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German Pages 477 [480] Year 2000
Giambattista Vico Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker
Giambattista Vico
Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach 2. Auflage mit einem Nachwort von Wilhelm Schmidt-Biggemann
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die 1. Auflage erschien 1924 in der Sammlung PHILOSOPHEN, herausgegeben von Dr. Gottfried Salomon in der Allgemeinen Verlagsanstalt München.
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaujnahme Vico, Giambattista: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker / Giambattista Vico. Nach der Ausg. von 1744 übers, und eingel. von Erich Auerbach. - 2. Aufl. / mit einem Nachw. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 Einheitssacht.: Principi di una scienza nuova d'intorno alia communa natura delle nazioni ISBN 3-11-016890-1 © Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: -f-malsy, Bremen Umschlagmotiv: Patinier, Joachim, um 1475/80-1524. „Die Überfahrt zur Unterwelt", um 1510. (Charon als Fährmann auf dem Styx; links das Paradies oder Elysium, rechts die Hölle oder Hades mit dem Höllenhund) Öl auf Holz, 64 x 103 cm. Inv. 1.616. Madrid, Museo del Prado. Photo: AKG Berlin / Erich Lessing Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Inhaltsverzeichnis Vorrede des Übersetzers
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Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker Idee des Werkes Erstes Buch: Von der Feststellung der Prinzipien Zweites Buch: Von der poetischen Weisheit Drittes Buch: Von der Entdeckung des wahren Homer Viertes Buch: Von dem Lauf, den die Völker nehmen Fünftes Buch: Von der Rückkehr der menschlichen Dinge bei der Wiedergeburt der Völker Beschluß des Werkes
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Nachwort von Wilhelm Schmidt-Biggemann
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er Aufforderung, eine deutsche Ausgabe der Neuen Wissenschaft zu übernehmen, bin ich mit vieler Freude nachgekommen, obgleich der Raum beschränkt und die Frist fast allzu kurz bemessen war. Es schien mir in der gegenwärtigen Zeit und bei dem Gewicht der Sache geboten, die Forderung: daß ein deutscher Vico wieder allgemein zugänglich wird, allen Bedenken voranzustellen. Doch muß ich den kritischen Leser um Berücksichtigung des Umstandes bitten, daß ich nur wenige Monate für diese Arbeit zur Verfügung hatte, auf die mein Vorgänger, der kluge und getreue Wilhelm Ernst Weber, fünf Jahre verwandt hat. Für die notwendig gewordene Kürzung des Originaltextes boten sich zwei Möglichkeiten: Die Übersetzung von „Ausgewählten Kapiteln" oder die Zusammenfassung des Gesamten. Zur ersteren habe ich mich nicht entschließen können, denn die Neue Wissenschaft ist trotz der scheinbaren Planlosigkeit ein Gebäude, ein großes Gedicht j de Sanctis hat sie die göttliche Komödie der Wissenschaft genannt. So blieb also der zweite Weg übrig, den gesamten Text zusammenfassend zu redigieren. Hier stand mir das berühmte Vorbild Jules Michelets zur Verfügung j doch sah ich bald, daß diesen Spuren nicht gefolgt werden dürfte, wenn ich den Heutigen ein lebendiges Bild Vicos vermitteln wollte. In Michelets Bearbeitung ist von Vico kaum etwas übrig geblieben, als der Name auf dem Titelblatt: Schon
