün-Diskurs war also durchaus auch eine normative, ordnungspolitische Stoßrichtung inhärent. Er benannte nicht nur mögliche urbane Formen und Strukturen, urbane Lebensformen und Gesellschaftsstrukturen, sondern transportierte damit auch gesellschaftliche Normen, die mittels der Formen des environment auf die sich in ihm bewegenden Akteure wirken sollten und die Art der zu erreichenden Ordnung definierten. Die für den Streit um die UdeM erläuterte Kehrseite der progressivistischen Philanthropie, das Streben nach sozialer Ordnung und Kontrolle, wird auch hier greifbar. Gerade Begriffe wie „pure“ und „clean“ hatten eine dezidiert gesellschaftlich-moralische Bedeutung, die Verhaltensnormen implizierte. Indem sie auf dem von ihnen geforderten Grundstück am Mont Royal beharrten, offenbarten die Stifter des RVH, dass sie genaue Vorstellungen davon hatten, welcher Montrealer Ort den Idealen dieses Diskurses entsprechen konnte: der Hang des Mont Royal im anglo-protestantischen Oberschichtenviertel Golden Square Mile. Mit ihrer normativen Kraft sollte diese reine, saubere – anglophone, protestantische, wohlhabende – Umgebung auch die Patienten des RVH wieder körperlich gesund machen und ,normalisieren‘, sie „pure“ und „clean“ in die Gesellschaft zurückführen – und damit arme, kranke Montrealer in den durch die anglophone Elite definierten, von ihren Interessen geleiteten und paternalistisch gestifteten Konsens eingliedern.46 Für den Mont Royal bedeutete das, dass er zwar als ,natürlicher‘ Raum galt, indem er aber von diesem Ordnungsdiskurs vereinnahmt wurde, stellte er eigentlich den ,guten Stadtraum‘ schlechthin dar: ,Natur‘ entpuppt sich hier als Chiffre für ein spezifisches Idealbild von ,Stadt‘. Gerade Naturflächen, die oft als ,Leerstellen‘ im urbanen Gewebe wahrgenommen wurden, boten sich als Projektionsflächen für solche Ordnungsvorstellungen an47: Sie konnten sowohl diskursiv als auch praktisch gestaltet werden und ermöglichten damit den städtischen Akteuren eine im Trubel der Metropolen verloren geglaubte agency. Die bereits erwähnte Zeichnung des RVH 45 Hooper, „Poem of Male Desires“, 234. 46 Zur Wirkungsweise der medizinischen Bipolarität von krank und gesund bzw. normal und pathologisch in der Konzeption von Gesellschaftsordnung Foucault, Naissance de la clinique, 35–36. 47 Vgl. Yi-Fu Tuan, Space and Place: The Perspective of Experience (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1977), 54: „Open space has no trodden paths and signposts. It has no fixed pattern of established human meaning; it is like a blank sheet on which meaning may be imposed.“ Dabei ist allerdings Vorsicht geboten: Auch „open spaces“ als reine Phänomene der Topographie oder Natur wahrzunehmen stellt bereits eine Bedeutungszuschreibung dar.

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im Werbepamphlet der Montrealer Tramgesellschaft zeigt schließlich nicht nur ein Gebäude in der freien Natur des Berges, sondern suggeriert gleichzeitig die Urbanität des gesamten Raumes durch die Abbildung orthogonal angelegter Straßen, die zum Krankenhaus führen. Diese Straßen sind zudem mit Bäumen begrünt, die aber wiederum symmetrisch in kleinen quadratischen Feldern wachsen und ebenso wie die Wiesen fein säuberlich eingezäunt wurden – Paradebeispiel des guten Stadtraums, in dem das Ideal einer Integration von Natur und städtischem Raum realisiert wurde (vgl. Abb. 22). In dieser Vision des Royal Victoria Hospital laufen verschiedene Fäden zusammen, die ein komplexes Bild des Mont Royal knüpfen. Die symbolische und praktische Funktion der Institution, für die die Stifter den Berg als adäquaten Ort betrachteten, zeugt von ihrer Interpretation des Berges selbst. Er erscheint in ihren Überlegungen als ein besonders gesundheitsfördernder und bedeutungsträchtiger Ort im städtischen Gewebe. Würde das RVH auf dem Mont Royal errichtet, so würden diese grundsätzlichen Interpretationen des Berges sich als trag- und durchsetzungsfähig erweisen und durch die Präsenz des Krankenhauses in der imagination urbaine verstärkt. Darüber hinaus würden diese beiden allgemeinen, weithin konsensfähigen Interpretationen des Mont Royal – als gesunder Ort und als Ort der Dominanz – mit konkreten gesellschaftspolitischen Inhalten gefüllt. Zum einen wäre die Bedeutung der Macht dann für eine symbolische Huldigung an das britische Staatsoberhaupt sichtbar in Beschlag genommen. Zum anderen würde auch die praktische Funktion des RVH als Krankenhaus dazu beitragen, die Macht der von den Stiftern repräsentierten Gesellschaftsordnung des British Empire am Mont Royal zu verdeutlichen: Mit dem scheinbar neutralen Argument der Funktion des Hospitals definierten die anglo-protestantischen Eliten den Berg als heilsamen Ort der Ruhe und guten Luft und gliederten ihn so in den oben geschilderten Ordnungsdiskurs mit ein, der wiederum ihre eigene, klassenspezifische Gesellschaftsvorstellung transportierte und zementierte. Indem sie zudem suggerierten, dass ihr Bild des Mont Royal als gesunder Ort modernstes ,Wissen‘ war, diskreditierten sie andere Meinungen als rückständig und beanspruchten wie selbstverständlich die Führungsposition – nicht nur den unteren Schichten, die im Krankenhaus behandelt werden sollten, sondern auch möglichen konkurrierenden Eliten gegenüber. Gerade der Katholizismus galt im Diskurs über anglo-saxon supremacy häufig als Inkarnation des Vormodernen, als Gegenpol zur angelsächsischen Fortschrittlichkeit.48 Paradigmatisch für das ethno-kulturelle 48 Vgl. Jody M. Roy, Rhetorical Campaigns of the Nineteenth-Century Anti-Catholics and Catholics in America (Lewiston: Edwin Mellen, 2000); D. G. Paz, Popular Anti-Catholicism in Mid-Victorian England (Stanford: Stanford University Press, 1992); Jürgen Osterhammel, „,The Great Work of Uplifting Mankind‘: Zivilisierungsmission und Moderne“, in: Boris Barth und Jürgen Osterhammel (Hgg.), Zivilisierungsmissionen: Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert (Konstanz: UVK, 2005), v. a. 388–89.

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Selbstbewusstsein der WASPs im 19. Jahrhundert kann eine Aussage des Reisenden William Chambers stehen: „Enterprising and intelligent men will not, to any large extent, settle in a neighbourhood in which the French language and usages prevail. Protestants, it is true, are legally exempted from the tithes levied by the Roman Catholic Church; but the very atmosphere which hovers round [sic] these ecclesiastical arrangements is obnoxious in popular estimation.“49 Frankophonie und Katholizismus wurden in diesem Diskurs ineinandergeblendet. „In all quarters of Montreal, there are seen substantial indications of advancement, as if modern were pushing out old ideas, and an English outgrowing the original French population.“50 Modern, das war englisch; alt Synonym für französisch. Vor diesem Hintergrund kann das Reden vom gesunden Mont Royal nicht nur als Teil eines klassenspezifischen Ordnungsdiskurses gelesen werden, sondern auch als Element eines ethno-kulturellen Anspruchs. Class bias und ethnocultural bias verschmolzen hier in einem subtilen Zeichen am Mont Royal, das aufgrund der Öffnung für alle „races and creeds“ aber offiziell die Hand ausstreckte. 2.1.2  Ein gesunder Ort für arme Kranke: Pragmatische Politik

Dementsprechend mochte die Aussicht auf eine Institution zu Ehren der Queen Victoria in prominenter Position am Mont Royal, so könnte man vermuten, für viele frankophone Katholiken unerfreulich gewesen sein – ganz so, wie den anglophonen protestantischen Eliten der Stadt 1922 eine franko-katholische Universität in ähnlicher Lage nicht tolerabel erschien –, zumal die britische Krone als Oberhaupt der anglikanischen Kirche auch in konfessioneller Hinsicht nicht neutral war. In ihrer Anfrage an den Stadtrat hatten Smith und Stephen die Hoffnung ausgedrückt, das Gremium „as representing the citizens generally“51 würde ihrem Projekt zustimmen. Geschickt appellierten die Stifter so an die Verantwortung der Abgeordneten allen Bürgern gegenüber und suggerierten gleichzeitig, dass eine positive Antwort des City Council einer Einigkeit der Einwohner Montreals hinter dem Projekt gleichkäme. Sofort stimmte der Stadtrat der grundsätzlichen Idee, anlässlich des Jubiläums der Queen das Royal Victoria Hospital zu gründen, zu.52 Allerdings zögerte er bezüglich der geforderten Lage und rief eigens ein Sonderkomitee ins Leben, das den Ort

49 William Chambers, Things as They Are in America (1854; New York: Negro Universities Press, 1968), 78. 50 Ebd., 65. 51 Procès-verbal du Conseil, lundi 18 avril 1887, AVM, PVC, B14. 52 Ebd.

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untersuchen sollte – sicherlich, weil es sich hierbei um den von der Stadt zu leistenden Beitrag handelte.53 Das Komitee lieferte einen Monat später einen Bericht ab, in welchem es dem Stadtrat empfahl, den Stiftern ihren gewünschten site für einen symbolischen Preis von $1/Jahr auf unbegrenzte Zeit zu verpachten. Seine positive Empfehlung begründete das Komitee damit, dass das Grundstück nicht essentiell für den Park sei und aufgrund seiner Lage „convenient access [...] from all quarters“ erlaube.54 Daraufhin wurde am 17. September 1887 von Vertretern des RVH und der Stadt ein notarieller Akt zur Übergabe des Landes unterschrieben.55 Die Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat waren 1887 noch nicht so klar wie beim Streit um den Campus der UdeM 1922. Dennoch hatte bereits in den 1870er Jahren ein Wandel in der Zusammensetzung der politischen Elite begonnen, der sich in den 1880er Jahren fortsetzte. Zur Zeit der Confederation hatte der City Council einem Privatclub geglichen, in dem die großen Unternehmer dominierten und die anglophone community tonangebend war. Nach und nach aber diversifizierte sich die politische Elite.56 Angesichts des Zustroms von Frankokanadiern aus dem Quebecer Umland, aber auch aufgrund der zunehmenden Immigration gelang es einer neuen Generation von Politikern, sich auf eine breite Masse von Anhängern in den Industriearbeitervierteln zu stützen57 und in die politischen Gremien vorzurücken, ohne der grande bourgeoisie anzugehören. Ethnische Loyalität war zumeist der ausschlaggebende Faktor für den Erfolg dieser Politiker,58 und so verschob sich die ethnische Zusammensetzung im Stadtrat graduell. Seit 1866 war die Bevölkerung Montreals mehrheitlich frankophon, und 1882 erhielten die Frankophonen erstmals eine Mehrheit von einem Abgeordneten im Stadtrat.59 Aufgrund der zahlreichen Annexionen 53 Ebd. 54 Ebenso hob der Bericht den Vorteil eines direkten Zugangs zu den Friedhöfen hervor. Report from the Special Committee on the Royal Victoria Hospital, 16.5.1887, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 55 Notarieller Akt vom 17.9.1887, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 56 Poitras, Cité au bout du fil, 32. 57 Linteau, Histoire de Montréal, 120–21. 58 Ebd., 122. Die kommunale Politik im Montreal der 1880er Jahre war dennoch nicht gerade eine Angelegenheit der Ärmsten, etwa der künftigen Patienten des RVH, da aufgrund der Eigentumsanforderungen die breite Masse nicht für Abgeordnetenposten kandidieren durfte und man auch als Wähler Eigentümer oder Mieter von Häusern in einem bestimmten Wert und frei von Steuerschuld sein musste. Ebd., 120–21. 59 Ebd., 123. Ausführlicher zum Aufstieg einer neuen frankophonen politischen Elite, die der anglophonen grande bourgeoisie Konkurrenz machte, Paul-André Linteau, „Rapports de pouvoir et émergence d’une nouvelle élite canadienne-française à Montréal, 1880–1914“, in: Études canadiennes: Revue interdisciplinaire des études canadiennes en France 21:1 (1986), 163–72. Vgl. Gary Caldwell et Eric Waddell (eds), Les Anglophones

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von weitgehend frankophonen Vororten im Osten der Stadt wurde dieser Trend in den Folgejahren deutlich verstärkt.60 Wichtigste Figur in der Montrealer politischen Szene der zweiten Hälfte der 1880er bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war Raymond Préfontaine, Rechtsanwalt und ehemaliger Bürgermeister des 1883 annektierten Ostmontrealer Stadtteils Hochelaga (Abb. 23). Als Abgeordneter verfügte er dank seiner Stellung als Vorsitzender des Comité des chemins/Road Committee seit 1886 über ein großes Budget für Straßenbau, welches er gezielt einsetzte, um den frankophonen Osten zu bevorzugen und die ihn unterstützenden Wähler mit Aufträgen oder Arbeitsplätzen zu versorgen – kurz, er errichtete eine wahrhafte political machine, die sich nie ganz des Korruptionsverdachtes erwehren konnte.61 Seine Hauptverbündeten im Stadtrat waren Henri-Benjamin Rainville und Cléophas Beausoleil, und das Trio wurde von den anderen frankophonen Abgeordneten weitgehend unterstützt. In diesen Jahren waren auch die irischen Abgeordneten unter der Führung von James McShane der machine Préfontaines gegenüber wohlgesonnen – unter der Bedingung, dass die Iren in der innerstädtischen Patronage nicht leer ausgingen. Sowohl Préfontaine als auch McShane waren in der Liberal Party aktiv, woher die Verbindung stammte. Das Beispiel Préfontaines und seiner machine zeigt, dass in den 1880er Jahren der Stadtrat weitgehend in ethno-konfessionell definierten Fraktionen gedacht wurde und die Loyalität dementsprechend entlang der Grenze franko-katholisch vs anglo-protestantisch verlief, wobei auch zu der Zeit schon Katholizismus weitgehend mit Frankophonie und Protestantismus mit Anglophonie identifiziert wurden. Andere Gruppen wie etwa die Iren schlugen sich je nach Situa-

du Québec de majoritaires à minoritaires (Québec: Institut québécois de la recherche sur la culture, 1982). 60 Linteau, Histoire de Montréal, 124–27; Michel Gauvin, „The Municipal Reform Movement in Montreal, 1896–1914“ (M.A. University of Ottawa, 1972), 9–10. 61 Jason A. Gilliland, „Re-dimensioning Montreal: Circulation and Urban Form, 1846– 1918“ (Diss. McGill University, 2001), 113–14; Paul-André Linteau, Maisonneuve ou comment des promoteurs fabriquent une ville, 1883–1918 (Montreal: Boréal, 1981), 26– 27; ausführlich zur politischen Maschine Préfontaines Michel Gauvin, „The Reformer and the Machine: Montreal Civic Politics from Raymond Préfontaine to Médéric Martin“, in: Journal of Canadian Studies/Revue d’études canadiennes 13:2 (Summer 1978), 16–26; ders., „The Municipal Reform Movement in Montreal“, 6–16; zur Macht der Stadtratkomitees Michèle Dagenais, Des pouvoirs et des hommes: L’administration municipale de Montréal, 1900–1950 (Montréal: McGill-Queen’s University Press, 2000), 11–14; Biographisches William H. Atherton, Montreal, 1535–1914 (Montreal: The S.J. Clarke Publishing Co., 1914), vol. III: Biographical, 651–55. Zur politischen Maschine im nordamerikanischen Kontext Howard P. Chudacoff, The Evolution of American Urban Society (Englewood Cliffs: Prentice-Hall, ²1981), 141–65, dort auch weiterführende Literatur.

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Abb. 23  Rand McNally and Co., Stadtplan von Montreal, 1898. Im Osten der Stadt befindet sich der 1883

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annektierte Stadtteil Hochelaga.

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tion auf die eine oder die andere Seite, wobei gerade die Iren häufig aus konfessionellen und Klassengründen eine Koalition mit den Frankophonen bildeten.62 Im Fall des RVH liegen zwei miteinander verwobene Ebenen möglichen Konfliktpotentials zwischen den konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen der Stadt übereinander; auf beiden Ebenen wurde zunächst ein Konflikt vermieden. Zum einen ging es grundsätzlich darum, welchen Schichten, ethnicities und Konfessionen eine Gesundheitseinrichtung zugute kam, also um die funktionalen Aspekte des RVH als Institution. Zum anderen legte sich über diese Frage das Thema der Symbolik des Ortes, genauer: des Zugangs zu einem bedeutungsgeladenen Ort. Auf der ersten Ebene wurde hier im Unterschied zur Schenkung an die Université de Montréal 1922 ein Ausgleich gefunden, der alle Beteiligten erst einmal auch hinsichtlich der zweiten Ebene zufrieden stellte. Ein solcher Ausgleich funktionierte 35 Jahre später bei der UdeM nicht, obwohl die Universität offiziell auch anglo-protestantische Studenten zuließ. Der frankophonen Politelite im Stadtrat genügte es offenbar, eine weitere Option auf Versorgung armer Kranker zur Verfügung zu wissen, selbst in einer explizit britischen Institution, wohingegen die anglophonen Oberschichten die Möglichkeit, ihren Nachwuchs an die UdeM am Mont Royal zu schicken, nicht als realistische Alternative betrachteten. Die Funktion der jeweiligen Institution und damit einhergehend die involvierten gesellschaftlichen Schichten waren für diesen Unterschied verantwortlich. Die UdeM verknüpfte mit ihrem Motto „fide et scientia“ programmatisch Wissenschaft und Glauben; als lehrende Institution für den Führungsnachwuchs war der anglo-protestantischen Elite eine katholische Universität suspekt. 62 Gauvin, „The Municipal Reform Movement in Montreal“, 10–15. Zum sprachlichethnischen Sektionalismus in der Stadt und seiner Auswirkung auf politische Machtkämpfe im Stadtrat vgl. Christopher G. Boone, „Language Politics and Flood Control in Nineteenth-Century Montreal“, in: Environmental History 1:3 ( July 1996), 70–85. Weiteres Beispiel, das aber auch situative Differenzierungen innerhalb der Sektionen nahelegt, bei Michèle Dagenais, „Vie culturelle et pouvoirs locaux: La fondation de la bibliothèque municipale de Montréal“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 24:2 (March 1996), 40–56. Kritik, dass in der Forschung zuviel auf ethnicity geachtet wird und Montreal mit seinen Kämpfen zwischen Reformern und machines ganz normal nordamerikanisch war, bei Gauvin, „The Reformer and the Machine“, 16–26; dazu auch Alan Gordon, „Ward Heelers and Honest Men: Urban Québécois Political Culture and the Montreal Reform of 1909“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 23:2 (March 1995), 20–32, der am Beispiel der Anti-Korruptions-Kampagne von 1909 die Beteiligung von frankophonen Politikern an den Reformen aufzeigt. Klasseninteressen scheinen in dieser Perspektive ethnische zu überwiegen. Allerdings spricht das nicht dagegen, dass die Zeitgenossen die Grenzlinien eher entlang von ethnicity sahen und dies auch von Politikern wie Préfontaine geschickt instrumentalisiert wurde. Zur Fortwirkung der Sprachdichotomie im 20. Jh. Marc J. Levine, The Reconquest of Montreal: Language Policy and Social Change in a Bilingual City (Philadelphia: Temple University Press, 1990).

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Zudem bot sich McGill als ideologisch passendere Alternative an. Protestantische Lehrkräfte hingegen kamen für die UdeM nicht in Frage. Wie aber das Krankenhaus hieß, von wessen Geld es finanziert und aus welchem Anlass es gegründet wurde, das war für die frankophonen Abgeordneten weniger relevant, solange die medizinische Versorgung in der chronisch als ,ungesund‘ geltenden Stadt erweitert wurde.63 Dabei ist die Pockenepidemie, die von August bis November 1885 in der Stadt wütete, als wirkmächtiger Erfahrungshintergrund ebensowenig zu vernachlässigen wie die Tatsache, dass die Montrealer Krankenhäuser ständig überfüllt waren.64 Insofern als dazu noch konfessionell getrennte Seelsorge für potentielle katholische Patienten im RVH gewährleistet werden sollte, war die franko-katholische Fraktion im Stadtrat bereit, im Namen der Öffentlichkeit ein Stück Mont Royal an eine Institution abzutreten, die gesellschaftlichen Konsens unter britischer Oberhoheit an einem mit Herrschaft über die Stadt konnotierten Teil des Stadtraums suggerierte. Pragmatische Überlegungen überwogen auf Seiten der Frankophonen die symbolischen und ermöglichten so einen harmonischen Ablauf der Landabgabe, wozu möglicherweise auch der Einfluss des Bürgermeisters John J. C. Abbott (1887–89) beitrug, der den Stiftern Donald Smith und George Stephen eng verbunden war – er saß beispielsweise im Verwaltungsrat der CPR.65 Daraus könnte man schließen, dass die zweite Ebene, die der Symbolik des Mont Royal, den franko-katholischen Politikern gar nicht so bewusst war. Allerdings ist das angesichts der großen Bedeutung, die der Mont Royal im öffentlichen Diskurs der Zeit einnahm, unwahrscheinlich. Naheliegender ist, dass auch sie zwar den Mont Royal als herausragenden städtischen Ort dachten, das RVH aber – anders als die Gegner des UdeM-Campus 1922 – schlicht nicht als Akt einer symbolischen Besetzung des Berges durch Konkurrenten wahrnahmen. Wurde also der ethno-konfessionelle Bruch zwischen den beiden Gruppen zu dem Zeitpunkt noch nicht als so maßgeblich empfunden? Dagegen sprechen die Ergebnisse der Forschungen zur lokalen Politik im 19. Jahrhundert und zu der in Montreal zu der Zeit üblichen institutionellen Separierung der beiden gesellschaftlichen Gruppen. Die Trennung der Krankenhäuser nach Konfession ordnet sich dabei in den breiteren Kontext der in der Forschung als „cloisonnement institutionnel“ bezeichneten Strukturierung der

63 Vgl. Terry Copp, The Anatomy of Poverty: The Condition of the Working Class in Montreal, 1897–1929 (Toronto: McClelland & Stewart, 1974); Martin Tétreault, „Les maladies de la misère: Aspects de la santé publique à Montréal, 1880–1914“, in: Revue d’histoire de l’Amérique française 36:4 (Mars 1983), 507–26. 64 Lewis, Royal Victoria Hospital, 3–7. 65 Vgl. Claude-V. Marsolais et al., Histoire des maires de Montréal (Montréal: VLB, 1993), 133–38.

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Montrealer Gesellschaft im 19. Jahrhundert ein.66 Darunter wird die von den führenden Schichten der jeweiligen Ethnizität vorangetriebene Doppelung der Institutionen nach religiösen und sprachlichen/ethnischen Kriterien verstanden: Schulen, Kirchen, Hospitäler und Armenfürsorge wurden je von den Hauptgruppierungen getrennt betrieben. Konfession bildete dabei die vorwiegende Trennlinie, innerhalb derer dann nach Ethnizität differenziert wurde. Iren etwa erhielten weitgehend eigene katholische Gemeinden und Schulen.67 Auf institutioneller Ebene blieben die Bevölkerungsteile so weitgehend voneinander abgeschirmt, was von den jeweiligen Eliten zwecks Verringerung des Konfliktpotentials gefördert wurde. Diese Strategie einer Koexistenz im Sinne eines Nebeneinander – die später sprichwörtlich gewordenen „two solitudes“68 – war nur teilweise erfolgreich. Gerade die 1880er Jahre waren eine eher krisengeschüttelte Dekade hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Montrealern britischer und französischer Herkunft. Das Jahr 1885 sah den schwerwiegendsten dieser Konflikte, der sich an der Frage des Impfzwangs gegen Pocken entzündete. Angesichts der verheerenden Folgen der Pockenepidemie für die Wirtschaft starteten vor allem anglophone Geschäftsleute in Zusammenarbeit mit der anglophonen Presse eine regelrechte Kampagne, die die Quarantäne der Kranken und eine Zwangsimpfung der noch gesunden Bürger forderte. Einige führende Frankophone, wie etwa der Bürgermeister Honoré Beaugrand, unterstützten sie darin, und der Stadtrat verordnete schließlich per Dekret sowohl Isolation als auch Impfung. Die in großem Maße von der Epidemie betroffene frankophone Arbeiterschaft allerdings weigerte sich teilweise, den Verordnungen Folge zu leisten, zumal selbst unter Ärzten der Nutzen dieser Impfung umstritten war. Im Ostteil der Stadt kam es zu regelrechten Meutereien, die sogar einen Militäreinsatz notwendig machten. Gab es auch in anderen Städten Kanadas und der USA und in anderen Ländern wie etwa Frankreich, England oder Deutschland Konflikte um Impfungen, so war das Spezifische in Montreal, dass der Streit interethnische Züge annahm.69 In der öffentlichen Debatte geriet die Ausein66 Paul-André Linteau et Jean-Claude Robert, „Montréal au 19e siècle: bilan d’une recherche“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 13:3 (Feb. 1985), 217; Dagenais, „Vie culturelle et pouvoirs locaux“, 42. Jüngere Forschungsarbeiten heben die Durchlässigkeit dieser Grenzen in der sozialen Praxis hervor, vgl. Julie Podmore, „St. Lawrence Boulevard as ,Third City‘: Place, Gender and Difference along Montréal’s ,Main‘“ (Diss. McGill University, 1999), 283, was allerdings m. E. weder gegen sektionalistische Tendenzen seitens der Institutionen noch gegen die weitverbreitete Perzeption der Gesellschaft in diesen distinkten Kategorien spricht. 67 Linteau et Robert, „Montréal au 19e siècle“, 217. Vgl. Rosalyn Trigger, „The Geopolitics of the Irish-Catholic Parish in Nineteenth-Century Montreal“, in: Journal of Historical Geography 27:4 (2001), 553–72. 68 Hugh MacLennan, Two Solitudes (Toronto: Collins, 1945). 69 Michael Farley et al., „La vaccination à Montréal dans la seconde moitié du 19e siècle: pratiques, obstacles et résistances“, in: Marcel Fournier et al. (eds), Sciences et médecine

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andersetzung zu einer Schlammschlacht zwischen Anglophonen und Frankophonen, auch wenn die Fronten hinsichtlich der eigentlichen Frage nicht so klar gezogen waren. Die anglophone Presse diffamierte die Frankokanadier als rückständig, wohingegen die frankophonen Zeitungen gegen autoritäre Anglophone polemisierten. Konfessionelle und ethnisch-linguistische Kategorien wurden dabei ineinandergeblendet und zwei ethno-kulturelle Blöcke konstruiert. Erst mit dem Ende der Epidemie kühlte die erhitzte Stimmung wieder ab.70 Dass gerade in diesem Jahr die Feindseligkeiten besonders hervorbrachen, ist vor dem Hintergrund der Riel-Affäre zu sehen, die im ganzen Land das Verhältnis zwischen Anglophonen und Frankophonen belastete.71 In Montreal bildete eine Protestversammlung auf dem Champ de Mars unter Beteiligung hochrangiger Politiker wie des kanadischen Premiers Wilfrid Laurier und des Premiers von Quebec, Honoré Mercier, nach der Hinrichtung von Louis Riel im November 1885 den Höhepunkt der anti-anglokanadischen Agitation, in der aufgestaute Wut aus der Riel-Affäre und der Impfkrise ineinanderliefen.72 In der Tat war also die von Smith und Stephen postulierte und dem Stadtrat eingeforderte glaubens-, aber auch ethnizitätsübergreifende Ausrichtung des RVH eine Neuerung. Allein die betonte Neutralität in der Gründungsurkunde verdeutlicht zudem, welchen Stellenwert diese beiden Begriffe als identitätsstiftende und Differenzen kreierende Kategorien in der Montrealer Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts bildeten. Dass der knapp mehrheitlich frankophone Stadtrat dem Ansinnen von Smith und Stephen so positiv begegnete, wird dementsprechend an der von den Stiftern postulierten Öffnung des RVH für alle „races“ und „creeds“ gelegen haben. Wie aus dem oben zitierten Vertrag über den land lease zwischen Stadt und RVH hervorgeht, war es für die Stadträte eine notwendige Bedingung der Landabgabe, dass der Klerus jeder Glaubenszugehörigkeit für alle Zeiten die gleichen Besuchsrechte haben sollte.73 Auch diese Klausel ging auf einen klugen Schachzug der Stifter zurück. In einem Schreiben an den Bürgermeister hatten sie noch an dem Tag, an dem das Sonder-

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au Québec: Perspectives sociohistoriques (Québec: Institut québécois de la recherche sur la culture, 1987), 87–127, v. a. 89, 113, dort auch weiterführende Literatur zu Impfkrisen in anderen Ländern; Benoît Gaumer et al., Histoire du service de la santé de la ville de Montréal, 1865–1975 (Québec: Les Presses de l’Université Laval, 2002), 48–57; Michael Bliss, Plague: A Story of Smallpox in Montreal (Toronto: Harper Collins, 1991). Linteau, Histoire de Montréal, 53–55. Vgl. Robert Rumilly, Histoire de Montréal (Montreal: Fides, 1972), tome 3, 173–81. Farley, „La vaccination à Montréal“, 106. Zum Klima in der Stadt zu der Zeit vgl. Un siècle à entreprendre: La Chambre de commerce de Montréal, 1887–1987 (Montréal: Libre Expression, 1987), 14. Zu Riel J. M. Bumsted, Louis Riel v. Canada: The Making of a Rebel (Winnipeg: Great Plains Publications, 2001). Linteau, Histoire de Montréal, 55. Notarieller Akt vom 17.9.1887, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié).

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komitee des Stadtrats den positiven Bericht über ihren Antrag vorlegte, ihre Freude über die Unterstützung des Komitees ausgedrückt und von sich aus angeboten, dass alle Geistlichen zum RVH Zutritt haben würden. Fast wörtlich wurde ihr Angebot in den Vertrag übernommen: „You may feel assured that in the constitution [sic] of the Hospital every provision will be made and precaution taken so as to secure for all time, that these conditions shall be strictly adhered to.“74 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich hierbei um einen Versuch der Stifter handelte, nach dem positiven Bericht des Sonderkomitees über das Grundstück am Mont Royal nun den gesamten Stadtrat für sich zu gewinnen. Allein die Formulierung „you may feel assured“ zeigt, dass Sinn und Zweck dieser Bestimmung war, im Stadtrat eine dem ,Projekt RVH‘ wohlgesonnene Stimmung zu erzeugen. Sie legt aber auch nahe, dass dies keine Selbstverständlichkeit war, sondern von einer ethnizitäts- und konfessionsübergreifenden Öffnung des Krankenhauses abhing. Das Land am Mont Royal und die Zugänglichkeit der dort zu errichtenden Institution für Repräsentanten sämtlicher Glaubensgemeinschaften waren im Denken der beteiligten Akteure jedenfalls untrennbar miteinander verknüpft. Indem diese Klausel in den Vertrag über das Grundstück aufgenommen wurde, wurde die Verbindung zwischen dem physischen Ort und der Gleichberechtigung der Konfessionen vertraglich fest- und fortgeschrieben. Dass das Hospital dem katholischen Klerus wie auch katholischen Patienten offenstand, erklärt, warum die frankophonen Abgeordneten das RVH nicht als Besetzung des Berges durch anglophone Eliten empfanden. Es schien, als könnte das RVH tatsächlich zu einem Ort der friedlichen Zusammenarbeit früherer Gegner im Rahmen der ethno-kulturellen und sozialen Ordnung des britischen Empire werden. Die Tatsache, dass die Stifter in ihrem Grundsatzprogramm zur Universität „race“ und „creed“ anführten, wohingegen es dem Stadtrat lediglich auf eine Gleichberechtigung innerhalb der Kategorie „creed“ anzukommen schien, liegt in der Praxis des Krankenhauswesens begründet und darf nicht dahingehend interpretiert werden, dass für die Frankophonen ,Religion‘ die größere zu überbrückende Trennlinie darstellte als ,Ethnizität‘. Jenseits des medizinischen Personals standen den Patienten Vertreter der Glaubensgemeinschaften zur Seite, die in ihrer Funktion als religiöse Begleiter und nicht etwa als Vertreter von Sprachgruppen auftraten. Im Montreal des 19. Jahrhunderts waren die Krankenhäuser zudem meist von religiösen Gemeinschaften getragen und Klerus oder Nonnen stellten häufig das Pflegepersonal.75 Die 74 George Stephen und Donald A. Smith an Bürgermeister Abbott, 16.5.1887, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 75 Auch die meisten Krankenhäuser in den USA waren zwischen den 1850er und 1890er Jahren ethnisch-religiös getragen. Vgl. Starr, The Social Transformation of American Medicine, 174. Zur herausragenden Rolle der Kirche im Gesundheitswesen Quebecs bis in die 1960er Jahre François Guérard, „L’Etat, l’Eglise et la santé au Québec (1887–1939)“, in: Cahiers d’histoire 17:1-2 (printemps-automne 1997), 76–94.

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Trennlinie im Gesundheitswesen verlief also üblicherweise entlang der Konfessionsgrenzen. Indem sie das Besuchsrecht der Geistlichen jeglicher Konfession einforderten, beugten die Abgeordneten der Gefahr vor, dass etwaige katholische – seien es frankophone oder irische – Patienten von protestantischen Geistlichen inadäquat betreut würden oder sich möglicherweise dieser Konfession zuwenden könnten, so wie es Paul Starr für die USA gezeigt hat: „Discrimination was a principal reason for the formation of separate religious and ethnic hospitals. […] Catholics were afraid they might not be given the last rites […]. Both religious communities [Catholic and Jewish] worried that efforts might be made to convert some of their members in moments of personal crisis.“76 Das schnelle Einverständnis der frankophonen Politiker mag zudem darin wurzeln, dass es sich hier, gerade auch vor dem Hintergrund der Pockenepidemie, um einen ethnizitätsübergreifenden Schulterschluss zwischen den städtischen Wirtschaftsund politischen Eliten handelte. Auch von der Stifterseite her muss die Initiative der Krankenhausstiftung vor dem Erfahrungshintergrund der krisengeschüttelten 1880er Jahre und deren Implikationen für die Beziehungen zwischen den sozialen Schichten Montreals betrachtet werden. Schließlich war die frankophone Bevölkerung von der Pockenepidemie am stärksten betroffen, was allerdings daran lag, dass sich ethnische und soziale Divisionen zum größten Teil überlappten. Mehr als ein ethnischer Konflikt war der Impfstreit ein Klassenkonflikt – der aber in den Medien und der öffentlichen Debatte in ethnisch-konfessionellen Termini geführt wurde, was abermals zeigt, welche gesellschaftlichen Brüche als die tieferen wahrgenommen wurden.77 Dementsprechend galten die frankophonen Bürger Montreals als die kränkeren und auch als die autoritären Verordnungen gegenüber aufmüpfigeren.78 Vielleicht hielten Smith und Stephen es daher für notwendig, in Zukunft gerade den von Krankheiten betroffenen armen Frankokanadiern oder auch Iren erweiterte medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen, nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichem Eigeninteresse. Der Ordnungsdiskurs der anglophonen Oberschicht, innerhalb dessen sie den Mont Royal zu einer in ihrem Sinne menschenverbessernden Umgebung deuteten, war letztlich in erster Linie ein Klassendiskurs, den sich die frankophone Politelite mühelos zu eigen machen konnte, weshalb sie das Projekt des RVH zunächst auch nicht als diskursive Belegung des Mont Royal durch eine konkurrierende gesellschaftliche Gruppe perzipierte. Das angelsächsische Selbstverständnis als führend anderen ethno-kulturellen Gruppen gegenüber klang lediglich indirekt in der Positionierung 76 Starr, The Social Transformation of American Medicine, 173. 77 Linteau, Histoire de Montréal, 55. Zur Korrelation von ethnischer und sozialer Division Annick Germain, „L’émergence d’une scène politique: mouvement ouvrier et mouvement de réforme urbaine à Montréal au tournant du siècle“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 37:2 (septembre 1983), 185–99. 78 Farley, „La vaccination à Montréal“, 103–04.

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als Vertreter modernen Wissens und in der Hommage an die Queen mit an. Auch letzteres wies keine explizite anti-franko-katholische Spitze auf; denn gerade die britische Krone, der hier Ehre erwiesen werden sollte, hatte im British North America Act von 1867 den Katholiken des Dominions konfessionelle Rechte, wie etwa ein eigenes Schulsystem, garantiert.79 Insofern war die britische Herrschaft hinsichtlich der Existenz von konfessionell angebundenen Institutionen, wie es etwa die Krankenhäuser waren, für die Frankokanadier nicht primär negativ konnotiert. Schließlich konnten sie sich auch als gleichberechtigte Untertanen ihrer Majestät und vor allem als Kanadier begreifen.80 Auf symbolischer Ebene können zudem die mental maps der Stadt bzw. des Mont Royal handlungsleitend für den franko-katholischen Teil des Stadtrats gewirkt haben. Das RVH sollte zwar an der edelsten Seite des Berges errichtet werden, diese war jedoch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der anglo-protestantischen Oberschicht assoziiert, die dort in der Golden Square Mile residierte. Vermutlich war in der geographischen Imagination der frankophonen Stadträte dieser Teil des Mont Royal einfach nicht der ihre, weshalb sie nichts gegen die Entfaltung britischer Symbolik einzuwenden hatten; mit einer sehr knappen Mehrheit in der Stadtpolitik fehlte ihnen wohl auch noch das Selbstbewusstsein, dezidiert Ansprüche auf diesen Hang anzumelden.81 Gleichzeitig ist naheliegend, dass ihnen auch der Park an diesem Ort der Stadt nicht so am Herzen lag: Für die meisten Frankokanadier war er von ihren Vierteln aus schlecht erreichbar. Der Parc du Mont Royal war 1887 einfach noch nicht Teil des Freizeitrituals der breiten Masse der Bevölkerung. Die franko-anglophone Dichotomie war zwar eine durchaus grundlegende Struktur der Identitätskonstruktion im Montreal des späten 19. Jahrhunderts, dominierte aber nicht in allen Situationen, was den historisch kontingenten, situativen Charakter der Zusammengehörigkeiten innerhalb der Montrealer Gesellschaft unterstreicht. Im Fall des RVH konnten sich die frankophonen Abgeordneten offenbar aufgrund der Art der Institution und der schwierigen Situation im Gesundheitswesen, dem Entgegenkommen der Stifter in konfessioneller Hinsicht, ihrer eigenen gesellschaftspolitischen und sozialen Stellung sowie ihrer imaginären Geographie der Stadt mit dem 79 Vgl. Sylvie Lacombe, „A Brief Overview of French Canadian Nationalism in the 19th Century“, www.ifs.csic.es/practica/estlaico/lacombe.pdf, 9, Stand 14.5.2007. 80 Vgl. Rudin, „Contested Terrain“, 200, der diese Haltung am Beispiel des 300jährigen Jubiläums der Gründung von Quebec untersucht. 81 Eine Studie hat für 1881 gezeigt, dass fast alle anglophonen Stadträte in der Golden Square Mile wohnten, während die große Mehrheit der frankophonen Abgeordneten im wohlhabenden frankophonen Viertel um die Rue St-Denis zu Hause war. Paul-André Linteau, „Le personnel politique de Montréal, 1880–1914: Évolution d’une élite municipale“, in: Revue d’histoire de l’Amérique française 52:2 (automne 1998), 205. Ausführlicher Christine Simard, „Le personnel politique de Montréal, 1881–1912: Espace urbain, richesse et propriété foncière“ (M.A. Université du Québec à Montréal, 1997).

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Symbolwert einer wehenden britischen Fahne und dem Licht-Luft-Diskurs der Stifter identifizieren, so dass sie das Projekt eines Krankenhauses am Mont Royal nicht als Abgabe der Definitionshoheit oder als symbolische Machtdarstellung einer konkurrierenden Gruppe wahrnahmen. 1887 war eine harmonische Zusammenarbeit am Mont Royal möglich. 2.1.3  Das Schweigen der Parklobby

Ganz im Zeichen der Harmonie, die die Planung des Royal Victoria Hospital umgab, rührte sich auch keinerlei Widerstand seitens der später bei der UdeM so vehement protestierenden Parklobby. Anscheinend störte es 1887 niemanden, dass ein Krankenhaus ein Stück des öffentlichen Parks belegen wollte, auch wenn vor dessen Toren genauso wenig Kindergeschrei und Spiellärm toleriert werden würde wie 35 Jahre später auf dem Gelände einer Elite-Universität. Einige Erklärungsmöglichkeiten drängen sich auf, die teils mit dem Zeitpunkt in der Geschichte des Parks, teils aber auch mit dem Zweck der Institution zu tun haben. Zum einen war der Parc Mont Royal in den späten 1880er Jahren ein sehr junger Park. Noch hatte er nicht seine Wirkung als Publikumsmagnet entfaltet, weshalb niemand auf die Idee kam, im Namen des öffentlichen Wohls für diesen Park auf die Barrikaden zu gehen.82 Die Parkbewegung steckte in den Kinderschuhen: 1887 gab es in Montreal noch keine organisierte Parklobby. Die Vorgängerorganisation der MPPA wurde erst im Winter 1895/96 gegründet. Vermutlich war auch der Umfang des an das RVH abzutretenden Grundstücks (10 acres) nicht groß genug, um einen öffentlichen Aufschrei hervorzurufen. Immerhin hatte sich in den späten 1880er Jahren die Stadt auch noch nicht in dem Maße um den Berg herum ausgedehnt wie in den 1920ern. Insofern schien es den Zeitgenossen vielleicht noch nicht so dringlich, um jeden einzelnen acre zu kämpfen. Das Sonderkomitee des Stadtrates, das die Möglichkeit, dem RVH ein Stück Park abzutreten, untersuchte, kam ebenfalls zu dem wenn auch nicht näher erläuterten Ergebnis, dass dieses Grundstück „not essential to the purpose of the Park“ sei.83 Erst retrospektiv beklagten vereinzelt Bürger in Leserbriefen den Verlust von Parkland an das RVH in gleichem Maße wie an die UdeM.84

82 Einige Stadträte beklagten sich sogar, dass der Park im Verhältnis zu seinen hohen Unterhaltskosten zu wenig frequentiert sei, vgl. etwa „The Mountain Park“, in: Herald 18.8.1884. 83 Report from the Special Committee on the Royal Victoria Hospital, 16.5.1887, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 84 Vgl. H. P., „The Alienation of Mount Royal“, Letter to the Editor, in: Gazette 1.7.1922.

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Zum anderen mag das Fehlen von Protest im Namen des Parks auch daran gelegen haben, dass das Royal Victoria Hospital weniger als special interest-Vertreter erschien als später die Universität oder gar die Tramgesellschaft, die nur wenige Jahre danach (1895) eine Linie über den Berg plante und an energischen Verteidigern des Parks scheiterte. Gerade in den Augen der in der Golden Square Mile residierenden angloprotestantischen Elite, die ja 1922 größtenteils den Aufstand gegen die UdeM trug, mochte ein Krankenhaus für die Armen der Stadt als eine dem Park gleichwertige wohltätige Institution erscheinen. Statt in überfüllten Straßen aufwachsende Kinder der Unterschichten konnten so eben verarmte Kranke in den Genuss der wohltuenden Wirkung des offenen Raums am Mont Royal gelangen. Doch auch die symbolische Funktion des RVH wird in Kombination mit der Stellung des Mont Royal in der Montrealer imagination urbaine eine Rolle im Ausbleiben des Protestes gespielt haben. Immerhin erregten sich die Ladies der anglophonen high society sehr über die ,Verschandelung‘ des Parks durch eine Tram – auch wenn diese gerade der vorgeblichen Zielgruppe des Parks, den Armen aus den überfüllten Stadtteilen, überhaupt erst einen billigen Zugang zum Berg verschaffen sollte.85 Die Tram, wie auch die UdeM, stellte in den Augen ihrer Gegner ein Übergreifen anderer in anglo-protestantisches Oberschichtenterritorium an dieser Seite des Mont Royal dar, seien die ,anderen‘ die picknickenden Arbeitermassen oder eine neue frankokanadische Bildungselite.86 Das Royal Victoria Hospital hingegen war eine anglo-protestantische Stiftung, in der anderen Montrealern lediglich die Rolle von Bittstellern und Empfängern von Wohltätigkeit zugedacht war. Die Stifter Smith und Stephen verkehrten in den gleichen Zirkeln wie die sich für den Park einsetzenden Ladies. Die erste Präsidentin des kurze Zeit später gegründeten und von da an stetig den Park verteidigenden Montreal Local Council of Women (MLCW) etwa war Julia Drummond, deren Ehemann George A. Drummond im Board of Governors des RVH saß.87 Das RVH würde nicht nur der britischen Königin, sondern auch der Wohltätigkeit einer ganzen gesellschaftlichen 85 Zum Tramkonflikt Michèle Dagenais, „Entre tradition et modernité: Espaces et temps de loisirs à Montréal et Toronto au XXe siècle“, in: Canadian Historical Review 82:2 ( June 2001), 308–30. Vgl. ausführlicher Kapitel 3. 86 Weiterführend zum Konzept der Territorialität als Versuch, Identitäten zu definieren und Verhaltensweisen durch das Belegen von Räumen zu dirigieren, Daniel Bourgeois and Ives Bourgeois, „Territory, Institutions and National Identity: The Case of Acadians in Greater Moncton, Canada“, in: Urban Studies 42:7 ( June 2005), 1128–29; Robert D. Sack, Human Territoriality: Its Theory and History (Cambridge: Cambridge University Press, 1986), v. a. 19. 87 Procès-verbal du Conseil, lundi 5 septembre 1887, AVM, PVC, B15. Vgl. Jeanne M. Wolfe and Grace Strachan, „Practical Idealism: Women in Urban Reform, Julia Drummond and the Montreal Parks and Playgrounds Association“, in: Caroline Andrew and Beth Moore Milroy (eds), Life Spaces: Gender, Household, Employment (Vancouver: B.C. University Press, 1988), 65–80.

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Gruppe ein Denkmal am Mont Royal setzen und den Anspruch der anglo-protestantischen Oberschichten der Golden Square Mile auf diese Seite des Berges visuell im Raum zementieren. Nicht einmal retrospektiv, aus dem Streit der 1920er heraus, kritisierten die aktiven Parklobbyisten den Bau des RVH. Wenn es um die Bebauung des Mont Royal ging, dann stand jenseits von aller Rhetorik ganz offenkundig nicht nur ein Park auf dem Spiel, sondern das Markieren von Einzugsgebieten und Territorien. Und da gab es im Fall des RVH ganz und gar nichts zu kritisieren. Allein das Board of Trade erwähnte den Park in einem Kommentar über die Lage des RVH. Allerdings war dem Board of Trade dabei weniger das RVH selbst ein Dorn im Auge als die Möglichkeit, dass das Krankenhaus zu einem Präzedenzfall werden und andere Institutionen nach seinem Vorbild ein Stück des Parks begehren könnten.88 Das Projekt des Royal Victoria Hospital stieß folglich im Jahr 1887 auf große Zustimmung. Indem sie die Institution explizit für unterschiedliche gesellschaftliche Schichten, Ethnizitäten und Konfessionen öffneten, konnten die Stifter einen breiten Konsens für ihr Vorhaben sichern. Vor allem konnten sie mühelos den mehrheitlich frankophonen Stadtrat überzeugen, ihnen zu diesem Zweck ein Grundstück in der prominentesten Lage der Stadt zu überschreiben. Obwohl der Anlass seiner Gründung, der Name des Krankenhauses sowie der gewünschte Ort darauf angelegt waren, die Führungsansprüche der anglo-protestantischen Elite im Stadtraum sichtbar zu machen, gab es keinerlei Einsprüche. Die frankophone politische Elite und die anglophonen Stifter einigten sich in schönster Harmonie auf ein Projekt, das allen Armen der Stadt zugute kommen sollte. Diese interethnische und interkonfessionelle Zusammenarbeit war nicht selbstverständlich im Montreal der 1880er Jahre; wie sensibel die Themen „race“ und „creed“ waren, zeigt sich auch daran, dass die Öffnung des Krankenhauses für alle Ethnizitäten und Konfessionen explizit festgelegt werden musste. Angesichts der gerade einmal zwei Jahre zurückliegenden heftigen Auseinandersetzungen um den Impfzwang und die Affäre Riel scheint der Wunsch der anglophonen Oberschichten, ein Zeichen des Konsenses zwischen den Bevölkerungsteilen Montreals zu setzen – und dabei auf subtile Weise den Führungsanspruch der britischstämmigen Elite zu inszenieren –, verständlich. Gerade die Eliten der Stadt wurden sich in diesen Jahren bewusst, wie dünn doch die harmonische Schicht war, die über dem Zusammenleben der „two solitudes“ lag und in welchem Ausmaß die latenten Spannungen als gewalttätige Konflikte jederzeit hervorbrechen konnten. Ein konfessions- und ethnizitätsübergreifender Konsens innerhalb dieser Eliten war hier möglich durch ein gemeinsames wohltätiges Projekt für die Unterschichten der Stadt – gerade weil es sich um Unterschichten beider Konfessionen und Ethnizitäten handelte. Für die frankophonen Stadträte war es 1887 dringlicher, 88 Memorandum adopted 20th March 1888 by the Council of the Montreal Board of Trade regarding the proposed site in the Mountain Park for the Royal Victoria Hospital, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Hospital Site.

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den franko-kanadischen Unterschichten eine erweiterte medizinische Versorgung bereitzustellen, damit die gesundheitlichen Probleme der Stadt und ihre wirtschaftlichen Folgen anzupacken und sich nebenher die innerethnische, klassenübergreifende Loyalität der frankophonen Massen zu sichern als zwischenethnische Konkurrenzkämpfe innerhalb der Eliten auf einem symbolischen Schauplatz auszutragen – zumal der physische Zugang zum Mont Royal ja sogar für führende Mitglieder des frankokatholischen Milieus, den katholischen Klerus, gesichert blieb.

2.2  „A doubt has arisen“: Disharmonien 2.2.1  „A menace to public health“: Experten

Allerdings ließen auch bei diesem Projekt am Mont Royal Proteste nicht lange auf sich warten. Während Stadtrat und Stifter sich schnell einig waren und auch kaum jemand in der Öffentlichkeit den Verlust von Parkland beklagte, kamen die Bedenken diesmal aus einer anderen Richtung. Im Februar 1888, ein knappes halbes Jahr nach dem Vertrag, stand im Stadtrat ein Bericht des städtischen Board of Health/Bureau de santé auf der Tagesordnung. Darin ging es um die Frage, ob das geplante Krankenhaus aufgrund seiner Lage in der Nähe eines städtischen Wasserreservoirs die Qualität des Trinkwassers beeinträchtigen könne.89 Das Board of Health stellte fest: „a doubt has arisen as to whether public health would not be menaced“ und empfahl dem Stadtrat dringend „that a committee of competent scientific men be appointed to examine the question and report thereon, as early as possible in order to alley public anxiety.“90 In der Tat befand sich das von den Stiftern erbetene Grundstück mit der Katasternummer 1801 an der Pine Avenue gegenüber dem McTavish Reservoir, einem der bedeutendsten städtischen Wasserreservoirs, das hangabwärts in Richtung McGill University lag (vgl. Abb. 21). Das Board of Health, das hier die Bedenken äußerte, war ein städtisches Komitee, das über die Gesundheitslage in der Stadt wachen sollte und mit hygienischen Aufgaben betraut war. Die Geschichte des Board of Health von Montreal ist bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eine Geschichte der chronischen Unterfinanzierung und mangelnden Organisation, weshalb es weitgehend ineffektiv blieb.91 Erst nach und nach wurde es zu einem wirkungsvollen Instrument der santé publique ausgebaut und als solches anerkannt. Das Board of Health 89 Procès-verbal du Conseil, lundi 20 février 1888, AVM, PVC, B15. Vgl. auch Extract from the minutes of a meeting of the Board of Health of the City of Montreal, held on the 3rd February 1888, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 90 Resolution des Board of Health vom 3.2.1888, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 91 Linteau, Histoire de Montréal, 103.

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gehört damit zu den Institutionen, die im Zuge der Reformen der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts in eine Hochphase eintraten. In diesen Jahren wandelte sich das Denken über Gesundheit und Krankheit grundlegend, was überhaupt erst die Voraussetzungen für eine solche Institution bzw. das Denken in einer Kategorie wie der „santé publique“ schuf. Im Rahmen environmentalistischer Vorstellungen wurden mögliche gesellschaftlich bedingte Ursachen von Krankheit wie etwa Armut und die damit einhergehenden gesundheitsgefährdenden Lebensbedingungen als solche erkannt und nicht mehr jeder für sein eigenes Schicksal verantwortlich gemacht. Die Vernetzung der Gesellschaft in den Metropolen trat – gerade angesichts der sich in den dicht besiedelten Städten rasant ausbreitenden Epidemien wie etwa der Pocken von 1885 – nur zu deutlich hervor; traditionelle individualistische Ideologien schienen den Problemen der Moderne nicht mehr gerecht zu werden, gemeinsame Lösungen mussten für gemeinsame Probleme erarbeitet werden, kurz: Es wurde gesellschaftlicher gedacht.92 Als neutrale Experten für Fragen der öffentlichen Gesundheit positionierten sich – nicht ganz uneigennützig – die Angehörigen der medizinischen Profession.93 Das 1876 geschaffene Board of Health bestand primär aus Ärzten und Spezialisten der public hygiene wie etwa den inspecteurs sanitaires und einer Art Hygienepolizei. Auf die Problematik der Lage des RVH am Reservoir war das Board of Health durch Vertreter des Montreal General Hospital (MGH) aufmerksam gemacht worden. Dieses war das traditionelle, anglophone Krankenhaus, das bis dahin als Lehrkrankenhaus für McGill fungiert hatte. Da es permanent überfüllt war, hatte es in den 1870er Jahren einen neuen Anbau erhalten. Einer der Hauptsponsoren dieses neuen Seitenflügels war kein anderer als George Stephen. Der neue Anbau erwies sich jedoch als nicht ausreichend, und so wurde 1880 ein Architekt beauftragt, Pläne für einen kompletten Neubau zu entwerfen, ein Projekt, das allerdings wegen der Wirtschaftskrise der frühen 1880er Jahre eingestellt wurde.94 In dieser Situation erfuhr die Leitung des MGH von der großzügigen Neugründung und plädierte beim Board of Directors des RVH dafür, dass beide Institutionen ihre Kräfte vereinen und zusammen ein großes Krankenhaus an der Stelle des alten MGH errichten sollten. Allerdings gingen die Stifter nicht auf diesen Vorschlag ein 92 Zum ideengeschichtlichen Hintergrund: Arthur S. Link and Richard L. McCormick, Progressivism (Wheeling: Harlan Davidson, 1983), 68–69. Zum Montrealer Board of Health: Linteau, Histoire de Montréal, 103–05; Michael Farley et al., „Les commencements de l’administration montréalaise de la santé publique (1815–1885)“, in: Peter Keating et Othmar Keel (dir.), Santé et Société au Québec: 19e–20e siècles (Montréal: Boréal, 1995), 85–114; Gaumer et al., Histoire du service de la santé de la ville de Montréal, 42. 93 Zum hygienischen Diskurs als Teil der allgemeinen Reformbestrebungen und der Etablierung der Mediziner als Experten für die öffentliche Gesundheit Claudine PierreDeschênes, „Santé publique et organisation de la profession médicale au Québec, 1870– 1918“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 35:3 (décembre 1981), 355–375. 94 Lewis, Royal Victoria Hospital, 4–6.

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und beharrten auf der repräsentativen Lage am Berg, nahe bei McGill.95 Möglicherweise befürchteten die Vertreter des MGH, ihnen würden kostbare Sponsorengelder durch ein konkurrierendes Krankenhaus verlorengehen, und so brachten sie das Argument des Reservoirs ins Spiel, das vom städtischen Board of Health dann aufgegriffen wurde.96 Die Konkurrenz um Ressourcen innerhalb einer Profession, sogar innerhalb einer Institution – beide Krankenhäuser waren mit McGill verbunden –, kann hier als eine Ursache für den die Harmonie um das Royal Victoria Hospital aufbrechenden Protest gewertet werden. Anglophone Ärzte kritisierten ein Projekt, das der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses der McGill University zugute kommen sollte. Sicherlich war zudem das bereitwillige Eingreifen des Board of Health in die Planung des RVH Teil der Positionierungsstrategie der Ärzte als Experten in den Alltagsgeschäften der Stadt. Als „competent scientific men“ im Bericht des Board identifiziert, wurde ihre Fähigkeit proklamiert, aufgrund wissenschaftlicher Qualifikationen den Ängsten der Öffentlichkeit zu begegnen. Die Stadträte sollten erkennen, wie wichtig die Experten durch ihr Profil als neutrale Fachleute gerade in öffentlichkeitswirksamen Fragen für die Stadtverwaltung werden konnten. Angesichts der Einwände des Board of Health beschloss der Stadtrat denn auch, dessen Empfehlung nachzukommen: Sowohl das Board of Health als auch das Board of Governors des Royal Victoria Hospital sollten je einen Experten benennen, um den vorgesehenen site ausführlich zu untersuchen und den hygienischen Bedenken auf den Grund zu gehen.97 Diese Bestimmung impliziert zweierlei. Erstens wird deutlich, dass das Board of Health als Vertreter der einen Vertragspartei, nämlich der Stadt, betrachtet wurde und doch nicht nur als ein neutrales, objektiv auf Gesundheitsrisiken des Projekts verweisendes Organ. Zweitens zeigt die Tatsache, dass Vertreter beider Vertragsparteien, der Stadt und der Gründer des RVH, je einen Experten ihres Vertrauens bestimmen sollten, als wie wenig ,objektiv‘ letztendlich diese scheinbar neutralen Mediziner eingeschätzt wurden. Diese Einschätzung war nicht ganz grundlos, denn immerhin wurden die Experten von ihren jeweiligen Auftraggebern bezahlt.98 95 Zu den anfänglichen Verhandlungen zwischen den beiden Krankenhäusern ebd., 10–17; Protokolle der Sitzungen des Board of Governors des RVH zu diesem Thema: Minutes of the Meetings of the Board of Governors of the RVH, 11.10.1887; 22.12.1887; 4.6.1889, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Administrative Services, „Board of Governors, Minutes of the Meetings 1887–1940“, Beharren auf der Lage: Ebd., Protokoll vom 4.6.1889. 96 Lewis, Royal Victoria Hospital, 11–12. 97 Procès-verbal du Conseil, lundi 20 février 1888, AVM, PVC, B15. 98 Minutes of the Meetings of the Board of Governors of the RVH, 23.3.1889, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Administrative Services, „Board of Governors, Minutes of the Meetings 1887–1940“.

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Prompt kamen die zwei mit den Untersuchungen beauftragten Mediziner zu unterschiedlichen Ergebnissen. Im Juni 1888 legten sie ihre Gutachten dem Stadtrat vor.99 War es Zufall, dass das städtische Gremium einen frankophonen Arzt, Dr. Séverin Lachapelle, benannt hatte und die Direktoren des RVH einen anglophonen, Dr. George Ross100 – und dass Lachapelle gegen den site plädierte, Ross aber dafür? Der vom Bürgermeister und dem Vorsitzenden des – im übrigen ebenfalls mehrheitlich frankophonen – Board of Health zum Experten der Stadt berufene Lachapelle argumentierte, dass das Krankenhaus auf keinen Fall am geplanten Ort gebaut werden dürfe, da das Trinkwasser der Stadt sowohl durch die Abwasser des Krankenhauses als auch durch die von den Patienten ausgeatmete Luft infiziert werden könnte. Dabei berief er sich auf neueste Erkenntnisse in der „théorie des germes“ und warnte, dass ein Hospital an dieser Stelle die grundlegendsten hygienischen Anforderungen missachten würde. Im „intérêt public“ solle das RVH an einem anderen Ort errichtet werden.101 Dagegen argumentierte Ross, neueste Studien hätten gezeigt, dass die Distanz für eine Kontaminierung über die Luft zu groß sei; auch für ein Durchsickern des Abwassers sei das Krankenhaus zu weit entfernt, zumal das Abwasser Richtung University Street, also nach Osten abgeleitet würde (vgl. Abb. 21) und der Boden aus „solid rock“ bestehe.102 Beide versuchten folglich, ihrer Meinung durch den Verweis auf die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse das größere Gewicht zu verleihen und sich so als moderne Experten zu positionieren, die ihre Untersuchungen objektiv, wertfrei und im Interesse der Montrealer Öffentlichkeit durchführten. In einer Zeit optimistischer Wissenschaftsgläubigkeit war das ein schlagendes Argument, das gerade einen sich ebenfalls als Vertreter des öffentlichen Wohls begreifenden City Council überzeugen musste. Dass die beiden Ärzte allerdings zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kamen, die dazu noch die Interessen ihrer beiden Auftraggeber stützten, lässt an ihrer wertfreien Objektivität zweifeln. Lachapelle war ein strenggläubig katholischer Arzt, der lange Jahre an der medizinischen Fakultät der Université Laval in Montreal lehrte und seit der Gründung des Hôpital Notre-Dame 1880 im Vorstand und der medizinischen Leitung dieses Krankenhauses saß.103 Ross hingegen war Medizinprofessor an McGill. Während Lachapelle den Mitgliedern des Board of Health und vor allem dem katholischen Krankenhaus Notre-Dame nahestand, gehörte Ross 99 Procès-verbal du Conseil, lundi 4 juin 1888, AVM, PVC, B15. 100 Minutes of the Meetings of the Board of Governors of the RVH, 16.2.1888, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Administrative Services, „Board of Governors, Minutes of the Meetings 1887–1940“. 101 Séverin Lachapelle an Bürgermeister und Stadtrat Montreal, 26.5.1888, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 102 Dr. Ross an Bürgermeister und Stadtrat Montreal, s.d., AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 103 Dictionary of Canadian Biography Online, s.v. „Lachapelle, Séverin“ unter www.biographi.ca.

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in den Kreis um das Board of Governors des RVH. Dies bestand neben dem qua Amt beteiligten Bürgermeister und den Stiftern aus weiteren führenden anglophonen Persönlichkeiten wie etwa dem Rektor der McGill University William Dawson, Richard B. Angus von der Bank of Montreal oder dem Zuckerbaron und späteren Präsidenten der Montreal Parks and Playgrounds Association George A. Drummond.104 Die Konkurrenz zweier Experten des gleichen Fachs ordnet sich hier in den größeren Rahmen der Konkurrenz zwischen Anglo-Protestanten und Franko-Katholiken ein, die aufgrund des cloisonnement institutionnel auch professionelle Milieus prägte, gerade im medizinischen Bereich, in dem die Institutionen nach konfessionellen Kriterien getrennt waren. Frankophone Ärzte nahmen seit den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine immer wichtigere Stellung innerhalb der medizinischen Profession ein und waren sichtlich bestrebt, diese auszubauen, wohingegen ihre anglophonen Kollegen die härtere Konkurrenz spürten.105 Wenn die Situation hier auf den ersten Blick wirkt, als erhebe ein für Gesundheitsfragen zuständiges städtisches Gremium aus Gründen des öffentlichen Interesses Einwände gegen ein Projekt des privatepublic partnership, das von unabhängigen Experten geprüft werden soll, so offenbart sich auf den zweiten Blick eine Konstellation, die von sich überlagernden Eigen- und Gruppeninteressen strukturiert war. Einerseits strebten die Mitglieder des Board of Health und die als ,Schiedsrichter‘ benannten Experten danach, sich individuell zu profilieren und die Stellung der gesamten Profession zu festigen, andererseits zeigen sich auch unter eben diesen Experten Konflikte entlang institutioneller Grenzen – welche aufgrund der Strukturierung der Montrealer Institutionen weitgehend mit den Sprach- und Konfessionsgrenzen korrespondierten. Die Beschwerden seitens des MGH zeigen allerdings, dass es auch innerhalb desselben Milieus Konkurrenz um Ressourcen und gesellschaftliche Positionierung gab. Während in der Planungsphase die institutionelle Konkurrenz auch innerhalb der anglo-protestantischen Ärzteschaft bemerkbar war, sollte die ethno-kulturelle Konfliktlinie nur wenige Jahre später bei der Einweihung des Royal Victoria Hospital deutlicher hervortreten, jene Konfliktlinie, die im RVH ja gerade aufgehoben werden sollte. Der Kernpunkt der folgenden Proteste kristallisiert sich damit heraus: Zwar sollte das RVH allen offenstehen, unabhängig von ihrer ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeit, doch diese Bestimmung bezog sich nur auf die zu behandelnden 104 Procès-verbal du Conseil, lundi 5 septembre 1887, AVM, PVC, B15. Vgl. Lewis, Royal Victoria Hospital, 9. 105 Linteau, Histoire de Montréal, 220. Zu den Auseinandersetzungen zwischen anglophonen und frankophonen Medizinern in den 1870er Jahren Pierre-Deschênes, „Santé publique“, 358–61. Zwischen 1872 und 1902 organisierten sich die frankokanadischen Ärzte zunehmend, wodurch ihre Stellung gestärkt wurde. Vgl. auch dies., „La tuberculose au Québec au début du XXe siècle: Problème social et réponse réformiste“ (M.A. Université du Québec à Montréal, 1980), 77–110; 169–205.

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„sick poor“ und den betreuenden Klerus. Es mag sein, dass das Board of Health und Dr. Lachapelle ahnten, welche Mediziner in diesem neuen Krankenhaus beschäftigt werden würden, und wer in den Genuss der erweiterten fortschrittlichen Ausbildungsmöglichkeiten kommen würde: anglophone Ärzte und Medizinstudenten von McGill. Allein die Lage einen Block nördlich der McGill University sowie die Zusammensetzung des Board of Governors des RVH signalisierten den frankophonen Medizinern, dass sich das Ethnizitäts- und Konfessionsübergreifende dieses Krankenhauses auf die Patienten beschränken würde, die Institution selbst aber fest in anglo-protestantischen Händen bleiben würde. Angesichts des in Montreal üblichen cloisonnement institutionnel wäre ein rein anglophones Hospital für die frankophonen Mediziner an sich noch kein Grund zu Protest gewesen, aber das RVH sollte eben auch franko-katholische Patienten behandeln und als neuartiges, kanadaweit führendes Ausbildungskrankenhaus fungieren, und das an prominentester Stelle am Mont Royal unter dem Banner der Queen Victoria. Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Berges im innerstädtischen Machtgefüge, den ethnisch-konfessionellen Konstellationen in diesem Vertrag um ein Stück Land am Mont Royal und der Interessen eines professionellen Milieus ist es naheliegend, dass ein Zusammenspiel dieser Faktoren mit der vorgebrachten Problematik des Wasserreservoirs das Board of Health und seinen Experten Lachapelle veranlasste, so vehement gegen die Lage des Krankenhauses zu polemisieren. Das Board of Governors des RVH war sich jedenfalls im Klaren darüber, dass die Diskussionen um das Wasserreservoir und die Lage des Krankenhauses trotz aller ethnizitätsübergreifenden Rhetorik als ein Konflikt zwischen Anglophonen und Frankophonen perzipiert werden könnte. Noch bevor die Experten benannt wurden, hatte sich der Präsident des RVH bemüht, selbst einen ,englischen‘ und einen ,französischen‘ Mediziner zu suchen, der die Sache des RVH unterstützen könnte. Der künftige Architekt des RVH, der Londoner Henry Saxon Snell, sollte dabei als Mittler dienen: I am also authorized [by the Board of Governors] to ask you to endeavour to get the opinion in French of a French expert on the same subject. The latter is intended to produce its effect upon the French portion of the Corporation and of the population. I presume you will easily learn in London to whom to apply in Paris for such an opinion […].106

Nicht Bakteriologen oder Miasmentheoretiker sollten überzeugt werden, nicht Hygieniker oder Parkexperten, sondern ganz einfach der französische Teil der Bevölkerung – klarer hätte der anglophone Charakter des geplanten RVH und der geteilte 106 John J. C. Abbott an Henry Saxon Snell, 20.2.1888, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Administrative Services, „Letter Book No. 1 1887–1897“; Beschluss des Board of Governors: Minutes of the Meetings of the Board of Governors of the RVH, 16.2.1888, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Administrative Services, „Board of Governors, Minutes of the Meetings 1887–1940“.

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Charakter der Bevölkerung auch in dieser Frage nicht formuliert werden können. Und der Aspekt des RVH, von dem die „French portion“ der Stadt überzeugt werden musste, das war seine Lage am Mont Royal. Dass es um mehr ging als um die hygienischen Bedenken, darauf deutet auch der weitere Verlauf der Expertendebatten hin, vor allem die Unerbittlichkeit, mit der sie geführt wurden. Angesichts der zwei divergierenden Gutachten beschloss der Stadtrat, dass Ross und Lachapelle einen dritten Experten bestimmen sollten, um die Frage endgültig zu klären.107 Nur falls dieser dritte Experte der Meinung von Ross sei, würde die Stadt bei ihrer Zusage an die Stifter bleiben.108 Ein entsprechender Absatz wurde in den Vertrag zum land lease, der zu dem Zeitpunkt noch auf die Bestätigung durch die Legislatur in Quebec wartete, aufgenommen.109 Die Existenz des RVH am Mont Royal hing also von diesem einen Experten ab – den es letztendlich nie geben sollte: Ross und Lachapelle konnten sich selbst in den drei darauffolgenden Monaten nicht auf einen dritten Arzt einigen.110 Jeder weitere Experte hätte gewiss einem der beiden Lager angehört. Beide hielten starr an ihren Untersuchungsergebnissen fest und versuchten nicht, einen konstruktiven Kompromiss zu finden oder etwa die Meinungen verschiedener anderer Ärzte einzuholen. Wenn auch Lachapelle ein Einlenken in der Öffentlichkeit vermutlich nicht hätte rechtfertigen können, ohne das Gesicht zu verlieren – schließlich hatte er eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit ausgemacht –, so wäre es doch für Ross gut möglich gewesen, im Zweifel für die – wenn auch in seinen Augen nicht nachgewiesene – höhere Sicherheit der Allgemeinheit zu plädieren und einen neuen Ort vorzuschlagen. Während die frankophonen Abgeordneten im Stadtrat im Fall RVH also zunächst auf die Vorteile für die weniger wohlhabende Bevölkerung geachtet hatten und das Krankenhausprojekt unterstützten, deutete sich anschließend unter den beteiligten professionals eine entlang von ethnischen und konfessionellen Linien geführte Auseinandersetzung um institutionelle Führungspositionen, um die Positionierung als Experten und das mit beidem verbundene Prestige an. Der Versuch des Board of Governors, einen frankophonen Experten zu finden, um die Stadträte und die Bevölkerung zu überzeugen, zeigt zudem, dass im Fall zweier gegensätzlicher Expertenmeinungen dem Experten aus der eigenen ethnokulturellen community Glauben geschenkt wurde. 107 Procès-verbal du Conseil, lundi 4 juin 1888, AVM, PVC, B15. 108 Ebd. 109 Extrait du Statut du Québec, 51 Victoria, année 1888, Chap. CXII „Acte confirmant un bail à loyer passé entre la Cité de Montréal et l’Hôpital Royal Victoria“, 12.7.1888, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié). 110 Minutes of the Meetings of the Board of Governors of the RVH, 15.8.1888, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Administrative Services, „Board of Governors, Minutes of the Meetings 1887–1940“; Rapport des Commissaires du Parc Mont-Royal, 22.9.1888, AVM, Livre des Rapports des Comités, vol. 3, 1888.

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Einem Kompromissvorschlag der Stifter ist zu verdanken, dass das RVH doch am Mont Royal errichtet werden konnte. Angesichts des Dilemmas, das sich aus den zwei widerstreitenden Gutachten und dem damit einhergehenden Zeitverlust ergab, schlugen Smith und Stephen im September 1888, genau ein Jahr nachdem der land lease unterzeichnet worden war, vor, sie könnten selbst das benachbarte Grundstück (Katasternummer 1816) ohne Kosten für die Stadt bereitstellen, unter der Bedingung, dass der lease des ursprünglichen, reservoirnahen Grundstücks nicht rückgängig gemacht würde (vgl. Abb. 21). Dafür garantierten sie, dass dort keine Kranken behandelt würden.111 Die Mount Royal Park Commissioners empfahlen dem Stadtrat daraufhin, diesen Vorschlag anzunehmen und einen neuen Vertrag aufzusetzen mit der „express condition that the property leased shall only be used as recreation grounds for convalescent patients and for other purposes incidental to the Hospital and its management; but that no buildings for the reception or treatment of patients be erected thereon [...]“112. Mit großer Mehrheit stimmte der Stadtrat diesem Vorschlag zu.113 Für ihn war diese Lösung des Problems ideal: Weiterhin stellte die Stadt dem RVH das Grundstück Nr. 1801 zur Verfügung und konnte damit den Bürgern Montreals ohne zusätzliche Kosten ein neues Krankenhaus zusichern. Aufgrund einer Verschiebung des Krankenhauses um ein Grundstück nach Osten waren die Bedenken des MGH, des Board of Health und der Öffentlichkeit wegen einer möglichen Kontaminierung des Trinkwassers aus dem Weg geräumt. Der Vorschlag der Stifter signalisierte, wie wichtig es ihnen war, das Grundstück am Mont Royal um jeden Preis für das Krankenhaus zu behalten, auch wenn dort keine Krankenhausgebäude im engeren Sinne errichtet werden durften. Anstatt um ein anderes Grundstück an einem anderen Ort zu bitten oder zu riskieren, dass der Stadtrat von sich aus einen anderen site vorschlug, investierten sie lieber mehr. Mit der von ihnen gestifteten Institution zu Ehren der Queen Victoria ein Stück öffentlichen Raums in der besten Lage des Mont Royal zu besetzen – „one of the showplaces of Canada“114 – ließen sie sich offenkundig etwas kosten. Ein neuer Vertrag besiegelte die Landabgabe zu den neuen Konditionen, und die das Projekt von Anfang an begleitende Harmonie zwischen anglophonen Stiftern und frankophonem Stadtrat war wiederhergestellt.115 Noch Ende 1888 wurde der bri111 Minutes of the Meetings of the Board of Governors of the RVH, 15.8.1888, RVH, OCOO A-104, RVH Collection/Administrative Services, „Board of Governors, Minutes of the Meetings 1887–1940“. 112 Rapport des Commissaires du Parc Mont-Royal, 22.9.1888, AVM, Livre des Rapports des Comités, vol. 3, 1888. 113 Procès-verbal du Conseil, lundi 1er octobre 1888, AVM, PVC, B15. 114 Lewis, Royal Victoria Hospital, 11. 115 „[...] Sir Donald A. Smith and Sir George Stephen have promised to procure the said site [Nr. 1816] and to give and grant to the said „Royal Victoria Hospital“ the neighboring property“. Notarieller Akt, 15.10.1888, AVM, Dossier 727, Commission des Finances, Rapports (dossier déplié).

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tische Architekt Henry Saxon Snell (1831–1904) beauftragt, Pläne zu entwerfen.116 Die fünf Jahre später, nach der Einweihung des Krankenhauses 1893, immer lauter werdenden kritischen Stimmen zeigen jedoch, dass unter der Oberfläche der rationalen, scheinbar neutralen Expertenkritik am site andere Wünsche und Interessen weiterbrodelten, denen durch eine Verschiebung des RVH um ein Grundstück nicht Genüge getan worden war. 2.2.2  „Le but superbe, l’étroitesse de l’exécution“: Ungleichheiten

Fünf Jahre später, am Nachmittag des 2. Dezembers 1893, fand sich alles, was in Montreal Rang und Namen hatte, am Hang des Mont Royal ein.117 Der Bürgermeister Alphonse Desjardins und einige Abgeordnete des Stadtrats, der Vorstand des Royal Victoria Hospital und die großen Wirtschaftsmagnaten wie Drummond in Begleitung ihrer Ladies waren ebenso gekommen wie etwa 750 weitere geladene Gäste und zahlreiche neugierige Montrealer Bürger, um die Einweihung des RVH zu feiern. Von musikalischen Einlagen umrahmt zelebrierten einige Redner in einem auf Wunsch der Stifter schlicht gehaltenen Festakt die Großzügigkeit der Stifter und die Herrschaft Königin Victorias. Höhepunkt der Veranstaltung war die feierliche Eröffnung des Krankenhauses, das als das zu der Zeit größte Hospital Kanadas dem Namen der britischen Königin alle Ehre bereiten sollte, durch den Generalgouverneur Lord Aberdeen und seine Gattin Lady Aberdeen. Kurzum, es war ein gesellschaftliches Ereignis, und entsprechend enthusiastisch lesen sich die Kommentare in der Presse. Alle Bedenken aus der Zeit der Gründung schienen vergessen, und anglophone und frankophone Zeitungen lobten in seltener Eintracht die prachtvolle Einweihung einer herausragenden Institution, wenngleich das Ereignis in den französischsprachigen Zeitungen weniger Raum einnahm.118 Den Stiftern Smith und Stephen war es offen-

116 „The Mayor’s Return“, in: Herald 4.12.1888. 117 „grand nombre de personnages éminents“, in: „L’hôpital Royal Victoria: Son inauguration par le Gouverneur-Général“, in: La Presse 4.12.1893. 118 „Royal Victoria Hospital: Formally Opened by the Governor General“, in: s.n. 2.12.1893, MUA, RVH, RG95, c382, 1400F „Scrapbook on opening of the RVH 1893“; „Royal Victoria Hospital: Opened by the Governor-General“, in: s.n. 4.12.1893, MUA, RVH, RG95, c382, 1400F „Scrapbook on opening of the RVH 1893“; „L’hôpital Victoria: Inauguration par le gouverneur général“, in: La Patrie 4.12.1893; „L’hôpital Royal Victoria: Son inauguration par le Gouverneur-Général“, in: La Presse 4.12.1893. Vgl. Lewis, Royal Victoria Hospital, 28–34. Zur Symbolik und dem kommemorativen Charakter von Einweihungszeremonien vgl. John Bodnar, Remaking America: Public Memory, Commemoration, and Patriotism in the Twentieth Century (Princeton: Princeton University Press, 1992), 19.

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kundig gelungen, mit dem RVH das institutionelle cloisonnement zu durchbrechen und die öffentliche Meinung hinter sich zu vereinen. Die Euphorie dieses Moments wirkte bis in den Stadtrat hinein, wo man sich der Besonderheit des Unterfangens augenscheinlich bewusst war. In der ersten Sitzung nach den Einweihungsfeierlichkeiten schlugen die Abgeordneten Alexander A. Stevenson und Cléophas Beausoleil vor, der Stadtrat möge den Stiftern offiziell seinen Dank aussprechen. Die Eröffnung des RVH stelle einen „event in the history of Montreal“119 dar, der vom Stadtrat im Namen der Bürger offiziell gewürdigt werden müsse. Die Formulierung ist bezeichnend. Indem die Abgeordneten die Einweihung als Ereignis in der Geschichte Montreals deuteten – und nicht etwa ,in der Geschichte des Montrealer Gesundheitswesens‘ –, schrieben sie dem soeben eröffneten Hospital eine große lokale Bedeutung zu. Dass diese in einer Brückenfunktion zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen lag, erwähnten Stevenson und Beausoleil nicht explizit. Ihrem Entwurf gemäß sollte sich der Stadtrat zunächst für die „unparalleled generosity“ der Stifter bedanken, die solch prächtige Bauten am Mont Royal errichtet und diese dazu noch mit „equipment [...] in accordance with the most complete modern systems“ ausgestattet hätten.120 Anschließend sollte Smith und Stephen ein langes Leben gewünscht werden, damit sie selbst die Früchte ihrer Wohltätigkeit erleben könnten, nämlich die „immense benefits which their noble liberality will confer upon the citizens of Montreal without distinction of origin, race or religion, by promoting medical and surgical science and the alleviation of suffering and cure of disease amongst the diseased and sufferers of this community“.121 Die Argumentationskette der Abgeordneten nahm also ihren Ausgangspunkt in der Großzügigkeit der Stifter, die sowohl schöne Bauten am Fuß des Berges als auch ein modernes Krankenhaus ermöglicht hätten. Allein diese Reihenfolge weist noch einmal auf die Bedeutung des site, des Orts am Mont Royal, im Montrealer Bewusstsein hin. Die Modernität des Hospitals, die Schönheit seiner Architektur und seine Lage verschmolzen in der Begeisterung für die neue Institution. Die Nutznießer des schönen, modernen Krankenhauses waren in den Augen der zwei Abgeordneten die Bürger von Montreal, die vom RVH in dreifacher Hinsicht profitierten: durch die Förderung der medizinischen und chirurgischen Wissenschaft, durch das Lindern von Leid und durch die Heilung von Krankheit, wobei letztlich der zweite und dritte Punkt aus dem ersten resultierten. Die französische Version des Sitzungsprotokolls präzisiert hier zudem, welche Kranken gemeint waren: „la guérison de tous ceux qui souffrent parmi la classe du peuple“122 – also das Volk im Sinne einer Klasse, die Unterschichten ohne Unterscheidung von Herkunft, Rasse und Religion. Während der 119 120 121 122

Procès-verbal du Conseil, lundi 11 décembre 1893, AVM, PVC, B18. Ebd. Ebd. Ebd.

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erste Teil dieses Dankschreibens sich auf bereits vorhandene Errungenschaften bezog, klingt der zweite Teil fast wie eine Beschwörungsformel. Indem sie die wohltätigen Wirkungen schilderten, von denen sie hofften, Smith und Stephen mögen sie noch lange Jahre erleben, drückten Stevenson und Beausoleil aus, was sie selbst vom RVH für die Zukunft erwarteten. Als Wunsch an die Stifter gekleidet, konnte dieser Teil des Dankschreibens als subtile Erinnerung seitens des Stadtrats gelesen werden, dass er ganz genaue Vorstellungen von der Gegenleistung für das Land am Mont Royal hatte: ein modernes Krankenhaus, das die Wissenschaft förderte und so allen Bürgern von Montreal eine adäquate medizinische Versorgung gewähren konnte. Darin mag die historische Bedeutung des RVH für die Abgeordneten Stevenson und Beausoleil gelegen haben, die in einer die traditionellen ethno-kulturellen Grenzen durchbrechenden Koalition das Potential des Krankenhauses erkannten. „Une fondation sectionelle“: Institutionelle Macht und Raum

Anscheinend war jedoch nicht der gesamte Stadtrat dem Charme des Royal Vic verfallen. Denn als das Dankesschreiben der beiden Abgeordneten zur Abstimmung gestellt wurde, entbrannte eine Diskussion, die damit abrupt endete, dass sich der Stadtrat auf Antrag von Préfontaine und Edwin Thompson vertagte.123 Während die Sitzungsprotokolle über den genauen Ablauf der Debatte schweigen, geht ein Zeitungsbericht des folgenden Tages etwas mehr ins Detail. Die frankophone La Minerve resümiert die Meinungsverschiedenheit wie folgt. L’échevin Préfontaine fait remarquer que la majorité de la population de Montréal n’a réellement pas sujet de se féliciter du don généreux de lord Stephen et de sir Donald Smith. Cette majorité, qui est canadienne-française, a été complètement oubliée dans la distribution des fonctions médicales et autres du nouvel hôpital. On ne compte pas un seul médecin canadien-français dans le personnel. Cependant, les exécuteurs de la volonté des donateurs auraient dû prendre en considération le fait que la ville avait cédé un terrain évalué à $ 50,000 destiné à la fondation d’une institution, non de secte, mais homogène, et à laquelle devrait avoir accès toute la population de Montréal. On semble vouloir faire comprendre à la majorité canadienne-française que cet hôpital est anglais et qu’elle n’a pas voix de conseil dans l’administration financière ou médicale.124

Nach diesen recht deutlichen Worten forderte Préfontaine, dass der Text der Danksagung abgeändert werden müsse und die Diskussion vertagt werden solle. Kurz vor der Abstimmung am nächsten Tag zogen dann die Antragsteller ihren Antrag zurück 123 Ebd. 124 „Hôtel de ville: réception de nombreux rapports“, in: La Minerve 12.12.1893. Ähnlich berichtet „L’hôpital Royal Victoria: Son inauguration par le Gouverneur-Général“, in: La Presse 4.12.1893.

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– vermutlich wären sie gescheitert.125 Der Stadtrat verzichtete somit auf ein offizielles Dankschreiben an die Stifter des Royal Victoria Hospital; Préfontaine setzte sich durch. In seiner Argumentation verknüpfte der frankophone Politiker geschickt die ethnischen Verhältnisse der Stadt mit dem Wert des site am Mont Royal und der Besetzung von Führungspositionen im RVH. Er argumentierte, dass die Mehrheit der Bürger keinen Grund hätte, sich über das RVH zu freuen, weil sie Frankokanadier seien; die Frankokanadier aber hätten im neuen Krankenhaus keinerlei Funktionen inne, und das, obwohl die Stadt ein so wertvolles Grundstück ja gerade nur unter der Prämisse abgetreten habe, dass alle Bürger der Stadt Zugang zur an dem Ort errichteten Institution haben sollten. Préfontaine implizierte damit, dass die überwiegend frankokanadischen Bürger einen der anglophonen Geldspende mindestens gleichwertigen Beitrag zum Krankenhaus leisteten, indem sie durch ihren Repräsentanten, den Stadtrat, öffentliches Land zur Verfügung stellten, und dass sie nun um die damit verdienten Führungspositionen im RVH betrogen wurden.126 Die Offenheit des Krankenhauses für alle Patienten und den katholischen Klerus erwähnte er nicht, und genauso ignorierte er die Tatsache, dass letztlich das RVH ja auf dem von den Stiftern gekauften, benachbarten Grundstück gebaut worden war.127 Dreierlei ist an dieser Argumentation bemerkenswert. Zum einen wird hier die alles dominierende Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit deutlich. Hatten die Stifter in ihrer Grundsatzerklärung zum RVH zwar betont, dass dieses Krankenhaus „race“- und „creed“-übergreifend sein sollte – was die Bedeutung dieser Kategorien bereits hervorstrich, ohne sie aber mit genauem Inhalt zu füllen –, so sprach Préfontaine Klartext: Er deutete das RVH im Interpretationsmuster der Konkurrenz zwischen „anglais“ und „canadien-français“. Die „majorité de la population de Mont-réal“ war für ihn frankokanadisch; er dachte die Bevölkerung der Stadt also primär in ethnischen Kategorien. Préfontaines Argumentation gibt einigen Aufschluss darüber, wo so manche Montrealer im späten 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen Bruchlinien ihrer Stadt ausmachten. Als grundlegende Struktur des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens der Stadt wurde die Dichotomie zwischen anglophonen und frankophonen Kanadiern perzipiert, die an bestimmten kritischen Momenten, wenn 125 Procès-verbal du Conseil, mardi 12 décembre 1893, AVM, PVC, B18. 126 Tatsächlich bestand die komplette ärztliche Belegschaft 1893 aus Anglophonen; die Mitglieder des ersten medical board waren Robert Craik, Dekan der medizinischen Fakultät von McGill, W.F. Hamilton, Francis Buller, William Gardner, J. George Adami, James Bell, James Stewart und Sir Thomas G. Roddick. Sie hatten zu einem großen Teil an McGill studiert, vgl. Lewis, Royal Victoria Hospital, 37–43; Terry Neville, The Royal Vic: The Story of Montreal’s Royal Victoria Hospital, 1894–1994 (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 1994), 72–73. 127 „L’incident au sujet de l’hôpital Victoria“, in: La Presse 12.12.1893.

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es um Machtstellungen oder den Verdacht auf Benachteiligung ging, als harter Konkurrenzkampf aus dem Nebeneinander des cloisonnement institutionnel hervorbrechen konnte. Der Zugang zu institutionellen Führungspositionen stellte einen solchen neuralgischen Punkt dar. Zum zweiten zeigt sich damit, dass die Hauptbruchlinie für Préfontaine nicht entlang von Klassengrenzen verlief und er das RVH nicht als eine von den (wenigen) Wohlhabenden für die (Mehrheit der) Ärmeren bestimmte Institution betrachtete. Von der medizinischen Versorgung durch das Krankenhaus hätte nämlich die Mehrheit der Bevölkerung profitiert, auch wenn sie frankokanadisch war – allerdings nur in ihrer Funktion als arme, nicht aber als frankokanadische Mehrheit; anders als dem Stadtrat 1887 reichte es Préfontaine nicht, die Armen versorgt zu wissen. Er konnte sich nicht auf Basis des paternalistischen Licht-Luft-Diskurses auf die Seite der anglophonen Stifter schlagen. Das leitet zum dritten Punkt über: der Frage, wer innerhalb der frankokanadischen Mehrheit profitierte und wer nicht. So wie Préfontaine es schilderte, schien es, als würde die community der Frankokanadier insgesamt dadurch benachteiligt, dass es keinen frankophonen Arzt und keine Frankophonen in der Direktion und Verwaltung des Krankenhauses gab. Indem er nicht innerhalb der Frankokanadier differenzierte, suggerierte er rhetorisch geschickt einen klassenübergreifenden, innerethnischen Zusammenhalt. Letztlich aber ging es ihm um das Führungspersonal, um Mediziner und leitende Angestellte, die hier durch die Anglophonen überrundet wurden. Préfontaine artikulierte damit die Ursache für einen Unmut, die möglicherweise auch schon fünf Jahre zuvor die Bedenken des Board of Health und Dr. Lachapelles gespeist hatte: das Gefühl einer professionellen Mittelklasse, gegenüber ihrem Gegenpart der anderen Sprachgruppe benachteiligt zu werden. Dabei berücksichtigte Préfontaine nicht, dass eine paritätische Aufteilung der Leitungspositionen und Arztstellen im Krankenhaus nicht Teil des ursprünglichen Vertrags gewesen war, in dem immer nur von einer gleichberechtigten Behandlung von Patienten die Rede war. Denkt man Préfontaines Argumentation weiter, so bedeutet das letztlich, dass in dieser Perspektive der Wert des Grundstücks am Mont Royal, das die Stadt bereitstellte, nicht mit einer Versorgung frankophoner Bedürftiger, sondern lediglich mit einer Beteiligung an der Leitung des RVH kompensiert werden konnte, kurz: mit institutioneller Macht. Nicht nur sagt dies etwas aus über die implizierte Wertigkeit von kranken Massen im Verhältnis zu Führungskräften, sondern auch andersherum über den Wert der ,Gegenware‘, des terrain. Nur eine Machtposition im Krankenhaus konnte die Abgabe dieses Stücks Land ausgleichen. Der Mont Royal stellte aufgrund seiner Bedeutung in der imagination urbaine Montreals als Chiffre für Macht sowohl für die anglo-protestantische Oberschicht als auch für Teile der frankophonen community einen hohen Einsatz im Konkurrenzspiel zwischen den ethno-kulturellen Gruppen dar. Dass das Beharren auf einer Beteiligung der Frankokanadier an der Leitung des Krankenhauses auch mit dessen Lokalisierung zusammenhing, geht zudem aus Préfontaines Wortwahl hervor. Als Gegenleistung zum Grundstück verlangte er Führungspositionen für Frankophone im RVH, was

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er mit den Worten ausdrückte, dass alle Montrealer zu dieser Institution „accès“ haben sollten.128 Diese Formulierung war hier nicht die nächstliegende, da ,Zugang‘ zu einem Krankenhaus zunächst einmal eher nach dem rein physischen Zugang, also entsprechend der institutionellen Funktion nach der Patientenseite klingt. Für Préfontaine bedeutete der räumliche „accès“ aber offenbar ganz automatisch den Zugang zu Leitungspositionen. In den Diskursen über den Mont Royal war der physische Zugang zu einer dort gelegenen Institution mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Macht assoziiert. Die Ebenen der funktionalen, institutionellen Macht im Krankenhaus und der Macht über einen symbolischen Ort lagen kongruent übereinander und verstärkten einander in ihrer Bedeutung. Raymond Préfontaine war wohl der Politiker, der in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts für den Aufstieg und das zunehmende Selbstbewusstsein der frankophonen Montrealer stand. Er verkörperte gewissermaßen den frankophonen Osten der Stadt und die Chance dieser Stadtteile, ihrem Aschenputteldasein zu entkommen. Préfontaine war bekannt dafür, dass er die Stadt als ethnisch geteilt betrachtete. In seinen Augen hatten die Anglophonen, als sie die uneingeschränkte Macht hatten, sich nicht um den frankophonen Osten der Stadt gekümmert, der nun die Gelegenheit hatte, aufzuholen und sich mit Straßenpflasterung, elektrischem Licht und Tramsystemen zu modernisieren. In seiner biographischen Skizze Préfontaines bezeichnete William H. Atherton ihn daher sogar als Haussmann Montreals.129 Er stand für eine Stadtpolitik, die auf die einzelnen Viertel und die lokalen Bedürfnisse der Wähler ausgerichtet war. Von seiner Politik profitierten sowohl die frankokanadischen Geschäftsleute und Firmen, die zahlreiche Aufträge erhielten130, als auch die unteren Schichten, denen er Arbeit verschaffte.131 Aufgrund seiner populistischen 128 „Hôtel de ville: réception de nombreux rapports“, in: La Minerve 12.12.1893. 129 Atherton, Montreal, vol. III, 652; Claude-V. Marsolais et al., Histoire des maires de Montréal (Montréal: VLB, 1993), 172–78. 130 Nicht immer unter ganz sauberen Bedingungen: Ein Beispiel wäre der Fall der Royal Electric Ltd, die 1886 den Auftrag für die elektrische Straßenbeleuchtung der Stadt erhielt, obwohl Konkurrenten günstigere Angebote unterbreiteten. Préfontaine und sein Kollege Henri Benjamin Rainville waren dafür als Mitglieder des Comité des chemins verantwortlich und nebenbei eng verbunden mit Rosaire Thibaudeau, einem der Direktoren der Firma. Rainville selbst war später Aktionär des Unternehmens. Vgl Linteau, Histoire de Montréal, 136; Jason A. Gilliland, „Re-dimensioning Montreal: Circulation and Urban Form, 1846–1918“ (Diss. McGill University, 2001), 113; Gauvin, „The Reformer and the Machine“, 16–26. 131 Paul-André Linteau, „Rapports de pouvoir“, 164. Zur Zusammenarbeit zwischen den aufsteigenden politischen Eliten und den frankokanadischen Arbeiterschichten vgl. Germain, „L’émergence d’une scène politique“, 187–88. Préfontaine führte 1889 auch die Opposition zu einem „flood control plan“ an, der das frankophone East End außen vor ließ, vgl. Boone, „Language Politics and Flood Control“, 79–82.

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Politik war Préfontaine sehr beliebt und wurde 1898 zum Bürgermeister gewählt, ein Amt, das er bis 1902 innehatte.132 Vor dem Hintergrund der Karriere Préfontaines ist es verständlich, warum er Anstoß daran nahm, dass keine Frankokanadier in den leitenden Positionen des prestigeträchtigen Krankenhauses zu finden waren. Auch war er nicht der einzige, der sich an diesem Zustand störte. Die Tageszeitung La Presse stellte angesichts der Diskussionen im Stadtrat fest: „Il semble que nos facultés de médecine soient dignes de jouir des privilèges et des avantages qui sont aussi mis à la disposition de l’université McGill. C’est ce qu’on se répète un peu partout aujourd’hui dans les cercles intéressés.“133 Damit brachte die Zeitung den Kern des Konflikts auf den Punkt: Es ging hier um die Konkurrenz zwischen anglo- und frankophonen professionals, die populistische Politiker wie Préfontaine allerdings im Rahmen der allgemeinen Konkurrenz zwischen franko- und anglokanadischer Bevölkerung deuteten. Bereits einige Monate vor der Eröffnung des Royal Victoria Hospital hatten Zeitungsartikel in der Minerve mit ähnlichen Argumenten wie Préfontaine aufgewartet. Im Juni 1893 lobte die Zeitung die Idee der Stifter, ein großes Krankenhaus „au service de tous les malades, sans distinction de religion, de race, ou de lieu de naissance“134 zu gründen, das das Krankenhaus des Dominion schlechthin sein würde. Im gleichen Atemzug aber monierte die Minerve die Umsetzung des Projekts: Nur „médecins anglais“ seien vorgesehen, nur Professoren von McGill, und keine von Bishop135 oder der Université Laval. Der Artikel schloss mit der Feststellung: „On le voit, c’est le contraire de l’attente générale, c’est l’équivalent d’une fondation sectionelle.“136 Es zeigt sich hier sehr deutlich, dass der Stein des Anstoßes wie bei Préfontaine eine Benachteiligung der frankophonen Mediziner, Absolventen der franko-katholischen Universitäten, war und dass die Konkurrenz zwischen den professionellen Milieus der beiden communities um kanadaweite Anerkennung im Zentrum stand. 132 Linteau, Maisonneuve, 26–27. Der Begriff ,populistisch’ hat sich in der Forschung zur Montrealer Politik etabliert, um die auf die ,kleinen Leute’, vor allem aus den frankophonen Arbeitervierteln, fokussierte Politik der Bürgermeister Préfontaine, Martin und Camillien Houde in der ersten Hälfte des 20. Jhs zu bezeichnen, die sich von der elitenorientierten Politik vieler anderer unterschied. Einen engeren, nicht nur an einem politischen Stil, sondern auch an politischen Inhalten orientierten Begriff von ,Populismus’ erörtert Karin Priester, Populismus: Historische und aktuelle Erscheinungsformen (Frankfurt: Campus, 2007). 133 „L’hôpital Royal Victoria: Son inauguration par le Gouverneur-Général“, in: La Presse 4.12.1893. 134 „L’hôpital Royal Victoria“, in: La Minerve 2.6.1893. 135 Die Bishop’s University in Lennoxville, QC, war zu der Zeit noch eine anglikanische Universität, anders als McGill, die von vornherein nicht konfessionell war – dennoch aber mehrheitlich von Protestanten besucht wurde. 136 „L’hôpital Royal Victoria“, in: La Minerve 2.6.1893.