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V o r r e d e des Ü b e r s e t z e r s der Titel selbst ist verständnislos verändert, und die Übersetzung, in ihrer willkürlichen Auswahl und ihrem eleganten Stil, der alles glättet und übertüncht, ist für einen Bewunderer Vicos nicht erträglich. Es mußte also der Stoff auf eigene Faust bewältigt werden, und es ist dabei kein bestimmter Plan verfolgt worden, als höchstens der, das Werk in seiner eigentümlichen Verworrenheit wie in seiner eigentümlichen Größe intakt zu erhalten. Die Disposition Vicos ist genau eingehalten, kein einziges Kapitel ganz unterschlagen 5 in Bezug auf Syntax und Redewendungen habe ich nach dem Beispiel Webers, dem ich viel verdanke, einen Konservatismus geübt, der an die Anpassungsfähigkeit des Lesers hohe Anforderungen stellt. Die Kürzungen beziehen sich hauptsächlich auf die Auseinandersetzungen Vicos mit zeitgenössischen Gelehrten, und auf weit ausgesponnene mythologische oder juristische Spekulationen j die chronologische Tafel mit ihren Erklärungen ist fast ganz fortgefallen.*) Man wird manchen lebendigen Einfall, manche wissenschaftliche Merkwürdigkeit vermissen 5 indessen habe ich bei der Arbeit zuletzt die Empfindung gehabt, daß etwas Straffheit und Beschränkung auf das Entscheidende nicht ganz vom Übel sind für eine Ausgabe, die das sonderbare und bedeutende Gebilde in Deutschland heimisch machen will. Was Vicos oft verwirrte und entstellte Zitate betrifft, so habe ich nur kurze Hinweise geben können, und diese oft aus der *) Stellen des Textes, die ich im Wesentlichen mit eigenen Worten zusammengefaßt habe, stehen in eckigen Klammern.
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kritischen Ausgabe Nicolinis übernommen. Auf seine restlos vorzügliche Arbeit muß ich den Leser verweisen, der für Geschichte und Gestaltung des Originaltextes Interesse hat, oder Belehrung über Einzelheiten sucht; er findet dort alle Varianten, die gedruckt oder handschriftlich erhalten sind, sowie eine eingehende Nachweisung von Vicos Quellen; um das Auffinden zu erleichtern, habe ich auch seine Zählung nach Abteilungen beibehalten. Vico ist 1670 in Neapel als Sohn eines Buchhändlers geboren. Als Kind erlitt er durch einen Sturz eine schwere Kopfverletzung und blieb seither, wie er selbst sagt, von melancholischem und reizbarem Temperament, „wie es sinnreichen und tiefen Naturen zukommt, deren Geist von Einfallen blitzt, und deren Reflexion am Spitzfindigen und und Falschen sich nicht ergötzt." Erzogen wurde er in der Atmosphäre der jesuitischen Gegenreformation, die in jener Zeit die Überlieferung der katholischen Wissenschaft lebendig be wahrte 5 sie verband mit dem eingehendsten Studium des Altertums eine höchst kasuistisch-spitzfindige Jurisprudenz und eine Logik, die man als spielerische Entartung der Scholastik bezeichnen kann. In einem Staatswesen, das schon viele Jahrhunderte lang einem absoluten Regiment, noch dazu meist fremden Herrschern unterworfen war, hatte sich eine freie Bewegung der Geister nicht auswirken können; die Renaissance war fast spurlos an dem Königreich Neapel vorübergegangen, und die Gegenreformation mit ihren absolutistischen, streng autoritativen Tendenzen war von Anfang an durch die spanischen Vizekönige gefördert worden und zur Herrschaft gelangt. Das Volk lebte
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in völliger Unterwerfung ein sklavisch-naturhaftes Leben, und seine bis auf den Grund verknechtete, hilflose Unmündigkeit zeigte sich am stärksten, wenn Armut und Steuerlast es zur Empörung trieben} die Revolution des Fischhändlers Masaniello in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bietet ein buntes, aber erbärmliches Schauspiel. Bunt und erbärmlich ist überhaupt die Charakteristik Neapels in dieser Epoche: die Fülle von Festen, Faschingszügen, Theateraufführungen hat fast etwas Gespenstisches, wo man durch Generationen vergeblich nach einem freien Gedanken, einer großen Tat, einem menschlichen Antlitz sucht. Was in dieser Stadt die Erziehung zu bieten hatte, war die Kenntnis des klassischen Altertums, und zwar in einer