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Auf die fehlende Einbindung der Absolventen der anglikanischen Bishop’s University ging der Artikel nicht ausführlicher ein, sondern konzentrierte sich auf die fehlenden Frankokanadier: Das war das eigentliche Anliegen. Wie Préfontaine argumentierte die Zeitung mit demokratischen Repräsentationsprinzipien: „le public“, will sagen, die mehrheitlich frankophone Stadtbevölkerung, habe das Recht auf mindestens zwei frankokanadische Mediziner in der wissenschaftlichen Leitung des Krankenhauses. „Nous sommes un million six cent mille dans le Dominion; nous demandons une représentation proportionelle, équitable.“137 Damit knüpfte der Verfasser des Artikels die Verbindung zwischen der betroffenen Profession und der breiten Masse der Frankokanadier, eine Verbindung, die auch durch die ständige Verwendung des Wortes „nous“ unterstrichen wurde. Ein klassenübergreifendes Wir-Gefühl der Frankokanadier wurde hier bemüht; in dichotomischer Abgrenzung von den ,anderen‘, den „anglais“, eine franko-kanadische Identität suggeriert. Es scheint, als wolle das Blatt die frankophone Bevölkerung der Stadt aufrütteln und ihr klarmachen, dass sie kraft ihrer Zahlenstärke nun auch endlich Anspruch auf Führung im Land anmelden konnte und nicht länger nur die billigen Arbeitskräfte stellen musste. Das ordnet sich ein in eine Zeit, in der in Montreal jener Prozess frankokanadischen Aufstiegs begann, der sich im 20. Jahrhundert fortsetzen sollte und im Selbstbewusstsein der UdeM einen beispielhaften Ausdruck fand. Wie auch in den Worten Préfontaines kommt hier das Denken bestimmter Kreise innerhalb der frankophonen Montrealer Mittel- und Oberschichten in der Dichotomie „wir – Frankokanadier“ vs „die – Engländer“ ebenso zum Ausdruck wie das latente Gefühl der Benachteiligung und ein aufkeimender Anspruch auf Gleichrangigkeit mit den Anglophonen, der primär auf einer quantitativen Präsenz basierte sowie auf der Annahme, dass ,die‘ Öffentlichkeit letztlich frankophon war. Während die konservative Zeitung La Presse sich allerdings darauf beschränkte, eine Benachteiligung der Ärzte zu monieren, stilisierten populistische Politiker und die in der Tradition des Parti Patriote radikal liberale Minerve den Konflikt zu einem gesamtgesellschaftlichen entlang der anglo-frankokanadischen Bruchlinie und nutzten die Gelegenheit zu anti-anglophoner Polemik. Ein weiterer Artikel, kurz vor der Eröffnung des RVH, verknüpfte dann auch den hohen Wert des von der Stadt zur Verfügung gestellten Grundstücks „au pied du Mont-Royal“, das in einem ihrer schönsten Viertel liege, mit den Mehrheitsverhältnissen in der Stadt. Die zu zwei Dritteln katholische Stadt habe wohl, als sie dieses terrain verschenkte, nicht damit gerechnet, dass man katholische oder frankokanadische Ärzte im RVH kategorisch abweisen würde; ebensowenig sei das im Sinn der Stifter. Es sei ein Unding, dass alle Ärzte protestantisch seien, moniert der Artikel und kommt zu dem Schluss: „De l’exclusion, de l’ostracisme sur toute la ligne.“138 Die Kernpunkte der Argumentation parallelisieren die von Préfontaine. Während 137 Ebd. 138 „L’hôpital Victoria“, in: La Minerve 24.11.1893.

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im ersten Artikel nur von Frankokanadiern die Rede war, wurden jetzt die Benachteiligten als Katholiken bezeichnet und die Konfessionszugehörigkeit der Ärzte am RVH hervorgekehrt. Konfession erweist sich hier als eine ebenso bedeutende Kategorie in der Strukturierung der Montrealer Gesellschaft wie die Sprachzugehörigkeit. Ähnlich ineinandergeblendet finden sich die Kategorien auch in einem Kommentar der Tageszeitung La Presse zu den Diskussionen um das Dankesschreiben.139 Die Begriffe canadien-français und catholique scheinen in den Debatten austauschbar verwendet worden zu sein, als Bezeichnung für eine gesellschaftliche Gruppe, der Frankophonie und Katholizismus als primäre identitätsstiftende Merkmale zugeschrieben wurden. Diese Amalgamierung ist dabei problematisch, da sie kleinere Gruppen wie etwa frankophone Protestanten oder anglophone Katholiken aus dem Diskurs ausblendete; nichtsdestotrotz war sie eine geläufige Struktur in der frankokanadischen Selbstwahrnehmung und Rhetorik. Bemerkenswert dabei ist, dass seit dem Konsens von 1887 dennoch eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden hatte. Offenkundig reichte es 1893 nicht mehr, den Zugang des katholischen Klerus zum RVH und damit zum Mont Royal gesichert zu wissen. Was sich dabei verschoben hatte, war die Perzeption des RVH als Institution, genauer: die Bewertung einzelner seiner funktionalen Facetten. Statt seiner traditionellen Funktion als Ort der konfessionell getragenen Krankenpflege rückten die frankophonen Kritiker 1893 den Charakter des RVH als modernes, an Lehre und Forschung angebundenes Krankenhaus ins Zentrum. Nahm der Klerus in der ersten Sichtweise noch eine Schlüsselposition ein, so kam in der zweiten Perspektive dem Arzt, dem leitenden Verwaltungsangestellten, kurz: den Experten und professionals die herausragende Rolle zu. Diese Blickverschiebung ordnete sich ein in die Modernisierungs- und Professionalisierungstendenzen der Zeit, in der Experten aus Wissenschaft und Verwaltung begannen, dem Klerus den Rang als alleinige Deutungsinstanz abzulaufen, selbst in Teilen des franko-katholischen Milieus. Vor allem die liberalen Mittelschichten waren Träger dieser Modernisierungs- und Professionalisierungsprozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts.140 139 „L’hôpital Royal Victoria: Son inauguration par le Gouverneur-Général“, in: La Presse 4.12.1893. 140 Zur Konkurrenz zwischen den liberalen und klerikalen Eliten der Frankokanadier vgl. Fernande Roy, Progrès, harmonie, liberté: Le libéralisme des milieux d’affaires francophones à Montréal au tournant du siècle (Montréal: Boréal, 1988), die in ihrer Forschung endgültig mit dem Bild der homogenen, ultramontan geprägten agrarisch-konservativen Ideologie Quebecs aufgeräumt hat; Michèle Dagenais, „Vie culturelle et pouvoirs locaux“, 40–56, zeigt die unterschiedlichen Tendenzen exemplarisch an den Debatten um eine öffentliche Bibliothek im Montreal der Jahrhundertwende auf. Retrospektive Selbstdarstellung des liberalen frankophonen Wirtschaftsmilieus in Abgrenzung zum katholisch-konservativen Milieu in Un siècle à entreprendre.

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Möglicherweise war die Verschiebung zwischen 1887 und 1893 gar nicht so markant, sondern beide Perspektiven existierten als parallel laufende Stränge nebeneinander her. Der Protest des Dr. Lachapelle könnte als Beispiel für das auch 1887 bereits latente Unbehagen einer professionellen frankokanadischen Schicht einem modernsten anglokanadischen Hospital gegenüber dienen. Erst als das Projekt dann realisiert war, vielleicht auch aufgrund der wachsenden Distanz zur Epidemie von 1885, sprangen Politiker wie Préfontaine und Zeitungen wie die Minerve auf den Zug auf und verbanden ihre Empörung über das Ausbooten einer frankophonen Expertenschicht mit einer populistisch wirksamen, umfassenden anti-anglokanadischen Rhetorik. Trotz dieses offenkundigen Bedeutungsverlustes des Klerus für die protestierenden frankophonen Führungsschichten war die Kategorie Konfession ein integraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses als Frankokanadier. Wenn auch die Institution Kirche an Deutungsmacht eingebüßt hatte, so blieb Konfession zusammen mit ethnicity wirksam als identitätsstiftendes Moment in der Abgrenzung von den Anglokanadiern. Für den Klerus selbst blieb die Hauptbruchlinie innerhalb der Montrealer Gesellschaft weiterhin die konfessionelle.141 Gerade die liberalen frankophonen Mittelschichten aber signalisierten durch ihr Selbstverständnis als frankophone und katholische Kanadier ihre Unabhängigkeit vom Klerus und gleichzeitig ihren Katholizismus, der als Teil ihres ethnokulturellen Selbstverständnisses mit der moderneren Kategorie Ethnizität Hand in Hand ging.142 In der Konkurrenz zwischen diesen nach Konfession und ethnischer Herkunft geordneten gesellschaftlichen Gruppen bildete der Zugang zu bestimmten Teilen des Stadtraums einen wichtigen Einsatz, der als ,Währung‘ begriffen wurde, die gegen Macht eingetauscht werden konnte. Wie schon Préfontaine verwendete der Artikel der Minerve darüber hinaus räumliche Begriffe – Zugang und sein Gegenteil, „exclusion“ –, um gesellschaftliche Hierarchien zu beschreiben, und blendete die Ebene der Institution und die Ebene des Ortes der Institution ineinander. Dass sowohl Préfontaine als auch die Minerve den physischen Zugang zum Mont Royal mit Macht, folglich mit Machtpositionen innerhalb der sich dort befindlichen Institutionen assoziierten, liegt in den Bedeutungen des Mont Royal begründet – man erinnere sich an die kursierenden Geschichten über die Entdecker der Ile de Montréal, die als allererstes den Mont Royal erklommen, ihn als den ihren markierten und so Führungsanspruch anmeldeten. Allerdings war es in diesem Fall nicht so, dass den Frankophonen der physische Zugang verwehrt worden wäre, ganz im Gegenteil. Neben dem Klerus 141 „Nous avons à Montréal deux sociétés distinctes, la société catholique et la société non catholique […]“, formulierte es der Erzbischof von Montreal, Paul Bruchési, 1901. Zit. nach Dagenais, „Vie culturelle et pouvoirs locaux“, 42. 142 Auch das liberale frankophone Wirtschaftsmilieu etwa engagierte sich in der katholischen Nationalgesellschaft der Frankokanadier, der Société Saint-Jean-Baptiste. Roy, Progrès, Harmonie, Liberté, 89.

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hatten ja die Patienten, also gerade die breite Masse des Volkes, Zugang zum Berg. Ironischerweise aber hätte gerade diese Tatsache ihren Ausschluss von gesellschaftlichen Positionen in einer hochmodernen Institution versinnbildlicht, handelte es sich doch um die Frankokanadier, die in doppelter Hinsicht aus der gesellschaftlichen Norm herausfielen: Arme, die auch noch krank waren. Sich gerade am Mont Royal mit der Rolle des von anglophonen, modern ausgebildeten Experten umsorgten Patienten zu begnügen, war schlicht undenkbar. Eine führende Stellung musste man im RVH am Mont Royal bekleiden, denn nur so konnte man erstens auf raumsymbolischer Ebene demonstrieren, dass man gerade über diesen Teil des Stadtraums die Definitionshoheit innehatte, ihn nach eigenem Gutdünken gestalten und die Zugangsregeln und Ausschlusskriterien mit-etablieren konnte, und zweitens auf institutioneller Ebene zeigen, dass man über modernes Expertenwissen verfügte und nicht von Modernisierungsprozessen ausgeschlossen war.143 Als arme Kranke in einer Institution „[où la] souffrance qui vient y chercher apaisement est retournée au spectacle“144, wären sie dem beobachtenden, analysierenden, lehrenden Blick der Ärzte ausgesetzt – einem Blick, den man nach Foucault auch zu dem modernistischen Diskurs zählen kann, zu dem auch das weiter oben analysierte urban narrative mit seiner Obsession des LichtLuft-Grüns, des Sehens und der Klarheit gehört und der eine klare Machtrelation transportiert: „la violence majestueuse de la lumière qui est à elle-même son propre règne, clôt le royaume ceinturé, obscur, des savoirs privilégiés et instaure l’empire sans cloison du regard.“145 Der gelebte Alltag des Krankenhauses würde dementsprechend das hierarchische Machtverhältnis zwischen Anglophonen und Frankophonen am symbolträchtigsten Ort der Stadt räumlich reproduzieren, in einem Prozess, den der Soziologe Robert Shields wie folgt fasst: Through lived practice, ,space‘ is re/produced as ,human space‘. This practice involves a continual appropriation and re-affirmation of the world as structured according to existing socio-spatial arrangements. […] These ,social spaces‘ help to assure the society’s continuity in a relatively cohesive fashion and the reproduction of the social relations of production.146

143 Das moderne Ausbildungskrankenhaus „[…] was no longer a well of sorrow and charity but a workplace for the production of health. […] Once the hospital became an integral and necessary part of medical practice, control over access to its facilities became a strategic basis of power within the medical community.“ Starr, The Social Transformation of American Medicine, 146. Zur Entstehung des modernen Krankenhauswesens im Kontext der Progressiven Ära vgl. John W. Chambers II, The Tyranny of Change: America in the Progressive Era, 1890–1920 (New Brunswick: Rutgers University Press, ²2000), 103–04. 144 Foucault, Naissance de la clinique, 86. 145 Ebd., 38. 146 Shields, Places on the Margin, 52–54; vgl. auch Roland Barthes, „Éléments de sémiologie“, in: Communications 4 (1986), 106; ähnlich Doreen Massey, „Politics and Space/

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Symbolische Macht und Raum

Die ablehnende Haltung der frankokanadischen Kritiker mag durch die weithin begeistert aufgenommene Einweihungszeremonie noch verstärkt worden sein. Der Anlass der Gründung des RVH war das Jubiläum der Queen Victoria, und allein durch die Namensgebung verband sich von nun an permanent der Name der britischen Königin mit dem Montrealer Berg. Visuell repräsentierte das RVH britische Hoheit im Montrealer Stadtraum, und der Mont Royal und das Royal Victoria wurden fortan diskursiv assoziiert – und das, obwohl das Königliche des Berges doch ursprünglich auf einen ganz anderen König verwies. Auf die große Bedeutung von Namensgebungen in Zusammenhang mit Raum und Macht, etwa bei Straßen oder Parks, ist in der Forschung oft hingewiesen worden. Wer den Namen geben konnte, drückte die eigene Macht, ein Territorium zu benennen, aus. Durch die Benennung wurde dem Stadtraum gleichzeitig eine spezifische Identität zugesprochen, die im Diskurs über den Raum perpetuiert wurde und über die kommemorative Funktion des Namens eine bestimmte Lektüre der Vergangenheit propagierte. Geschichte und Raum wurden so in der Konstruktion von Identitäten vereint.147 Der im Westen Montreals gelegene Square Victoria beispielsweise hieß bis 1860 Square des Commissaires. Seine Umbenennung erregte hitzige Debatten im Stadtrat, da einige mit dem neuen Namen ein Zeichen der engen Bindung an Großbritannien setzen, andere aber lieber an die französischen Ursprünge der Stadt erinnern wollten.148 Dass der Name des Royal Victoria Hospital Programm war, zeigte sich ebenso in der architektonischen Gestalt. Nicht nur diskursiv, auch visuell-räumlich sollte Time“, in: Michael Keith and Steve Pile (eds), Place and the Politics of Identity (London: Routledge, 1993), 156. 147 Auf die „political and cultural authority to name and define“ verweist etwa Stéphane Gerson, The Pride of Place: Local Memories and Political Culture in Nineteenth-Century France (Ithaca: Cornell University Press, 2003), 89. Er stützt sich dabei auf Pierre Bourdieu, „L’identité et la représentation: Éléments pour une réflexion critique sur l’idée de région“, in: Actes de la recherche en sciences sociales 35 (1980), 63–66; 69. J. Nicholas Entrikin, The Betweenness of Place: Towards a Geography of Modernity (Basingstoke: Macmillan, 1991), 55–56 sieht in alltäglichen „place names“ eine „semantic depth that extends beyond the concern with simple reference to location or to a single image“. Vgl. Erica Carter et al., „Introduction“, in: dies. et al. (eds), Space and Place: Theories of Identity and Location (London: Lawrence and Wishart, 1993), xii; Allan Pred, Making Histories and Constructing Human Geographies: The Local Transformation of Practice, Power Relations, and Consciousness (Boulder: Westview Press, 1990), 211–15 zeigt das am Beispiel von Straßenumbenennungen im Stockholm des späten 19. Jhs. Auf den Aspekt der Erinnerung an bestimmte Vergangenheiten geht Gordon, Making Public Pasts, v. a. 3–17; 126–27 ausführlich ein. 148 Vgl. Marc H. Choko, Les grandes places publiques de Montréal (Montréal: Méridien, 1987), 65.

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der Mont Royal zumindest an dieser Stelle britisch werden. Ein britischer Architekt wurde mit dem Bau beauftragt, und schon angesichts der ersten Entwürfe betonte die anglophone Presse, dass das RVH „in the style now most approved of in England, that is, detached buildings with as much ventilation as possible“149 gestaltet würde. Großbritannien war hier der Referenzpunkt für Modernität und Aktualität, ein Vorbild, an dem man sich orientierte. Es passt zum urban narrative, dem die Stifter und Befürworter des RVH anhingen und der als den guten, modernen öffentlichen Raum einen von Licht und Luft durchdrungenen, locker bebauten Raum darstellte, dass man als herausragendes Merkmal eines modernen Baustils die gute Belüftungsmöglichkeit der freistehenden Gebäude empfand. Der konkrete Baustil trat in dieser Perspektive in den Hintergrund, war aber mit diesen spezifischen Idealen modernen Bauens insofern assoziiert, als das RVH im Scottish Baronial Style errichtet wurde, einem Stil, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Schottland vor allem für Landsitze angewandt wurde und die Architektur schottischer Schlösser und Landsitze des 16. Jahrhunderts aufgriff. Hauptsächliches Merkmal des Stils war die Vielzahl an Ecktürmchen und Stufengiebeln (Abb. 24). Eine solche Architektur spielte mit Bauelementen, die der Wehrarchitektur entstammten; ihrer fortifikatorischen Funktion beraubt, wirkten sie als Symbole adliger Macht weiter, eine Referenz, die den viktorianischen Oberschichten durchaus genehm war. Selbst Queen Victoria ließ in den 1850er Jahren ihren Sitz in den schottischen Highlands, Schloss Balmoral, in diesem Stil erweitern, was das Prestige des Scottish Baronial verstärkte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde er auch für öffentliche Bauten angewandt; als direktes Vorbild für das RVH diente dem Architekten Saxon Snell allerdings ein Krankenhaus, die Royal Infirmary von Edinburgh (Abb. 25).150 Der Rückgriff auf einen schottischen Stil erinnerte einerseits an die Herkunft der Stifter, andererseits knüpfte er damit auch an die Lieblingssommerresidenz Victorias an und flocht so in das Gewebe des Montrealer Stadtraums ein britisches Muster ein, welches weithin sichtbar am Mont Royal das Empire repräsentierte. Traditionelle Herrschaftsinsignien der Architektur wie etwa die Ecktürme verdeutlichten den Machtanspruch sowohl der Stifter als auch der britischen Queen. Das Bauen entlang der Leitlinien des Licht-Luft-Raum-Diskurses selbst wurde durch den spezifischen Kontext, nämlich die Assoziation mit dem Vorbild Großbritannien, zu einem mit imperialen Bedeutungen aufgeladenen Akt, selbst wenn dieselben Ideale auch in anderen Ländern den urbanistischen Diskurs der Zeit bestimmten und keineswegs spezifisch englisch waren. 149 „The Mayor’s Return“, in: Herald 4.12.1888. 150 Lewis, Royal Victoria Hospital, 24. Neville, The Royal Vic, 21–29, ist eher ein coffee-table book, daher v. a. für seine Abbildungen lohnenswert. Architekturzeichnungen des RVH durch Snell finden sich in der McGill University, The John Bland Canadian Architecture Collection (CAC), Henry Saxon Snell, Accession No. 78.

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Abb. 24  Studio William Notman & Son, Fotografie des Royal Victoria Hospital an der Pine Avenue, um 1884.

Abb. 25  Die New Royal Infirmary in Edinburgh, 1878.

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Angesichts dieser demonstrativen Loyalität zu Großbritannien kleideten Préfontaine und seine Gesinnungsgenossen ihre Kritik an der Unterrepräsentierung der Frankokanadier in nationale Kategorien. Préfontaine und die kritischen frankophonen Journalisten drückten die von ihnen perzipierte Dichotomie zwischen Kanadiern angelsächsischer und französischer Herkunft auffallend häufig mit den Worten „canadien-français“ und „anglais“ aus, nicht etwa „canadien-anglais“ oder „français“ (wie es die Anglophonen beim UdeM-Streit taten, indem sie von „english“ vs „french“ sprachen). Sie legten also einen Kontrast zwischen Engländern und Frankokanadiern nahe, als wären die anglophonen Montrealer primär Engländer, dann erst Kanadier und die Franko-Katholiken der Stadt zunächst Kanadier, dann frankophon. Indem sie das „Kanadiersein“, das aufgrund des Dominion-Status Loyalität zum britischen Oberhaupt implizierte, zwischen die frankophonen Montrealer und das britische Empire schalteten, suggerierten sie, dass auch die Frankokanadier über ihr Kanadiertum der Gemeinschaft der loyalen Untertanen Ihrer Majestät angehörten, auch wenn sie andere Wurzeln hatten. Ihre oberste Loyalität lag nicht bei Frankreich. Gleichzeitig erinnerten die Kritiker des RVH damit implizit daran, dass die franko-katholische Bevölkerung ihren anglophonen Mitbürgern gegenüber gleichberechtigte Kanadier waren, ja, fast mehr Kanadier als ihre englandergebenen Mitbürger. Eine führende Beteiligung an dem bedeutendsten Krankenhaus des Dominion schien daher nur folgerichtig. Wie auch schon der frühe Protest seitens des Montreal General Hospital gezeigt hat, wird man den Debatten in ihrer Vielschichtigkeit nicht gerecht, wenn man hier eine reine anglo-frankokanadische Frontstellung vermuten würde. Das waren zwar von den Akteuren selbst häufig bemühte Ordnungskategorien, die im Detail jedoch oft zu kurz griffen. Allein schon im Stadtrat waren die Meinungen zum Dank an die Stifter nicht eindeutig nach Sprachgruppe oder Konfession geteilt. Immerhin wurde Préfontaine durch den Abgeordneten Thompson in seinem Antrag unterstützt, die Debatte über das Dankesschreiben zu verschieben, was nicht gerade Enthusiasmus für das RVH seitens Thompson suggeriert.151 Thompson war Abgeordneter des Stadtteils St-Gabriel, eines stark industrialisierten Vororts am Canal Lachine, der mehrheitlich von der anglophonen Industriearbeiterschaft bewohnt wurde.152 Möglicherweise war das RVH am Berg für seine Wählerschaft kaum erreichbar, anders als es das MGH war. Immerhin war St-Gabriel vorwiegend von Iren bewohnt, weshalb man hier einen innerkonfessionellen Schulterschluss vermuten könnte.153 151 Procès-verbal du Conseil, lundi 11 décembre 1893, AVM, PVC, B18. 152 Zuordnung der Abgeordneten zu ihren Stadtteilen auch im Folgenden nach Ville de Montréal, Division des Archives, Les membres des conseils municipaux de 1833 à 1899, Zusammenstellung als pdf im Internet unter http://www2.ville.montreal.qc.ca/ archives/democratie/democratie_fr/expo/savoir-plus/index.shtm, Stand 10.3.2009. 153 Zum Katholizismus des Stadtteils St-Gabriel vgl. Gordon, Making Public Pasts, 31.

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Komplexer ist der Fall von William Clendinneng, einem der Abgeordneten des Viertels St-Antoine. Dem Bericht in der Presse zufolge begrüßte er Préfontaines Kritik und kündete selbst Protest an, sollte das RVH nicht für alle Ärzte gleichermaßen geöffnet werden: „il protestera, car il ne veut pas voir le Mont Royal souillé par le fanatisme.“154 Clendinneng war irischer Abstammung und Inhaber der William Clendinneng & Son Foundry, in der er sich vom einfachen Angestellten bis zum Eigentümer hochgearbeitet hatte. Man könnte hier nun eine Art katholische Allianz im Stadtrat vermuten. Allerdings war Clendinneng irischer Protestant, und ein sehr aktiver obendrein: Nicht nur war er in zahlreichen protestantischen Wohltätigkeitsorganisationen tätig, sondern auch in der French Canadian Missionary Society, die den reformierten Glauben unter den Frankokanadiern verbreiten sollte. Er ergriff hier dennoch Partei für die Katholiken und Frankokanadier. In vielerlei Hinsicht – etwa was das Verhältnis zu seinen eigenen Angestellten und den Gewerkschaften angeht – mag Clendinneng auf Ausgleich bedacht gewesen sein155; eine ähnliche Motivation scheint hier vorzuliegen, wenn er den Mont Royal vor Fanatismus bewahren wollte, also vermutlich vor dem Ausgrenzen nach ethnischen oder religiösen Kriterien. Das verweist gleichzeitig auf den herausragenden Symbolwert des Mont Royal: Als heiliger Berg, zentraler Ort in der imagination urbaine Montreals, durfte sein reines Image nicht durch so etwas profanes wie Machtkämpfe ,beschmutzt‘ werden. Gesellschaftliche Brüche sollten sich nicht gerade am Mont Royal abzeichnen, der doch den Identifikationsraum für alle darstellte. Manchmal hatte also der Mont Royal – beziehungsweise das herrschende Bild des Mont Royal als reiner, öffentlicher, typisch Montrealer Ort – die Kraft, ausgleichend zu wirken. Völlig uneigennützig aber war auch Clendinnengs Haltung hier nicht, war er doch mit dem institutionellen Rivalen des RVH, dem Montreal General Hospital, eng verbunden; später wurde er sogar zum Gouverneur des MGH auf Lebenszeit ernannt. Möglicherweise nutzte er den Protest der Katholiken und Frankokanadier, um aus Gründen institutioneller Konkurrenz gegen das RVH zu sticheln. Beausoleil hingegen, der den Quartier Est, also den östlichen Teil des Vieux-Montreal repräsentierte, hatte Stevenson in seinem Antrag auf ein Dankesschreiben unterstützt, obwohl er traditioneller Anhänger der Préfontaineschen machine war. Nach Préfontaines Einwand aber schwenkte er rasch um und verkündete, seine Unterstützung des Dankschreibens zurückzuziehen, bis den frankokanadischen Medizinern Gerechtigkeit widerfahren sei.156

154 „L’hôpital Victoria: Sera-t-il ouvert à tout le monde, à toutes les croyances et à toutes les nationalités?“, in: La Presse 12.12.1893. 155 Dictionary of Canadian Biography Online, s.v. „Clendinneng, William“, www.biographi.ca. 156 „L’hôpital Royal Victoria: Son inauguration par le Gouverneur-Général“, in: La Presse 4.12.1893.

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Die Fragmentierungen im Stadtrat oszillierten in den Auseinandersetzungen um Stadtraum situationsgebunden zwischen lokalen, institutionellen und persönlichen Interessen und ethno-konfessionellen Loyalitäten, die sich teilweise überlagerten, was auch die Labilität der Zugehörigkeiten zu identitären Kategorien verdeutlicht.157 In diesem Fall schlug sich last but not least die Mehrheit auf Préfontaines Seite, und es wurde kein Dankschreiben an die großzügigen Stifter Smith und Stephen verschickt. Zwar konnte hier eine weitgehend franko-katholische Koalition ein kleines Zeichen setzen; an den Machtverhältnissen im Royal Victoria Hospital änderte das jedoch auch langfristig nichts. Das Board of Governors des RVH verteidigte sich, indem es verkündete, seine Ärzte nur nach deren „efficiency“ auszuwählen, nicht nach universitärer – und damit konfessioneller, ethnischer – Zugehörigkeit, und suggerierte damit im Zeitalter des neutralen Experten abermals die eigene Modernität wie auch die Überlegenheit der anglophonen Mediziner. Das Royal Victoria Hospital blieb folglich ein Monument zu Ehren Queen Victorias am Mont Royal und ein Ausbildungskrankenhaus für anglophone Mediziner.

157 Zur Situationsgebundenheit und ständigen Variabilität ethnischer Identitätskonstruktionen vgl. Karl-Heinz Kohl, „Ethnizität und Tradition aus ethnologischer Sicht“, in: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hgg.), Identitäten (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998), 275.

3  „Overlooking the great city“: Sehen und erinnern auf dem Berggipfel

Seen from Sherbrooke Street [...] the buildings of McGill appear to grow right out of Mount Royal itself. Just above them are visible the roofs of the Royal Victoria Hospital [...]. But high above them all [...] is Montreal’s wonderful mountain with its huge lighted cross, reminiscent of Maisonneuve, flaring eastward to what is often called the French end of town.1

Während 1888 erste Proteste den Konsens um das Royal Victoria Hospital in Frage zu stellen begannen, erregte ein weiteres Projekt am Mont Royal den Ärger einiger Montrealer. Waren es beim RVH frankophone Politiker und Experten, die ahnten, dass das ethnizitäts- und konfessionsübergreifend gedachte RVH letztlich eine fondation sectionelle sein würde, so meldeten sich in diesem Fall erboste Protestanten zu Wort. Sie erhoben Einspruch gegen ein katholisches Vorhaben, das in ihren Augen „the peace and harmony which now exists among all sections of the Community“2 ernsthaft gefährdete: Auf dem Gipfel des Mont Royal sollte eine Statue der Jungfrau Maria errichtet werden. Dieses Projekt der 1880er Jahre wurde letztlich nicht realisiert, und es sollten nahezu weitere 40 Jahre vergehen, bis ein Monument die Spitze des Mont Royal zierte. Im Juni 1924, nur wenige Monate nachdem die Université de Montréal ihren Entschluss verkündet hatte, sich um der Harmonie in der Stadt willen an den Nordhang des Berges zurückzuziehen, eröffnete Mgr Gauthier, Rektor der UdeM und Weihbischof in Montreal, mit einer Messe in der Kathedrale einen Festtag, der auf dem Gipfel des Mont Royal seinen feierlichen Höhepunkt fand: Der Generalvikar Mgr Alphonse Emmanuel Deschamps segnete dort ein neu errichtetes, monumentales Kreuz, das bis heute die Bergspitze schmückt (Abb. 26).3

1 Hugh MacLennan (ed.), McGill: The Story of a University (London: George Allen and Unwin Ltd, 1960), 23. 2 Petition to the Mayor and Municipal Council of the City of Montreal, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-0308-02. 3 Robert Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal: Des Patriotes au Fleurdelysé, 1834–1948 (Montréal: L’ Aurore, 1975), 313.

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Abb. 26  Das Kreuz auf dem Mont Royal.

Im Vergleich zu den bisher erörterten Konflikten am Mont Royal stellen diese beiden Begebenheiten in doppelter Hinsicht Neuland dar. Zum einen – im wörtlichen Sinne – wird hier ein anderer topographischer Bereich des Berges betreten. Sowohl die Diskussionen um das RVH als auch um die UdeM bezogen sich auf Hänge des Mont Royal. Während es im Universitätsstreit um die Ostseite ging, die zwar zum Park und damit zum Einzugsgebiet der anglo-protestantischen Oberschichten gehörte, jedoch eher an dessen Peripherie lag, sowie um die ‚hinter dem Berg‘ liegende Nordseite, stand im Fall des RVH die Südostseite zur Debatte, das Herz des um die Golden Square Mile entstandenen anglophonen Territoriums. Beide Male aber sprachen die Kontrahenten bereits in diesen Fällen nicht von einer Lage am, sondern auf dem Berg. ‚Am Mont Royal‘, das war diskursiv einfach ‚oben‘. Angesichts dieser räumlichen Hierarchie des high über dem low ist es naheliegend, dass der höchste Punkt des Berges als ein besonderer und besonders begehrenswerter Ort wahrgenommen wurde. In den mentalen Hierarchien der Sektionen des Mont Royal lag der Gipfel dank seiner Sichtbarkeit noch weiter oben, über dem Südosthang, und erst recht deutlich weiter über dem Ost- oder gar dem Nordhang. Die Versuche der Akteure,

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diesen Ort zu gestalten, stellen für die Analyse zum anderen auch deshalb Neuland dar, weil sie durch primär symbolische Akte geprägt sind. Vermischten sich bei der UdeM und dem RVH pragmatische, an die Natur der jeweiligen Institution geknüpfte Überlegungen mit dem symbolischen Bestreben, am Mont Royal zu sein, so beruhte letzteres doch vorwiegend auf dem durch die Institution gewährten physischen Zugang zum Berg für bestimmte Personengruppen. Bei den Gestaltungen des Gipfels durch Statuen und Monumente hingegen handelte es sich um symbolische Akte, die sich nicht direkt auf die Zugänglichkeit des Ortes auswirkten; symbolische Akte, wie sie in den bisher untersuchten Fällen eher in zweiter Linie eine Rolle spielten, etwa in der Architektur oder den Einweihungszeremonien. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Auseinandersetzungen um den physischen Zugang zur Bergspitze gegeben hätte. Parallel zu den symbolischen Gestaltungsinitiativen des Mont Royal versuchten die Akteure auch, die Verkehrswege so zu regeln, dass sie über die Erreichbarkeit des Gipfels verfügten. Die seit den 1880er Jahren regelmäßig wiederkehrenden Debatten um den Plan einer Tram durch den Park, die die Anhänger eines möglichst naturbelassenen, kaum frequentierten summit denjenigen gegenüberstellte, die für die breite Masse der Bevölkerung erschwingliche Transportmittel zum Erholungsort Montreals forderten, stehen exemplarisch für solche Auseinandersetzungen. Letztlich stellten die Initiativen, den Gipfel symbolisch zu gestalten, und die Versuche, ihn physisch zu erreichen, zwei Endpunkte einer visuellen Beziehung zwischen dem Berg und der Stadt dar: Wer durfte von ganz oben auf Montreal herunterschauen? Und welches Zeichen sah man über dem Gipfel thronen, wenn man aus der Stadt hinaufschaute? In diesem Kapitel wird die zweite Frage im Zentrum stehen. Der Fokus auf die Geschichten der Jungfrau Maria und des Kreuzes erlaubt es, analytisch noch schärfer als in den Untersuchungen zur UdeM und zum RVH zwischen der Rivalität um institutionelle Macht und der symbolischen Konkurrenz um den Mont Royal zu unterscheiden und letztere gezielter herauszupräparieren. Die in der Forschung bereits ausführlicher bearbeiteten Diskussionen um den physischen Zugang zur Bergspitze dienen dabei als Folie, um besser beurteilen zu können, was mit der symbolischen Belegung eigentlich für wen auf dem Spiel stand. Während der Jungfrau Maria in den späten 1880er Jahren kein Erfolg am Berg beschieden war, so war das Kreuz in den 1920ern offenkundig konsensfähig. Anhand dieser beiden Eingriffe an einer Stelle des Mont Royal, die räumlich weit über den Hängen der Université de Montréal und des Royal Victoria Hospital liegt und die den Zeitraum zwischen diesen beiden Streitfällen an den Berghängen verklammert, sollen im Folgenden die gesellschaftlichen Konstellationen, Identitätszuschreibungen und Raumvorstellungen, die sich bisher herauskristallisiert haben, überprüft und weiter differenziert werden. Dazu muss ausgelotet werden, welche Vorstellungen von Gesellschaft die jeweiligen Monumente transportierten und welche Teile der Bevölkerung diese auf dem Gipfel des Mont Royal prominent im Stadtraum zu etablieren suchten. Auf den ersten Blick plakativer als

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im Fall der UdeM und des RVH – die katholisch konnotierte Jungfrau, ein christliches Kreuz – müssen die Konflikt- und Konsensbedingungen detailliert herausgearbeitet, Kontrahenten und Allianzen herausgestellt und in den historischen Kontext eingebettet werden, um ein schärfer konturiertes Bild der Loyalitäten und Fragmentierungen innerhalb der Montrealer Gesellschaft, wie sie sich am Mont Royal ausspielten, zeichnen zu können. Die Symbolkraft des Mont Royal als gesamtstädtischer Identifikationsraum und die daraus resultierende potenzierte Bedeutung der Monumente an seiner Spitze sollen dabei nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern anhand der Stellung, die diese Raumfragen in den Diskussionen um die Monumente und in der Gestaltungspraxis einnahmen, weiter herausgearbeitet werden.

3.1  Der Berggipfel als „skyline“ und „observatory“ Der Mont Royal umfasst insgesamt drei Gipfel, doch wenn von the summit oder le sommet die Rede war, dann war immer nur der höchste, südöstliche Gipfel gemeint. Im Park des Mont Royal gelegen, überragt er die dem ursprünglichen Stadtkern zugewandte Seite des Berges (Abb. 27). Ein weiterer Gipfel befindet sich westlich in Westmount, der dritte nördlich im Gebiet des katholischen Friedhofs Notre-Damedes-Neiges. Der Berggipfel als ein Bereich des Mont Royal nahm in der imagination urbaine Montreals eine Position ein, die derjenigen des gesamten Berges glich. Die

Abb. 27  Die drei Gipfel des Mont Royal.

Der Berggipfel als „skyline“ und „observatory“

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zentralen Bedeutungen, die dem Mont Royal zugesprochen wurden, gründeten in dessen Gipfel, der letztlich den Bergcharakter des Mont Royal ausmachte. Spielten die Hänge des Berges zwar eine große Rolle in der Praxis der Auseinandersetzungen um den Mont Royal, so nahmen sie in den diskursiven Zuschreibungen zum Berg als Montrealer Zeichen allgemein nur eine Randstellung ein. Gerade die Funktion des Berges als visuelle landmark, als räumliche Markierung der Stadt Montreal, entsprang seinem weithin sichtbaren Gipfel – weshalb es auch ein besonders heikles Thema war, was auf der Spitze des Berges gebaut werden sollte. Schließlich stand die skyline des Mont Royal und damit die der Stadt auf dem Spiel. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Aussichtsplattform geplant wurde, befürchteten einige Kommentatoren, dass sie die „skyline of the mountain view from the city“4 verschandeln würde. In dieser Befürchtung steckte aber noch ein zusätzlicher Aspekt, der über die Bedeutung des Mont Royal als landmark für die Stadt hinauswies. Es ging hier weniger um die Funktion des Berges als Markenzeichen, sondern um den Blick aus der Stadt heraus auf den Mont Royal, um den Bezug zwischen den Einwohnern Montreals und ihrem Berg. Auch diese innerstädtische Sichtbarkeit des Mont Royal lag in seinem Gipfel begründet. Den Berg zu sehen wiederum war ein Ur-Montrealer Zustand, der regelmäßig besungen wurde und noch wird. „Voir la montagne et l’aimer“ etwa war das Motto, unter das der Autor Auguste Bourbeau 1892 einen Essay über den Berg stellte, um sich dann über den Anblick des Berges in Ekstase zu schreiben: „Qui n’a vu de loin, l’été, au déclin d’un beau jour, lorsque le soleil descend derrière la montagne, le beau spectacle qui s’offre aux regards? L’oeil étonné voit mille feux, paraissant jaillir du sein même d’une montagne embrasée.“5 Die Perspektive ist hier klar aus der Sicht der sich (süd-)östlich des Berges erstreckenden Stadt eingenommen, mit Blick auf den Hang, an dem das Royal Victoria Hospital errichtet wurde. Die Winteransicht des Mont Royal wurde als nicht minder beeindruckend wahrgenommen, glaubt man einem Artikel aus den 1950er Jahren: „On fine winter mornings, the lines of Mount Royal are cruelly clean against a sky so glaring-blue you can hardly bear to look at it without dark glasses.“6 Bei dieser Faszination, die vom Anblick des Mont Royal aus der Stadt heraus ausging, verwundert es nicht, wenn die auf dem Berggipfel zu errichtenden Monumente im Zentrum heftiger Diskussionen und schwieriger Konsensfindungsprozesse standen. Was auch immer auf der Bergspitze gebaut würde, es würde die Ansicht des Mont Royal nachhaltig verändern, nicht nur in der Repräsentation nach außen, sondern gerade auch für den Blick der Montrealer.

4 „Mountain Lookout“, in: n.p., n.d., MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7-259 „Scrapbook 1902–1917“. 5 Auguste Bourbeau, „La Montagne de Montréal“, 1892, AVM, DP, B258-2.46. 6 Hugh MacLennan, „Montreal: The Mountain in the City“, in: Mayfair ( June 1952), 71, AVM, DP, B258-2.101.

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Der Enthusiasmus für den summit speiste sich aber nicht nur aus seiner Sichtbarkeit, sondern auch aus deren Gegenstück, dem weiten Blick, der sich vom Gipfel aus über die Stadt hinweg in die Ferne eröffnete. „[…] allons visiter, du haut de cette montagne, tout ce qu’il est permis à l’oeil de voir, tout ce qu’il y a de grand et de beau dans ce vaste panorama se déroulant au loin.“7 Abgesehen von den gesundheitlichen Vorteilen, die man sich von einem Aufenthalt in den luftigen Höhen versprach, und von der Ruhe außerhalb der Stadt, konnte man von hier oben die ganze Stadt und noch mehr Land in den Blick nehmen. Diesem Panorama wurden mindestens ebenso viele Elogen gewidmet wie der Ansicht des Mont Royal selbst, und auch in ihnen erscheint der Blick wie ein Fest des Sehens, ein Paradies für das Auge. Wer den Gipfel erreicht hatte, der wurde reich belohnt. Finally, the road issues upon the summit of the mountain […] from which the unrivaled prospect bursts suddenly upon the sight. The descent is so abrupt that the tops of trees make a foreground, behind which the gigantic panorama stretches away. There lies the valley of the St. Lawrence, with the majestic river flowing around its islands, the opposite horizon bounded by the beautiful sweep of the Laurentian mountains, with their blue peaks firmly outlined against the soft haze of a summer sky. […] At our feet lay the old French city, its harbor crowded with masts, its ancient spires rising from its groups of venerable houses. […] One took in at a glance the great commercial activity of this city, which […] is really the great Canadian seaport […]. A more imposing view it would be hard to find […], and the whole scene bespoke of opulence and comfort, and had a touch of imperial power […]. England will not lightly part with this fine jewel of her crown one may be sure.8

Ein atemberaubendes Panorama bot sich dem Besucher, das sich durch seine Vielseitigkeit auszeichnete. „And what a varied picture it is! Here lies the busy town beneath one’s feet, stretching to the riverside; far away, across the broad bosom of Father St. Lawrence dotted with picturesque islets, mountains rise in towering grandeur, affording friendly protection to countless fertile valleys, the home of a happy and prosperous people.“9 Nicht nur die Stadt lag dem Ausschauenden zu Füßen, sondern ein ganzes Land in seiner Vielfalt, als dessen Herzstück Montreal dargestellt wurde. Erst vom Berg herunterschauend konnte man begreifen, so scheint es, welche Bedeutung diese Stadt eigentlich hatte. Herausgehoben aus dem Trubel urbanen Lebens war die wahre Größe Montreals und damit Kanadas erkennbar. Indem man den Berg erklomm, trat man gewissermaßen einen Schritt zurück und konnte das große Ganze, das zusam7 Auguste Bourbeau, „La Montagne de Montréal“, 1892, AVM, DP, B258-2.46. 8 M.C. Robbins, „American Parks: Mount Royal, Montreal“, in: Garden and Forest 304 (Dec. 1893), 523. 9 „Mount Royal Park“, in: Herald 2.7.1885; weitere Elogen auf das Panorama in „The Mountain Park“, in: Herald 14.5.1884; Paul Bourget, Sensations de Nouvelle-France: Montréal, Trois-Rivières, Québec (Boston: S. Clapin, 1895), 16–17.

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mengesetzt war aus vielfältigster menschlicher Aktivität, mit einem einzigen Blick erfassen, war man doch selbst in dem Moment nicht mehr Teil des unüberschaubaren Geschehens. Damit ging jedoch auch eine Reduktion einher: Entledigt der Details menschlichen Lebens, ja geradezu menschenleer, wurde die Stadt zu einem abstrakten, aus unbeweglichen physischen Strukturen bestehenden Objekt, das eine statische, fassbare Ordnung suggerierte. Dieser Perspektivwechsel, der dem Betrachter commanding views eröffnete, machte es so erstrebenswert, Zugang zum Berggipfel zu erlangen – um an der Stelle zu stehen, zu der die Menge der Bewohner aus der Stadt heraus aufschaute, und um den Blick gleichsam aus dominierender Position zurückzulenken und den Trubel der Stadt im doppelten Sinn zu übersehen.10 Die Kraft des ordnenden, besitzergreifenden Blicks aus der Höhe lag auch der zeitgenössischen Faszination der Panoramafotografie zugrunde.11 Gerade urbane Panoramen erlaubten es, die oftmals als chaotisch perzipierten Metropolen als geordnetes Ganzes wahrzunehmen und zu repräsentieren.12 Im Montreal des 19. Jahrhunderts bildete der Panoramablick vom Berg einen Strang in der visuellen Repräsentation der Stadt, der neben den Darstellungen des Mont Royal als ländliches Idyll oder als unberührte 10 Gilles Marcotte, Ecrire à Montréal (Montreal: Boréal, 1997), 34, spricht in diesem Zusammenhang vom totalisierenden Blick des 19. Jhs à la Balzac. Zum Oben- und Unten-Sein als gesellschaftsstrukturierender Opposition vgl. Robert Shields, Places on the Margin: Alternative Geographies of Modernity (London: Routledge, 1991), 4; Yi-Fu Tuan, Space and Place: The Perspective of Experience (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1977), 37–38. 11 Zur ordnenden, besitzergreifenden Kraft des distanzierten Blicks aus der Höhe am Beispiel der urbanen Panoramafotografie des 19. Jhs Peter Hales, Silver Cities: Photographing American Urbanization, 1839–1939 (Albuquerque: University of New Mexico Press, 2005), 133–78. 12 Isabelle Caron, „Montréal de la seconde moitié du XIXe siècle: Vue panoramique et fondation d’un discours unificateur“, in: Lucie K. Morisset et Luc Noppen (dir.), Les identités urbaines (Quebec: Nota Bene, 2003), 285–99, stellt in der Entwicklung der Panoramaansichten Montreals mit dem Berg im Hintergrund fest, dass die Stadt im 19. Jh. zunehmend als Ganzes dargestellt und nicht mehr nur einzelne Szenen in den Blick genommen wurden. Eine parallele Tendenz macht sie in den textuellen Schilderungen der Stadt aus und zeigt so auf, wie die Perzeption einer geeinten, raumeinnehmenden Stadt die einer fragmentierten, in sehenswerte Punkte gegliederten Stadt ablöst. Diese Entwicklung situiert sie im Rahmen eines Paradigmenwechsels von der romantischen Landschaftsdarstellung zur Repräsentation der Stadt als Ort des Fortschritts. Leider wird nicht klar, inwieweit das neue Raumverständnis mit der zunehmenden Industrialisierung der Stadt zusammenhängt, gab es doch bereits frühere, romantische Darstellungen, die ein umfassendes Panorama der Stadt ohne jegliche Fortschrittsinsignien zeichneten. Den Mont Royal versteht Caron zudem lediglich als ein einzelnes, fragmentarisches Element der Montrealer Stadtlandschaft, weshalb sie auch den häufig geschilderten, ebenfalls einenden Panoramablick vom Mont Royal herunter auf die Stadt als Äußerung der ,alten‘, fragmentarischen Perzeption der Stadt interpretiert.

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Wildnis die Perzeptionen des Berges prägte, wie Janice Seline in ihrer Untersuchung zum Parc Mont-Royal gezeigt hat. Diese Tradition rückte die Stadt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, während dem Berg dabei lediglich die Rolle des Aussichtspunktes zukam, von dem aus man den Fortschritt der Stadt in Augenschein nehmen konnte, die meist als „orderly, god-fearing and progressive“ dargestellt wurde.13 Die textuellen Beschreibungen des Panoramas reproduzieren genau denselben Blick. Eine weitere mit dem Mont Royal verbundene visuelle Tradition etablierte sich jedoch vor allem in der Fotografie, seitdem zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Gipfel als Aussichtsplattform gestaltet worden war. Der Fokus in diesen auch als Postkarten verbreiteten Bildern liegt nur zum Teil auf dem Panorama und mindestens ebenso sehr auf den die Aussicht genießenden Figuren im Bild (Abb. 28). Sämtliche anwesenden Personen richten den Blick, der durch die ausladende Geste des Beobachters in der Mitte

Abb. 28  Aussichtsplattform auf dem Gipfel des Mont Royal (um 1900).

noch akzentuiert wird, in die Ferne. Nicht nur das Panorama an sich, sondern spezifisch der Akt seines Sehens wurde dargestellt. Betrachtende abzubilden und mit unterschiedlichen Ebenen des Blicks zu spielen hat in der Kunstgeschichte eine lange bildliche Tradition, die die Fotografien hier aufgriffen. In diesem Fall verortete eine solche Darstellungsweise den Ursprung des panoramischen Blicks auf Montreal direkt auf dem Berggipfel, stärker als es die reine Darstellung der Aussicht getan hätte, und betonte dadurch die Möglichkeit, die jeder hatte, diesen Blickpunkt auch tatsächlich einzunehmen. Sicher aus touristischen Gründen, möglicherweise aber auch wegen der Bedeutung, die das ‚Obensein‘ am Mont Royal in den innerstädtischen Diskursen hatte, 13 Vgl. Janice Eleanor Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park, Montreal: Design and Context“ (M.A. Concordia University, 1983), 24.

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stand die ‚Machbarkeit des Blicks‘ im Vordergrund. Die Bildstruktur erinnert an eine prominente Darstellung der White City von 1893 (Abb. 29), die die Wahrnehmung der Columbian Exposition von Chicago ebenso geprägt hat wie die berühmten Bilder ihres Court of Honor. Ein Besucherpaar nimmt in dieser Fotografie von Charles Dudley Arnold von einem nicht näher spezifizierten Dach aus die prachtvolle, nahezu menschenleere und abstrakte Ordnung der weißen Architektur der Idealstadt in Augenschein.14

Abb. 29  Charles Dudley Arnold, Blick vom Dach des Manufacturers & Liberal Arts Building auf das Gelände der Weltausstellung von Chicago, 1893.

Gleichzeitig fällt in den Montrealer Bildern eine Variation dieses Topos auf, die sich vor allem in den gerade bei Montreals Oberschicht beliebten Fotografien aus dem Studio William Notmans (1826–91) findet (Abb. 30 und Abb. 31).15 In diesen Kom14 Zur fotografischen Dokumentation der White City vgl. Hales, Silver Cities, 213–69. 15 William Notman kam 1856 aus Glasgow nach Montreal. Eigentlich Textilwarenhändler, eröffnete er im selben Jahr ein Fotostudio, mit dem er sich alsbald als Fotograf der Montrealer Prominenz einen Namen machte. Filialen seines Studios öffneten Ende der 1860er in Ottawa und Toronto, später auch in Boston und anderen Städten Neuenglands. Sein Sohn Charles führte die Studios bis in die 1930er erfolgreich weiter, vgl. Gordon Dodds et al., The World of William Notman (Toronto: McClelland and Steward, 1992).

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Abb. 30  Studio William Notman & Son, Aussichtsplattform auf dem Gipfel des Mont Royal, 1916.

Abb. 31  Studio William Notman & Son, Aussichtsplattform auf dem Gipfel des Mont Royal, 1916.

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positionen rückt die Stadt an den Rand des Fotos, während die Aussichtsplattform (Lookout) selbst das Zentrum des Bildes einnimmt und den Blick des Betrachters ins Bild hineinführt. Ganz anders als jene wenigen Darstellungen des Lookout, die die entspannte Geselligkeit eines Ausflugs zum Gipfel akzentuieren (Abb. 32), konzentrieren sich die Notman-Fotos auf die physische Gestalt der Plattform. Formal streng durchkomponiert, setzen diese Bilder die Ordnung und Aufgeräumtheit des von Menschenhand gestalteten Berggipfels in Szene. „Orderly“ und „progressive“ war hier nicht nur die Stadt, sondern der Gipfel des Mont Royal selbst. Die Ansicht der Stadt mit dem Berg im Hintergrund und der Blick vom Berg waren zwei gegenläufige visuelle Bewegungen, die Stadt und Mont Royal verbanden wie zwei Seiten einer Medaille. Die Bergspitze sichtbar zu gestalten und zu ‚verbessern‘ einerseits und selbst von ihr herabzusehen andererseits, das waren zwei miteinander verknüpfte und über die bildlichen Darstellungen verbreitete ‚denkbare‘ Möglichkeiten, den Mont Royal für sich einzunehmen, physisch und symbolisch.

Abb. 32  Die Aussichtsplattform auf dem Gipfel des Mont Royal, um 1910. In diesem Foto steht der Charakter des Gipfels als Ausflugsziel im Zentrum.

In den Lobeshymnen auf das Panorama, das sich dem Besucher des Mont Royal bot, klang zusätzlich noch ein weiterer Aspekt an, der die beiden visuellen Funktionen der Bergspitze als Ansichtspunkt und Aussichtsort mit einem gemeinsamen Hintergrund verknüpfte: die vielschichtigen Verbindungen des Berges mit der Geschichte der Stadt. Schließlich nahm der Mont Royal im Gründungsmythos Montreals eine herausragende Stellung ein. Sämtliche für die Stadtgründung wichtige Helden der

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Kolonialzeit hatten dem Mythos zufolge den Gipfel des Berges erklommen, um das neue Land von oben her in Augenschein zu nehmen. In den Texten über den Mont Royal fungierte gerade das Panorama als verbindendes Moment zwischen den historischen Gipfelbesteigungen und den Höhenausflügen der zeitgenössischen Montrealer. Kaum ein Kommentator beschrieb die Aussicht, ohne darauf hinzuweisen, dass schon Cartier von diesem Anblick überwältigt gewesen war. „Mount Royal, at least the top of it, has been sacrosanct ever since that day when Jacques Cartier was led by Indians to its summit, where he looked out in wonder at the tremendous prospect of an untouched new world.“16 Diese Geste der Eroberung – vielleicht eher ein Blick der Eroberung, der den als unberührt gesehenen Raum einnimmt – wiederholte sich gewissermaßen mit jedem Montrealer, der vom Berg auf die Stadt herunterschaute. Ein Bezug zwischen Geschichte und Panorama stellte sich aber noch auf einer weiteren Ebene ein. Denn der Besucher konnte nicht nur den Cartierschen Blick übernehmen, sondern die Geschichte selbst sehen. Der Aufstieg auf den Mont Royal wurde so zu einer Reise in die Vergangenheit: Admirant les beautés qui s’offrent devant eux, leurs regards se perdent dans un horizon lointain, où la terre semble se confondre avec le ciel. Peu à peu les conversations bruyantes cessent […]. On n’entend plus que la voix du vent qui souffle dans le feuillage; […]. Alors, chaque voyageur, appuyant nonchalemment la tête sur son bras, semble livré à une profonde méditation. On ne voit plus ce qui apparaît au loin; on ne songe plus qu’aux jours glorieux de notre histoire; et chacun reste seul, isolé dans ce pays des rêves.17

Der Blick in die Ferne kam einem Blick in die Geschichte gleich, und aus der Gegenwart herausgelöst konnte man sich auf dem Berg in die Vergangenheit der Stadt hineindenken. An diesem Historie suggerierenden Ort sollte der Geschichte aber auch visuell gedacht werden, vielleicht, um dem Besucher des Berges ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, falls er die Geschichte nicht gleich im Panorama lesen können würde. Dazu nämlich brauchte er nicht nur seine Augen, sondern auch Vorstellungskraft und Geschichtskenntnis: „On the crest of Mount Royal he needs his eyes too, but he must supplement them with imagination and some knowledge of history if he 16 Hugh MacLennan, „Montreal: The Mountain in the City“, in: Mayfair ( June 1952), 43, AVM, DP, B258-2.101; vgl. Marcel Séguin, „Le Mont Royal“, in: L’Ecole Canadienne (Nov. 1948), 149, AVM, DP, B258-2.89; vgl. auch Cécile Grenier et Dinu Bumbaru, „Le Mont Royal“, in: La Presse Plus (1985), 2, AVM, DP, B258-3.64. 17 Auguste Bourbeau, „La Montagne de Montréal“, 1892, AVM, DP, B258-2.46. Zur weitverbreiteten Assoziation des Berges mit den Ursprüngen Neufrankreichs Seline, „Frederick Law Olmsted’s Mount Royal Park“, 24–27, die diesen Topos auf die 1846–48 verfasste Histoire du Canada von François-Xavier Garneau zurückführt und ihn im Kontext romantischer Verklärung einer für Cartier vermutlich eher banalen Begebenheit interpretiert.

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wants to grasp the full meaning of what is around him.“18 Der Mont Royal sollte den Bürgern eine glorreiche Vergangenheit vor Augen führen. Und was bot sich da besser an als ein weithin sichtbares Monument, das das Erinnern an die Geschichte auch durch die Blicke aus der Stadt heraus auf den Berg anregte? Spätestens da aber stellt sich die Frage, in welche Geschichte genau der Besucher – sei es auf dem Gipfel oder angesichts des Gipfels, sei es Montrealer oder Tourist – reisen sollte. „Public memory is a human construction. It involves a ruthless selection of people, places, and events from the past and holds them up as a collective canon.“19 In den bisher zitierten Texten spielten vorwiegend Cartier als Entdecker der Ile de Montréal und Maisonneuve als Gründer der Stadt eine Rolle. Eingebettet wurde dieser Gründungsmythos aber in die Erzählung von einer Stadt, die das Juwel Kanadas und gar des British Empire sei20, Herz eines glücklichen und prosperierenden Volkes21, kurz: in eine lokalpatriotische Erzählung, die sich selbst wiederum im Rahmen einer nationalen oder sogar imperialen Erzählung bewegte. Cartier und Maisonneuve führten in diesem Narrativ direkt zur Wirtschaftsmetropole des Empires; das war der Konsens in den Texten, die im späten 19. Jahrhundert die landmark Mont Royal als bedeutenden Ort einer großen lokalen und nationalen Geschichte betrachteten – wobei allerdings das Verständnis von ‚national‘ oder ‚canadien‘ durchaus variieren konnte. Vor dem Hintergrund dieser Bedeutungen des Gipfels sollen in der Folge die gescheiterten Pläne, eine Statue der Jungfrau Maria auf dem Berg zu errichten, und der Konsens um das monumentale Kreuz, das seit den 1920er Jahren den Mont Royal ziert, näher untersucht werden. Sowohl die religiöse Symbolkraft der beiden Monumente als auch die Frage, an welche Vergangenheiten sie erinnern sollten und welche Interpretation der oben beschriebenen, mit dem Gipfel verbundenen lokalpatriotischen Erzählung in nationalem Rahmen sie implizierten, werden im Folgenden erörtert.

3.2  „Extremely offensive“: Die Statue der Jungfrau Maria Die Verbindungen der Stadt Montreal zur Jungfrau Maria reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Bevor die Expedition der Société de Notre-Dame de Montréal unter der Führung von Maisonneuve 1642 in Richtung Übersee aufgebrochen war, hatte 18 Hugh MacLennan, „Montreal: The Mountain in the City“, in: Mayfair ( June 1952), 45, AVM, DP, B258-2.101. 19 Alan Gordon, Making Public Pasts: The Contested Terrain of Montreal’s Public Memories, 1891–1930 (Montreal: McGill-Queen’s University Press, 2001), 49. 20 Robbins, „American Parks“, 523. 21 „Mount Royal Park“, in: Herald 2.7.1885; Auguste Bourbeau, „La Montagne de Montréal“, 1892, AVM, DP, B258-2.46.

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die Gesellschaft in der Pariser Kathedrale Notre-Dame die von Cartier etwa hundert Jahre zuvor entdeckte Ile de Montréal der Heiligen Familie geweiht und sie unter den besonderen Schutz der Muttergottes gestellt.22 Die Siedlung auf der Insel wurde deshalb zunächst Ville-Marie genannt, worin sich auch die Intention, eine Missionsstätte des Katholizismus in Neufrankreich zu errichten, spiegelte. Während im 18. Jahrhundert der Name Montreal die ursprüngliche Benennung ablöste23 und sich die kleine Missionssiedlung zum Zentrum eines Pelzhandelsimperiums entwickelte, blieb Maria die Schutzpatronin der Stadt. Im Jahr 1888 wurde sie zum Objekt hitziger Debatten. Mitte April desselben Jahres erhielt der Stadtrat eine Petition, deren Verfasser die Stadt um Erlaubnis baten, eine Statue der Jungfrau Maria auf dem Mont Royal errichten zu dürfen.24 Der Wortlaut der Petition ist nicht erhalten; aus den Sitzungsprotokollen geht nicht hervor, zu welchem Zweck die Statue errichtet werden sollte. Möglicherweise wollten die Initiatoren auf diese Weise an den Gründungsmoment in der Geschichte Montreals erinnern. Prominentester Unterzeichner der Petition war der Erzbischof von Montreal, Mgr Edouard-Charles Fabre.25 Drei wesentliche Aspekte allerdings kann man dem einzigen Satz des Protokolls entnehmen. Zum einen sollte die Statue im Parkteil des Berges errichtet werden. Während die englische Fassung schlicht von einer Statue „in Mount Royal Park“ spricht, verrät die französische Version zweitens etwas mehr über ihre geographische Verortung: Sie sollte „sur le Parc Mont Royal“ entstehen – oben auf dem Park, also auf dem Berggipfel. Dazu passt drittens, dass es eine „statue colossale“ werden sollte, ein Hinweis, den die englische Version ebenfalls unterschlägt.26 Anliegen des Erzbischofs und seiner Gleichgesinnten war es also, eine überlebensgroße Statue der Jungfrau Maria im erst einige Jahre zuvor gestalteten Park am Gipfel des Mont Royal zu errichten. Der Stadtrat leitete die Petition an die städtischen Parkkommissare zur Untersuchung weiter. Bevor sie allerdings zu einem Ergebnis kommen konnten, wurde die angedachte Statue in der nächsten Sitzung bereits erneut thematisiert. Eine Delegation protestantischer Geistlicher unter Führung des anglikanischen Bischofs von Montreal erschien persönlich, um Petitionen gegen die Statue zu überreichen. Auch diese Petitionen reichten die Abgeordneten an die Park22 „Cérémonie à la croix du Mont Royal“, in: La Presse 22.12.1941. 23 Noms et lieux de Québec: Dictionnaire illustré (1996), s.v. „Montréal, ville“; Jean Poirier, „Origine du nom de la ville de Montréal“, in: Revue d’histoire de l’Amérique française 46:1 (été 1992), 37–44. 24 Procès-verbal du Conseil, lundi 9 avril 1888, AVM, PVC, B15. 25 Im Archiv des Erzbistums von Montreal finden sich zu diesem Projekt leider keinerlei Unterlagen, erst für einen späteren Zeitraum gibt es Quellen über Monumente, vgl. Archives de l’Archevêché de Montréal, dossier 783.045 „Monuments commémoratifs (1896–1921)“. 26 Procès-verbal du Conseil, lundi 9 avril 1888, AVM, PVC, B15.

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kommission weiter.27 Innerhalb der zwei folgenden Wochen trafen zahlreiche weitere Protestschreiben ein. Etwa 25 verschiedene Kirchen sandten vorgedruckte Briefe mit Hunderten von Unterschriften. Sowohl die Evangelical Alliance als auch der Bischof und der City Clergy of the Church of England meldeten Kritik an. Die Argumentationsstrukturen der Petitionen gegen die Statue ähnelten sich. Im Kern stand die Feststellung, dass eine Statue der Jungfrau Maria auf dem Mont Royal die Gefühle der protestantischen Einwohner der Stadt verletzen würde. Als „extremely offensive to the consciences of the Protestant population of the City as an abuse of images, against which they and their forefathers have continued to protest since the time of the Protestant Reformation“28 bezeichneten die vorgedruckten Schriften das Vorhaben. Der anglikanische Bischof ging noch einen Schritt weiter und deutete Konsequenzen an, die diese Missachtung der protestantischen Konfession zur Folge haben könnte: „[…] the proposed statue, representing as it does, a dogma which Protestants everywhere positively reject, and against which they and their forefathers have always earnestly protested, will, if erected, certainly arouse, in the City and throughout the country, feelings of strife and bitterness where peace and harmony have hitherto prevailed.“29 Die religiöse Symbolkraft einer Marienstatue trat hier vor ihre historische Bedeutung als Erinnerungsmonument an die Gründung der Stadt. In erster Linie war sie eine rein katholische Angelegenheit, Teil eines Dogmas, das keinen Konsens in der konfessionell heterogenen Stadt finden konnte. Die Formulierung („dogma“) legt nahe, dass die protestantischen Kirchen sich hier gegen eine visuelle Inszenierung des 1854 von Pius IX. verkündeten Dogmas der unbefleckten Empfängnis auflehnten. Als Immaculata wäre die Statue eine ständig sichtbare Erinnerung an die Autorität Roms gewesen.30 Die Legitimität ihres Protests gegen ein solch sektionales Symbol sahen die evangelischen Gemeinden in der Verfassung des Dominions begründet, die die religiösen Überzeugungen aller Untertanen Ihrer Majestät respektiere und keine davon

27 Procès-verbal du Conseil, lundi 16 avril 1888, AVM, PVC, B15. Auch hier ist die französische Version ausführlicher und lokalisiert die Statue nun explizit „sur le sommet du Parc Mont-Royal“, während die englische Fassung nach wie vor von „in the Mount Royal Park“ spricht. 28 Petitions to the Mayor and Municipal Council of the City of Montreal, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-0308-02. 29 Petition of the Bishop and City Clergy of the Church of England, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-03-08-02. 30 Da keine Entwürfe überliefert sind, bleibt unklar, mit welchen ikonographischen Attributen die Statue hätte ausgestattet werden sollen. Vermutlich wäre den Protestanten jede Art von Marienstatue ein Dorn im Auge gewesen, unabhängig von ihrer genauen Ausstattung und expliziten Darstellung als Immaculata.

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bevorzuge.31 Aufgabe der Regierung sei es, für Harmonie zwischen den Konfessionen zu sorgen und nicht etwa durch Benachteiligungen Unruhe zu stiften. „In a mixed population like our own, composed both of Protestants and Roman Catholics, the peace of the Community can only be secured by the Government, whether local or general, respecting the religious convictions of all classes and creeds of Her Majesty’s subjects […].“32 Indem sie zusätzlich auf die große Zahl der Protestanten nicht nur in der Stadt, sondern in ganz Kanada verwiesen33, signalisierten sie die zahlenmäßige Macht der von ihnen vertretenen Glaubensgemeinschaft und erinnerten den Montrealer Stadtrat ganz nebenbei daran, dass die Stadt, wenngleich sie mehrheitlich katholisch war, doch lediglich einen kleinen Teil eines überwiegend protestantischen Gebiets unter britischer Krone darstellte. Zu diesem grundlegenden Gefühl, wegen der Konfessionszugehörigkeit benachteiligt zu werden, trug über den religiös-symbolischen Charakter der Statue hinaus ein weiteres ihrer Merkmale bei. Aus den Petitionen geht hervor, dass sich die protestantischen Gemeinden besonders an ihrer Lage in öffentlichem Gelände, und dazu ausgerechnet in einem Park, stießen. Geschickt nutzte beispielsweise die Evangelical Alliance die zeitgenössische Faszination mit öffentlichen Parks, um an das Verantwortungsbewusstsein der Stadträte zu appellieren. Die Jungfrau Maria, erklärte sie, werde die protestantische Bevölkerung daran hindern, den Park aufzusuchen, der doch dem Wohl aller dienen sollte. Zudem solle „public property“ allgemein nicht für Zwecke hergegeben werden, die lediglich die weltanschaulichen Vorstellungen einer Gruppe perpetuierten.34 Öffentlicher Raum wurde hier als ein Raum der Gleichberechtigung begriffen, in dem das fragile Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen in der Stadt gewahrt werden musste – und zwar unabhängig von sich möglicherweise wandelnden Mehrheitsverhältnissen in Stadt und Stadtrat. Eine Statue der Gottesmutter an prominenter Stelle im öffentlichen Raum wäre ein sichtbares Zeichen dafür gewesen, dass es in der Handelsmetropole des britischen Dominion Kanada einen dominanten katholischen Konsens gab. Diese Argumentation im Namen des neutralen, öffentlichen Raumes zeigt, dass die Akteure die Stadt tatsächlich in Territorien dachten, welche sie von bestimmten Gruppen belegt sahen. Warum mussten die Katholiken eine Marienstatue in öffentlichem Gebiet errichten, wenn sie das 31 Vgl. Petitions to the Mayor and Municipal Council of the City of Montreal, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-03-08-02. 32 Petition of the Bishop and City Clergy of the Church of England, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-03-08-02. 33 Ebd. 34 Petitions to the Mayor and Municipal Council of the City of Montreal, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-0308-02.

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doch auf ihrem eigenen Gelände tun konnten? „[...] your Petitioners would further respectfully suggest that our brethren of the Roman Catholic faith have ample sites of their own, in their cemetery and elsewhere where they may erect any statue they please without trenching upon the public domain or offending the religious convictions of thousands of their fellow subjects around them.“35 Der public space sollte möglichst zeichenfrei sein, beziehungsweise weithin konsensfähige Zeichen aufweisen. Diese Auffassung der protestantischen Gemeinden deutet darauf hin, dass es sich hier um eine Zeit handelte, in der in Montreal keine der gesellschaftlichen Gruppen die klare Deutungshoheit über den öffentlichen Stadtraum innehatte, und dass konfessionelle Symbole im öffentlichen Raum das Potential hatten, das friedliche Zusammenleben in der Stadt zu stören. Vor dem Hintergrund der anfänglichen Reibungslosigkeit, mit der das Royal Victoria Hospital zur selben Zeit als Monument an die Queen Victoria geplant wurde, und den anschließenden Protesten der katholischen, frankophonen Politiker in den frühen 1890er Jahren, scheint es, als habe sich die Stadt Ende der 1880er in einer Art Macht-Schwebezustand zwischen der eindeutig anglo-protestantischen Hoheit der vorherigen Jahrzehnte und der aufsteigenden franko-katholischen Mehrheit des folgenden Jahrhunderts befunden. Tatsächlich hätte der Erzbischof von Montreal die Statue auch für den Cimetière Notre-Dame-des-Neiges vorsehen können. Er tat dies nicht, was nahelegt, dass der Protest der evangelischen Kirchen ins Schwarze traf: Der Vorschlag ist als Versuch zu werten, den prominentesten öffentlichen Ort der Stadt mit einem ganz und gar nicht neutralen Symbol zu versehen, auf diese Weise eine Verbindung zwischen dem iconic space Montreals und dem katholischen Glauben herzustellen und so die eigene Stellung im städtischen Machtgefüge zu signalisieren und zu festigen. Von der Spitze des Mont Royal aus wäre die Kolossalstatue der Jungfrau Maria nicht nur für die Besucher des Parks, sondern überall in der Stadt und darüber hinaus sichtbar gewesen. Abgesehen davon, dass die protestantische Bevölkerung damit ständig einem Bild ausgesetzt worden wäre, das ihren Glaubensgrundsätzen widersprach, hätte die Position der Marienstatue auf dem Mont Royal den mit ihr verbundenen Weltanschauungen ein Gewicht im städtischen Machtgefüge verliehen, das die Protestanten nicht tolerieren konnten. Zwar erwähnten sie dies in den Petitionen nicht explizit, aber der Berggipfel war letztlich der sichtbare Inbegriff des Mont Royal, der wiederum die Stadt dominierte. Jedes Monument auf dem Berggipfel konnte, als visueller Abschluss des Berges, die oben geschilderten Bedeutungen des summit übernehmen. Seine landmark-Funktion und damit die Bedeutungen des Mont Royal als räumlich und historisch definierender Ort für die Stadt Montreal hätten möglicherweise auf die Statue abgefärbt; gleichzeitig wäre durch die Statue der Berggipfel nicht nur physisch verändert worden, sondern er hätte auch eine weitere Bedeutungsschicht erhalten. Fortan wäre der Mont 35 Petition of the Bishop and City Clergy of the Church of England, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-03-08-02.

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Royal, und damit Montreal, untrennbar mit Katholizismus assoziiert worden und hätte im Raum eine katholische Identität der Stadt suggeriert.36 Was Alan Gordon für historische Monumente und Festivals herausgearbeitet hat, galt offensichtlich auch für öffentliche religiöse Zeichen: „[they] contest ideological terrains as they compete to claim spatial territories.“37 Die hier einander entgegenstehenden Gruppen ergaben sich klar aus konfessionellen Kriterien, und so verwundert es nicht, dass die franko-protestantischen Kirchen dieselben Petitionen einreichten wie ihre anglophonen Glaubensgenossen.38 Ethnizität spielte in den Diskussionen um die Jungfrau Maria keine Rolle, anders als beim Streit um das RVH kurze Zeit später, bei dem Katholizismus und Frankophonie ineinandergeblendet wurden. Das lag an der Art des jeweiligen umstrittenen Symbols. Während das RVH in erster Linie dem britischen Empire huldigte und daher ethnisch fundierte Ressentiments weckte, die sich aufgrund seiner institutionellen Funktion mit dem Faktor Konfession mischten, lag der Aufruhr, den die geplante Marienstatue hervorrief, in ihrer explizit konfessionellen Ikonographie. Zur selben Zeit konnten die Bruchlinien in der Montrealer Gesellschaft von Fall zu Fall unterschiedlich verlaufen, Zugehörigkeiten und Loyalitäten entlang anderer Kategorien definiert werden. Dass die Proteste gegen die Marienstatue erfolgreich waren, zeigt das Protokoll der Stadtratssitzung vom 30. April 1888. Der Abgeordnete Jacques Grenier vom Quartier Est berichtete, er habe zusammen mit anderen Erzbischof Fabre aufgesucht, mit dem Ziel, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Tatsächlich nahm der Erzbischof den Ratschlag der städtischen Delegation an und erklärte sich bereit, freiwillig auf das Projekt einer Statue der Jungfrau Maria am Mont Royal zu verzichten, „dans son désir de conserver l’harmonie et les bonnes relations qui ont toujours existé entre les

36 Theoretischer Hintergrund zum Zusammenhang zwischen Raum und Identitätskonstruktionen bei Angelika Hartmann, „Konzepte und Transformationen der Trias ,Mental Maps, Raum und Erinnerung‘“, in: Sabine Damir-Geilsdorf et al. (eds.), Mental Maps, Raum, Erinnerung: Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung (Münster: LIT-Verlag, 2005), v.a. 16–17. 37 Gordon, Making Public Pasts, 11. 38 Die Existenz von Franko-Protestanten unterschlägt bspw. Sarah Schmidt, „Domesticating Parks and Mastering Playgrounds: Sexuality, Power and Place in Montreal, 1870–1930“ (M.A. McGill University, 1996), 56, wenn sie schreibt: „[…] Montreal’s English Protestant community was able to stop the erection of a statue of the Virgin Mary on the summit of Mount Royal in 1888 […]“. Petitions to the Mayor and Municipal Council of the City of Montreal, 16.4.1888, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS10, D2, Box 121-03-08-02. Es unterschrieben die Eglise du Redempteur, die Eglise du Sauveur, die French Baptist Church und die First French Methodist Church.

Die Statue der Jungfrau Maria

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différentes dénominations religieuses de cette cité“39. Einstimmig nahm der Stadtrat den Verzicht des Erzbischofs an, und das Projekt Marienstatue wurde endgültig fallen gelassen. Durch den Schachzug des Abgeordneten Grenier konnte so eine Konfrontation verhindert werden, die eine klare Trennlinie zwischen Katholiken und Protestanten in der Stadt gezogen hätte. Gleichzeitig vermied der Stadtrat damit, durch eine eigene Entscheidung über die Statue den Ärger einer der beiden Gruppen auf sich zu ziehen und Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Stadtrats selbst aufbrechen zu lassen. Offenkundig war es sowohl den katholischen Abgeordneten als auch dem Erzbischof in diesem Fall letztendlich wichtiger, den interkonfessionellen Frieden in der Stadt zu wahren.40 Nach den heftigen Auseinandersetzungen der Mitte der 1880er Jahre um die Riel-Affäre und die Pockenimpfung, auf die weiter unten noch im Detail eingegangen wird, waren die führenden Kräfte der Sektionen in der Stadt Ende des Jahrzehnts offenkundig bemüht, keine weiteren Konflikte hervorbrechen und die latenten gesellschaftlichen Bruchlinien nicht an die Oberfläche treten zu lassen. Gerade dem Abgeordneten Grenier kam dabei eine Mittlerposition zu. Als self-made man, Großhändler und Unternehmer war der liberale frankophone Katholik im anglophonen Wirtschaftsmilieu um Hugh Allan so anerkannt, dass er 1888 zum ersten Vizepräsidenten des anglophonen Board of Trade gewählt wurde – eines Gremiums, in dem kaum Frankokanadier Mitglied waren. Gleichzeitig aber war er auch erster Präsident des frankophonen Pendants zum Board of Trade, der Chambre de Commerce, und fungierte als Commissaire des écoles catholiques de Montréal.41 Dass er die Initiative ergriff, aber auch die Überzeugungskraft hatte, den Erzbischof vom Projekt der Marienstatue abzubringen, verwundert daher nicht, zumal die dem frankophonen Wirtschaftsmilieu nahestehende Wochenzeitung Moniteur du Commerce sich ebenfalls gegen die Statue ausgesprochen hatte. Auch diese Zeitung argumentierte im Namen der bedrohten Harmonie in der Stadt, ganz im Einklang mit ihrem Ideal der Montrealer Gesellschaft: Kanadier sollte man sein, christlich und zweisprachig, so die Vision des Moniteur, der sich dementsprechend in religiösen Fragen tolerant zeigte und jegliche Form konfessioneller Profilierung als „fanatisme religieux“ anprangerte.42 Hinter dem Abgeordneten Grenier und seiner Vermittlungsinitative stand also eine starke Größe im Montrealer Machtgefüge, die frankokanadische, liberale Bourgeoisie 39 Procès-verbal du Conseil, lundi 30 avril 1888, AVM, PVC, B15. 40 Auch die unsichere Finanzierung der Statue mag eine Rolle gespielt haben, vgl. Gordon, Making Public Pasts, 100. 41 Dictionary of Canadian Biography Online, s.v. „Grenier, Jacques“, unter www.biographi. ca, Stand 12.6.2007. Von 1889–1891 war Grenier Bürgermeister Montreals. Vgl. auch Claude-V. Marsolais et al., Histoire des maires de Montréal (Montréal: VLB, 1993), 142– 43. 42 „A propos de statue“, in: Moniteur du Commerce 4.5.1888, 363–64, zit. nach Roy, Progrès, Harmonie, Liberté, 262. Zum Verhältnis von Moniteur du Commerce und der Chambre de Commerce ebd., 77–80.

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Montreals. In gewissem Sinn kann das Scheitern des Marienprojekts als exemplarisch für diese Zeit der späten 1880er Jahre gesehen werden, eine Zeit des auf allen Seiten spürbaren Bemühens, zwischen den dominanten konfessionellen und ethnischen Gruppen eine fragile Machtbalance auszuhandeln.

3.3  „The very essence of Montreal“: Das Kreuz Die Geschichte des 1924 auf dem Berggipfel errichteten Kreuzes zeigt, dass tatsächlich in seiner Rezeption die dem summit zugesprochenen Bedeutungen auf das Kreuz übertragen wurden: Es wurde in der Folge aufgrund seiner Lokalisierung als visuelles Zeichen für Montreal begriffen und in dieser Eigenschaft mit dem Mont Royal selbst ineinandergeblendet. Noch bevor das Kreuz auf dem Berg überhaupt errichtet war, bezeichnete es die Gazette als ein „distinguishing feature“, das dem „already impressive landmark“ des Mont Royal hinzugefügt werde.43 Die Reichweite der Sichtbarkeit wurde eigens erwähnt: Mehr als 30 Meilen in Richtung Süden und Osten sollte man das Kreuz sehen können. Selbst des Nachts blieb es sichtbar, da es elektrisch beleuchtet wurde. Das erste Einschalten am Heiligabend 1924 wurde in der Presse allgemein bewundernd kommentiert: „All eyes in Montreal turned towards Mount Royal on Christmas Eve when towards evening the cross at the top of the mountain burst into light. Visible for miles down the St. Lawrence and far on to the South Shore, it shone like a new constellation against the sky [...].“44 Die kontinuierliche Sichtbarkeit des Kreuzes auf dem Mont Royal machte es zu einem neuen Identifikationspunkt für die Stadt, ja, es scheint fast, als hätte es für manche den Mont Royal in dieser Funktion abgelöst. „It is the first sight of Montreal which visitors approaching from any direction see. It is also their last impression on leaving. It is thus the very essence of Montreal“45, stellte ein Zeitungsartikel der 1930er Jahre lapidar fest. Das Kreuz war durch seine Lage auf dem Mont Royal ganz wie der Berg selbst zu einem maßgeblichen Faktor der Montréalité de Montréal geworden, zu einem wesentlichen Element dessen, was man als die Identität der Stadt konstruierte. Deshalb konnte dort auch nur ein Monument errichtet werden, das einen breiten Konsens hinter sich vereinte. Nicht jedes Symbol durfte den die Stadt beherrschenden Mont Royal dominieren 43 „The Cross on Mount Royal“, in: Gazette 25.3.1924. 44 „Cross on Mountain“, in: Gazette Dec. 1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–1926“. Der Topos der Sichtbarkeit des Kreuzes erwies sich als von Dauer, vgl. Hugh MacLennan, „Montreal: The Mountain in the City“, in: Mayfair ( June 1952), 71, AVM, DP, B258-2.101; Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 317–18. 45 „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“; in: Montreal Standard 8.6.1938.

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und damit auch die Bedeutung des Berges verändern.46 Erst 1924 wurde das Kreuz aufgestellt, über 35 Jahre nach den umstrittenen Plänen für die Marienstatue. Offenkundig war es konsensfähiger als die Jungfrau: Mit seinen Bedeutungen konnte die Stadt Montreal in den 1920er Jahren identifiziert werden. Das führt zurück zur ersten Symbolebene der Monumente, die der Bedeutung des Ortes vorgeblendet ist: der ihres religiösen und möglicherweise historischen Zeichencharakters. 3.3.1  Eine weiße, christliche Geschichte

Die Idee des monumentalen Kreuzes ging auf die Société Saint-Jean-Baptiste (SSJB) zurück, die sich selbst als frankokanadische Nationalgesellschaft bezeichnete.47 Nachdem der Stadtrat das Land am Gipfel für diesen Zweck zugesichert hatte48, schrieb die SSJB im Frühjahr 1924 einen Wettbewerb für das Kreuz aus und entschied sich für den Entwurf des Sulpizianerabtes Pierre Dupaigne.49 Ausgeführt wurde der Entwurf durch das Architekturbüro Gascon et Parent.50 Das Kreuz, das sich über einem Betonsockel erhebt, ist etwa 30 m hoch und besteht aus einer Stahlstruktur. Allerdings hätte es noch mit Granit verkleidet werden sollen, wozu es aus Geldmangel jedoch nie kam.51 Ebensowenig wurden die im Inneren geplanten Treppen realisiert, die es Besuchern erlaubt hätten, auf eine Aussichtsplattform aufzusteigen (Abb. 33).52 Der Finanzierung diente eine „Semaine de la Croix“, in der Schüler und Studenten Spenden sammelten und eigens für den Anlass gedruckte 5ct-Sonderbriefmarken

46 Das Kreuz wurde als den Mont Royal dominierend wahrgenommen. Vgl. „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925: „Dominant le Mont Royal […] une croix immense […]“. 47 Zur Geschichte der Société Saint-Jean-Baptiste Rumilly, Histoire de la Société Saint-JeanBaptiste de Montréal. 48 Ebd., 310: „La Ville concédera le terrain et fournira la granit. Les échevins anglo-protestants ne soulèvent pas d’objection au Conseil municipal.“ Zur Entstehungsgeschichte vgl. auch Gaston Côté, „L’érection de la croix du Mont Royal“, in: Mens: Revue d’histoire intellectuelle de l’Amérique française 7:1 (automne 2006), 52–54. 49 „Announce Conditions for Cross Competition“, in: Star 31.3.1924; Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 312. Interne Diskussionen um die künstlerische Gestaltung des Kreuzes in BANQ, CAM, Fonds de la Société Saint-Jean-Baptiste P82, dossier 46_466. 50 „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925. 51 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 315; „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“; in: Standard 8.6.1938. 52 „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925.

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„Overlooking the great city“ Abb. 33  Entwurfsskizze zum Kreuz auf dem Mont Royal, 1924.

verkauften, womit sie rund $ 10.000 einnahmen.53 Die Stadt selbst bezahlte die Verankerung des Kreuzfundaments im Felsen des Berges.54 Am 24. Juni 1924 wurde der Grundstein gesegnet, und am Abend des 24. Dezember 1924 leuchteten erstmals die 240 Glühbirnen des Kreuzes über der Stadt. Die Montreal Light, Heat & Power Company erklärte sich bereit, bis 1930 kostenlos Strom für das Kreuz bereitzustellen.55 1929 vermachte dann die SSJB der Stadt das Kreuz unter der Bedingung, dass sie es unterhalte und die Stromkosten übernehme. Bis heute leuchtet das Kreuz jede Nacht über der Stadt. „La Croix du Mont-Royal est à la fois un monument hystorique [sic] et un symbole religieux. Le touriste qui du fleuve SaintLaurent la verra briller le soir, trouvera dans ce symbole la source des origines de ce pays.“56 Aus diesen Worten des städtischen Abgeordneten und Präsidenten der 53 Vgl. Bitte um Erlaubnis, die Kreuzwoche durchzuführen: Victor Morin an Honorable Médéric Martin, maire, 19.3.1924, BANQ, CAM, Fonds de la Société Saint-Jean-Baptiste P82, dossier 46_466, 001632. „L’Erection, par la population, d’une Croix sur le MontRoyal“, in: La Presse 24.3.1924; Cécile Grenier et Dinu Bumbaru, „Le Mont Royal“, in: La Presse Plus (1985), 1, AVM, DP, B258-3.64; „Mount Royal Park“, 1946, AVM, DP, B258-2.88; Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 317, 310-11; „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925. 54 „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925. 55 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 316; „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925; „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“; in: Montreal Standard 8.6.1938. Marcel Séguin, „Le Mont Royal“, in: L’Ecole Canadienne (Nov. 1948), 154, AVM, DP, B258-2.89 zufolge hatte die Montreal Light, Heat & Power Company ursprünglich angeboten, für immer Glühbirnen und Strom gratis zu liefern. 56 „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925.

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SSJB Léon Trépanier in der Presse im Frühjahr 1925 lassen sich vier miteinander verschmelzende Bedeutungsschichten des Kreuzes freilegen. Es war erstens aufgrund seiner Lage eine landmark Montreals, die die Stadt sichtbar repräsentieren sollte; dabei war die Form dieser landmark nicht willkürlich gewählt, sondern transportierte zweitens religiöse und drittens historische Inhalte, die wiederum durch ihre Bindung an den Ort des Kreuzes als essentiell für die Stadt Montreal markiert wurden. Viertens sollte gleichzeitig sowohl die religiöse als auch die historische Bedeutung des Kreuzes an den Ursprung des gesamten Landes erinnern, was auf ein Selbstverständnis der Montrealer Akteure als konstitutiver Teil der Geschichte des gesamten Dominion verweist. Diese Einbettung des religiösen und historischen Symbols für Montreal in einen nationalen Diskurs ermöglichte eine Lesart des Kreuzes, die in der Stadt konsensfähig war. Vor der Folie einer lokalpatriotischen, in den kanadischen Rahmen eingefügten Perspektive auf das Kreuz konnten seine religiösen und historischen Bedeutungen einend und gesamtstädtisch identitätsstiftend statt fragmentierend wirken. Die Geschichte, in die der Besucher auf dem Gipfel des Berges eintauchen und die durch das Kreuz erinnert werden sollte, war die der glorreichen Gründung Montreals, die zum Glanz des Dominion und damit des Empire beitrug.57 Die Form eines Kreuzes wählte man deshalb, weil sie auf zwei Kreuze Bezug nahm, die Bestandteil des Montrealer Gründungsmythos waren. Angeblich hatte Jacques Cartier am 27. Juli 1534 ein Kreuz auf der neu entdeckten Insel errichtet, und Maisonneuve trug am 6. Januar 1643 eigenhändig ein Holzkreuz auf den Berg, um Gott für die Rettung der kleinen Kolonie vor den Fluten des Hochwassers zu danken.58 Als Auftakt zur „Semaine de la Croix“ erläuterte die frankophone Presse ihren Lesern, welcher Vergangenheit genau durch die Wahl dieser historischen Referenzpunkte gedacht werden sollte: „[...] un passé de dévouement et d’héroïsme accompli par nos découvreurs, Jacques Cartier et Maisonneuve tout particulièrement qui plantèrent successivement et à des époques sublimes de notre histoire les croix de bois qui devaient protéger la population naissante, et la faire avancer, de progrès en progrès, jusqu’à nos jours.“59 Über das Kreuz sollte also eine Brücke zu Referenzpunkten aus der Frühzeit der Stadt geschlagen werden, die für Entdeckergeist, Heldentum und Glauben sowie den daraus resultierenden Fortschritt standen. Gerade die Anspielungen auf Eroberung und Entdeckung des Landes waren konsensfähig. Die anglophone Gazette verkündete, das Kreuz sei dazu gedacht, an das „first coming of the

57 Vgl. „Announce Conditions for Cross Competition“, in: Star 31.3.1924. 58 „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925; Cécile Grenier et Dinu Bumbaru, „Le Mont Royal“, in: La Presse Plus (1985), 1, AVM, DP, B258-3.64; „Mount Royal Park“, 1946, AVM, DP, B258-2.88; Marcel Séguin, „Le Mont Royal“, in: L’Ecole Canadienne (Nov. 1948), 149, AVM, DP, B258-2.89. 59 „L’Erection, par la population, d’une Croix sur le Mont-Royal“, in: La Presse 24.3.1924.

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white man to the site of the future metropolis“60 zu erinnern. Anglo-protestantische und franko-katholische Montrealer waren im Eroberungs- und Entdeckungsdiskurs vereint, stellte dieser doch dem erobernden white man den im unentdeckten Land diskursiv nicht vorhandenen native entgegen, ohne innerhalb der Entdeckenden zu differenzieren. Als Zeichen für die zivilisierende Eroberung des wilden Territoriums am St. Lorenz und den davon ausgehenden Fortschritt der Stadt und des Landes61 transzendierte das Kreuz auf dem Mont Royal die ethno-kulturellen Brüche in Montreal zugunsten der Verherrlichung des weißen Kanadiertums, für das Montreal hier exemplarisch zu stehen kam. Die Fortschrittlichkeit der Gegenwart drückte sich in der nächtlichen Illumination des Kreuzes aus, war doch die elektrifizierte Stadt seit dem späten 19. Jahrhundert die Ikone für Fortschritt und Moderne schlechthin. Die Stadt bei Nacht zu sehen, das war ein genuin modernes Phänomen. Manche Architekturen gerade der 1920er Jahre wurden gleichermaßen für die Tag- wie für die Nachtansicht konzipiert; elektrische Straßenbeleuchtungen lösten die alten Gaslampen ab und machten in den Straßen der Großstädte die Nacht zum Tag.62 Nach außen hin konnte Montreal sich mit einem elektrischen Kreuz als moderne Stadt präsentieren – auch das einte ihre Bürger. Die elektrifizierte Stadt der Moderne veränderte jedoch nicht nur die Wahrnehmung des Stadtraums, sondern auch die Perzeption von Zeit, indem Tag und Nacht einander angenähert wurden und Sichtbarkeit zum allgegenwärtigen Phänomen wurde. Auch das Kreuz auf dem Mont Royal war rund um die Uhr zu sehen, der oben erläuterte Blickbezug zum summit nicht nur auf den Tag begrenzt. Und die Geschichte, die man Tag und Nacht auf dem Berggipfel zu Gesicht bekommen sollte, war die Erfolgsgeschichte der weißen Siedler in Kanada, die sich im Fortschritt der Moderne fortschrieb. Einige Protestanten spendeten dementsprechend ebenfalls für das Kreuz. Sehr häufig kam das allerdings nicht vor, denn die SSJB bedankte sich überschwenglich und strich das gemeinsame Interesse an der Stadt heraus: Allow me to express to you our gratitude for your contribution to the maintenance of the Cross on Mount-Royal. Our friends of Protestant faith have from time to time shown how they appreciate the movement of our Society in erecting a cross on the mountain, to com-

60 „The Cross on Mount Royal“, in: Gazette 25.3.1924. 61 Vgl. Auguste Bourbeau, „La Montagne de Montréal“, 1892, AVM, DP, B258-2.46. 62 Zur Assoziation von Licht mit Fortschritt und Moderne am Beispiel der Straßenbeleuchtung des 19. Jhs und zu den Auswirkungen auf den Tag-Nacht-Zyklus vgl. Mark J. Bouman, „Luxury and Control: The Urbanity of Street Lighting in Nineteenth-Century Cities“, in: Journal of Urban History 14:1 (Nov. 1987), 7–37. Umfassender David Nye, Electrifying America: Social Meanings of a New Technology, 1880–1940 (Cambridge: MIT Press, 1990).

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memorate a historical and religious event of our City, and I may say that ourselves we appreciate very much such marks of encouragement.63

Das Verknüpfen von glorreicher Gründungsgeschichte, Fortschritt und aktueller Bedeutung Montreals mit einem allgemeinen, auf dem modernen Konzept von race basierenden Herrschaftsdiskurs schrieb sich in eine Tradition ein, die die selbsternannten Darsteller der Stadt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts pflegten. Der anglophone Reformer William D. Lighthall etwa dichtete anläßlich des 250. Geburtstags der Stadt im Jahr 1892: Reign on, majestic Ville-Marie! Spread wide thy ample robes of state; The heralds cry that thou art great, And proud are thy young sons of thee. Mistress of half a continent Thou risest from thy girlhood’s rest; We see thee conscious heave thy breast And feel thy rank and thy descent. Sprung of the saint and chevalier, And with the Scarlet Tunic wed! Mount Royal’s crown upon thy head, And past thy footstool, broad and clear, St. Lawrence sweeping to the sea: Reign on, majestic Ville-Marie!64

Die religiöse Konnotation war bereits in solchen Texten angelegt, wurde aber angesichts des Kreuzprojektes konkretisiert und mit der zivilisatorischen Mission der Stadt verquickt. Die Gazette etwa erklärte, das Kreuz solle an die Ankunft des weißen Mannes erinnern, aber auch an die Erfüllung von Maisonneuves frommem Gelöbnis: „[The cross] will have the further and larger effect of proclaiming to all strangers within our gates the fact that this is the chief city of a province and a Dominion firmly founded upon that sublime conception of man’s duty to his Creator and his fellows which has been the principal factor in the spread of civilization.“65 Die religiöse, missionarische Dimension des Eroberungs- und Entdeckungsdiskurses klang in der historischen Bedeutung des Kreuzes auf dem Mont Royal immer mit. Damit einher 63 Président-Général de la SSJB an Mr. Arthur Burton Haycock, 4.2.1927, BANQ, CAM, Fonds de la Société Saint-Jean-Baptiste P82, dossier 46-466, 001810. 64 William D. Lighthall, Montreal after 250 Years (Montreal: F. E. Grafton and Sons, 1892), 19. Ähnlich Auguste Bourbeau, „La Montagne de Montréal“, 1892, AVM, DP, B2582.46. 65 „The Cross on Mount Royal“, in: Gazette 25.3.1924.

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ging ein Bewusstsein von der Auserwähltheit der Montrealer Siedler, das im Bezug zu Maisonneuves Kreuz, welches dieser ja als Dank für die Rettung vor den Fluten errichtet hatte, artikuliert wurde. Der Präsident der SSJB, Victor Morin, formulierte es wie folgt: „[La croix] est surtout un emblême, car elle atteste la survivance étonnante du peuple canadien, né sous l’égide de la croix, protégé, développé par elle […].“66 In dieser Perspektive erschien die Montrealer Siedlung gewissermaßen als Nukleus des auserwählten, christlichen, kanadischen Volkes, lange bevor es Kanada in dem Sinn überhaupt gab. Offenbar waren die Initiatoren des Kreuzes – gerade der Notar Morin hatte das Projekt vehement vorangetrieben – darum bemüht, die Lokalgeschichte als religiös begründete, kanadische Geschichte schlechthin darzustellen, um einen gemeinsamen Nenner zwischen den Montrealern unterschiedlicher Konfessionen oder Ethnizitäten zu beschwören, der ihnen eine gemeinsame, historisch und religiös begründete Identität als Kanadier verlieh. Das Symbol des Kreuzes funktionierte in diesem Zusammenhang, denn anders als die Jungfrau Maria konnte es als konfessionsübergreifendes, christliches Symbol gelesen werden.67 In einem Leserbrief an die Gazette unterstützte beispielsweise ein anonymer Verfasser, der mit „Protestant“ unterzeichnete, das Vorhaben des Kreuzes als „symbol of Christianity“.68 Aufgrund seiner religiösen Ikonographie war es unverfänglicher, zumal es ohne Corpus geplant und realisiert wurde. Auch die Marienstatue hatte zwar an die Gründungsgeschichte der Stadt als „Ville-Marie“ erinnern sollen, auch sie wäre mit einem religiösen Charakter unterlegt, aber eben mit einem spezifisch katholischen. Weil das Kreuz wegen seiner Form auf der primären, allgemeinen Symbolebene als christliches Monument verstanden werden konnte und auf der zweiten, historisch kontingenten Symbolebene als Zeichen der von Montreal ausgehenden Leistungen der white race im allgemeinen und spezifisch der Pioniere und ihrer Nachfahren in Nordamerika, fand es den Rückhalt, der der Jungfrau Maria verweigert worden war, über die Konfessionsgrenzen hinweg. In die Zukunft verweisend, christliche Einheit in der Stadt beschwörend, schloss auch die Gazette: „Long may it [the

66 Artikel von Victor Morin in La Presse, 24.12.1924, AVM, DP, B259-26.13. Die anglophone Gazette schrieb sehr ähnlich vom Kreuz als „memorial to the survival of the Canadian people and the growth of Christianity“, „Cross on Mountain“, in: Gazette Dec. 1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–1926“; vgl. auch „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“; in: Standard 8.6.1938. 67 „a symbol of its [the city’s] religious faith“, G. S. Mooney, „Notes on Mount Royal Park“, 1939, 2, AVM, DP, B258-2.78. 68 „The Cross on Mount Royal“, Letter to the Editor, in: Gazette Dec. 1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–1926“.

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Cross] stand, to be to Catholic and Protestant, old and young, native and newcomer, a beckoning finger by day and a veritable pillar of fire by night.“69 Fernande Roy hat in ihrer Arbeit zu Inszenierungen der Geschichte Montreals festgestellt, dass das Interesse an der Frühzeit der Stadt in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts aufkam und die damit verbundene Heldenverehrung bis weit ins 20. Jahrhundert gepflegt wurde. Innerhalb dieses Zeitrahmens, so ihre These, wurde aber ein und dieselbe Geschichte ganz unterschiedlich gelesen und repräsentiert, parallel zum Wertewandel in der Quebecer Gesellschaft. In der Wahl der Bezugspersonen aus der Vergangenheit äußerten sich bestimmte Gesellschaftsvorstellungen, die man in den jeweiligen Helden auf ideale Weise verkörpert sah, und die historische Referenz diente der Legitimation dieser Werte in der Gegenwart.70 Dabei konnte sie nachweisen, dass gerade Maisonneuve seit den 1870er Jahren von Anglo-Protestanten und Franko-Katholiken gleichermaßen verehrt wurde. In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts bemühten sich die Eliten beider Sprachgruppen offensichtlich, Maisonneuve als konsensfähigen Helden zu konstruieren.71 1888 hatte die frankokanadische Wirtschaftszeitung Moniteur du Commerce in ihrer Kritik an der Marienstatue vorgeschlagen, doch lieber als neutrales Denkmal auf dem Mont Royal eine Statue von Maisonneuve zu errichten.72 1895 dann wurde das vom Bildhauer Philippe Hébert gestaltete Monument für Maisonneuve an der Place d’Armes, im Herzen des Vieux Montréal, eingeweiht. Der Lieutenant-Gouverneur von Quebec, JosephAdolphe Chapleau, verkündete aus diesem Anlass, das Monument sei keineswegs ein Zeichen des frankokanadischen Nationalismus, sondern ein Beispiel für harmonische Zusammenarbeit in der Stadt, hätten doch sowohl anglophone als auch frankophone Bürger für das Denkmal gespendet. Generalgouverneur Lord Aberdeen schickte ein Grußwort, in dem er den Entdeckergeist der französischen Pioniere lobte und die Weiterentwicklung dieses wunderbaren Landes zur gemeinsamen Aufgabe der beiden ‚Rassen‘ im Dienste der Nation erklärte.73 Sämtliche Themen, die im Umfeld des Kreuzprojektes von 1924 anklangen, waren hier bereits angelegt, gruppiert um das zentrale Postulat der Harmonie zwischen Anglophonen und Frankophonen innerhalb einer kanadischen Identität, deren Ursprung in die Gründung Montreals durch 69 „The Cross on Mount Royal“, in: Gazette 25.3.1924. Dieser inklusive Charakter des Kreuzes wird in der Forschung oft übersehen oder zumindest heruntergespielt, vgl. Côté, „L’érection de la croix“, 59. 70 Fernande Roy, „Une mise en scène de l’histoire: La fondation de Montréal à travers les siècles“, in: Revue d’histoire de l’ Amérique française 46:1 (été 1992), 7–36; vgl. auch Stéphane Gerson, The Pride of Place: Local Memories and Political Culture in Nineteenth-Century France (Ithaca: Cornell University Press, 2003), 88–91. 71 Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 7–9, 15–17. 72 „A propos de statue“, in: Moniteur du Commerce 4.5.1888, 363–64, zit. nach Roy, Progrès, Harmonie, Liberté, 262. 73 Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 18–19.

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Maisonneuve projiziert wurde. Erst mit dem zunehmenden frankophonen Nationalismus seit etwa den 1910er Jahren begannen franko-katholische Gruppen, anderer historischer Figuren zu gedenken, denen eine viel schärfere franko-nationalistische Stoßrichtung unterlag, wie etwa Dollard des Ormeaux, der 1660 sein Leben im Kampf gegen die Irokesen verlor und als Märtyrer für das Vaterland wahrgenommen wurde. Vor allem die Action française setzte sich seit den 1920er Jahren dafür ein, den seit 1918 von Frankophonen unter dem Namen „fête de Dollard“ gefeierten 24. Mai – für die Anglophonen war es Victoria Day oder Empire Day – als „fête de la race“ zu institutionalisieren, und Dollard avancierte zum Idol einer jungen nationalistischen Generation, das erst mit dem neuen laizistischen, auf Unabhängigkeit abzielenden Quebecer Nationalismus der 1960er Jahre wieder aus dem Heldenkanon verschwand.74 Die von Roy herausgearbeitete, auf Harmonie zielende Verehrung von Maisonneuve als „héros civil“75 in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts passt zu dem auch im Fall des Royal Victoria Hospital anklingenden Konsensbestreben zwischen den Sprachgruppen und Konfessionen. Die Zeit zwischen den 1880ern und 1920ern etwa erscheint dabei als eine Zeit, in der sich das Verhältnis zwischen Anglophonen und Frankophonen in der Schwebe befand, in der die auf Ausgleich bedachten Stimmen überwogen, durchaus aber schon andere hörbar wurden, wie auch das Beispiel des RVH zeigte. Trotz allem frankokanadischen Selbstbewusstsein des neuen Jahrhunderts wirkte in den Kommentaren zum Kreuz 1924 gewissermaßen der Ausgleichsgeist der 1880er nach. Mit dem Referenzpunkt Maisonneuve schrieb die SSJB Mitte der 1920er Jahre ihr Kreuz auf dem Mont Royal nicht nur in die heroisch gedeutete Tradition des Stadtgründers ein, sondern auch in die Tradition der konsensualen, friedlichen Maisonneuve-Repräsentation der vorherigen Jahrzehnte. Dies zeigt, dass die einzelnen zeitlichen Phasen in der anglo-frankokanadischen Koexistenz nicht so klar voneinander abgegrenzt werden können; vielmehr existierten unterschiedliche Einstellungen lange parallel weiter, was mit der Heterogenität der einander scheinbar diametral gegenüberstehenden gesellschaftlichen Gruppen zusammenhing, wie ein Blick auf die Frankokanadier deutlich macht. Selbst innerhalb ihrer katholisch angebundenen nationalen Organisationen gab es große Differenzen, was die Artikulation eines Nationalgedankens betraf, die nicht zuletzt entlang von generationellen Bruchlinien verliefen. National ist in diesem Sinne als ein ethnisch fundierter, partikularer Nationalismus zu verstehen, nicht als gesamtkanadischer: „Pour les Canadiens français, le plan national, c’est toujours le plan ethnique“76, formuliert dies Robert Rumilly etwas zu verallgemeinernd. Jüngere Gruppierungen wie die 1904

74 Vgl. Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 22–30; Gordon, Making Public Pasts, 109–10. 75 Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 19. 76 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 305.

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von Jesuiten gegründete Association catholique de la jeunesse canadienne-française (ACJC) beispielsweise traten um einiges radikaler auf als die traditionsreiche SSJB.77 3.3.2  „Une idée toute catholique“ oder: „Ce que l‘Amérique doit à la race française“ Historische Referenzpunkte

Doch selbst dem von der SSJB getragenen Kreuzprojekt von 1924 waren Ambivalenzen inhärent. Bei aller Rhetorik innerstädtischer Harmonie deuten die Quellen darauf hin, dass es nicht aussschließlich als konfessionsübergreifender Schulterschluss zwischen den kanadischen Montrealern intendiert war und auch nicht durchweg so rezipiert wurde, obgleich die Initiatoren und die positiven Pressestimmen dies suggerierten. Die vielbeschworene historische Referenz auf Maisonneuve erweist sich durchaus als mehrdeutiges Unterfangen, das nicht unbedingt nur der Einigkeit Vorschub leistete, wenn man einmal über die christliche Symbolik des Kreuzes und die kanadisch-nationale Rhetorik hinaussieht. Bruchlinien waren auch hier unter der Oberfläche angelegt. Victor Morin beispielsweise setzte seinen oben zitierten Satz über das erstaunliche Überleben der Montrealer Kolonie mit einem Verweis auf die widrigen Umstände fort, die das kanadische Volk unter dem Schutz des Kreuzes gemeistert hätte, „grandissant en dépit des obstacles, et puisant dans l’âpreté même des luttes comme la religion du Christ à travers les persécutions, la vigueur nécessaire à la conservation de sa foi, de sa langue et de ses traditions.“78 Man kann sich die Frage stellen, welchen Glaube genau, vor allem aber, welche Sprache und welche Traditionen er meinte. Denn die Gründungsgeschichte der Stadt, die hier zelebriert wurde, konnte auch durch eine ganz andere Brille betrachtet werden als die kanadisch-nationale des öffentlichen Diskurses. Letztlich waren es Katholiken, die Montreal gegründet hatten, und zwar Franzosen. Gerade Maisonneuve hatte die Stadt in Neufrankreich im Auftrag der Société Notre-Dame de Montréal als Missionsvorposten gegründet. Die kleine, auserwählte, robuste Kolonie in Morins Rede war eine französische Gemeinschaft und die von ihr zu verbreitende Zivilisation erklärtermaßen eine katholische. Maisonneuves Holzkreuz, auf das man sich hier bezog, war zuerst einmal ein franzö77 Vgl. Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 23. Umstände der Gründung der ACJC bei Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 190; Yvan Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 1896–1929 (Montreal: Fides, 2004), 68–70. 1905 hatte die ACJC 580 Mitglieder, 1924 waren bereits es 3000. Ebd., 70; Susan Mann, Lionel Groulx et l’ Action Française: Le nationalisme canadien-français dans les années 1920 (Montreal: vlb éditeur, 2005), 22–23. Vgl. auch Laurier Renaud, La fondation de l’ ACJC: L’histoire d’une jeunesse nationaliste ( Jonquière: Presses collégiales de Jonquières, 1972). 78 Artikel von Victor Morin in La Presse, 24.12.1924, AVM, DP, B259-26.13.

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sisch-katholisches. Dass die Initiatoren von 1924 sich dessen durchaus bewusst waren, legt ein weiterer vielzitierter historischer Referenzpunkt nahe, auf den das Kreuz verweisen sollte. Denn dort, wo Maisonneuve sein Kreuz aufgestellt hatte, hatte zehn Jahre später Marguerite Bourgeoys (1620–1700), Gründerin der Congrégation de Notre-Dame, eine Pilgerstätte eingerichtet.79 Der Verweis auf Bourgeoys zeugt von einer Perzeption des Berggipfels als katholischer Ort, den es schon lange gab, bevor die anglo-protestantischen Eliten den Gipfel des Mont Royal mit dem Park in ihren sacred space transformierten. Mit dieser Referenz setzte die SSJB der anglophonen Deutung des Berggipfels als heiliger, weil unberührter Ort eine alternative Deutung entgegen: Heilig war er wohl, aber nur, weil Bourgeoys ihn schon über 250 Jahre zuvor als katholische Pilgerstätte markiert hatte. Gerade durch den menschlichen Eingriff wurde der Mont Royal zu einem besonderen Ort, was der Konzeption des heiligen ‚natürlichwilden‘ Raumes entgegenstand. Beide Interpretationen des Berges grenzten ihn vom profanen Alltag des urbanen Lebens ab und hoben ihn in eine andere Sphäre. Ihnen zugrunde lag aber ein grundsätzlich unterschiedliches Verständnis davon, was für die Gestaltung dieses besonderen Ortes angemessen war. War es für die Franko-Katholiken eindeutig der im Ritual der Pilgerstätte ausgedrückte katholische Glaube, so war es für die primär anglophonen Protestanten aus der Parkbewegung die Naturerfahrung. Dies zeugt zum einen von unterschiedlichen Glaubensauffassungen – die individuelle, in diesen Jahren vom transzendentalistischen Konzept der Naturerfahrung geprägte Gotteserfahrung des Protestantismus stand der institutionell organisierten katholischen Pilgerstätte entgegen;80 zum anderen liegen hier unterschiedliche Vorstellungen des Verhältnisses zwischen Berg und Stadt vor. War der ‚wilde‘ Berg für die Parkanhänger die geordnete Antithese der chaotischen Metropole, so war er für die Katholiken, die sich auf Bourgeoys bezogen, letztlich ein genuin urbaner, wenn auch besonderer Ort, durch religiöse Strukturen eingebunden ins städtische Leben. Diese Einbindung des Berges ins urbane Gewebe zeigt sich auch auf andere Weise am Kreuz: Dank seiner elektrischen Beleuchtung war es ins infrastrukturelle Netz der Stadt eingegliedert und damit des Nachts sichtbar. Nächtliche Sichtbarkeit wiederum war nicht nur ein genuin modernes, sondern auch ein städtisches Phänomen. Nicht nur das Kreuz, sondern der gesamte Berggipfel wurde durch die Beleuchtung als ur79 Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 19–22; „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925; vgl. „Mount Royal Park“, 1946, AVM, DP, B258-2.88. 80 Dieselbe Vorstellung von sacred space lag auch dem preservation movement zugrunde, vgl. Bron Taylor, „Resacralizing Earth: Pagan Environmentalism and the Restoration of Turtle Island“, in: David Chidester and Edward T. Linenthal (eds.), American Sacred Space (Bloomington: Indiana University Press, 1995), 100–104. Im Konflikt um das Hetch Hetchy Valley bspw. bezeichneten die preservationists dieses als „sanctuary“ oder „temple“, vgl. Roderick Nash, Wilderness and the American Mind (New Haven: Yale University Press, ³1982), 44–95; 106–16; 165–70.

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ban markiert. Obendrein kursierte zeitweilig sogar der Vorschlag, in dem als begehbar geplanten Kreuz einen Souvenirladen für Touristen einzurichten – gerade eine solche Kommerzialisierung aber war den primär WASP-Anhängern eines natürlichen sacred space am Berg ein Dorn im Auge.81 In der Konzeption der Parkanhänger erscheint der Mont Royal zudem nicht nur als Antithese der Urbanität, sondern damit auch als natürlicher, überzeitlicher, jeglicher historischen Referenz entbundener Ort82, der sich jedoch beim zweiten Blick als fest in der Tradition britischer Landschaftsgärten und nordamerikanischer Parks verankert erweist und deren Vorstellungen von Gesellschaftsordnung transportierte.83 Der Bezug auf die Pilgerstätte hingegen knüpfte den Gipfel konkret an das 17. Jahrhundert, genauer, an die katholische, französische, prä-moderne Geschichte. Mit dieser diskursiven und symbolischen Einbindung reklamierte die franko-katholische community den Mont Royal 1924 für sich.84 Zudem konnte man auch die Kreuzerrichtung Maisonneuves als katholische Aktion lesen, wenn man sie retrospektiv durch ihre Rezeption bei Bourgeoys betrachtete. Durch den Bezug zu Marguerite Bourgeoys belegten die Franko-Katholiken das Kreuz und damit den Gipfel auf subtile Weise diskursiv. Bei der Auswahl dessen, an was erinnert wurde, ging es eben auch darum, eine eigene Identität herauszuschälen, sich selbst in Geschichte und Raum zu lokalisieren und daraus letztlich auch die Kontinuität der eigenen Bedeutung herauszustreichen. „The cult of local memories was also about collective self-affirmation and hegemony – about discreetly imposing a dominant vision of the social world.“85 Bezeichnenderweise wurde Marguerite Bourgeoys in den anglophonen Kommentaren zum Kreuz 1924 nie erwähnt.86 81 Joseph Venne, architecte, an Jean Guérin, Chef du Secrétariat général SSJB, 28.3.1924, BANQ, CAM, Fonds de la Société Saint-Jean-Baptiste P82, dossier 46_466, 001646. Allgemein Kritik an der Kommerzialisierung im Park „Preserve the Park“, in: Star 10.5.1922. 82 „In the midst of a changing city, Olmsted believed the park could remain unchanged – a pastoral enclave removed, in effect, from history; a progressive construct constraining ,excessive‘ progress.“ Machor, Pastoral Cities, 170. 83 Frederick Law Olmsted selbst war stark von Emersons Gedankengut beeinflusst, vgl. ebd., 168. 84 Zur Entstehung von „sacred spaces“ durch Rituale und Regelungen vgl. David Chidester and Edward T. Linenthal, „Introduction“, in: dies. (eds), American Sacred Space (Bloomington: Indiana University Press, 1995), 1–16; auf die Symbolkraft von „sacred spaces“ und ihre Fundierung in „collective subjectivity“ geht Rowland A. Sherrill, „American Sacred Space and the Contest of History“, in: Chidester and Linenthal (eds.), American Sacred Space, 318 ein. 85 Gerson, The Pride of Place, 91; vgl. Gordon, Making Public Pasts. 86 Vgl. etwa „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“, in: Standard 8.6.1938, ein Artikel, der sich explizit mit der Bedeutung des Kreuzes auseinandersetzte, dabei aber Bourgeoys nicht erwähnte.

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Institutionen und Initiatoren

Jenseits der historischen Bezüge zeigt zudem die Genese des Kreuzes von 1924, dass dieses spezifische Monument ideell dem katholischen Milieu entstammte. So wenig radikal-nationalistisch die SSJB im Vergleich zu jüngeren frankokanadischen Assoziationen der 1920er Jahre auch erscheinen mochte, sie war eine genuin frankophon-katholische Organisation, die sich selbst als die frankokanadische Nationalgesellschaft schlechthin begriff. Ihre Stoßrichtung war seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts ein gemäßigter Nationalismus, der gleichermaßen in Frankophonie und Katholizismus wurzelte und auf die gleichberechtigte Stellung der Frankokanadier innerhalb Kanadas abzielte.87 Diesem Zweck sollten auch ihre zahlreichen sozialen und wirtschaftlichen Initiativen dienen, wie etwa die caisses populaires. Auf kulturellem Sektor setzte sich die SSJB für die Verbreitung der französischen Sprache ein. Zu Beginn der 1920er Jahre lancierte sie eine wahrhafte „campagne de refrancisation“.88 Die führenden Mitglieder der Montrealer Sektion der SSJB gehörten zumeist den intellektuellen und wirtschaftlichen Mittel- und Oberschichten der Stadt an und hatten zum Teil auch eine politische Karriere eingeschlagen. Einige SSJBler wurden zeitweilig in den Stadtrat gewählt, wie etwa Victor Morin89, Präsident der SSJB von 1915–24, oder der Journalist Léon Trépanier, der 1925–1929 der SSJB vorsaß; der von 1924–26 amtierende Bürgermeister Charles Duquette war 1914–15 Präsident der SSJB gewesen. Der Anwalt und liberale Senator Frédéric-Liguori Béique, der sich als einer der wenigen Frankophonen seiner Zeit in den höchsten wirtschaftlichen Kreisen Kanadas bewegte, engagierte sich sowohl in der Chambre de Commerce als auch in der Montrealer SSJB, deren Präsidentschaft er von 1899 bis 1905 innehat87 Vgl. „La St-Jean-Baptiste“, in: La Patrie 21.6.1924. 88 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 304. Verstärkt wurde diese Kampagne in den 1930ern, vgl. beispielsweise „Quatrième centenaire: Refrancisons Montréal“, in: Le Devoir 27.4.1935. Ein Memorandum von Henry-Lemaître Auger, Mitglied des Bureau de direction der SSJB, zu ihren Rekrutierungs- und Entwicklungsstrategien zeugt 1921 vom Selbstverständnis der SSJB als einer Organisation, die sich der Stärkung des frankophonen katholischen Teils der Bevölkerung widmet, sowohl kulturell als auch wirtschaftlich: „1. Faire de la Société le pivot des oeuvres paroissiales qu’elle prendrait sous son patronage; 2. Faire connaître, non seulement son rôle national et religieux, mais ses oeuvres sociales; 3. Établir dans chaque section un bureau de location et un bureau de placement gratuits; 4. Organiser un comité spécial pour la défense et la propagation inlassables de la langue française; 5. Travailler à la diffusion du syndicalisme catholique; 6. Favoriser l’oeuvre des caisses populaires; 7. Favoriser le développement des coopératives de consommation.“ Zit. nach Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 303–04. 89 Morin stammte aus einer alten liberalen rouge Familie und vertrat die Vision eines genuin bilingualen Kanada, Gordon, Making Public Pasts, 56–58, 67.

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te.90 Gleichzeitig garantierte eine Vielzahl von Mitgliedern aus der Arbeiterschicht, die die Stadtteilkomitees leiteten, dass die SSJB die Anliegen der breiten Masse der Frankokanadier nicht vernachlässigte; es war keine rein elitäre Organisation.91 Auch mit dem Klerus der Stadt war die SSJB eng verbunden. Mgr Gauthier etwa, der Weihbischof Montreals, späterer Erzbischof (1939–40) und zeitweiliger Rektor der UdeM (1920–23), war ihr aumônier général.92 Es scheint, als habe die SSJB nicht nur klassenübergreifend als eine Art Verbindungsorgan fungiert, sondern auch zwischen zwei am Anfang des 20. Jahrhunderts miteinander um die Deutungshoheit innerhalb des franko-katholischen Milieus konkurrierenden Eliten, dem katholischen Klerus einerseits und der meist politisch liberal orientierten Bildungs- und Wirtschaftbourgeoisie auf der anderen Seite.93 Bei allem Katholizismus waren führende Mitglieder der SSJB in manchen Fällen durchaus anderer Meinung als der lokale Klerus, wie die Debatten um die Gründung der städtischen Bibliothek zu Anfang des 20. Jhs gezeigt haben.94 Bezüglich des Kreuzes herrschte 1924 allerdings Einigkeit. Ende 1923 berichtete die Presse über die Pläne der SSJB, mittels der ‚Kreuzwoche‘ eine campagne de souscription zur Finanzierung des Kreuzes in die Wege zu leiten, und erwähnte, dass 90 Fernande Roy, Progrès, harmonie, liberté: Le libéralisme des milieux d’affaires francophones à Montréal au tournant du siècle (Montréal: Boréal, 1988), 89 nennt weitere Beispiele der personellen Verschränkung zwischen Chambre de Commerce und SSJB. 91 Gordon, Making Public Pasts, 101. 92 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 294. 93 Zu dieser Konkurrenz vgl. den vom Organ der frankophonen business community, der Chambre de Commerce, verfassten Rückblick: Un siècle à entreprendre: La Chambre de commerce de Montréal, 1887–1987 (Montréal: Libre Expression, 1987), 51. Während die Geschäftsleute dieser internen Geschichtsschreibung zufolge seit den letzten Dekaden des 19. Jhs auf eine aktivere Beteiligung der Frankokanadier an Industrie und Handel drangen, förderte der Klerus das Selbstbild der Frankokanadier als Pioniere der Zivilisation, deren Bestimmung in der Kultur liege, nicht in der Wirtschaft. Die Zivilisation wiederum war in dieser Perspektive eng mit Religion verbunden. Auf diese Weise suchte der Klerus die Kohäsion des Milieus zu gewährleisten und sich die Deutungshoheit zu sichern. 94 Gerade Victor Morin beispielsweise engagierte sich um 1912, als er Stadtrat war, massiv für die Gründung der Bibliothek, während der Klerus, v.a. Erzbischof Mgr Bruchési, diese zu verhindern suchte. Vgl. Michèle Dagenais, „Vie culturelle et pouvoirs locaux: La fondation de la bibliothèque municipale de Montréal“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 24:2 (March 1996), 40–56. Morin war zudem einer der führenden Köpfe der Reformgruppe in der Stadtverwaltung, die Anglophone und Frankophone 1909/10 im Kampf gegen die Korruption der städtischen Politik vereinte. Vgl. Alan Gordon, „Ward Heelers and Honest Men: Urban Québécois Political Culture and Montreal Reform of 1909“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 23:2 (March 1995), 22.

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Mgr Gauthier sein Einverständnis erklärt habe, die Kampagne jeweils über die Priester der einzelnen Gemeinden ankündigen zu lassen. Diese Zustimmung Gauthiers hatte die SSJB infolge eines Briefes erhalten, der den Bischof darüber aufklärte, dass es sich bei dem Kreuz auf dem Mont Royal um ein „projet s’inspirant d’une idée toute catholique“95 handele. Daher ist naheliegend, dass die SSJB das Kreuz nicht primär als christliches, kanadisches Symbol errichtete. Auch wenn man hier möglicherweise einfach eine Rhetorik anwandte, die den Bischof gewinnen sollte, so zeigt es doch, dass das Kreuz auf jeden Fall als Produkt einer „idée catholique“ lesbar war und nicht zustande kommen konnte ohne die Unterstützung derer, die es so lesen wollten. Möglicherweise spielte die Formel von der katholischen Idee auf die während der conscription crisis des Ersten Weltkriegs von vielen Frankokanadiern errichteten Wegkreuze an, die sie vor den army recruiters schützen sollten, was das Kreuz als „croix de guerre“ mit franko-katholischem Widerstand konnotierte.96 Das Kreuz wurde in der Zeit durchaus als genuin katholisches Symbol wahrgenommen. Dupaigne, der das Kreuz entwarf, schilderte der SSJB vorab einige wichtige Punkte zu seinem Entwurf. Er begründete dabei vor allem, warum es überhaupt ein Kreuz sein sollte. Als Grund für die Wahl des Symbols führte er neben der historischen Referenz auf Maisonneuve die Tatsache an, dass das Kreuz von allen möglichen Symbolen dasjenige sei, das den katholischen Glauben der Kanadier am besten manifestiere – deutlicher konnte diese Lesart wohl nicht gemacht werden.97 Die Verankerung des Vorhabens im katholischen, frankophonen Milieu war nicht neu: Schon seit Jahren kursierte die Idee im Umfeld der SSJB und wurde sporadisch – meist in Jubiläumsjahren – wieder hervorgeholt. Erstmalig erwähnt wurde das Projekt, ein Kreuz auf dem Mont Royal zu errichten, 1874 anlässlich des 40. Geburtstags der SSJB.98 30 Jahre später brachte der damalige Vize-Präsident Joseph-Xavier Perrault erneut den Vorschlag ein.99 Erst 1923, während der Planungen zum 90. Jubiläum der Gesellschaft im darauffolgenden Jahr, konnte die vom Präsidenten Victor Morin wiederaufgenommene Idee eines Kreuzes auf dem Berg intern eine Mehrheit hinter sich vereinen.100 95 „Campagne de souscription en faveur de l’érection de la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 13.12.1923. 96 Gordon, Making Public Pasts, 99, 101. 97 „Avant-projet pour l’érection d’un Monument Commémoratif sur le Mont-Royal par M. P. Dupaigne“, n.d., BANQ, CAM, Fonds de la Société Saint-Jean-Baptiste P82, dossier 46_467, 001833. 98 „Mount Royal Park“, 1946, AVM, DP, B258-2.88. Vgl. „La Fête Nationale“, in: L’Opinion Publique 2.7.1874. 99 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 187. 100 Artikel von Victor Morin in La Presse, 24.12.1924, AVM, DP, B259-26.13; ursprünglich war das Kreuz sogar schon für 1923 geplant, wurde aber aus finanziellen Gründen verschoben, vgl. Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 306–08.

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C’est au congrès général tenu par cette société en 1923 que la proposition d’élever, au centre de la métropole du Canada, ce monument de patriotisme et de foi fut soumise par son président général et adoptée avec enthousiasme par les délégués. Et fut décidé d’inviter tout le peuple canadien à participer à son érection par l’apport de contributions volontaires, et l’on fit appel en premier lieu aux hommes de demain, aux enfants des écoles catholiques de Montréal, à qui fut confiée la vente d’un timbre-souvenir destiné à recueillir les premiers fonds.101

Letztendlich ist auch das auf der Generalversammlung der SSJB im Frühjahr 1923 beschlossene Verfahren der Finanzierung aufschlussreich für die katholische Handschrift, die dieses Kreuz trug. Zwar sollte sich das gesamte kanadische Volk durch Spenden an der Errichtung des Kreuzes beteiligen. Dennoch kann man hier „peuple canadien“ auch in der alten Verwendung von vor den 1840er Jahren lesen, in der der Begriff ,canadien‘ ,Frankokanadier‘ meint. Dieses Verständnis wird dadurch unterstützt, dass das Geld durch die Männer von morgen, bezeichnenderweise die Kinder der katholischen Schulen, eingesammelt werden sollte.102 Katholizismus und Frankophonie wurden dabei zusammengedacht, denn die Ausführung des Monuments sollte in frankokanadischen Händen liegen, wie aus den internen Dokumenten der SSJB hervorgeht: „Notre Conseil général serait d’avis d’accorder le contrat de la construction de ce monument à un entrepreneur canadien-français de préférence […].“103 Im Lichte der Lesart von ,canadien‘ als ,Frankokanadier‘ gewinnt auch das weiter oben angeführte Zitat aus dem Artikel von Victor Morin in der Presse, in dem er über das erstaunliche Überleben des kanadischen Volkes unter dem Schutze des Kreuzes schreibt104, eine neue, sektionale Dimension, entwickelte sich doch gerade in den 1920er Jahren unter der Ägide von Lionel Groulx der Mythos der „survivance“ des frankokanadischen Volkes in feindlicher Umgebung als identitätsstiftendes frankokanadisches Narrativ.105 Wenn die anglophone Gazette sehr ähnlich vom Kreuz als 101 Artikel von Victor Morin in La Presse, 24.12.1924, AVM, DP, B259-26.13. 102 Vgl. „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“; in: Standard 8.6.1938; „Causerie sur la croix du Mont-Royal“, in: La Presse 11.4.1925. 103 Chef du secrétariat de la Société Saint-Jean-Baptiste an Alphonse Piché, architecte, 3.5.1924, BANQ, CAM, Fonds de la Société Saint-Jean-Baptiste P82, dossier 46_466, 001666. 104 La Presse, 24.12.1924, AVM, DP, B259-26.13. Die anglophone Gazette schrieb sehr ähnlich vom Kreuz als „memorial to the survival of the Canadian people and the growth of Christianity“, „Cross on Mountain“, in: Gazette Dec. 1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–1926“; vgl. auch „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“; in: Standard 8.6.1938. 105 Damien-Claude Bélanger, „L’Abbé Lionel Groulx et la survivance franco-américaine“, in: Francophonies d’  Amérique 13 (2002), 91–105. Vgl. auch ders., „Lionel Groulx

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„memorial to the survival of the Canadian people and the growth of Christianity“106 schrieb, so betont dies nur umso mehr, wie ambivalent bestimmte Topoi, die das Kreuz visualisieren sollte, waren: Für die anglophone Zeitung ging es klar um das Überleben des kanadischen Volkes in der Weite eines neuen Kontinents.107 Wenn man also sowohl durch die erste, die allgemeine Bedeutungsschicht des Kreuzes als christliches Symbol hindurchschaut als auch durch die mit ihr eng verknüpfte zweite, auf historischen Bezügen basierende Bedeutungsschicht als Zeichen für die Besiedlung Kanadas durch den white man, dann lässt sich eine dritte Bedeutungsschicht freilegen, die des Kreuzes als Marker für einen frankokanadischen, katholischen Anspruch. Das Kreuz auf dem Mont Royal war eingewoben in ein Netz von unterschiedlichen Bezügen und konnte dementsprechend, je nachdem, welchen Kontext man fokussieren wollte, anders gelesen werden. Die intendierte historische Referenz – die Gründung der Stadt Montreal – konnte unter dem Blickwinkel der Entdeckung Nordamerikas verstanden werden, aber auch unter dem Gesichtspunkt der spezifischen, französisch-katholischen Eroberung. Ebenso konnte man die zweite historische Referenz akzentuieren – die Gründung der SSJB selbst – und die Entstehungsgeschichte des Monuments betrachten; beides legte ein Verständnis des Kreuzes als Zeichen für die Einheit und das Selbstbewusstsein der Franko-Katholiken Montreals im institutionellen Rahmen der SSJB nahe. Es ergab sich so eine Fülle von Lesarten, die sich allerdings auch nicht ausschlossen, sondern zum Teil ergänzten, aufeinander Bezug nahmen, sich überlagerten. Diese Verknüpfungen treten deutlich hervor, wenn man einen weiteren Kontext des Kreuzes betrachtet, der zugleich den Höhepunkt seiner Entstehungsgeschichte darstellte, nämlich die Feierlichkeiten zur Grundsteinlegung, in denen das Kreuz dadurch, dass es in eine Reihe symbolischer Praktiken eingebettet war, als katholisch-frankophon kodiert wurde.108 Inszenierungen

Die Grundsteinlegung war Teil der von der SSJB organisierten Feiern zum 24. Juni 1924, dem Festtag Johannes des Täufers, Schutzpatrons der Frankokanadier („fête and Franco-America“, in: American Review of Canadian Studies 33:3 (2003), 373–89. Auch die häufige Verwendung des Wortes ,pays‘ ist ähnlich ambivalent lesbar, als Land (Kanada), aber auch als Heimat (Frankokanada). 106 „Cross on Mountain“, in: Gazette Dec. 1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–1926“. 107 Zum Topos des Überlebens im weiten, unbekannten Territorium als identitätsstiftender gesamtkanadischer Diskurs Margaret Atwood, Survival: A Thematic Guide to Canadian Literature (Toronto: Anansi, 1972), 33. 108 Vgl. Aleida Assmann und Heidrun Friese, „Einleitung“, in: dies. (Hgg.), Identitäten (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998), 12, die auf die Lesbarkeit solcher „Inszenierungen von Identität“ verweisen.

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patronale“), der seit 1925 in Quebec offizieller Feiertag ist.109 Das Programm des Festtags, der mit einer Messe, einem historischen Umzug und einem Nationalkongress der Frankokanadier begangen wurde, gipfelte in der offiziellen Segnung des Kreuzgrundsteins durch Mgr Deschamps.110 Katholische Zeremonien, kanadisch-nationale Riten und Beschwörungen frankokanadischer Geschichte und Zusammenhalts strukturierten den Tag. Eröffnet wurde er mit der „grand-messe“ von Mgr Gauthier in der Kathedrale, nachdem am Abend zuvor die traditionellen „feux de la Saint-Jean“ 20 000 Zuschauer in den Parc Lafontaine gelockt hatten.111 Am Nachmittag nach der Messe zog eine Parade von 24 Wagen, auf denen in chronologischer Reihenfolge Episoden und Personen aus der Geschichte Franko-Amerikas dargestellt waren, vom Parc Lafontaine in Richtung Mont Royal. Alle bereits erwähnten lokalen Helden von Cartier über Marguerite Bourgeoys bis Dollard des Ormeaux erhielten einen eigenen Wagen, ebenso die explorateurs de la Salle, Iberville und Bienville; auch die Ankunft der Jesuiten in Neufrankreich (1625) wurde dargestellt. Selbst die Gouverneure Neufrankreichs und die von Franzosen gegründeten Städte Nordamerikas fehlten nicht. Des Gründers der SSJB im Jahr 1834, Ludger Duvernay, wurde ebenfalls gedacht.112 Die Parade sollte an die Eroberung, Christianisierung und Zivilisierung eines Großteils des nordamerikanischen Kontinents durch Franzosen erinnern und so an die glorreichen Zeiten der „domination française“ anknüpfen.113 Sie verband beide historischen Referenzpunkte des Kreuzes, die Gründung der Stadt Montreal sowie die Gründung der SSJB, miteinander und ordnete sie in den Gesamtkontext der Geschichte der Frankophonie in Nordamerika ein. Diese Inszenierung unter dem programmatischen Titel „Ce que l’Amérique doit à la race française“114 ließ sehr deutlich werden, welche Lesart der Montrealer Geschichte den Initiatoren vorschwebte. Das Kreuz als christlich-kanadisches Symbol zu verstehen fällt schon etwas schwerer, 109 Statuts du Québec, Loi modifiant l’article 36 des Status refondus, 1909 (Sanctionnée le 19 mars 1925), Chap.11, AVM, DP, B472-6.134. Seit 1923 versuchten die SSJB und andere franko-katholische Organisationen, bei der Regierung von Quebec den 24. Juni als offiziellen Feiertag durchzusetzen. Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 309. Vgl. auch „La Saint-Jean-Baptiste doit être fête nationale“, in: La Patrie 13.6.1924. 110 Das Programm ist aufgeführt in „Les feux de la Saint-Jean au Parc Lafontaine, hier soir“, in: La Patrie 24.6.1924. Ausführliches Programm der sich auf drei Tage erstreckenden Festlichkeiten in „Les quatre vingt-dix ans de notre grande société nationale“, in: La Patrie 21.6.1924. Vgl. Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 311. 111 Vgl. „Les feux de la Saint-Jean au Parc Lafontaine, hier soir“, in: La Patrie 24.6.1924; „Manifestations où se sont affirmées notre foi et notre race“, in: La Patrie 25.6.1924. 112 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 315. 113 „La St-Jean-Baptiste“, in: La Patrie 21.6.1924. 114 „Ce que l’Amérique doit à la race française, telle sera la devise du 24 juin“, in: La Patrie 21.6.1924; Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 312.

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wenn man die bereits im Vorfeld überschwenglich-patriotischen Kommentare der frankophonen Tageszeitungen zum Festtag liest. Die Patrie erklärte die Feierlichkeiten zu einem „culte du souvenir et des glorieux ancêtres“ und prophezeite: […] ce sera l’éclatante affirmation d’une race qui a survécu à toutes les difficultés et qui veut vivre fidèle à toutes ses traditions […]. [La parade] racontera l’odyssée merveilleuse de notre peuple; elle racontera que le continent américain nord fut découvert, exploré, évangélisé et colonisé par des Français, que toutes les grandes villes sont obligées de saluer comme fondateurs des fils de Français.115

Der Überlebenstopos, der im direkten Zusammenhang mit dem Kreuz oft auf das kanadische Volk bezogen wurde, meinte hier eindeutig nur bestimmte Kanadier, nämlich die französischer Herkunft. Auch die anderen Topoi, die zur konsensfähigen Lesbarkeit des Kreuzes als christliches, weißes Symbol beitrugen – entdecken, erforschen, evangelisieren, kolonisieren –, konnten ganz explizit rein im frankokanadischen Kontext verstanden werden.116 „Rasse“ definierten die Frankokanadier dabei offenbar ethno-kulturell und nicht wie ihre angelsächsischen Mitbürger nach perzipierter Hautfarbe. Im anglophonen Diskurs der Zeit findet sich zwar auch die ethnokulturelle Verwendung des Begriffs, gerade dann, wenn es explizit um das Zusammenleben der beiden Sprachgruppen ging.117 In diesem Fall mag die Akzentuierung von whiteness den Anglophonen inklusiver erschienen sein, so dass auch sie sich mit dem Kreuz identifizieren konnten. Gleichzeitig beinhaltete auch dieses Verständnis eine kulturelle Komponente, da ‚weiß‘ mit ‚christlich‘ assoziiert wurde. Interessant ist, dass in den frankokanadischen Selbstdefinitionen nun auch die Großstädte ihren Platz fanden. Anders als noch in den 1870er Jahren musste der Eroberungsdiskurs – nun da über die Hälfte aller Einwohner Quebecs in Städten lebte118 – durch die Referenz auf die Gründung der Metropolen ergänzt werden, um wirkmächtig zu bleiben. Aus ähnlichen Gründen monierte die Patrie auch, dass sich lediglich drei Darstellungen in der Parade auf die Zeit nach der britischen Eroberung bezogen: Auch diese sei doch voller heroischer Taten von Frankokanadiern.119 Die gesamte Veranstaltung, innerhalb derer das Kreuz errichtet wurde, diente offenbar der Überhöhung der frankophonen Geschichte in Nordamerika und damit auch der Legitimation gegenwärtiger Macht115 „Les quatre-vingt-dix ans de la Société S.-Jean-Baptiste“, in: La Patrie 17.6.1924. 116 Zehn Jahre später konnten frankophone Zeitungen verkünden: „Nos ancêtres furent les précurseurs de la civilisation chrétienne et occidentale sur ce continent.“ „Les précurseurs“, in: L’Illustration 24.6.1934. 117 A.K.S. Hemming an Hon. F.L. Béique, 5.7.192?, DA, UdeM, Fonds du Secrétariat Général D35, #421. 118 56% der Einwohner Quebecs wohnten 1921 in Siedlungen mit über 1000 Einwohnern. Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 18. 119 „La St-Jean-Baptiste“, in: La Patrie 21.6.1924.

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ansprüche – nicht nur gegenüber den anglophonen Kanadiern120, sondern auch gegenüber anderen Immigrantengruppen, von denen man sich abzusetzen suchte.121 Recht kämpferisch appellierte die Patrie an die Montrealer: „Il faut que le 24 juin la race française soit présente toute entière pour revendiquer ses droits.“122 Zielpunkt der Parade war das östlich am Fuß des Berges gelegene Fletcher’s Field. Als die Menge versammelt war, segnete Generalvikar Mgr Deschamps auf dem Berggipfel den Eckstein des Kreuzes in Anwesenheit von hochrangigen Mitgliedern der frankophonen community, wie etwa dem liberalen Senator Laurent-Olivier David und einigen städtischen Abgeordneten.123 Ein Chor oben auf dem Mont Royal stimmte das Magnificat an, auf das die Menschenmenge am Fuß des Berges, darunter der Bürgermeister und ehemalige Präsident der SSJB Charles Duquette, antworten sollte, was aber aus organisatorischen Gründen misslang.124 Den Abschluss des Gesangsprogrammes bildete die damals noch inoffizielle Nationalhymne O Canada, die anlässlich der Saint-Jean-Baptiste-Feier von 1880 komponiert worden war und in ihrem französischen Text den Akzent auf Kanada als Land der glorreichen Vorfahren legte. Zwar wurde hier Kanada insgesamt besungen, aber eben als das Land, das dank seiner Tugend und seines Glaubens die Rechte der Nachfahren der ersten Siedler garantieren würde.125 Abends dann beendete ein „banquet patriotique“ die Festivitäten.126 An dem Congrès national, der bereits am 22. Juni begonnen hatte, nahmen etwa hundert Delegierte der verschiedensten franko-amerikanischen und -kanadischen Organisationen teil. Als ein Vertreter der Gastgeber referierte Lionel Groulx über die Notwendigkeit, das Nationalgefühl der Frankokanadier zu stärken, gerade auch durch die Verbreitung einer frankokanadischen nationalen Geschichte, wie es in der Parade zwei Tage später erfolgen sollte.127 Die Grundsteinlegung des Kreuzes als symbolischer Akt situierte sich folglich im Kontext diverser Rituale und Geschichtsinsze120 Bemerkungen wie „dans ce pays où elle [la race française] vit et doit continuer de vivre associée à une autre race“ zielten auf die Anglokanadier ab. „La St-Jean-Baptiste“, in: La Patrie 21.6.1924. 121 Vgl. „Les quatre-vingt-dix ans de la Société S.-Jean-Baptiste“, in: La Patrie 17.6.1924. 122 Ebd. 123 „Manifestations où se sont affirmées notre foi et notre race“, in: La Patrie 25.6.1924. David war von 1888 bis 1892 Präsident der SSJB. 124 „Les quatre vingt-dix ans de notre grande société nationale“, in: La Patrie 21.6.1924; „Manifestations où se sont affirmées notre foi et notre race“, in: La Patrie 25.6.1924. 125 Der englische Text wurde 1908 entworfen und akzentuierte weniger die Rolle von Vorfahren und Glauben, vgl. die offizielle Website von Canadian Heritage, http://www.pch. gc.ca/progs/cpsc-ccsp/sc-cs/anthem_f.cfm, Stand 19.6.2007. 126 Vgl. „Manifestations où se sont affirmées notre foi et notre race“, in: La Patrie 25.6.1924. 127 Rede abgedruckt in „Premier devoir envers notre race, c’est d’en être et de nous souvenir que nous en sommes“ in: La Patrie 23.6.1924. Vgl. Rumilly, Histoire de la Société SaintJean-Baptiste de Montréal, 314–15.

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nierungen, die der Affirmation und Legitimation von Katholizismus und frankokanadischem Nationalismus dienten, ohne allerdings den Rahmen der kanadischen Nation sprengen zu wollen. Im Gegenteil: Diese wurde als Garant für die Rechte der Frankokanadier betrachtet.128 Bei all dem war das Kreuz auf dem Mont Royal als Höhepunkt des Tages visueller Kristallisationspunkt für ein aus der Geschichte hergeleitetes ethno-kulturelles Selbstbewusstsein, das weit über die Zeremonie und weit über Montreal hinaus wirken sollte. Die Patrie kommentierte die Segnung des Kreuzes am folgenden Tag: „Le chant national, ,O Canada, terre de nos aïeux‘, clôtura cette cérémonie extrêmement évocatrice du premier geste, toujours le même, des découvreurs de la Nouvelle-France: l’érection de la Croix, du fier emblême de nos traditions qui, constamment, a présidé à nos glorieuses et émouvantes destinées.“129 Die Wahl des Ortes, der Gipfel des Mont Royal, unterstrich diesen Anspruch zusätzlich. Geschichte und Raum Montreals wurden verknüpft und franko-katholisch belegt. In den Feierlichkeiten zum 24. Juni erweist sich auch der übrige Stadtraum als mehr denn ein bloßer räumlicher Rahmen für die religiösen Zeremonien, historischen Inszenierungen, nationalistischen Rituale und programmatischen Treffen. An welchem Ort etwas stattfand, dieser Frage kam eine ebenso große Bedeutung zu wie den Handlungen selbst, ja, diese sind nicht getrennt von ihren jeweiligen Orten zu denken, verliehen die Räume den Inszenierungen doch erst einen großen Teil ihres Sinns. Geschickt hatte die SSJB einzelne Lokalitäten ausgewählt, die in der städtischen Imagination – ganz wie die Bergspitze – mit bestimmten Bedeutungen besetzt waren, die durch die Parade in Anspruch genommen werden konnten. Die räumliche Abfolge spielte ebenfalls eine Rolle; der Ablauf der Programmpunkte war nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich genau durchdacht. Die Bewegung im Montrealer Stadtraum band die Ereignisse zusammen und strukturierte so den ganzen Feiertag zu einer räumlich lesbaren Gesamtkomposition, die ihren Sinn aus dem Wechselspiel zwischen den symbolischen Bedeutungen einzelner Orte und den an ihnen praktizierten Feierlichkeiten erhielt.130 Den Auftakt der Festivitäten bildete die Messe in der Basilique Notre-Dame an der Place d’Armes, im Herzen des Vieux Montréal. Im Parc Lafontaine, traditionell der Park der frankophonen Stadtteile, nahm später die historische Parade ihren Ausgang, die sich anschließend durch die Stadt bewegte bis hin zum Fuß des Mont Royal. Gerade Paraden und Umzüge als öffentliche Ritualformen setzen sich von der alltäglichen Bewegung in der Straße durch ihren geordneten, rituellen Charakter ab.131 128 129 130 131

Vgl. Roy, Progrès, Harmonie, Liberté, 243–48. „Manifestations où se sont affirmées notre foi et notre race“, in: La Patrie 25.6.1924. Vgl. Shields, Places on the Margin, 29. Vgl. Peter G. Goheen, „Symbols in the Streets: Parades in Victorian Urban Canada“, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 18:3 (Feb. 1990), 237. Zur Geschichte der SSJB-Paraden Gordon, Making Public Pasts, 145–50, der die Umzüge als temporäre

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Sie stellen Augenblicke dar, die allein dadurch, dass sie der alltäglichen Routine im Stadtraum Einhalt bieten, als besonders bedeutungsvoll erscheinen; welche Bedeutungen genau sie transportieren, das zeigt sich wiederum in ihrer Struktur und der verwendeten Symbolik. Verhaltensweisen sind geregelt und jedem Teilnehmer ein spezifischer Ort innerhalb der Parade zugewiesen.132 Die Parade kann damit auch als Versuch gewertet werden, in der Vielfalt des urbanen Chaos Standpunkte und Werte in geordneter Form sichtbar zu machen und den Stadtraum selbst, wenn auch temporär, mit der eigenen Symbolik zu ordnen und zu belegen.133 Darin unterschied sie sich kaum von einer religiösen Zeremonie, und beide wurden am 24. Juni 1924 ausgiebig zelebriert. Auch die Zeitungsberichte vor und nach der historischen Parade vom 24. Juni legten viel Wert auf die Schilderung von Ordnung.134 Der Weg des prozessionsartigen Festzuges führte über die Rue Cherrier, Rue Saint-Hubert, Avenue Mont-Royal, Rue Saint-Denis, Boulevard Saint-Joseph, Rue Saint-Dominique, Rue Villeneuve und die Avenue du Parc bis zum Mont Royal (Abb. 34).135 Damit zog die Parade durch das traditionelle frankophone bourgeoise Viertel und durch neuere frankophone Stadtteile, um sich unter Umgehung der anglophonen Gebiete und des Einwandererkorridors Boulevard St. Laurent von Nordosten her dem Mont Royal zu nähern. In der Wahl der Route mussten vielerlei Interessen berücksichtigt werden. Die SSJB war in Stadtteilsektionen geteilt, und die Vertreter der jeweiligen Sektionen hatten vorab gefordert, die Jubiläumsprozession möge doch durch ihr Viertel ziehen. Geschäfte an der Paraderoute konnten so von den zuschauenden Menschenmassen profitieren. Gleichzeitig stellte es eine Art Auszeichnung dar, wenn der eigene Stadtteil beteiligt war: Der Raum und seine Bewohner wurden durch den Durchzug einer Parade, deren Inhalt man unterstützte, temporär aufgewertet und als dazugehörig

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Inszenierung von public memory und als invented tradition untersucht und weniger auf die räumliche Komponente abhebt. Goheen, „Symbols in the Streets“, 237–38. Ordnung der Parade vom 24. Juni 1924 in „Les quatre vingt-dix ans de notre grande société nationale“, in: La Patrie 21.6.1924. Kathleen O’Reilly and Michael E. Crutcher, „Parallel Politics: The Spatial Power of New Orleans’ Labor Day Parades“, in: Social & Cultural Geography 7:2 (April 2006), 248–52; Goheen, „Symbols in the Streets“, 239; Dolores Hayden, The Power of Place: Urban Landscapes as Public History (Cambridge: MIT Press, 1995), 38; auch Unordnung konnte programmatisch sein, vgl. Susan Davis, Parades and Power: Street Theater in Nineteenth-Century Philadelphia (Philadelphia: Temple University Press, 1986), 33–48. Geschichte der Parade in den USA des 19. Jhs bei Mary Ryan, „The American Parade: Representations of the Nineteenth-Century Social Order“, in: Lynn Hunt (ed.), The New Cultural History (Berkeley: University of California Press, 1989), 131–53. Etwa „Lorsque […] les groupes seront rangés en ordre, aura lieu la bénédiction de la pierre angulaire de la Croix du Mont-Royal.“ „Les quatre vingt-dix ans de notre grande société nationale“, in: La Patrie 21.6.1924. „Les quatre vingt-dix ans de notre grande société nationale“, in: La Patrie 21.6.1924.

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Abb. 34  Route der Parade zur Saint-Jean-Baptiste-Feier vom 24.6.1924.

markiert. „[…] parade routes serve to territorialize communities, by classifying an area […] through a temporary, but explicit, physical presence.“136 Die Paraden sind allerdings nicht nur als kultureller Ausdruck einer bestimmten Gruppe, die im Raum als Interessensgemeinschaft auftrat und ihn dadurch belegte, zu verstehen. Umzüge konnten andersherum auch identitätsstiftend wirken, indem sie verschiedene Straßenzüge, Plätze und ganze Stadtteile verknüpften. Gerade wenn das Territorium, das man durchquerte, als das ureigene empfunden wurde, konnte der Raum das Zusammengehörigkeitsgefühl der Paradierenden stärken. So wurde kulturelle Identität durch 136 O’Reilly and Crutcher, „Parallel Politics“, 258.

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die Paraden nicht nur im öffentlichen Raum ausgedrückt und dieser dadurch markiert, sondern er trug gleichfalls dazu bei, die Identität der betreffenden community zu konstituieren.137 Daher überrascht es nicht, dass die traditionelle Paradestrecke der SSJB zwar im Laufe der Jahre oft variierte, die anglophonen Viertel jedoch immer nur tangierte.138 Anglophone Paraden wiederum hielten sich meist vom frankophonen Montreal fern.139 Lediglich zentrale Orte, wie etwa das Herzstück des wirtschaftlichen und politischen Lebens, das city center, auf das unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen gleichermaßen Anspruch erhoben, wurden von allen meist durchquert als „symbolic claim to common turf if only for a passing hour“140 – wobei die Parade von 1924 auch hierum einen großen Bogen machte. Denn am 24. Juni 1924 war der von allen beanspruchte Ort das Ziel der Prozession: der Mont Royal. Die Darstellung der Geschichte Franko-Amerikas, dessen, was Nordamerika der „race française“ verdankte, bewegte sich folglich vom Herzen der frankophonen, bourgeoisen Viertel im Osten der Stadt, dem Parc Lafontaine, hin zu dem Ort, der zwar mit den frankokatholischen Wurzeln Montreals untrennbar verknüpft war, aber dennoch im Lauf der Zeit zum anglo-protestantischen Territorium und Symbol anglophoner Macht geworden war. Fast könnte man die Geschichte Montreals nicht nur in den Darstellungen auf den Paradewagen, sondern auch in den räumlichen Bewegungen dieses Tages nachvollzogen sehen: Von einem gut katholischen, an die Frühzeit der Stadt erinnernden Ausgangspunkt, der Sulpizianerkirche Notre-Dame, führte das Programm des 24. Juni über die Stadträume der alten frankophonen Bourgeoisie zum Ort angloprotestantischen Erfolgs.141 Dieses Territorium galt es nun – wenn auch nur symbolisch – zurückzuerobern. Auch die Reise Maisonneuves nach Neufrankreich, die mit 137 Zur identitätsstiftenden Wirkung von Paraden durch ihre Territorialität O’Reilly and Crutcher, „Parallel Politics“, 245–65, die diesen Zusammenhang am Beispiel der second line Labor Day parades der Black Men of Labor und der homosexuellen Southern Decadence in New Orleans aufzeigen. Trotz eines heutigen allgemeinen Trends, Paraden auf breite Straßen im downtown zu verlegen, bleiben beide Umzüge in ihren Stadtteilen aus Gründen der „community memory, respectability, tradition, social ties and local economies“; ebd., 246. 138 Gordon, Making Public Pasts, 148: „Parade routes typically wound from one francophone neighbourhood to another, linking them in the mental geography of the city.“ 139 Sylvie Dufresne, „Attractions, curiosités, caranaval d’hiver, expositions agricoles et industrielles: Le loisir public à Montréal au XIXe siècle“, in: Jean-Rémi Brault (ed.), Montréal au XIXe siècle: Des gens, des idées, des arts, une ville (Montréal: Leméac, 1990), 249–50 hat das für die Umzugsrouten des Winterkarneval gezeigt. 140 Goheen, „Symbols in the Streets“, 239. 141 Gordon stellt für die Zeit seit den 1920er Jahren eine Vereinfachung der Route fest, die weniger Abstecher in kleine Stadtteile macht, und führt das auf die zentralisiertere Organisation der Parade durch die SSJB zurück, vgl. Gordon, Making Public Pasts, 160. In diese Tendenz fügt sich die Route von 1924 ein.

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seinem Kreuz auf dem Mont Royal einen ihrer Höhepunkte fand, hatte schließlich in Notre-Dame begonnen – der Kathedrale von Paris. Der Rückeroberungsprozess bestand sowohl aus der geballten physischen Präsenz der Feiernden am Berg und dem von ihnen zurückgelegten Weg, als auch aus den Bedeutungen der in Szene gesetzten Geschichtsbilder und den religiösen und nationalistischen Ritualen; er gipfelte in der Errichtung des Kreuzes, womit sich der Kreis zurück zum historischen, katholisch-französischen Ausgangspunkt schloss. Symbolisch wurde in der Prozession die glorreiche Geschichte der Franzosen in Nordamerika an den Mont Royal herangetragen, um diesen Ort wieder in den Einflussbereich der Frankokanadier Montreals zu integrieren,142 und zwar von Osten her, territorial in den frankophonen Vierteln entspringend, religiös überhöht durch die vorgeschaltete Messe, legitimiert durch den Verweis auf die Geschichte. Dass die Parade in diesem Jahr gerade die angestammten Viertel der frankokanadischen Mittel- und Oberschichten durchquerte, weist darauf hin, wer innerhalb der frankokanadischen community die Deutungsmacht innehatte und den symbolischen Eroberungsprozess steuerte. Die miteinander verknüpften Vergangenheits- und Stadtrauminterpretationen der Träger dieser Feierlichkeiten zeugten dabei von einem Selbstverständnis, das im katholischen Glauben und der französischen Abstammung fundiert war. Nicht nur konnte die SSJB demonstrieren, dass sie mit großem Pomp und Massenandrang katholische Zeremonien an dem Ort feiern konnte, der einen essentiellen Teil der Montréalité de Montréal ausmachte und für Macht in der Stadt stand. Zumindest temporär konnte sie auch die Bedeutung des Mont Royal als anglophonen Elitenraum verändern und ihn umdeuten: In der imagination urbaine der Stadt konnte er sich langsam als traditionell richtiger Ort für die Feiern des 24. Juni, des frankokanadischen Nationalfeiertags, festsetzen. Allerdings gilt es dabei, zwischen den unterschiedlichen Bereichen des Mont Royal zu differenzieren.143 Was die frankokanadische community mit ihrer Feier in Besitz nahm, das war primär der östliche Fuß des Berges, der Teil des Mont Royal, der gemeinhin Fletcher’s Field/Ferme Fletcher genannt wurde (Abb. 35). In den Festivitäten zum 24. Juni 1924 konnte die SSJB durch die Wahl genau dieses Ortes an frühere Feierlichkeiten anknüpfen, die ebenfalls hier stattgefunden hatten und in ethnischer und konfessioneller Hinsicht nicht gerade als neutral zu bezeichnen sind. 1915 etwa hatte Mgr Gauthier dort eine große Freiluftmesse zelebriert, an der 142 Robert S. Michaelsen, „Dirt in the Court Room: Indian Land Claims and American Property Rights“, in: David Chidester and Edward T. Linenthal (eds.), American Sacred Space, 55–56 weist auf die koloniale Praxis hin, Eroberungsansprüchen durch symbolische Akte Ausdruck zu verleihen, und zeigt ihre Fortsetzung in heutigen Ritualen auf, wie etwa Armstrongs Hissen der amerikanischen Flagge auf dem Mond. 143 Côté, „L’érection de la croix“, 63 betont zwar den Aspekt der Visibilität des Kreuzes als franko-kanadisches Nationalsymbol im Raum der Stadt, differenziert aber leider nicht genau zwischen den unterschiedlichen Bereichen des Mont Royal.

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Abb. 35  Fletcher’s Field, der dem Mont Royal vorgelagerte flache Teil des Parks (Stadtplan von 1931).

Abb. 36  Panoramaansicht der Freiluftmesse des 21. Eucharistischen Kongresses von 1910 am Fletcher’s Field.

etwa 50 000 Menschen teilnahmen, um das 300jährige Jubiläum der ersten Messe auf der Insel von Montreal zu begehen.144 Auch der 24. Juni 1918 wurde am selben Ort mit einer Messe gefeiert.145 Den Referenzpunkt schlechthin stellte jedoch der 144 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 257. 145 Ebd., 284. Zwischen 1918 und 1923 scheinen die 24. Junifeiern nicht so großartig angelegt gewesen zu sein, zum Teil aus finanziellen Gründen: vgl. ebd., 306.

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internationale eucharistische Kongress von 1910 dar, zu dem sich Erzbischöfe aus der ganzen Welt sowie Mgr Vincenzo Vanutelli, Legat des Papstes, in Montreal eingefunden hatten.146 (Abb. 36) In den Kommentaren der Presse zum 24. Juni 1924 wurde immer wieder auf dieses Ereignis Bezug genommen, das als Inbegriff des Erfolgs für die franko-katholische community galt. Gerade die SSJB war an den Vorbereitungen aktiv beteiligt gewesen. Nostalgisch verklärt konnte Robert Rumilly 1975 in seiner Geschichte der SSJB schreiben: „Le Congrès ainsi préparé est absolument triomphal. La ville est décorée à profusion. Les autorités civiles suivent les cérémonies. Il semble que la population tout entière soit catholique, intensément catholique, jusqu’au dernier homme.“147 Während des eucharistischen Kongresses war allerdings auch klar geworden, dass es für einige der beteiligten Frankokanadier nicht lediglich um Katholizismus ging, sondern vielmehr um einen katholisch fundierten ethnischen Nationalismus. Vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen anglophonen (irischen) und frankophonen Kirchenoberen in Ontario um die Stellung der französischen Sprache an den konfessionellen Schulen, rief der Erzbischof von Westminster, Mgr Francis Bourne, in einer Rede die frankophonen Katholiken dazu auf, um der katholischen Einheit in Nordamerika willen nicht mehr auf ihr Sprachrecht zu pochen. Solange nicht primär die englische Sprache, die englische Kultur dem Katholizismus diene, könne die Kirche ihre Botschaft nicht adäquat in Nordamerika vermitteln. Let me sum up what I mean: God has allowed the English tongue to be widely spread over the civilised world, and it has acquired an influence which is ever growing. Until the English language, English habits of thought, English literature – in a word the entire English mentality is brought into the service of the Catholic Church, the saving work of the Church is impeded and hampered.148

Daraufhin hielt Henri Bourassa eine flammende Gegenrede, in der er das Postulat der sprachlichen Assimilation und der anglo-irischen Dominanz innerhalb der katholischen Hierarchie energisch zurückwies. Bourassa befürchtete, dass ein Verlust der Sprache den Verlust eines nationalen Gefühls und damit den Untergang des Glaubens bedeutete. Für ihn wie für viele Frankokanadier bildeten Katholizismus und Frankophonie eine unzertrennliche Einheit. Gerade der Congrès eucharistique

146 Vgl. „Une inoubliable procession“, in: La Presse 25.6.1925. 147 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 213. 148 XXIe Congrès Eucharistique International, Montréal 6–11 Septembre 1910 (Montreal: Librairie Beauchemin, 1911), 153, Archives de l’Archevêché de Montréal. Zum Konflikt zwischen anglo- und frankophonen Katholiken Sylvie Lacombe, „A Brief Overview of French Canadian Nationalism in the 19th Century“, www.ifs.csic.es/practica/estlaico/ lacombe.pdf, 11–13, Stand 14.5.2007.

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von 1910 stand für diese Verbindung.149 Man zeigte Loyalität zum Vatikan, ohne allerdings die ethnisch begründeten Ansprüche zu negieren. Die Zeremonien rund um die Segnung des Kreuzes 1924 wurden also über den Ortsbezug in die Nachfolge einer Veranstaltung gestellt, die die Verbreitung des katholischen Glaubens in der Stadt ebenso demonstriert hatte wie ein in der ethnischen Herkunft fundiertes franko-katholisches Selbstbewusstsein. Fletcher’s Field am Fuß des Mont Royal transportierte diese Bedeutungen, die durch die Feierlichkeiten vom 24. Juni 1924 wiederum verstärkt wurden. Die frankokanadische Bevölkerung der Stadt hatte so ein Stück des Mont Royal für ihre symbolischen Zwecke belegt, was keine Selbstverständlichkeit war: Die meisten großen Feiern der SSJB und anderer frankophoner Organisationen fanden üblicherweise im Parc Lafontaine statt.150 Fletcher’s Field allerdings war nicht der Gipfel des Berges, und es gehörte auch nur peripher zum Herzstück des anglophonen Territoriums am Berg, dem Mount Royal Park. In der Tat wurde diese offene Fläche je nach Interessenslage manchmal als Teil des Parks betrachtet, manchmal aber auch als angrenzender, eigenständiger Ort, wie schon die Existenz eines eigenen Namens andeutet. Als sie gegen die UdeM am 149 XXIe Congrès Eucharistique International, Montréal 6–11 Septembre 1910 (Montreal: Librairie Beauchemin, 1911), 161–67, Archives de l’Archevêché de Montréal. Ausführlicher dazu Bourassas 1918 publizierte programmatische Broschüre La langue gardienne de la foi (Montreal: Bibliothèque d’Action française, 1918). Vgl. Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 55–58. Der liberale Politiker Henri Bourassa, der unter dem Premierminister Wilfrid Laurier 1896 Abgeordneter in der Chambre des communes war, verließ 1899 den Parti libéral du Canada, da er Lauriers großbritannienfreundliche Politik als zu imperialistisch empfand. Zusammen mit dem Journalisten Olivar Asselin gründete er 1903 die Ligue nationaliste, deren primäres Ziel eine größere Autonomie Kanadas gegenüber dem Britischen Empire war. Kern des kanadischen Nationalismus war für Bourassa die ethno-kulturell gedachte „dualité des races“ – also der Anglo- und Frankokanadier –, deren beider Sprachen, Konfessionen und Kulturen die kanadische Besonderheit ausmachten. Daher sollten sie gleichberechtigt nebeneinander existieren und die konfessionellen Minderheiten in den Provinzen das in der Verfassung von 1867 festgelegte Recht ausüben können, eigene Schulen zu führen. Von einem auf dieser Dualität begründeten kanadischen Patriotismus versprach sich Bourassa, dass beide Ethnizitäten einander respektierten und keine von der anderen assimiliert würde. Zu Bourassa allgemein und dem Congrès von 1910 Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 25–30, 55–58; Mann, Lionel Groulx, v.a. 153–56; zur Untrennbarkeit von Katholizismus und Frankophonie in Kanada seit den 1840er Jahren Yvan Lamonde, Allégeances et dépendances: Histoire d’une ambivalence identitaire (Québec: Nota Bene, 2001), Kapitel 5; Lacombe, „A Brief Overview of French Canadian Nationalism in the 19th Century“, 5–6. 150 „Lafontaine Park, by virtue of having served as the focus of celebrations since the beginning of the century, had become entrenched as a hallowed national site.“ Gordon, Making Public Pasts, 160.

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Mont Royal protestierten, schlossen die anglophonen Parkgruppen Fletcher’s Field in ihre Definition des Mount Royal Park mit ein – nur so konnten sie im Namen des Mountain Park und der sich dort erholenden Bevölkerung die UdeM abwehren, deren Grundstück an das vom breiten Publikum besonders beliebte Fletcher’s Field angrenzte. Andererseits betrachteten sie Fletcher’s Field als abgetrennten Ort und sahen in diesem flachen Teil des Parks ein willkommenes Auffangbecken für diejenigen, die sie möglichst von den unberührten, einsamen, höher gelegenen Partien des Berges fernhalten wollten.151 Diese Grünfläche nahm damit in gewissem Sinn eine Grenzfunktion ein zwischen dem Mont Royal und der Stadt, als eine Art Pufferzone zwischen dem sacred space des Berges und den dicht besiedelten angrenzenden Stadtteilen, was sich auch formal wiederfindet: Einerseits ein open space wie der Berg, war sie andererseits doch ins lineare urbane Straßenraster eingefügt. Diese Übergangsfunktion hatte Frederick Law Olmsted bereits in seinem ursprünglichen Design festgelegt (Abb. 37). Er verstand Fletcher’s Field als graduellen Übergang vom Berg zur Stadt und war wenig begeistert, als man um 1900 die Avenue du Parc nördlich der Avenue des Pins verlängerte und so eine geradlinige, offenkundige Bruchstelle zwischen dem Park und Fletcher’s Field schuf.152 Dennoch behielt das Feld seinen Cha-

Abb. 37  Frederick Law Olmsted, Plan des Parks am Mont Royal, 1877.

151 Vgl. Michèle Dagenais, „Entre tradition et modernité: Espaces et temps de loisirs à Montréal et Toronto au XXe siècle“, in: Canadian Historical Review 82:2 (June 2001), 314. 152 Vgl. Peter Jacobs, „La Montagne magique“, in: La Montagne en question, Publication du Groupe d’intervention urbaine de Montréal (Montréal: BANQ, 1988), 47.

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rakter als Zwischenort zwischen der Alltagswelt des Urbanen und dem als ländlich imaginierten Berg, zumal durch die Art und Weise seiner Nutzung. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Fletcher’s Field ein wenig attraktiver Ort, der sich alljährlich im Frühling in einen wahren Sumpf, Auffangbecken des Schmelzwassers vom Mont Royal, verwandelte. Erst um 1900 wurde es planiert, und um 1915 richtete die Stadt die ersten Fußball- und Baseballfelder sowie Tennisplätze und Picknickstellen ein.153 Fletcher’s Field war viel eher ein neighborhood park154, ein urbaner Erholungsort, der einem neueren Verständnis von Freizeit gemäß von den Besuchern aktiv genutzt werden sollte, anders als ein der Kontemplation dienender landscape park. Als rekreative Dienstleistung der Stadt für ihre Bürger aber war es ein Ort für die Massen, gerade für die Vielzahl der Immigranten und Frankophonen aus den östlich angrenzenden Vierteln um den Boulevard Saint-Laurent. Die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht, die in weiten Teilen mit der ethnischen kongruent war, bestimmte, in welchem open space man am ehesten Erholung suchte. Insofern war die Inbesitznahme dieses Ortes durch die katholischen Zeremonien eine Art vorsichtige Annäherung an den Mont Royal von Osten her, eine symbolische Praxis, die der rekreativen entsprach, indem sie das anglo-elitär konnotierte Territorium nur peripher berührte.

Abb. 38  Freiluftmesse anlässlich des Eucharistischen Kongresses von 1910 am Mont Royal.

153 Conrad Archambauld, „Fletcher’s Field/Parc Jeanne-Mance: Notes historiques“, 1942, AVM, DP, B258-4.96; Jacobs, „La Montagne magique“, 20. 154 Zum Konzept des neighborhood park Michèle Dagenais, „Inscrire le pouvoir municipal dans l’espace urbain: la formation du réseau des parcs à Montréal et Toronto, 1880– 1940“, in: Canadian Geographer 46:4 (2002), 355–58.

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In den bildlichen Repräsentationen des eucharistischen Kongresses von 1910 jedoch kommt der angelegte Anspruch auf Eroberung des Berges zum Ausdruck, ohne dass an eine physische Besetzung gedacht war. Keine Darstellung des Kongresses kommt ohne den Mont Royal als Kulisse aus. Ein in den Zeitungen verbreitetes Bild zeigt die am Fletcher’s Field errichteten Altäre mit ihren prachtvollen Baldachinen, die so groß waren, dass sie in den Darstellungen höher scheinen als der Berg selbst, obgleich an dessen Fuß gelegen (Abb. 38). Gleichzeitig wirken die architektonisch aufwendigen Altäre wie eine Barriere zwischen der sich links im Bild drängenden Menschenmasse und dem in den Hintergrund gerückten Mont Royal. Der Blick des Betrachters wird von den Zuschauern am linken Bildrand diagonal nach rechts die Treppen zum Hauptalter hinaufgelenkt und von da aus an dessen Baldachin senkrecht empor – geradewegs über die Bergspitze hinaus; die skyline des Berges wird hier von der Bekrönung des Baldachins dominiert. Auf den Berg selbst konnte die Menschenmenge zwar nur schlecht gelangen, aber, so suggeriert diese Darstellung, sie konnte von Fletcher’s Field aus höher hinaus mittels des katholischen Glaubens. Eine ähnliche Komposition strukturiert auch die fotografischen Repräsentationen des Kongresses, in denen die Würdenträger von Osten her geradezu auf den dem Berg vorgelagerten Festaltar zumarschieren (Abb. 39).

Abb. 39  Prozession zum Altar am Mont Royal, Eucharistischer Kongress von 1910.

Mit dem Congrès Eucharistique von 1910 hatte zudem die diskursive Inbesitznahme des Fletcher’s Field begonnen: Die ACJC forderte anlässlich des Kongresses die Umbenennung in Parc Jeanne-Mance, zu Ehren der Gründerin des ersten Hôtel-Dieu, das an das Fletcher’s Field angrenzte. Mit den Jahren bürgerte sich diese Bezeichnung ein,

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die erst 1990 offiziell anerkannt wurde. Wer hier die Deutungshoheit beanspruchte, war damit nur allzu offenkundig; gleichzeitig sprach der neue Name der freien Fläche einen eigenständigen Charakter als Park zu und grenzte sie vom Parc Mont Royal ab.155 Sicher spielten 1910 wie auch 1924 Platzgründe eine Rolle bei der Wahl des Ortes; in den bewaldeten Teilen oder auf dem Gipfel hätte man nur schwerlich eine Messe mit 50.000 Besuchern zelebrieren können. Dennoch gab es einen zentralen räumlichen Unterschied zwischen dem vielgepriesenen eucharistischen Kongress von 1910 und den Feiern des 24. Juni 1924: Der Gipfel wurde 1924 durch die Segnung des Kreuzes physisch miteinbezogen. Fast wirkt das wie eine räumliche Steigerung der früheren Feierlichkeiten, als würden die symbolischen Handlungen von Fletcher’s Field nun tatsächlich übergreifen auf den Berggipfel und Anspruch auf ihn erheben, sowohl durch die temporäre Segnungszeremonie als auch durch das dauerhafte Kreuz. 1910 hingegen war auch das physische Besetzen des Gipfels noch imaginär und auf visuelle Repräsentationen beschränkt geblieben – wie eine Erinnerungspostkarte des Kongresses zeigt, auf der Jesus dargestellt ist, der von der Aussichtsplattform des Berges herunter die Stadt segnet (Abb. 40). Bezeichnenderweise ist die Figur an den

Abb. 40  Christus segnet den Ostteil der Stadt von der Aussichtsplattform des Mont Royal aus, Erinnerungspostkarte an den 21. Eucharistischen Kongress von 1910.

155 Etwa „Une inoubliable procession“, in: La Presse 25.6.1925. Zur Geschichte der Benennung dieses Teils des Mont Royal Ville de Montréal, Service de l’Urbanisme, Les rues de Montréal: Répertoire historique (Montréal: Méridien, 1995), 251. Conrad Archambauld, „Fletcher’s Field/Parc Jeanne-Mance: Notes historiques“, 1942, AVM, DP, B258-4.96.

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linken Rand des Aussichtspunktes gerückt. Christus segnet so in Richtung Fletcher’s Field, und damit in Richtung des östlichen, frankophonen Teils der Stadt. Auch das Kreuz zeigte 14 Jahre später in die gleiche Richtung und schuf so eine visuelle Verbindung zwischen dem Gipfel und dem Ostteil der Stadt. Es beherrschte fortan physisch den Mont Royal und damit den einen Endpunkt der Blickbeziehung zwischen summit und Stadt. Wer den Mont Royal sah, sah auch das ihn dominierende Kreuz. Und wie bei der visuellen Verbindung zwischen Gipfel und Stadt konnte der Blick von oben nach unten mitgedacht werden. In einem Atemzug nannte Morin, Präsident der SSJB, die erhabene Position des Kreuzes mit dem Blick vom Gipfel: „[La Croix] s’élève à sept cents pieds dans les airs, et du sommet l’oeil embrasse ce panorama idéal avec la ville immense rayonnant à perte de vue […].“156 Das Kreuz besetzte den Ort, an dem man einen commanding view über die Stadt hatte. Es dominierte sichtbar den Mont Royal und Montreal und sollte andersherum Stadt und Land erleuchten: „Bientôt“, schrieb Morin, „sur le point culminant de notre MontRoyal, qui fait l’admiration de tous les visiteurs, s’élèvera une magnifique croix qui jettera sa lumière sur tout le pays. […] Elle rappelera [sic] aux touristes jusqu’à quel point nous avons conservé notre religion, nos traditions et notre langue puisque ces trois choses sont si intimement unies entre elles.“157 Dieses Kreuz konnte aufgrund seiner Entstehungsgeschichte, seiner räumlichen und historischen Bezüge sowie seiner Einordnung in eine Reihe symbolischer Inszenierungen als franko-katholisches Monument gelesen werden und Montreal damit nach außen hin als eine ebensolche Stadt markieren. Ein Kreuz statt „crowds of common people“

Für die frankokanadische community war es umso bedeutsamer, den Gipfel physisch mit einem Symbol zu beherrschen, als ein großer Teil der Frankokanadier – die primär im Osten der Stadt ansässigen Arbeiterschichten – selbst nur schwerlich auf die Spitze des Mont Royal gelangen konnte. Der Zugang zum Gipfel war nicht zu allen Zeiten für alle möglich; öffentliche Debatten um die Zugangswege, teilweise sehr polemisch in der Tagespresse ausgetragen, prägten die Diskussion um den Park, seitdem dieser 1876 für das Publikum eröffnet worden war.158 Zunächst konnte man entweder zu Fuß oder mit dem carriage auf den Gipfel des Berges gelangen. Bereits in den 1880er Jahren forderten einige Kommentatoren wie auch Politiker, dass der Park der breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden solle, die weder das 156 Victor Morin in La Presse, 24.12.1924, AVM, DP, B259-26.13. 157 „La fête nationale“, in: La Presse 25.6.1924. 158 Für die Zugangsdebatten folge ich weitgehend der Argumentation von Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 308–21, die die Tramdebatten am Mont Royal ausführlich analysiert hat, v.a. die von 1903, wobei Dagenais’ Analyse hier differenzierend ergänzt wird. Ausführlicher zum Konflikt von 1895 Schmidt, „Domesticating Parks“, 35–48.

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Geld hatte, sich eine Kutsche zu leisten, noch die Zeit, den Weg zu Fuß zu bewältigen.159 1884 wurde zwar ein schon länger geplanter incline railway eingerichtet, der die Besucher am Osthang des Berges von einer Station Ecke Duluth und Park Avenue direkt auf den Gipfel beförderte und bis 1918 in Betrieb war.160 Allerdings stellte auch diese Lösung die Befürworter eines für alle erreichbaren Zugangs nicht zufrieden, da der incline railway nicht in das örtliche Straßenbahnnetz integriert war und man dementsprechend einen weiteren, relativ teuren Fahrschein lösen musste.161 In den 1890er Jahren unterbreitete daher die Montreal Street Railway Company der Stadtverwaltung den Plan einer Straßenbahnlinie auf den Berg hinauf. Sofort gingen einige prominente Bürger der Stadt auf die Barrikaden. Der Protest wurde primär von der anglo-protestantischen Elite getragen, die am Berg zu Hause war. Anglophone Ladies gründeten die Parks Protective Association, aus der dann 1902 die im Streit um den UdeM-Campus besonders aktive Montreal Parks and Playgrounds Association (MPPA) hervorging. In den folgenden Jahren, bis zum Baubeginn der Tram 1927, wurden erbitterte, emotional aufgeladene Kämpfe ausgefochten; das Thema brodelte die gesamte Zeit weiter und kochte sporadisch immer wieder hoch. Dabei zog sich ein Grundmuster durch die Debatten. Die Befürworter der Tram, vor allem Politiker wie die Stadträte J. Doris Couture und Frederick E. Nelson, die 1903 die Initiative ergriffen, oder der populistische Bürgermeister Médéric Martin, der sich ab 1916 dafür einsetzte, polemisierten gegen den elitären Charakter des Parks. Dieser könne durch eine günstige Straßenbahnverbindung für die gesamte Bevölkerung geöffnet werden. Schließlich sei es ja ein öffentlicher Park und nicht nur der Garten der Reichsten; gerade die Ärmsten der Stadt hätten die Erholung, die der Park biete, am dringendsten

159 Forderungen nach einem „elevator of some sort“: „The Mountain Park“, in: Herald 14.5.1884. Der Herald berichtete im gleichen Jahr von einer Besichtigung des Parks durch die Stadträte, bei der einige Abgeordnete gefordert hatten, den Park für die Allgemeinheit besser zugänglich zu machen. „The Mountain Park“, in: Herald 18.8.1884. Die gleiche Zeitung bemerkte auch, dass der Park doch eigentlich eine demokratische, nicht eine aristokratische Institution sein sollte, „Mount Royal Park“, in: Herald 5.8.1886. 160 Jacobs, „La Montagne magique“, 17; Cécile Grenier et Dinu Bumbaru, „Le Mont Royal“, in: La Presse Plus (1985), 7–8, AVM, DP, B258-3.64; vgl. auch Phillip Mason, „Man Conquers Mountain: A History of Montreal’s Mountain Park Railway“, in: Canadian Rail 209 (April 1969), 108–112; Schmidt, „Domesticating Parks“, 36–37. Frederick Law Olmsted selbst hatte ursprünglich einen „inclined lift or elevator“ empfohlen, „to save feeble persons and young children the hard toil of its ascent.“ Frederick Law Olmsted, To the Commissioners of Mount Royal Park, 21.11.1874, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS3, D1, Box 121-03-07-02. 161 „Mountain Park for the People“, in: Herald 1.5.1899; „The Mountain for All the People“, in: Herald May 1899, AVM, DP, B258-2.50.

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nötig.162 Die Tramkritiker hielten dem entgegen, dass gerade die rekreative Qualität des Parks durch die Anwesenheit einer Bahn massiv gestört werde und die Ärmsten so erst recht keine Erholung im Park finden könnten.163 Nicht nur fürchteten sie den Lärm der Bahn, sondern sie wiesen auch auf die Gefahr hin, dass sich infolge der Tram allerlei unmoralische und kommerzielle Vergnügungseinrichtungen im Park etablieren würden. Die Tram passte einfach nicht in ihr Konzept eines Freizeitraumes. Keinesfalls war dies nur Rhetorik; das Parks Committee der MPPA beispielsweise zog allen Ernstes bei anderen Institutionen Erkundigungen über den Freizeitwert von Straßenbahnen ein. „Do you consider there is any recreational value in Trams?“164 fragte das Komitee etwa die – fälschlicherweise für Experte in diesem Bereich gehaltene – New Yorker Russell Sage Foundation. Das ernsthafte Bemühen um einen möglichst hohen Freizeitwert des Parks beruhte aber auf normativen Grundannahmen darüber, worin dieser Wert bestand: One of the most attractive features of Mount Royal is that it enables the citizens to attain sylvan solitudes without going out of the city. You can get as far from the noise and reek of humanity and as near to Nature on the Mountain as you can in the depths of the Laurentians. But if commercialized amusements were once permitted to obtain a foothold, goodbye to solitude and nature too. For the low trilling of a bird’s song there would be the abominable screech of that atrocity, the steam calliope; for the chattering of the little grey squirrels, the hoarse roar of that side-show ,barker‘, and for the murmur of wind through the tree tops, the squeaking and clatter of mechanical roundabouts and swinging boats, to say nothing of the bellowing roar of the vendor of peanuts and the person with toy balloons. Let us have our Mountain free from all discordant elements, by all means. It is our most precious inheritance, and its beauties are far too rare within the limits of a great city to be risked for the sake of mere financial gain. […] both wisdom and propriety dictate their reservation from any inharmonious influences. It would be short of a desecration to mar the peaceful atmosphere of the Mountain top. As it stands today, it is something unique in this Dominion. No other city has such a a place of beauty within its boundaries, where mankind may withdraw and attain touch with the infinite. To permit of anything that would in any 162 „The Mountain’s Friends“, in: n.p., n. d. (1903), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917“; „Mederic takes slam at local millionaires“, in: Daily Mail 21.4.1916; „Objector’s views show prejudice“, in: n.p., n.d. (1916?), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook 1900–1926“; „Force tram line to mountain says mayor“, in: Daily Mail 17.5.1917. Vgl. Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 314– 16. 163 Vgl. Lady Drummond, Lady Hingston et al., Petition to the Committee of the Mount Royal Park, 30.12.1895, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS7, D13, Box 121-03-08-01. 164 Parks Committee, MPPA, to Russell Sage Foundation, 10.12.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA: Correspondence 1917–1924“.

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measure tend to bring the Mountain summit nearer the commonplace would be a civic crime.165

Einsamkeit, Natur und eine nur von Wind und Vogelgesang durchbrochene Stille, das waren die Eigenschaften, die die Gegner der Tram am Mont Royal gegeben sahen. Aufgrund dieser Merkmale stellte der Berg für sie einen idealen Zufluchtsraum inmitten der Stadt dar. Indem sie den Berg aber mit diesen positiven Eigenschaften konnotierten und eine Dichotomie zwischen Berg und Stadt konstruierten, schrieben sie der Stadt die negativen Merkmale zu, vor denen man flüchten wollte. Den Park des Mont Royal überhöhten sie als sacred space, als Natur mit großem N auf einem Berg mit großem M, in der man sich in die Unendlichkeit versenken konnte und die von einer grundlegenden Harmonie der Dinge gekennzeichnet war. Diskordante, unharmonische Elemente mussten ferngehalten werden – interessanterweise verkörperten vor allem menschlicher und maschineller Lärm sowie Gestank diese Unstimmigkeiten. Letztlich befürchteten die Gegner den Einzug der Urbanität mit ihrem Kommerz und privaten Interessen, aber auch mit ihren Menschenmassen unterschiedlichster sozialer und ethnischer Herkunft und mit ihrem Hauptcharakteristikum, der „densité de l’espace“166, in die von ihnen so imaginierte wilde, unberührte Zufluchtsstätte. Dabei mussten sie einen schwierigen Balanceakt vollziehen: Während sie die Einsamkeit des Parks und deren wohltuende Wirkung hervorhoben, mussten sie dennoch den Park als gut besucht darstellen, da ein leerer Park Wasser auf den Mühlen der Trambefürworter gewesen wäre.167 Ganz klar aber waren für die Tramgegner dicht besiedelte, stark frequentierte Orte mit sozial schwächeren Schichten assoziiert, Raum zu haben hingegen stand für Wohlstand. Wenn man sich schon im öffentlichen Raum bewegte, dann wollte man nicht dicht an dicht mit anderen dort sein, und schon gar nicht mit den Ärmeren. Wie ein Kritiker der Parkverteidiger in einem Leserbrief treffend feststellte, als 1903 eine hochkarätige Abordnung von Bürgern im Rathaus erschienen war, um gegen die Tram zu protestieren: [Our deputation of west enders] denounced the unsightly trolley cars […] but none alluded to the people the cars would bring; to invade with their romping and noise and orange peel and flying fragments of old newspapers the solitude of the sacred spot. Yet it is surely obvious to every candid mind that that is the real difficulty with our aesthetic friends of the West End. I remember a conversation I had, some years ago, with a lady who was prominent in opposing a similar attempt to ,desecrate‘ the park. She had the courage and candor to say: ‘The cars would bring such crowds of common people!’ We might as well be honest about 165 „Preserve the Park“, in: Star 10.4.1922. 166 Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 310. 167 Vgl. Statement for Senator Dandurand regarding Mt. Royal & St. Helen Island, ca. 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA Correspondence 1917–1924“: „We deny that the Park is empty […]“.

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it. I am a West Ender myself. We don‘t want crowds of common people there, if we can eliminate them without offence. It is not the cars, but their passengers.168

Die Straßenbahn war in den Augen ihrer Gegner, die als West Enders auch geographisch im Stadtraum verortet wurden, eine Art Chiffre für eine bestimmte Vision des öffentlichen Stadtraums, die Raummangel und Unterschichten assoziierte und als bedrohliche Aspekte des Industriezeitalters stigmatisierte. Die belebten Räume der Metropolen, in denen sich vielfältige Interessen und Weltanschauungen aneinander rieben, in denen Brüche und Fragmentierungen hervortraten und in denen sie selbst vor lauter „diskordanter Stimmen“ kaum mehr die Deutungshoheit innehatten, mussten den anglo-protestantischen Eliten als äußerst unwillkommene Folge des modernen Fortschritts erscheinen. Die „common people“ stellten potentiell eine „menace to public order“169, verstanden als moralische Bedrohung der herkömmlichen Ordnung, dar. Das von den selbsterklärten Parkverteidigern beschworene Bild eines Ortes, an dem in transzendentalistischer Manier das Individuum allein in der Natur mit dem Unendlichen verschmelzen würde170, stand dagegen für eine Gesellschaftsordnung, in der jeder einen sicheren Platz in einem großen, harmonischen Ganzen innehatte. Im Rahmen eines festgelegten Kanons von Moralvorstellungen und Verhaltensregeln war dem einzelnen Individuum Raum gegeben zur freien Entfaltung. Die Verteidigung des Mont Royal als sacred space wirkt wie ein letzter Versuch, eine romantisch inspirierte und gleichzeitig an handfeste gesellschaftliche Vormachtansprüche geknüpfte viktorianische Gesellschaftsordnung zu bewahren.171 In den Debatten um den Zugang zum Berg ging es folglich nicht nur um unterschiedliche Vorstellungen von Freizeitgestaltung, sondern auch um das ihnen zugrundeliegende Verständnis von Gesellschaftsordnung. Dabei stand nichts weniger als die Deutungshoheit über eine landmark der Stadt auf dem Spiel. Auf dem Mont Royal bemühten sich die alten 168 „The Mountain Park: A Critic of Those Who Object to the Street Railway’s Entrance“, Letter to the Editor, in: Gazette (Brief vom 6.2.) 1903, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917“. Der Verfasser schlägt vor, die Wohlhabenden mögen doch den Park an den Wochenenden dem gewöhnlichen Volk überlassen, da sie ja dafür unter der Woche im Park unter sich sein könnten. 169 So formulierte es Lord Shaughnessy in einer Petition an den Premierminister von Québec Taschereau 1922. Lord Shaughnessy, Brief an Hon. L. A. Taschereau, 15.11.1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA Correspondence 1917–24“. 170 Vgl. auch den Leserbrief von Elizabeth Burnham aus Calgary, „The invasion of Mount Royal“, Letter to the Editor, in: Witness ?.1.1903 über die Atmosphäre am Mont Royal: „It is whilst under the influence of such scenes and conditions that man is brought closer to God. It is that peaceful quietude and absence of mercantile life which lends that indescribable charm to the scene and surroundings.“ 171 Zur „desecration“ von „sacred space“ vgl. Chidester and Linenthal, „Introduction“, in: dies. (eds), American Sacred Space, 2.

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Eliten, eine Art Enklave zu schaffen, in der die eigenen Ordnungskonzepte herrschten, die als vom Untergang bedroht wahrgenommen wurden. Dadurch erhofften sie sich gleichzeitig, die Macht, den öffentlichen Raum nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, am symbolischsten Ort der Stadt demonstrieren zu können – ganz wie im Konflikt um den UdeM-Campus. Letztlich waren diese emotional aufgeladenen Debatten Ausdruck innerstädtischer Machtkämpfe zwischen neuen und alten Führungsschichten, in denen die Bevölkerungsmassen von beiden Seiten instrumentalisiert wurden. Einige frankophone und anglophone Arbeiterorganisationen sprachen sich dezidiert gegen die Tramlinie aus, allerdings überwiegend, weil sie das Monopol der Montreal Street Railway Company befürchteten. Stattdessen forderten sie eine von der Stadt selbst betriebene Straßenbahn.172 In den 1920er Jahren betonten vor allem die franko-katholischen Gewerkschaften, dass sie einer Tramlinie zum Mont Royal die Errichtung neuer Parks im Norden und Osten der Stadt vorzögen.173 Die vielzitierten frankophonen Massen hingen offenbar der zeitgemäßen Konzeption des neighborhood park an und zogen Freizeitflächen in ihren eigenen Vierteln einem wie auch immer gearteten Zugang zum prestigeträchtigen Berggipfel vor. Weniger als ein Konflikt zwischen den Eliten und den breiten Massen war der Straßenbahnstreit ein Konflikt innerhalb der Führungsschichten. Dabei stellte die ethno-kulturelle Trennlinie nicht die Hauptbruchstelle dar, sie überlappte sich lediglich weitgehend mit der Differenz zwischen neuen und alten Oberschichten, zwischen zwei Gruppen, die ihren Führungsanspruch jeweils unterschiedlich legitimierten. Die frankophonen politischen Eliten stammten vor allem aus den Mittelschichten, sie hatten sich entweder in Handel und Industrie hochgearbeitet oder gehörten zu den professions libérales. Sie gründeten ihre Macht auf ihre Stellung in den einzelnen Stadtteilen. Unterstützt wurden sie im Kampf für die Tram von der Chambre de Commerce – dem Organ der frankophonen Geschäftsleute – wie von vielen anglophonen Stadträten.174 Das anglo172 Petition of the Order of the Knights of Labor, 8.1.1896, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS7, D13, Box 121-03-08-01; vgl. Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 317; Conseil Central des Unions Canadiennes de Montréal, Brief an das Comité Exécutif de la Ville de Montréal, 10.2.1926, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS7, D12, Box 121-03-08-01; „Oppose tram line on Mount Royal“, in: Star 22.1.1926 führt auch das Montreal Trades and Labor Council als Gegner der Tram an. 173 Conseil Central des Syndicats Catholiques et Nationaux de Montréal, an J. A. Brodeur Président du Comité Exécutif de Montréal, 13.3.1926, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS7, D12, Box 121-03-08-01. Ähnlich das Comité parioissial de l’Immaculée Conception, vgl. „The Mount Royal Tramway“, Letter to the Editor, in: Gazette 13.3.1926. Die Tageszeitung La Patrie vertrat dieselbe Ansicht, „Le tramway de la montagne“, in: La Patrie 11.3.1926. 174 Vgl. „Small Percentage of Montreal’s People Go to Top of Mountain“, in: Standard 26.11.1922. Außer J. J. Creelman, Abgeordneter von St-André, dem wohlhabenden

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phone Board of Trade hingegen änderte im Laufe der Jahre seine Haltung. 1895 noch vehementer Gegner der Tram ganz im Sinne der MPPA, befürwortete es den Plan 1926, da man nun die technischen Möglichkeiten habe, eine Bahn zu bauen, die die Schönheiten des Parks nicht zerstöre.175 Ähnlich argumentierte in den 1920er Jahren eine Reihe von Organisationen, etwa die aus mehrheitlich anglophonen, progressivistischen Reformern bestehende City Improvement League, die vormals gegen die Tram gewesen war. Der technische Fortschritt schien die Bewahrung der natürlichen Oase zu ermöglichen: So lautete der von Planungseuphorie und optimistischem Machbarkeitsglauben geprägte Konsens der 1920er Jahre, der letztlich dazu führte, dass die Tramlinie 1930 eingeweiht werden konnte.176 Gegner der Tram waren von vornherein die traditionellen Wirtschaftseliten, unter denen es lediglich wenig Frankokanadier gab. Diese wenigen aber schlugen sich voll und ganz auf die Seite der anglophonen Kritiker, wie das Beispiel des liberalen Senators Frédéric-Liguori Béique zeigt, der neben dem Rektor von McGill, Sir William Peterson, dem anglo-katholischen ehemaligen Bürgermeister Sir William H. Hingston und vielen anderen Teil der oben genannten elitären Delegation von „West Enders“ war – und 20 Jahre später die UdeM genau gegen diese Leute verteidigen sollte.177 Dies war eine alte Oberschicht von Anwälten und Ärzten, vor allem aber von Wirtschafts- und Finanzmagnaten, die teilweise in der Politik auf nationaler Ebene Karriere gemacht hatten. Wie sich die

Stadtteil, auf dessen Gebiet der Park lag, waren alle im Stadtrat dafür. Creelman protestierte im selben Jahr vehement gegen eine Abgabe von Land an die UdeM. Die Tramgesellschaft selbst hatte bereits 1903 betont, dass die Idee einer Bahn nicht von ihr sei, sondern von „English and French aldermen“: „May not oppose line on mountain“, in: n.p. (1903), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917.“ Die Chambre de Commerce fand, dass der Park zuviel koste im Verhältnis zu den geringen Besucherzahlen, Petition der Chambre de Commerce, 8.3.1895, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS7, D13, Box 121-03-08-01. Zur sozialen Herkunft Montrealer Lokalpolitiker Paul-André Linteau, „Le personnel politique de Montréal, 1880–1914: évolution d’une élite municipale“, in: Revue d’histoire de l’Amérique française 52:2 (automne 1998), 202. 175 The Montreal Board of Trade, to His Worship the Mayor and the Aldermen of the City of Montreal, 21.12.1895, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS7, D13, Box 121-03-08-01; „Mountain tramway has approval of Board of Trade“, in: Gazette 25.2.1926. 176 Vgl. Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 318. 177 Zur Delegation von 1903 „No street cars on the mountain“, in: n.p. (1903), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917“; „They urge the city to stand firm“, in: n.p. (1903), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917“; „Une imposante délégation devant le maire“, in: n.p. (1903), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917“.

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Kontrahenten perzipierten, zeigt das in offenbar tramfeindlichen Zeitungen überlieferte Wortgefecht des Stadtrats Couture mit der Delegation von 1903: Somewhat of a scene occurred when Ald. Couture, mover of the motion to alienate Mount Royal Park, began to speak. He looked calmly about the room and then cynically remarked that he was extremely pleased to see so very many millionaires, stockbrokers, merchants and people of wealth were interested in preventing cars going up the mountain.178

„Ladies and gentlemen of leisure“ seien doch alle Protestierenden, so Couture. Daraufhin bemerkte der ehemalige Bürgermeister Hingston, er selbst sei ein „working man“ und kein „gentleman of leisure“ und zudem kein Millionär179. Couture stellte hier die Konfliktsituation in einer Rhetorik des Klassenkampfes dar, die die Gegner des Stadtrates als Oberschicht identifizierte; allerdings bleibt unklar, inwiefern die frankokanadischen Stadträte ihre eigenen Interessen als ethno-kulturell oder als sozial fundiert betrachteten. In der Öffentlichkeit wurde die Auseinandersetzung jedoch auch als eine ethnokulturelle wahrgenommen, wie der oben zitierte Begriff „West Enders“ zeigt. Der Westteil der Stadt meinte in erster Linie die wohlhabenden Eliten, war aber gleichzeitig dezidiert anglo-protestantisch konnotiert. Wenn man versucht, aus dieser komplexen sozialen und ethno-kulturellen Gemengelage und den sich offensichtlich stetig wandelnden Selbstpositionierungen und Zugehörigkeiten eine Art Kernkonflikt herauszuschälen, so scheinen sich in den Tramdebatten tatsächlich mehrheitlich frankophone, neue Eliten mit den alten, mehrheitlich anglophonen Eliten ein Gefecht geliefert zu haben – jeweils in unterschiedliche Koalitionen eingebunden. Erstere argumentierten dabei häufiger mit Klassenargumenten, da sie sich so als Vertreter der breiten Masse positionieren konnten; letztere hingegen scheuten nicht vor antifrankokanadischer Polemik zurück. Dabei griffen diese primär anglophonen Eliten auch auf den für die Identitätskonstruktion der Frankokanadier so prominenten Geschichtsdiskurs zurück und versuchten mit seiner Hilfe, die Argumente für die Tram auszuhebeln. In ihrer Petition an das Mount Royal Park Committee vom Dezember 1895 stellten die anglophonen Ladies fest, dass die Trambefürworter offenbar alle Ärmeren für zu schwach und degeneriert hielten, um den Berg hinaufgehen zu können. Gerade aus dem Mund von Frankokanadiern überrasche sie dieses Argument, und sie wandten sich in einer Reihe von rhetorischen Fragen an die frankokanadischen Befürworter der Straßenbahn: Have you forgotten the proud history of your race in this country: must we remind you of the Briton Sailors who crossed an unknown sea and planted the Lillies [of ] France on a 178 „No street cars on the mountain“, in: n.p. (1903), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917“. 179 „The Mountain’s Friends“, in: n.p. (1903), MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–259 „Scrapbook 1902–1917“.

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New Continent; of the Soldiers and peasants who held their own against odds of winters snow and summers sun, and constant attack of savage enemies; of the dauntless pioneers who following those Jesuit Fathers, became immortal by their virtues, and their courage, carried the cross and the Fleur de Lys from Gaspe to Lake Superior. To say that the descendants of heroes absolutely need or generally want a trolley car to transport them from Fletcher’s Field […] to the top of the Mountain […] – it is slander.180

Für die mehrheitlich frankophonen, neuen politischen Eliten – die selbst ja durchaus im carriage auf den Mont Royal hätten fahren können – ging es offenbar mit der Rhetorik des ‚Zugangs für alle‘ darum, den alten, zumeist anglo-protestantischen Eliten die Definitionshoheit über dieses Territorium mit all seinen Bedeutungen abzuringen und ihre politische Macht zu demonstrieren. Gleichzeitig hatten einige der vehementesten frankophonen Verteidiger der Tramlinie auch persönliche, finanzielle Interessen daran, die Tramgesellschaft zu unterstützen.181 Umgekehrt suchten die alteingesessenen Eliten ihr Territorium zu verteidigen.182 Die Unterschichten waren in diesem Konflikt ein Spielstein im Wettkampf zwischen den alten Wirtschaftseliten und den neuen politischen Eliten. Gleichzeitig aber – um auf das Kreuz auf dem Mont Royal zurückzukommen – zeigt der Auszug aus der Petition von 1895, dass sich auch die Anglophonen bewusst waren, was das historische Kreuz bedeuten konnte, nämlich nicht nur die Ankunft des white man, sondern auch der katholischen Franzosen. Mit diesem Zeichen nun belegten 30 Jahre später franko-katholische Mittel- und Oberschichten den bedeutungsgeladenen Ort, den sie als für ihre Bevölkerungsgruppe nicht zugänglich empfanden. Fast könnte man das Kreuz, das von oben herunter auf die Stadt und das Gewusel urbanen Lebens in all seiner Vielfalt blickt – „lumineuse comme un phare dans la nuit; élevant ses bras d’amour sur le peuple qui s’agite à ses pieds“183 – als eine Art Kompensation dafür betrachten, eine Art symbolischer Stellvertreter auf dem Gipfel des Mont Royal, der die skyline Montreals entscheidend prägen sollte. 3.3.3  „Unsightly poles“ und „constant persecution“: Gegen das Kreuz

Nicht alle Montrealer waren dementsprechend mit dem Kreuz auf dem Berg einverstanden. Wenn es auch keine breite Protestbewegung gab wie gegen die Statue der 180 Lady Drummond, Lady Hingston et al., Petition to the Committee of the Mount Royal Park, 30.12.1895, AVM, Fonds de la Commission des parcs et traverses VM44, S4, SS2, SSS7, D13, Box 121-03-08-01. 181 Raymond Préfontaines Anwaltskanzlei etwa vertrat die Montreal Street and Railway Company. Vgl. Schmidt, „Domesticating Parks“, 37. 182 Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 320. 183 Artikel von Victor Morin in La Presse 24.12.1924, AVM, DP, B259-26.13.

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Jungfrau Maria, so wurden doch vereinzelt kritische Stimmen laut. Ein Leserbrief an die Gazette, eine der anglophonen Zeitungen, die das Kreuz als Symbol für die Ankunft des white man gepriesen hatte, drückt den Unmut einiger nicht-katholischer Montrealer aus.184 Der Verfasser, der mit „Canadian“ signierte, wies darauf hin, dass unter den tapferen Pionieren, an deren Ankunft das Kreuz ja erinnern sollte, auch Protestanten waren, Hugenotten, wie etwa Champlain, „who sought refuge from a tyrannical power – foreign to France itself in concentration and location“, deren Glaubensgenossen in der Bartholomäus-Nacht des Jahres 1572 umgebracht worden waren. Damit war schon ein eindeutig antikatholischer Ton angeschlagen, der in den nachfolgenden Absätzen auch auf die Kreuzdebatte übertragen wurde. Gerade den Nachfahren dieser hugenottischen Pioniere, dieser frankokanadischen Christen, sei der Zutritt zur SSJB, die das Kreuz aufstellen wollte, verwehrt. Somit würden sie auch von Feierlichkeiten ausgeschlossen, die an die Pionierzeit, an die Geschichte ihrer eigenen Vorfahren erinnerten. Das Kreuz als Symbol des Leidens hätten folglich sie selbst zu tragen: The cross of constant persecution on the part of certain opposing factions in Canada to British or evangelical institutions is borne with much pain and silence by those who would see their fellow-countrymen of this province free and broader-minded, willing to have French Protestants, say, or other French-Canadians become part and parcel of what is called a national society. It was on the ‚24th of June’ – St. Jean Baptiste day – that a French Protestant of this province was picked up unconscious and bleeding from the stones hurled at him, which he received on the head and body – volley after volley – by certain citizens of French Canada who were celebrating in their way ‘the first coming of the white man’ to Canada.185

Man dürfe ebenfalls nicht vergessen, dass, wenn die Provinz Quebec nicht so probritisch sei, wie sie sein sollte, es daran liege, dass die großen Pioniere Frankreichs wie Coligny und Champlain verbannt worden seien „by order of that foreign power which is, even today, attempting to put the screws on France“186. Die 25 – 30.000 Franko-Protestanten Kanadas liebten Frankreich und hätten sich 1914 rasch zur Verteidigung Frankreichs gemeldet; gleichzeitig seien sie aber auch Anhänger Englands und britischer Institutionen, die eine wahre Freiheit für alle Christen unter dem Zeichen des Union Jack ermöglichten. Dieses Zeichen aber solle eigentlich vom Mont Royal dem Besucher Montreals entgegenwehen. Der Verfasser des Briefs – wohl ein Franko-Protestant – interpretierte das Kreuz eindeutig als franko-katholisches Kreuz aufgrund der Verbindungen zur SSJB und 184 „The Cross on the Mountain“, Letter to the Editor, Gazette March 1924, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 7–257 „Scrapbook, 1900–1926“. 185 Ebd. 186 Ebd.

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maß ihm eine antiprotestantische und auch antibritische Spitze bei. Geschickt verknüpfte er in seinem Brief Geschichte und Gegenwart, um den Katholizismus als bedrohlich erscheinen zu lassen. In seinen Augen dominierte der katholische Glauben – die von ihm erwähnte geheimnisvolle fremde Macht spielte wohl auf den Vatikan an – den frankokanadischen Nationalismus, wodurch die Franko-Protestanten von diesem ausgeschlossen wurden. Gleichzeitig machte er die katholische Kirche für antibritische Ressentiments in Quebec verantwortlich. Damit suggerierte er, dass die Franko-Protestanten hingegen beides verbinden könnten, wenn man sie nur ließe: probritische Loyalität und einen frankokanadischen Nationalismus, der aber im Rahmen des Empire gedacht würde. Man darf dabei nicht vergessen, dass er sich mit dem Brief in der Gazette an ein anglophones Publikum wandte, fast, als wolle er die AngloProtestanten darauf aufmerksam machen, dass hier gerade nicht dem ersten christlichen white man in Kanada auf dem Mont Royal ein Denkmal gesetzt würde, sondern einem potentiell antiprotestantischen, antibritischen katholisch-frankophonen und daher gefährlichen Nationalismus. Hier zeigen sich eindrücklich Brüche innerhalb des frankophonen Milieus, bzw. es wird deutlich, dass das bisher als frankophones Milieu identifizierte Milieu, aus dem die Initiatoren des Kreuzes stammten, tatsächlich weithin als franko-katholisches perzipiert wurde; Konfession und Ethnizität waren im frankophonen mainstream der Stadt untrennbar miteinander verbunden.187 Wenn sich die Franko-Katholiken selbst als die Vertreter Frankokanadas schlechthin verstanden, dann schlossen sie die nicht-katholischen Frankokanadier aus. Gleichermaßen blieben durch die Betonung der französischen Wurzeln die Katholiken anderer ethnischer Zugehörigkeit außen vor.188 Als Mitglied einer Minderheit, die zu keiner der beiden dominierenden ethno-kulturellen Gruppen gehörte, aber sich mit Aspekten von beiden identifizierte, reagierte dieser Leser vermutlich sensibler auf die Gleichung franko-national = katholisch als Anglo-Protestanten, zumal es offenkundig Diskriminierungen von frankophonen Protestanten gegeben hatte, die es ihm unmöglich machten, die Lesart des ‚christlichen Kreuzes‘ anzuwenden. Möglicherweise bot sich das Kreuz auch als Gelegenheit an, die anglophonen Leser aufzurütteln und die gemeinsame Basis herauszustreichen, die in den Diskussionen um die Jungfrau Maria so eindeutig zum Vorschein gekommen war. In den Gestaltungsversuchen des 187 Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 71, stellt für die ersten Dekaden des 20. Jhs fest: „[…]dans la définition dominante du Canada français, religion et langue sont associées […]“. 188 Über die „inbetweenness“ der Iren in Montreal Rosalyn Trigger, „The Geopolitics of the Irish-Catholic Parish in Nineteenth-Century Montreal“, in: Journal of Historical Geography 27:4 (2001), 553–72. Zur Abgrenzung als notwendige Voraussetzung für eine „kollektive Identität“ vgl. Peter Wagner, „Fest-Stellungen: Beobachtung zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“ in: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hgg.), Identitäten (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998), 45–48.

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Mont Royal kristallisierten sich folglich auch Differenzen im Selbstverständnis der frankophonen Montrealer heraus, die sonst eher unsichtbar blieben. Aus den Reihen der Anglo-Protestanten hingegen kamen kaum kritische Stimmen. Nur einige wenige kritisierten das Kreuz mit demselben Argument, das viele Jahre zuvor gegen die Marienstatue vorgebracht wurde. Es sei ein Monument, das eindeutig der einen Konfession in der Stadt zuzuordnen sei, und dieses habe auf dem Mont Royal nichts zu suchen, da damit offener und öffentlicher Raum für religiöse Zwecke instrumentalisiert werde. Erst die UdeM, jetzt das Kreuz, das sei einfach zu viel für die geringe Parkfläche. In dieser Argumentation – durch den Präsidenten der Dominion Advertisers Limited vorgebracht – klingt eindeutig ein antikatholischer, auch antifrankophoner Ton mit.189 Offenbar verstanden einige Anglo-Protestanten das Kreuz tatsächlich als den Meilenstein in der franko-katholischen Eroberung des öffentlichen, signifikanten Raumes, als der es intendiert war. Das Parks Committee der MPPA hingegen griff von einer anscheinend neutraleren Seite an und beschäftigte sich mit der Beschwerde eines Bürgers über die Bauarbeiten am Kreuz. „Unsightly poles“ wurden errichtet, um das Kreuz mit Strom zu versorgen, dabei wurden auch „trees mutilated“.190 Den heiligen Ort sah man hier durch die Kreuzerrichtung bedroht, und zwar nicht durch die Symbolik des Monuments, sondern durch die mit ihm in den Park Einzug haltenden Spuren moderner Technik. Das ist genau die oben skizzierte Denkfigur derselben Akteure, die gleichzeitig versuchten, die Tram mit allen Mitteln vom Mont Royal fernzuhalten und den Campus der UdeM auf die andere Seite des Berges zu verbannen. Anders als bei diesen beiden Initiativen aber war der Protest hier recht verhalten. Schließlich bedrohte das Kreuz den als natürlich-wild konstruierten Charakter des Berges nur minimal: Es war keine Institution, die einer größeren Zahl von Menschen den Zugang zum Berg erlaubte. Denn die Bedrohung lag für die Mitglieder des Parks Committee darin, dass der heilige Charakter des Ortes gestört würde, in ihren Augen also der natürliche, ruhige, kontemplative Aspekt des Parks, der ja unter anderem auf seiner schweren Zugänglichkeit beruhte.191 Die Sym189 President Dominion Advertisers Limited an Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 2.4.1924, BANQ, CAM, Fonds de la Société Saint-Jean-Baptiste P82, dossier 46_466, 001648. Der Autor betonte, dass das Pamphlet zum Kreuz, das ihm vorlag, in sehr schlechtem Englisch geschrieben sei. 190 MPPA Playground Committee Minutes, 16.12.1924, MUA, MPPA, MG2079, 2142C, 2–51 „MPPA Minute Book (Mostly Executive, Parks, and Playgrounds Committes; Includes some general and annual meetings), 1922–27“. 191 Zu diesem Zusammenhang vgl. Statement for Senator Dandurand regarding Mt. Royal & St. Helen Island, ca. 1922, MUA, MPPA, MG2079, 2147D, 9–354 „MPPA Correspondence 1917–1924“, das sich gegen den Tramplan richtet und dabei argumentiert: „Large parks are most useful for what may be called passive recreation. Quiet enjoyment of beautiful surroundings.“

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bolik des Kreuzes wog hier offenkundig weniger als die physischen Belagerungen des Parks etwa durch die Tram oder die UdeM. Hinzu kam, dass gerade in den Medien, die sich in den Jahrzehnten zuvor so polemisch an den Debatten beteiligt hatten und auch der MPPA immer wieder eine Plattform boten, den klassischen Argumenten der Parkverteidigung 1924 nicht mehr so viel Raum gegeben wurde. Das Verständnis von Freizeitgestaltung und damit von Design und Funktion der Parks wandelte sich gerade im Lauf der 1920er Jahre grundlegend. Neighborhood Parks und Spielplätze lösten im öffentlichen Interesse die großen Landschaftsparks, die in der Tradition des 19. Jahrhunderts standen, ab. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ergriffen auf dieser Basis sogar einige Zeitungen und einflussreiche Lobbygruppen der Mittel- und Oberschichten, wie etwa die Chambre de Commerce, das Board of Trade oder die City Improvement League, die sich zehn Jahre zuvor noch vehement gegen eine Tram auf dem Mont Royal ausgesprochen hatten, Partei für die Straßenbahnlinie.192 Einige der Argumente gegen die Tram, die seit dem späten 19. Jahrhundert wirkmächtig gewesen waren, schienen nun nicht mehr relevant, etwa die Furcht vor special interests, also vor den privaten Interessen der kommerziellen Betreiber der Straßenbahn. Solche Argumente waren den progressivistischen Reformgruppen der Jahrhundertwende – zu denen auch die City Improvement League oder aber die MPPA gehörten – eigen; ihre Überzeugungskraft schwand zusehends. Der Optimismus dem technischen Fortschritt gegenüber nahm hingegen weiter zu; man war sich sicher, dass das Bestreben, den Park als Freizeitort zu erhalten, ein praktisches und sicheres Verkehrsmittel dorthin nicht ausschloss.193 Ein paar elektrische Leitungen für das Kreuz waren da nicht Skandal genug, um ein großes Forum in der Presse zu erhalten. Nicht nur schwand die Macht der vorwiegend anglo-protestantischen Oberschichten, die so argumentiert hatten, gegenüber einer zunehmend selbstbewussten frankophonen Führungsschicht, sondern auch die vorherrschenden Konzepte innerhalb der anglophonen Elite veränderten sich; eine neue Generation trat auf den Plan, was letztlich der Tram zum Durchbruch verhalf. Selbst die MPPA wandte sich in den 1920er Jahren verstärkt den Spielplätzen zu; ihr Playgrounds Committee löste das Parks Committee nach und nach in seiner dominanten Position innerhalb der MPPA ab. Dennoch hielten sie an der Exklusivität des Parc Mont Royal fest. Ihre Interpretation des Parks und damit des Berges, die in den Vorstellungen der Jahrhundertwende verwurzelt war, konnte jedoch keine Breitenwirkung mehr entfalten; Schützenhilfe erhielt die MPPA lediglich von einigen Bürgern, die dem Konzept des Landschaftsparks aus ästhetischen Gründen anhingen, wie etwa dem Maler Suzor Côté, der sich von vornherein gegen den Bau des Kreuzes aussprach: „Assez de beaux coins de la nature, de sites pittoresques ont été bêtements enlaidis par des croix ou des statues inqualifiables, sans qu’on attente [sic] à faire de 192 Vgl. Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 317–18. 193 Ebd.

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même avec le Mont-Royal. […] Je suis donc contre tout projet de croix pour des raisons purement esthétiques […].“194 Die Idee des Landschaftsparks war eher an bestimmte Schichten, beziehungsweise im Moment ihres decline sogar eher an bestimmte Professionen gebunden als an ethnische Zugehörigkeit; sie war lediglich vermehrt von den in Gruppen wie der MPPA vereinten anglo-protestantischen Führungsschichten, die zu Zeiten des Höhepunktes dieser Konzeptionen nicht nur die wirtschaftliche und politische Macht, sondern auch noch die kulturelle Hegemonie in der Stadt innehatten, zur Stabilisierung der Gesellschaft und Propagierung ihrer Vorstellungen von Gesellschaftsordnung eingesetzt worden; ein ästhetisches und funktionales Konzept, das in dieser Zeit keine Durchschlagkraft mehr hatte. Zudem brauchten die Eliten in den 1920er Jahren den Mont Royal nicht mehr unbedingt, um Exklusivität zu praktizieren. Dank des Automobils konnten sie in ihrer Freizeit in entferntere Regionen entfliehen; Spielplätze mit überwachtem Spiel gewährleisteten auf andere Weise die Ordnung der Freizeit.195 Auch war das Kreuz auf symbolischer Ebene konsensfähig und als überkonfessionelles, kanadisches Zeichen lesbar, anders als etwa die UdeM. Obwohl die Initiatoren es klar als katholisches und frankophones Monument gedacht hatten, ignorierte die anglo-protestantische Elite diese ethnischen, konfessionellen Konnotationen weitgehend und gründete die einzigen Einwände auf der Basis der Parkverschandelung durch Elektroleitungen. Die Bedeutung der Beherrschung, die einem Monument auf dem Gipfel des Mont Royal zukam, war Anglophonen und Frankophonen gleichermaßen klar, aber das Kreuz ließ gleichzeitig unterschiedliche Interpretationen hinsichtlich der Frage, wer wen beherrschte, zu. Es schien, als käme hier, anders als bei der Statue der Jungfrau Maria, jeder auf seine Kosten. Das Kreuz erhielt seine Glühbirnen, und 1927 wurde denn auch mit dem Bau der Trambahn begonnen. Es reiht sich dabei ein in einen Prozess der Eroberung des Berges durch die neuen, mehrheitlich frankophonen Eliten, stellte aber eher einen unprovokativen Meilenstein auf diesem Weg dar. Schließlich gestalteten die Initiatoren dieses so, dass mehrdeutige Lesarten möglich waren. Es hatte kein Korpus, und es war keine Jungfrau Maria. Fast wie bei einem Hologramm konnte man entweder die katholisch fundierte Geschichte Frankokanadas oder die christlich basierte Geschichte Kanadas darin sehen. Den Franko-Katholiken der Stadt ging es offenkundig hier nicht um eine radikale Demonstration ihrer Stärke. Das Kreuz erscheint eher als Balanceakt zwischen dem Versuch, das Selbstvertrauen des eigenen Milieus durch ein Signal zu stärken, gleichzeitig aber auch die protestantischen Mitbürger nicht zu verprellen. Immerhin hatte die anglo-protestantische Bevölkerung nach wie vor wirtschaftliche Spitzenpositionen inne, beide Hauptgruppen waren daher auf eine friedliche Koexistenz angewiesen. Auch im Streitfall um ihren Campus hatte die UdeM 194 Suzor Côté an Victor Morin, 28.3.1924, zit. nach R. Morin, Un bourgeois d’une époque révolue, 121. 195 Dagenais, „Entre tradition et modernité“, 320.

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letztlich freiwillig eingelenkt und den Platz ‚hinten‘ am Berg bezogen. Es ist bemerkenswert, wie behutsam die innerstädtischen Machtverschiebungen sich hier im Stadtraum ausdrückten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die SSJB als Initiator des Kreuzes nicht gerade zu den radikalsten Vertretern eines frankokanadischen Nationalismus in den 1920er Jahren gehörte. Die alte Generation, die die historische Parade und das Kreuz angeregt hatte, stand kurz davor, ihre Deutungshoheit innerhalb des franko-katholischen Milieus an eine jüngere, radikalere Generation abzutreten, die aus der 1904 gegründeten ACJC heranwuchs.196 Innerhalb des Milieus zeichneten sich in diesen Jahren feine Bruchstellen ab, die bis in die SSJB selbst hineinwirkten. Olivar Asselin (1874–1937) etwa, Journalist und zeitweiliger Präsident der SSJB (1913–14), bekannt durch seine schonungslose Polemik, hatte die historischen Paraden, die Umzüge und Feierlichkeiten schon länger heftig kritisiert. Als alberne Maskerade und Relikte aus der Vergangenheit stellte diese neue Generation die Form der Selbstdarstellung der SSJB – Prozession und Parade – grundsätzlich in Frage und forderte pragmatischere, sozial orientierte Initiativen zugunsten der Frankokanadier – etwa finanzielle Unterstützung für Arbeitslose, Universitäten und Schulen197 – und radikalere politische Aktionen, wie zum Beispiel eine offensive Propaganda, die frankophone Einwanderer anziehen sollte oder die Unterstützung der frankophonen Minderheit in Ontario.198 Der Bezug auf die alten Heroen der Kolonialzeit, um Identität zu stiften, funktionierte für die liberaleren Intellektuellen dieser Generation, die 1903 die Ligue nationaliste gründeten, nicht mehr über die historistischen Formen des 19. Jahrhunderts, wie sie in den Umzügen der SSJB zum Ausdruck kamen. Weniger auf Symbole – Asselin etwa bezeichnete das Lamm Johannes’ des Täufers in den Paraden zum 24. Juni als ‚nationales Schaf ‘199 – als auf direkte politische Aktion konzentriert, artikulierte sich hier ein radikalerer frankokanadischer Nationalismus, der die Massen zu gewinnen suchte, und das mit unterschiedlichen Ausformungen. Dem liberalen Asselin und anderen jüngeren Intellektuellen war die SSJB zu katholisch; unter Asselin war ab 1913 die jährliche Feier zum 24. Juni stark reduziert worden. Er kämpfte in erster Linie für die französische Sprache, nicht für die katholische Konfession. Seine frankokanadische, nationalistische Vision, die 196 Vgl. Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 190–91; 200–01. Zur ACJC als katholische Eliteschmiede vgl. Jean Hamelin et Nicole Gagnon, Histoire du catholicisme québécois: le XXe siècle (Montréal: Boréal Express, 1984), 190–91. Teilweise tendierten diese jüngeren Generationen frankokanadischer Nationalisten, gerade aus der ACJC, in den ersten Dekaden des 20. Jhs zum Antisemitismus, vgl. Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 36. 197 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 190–91; 310. 198 Ebd., 201; 234; 249. 199 Womit er den Zorn des Erzbischofs Mgr Bruchési auf sich zog, Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 232; 236–37. Hamelin et Gagnon, Histoire du catholicisme québécois, 297–98.

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in der Verehrung der französischen Kultur wurzelte und nicht im ultramontanen Katholizismus, seine Vorstellung von Frankreich, die nicht auf la vieille France mit ihrer Verknüpfung von französisch und katholisch begrenzt war, sondern die kulturelle Produktion der République miteinschloss, brachte ihn zudem des öfteren in Konflikt mit dem Montrealer Erzbischof Mgr Bruchési.200 Henri Bourassa hingegen, die Galionsfigur des katholisch fundierten, frankokanadischen Nationalismus in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, hatte noch versucht, das frankokanadische Selbstbewusstsein mit Anti-Imperialismus und einem kanadischem Nationalismus zu verbinden; eine Vision, deren Grenzen sich mit der conscription crisis von 1917 gezeigt hatten. Für Bourassa blieben fortan ultramontane Romtreue und die Einheit der katholischen Kirche wichtiger als ein ethno-kultureller Nationalismus.201 Lionel Groulx und die 1917 gegründete Zeitschrift Action française, die Groulx 1920 bis 1928 leitete, predigten derweil – anders als Asselin – einen stark katholischen Nationalismus, der letztlich auf die Gründung eines eigenen katholischen, frankophonen Staates zielte. Bei dem Nachwuchs der ACJC fanden diese Ideen großen Anklang; ihnen war die SSJB und Bourassa zu wenig nationalistisch, Asselin zu ketzerisch. Zwar pflegten auch sie den nostalgischen Erinnerungskult an längst vergangene glorreiche Zeiten, doch verschoben sich ihre Bezugsfiguren, von Maisonneuve hin zu Dollard des Ormeaux.202 Das Kreuz stellte insofern – und darin glich es den Protes200 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 237. Die Zeitschrift

Le Pays steht für diese radikale liberale Haltung, vgl Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 212–17; Lacombe, „A Brief Overview of French Canadian Nationalism in the 19th Century“, 15–17. Ausführlich zu Asselin Hélène Pelletier-Baillargeon, Olivar Asselin et son temps (Montréal: Fides, 1996), v.a. 224–49 zur ligue nationaliste; vgl. auch Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 25–30. Zur Haltung des Klerus ebd., 38–39, 134.

201 Rumilly, Histoire de la Société Saint-Jean-Baptiste de Montréal, 314; Hamelin et Gagnon, Histoire du catholicisme québécois: le XXe siècle, 296–99. Der Montrealer Klerus beispielsweise, dem Bourassa sich verbunden fühlte, befürwortete den Einsatz freiwilliger kanadischer Truppen im Ersten Weltkrieg, wohingegen der Anti-Imperialist in Bourassa dem kritisch gegenüberstand. Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 38, 45. Zur conscription crisis von 1917 ebd., 41–43, ausführlicher: Elizabeth Armstrong, Le Québec et la crise de la conscription, 1917–1918 (Montreal: vlb éditeur, 1998). Zur Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Tendenzen im frankokanadischen Milieu vgl. auch Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 22–24. 202 Roy, „Une mise en scène de l’histoire“, 22–24; Lamonde, Histoire sociale des idées au Québec, 71–73, 139–65, 169–70. Vgl. Mann, Lionel Groulx, v.a. 28–29, 153–56; James D. Thwaites, L’Action française et L’Action canadienne-française: Un guide analytique (Québec: Université Laval, Département des relations industrielles, 1982); Jean-Claude Dupuis, „La pensée religieuse de l’Action française“, in: Etudes d’histoire religieuse 59 (1993), 73–88.

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ten gegen seine elektrischen Leitungen – auch eine Manifestation aus einer anderen Zeit dar; es war in den Zeiten der fragilen interethnischen Machtbalance des späten 19. Jahrhunderts verwurzelt, als die SSJB als Bindeglied zwischen kirchlichen Autoritäten und liberaler, französisch-katholischer Bourgeoisie die Deutungshoheit im franko-katholischen Milieu innehatte. Gleichzeitig zeugt es damit aber auch von der andauernden Überzeugungskraft und Gefolgebereitschaft, die dieser liberale, jedoch nie anti-klerikale, gemäßigte Nationalismus der Béique, Morin et al. innerhalb des frankokanadischen Milieus auch in den 1920er Jahren noch entfalten konnte. Angesichts des lautstarken Gebarens von Groulx und der ACJC ist diese Facette des Nationalismus und seine Wirkmacht für die 1920er Jahre in der Forschung häufig ignoriert worden, ja, der frankokanadische Nationalismus dieser Zeit als homogen dargestellt worden. Alan Gordon beispielsweise fasst in seiner Untersuchung der public memory in Montreal die Entwicklung des frankokanadischen Nationalismus als Homogenisierungsprozess unter dem Leitmotiv der Rekatholisierung.203 Das führt ihn dazu, die Ambiguitäten, die vielschichtigen Lesarten des Kreuzes zu übersehen und es eindimensional als „attempt to reclaim Mount Royal for the city’s francophone residents“204 zu interpretieren. In der Forschung überwiegt diese Interpretation des Kreuzes als signalhafter Schritt in der Rückeroberung des städtischen Raumes durch die Frankokanadier205 – eine Interpretation, die vor dem Hintergrund der Konflikte um die Marienstatue, dem Rückzug der UdeM ‚hinter‘ den Berg und der Bedeutung Maisonneuves als zu einseitig erscheint. Auch wenn das Kreuz auf dem Mont Royal von einer leichten Verschiebung innerhalb der SSJB hin zu einem für ihre Verhältnisse offensiveren Nationalismus zeugt – immerhin löste 1924 eine historische Parade die traditionelle kirchliche Prozession ab206 –, und wenngleich die SSJB sich damit in eine breitere Tendenz zum frankokanadischen Nationalismus einordnete und das Kreuz als Audruck eines gesteigerten Selbstbewusstseins und zunehmender Macht der Franko-Katholiken Montreals verstanden werden kann: Es pauschal als einen weiteren „Roman Catholic marker“207 nach der Marienstatue und „visual marker of the power of French-Catholicism in a space which embodied Anglo-Saxon privilege“208 zu lesen, berücksichtigt die Ambivalenz und den Kompromisscharakter des Monuments ebensowenig wie die subtilen inneren Differenzierungen im franko203 Gordon, Making Public Pasts, 101, 160: „the blending of divergent ideologies into a single nationalist memory by 1926“. Zur Deutungsmacht des liberalen frankokanadischen Milieus Roy, Progrès, Harmonie, Liberté, 276–77. Vgl. auch Lacombe, „A Brief Overview of French Canadian Nationalism in the 19th Century“. 204 Ebd., 99. 205 Etwa Côté, „L’érection de la croix“, 63–68. 206 „Cross on Mount Royal first Lighted After St. Jean Baptiste Parade, 1924: Significance Retold“; in: Standard 8.6.1938. 207 Schmidt, „Domesticating Parks“, 56. 208 Ebd., 57.

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kanadischen Milieu und die fortdauernde Deutungshoheit eines gemäßigten Nationalismus, der auf Gleichberechtigung der beiden ethno-kulturellen Gruppen innerhalb der kanadischen Nation zielte.209 Gerade die Offenheit des Kreuzes, in unterschiedliche, parallel existierende Identitätsdiskurse eingebunden zu werden, ermöglichte es den Frankokanadiern, den Mont Royal ein Stück weit symbolisch zurückzuerobern, aber eben auf eine solche Weise, die es den Anglo-Protestanten der Stadt erlaubte, das Gesicht zu wahren und sich ebenfalls mit dem Monument zu identifizieren. Im Fokus auf die ständige Konkurrenz zwischen beiden gesellschaftlichen Gruppen geht diese konsensstiftende Wirkung des Stadtraums verloren, der zwar Objekt unterschiedlicher Interpretationen und Aneignungen war und auch divergierende Identitäten und Machtpositionen einzelner Gruppen stärken konnte, gleichzeitig aber gerade dadurch einen wichtigen Beitrag zur Aushandlung innerstädtischer Harmonie leistete. Und doch ist die konfrontative Interpretation weit verbreitet – vielleicht, weil es angesichts der weiteren Entwicklung anglo-frankokanadischer Koexistenz im 20. Jahrhundert retrospektiv verlockend ist, das Kreuz eindeutig zu verstehen: „[...] en 1924, la Société Saint-Jean-Baptiste plantait à son tour une croix sur le sommet est de la montagne marquant une nouvelle fois la remise de la ville aux Canadien-Français“210. Schließlich wurde das Kreuz in der Folgezeit, vor allem in den 1940er Jahren, immer expliziter von einem sich radikalisierenden frankokanadischen Nationalismus vereinnahmt. Besonders die Texte zum 300. Jubiläum der Stadtgründung schwelgten geradezu in einem auf Katholizismus und Geschichtsverklärung basierenden franko-katholischen Selbstbewusstsein, das die 1924 schon angelegten Stränge aufgriff und überhöhte.211

209 Vgl. Roy, Progrès, Harmonie, Liberté, 243–48, 260–74. 210 Jacobs, „La Montagne magique“, 11. 211 Vgl. etwa „La Croix du Mont-Royal“, in: La Revue Nationale (1942), AVM, DP, B25925.14; Eugène Brissette, „La Croix du Mont-Royal“, in: La Presse 24.1.1942.

Zusammenfassung und Ausblick Es sollte nur wenig mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bis der christliche Charakter des Kreuzes auf dem Mont Royal wegen seiner exklusiven Eigenschaft kritisiert wurde. Seine Mehrdeutigkeit erwies sich angesichts der sich im 20. Jahrhundert immer rascher pluralisierenden Montrealer Gesellschaft als zu eindeutig: ,Christlich‘ bedeutete nicht mehr, die großen, weil konfessionellen Brüche der Gesellschaft überbrücken zu können. In den 1980er Jahren kursierten dagegen Vorschläge, das Kreuz durch ein globaleres, inklusiveres Symbol, etwa das Peacezeichen, zu ersetzen (Abb. 41).1

Abb. 41  Vorschlag zur Neugestaltung des Berggipfels aus der Gazette, 11.6.1984.

Diese Vorschläge zeigen zugleich, dass die Symbolkraft des Gipfels des Mont Royal auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts ebenso ungebrochen blieb, wie die ihm zugesprochenen Bedeutungen als landmark und Kern der Idee Montreal. Noch immer beruhten diese auf dem Blickbezug zwischen Stadt und Berg, auf der Sichtbarkeit des Berges und auf dem Panorama, das sich von oben auf die Stadt bot: „Visible from very far, having a far-reaching view, it [the peace symbol] would become a tourist attraction, a Montreal trademark [...]“.2 Lediglich die genauen Pläne und Ideen zur Gestaltung des Berggipfels variierten im Laufe des Jahrhunderts und zeugen davon, was zu einer bestimmten Zeit konsensfähig war. Damit sind sie letztlich auch Ausdruck der jeweiligen Gesellschaftsvorstellungen ihrer Träger, die diese im Raum zu perpetuieren und in der imagination urbaine zu verankern suchen – gerade am Mont Royal. Das Kreuz selbst leuchtet auch heute noch jede Nacht über der Stadt und ist mittlerweile 1 „Use another symbol“, Letter to the Editor, in: Gazette 11.6.1984. 2 Ebd.

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tatsächlich zu einer visuellen Ikone Montreals geworden, die einen Orientierungspunkt im Stadtraum bildet und zum Kanon der Montréalité fest dazugehört, wie eine Skizze aus dem Magazin der Fluggesellschaft Air Canada zeigt (Abb. 42).

Abb. 42  Stadtplan von Montreal aus dem Magazin En Route von Air Canada, 2004.

Die Emotionalität der Konflikte um Grundstücke und Bebauung am Mont Royal seit dem späten 19. Jahrhundert wird verständlich, wenn man sich die Vielzahl an Bedeutungen vor Augen führt, die mit dem Berg Montreals verbunden war. Es ging um mehr als lediglich um das bloße Land. Der Mont Royal war ein kulturell kodierter Raum, der in der Montrealer imagination urbaine eine zentrale Stellung einnahm. In der Wahrnehmung der Akteure war er ein maßgeblicher Faktor der Montréalité de

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Montréal. Ohne ihn war Montreal nicht als Montreal denkbar; er trug wesentlich zur Identität der Stadt bei. In den populären Texten, die ihn zur Essenz Montreals stilisierten, begründete sich das zum einen räumlich, zum anderen historisch: Der Mont Royal wurde als visuelles Wahrzeichen der Stadt perzipiert, deren Lage durch ihn definiert wurde, und er stand für die Eroberung und Besiedlung des Landes sowie für die Gründung der Stadt in der Kolonialzeit. Damit repräsentierte der Berg auch den Hoheitsanspruch über Montreal, aus der Geschichte hergeleitet und räumlich visualisiert. Wer den Berg physisch und/oder diskursiv besetzen konnte, demonstrierte seine Macht über die Stadt. Im Fall des Streits um den Campus der Université de Montréal in den 1920er Jahren war der Stadtraum ein wichtiger symbolischer Einsatz in der Konkurrenz um Macht zwischen anglo-protestantischen und franko-katholischen Ober- und Mittelschichten, die den ,königlichen Berg‘ mit unterschiedlichen Visionen zu belegen und ihren Gesellschaftsvorstellungen im Raum Ausdruck zu verleihen suchten. Eine franko-katholische Elite-Universität am Mont Royal hätte bedeutet, einen für die Stadt Montreal stehenden Ort zu einem Zentrum franko-katholischer Wissenschaft zu machen. Abgesehen davon, dass es an sich schon ein wirkungsvolles Signal für den Aufstieg der Frankokanadier in der innerstädtischen Hierarchie war, mit einer ihrer Institutionen den Mont Royal zu belegen, war ausgerechnet eine Universität an dieser Stelle mit in die Zukunft weisendem Führungsanspruch verbunden. Das Bemühen, am Mont Royal zu bauen, zeugt von einem gestiegenen Selbstbewusstsein und dem Selbstverständnis als frankophon und katholisch gedachter „race“, der die Zukunft gehören würde. Der Mont Royal, ein Teilraum der Stadt, sollte so den Frankokanadiern ein machtvolles Image verleihen, während sie ihn andersherum mit eigenen Konnotationen, etwa der des Mont-Lumière, zu belegen suchten. Für ihr Vorhaben erhielt die Université de Montréal Anfang der 1920er Jahre von der Stadt Montreal zwei Grundstücke am Mont Royal. Während das größere Grundstück am Nordwesthang in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde, erhitzte die Abgabe des Lands am Osthang die Gemüter. Unter der Führung von anglo-protestantischen Parkgruppen und Frauenorganisationen bildete sich eine starke Koalition von Gegnern der Schenkung, die im Namen des dort gelegenen Parks gegen die Universität protestierten. Denn der Mont Royal war auch vor dem Bemühen der UdeM nicht neutrales Niemandsland: Er gehörte zum Territorium der angloprotestantischen Oberschichten – zumindest diejenigen seiner Hänge, die Teil des Parks waren. Alteingesessene anglo-protestantische Ober- und Mittelschichten, die in Gruppen wie der MPPA und dem MLCW organisiert waren, versuchten mit progressivistischer Rhetorik die UdeM zu behindern, indem sie gesundheits- und moralfördernde Aspekte des an der begehrten Stelle lokalisierten Parks hervorhoben und zum öffentlichen Interesse stilisierten. Der Park aber war eine Form, mit der sie selbst den Mont Royal besetzt hatten und keineswegs neutral, auch wenn die Belegung hier nicht so offenkundig war wie bei der UdeM, weil der physische Zugang für alle mög-

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lich blieb. In der Tradition des Landschaftsparks des 19. Jahrhunderts war der Park mit normativen Gesellschaftsvorstellungen der städtischen Mittel- und Oberschichten verbunden, ein open space im Gewebe der Stadt, der eine gesellschaftsstabilisierende Funktion erfüllen und möglicherweise abweichende Personengruppen in die viktorianische Gesellschaft integrieren sollte. An und für sich wäre er allerdings noch keine spezifisch white anglo-saxon protestant Raumform gewesen; denn trotz seiner britischen Herkunft hingen auch prominente Frankokanadier den urbanen Leitbildern von Licht, Luft und Grün an, in die sich das Parkkonzept einbettete. Indem die anglophonen Oberschichten allerdings den Park als klassenspezifisches Konzept den frankophonen Oberschichten gegenüber ausspielten, suggerierten sie, dass letztere nicht genuin zu den Führungsschichten gehörten. Klassenhierarchien, die sich in der Gestaltung öffentlicher Räume ausdrückten, wurden so auf die Ebene ethnokultureller Konkurrenz projiziert und dafür instrumentalisiert. Zudem war gerade dieser spezifische Park Teil eines Stadtviertels, das der angestammte Ort der anglo-protestantischen Montrealer Oberschichten war. Gewissermaßen als backyard der Golden Square Mile stand der Park für die erfolgreiche Vergangenheit der Anglophonen in der Stadt. Auch war diese Seite des Berges in den mental maps der Stadt als die vordere, zentrale Seite festgeschrieben: Wer hier über der Stadt thronen konnte, konnte die Stadt wie einst die Eroberer dominieren. Angesichts des politischen und ökonomischen Aufstiegs der Frankokanadier in Montreal seit dem späten 19. Jahrhundert und der graduellen Ablösung der alten angloprotestantischen Führungsschichten reagierten diese besonders sensibel auf den Plan der UdeM, genau an dieser Seite des Mont Royal zu bauen. Der Campus im Parc Mont-Royal hätte in dreierlei Hinsicht die gewandelten Machtverhältnisse in Montreal signalisiert: Nicht nur wären Franko-Katholiken an die Hänge des bedeutsamen Mont Royal aufgestiegen, sondern auch noch gerade an der zentralen, die Stadt beherrschenden und traditionell anglophon konnotierten Seite. Zwar wurde in der öffentlichen Debatte und in den internen Dokumenten „english“ vs „french“ als die primäre Frontstellung wahrgenommen, was jeweils als Chiffre für anglo-protestantisch und franko-katholisch zu verstehen ist. Letztlich waren es aber Eliten dieser beiden Gruppen, die hier miteinander konkurrierten. Die Bruchlinie im Stadtrat zeigt zudem ein erweitertes Bild, da hier auch Abgeordnete in den Blick rücken, die zu keiner dieser beiden Gruppen gehörten und die in den öffentlichen Diskussionen außen vor blieben. Der Streit zwischen Anglophonen und Frankophonen entpuppt sich im Stadtrat als Konkurrenzkampf zwischen Protestanten und Katholiken oder besser, zwischen Nicht-Katholiken und Katholiken. Wenn es um das Wohl einer katholischen Bildungseinrichtung ging, dann war die sprachübergreifende frankoirische Allianz offenbar standfest. Obwohl der Stadtrat unter dem Ansturm der Proteste die Schenkung nicht rückgängig machte, verzichtete die Universität jedoch auf das umstrittene Grundstück am Osthang und baute letztlich ,hinter‘ dem Berg, im Nordwesten. Ihren Gegnern war es damit gelungen, ein Stück Park zu bewahren, aber

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mehr noch, sie hatten das Eindringen einer franko-katholischen Elite-Institution in anglo-protestantisches Territorium verhindert und damit ihre gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen am Mont Royal und in den mental maps der Stadt fortgeschrieben. Die Université de Montréal hingegen zelebrierte auch den Campus am prestigearmen ,hinteren‘ Teil des Berges als vollen Erfolg und als Belegung des Mont Royal. Sie erwies sich damit flexibler in ihren mental maps; hinzu kam sicher auch der pragmatische Aspekt der geringen Größe des ,vorderen‘ site. Möglicherweise war die UdeM sich auch bewusst, dass sich die Frankophonie in Montreal im Aufwind befand, so dass es für sie gar nicht von solch großer Bedeutung war, demonstrativ Teile der anglophonen Seite des Berges zu besetzen. Stattdessen konnte sie ,hinten‘ eine eigene Seite neu definieren, aufwerten und einen öffentlichkeitswirksamen Kompromiss eingehen. Gerade die Allianz aus liberaler Bourgeoisie und Klerus, die in der UdeM führend war, war traditionell darauf bedacht, das harmonische Auskommen und die Gleichberechtigung der beiden „races“ innerhalb Kanadas und des Empire zu gewährleisten. Sie zielte zudem darauf ab, es den Anglophonen gleichzutun. Ganz anders verhielt es sich mit den in den 1920er Jahren immer deutlicher vernehmbar werdenden franko-nationalistischen Stimmen, die den Berg insgesamt als anglophon wahrnahmen, da er auf der westlichen Seite des Boulevard St-Laurent lag. Für die Nationalisten sollte die UdeM im Osten der Stadt bleiben, also einen Alternativentwurf zum anglophon geprägten Prestigeort Mont Royal bilden. Allerdings setzten sie sich nicht durch; die liberalen, gemäßigten Kräfte blieben in der UdeM tonangebend, was auch zeigt, welch Deutungskraft die auf friedliche Koexistenz bedachte Allianz von liberaler Bourgeoisie und Klerus innerhalb des franko-katholischen Milieus selbst in den 1920er Jahren noch hatte. Für ihre anglophonen Gegenspieler war ein Campus ,hinter‘ dem Berg kein Grund zur Aufregung, dachten sie doch von ihrer Seite des Berges her. Beide Oberschichten blieben also am Berg – aber auf getrennten Seiten. Wenngleich die gemeinsamen Bilder des Mont Royal die Begehrlichkeiten weckten, so erlaubten Variationen in der mentalen Landkarte des Mont Royal eine win-win-Situation und friedliche Koexistenz. Dank der vielschichtigen Lesbarkeit des Mont Royal und seiner Ausdifferenzierung in Zonen war es beiden Gruppen möglich, das Gesicht zu wahren. Die Praxis des Nebeneinander wurde damit im Raum weitergeschrieben und bestimmte Teile des Mont Royal mit „english“ oder „french“ konnotiert, was wiederum die identitären Zuschreibungen prägte. Bereits vor der UdeM hatte eine ganz andere Institution begehrliche Blicke auf ein Grundstück im Park geworfen – und das mit Erfolg. Das 1893 eröffnete Royal Victoria Hospital war am Südosthang errichtet worden, ohne dass es zu Protesten kam. Ganz so wie die UdeM mit ihrer Institution in prominenter Lage den zukunftweisenden, sich auf Wissenschaft und den katholischen Glauben stützenden Führungsanspruch der Frankokanadier verdeutlichen wollte, war das RVH als Denkmal für eine ganz spezifische Gesellschaftsordnung der jüngeren Vergangenheit und der

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Gegenwart gedacht. Zum 50jährigen Thronjubiläum der Königin Victoria sollte die Prominenz der Lage am Mont Royal dazu beitragen, den Triumph des britischen Empire im Raum sichtbar zu machen. Gerade auch die Funktion des RVH als Krankenhaus für arme Patienten aller Konfessionen und Ethnizitäten stand im Zeichen einer bestimmten Vorstellung von Gesellschaft. Unter britischer Führung, so die Botschaft, war ein friedliches Miteinander der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen garantiert. Wie bei der UdeM auch war der Mont Royal dazu gedacht, das Prestige der Institution und ihrer Träger zu vermehren; gleichzeitig konnte diese anglo-protestantische Stiftung dazu beitragen, den Mont Royal in den mentalen Landkarten der Bürger weiter mit der anglophonen Oberschicht zu identifizieren, vor allem die Seite des Berges, an der sich die Golden Square Mile erstreckte. Dass die Identifikation dieses Hangs mit der anglo-protestantischen Elite funktionierte, zeigen die mental maps der Seiten des Mont Royal, die im späteren UdeM-Konflikt eine zentrale Rolle spielten. Als Hommage an die Queen und als philanthropische Stiftung reihte sich das Royal Victoria Hospital in die im Empire charakteristischen Demonstrationen britischen Paternalismus ein, der eine klassenspezifische Stoßrichtung aufwies, letztlich aber auf einem ethno-kulturellen Überlegenheitsbewusstsein basierte, welches damit auf subtile Weise ausgedrückt wurde. Mit dem modernsten Krankenhaus des Dominion signalisierten die Stifter, dass das anglo-protestantische Sozialwesen, Medizin und Forschung die fortschrittlichsten Kanadas waren. Indem sie den Mont Royal als dafür idealen, weil gesunden Ort konstruierten, vereinnahmten sie ihn zudem diskursiv für ihre Zwecke: Seine gesunde Wirkung gehörte damit zum Expertenwissen, welches anzuzweifeln als unmodern gegolten hätte. Angesichts des Nutzens, den das Krankenhaus vor allem vor dem Erfahrungshintergrund der Pockenepidemie von 1885 erfüllte, waren die mehrheitlich frankophonen und katholischen Stadträte nur zu gern bereit, die geforderten Ländereien am Mont Royal einzubringen; mit den klassenspezifischen Implikationen des RVH und dem Diskurs über den gesunden Berg konnten auch sie sich identifizieren, ja, mussten es fast, wollten sie nicht als rückständig angesehen werden. Zudem waren auch die politischen Eliten der Stadt nach den interethnischen Unruhen von 1885 offenbar darauf bedacht, im Schulterschluss mit anglophonen Politikern und Wirtschaftseliten ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Der Südosthang war außerdem ohnehin mit der anglo-protestantischen Oberschicht konnotiert. Das Krankenhaus schien somit seinem Programm der Harmonie vollauf gerecht zu werden – bis einige Mediziner von konkurrierenden Krankenhäusern gegen das RVH protestierten. Die Lage des RVH am städtischen Wasserreservoir entpuppte sich dabei als Instrument im Kampf um Stiftungsgelder und Ressourcen. Institutionelle Konkurrenz prägte in dieser Situation das Verhalten mehr als die ethno-kulturelle Bruchlinie. Allerdings wurde der Konflikt um die Lage durch die Direktoren des RVH selbst als eine Dichotomie zwischen „english“ und „french“ wahrgenommen, was die Wirkmächtigkeit dieses von binären Oppositionen strukturierten Identitätsdiskurses bereits in

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den 1880er Jahren bestätigt. Nach der Eröffnung des Krankenhauses brachen weitere franko-katholische Mediziner und Politiker aus dem offiziellen, paternalistischen Konsensdiskurs aus und forderten, dass auch die Führungspositionen im Krankenhaus paritätisch nach ethno-kultureller Zugehörigkeit besetzt werden sollten. Eine zunehmend selbstbewusste Schicht von frankophonen Experten und populistischen Politikern forderte nun als Austausch für wertvolles Land am Mont Royal institutionelle Macht. Eine Gesellschaftsordnung am Mont Royal zu reproduzieren, die Frankophone und Katholiken als Almosenempfänger positionierte, widersprach ihrem in eigenen Interessen fundiertem Führungsanspruch. Innerhalb des frankophonen Milieus gilt es daher zu differenzieren: Politiker wie Préfontaine kleideten ihre Forderungen in eine ethno-kulturelle Rhetorik, die die eigenen Interessen in einen Anspruch ,der‘ Frankokanadier blendete und damit innerhalb der „race“ inklusiv wirkte. Anders handelte die Mehrheit der Frankophonen im Stadtrat, die die paternalistische Haltung der anglophonen Stifter übernehmen konnte. In den 1890er Jahren rührten sich hier offenbar erste Anzeichen einer Bewegung, die letztlich zu den ethno-kulturell basierten, elitären Interessen der UdeM führte, welche im Gewand eines rhetorisch verkündeten Anspruchs der gesamten „race“ daherkamen. Bei aller vorangehenden rhetorischen Harmonie wurde nun der Mont Royal weniger zu einem Integrationsraum als zum umkämpften Preis in der Konkurrenz zwischen Experten unterschiedlicher Ethnizität und Konfession um Machtpositionen und ein modernes Image. Anders als im Konflikt um die UdeM lagen diesmal keine unterschiedlichen Bilder des Berges zugrunde: Alle Beteiligten bewegten sich im selben Diskurs über den Mont Royal als gesundem Ort. Da die Macht innerhalb einer Institution im Vordergrund der Auseinandersetzung stand, konnte der Mont Royal nicht wie bei der UdeM aufgrund seiner räumlichen Mehrschichtigkeit und unterschiedlicher Raumbilder zum Ausgleich beitragen und die Brüche in der Gesellschaft in ein räumliches Nebeinander überführen und dadurch überbrücken. Das RVH ist bis heute ein weiterer Pflock, den die anglo-protestantische Elite an den Südosthang des Mont Royal eingeschlagen hatte. Ein einziger Bereich des Mont Royal aber blieb für jegliche Institution Tabu: der Gipfel. Dennoch gab es verschiedene Initiativen, die Bergspitze formal zu gestalten und den Zugang zu regeln. Von hier oben nämlich ließ sich die Stadt am besten dominieren. Nicht nur konnte man den Entdeckern gleich das Gesamtpanorama der Stadt einnehmen, sondern das, was hier oben gebaut wurde, war auch weithin sichtbar. In den Debatten um die Gestaltung des Gipfels des Mont Royal erscheint der Berg als iconic space in den Imaginationen Montreals, dessen Position darauf beruhte, dass er als essentielles Element einer Montrealer Identität wahrgenommen wurde. Gerade der Berggipfel machte für die meisten Kommentatoren diese Besonderheit des Mont Royal durch die Blickbezüge aus, die er zur Stadt ermöglichte. Von einer spezifischen Montrealer Identität, der Montréalité, zu sprechen, suggerierte dabei, dass sich alle Einwohner der Stadt damit identifizieren konnten. In einer vielfach fragmentierten

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Gesellschaft erschienen die konstitutiven Elemente der Montréalité – darunter der Mont Royal – als konsensfähige Bezugspunkte, die die Kohäsion der Gesellschaft gewährleisteten. Insofern aber war es für die konkurrierenden Bevölkerungsgruppen, vor allem die Führungsschichten attraktiv, die Bergspitze selbst zu gestalten und so die eigenen Vorstellungen einer ‚Montrealer Identität‘ über den Ort in den allgemeinen Konsens über die Montréalité einzuspeisen, anders gesagt: die Konnotation des Mont Royal mit Macht normativ aufzuladen. Im Vergleich zum Royal Victoria Hospital oder der Université de Montréal bot der Gipfel dazu einen viel direkteren Ansatzpunkt, da er aufgrund seiner topographischen Lage der symbolträchtigste Punkt des Mont Royal war und letztlich dessen einen, unteilbaren Kern darstellte. Ein Bauwerk oder Monument auf dem summit würde sich ins Herz der Montréalité de Montréal setzen und Berg und Stadt dominieren. Der Vorschlag des Erzbischofs von Montreal in den 1880er Jahren, eine Statue der Jungfrau Maria auf dem Gipfel zu errichten, wurde aufgrund des empörten Einspruchs protestantischer Kirchengemeinden jedweder ethnischen Zugehörigkeit verworfen. Die Marienstatue von 1888 hätte den Gipfel des Mont Royal kraft der physischen Präsenz ihrer religiösen Symbolik in einen eindeutig katholischen Ort verwandelt. Das war für die Protestanten Montreals undenkbar, eben weil es sich um den Mont Royal handelte, der für alle Welt sichtbar eine katholische Identität der Stadt suggeriert hätte. Die Errichtung der Statue als Akt, der das Selbstverständnis einer Gruppe ausdrückte, hätte den Mont Royal als katholisch gekennzeichnet. Gleichzeitig hätte der Berg das Selbstverständnis dieser Gruppe als Inhaber der Deutungshoheit über die Stadt gestärkt und ihre Weltanschauung als essentiellen Teil der Montréalité de Montréal markiert. Der Stadtraum selbst erscheint in diesem Prozess nicht nur als bloßer physischer Rahmen für Handlungen, sondern als dynamischer, eigenständiger Faktor im Prozess von Identitätskonstruktionen und Machtaushandlung. Die gesellschaftlichen Bruchlinien, die im Fall der Marienstatue hervortraten, waren etwas anders gelagert als beim zeitgleichen Royal Victoria Hospital. Aufgrund der klaren konfessionellen Symbolik bildete sich hier eine ethnizitätsübergreifende, protestantische Fraktion, die sich gegen katholische Dogmatik wandte. Überraschend schnell rückten die katholischen Initiatoren von ihrem Vorhaben wieder ab, so dass es nicht zu einem öffentlichen Eklat kam. Das Ganze mutet an wie ein kurzer versuchsweiser Vorstoß, wie um zu schauen, was denn überhaupt möglich wäre. Die Harmonie zwischen den Konfessionen war den Führungsschichten – dem Erzbischof wie auch den Stadträten – dann aber wohl doch wichtiger als die Affirmation der eigenen Position auf dem Berg. Darin ähnelt der Fall dem des RVH, der ja initial auf einem Ausgleich zwischen den Konfessionen beruhte. Allerdings waren beim RVH die Konfessionsgrenzen von vornherein mit ethnischen Bruchlinien identifiziert, die aber erst in einer zweiten Phase durch frankophone populistische Politiker wie Préfontaine oder professionals wie die beteiligten Mediziner akzentuiert wurden. Das gleichzeitige Konzept des Erzbischofs hingegen – die katholische Hoheit durch eine Marienstatue

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zu signalisieren – erweist sich als in ethno-kultureller Hinsicht inklusiver: Iren konnten sich auch mit der Jungfrau identifizieren, und Franko-Protestanten waren mit den Anglo-Protestanten in der Opposition vereint. Mit den Widersprüchen gegen das RVH im Namen eines franko-katholischen Selbstbewusstseins traten neue Führungsschichten auf den Plan, die, anders als etwa der Erzbischof, bereit waren, das fragile, labile Gleichgewicht zwischen den Sprach- und Konfessionsgruppen zu stören. Knapp 40 Jahre später aber war die franko-katholische Nationalgesellschaft, die Société Saint-Jean-Baptiste, erfolgreicher und erhielt von der Stadt die Erlaubnis, den Gipfel mit einem monumentalen Kreuz zu schmücken. Mit großem Pomp, patriotischer Rhetorik zu den Leistungen der ‚französischen Rasse‘ und überwältigenden katholischen Zeremonien wurde das Kreuz 1924 am Tag des frankokanadischen Nationalheiligen eingeweiht und thront seither über der Stadt. Es reicht, den Blick auf die genauen historischen Bezüge und die Entstehungsgeschichte des Kreuzes zu richten oder den diskursiven und symbolischen Rahmen der Einweihungsfeierlichkeiten als Kontext mitzudenken, um das Kreuz als spezifisch katholisches, frankophones Zeichen zu lesen. Das franko-katholische Milieu konnte den Mont Royal zurückerobern, indem es an Cartier und Maisonneuve anknüpfte und die Conquest von 1763 schlicht überging. Mit diesem Amalgam aus Katholizismus und „race française“ setzten die Initiatoren des Kreuzes das frankokanadische Selbstverständnis fort, das auch bei den Protesten gegen das RVH eine Rolle gespielt hatte. Es verwundert daher nicht, dass das Konzept whiteness im franko-katholischen Zivilisierungsund Eroberungsdiskurs durch Abwesenheit glänzt. Dass es 1924, anders als bei der Marienstatue 1888, weniger um ‚den‘ einheitlich verstandenen Katholizismus ging, ist vor dem Hintergrund der innerkatholischen Spannungen zwischen Anglo- und Frankokanadiern im Dominion und des zunehmend ethnisch angebundenen Nationalismus zu verstehen. Während das monumentale Kreuz auf dem Mont Royal einigen Protestanten ein Dorn im Auge war, so war es doch keine Jungfrau Maria und daher für die meisten Montrealer als christliches, konfessions- und ethnizitätsübergreifendes Symbol lesbar. Man könnte das Kreuz jedoch als genialen Schachzug bezeichnen, der die Oberfläche des Ausgleichs wahrte und gleichzeitig Raum gab für alternative, sektionale Lesarten. Je nachdem, in welchen Kontexten man das Kreuz betrachtete, welche Bezüge man in den Vordergrund rückte, zeigte sich eine andere Bedeutungsschicht. Die unterschiedlichen Lesarten, die Bedeutungen, die gesellschaftliche Gruppen diesem Monument beimaßen, schlossen sich nicht aus, sondern konnten nebeneinander existieren. Hier wurde dem Berg ein Zeichen aufgesetzt, mit dem sich aufgrund seines allgemein christlichen Symbolcharakters Protestanten und Katholiken gleichermaßen identifizieren konnten. Die diskursive Einbindung des Kreuzes in die Gründungsgeschichte der Stadt tat ein Übriges, da man es so als Erinnerung an die Eroberung des Landes durch den white man betrachten konnte. Die historische, christlich-zivilisatorische Mission der

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Weißen in Nordamerika, damit konnte man sich in den Führungsschichten Montreals 1924 identifizieren. Gerade die Anglo-Protestanten sahen das Kreuz durch die Brille des Triumphs von white race und christianity, als deren Inbegriff sie sich selbst verstanden. Montreal konnte so als Nukleus der weißen, christlichen, fortschrittlichen Zivilisation in Kanada definiert werden, was letztlich einer Hegemonie der anglo-saxons gleichkam. Der Kompromiss lag also nicht wie bei der Université de Montréal in der mentalen Differenzierung der Territorien am Berg und auch nicht in einem paternalistischen, institutionellen Angebot wie beim RVH, sondern, weil es sich um den Gipfel handelte, im Monument selbst, das unterschiedlich gelesen werden konnte: als Rückeroberung des Berges durch die Frankokanadier, aber auch als Symbol des christlichen Kanada. Die Offenheit des Kreuzes und der mäßige anglo-protestantische Einspruch zeugen von dem Bemühen der Führungsschichten, offiziell Einklang zwischen den Gruppen zu demonstrieren. Die Zurückhaltung der Franko-Katholiken – die möglicherweise rein von den Mehrheitsverhältnissen her 1924 auch eine Jungfrau Maria hätten durchsetzen können – ist auch darauf zurückzuführen, dass die Initiatoren nicht zu den radikalsten frankokanadischen Nationalisten der Zeit gehörten. Auch sie definierten – wie Préfontaine in den 1890er Jahren – die eigene Identität als Frankokanadier ethno-konfessionell, legitimierten sich aber stärker aus der Geschichte heraus als die populistischen Politiker. Wie im nahezu zeitgleichen Konflikt um die UdeM, deren Autoritäten auch aus den Kreisen der SSJB kamen, demonstrierte das frankokatholische Milieu zwar seinen Aufstieg – durch einen Campus am Berg, durch ein Kreuz auf dessen Spitze –, jedoch auf vorsichtige Art und hinter dem Berg, mit einem Kreuz statt einer Jungfrau. Die Franko-Katholiken erscheinen hier nicht mehr in der Bittstellerposition der 1890er wie beim RVH; selbstbewusst konnten sie in den 1920er Jahren Kompromisse akzeptieren. Wenngleich das Kreuz auf einem christlichen Konsens beruhte, so hatte die Fortführung des Amalgams „frankokanadisch und katholisch“, das beim RVH in Erscheinung getreten war, noch nicht aber bei der Marienstatue, die Folge, dass die Franko-Protestanten aus dem gesellschaftlichen Konsens herausfielen. Hieran zeigen sich die Grenzen der zwei Lesarten des Kreuzes als allgemein christliches Symbol und als Symbol der „race française“ (die aber katholisch gedacht wurde). Die zunehmende Selbstbehauptung der Frankokanadier entlang ethnischer Linien, die obendrein die konfessionellen überlappen sollten, hatte ihren Preis in der Ignorierung von Minderheiten, die sich nicht in die doppelten Grenzziehungen einfügen konnten. Es kristallisiert sich heraus, dass die Konflikte um den Mont Royal vor allem von den Eliten der Stadt ausgetragen wurden, von anglo- und frankophonen Oberschichten und den im politischen, wirtschaftlichen und akademischen Leben der Stadt aktiven Mittelschichten. In je unterschiedlichen Kontexten versuchten diese sich am Mont Royal, also durch Raumsymbolik, im Machtgefüge der Stadt zu positionieren.

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Für aufsteigende Eliten schien es wichtig, ihre neue Position im Raum zu signalisieren und die mental maps der Stadt dahingehend zu beeinflussen, dass sie fortan mit dem Mont Royal identifiziert würden; absteigende Eliten bemühten sich ebenfalls, an ihren alten Territorien festzuhalten und eine schwindende Stellung in der Stadtpolitik durch symbolische Hoheit zu kompensieren. Für die unteren Schichten hingegen scheint die Symbolik des Raums kaum eine Rolle gespielt zu haben. Sie wurden höchstens von den einander konfrontierenden Führungsschichten instrumentalisiert, die sich zu selbsterklärten Verteidigern des people aufschwangen. Die Université de Montréal etwa sollte den Frankokanadiern zu neuem Ruhm am Mont Royal verhelfen – sie war aber letztlich nur für wenige zugänglich. Die Gegner des Campus protestierten im Namen der wohltuenden Wirkung des Parks auf die Armen gegen diese Elite-Universität. Genau diejenigen aber, die sich hier für die Ärmeren einsetzten, waren wiederum gegen die Tram, die letzteren erst den Zugang ermöglichen sollte. Und selbst frankophone Populisten, die einen Tramzugang forderten, taten dies offenbar mehr aus eigenem Interesse, um sich selbst als Retter der Arbeiterschichten zu positionieren und gegen die anglokanadischen Oberschichten zu polemisieren, wie das sehr mäßige Interesse etwa der Gewerkschaften an einer Tram auf den Mont Royal zeigt. Das Royal Victoria Hospital kam zwar faktisch den „sick poor“ zugute; die Konflikte aber trugen sich auf Ebene der beteiligten – oder außen vorgelassenen – Experten und Politiker aus. Auch die Initiativen zur Errichtung der Marienstatue und des Kreuzes gingen von den Eliten aus, wie dem katholischen Erzbischof und der Führungsriege der Société Saint-Jean-Baptiste. Da es sich dabei um rein symbolische Unterfangen handelte, blieben die unteren Schichten von den Diskussionen ausgeschlossen, waren sie doch in den anderen Fällen jeweils durch eine pragmatische, funktionalistische Rhetorik, die sich auf die Funktion der jeweiligen Institution bezog, für die symbolischen Auseinandersetzungen instrumentalisiert worden. Letztlich waren ja auch die guidebooks, die Reiseberichte und Jubiläumsschriften der Stadt, die den Mont Royal so überhöhten, Teil eines Ober- und Mittelschichtendiskurses. Von prominenten Bürgern oder wohlhabenden Reisenden verfasst, schrieben diese Texte einen Diskurs fort, der fest in den oberen sozialen Schichten der Stadt verankert war. Der Mont Royal definierte die Montréalité, und diese bestand offenbar nicht aus den tausenden von Arbeitern – gleich welcher Herkunft – die die boomende Industriestadt am Leben hielten. Dass die auf- und absteigenden Eliten in den unterschiedlichsten Situationen um diesen Raum physisch und diskursiv kämpften, führt wiederum die herausragende Bedeutung von Teilen des städtischen Raums vor Augen. Wollten die Eliten am Mont Royal sein, so wurde er dadurch aufgewertet; umgekehrt wertete eine Position am Mont Royal die gesellschaftliche Stellung auf. Während anhand dieser Geschehnisse um den Mont Royal die große symbolische Bedeutung des Berges in der sozialen Praxis Kontur annimmt, kann zugleich differenziert werden: Je nach Situation spielten pragmatische Überlegungen, institutionelle Positionen, ethnizitätsübergreifende konfessionelle Allianzen, interne

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Gewichtsverschiebungen innerhalb der franko-katholischen und anglo-protestantischen Milieus und vor allem die genauen Verortungen in unterschiedlichen Bereichen des Mont Royal mit hinein in die komplexen Prozesse der innerstädtischen, anglo-frankokanadischen Machtverhandlungen. Je nach Kontext stand auch die symbolische Bedeutung des Mont Royal mehr oder weniger im Vordergrund. Insgesamt sagen diese Geschichten nicht nur etwas aus über die Wirkungsmacht von mental maps und das Potential von Stadtraum, Konflikte zu generieren, sondern auch darüber, wie der physische Raum der Stadt dank seiner vieldeutigen Lesbarkeit dazu beitragen kann, Differenzen zu überbrücken und Allianzen zu schmieden. Sie lassen diverse Schattierungen innerhalb ‚der‘ Anglokanadier und ‚der‘ Frankokanadier erkennen. Insofern können auch neue Erkenntnisse über die anglo-frankokanadische Koexistenz in Montreals Age d’or gewonnen werden. Gerade die Differenzierungen nach Zonen des Mont Royal tragen dazu bei, das in der Forschung zu den anglo-frankokanadischen Beziehungen in Montreal herrschende Narrativ aufzubrechen, im Rahmen dessen einige der hier geschilderten Konflikte um den Mont Royal isoliert gedeutet wurden. Dieses Narrativ suggeriert eine nahezu lineare Entwicklung von einer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts quantitativ und qualitativ durch die anglo-protestantische Bevölkerung dominierten Stadt hin zu einer zahlenmäßigen Mehrheit der Franko-Katholiken um 1900, die vom sozialen Aufstieg einiger Frankokanadier und ihrem Eintritt in politische und wirtschaftliche Führungspositionen begleitet wurde. Diese ‚Rückeroberung‘ Montreals ging spätestens seit den 1920er Jahren mit einem radikaler werdenden frankokanadischen Nationalismus einher. Gleichzeitig, so die gängige These, bildete zumindest bis zur Révolution tranquille der 1960er Jahre eine kleine anglophone Minderheit die crème de la crème der Montrealer Gesellschaft. Allzu leicht wäre es, vor dem Hintergrund dieses Narrativs das gescheiterte Projekt der Jungfrau Maria mit dem zeitgleich erfolgreichen Royal Victoria Hospital als Ausdruck der anglophonen Dominanz der 1880er Jahre zu lesen, und die Ansiedlung der Université de Montréal am Berg ebenso wie die Errichtung eines Kreuzes durch die Société Saint-Jean-Baptiste als Zeichen der Rückeroberung der Stadt durch die Frankokanadier in den 1920ern. Die Komplexität dieser anglo-frankokanadischen Aushandlungsprozesse und ihr situativer Kompromisscharakter hingegen treten schärfer hervor, wenn der Raum und seine Gestaltung genau betrachtet werden: Das Kreuz ist zwar auf dem Berggipfel, und es ist in erster Linie ein katholisches Kreuz, aber es ist keine Statue der Jungfrau Maria und daher für weitaus mehr Montrealer akzeptabel. Der Gipfel des Mont Royal konnte nicht geteilt werden, aber ein ihn schmückendes, ambivalentes Monument ermöglichte den gesellschaftlichen Konsens. Die SSJB setzte damit ein Zeichen sowohl im Namen der Frankokanadier als auch im eigenen Milieu denjenigen gegenüber, die in den 1920er Jahren einen radikaleren frankokanadischen Nationalismus mit anti-britischer Spitze propagierten und diesen auch ohne katholische Zeichen zu praktizieren gedachten. Die Universität liegt zwar am Mont Royal, aber

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eben ‚hinten‘ und nicht ‚vorne‘ beim Royal Victoria Hospital und ist daher sowohl für Anglophone als auch für Frankophone ein Sieg. Die mentalen Zuschreibungen zu unterschiedlichen Zonen des Mont Royal ermöglichten hier den Konsens. Zwar hatte die UdeM den Mut, einen Platz ‚vorne‘ am Berg einzufordern und auch die politische Unterstützung, doch zog sie sich freiwillig nach ‚hinten‘ zurück – um den Berg zu besetzen, ohne die anglophonen Mitbürger zu verprellen. Die Führungsspitze der UdeM ähnelte der der SSJB, eine Allianz aus Klerus und liberaler Bourgeoisie, die in den 1920er Jahren ihre eigene Position im frankokanadischen Milieu verteidigen musste, gleichzeitig aber von einer Welle frankokanadischen Aufstiegs getragen wurde. Ihr ging es um die interkonfessionelle und interethnische Harmonie in der Stadt, sie orientierte sich an den anglophonen Eliten und wollte mit ihnen gleichziehen – eine Art frühes „rattrapage“, aber im Geist der Ära Laurier. Der katholische Erzbischof verzichtete 1888 um des innerstädtischen Friedens willen auf die Marienstatue, worum ihn einzelne frankokanadische Stadträte gebeten hatten. War seine Stellung im frankokanadischen Milieu so gefestigt, dass er sich einen derartigen Vorstoß erlauben konnte, so waren die Politiker offenbar vorsichtiger und gerade vor dem Hintergrund der gewalttätigen Auseinandersetzungen der 1880er auf innerstädtische Harmonie bedacht. Über die bloße Idee kam das Projekt nie hinaus, was auch die Sensibilität der katholischen Hierarchie gegenüber dem reibungslosen konfessionellen Zusammenleben in der Stadt nahelegt. Letztlich war auch das Angebot der Stifter des RVH, alle Ethnizitäten und Konfessionen zuzulassen, eine Gegenleistung für das wertvolle Land am Mont Royal und damit eine – wenn auch paternalistisch – ausgestreckte Hand. Den aufstrebenden franko-katholischen Mittelschichten, den Politikern und Medizinern in diesem Fall, die später gegen einen Ausschluss von Führungspositionen im RVH protestierten, ging es in erster Linie um ihre Positionierung als Experten und die Teilhabe am Modernisierungsprozess im Krankenhauswesen. Dass das RVH aber zudem gerade am Mont Royal anglophonen Fortschritt und den Führungsanspruch anglophoner Experten inszenierte, ließ sie auf die Barrikaden gehen. Dabei waren sie zwar erfolglos, möglicherweise aber gerade weil es hier um handfeste Interessen und Leitungsfunktionen ging und die Symbolik nur in zweiter Linie eine Rolle spielte: Es konnte weder ein alternativer Ort gefunden werden wie bei der UdeM, noch ein ambivalentes Zeichen gesetzt werden wie beim Kreuz. Am Zugang zu faktischen Machtpositionen in anglophonem Gebiet scheiterten die frankophonen Mittelklassen noch in den 1890er Jahren. In diesem Sinne kann das auf eine diachrone Entwicklung von der Dominanz der Anglokanadier hin zur mehrheitlich frankophonen Stadt fokussierte Narrativ nicht gänzlich verworfen werden, aber das Denken von den unterschiedlichen Teilräumen des Mont Royal her trägt dazu bei, sich dem Automatismus zu entziehen, die skizzierten Konflikte lediglich im Licht dieser Linearität zu deuten. „Mit dem räumlichen Denken findet damit ein Wechsel der Perspektiven statt: von Strukturen zu Prozessen, von Totalität zum Widerstreit, von Eindeutigkeit zur Überlagerung, von Ord-

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nung zu Kontingenz.“3 Aufmerksamkeit für den Raum kann so dank dessen simultaner Vielschichtigkeit Brüche im Gleichzeitigen, sperrige Momente in der diachronen Erzählung und innere Differenzierungen offenbaren, und sie kann so als Korrektiv wirken „gegen eine retrospektive Linearisierung und Homogenisierung von historischen Entwicklungen“4. Denn der städtische Raum bot aufgrund seiner Bedeutung und seiner vielschichtigen Lesbarkeit im wahrsten Sinne des Wortes Raum für Kompromisse – und für divergierende Haltungen innerhalb der retrospektiv oft allzu vorschnell als einheitliche Blöcke begriffenen Gruppen der Anglo- und Frankokanadier. Während sich am Mont Royal aufgrund von dessen Funktion als Identifikationsraum Montreals häufig Konflikte innerhalb der Eliten der Stadt entzündeten, bot er gleichzeitig die Chance, diese auszutarieren. In der andauernden Praxis des Machtverhandelns war der städtische Raum ein Spielstein, der zugleich subtile Manifestationen kultureller Hegemonie und friedliches Zusammenleben ermöglichte.

3 Klaus Gestwa, „Technologische Kolonisation und die Konstruktion des Sowjetvolkes: Die Schau- und Bauplätze der stalinistischen Moderne als Zukunftsräume, Erinnerungsorte und Handlungsfelder“, in: Sabine Damir-Geilsdorf et al. (Hgg), Mental Maps, Raum, Erinnerung: Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung (Münster: LIT, 2005), 76. 4 Ebd.

Abkürzungsverzeichnis ACJC: AVM: B: BANQ: CAM: CPR: CRD: DA, UdeM: DP: DR: FNSJB: MGH: MLCW: MPPA: MUA: NDG: PVC: RVH: RVH, OCOO: SSJB: UdeM: UQAM:

Association catholique de la jeunesse canadienne-française Archives de la Ville de Montréal Bobine [microfilm] Bibliothèque et Archives nationales du Québec Centre d’archives de Montréal Canadian Pacific Railway Conseil, rapports et dossiers Division des Archives, Université de Montréal Dossiers de presse Dossiers de rues Fédération nationale St-Jean-Baptiste Montreal General Hospital Montreal Local Council of Women Montreal Parks and Playgrounds Association McGill University Archives Notre-Dame-de-Grâce Procès-verbaux du Conseil Royal Victoria Hospital Royal Victoria Hospital, Office of Chief Operating Officer Société Saint-Jean-Baptiste Université de Montréal Université du Québec à Montréal

Abbildungsnachweis Abb. 1: Boulevard St-Laurent, eingezeichnet in: E. P. J. Courval, Plan de la cité de Montréal et de ses environs, 1931, partie ouest. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans, no. d’identification 428455, cote G3454 M65 1931b C68 CAR. Abb. 2: A. R. Pinsoneault, Atlas of the Island and City of Montreal and Ile Bizard, 1907, Plate 25, „Around the Mountain“. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans: Plans de villes et villages du Québec, no. d’identification 174922_25, cote G1144 M65 G475 P5 1907 CAR. Abb. 3: Plan de Montréal, in: Raymond Tanghe, Géographie humaine de Montréal (Montréal: Librairie d’Action canadienne-française, 1928), 29. Abb. 4: „Proposed New Site for Université de Montréal“, in: Montreal Daily Star 31.5.1922. Abb. 5: Montreal, from St. Helen’s Island, John Henry Walker, about 1847, ink on paper – wood engraving. McCord Museum, Montreal, M930.50.8.588. Abb. 6: Photographie du port de Montréal à partir de l’île Sainte-Hélène, s.d. AVM, Fonds Photo VM94/Y1 17 199-Z200. Abb. 7: Charles E. Goad, General Key to Atlas of the City of Montreal, Canada, 1912. BANQ, Collection de Cartes et Plans: Plans de villes et villages du Québec, no. d’identification 174399_000_carte-index, cote G1144 M65G475 C3 1912 DCA Abb. 8: Plan du quartier latin, in: L’Escholier, 23.12.1915. Abb. 9: Hôtel-Dieu, Palais de Justice, Bibliothèque municipale, Hôpital Notre-Dame, eingezeichnet in: E. P. J. Courval, Plan de la cité de Montréal et de ses environs, 1931, partie ouest. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans, no. d’identification 428455, cote G3454 M65 1931b C68 CAR. Abb. 10: Blason de l’Université de Montréal. Université de Montréal, Secrétariat Général. Abb. 11: Projet d’armoiries par M. Dubois, 1920. DA, UdeM, Fonds du Secrétariat Général D35, #338 „Armoiries 1895–1949“. Abb. 12: Inauguration du bâtiment principal de l’Université de Montréal, 1943. DA, UdeM, Fonds du Secrétariat général D35, GD0035100006, Documentaire sur l’Université de Montréal 1943. Abb. 13: Affiche Visitez notre Université de la montagne, 1940. DA, UdeM, Fonds du service de la gestion de documents et des archives D36. Abb. 14: Rückseite des Programmhefts Université de Montréal: Gala d’Inauguration sous les auspices de l’Association générale des Diplômés de l’Université de Montréal, 3.6.1943. DA, UdeM, Fonds du service de la gestion de documents et des archives D36. Abb. 15: Mount Royal Park road, Montreal, QC, about 1900, Wallis & Shepherd. McCord Museum, Montreal, MP-1979.22.114. Abb. 16: Golden Square Mile, eingezeichnet in: E. P. J. Courval, Plan de la cité de Montréal et de ses environs, 1931, partie ouest. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans, no. d’identification 428455, cote G3454 M65 1931b C68 CAR.

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Abbildungsnachweis

Abb. 17: Ravenscrag, Montreal, QC, Fotografie Nadine Klopfer, 2005. Abb. 18: Charles E. Goad, Map of the City of Montreal, 1903. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans: Plans de villes et villages du Québec, no. d’identification 66417, cote G 3454 M65 1903 G 63 CAR. Abb. 19: „Inauguration du Parc Mont-Royal, le 24 Mai“, in: L’opinion publique, 8.6.1876. Abb. 20: City of Montreal, [1890]. BANQ, Collection de Cartes et Plans, no. d’identification 87036_01, cote G3454 M65 1890 C57 CAR. Abb. 21: Katasternummer 1801, eingezeichnet in: Charles E. Goad, Contour Plan of Mount Royal Park, Montreal, Atlas of the City of Montréal, 1890. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans: Plans de villes et villages du Québec, no. d’identification 174398_21, cote G 1144 M65G475 G6 1890 CAR #2. Abb. 22: „L’hôpital Royal Victoria“, in: La Compagnie des Tramways de Montréal, Votre Montréal, 1927. Abb. 23: Rand McNally and Co., Montreal, 1898. BANQ, Collection de Cartes et Plans, no. d’identification 66812_01, cote G 3454 M65 1898 R35 CAR. Abb. 24: Royal Victoria Hospital, Pine Avenue, Montreal, QC, about 1884. William Notman & Son. Notman Photographic Archives, McCord Museum, Montreal, VIEW 2552.0. Abb. 25: Bird’s-eye view of the New Royal Infirmary, Edinburgh, from the north-east, 1878, engraving, in: James Grant, Old & New Edinburgh (Cassell & Co: London, ca. 1890), vol. 4, 361. Abb. 26: Kreuz auf dem Mont Royal, Montreal, QC, Fotografie Nadine Klopfer, 2007. Abb. 27: Plan du mont Royal, in: Peter Jacobs, „La Montagne magique“, in: La Montagne en question, Publication du Groupe d’intervention urbaine de Montréal (Montréal: BANQ, 1988), 32. Abb. 28: Lookout on Mount Royal, Montreal (Partie de la terrasse –Terrasse Robillard), s.d. BANQ, Collection des albums de rues Edouard-Zotique Massicotte, no d’identification 2731863, cote 3-53-A. Abb. 29: Charles Dudley Arnold, View from roof of Manufacturers & Liberal Arts building – Court of Honor, World’s Columbian Exposition, Chicago (Ill.), 1893. Chicago Historical Society, ICHI-02525. Abb. 30: The Lookout, Mount Royal Park, Montreal, QC, 1916. William Notman & Son. Notman Photographic Archives, McCord Museum, Montreal, VIEW-16204. Abb. 31: The Lookout, Mount Royal Park, Montreal, QC, 1916. William Notman & Son. Notman Photographic Archives, McCord Museum, Montreal, VIEW-16203. Abb. 32: The terrace at the look-out, Mount Royal, Montreal, QC, about 1910. Detail. Anonymous. McCord Museum, Montreal, MP-0000.1929-D1. Abb. 33: Skizze zum Kreuz auf dem Mont Royal, in: Peter Jacobs, „La Montagne magique“, in: La Montagne en question, Publication du Groupe d’intervention urbaine de Montréal (Montréal: BANQ, 1988), 22. Abb. 34: Route der Parade zum 24.6.1924, eingezeichnet in: E. P. J. Courval, Plan de la cité de Montréal et de ses environs, 1931, partie ouest. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans, no. d’identification 428455, cote G3454 M65 1931b C68 CAR.

Abbildungsnachweis

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Abb. 35: Fletcher’s Field, eingezeichnet in: E. P. J. Courval, Plan de la cité de Montréal et de ses environs, 1931, partie ouest. Detail. BANQ, Collection de Cartes et Plans, no. d’identification 428455, cote G3454 M65 1931b C68 CAR. Abb. 36: Panoramique de la Montagne: Congrès Eucharistique Montréal, 1910, auteur inconnu. Archives de l’Archevêché de Montréal, Fonds Photo (FP) – Congrès Eucharistique de 1910. Abb. 37: Plan of Mount Royal Park, Montreal, QC, 1877, attributed to Frederick Law Olmsted. McCord Museum, Montreal, M992.22.2. Abb. 38: Autel érigé au Fletcher’s Field (Le Congrès Eucharistique, La messe en plein air). BANQ, Collection des albums de rues Edouard-Zotique Massicotte, no. d’identification 2732004, cote 3-90-a. Abb. 39: Messe en plein air, Congrès Eucharistique 10.9.1910. Archives de l’Archevêché de Montréal, Fonds Photo (FP) – Congrès Eucharistique de 1910. Abb. 40: Souvenir du XXIe Congrès Eucharistique, 1910, Postkarte. BANQ, Collection des albums de rues Edouard-Zotique Massicotte, http://bibnum2.banq.qc.ca/bna/massic/accueil.htm, s.v. „Mont Royal (parc)“. Abb. 41: „Use another symbol“, in: Gazette 11.6.1984. Abb. 42: Montreal Map, in: En Route [Magazin von Air Canada] 11 (2004), 97.

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Register Abbott, John H. C. 143, 163 Aberdeen, Lord s. Gordon, John Campbell Action française 224, 263 Allan, Hugh 122, 144, 215 Angrignon, Jean-Baptiste-Arthur 140 Angus, Richard B. 148, 176 Angus Shops 139 Annexionen (Montreal) 4, 82, 131, 158–159, 161 Anti-Imperialismus 81, 263 Arbella 74 Arnold, Charles Dudley 205 Asselin, Olivar 262–263 Association catholique de la jeunesse canadienne-française (ACJC) 225, 246, 262–264 Atherton, William H. 185 Aylmer, Rue 120 Bank of Montreal 90, 148, 176 Baudouin, Jean 47 Bauset, René 47 Beaugrand, Honoré 164 Beausoleil, Cléophas 159, 181–182, 195 Beaux-Arts 5 Bédard, Joseph-Hercule 140 Béique, Caroline 91 Béique, Frédéric-Liguori 84, 86, 90, 92, 110–111, 116, 121, 228, 254, 264 Belleforest, François de 60 Bellingham Road 46–47, 76, 135 Bishop’s University 186–187 Bourassa, Henri 81, 242–243, 263 Bourbeau, Auguste 201 Bourgeoys, Marguerite 226–227, 233 Bourget, Ignace 8 Bourne, Francis (Mgr) 242 Bray, J.-Allan 140 British Empire 38, 120–121, 149, 156, 166, 192, 194, 209, 214, 219, 224, 258, 270–271 British North America Act 8, 168

Brodeur, Joseph-A.-Adélard 87–88, 135–140 Bruchési, Paul (Mgr) 263 Canadian Pacific Railway (CPR) 67, 120, 139, 148, 163 Canal Lachine 194 Carmel, Victor 140 Cartier, Jacques 7, 60, 62, 208–210, 219– 220, 233, 274 Central Business District 131–132 Central Park (NYC) 93, 104 Chambers, William 3, 157 Chambre de Commerce du district de Montréal 82–83, 215, 228, 253, 260 Champ de Mars 68, 165 Champlain, Samuel de 7, 60–62, 257 Chapleau, Joseph-Adolphe 223 Charbonneau, Joseph (Mgr) 77–79 Chartier, Emile 72 Cherrier, Rue 237 Christ Church Kathedrale 120 City Beautiful 5 City Functional 5 City upon the hill 73–74, 78, 110 Clendinneng, William 195 Comité des Dames Patronesses de l’Association Saint-Jean-Baptiste 91 Confederation 81–82, 147–148, 158 Congrégation de Notre-Dame 72, 226 Conscription crisis 230, 263 Côté, Suzor 260 Couture, J. Doris 249, 255 Creelman, John Jennings 138–140, 254 Daoust, Placide 140 Desjardins, Alphonse 180 David, Laurent-Olivier 235 Dawson, John William 150–152, 176 Decary, E.R. 87 Dandurand, Josephine Marchand 91 Dandurand, Raoul 84, 90, 92, 110–11 D’Armes, Place 223, 236

Register

Deschamps, Alphonse Emmanuel (Mgr) 197, 233, 235 Desroches, Alphonse-Avila 140 Dollard des Ormeaux 224, 233, 263 Dorchester Street 120 Drummond, George A. 89, 176, 180 Drummond, James Newton 139–140 Drummond, Julia 91, 170 Dubois, Louis-Joseph 72 Duluth, Rue 64, 249 Dupaigne, Pierre 217, 230 Duquette, Charles 228, 235 Durocher, Rue 120 Duvernay, Ludger 233 Elie, Joseph 140 Emond, Honoré 140 Empire Day, s. Victoria Day Eroberungsdiskurs 63, 234, 274 Eucharistischer Kongress (1910) 242–243, 245–247 Experten 97, 103–104, 172–178, 180, 188–190, 196–197, 271–272, 276, 278 Fabre, Edouard-Charles (Mgr) 210, 214 Fédération Nationale Saint-Jean-Baptiste (FNSJB) 91 Fletcher’s Field 64, 68, 100, 112, 126, 235, 240–241, 243–248, 256 Forget, Louis-Joseph 121 Franko-Protestanten 214, 257–258, 274–275 French Canadian Missionary Society 195 Gabias, J.-Maurice 140 Gareau, Joseph-O. 140 Gauthier, Georges (Mgr) 47, 50–52, 64–65, 67–68, 76, 84, 88, 114, 118, 142, 197, 229–230, 233, 240 Généreux, Damase 135–140 Gérin-Lajoie, Marie 91 Gilded Age 5, 106 Golden Square Mile 119–127, 129, 132, 139, 144, 149–150, 155, 170–171, 198, 269, 271 Gouin, Lomer 84–85 Gordon, John Campbell 144, 180, 223 Grenier, Jacques 214–215

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Groulx, Lionel 74, 81–82, 231, 235, 263–264 Gründungsmythos – von Montreal 60, 62, 207, 209, 219 – US-amerikanisch 74 Hampstead 131 Hanover Street 120 Haussmann, Georges-Eugène 185 Hébert, Philippe 223 Heiliger Ort/Raum s. sacred space Hingston, William H. 89, 254–255 Hingston, Margaret Josephine 90, 92, 118 Hochelaga 60, 159, 161 Hôpital Notre-Dame 68, 71, 175 Hôtel-Dieu 68, 71, 246 Houde, Camillien 83 Hudson’s Bay Company 148 Hushion, William James 140 Iconic space 2, 4, 213, 272 Ile de Montréal 61, 74, 189, 209–210, 241 Imagination urbaine s. mental maps Imperialismus 38 Incline Railway (Montreal) 3, 64, 249 Jacobs, Lyon-W. 139–140 Jarry, Raoul 140 Jeanne-Mance, Parc s. Fletcher’s Field Jungfrau Maria, Statue auf dem Mont Royal 42, 197, 199, 209–216, 222, 257–258, 261, 273–275, 277 Kolonialzeit 7, 72, 208, 262, 268 Kreuz auf dem Mont Royal 42, 197–266, 274–278 Kulturelle Hegemonie 6, 29, 42, 49, 64, 73, 109, 128, 261, 275, 279 Lafontaine, Parc 67–69, 75, 150, 233, 236, 239, 243 Laissez-faire 5, 103, 106 Lachapelle, Séverin 175, 177–178, 184, 189 Lalancette, Georges 140 Lalonde, Oscar 140 Landflucht 82, 158 Landschaftsarchitektur 41, 100, 104, 227, 244 Landschaftspark 102–110, 119, 125–126, 245, 260–261, 269

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Langlois, Ernest 140 Laurier (Stadtteil) 46, 67 Laurier, Wilfrid 85, 165, 243, 278 Leblond de Brumath, Adrien 132 Licht-Luft-Diskurs 109, 155, 169, 184, 190, 192 Lighthall, William D. 90–91, 221 Logan’s Park s. Lafontaine, Parc Maisonneuve, Paul Chomedey Sieur de 8, 61–62, 77–78, 198, 209, 219, 221–227, 230, 239, 263–264, 274 Maisonneuve, Parc 112 Maisonneuve (Stadtteil) 137 Maplewood Road 46, 76, 85, 135 Martin, Médéric 47, 83, 136, 138, 249 McGill University 38, 65, 90, 127, 144, 150, 163, 172–177, 186, 197, 254 McShane, James 159 McTavish Reservoir 144–145, 172–174, 177, 271 Mentale Landkarten s. mental maps Mental maps 2, 9, 18–19, 42, 49, 56, 69, 80, 100, 119, 126–135, 156, 168, 170, 184, 195, 200, 240, 266–267, 269–271, 276–277 Mercier, Honoré 165 Mercier (Stadtteil) 127 Meredith, Charles 90 Meredith, F. E. 111 Meredith, Vincent 90 Miasmenlehre 30, 151, 177 Mille carré doré s. Golden Square Mile Mongeon, Alexandre 67–68, 128, 140 Monte Real 60 Montpetit, Edouard 47, 65 Montreal Board of Health 172–177, 179, 184 Montreal Board of Trade 82, 171, 215, 254, 260 Montreal City Improvement League 91, 254, 260 Montreal General Hospital (MGH) 173–174, 176, 179, 194–195 Montreal Light, Heat & Power Company 218

Register

Montreal Local Council of Women (MLCW) 46, 87–89, 91, 134, 170, 268 Montreal Parks and Playgrounds Association (MPPA) 34, 46–47, 86– 102, 110, 114, 126, 169, 176, 249–250, 254, 259, 268 Montreal Street Railway Company/ Compagnie des Tramways de Montréal 89, 152–153, 156, 170, 249, 253 Montréalité de Montréal 11, 43–64, 216, 240, 267, 272–273, 276 Mont-Royal, Avenue 50, 64, 87, 92, 237 Mont-Royal (Stadtteil) 137 Morin, Victor 69, 222, 225, 228–231, 248, 264 Mount Royal Cemetery 92–93 Mount Royal Lookout 201, 204, 206–207, 247 Mount Royal Town 131 Mount Stephen, Lord s. Stephen, George Nationalismus – Frankokanadisch 8, 38, 81–82, 84, 223–224, 228, 236, 242, 258, 262–265, 274, 277 – Anglokanadisch 38 Neighborhood parks 126, 245, 253, 260 Nelson, Frederick E. 249 New Town 120 New urban history 16, 36 Notman, William 193, 205–207 Notre-Dame (Kirche, Montreal) 53, 236, 239–240 Notre-Dame-de-Grâce (NDG, Stadtteil) 139 Notre-Dame-des-Neiges (Friedhof ) 93, 200. 213 Notre-Dame-des Neiges (Stadtteil) 76, 109, 131, 135, 137, 139 O’Connell, Thomas 140 Olmsted, Frederick Law 41, 93–94, 104, 107, 244 Outremont 64, 67, 76, 93, 132 Outremont Quarry (Steinbruch) 45–46, 76, 86, 94, 133, 135, 139 Parade 233–240, 262

Register

Parc, Avenue du/ Park Avenue 64, 68, 112, 237, 244, 249 Parizeau, T. 109, 134 Parteimaschine 66, 159 Paternalismus, angelsächsischer 147, 149, 155, 184, 271–272, 275, 278 Perrault, Joseph-Xavier 230 Pins, Avenue des/Pine Avenue 68, 120, 144, 172, 193, 244 Pockenepidemie (Montreal 1885) 163–164, 167, 173, 215, 271 Préfontaine, Raymond 83, 159, 182–187, 189, 194–196, 272–273, 275 Progressive Era (Progressivismus) 5, 6, 102–104, 108–109 Prozession 61, 237, 239, 240, 246, 262, 264 Quartier Est 195, 214 Quartier Latin 65–66 Queen Victoria 6, 42, 143, 147, 150, 157, 177, 179–180, 191–192, 196, 213, 271 Quintal, Henri-Adonai 140 Rainville, Henri-Benjamin 159, 185 Ramusio, Giovanni Battista 60 Ravenscrag 122–123, 144 Redpath, Frank 90 René-Lévesque, Boulevard 120 Révolution tranquille 37, 277 Riel, Joseph-Wilfrid 140 Riel, Louis 165, 171, 215 Rochon, Jean-Baptiste 135–140 Rosemont 139–140 Ross, George 175, 178 Roy, W. Ormiston 92, 114, 118 Royal Infirmary, Edinburgh 192–193 Royal Victoria Hospital (RVH) 34–35, 42, 142 Rubenstein, Louis 138–141 Sacred space 41, 100–101, 110, 125, 195, 226–227, 244, 251–252, 259 St. Alexander Street 120 St-André (Stadtteil) St-Antoine (Stadtteil) 120, 195 St-Denis, Rue 65–67, 110, 140, 237 St-Denis (Stadtteil) 46 St-Dominique, Rue 237

323

Ste-Anne (Stadtteil) 140 Ste-Catherine, Rue 65, 67, 110, 131 St-Gabriel 140, 194 St-Georges (Stadtteil) 139 St. Helen’s Island 54–55 St-Hubert, Rue 65, 237 St-Jacques (Stadtteil) 65 St-Jean (Stadtteil) 67, 128 St-Jean-Baptiste, Feiertag (24. Juni) 218, 232–233, 235–243, 247, 257, 262 St-Jean-Baptiste (Stadtteil) 46, 67 St-Joseph, Boulevard 237 St-Joseph (Stadtteil) 140 St-Laurent, Boulevard 9–11, 67, 110, 139–140, 270 St-Laurent (Stadtteil) 46, 139 St. Lawrence (Fluss) 2, 8, 33, 52–53, 56, 77, 202, 216, 220–221 St-Louis, Square 65 St-Louis, Stadtteil 139 St-Urbain, Rue 67 Sansregret, Joseph-Edmont 140 Saxon Snell, Henry 177, 180, 192 Scottish Baronial Style 192 Separatismus 81–82 Seybold, H. B. 138–141 Shaughnessy, Thomas G. 118 Shaw, Harold-Leroy 139–140 Sherbrooke, Rue/Sherbrooke Street 65, 68, 122, 197 Site vs situation 51–52 Smith, Donald A. 143–144, 146–150, 152, 157, 163, 165, 167, 170, 179–182, 196 Société de Notre-Dame de Montréal 61, 209, 225 Société Saint-Jean-Baptiste (SSJB) 34, 42, 217–243, 248, 257, 262–265, 274–278 Société Historique de Montréal 69 Spatial turn 13–14 Square des Commissaires s. Victoria Square Square Mile s. Golden Square Mile Stadtbibliothek 68, 71, 229 Stadtplanung 4, 5, 20, 104 Stadtfotografie 107

324

Stephen, George 143–144, 146–150, 152, 157, 163, 165, 167, 170, 173, 179–182, 196 Stevenson, Alexander A. 181–182, 195 Straßenbahn (Montreal) s. Trambahn (Montreal) Strathcona, Lord, s. Smith, Donald A. Sulpizianer 72, 217, 239 Thompson, Edwin 182, 194 Tourismus, Touristen, 33, 55, 63, 204, 209, 218, 227, 248, 266 Turcot, Napoléon 140 Université Laval à Montréal 50, 65, 68, 175, 186 Université Laval (Québec) 50 University Street 175 Tessier, Alphonse-Delphis 140 Thoreau, Henry David 57 Trambahn (Montreal) 89, 170, 185, 199, 249–256, 259–261, 276 Trépanier, Léon 140, 219, 228 Turner, Frederick Jackson 14 Université de Montréal (UdeM) 34, 39, 42–143, 147, 152, 155, 158, 162–164, 169–170, 187, 194, 197–201, 229, 243–244, 249, 253–254, 259–261, 264, 268–273, 275–278 Université du Québec à Montréal (UQAM) 36, 39

Register

Vaillancourt, Arthur 136–137, 140 Vandelac, Georges 140 Vanutelli, Vincenzo (Mgr) 242 Victoria Day 124, 224 Victoria Square 191 Viger, Gare (Bahnhof ) 65 Viktorianische Frauen 125 Viktorianische Gesellschaft 100, 269 Viktorianische Gesellschaftsordnung 155, 252 Viktorianisches Großbritannien 149 Viktorianische Landschaftsparks 105 Viktorianische Oberschichten 120, 192 Viktorianische Werte 125 Viktorianisches Zeitalter (Victorian Age) 6, 7 Ville-Marie 61–62, 210, 221–222 Villeneuve, Rue 237 WASP 7, 74, 108–110, 118–119, 157, 227, 269 Wilderness 57 Weltausstellung (Chicago 1893) 104, 205 Weltwirtschaftskrise 1929 4, 47, 75 Westmount 93, 127, 132, 139, 200 White City s. Weltausstellung (Chicago 1893) Winthrop, John 74 Zoning 126