ganz unanschaulichen, rein philologischen Form. Das ist Vicos Grundlage, auf die sich seine ganze Entwicklung aufbaut. Die klassische Philologie war von jeher (und fast ist sie es noch heute) die einzige Wissenschaft, die eine allgemeine Gesellschaftslehre umfaßt} denn in ihr sind alle Zweige menschlicher Tätigkeit in den Texten enthalten und Gegenstand des Studiums. Von ihr stammt Vicos Konzeption einer Vereinigung aller Geisteswissenschaften zu einer Geschichtstheologie, und sie ist immer wieder die Quelle, aus der seine Gedanken fließen. Der leidenschaftlichen Neigung, die er ihr entgegenbrachte, entsprach seine ebenso leidenschaftliche Antipathie gegen die leere Subtilität der kasuistischen Logik. An ihr wäre er fast zu Grunde gegangen: immer wieder wechselt er die Lehrer, immer wieder bemüht er sich, den tuten
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Stoff zu bezwingen} schließlich gibt er es auf und beschließt mit sechzehn Jahren, sich zum Advokaten auszubilden. Doch seine schwache Gesundheit, seine Armut, seine maßlose Arbeitswut hätten ihm wohl kein langes Dasein gegönnt, wenn nicht schon ein Jahr später die Gunst eines großen Herrn — der einzige Glücksfall in seinem Leben — ihn von seiner gerichtlichen Tätigkeit und dem Leben in Neapel befreit hätten: er wurde Hauslehrer auf dem schön gelegenen Schlosse Valtolla, und blieb dort neun Jahre in angenehmer Umgebung und völliger Stille, ganz seinen vielgestaltigen Studien hingegeben. Hier legte er den Grund zu seinem universalen Wissen, das vollkommen auf seinem außerordentlich reichen, aber niemals ganz genauen Gedächtnis beruht $ hier bildete sich auch die Universalität seines Geistes, die Fähigkeit, die Fülle des Materials nach einem umfassenden Gedanken zu ordnen. Die toskanischen Dichter, die naturwissenschaftlichen und politischen Schriftsteller der Renaissance treten neu in seinen Gesichtskreis 5 Bacon lernt er kennen und bewundern, Descartes erregt seinen heftigsten Widerspruch} immer aber blieb das Altertum sein Ausgangspunkt, nach dem er alles Moderne einteilt und beurteilt. Hier beginnen auch seine eigenen historischen und philosophischen Ideen Gestalt zu gewinnen. Als er 1694 mit vielen Ideen und Plänen nach Neapel zurückkehrte, fand er die Stadt sehr verändert. Die kartesianische Philosophie hatte die Geister erobert, und wenn früher die Scholastik in den Schulen geherrscht hatte, so herrschte jetzt dieser weit gefährlichere Gegner in allen Köpfen. Was Vico gearbeitet und geliebt hatte, war nun
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ohne Geltung 5 alle Vergangenheit war der Verachtung preisgegeben. Von seinem langen Kampf gegen den Rationalismus werden wir noch ausführlich sprechen 5 hier handelt es sich um seine äußere Existenz, und diese war sehr traurig. Er war ein Fremder in seiner Vaterstadt, sehr ungeschickt in allem Praktischen, seine Fähigkeiten kannte und würdigte niemand; mit Mühe gelang es ihm durch einige lateinische Prunkreden, die er für hochgestellte Personen schrieb, den Lehrstuhl für Rethorik an der Universität Neapels zu erhalten, einen ganz subalternen Posten, den er sein Leben lang inne hatte. Damit ist seine äußere Geschichte zu Ende l er verheiratete sich bald, hatte mehrere Kinder, war immer kränklich, arm und von häuslichen Sorgen bedrängt und veröffentlichte eine ziemlich große Anzahl von Schriften. Unter ihnen sind zwei Gruppen zu unterscheiden. Die eine Gruppe enthält die offiziellen Schriften für seine Gönner, die häufig wechselten $ denn während seiner Lehrtätigkeit erlebte das Königreich Neapel zweimal einen vollständigen Umsturz: die spanischen Vizekönige wurden von den Österreichern vertrieben, und diese besiegte Karl von Bourbon; Vico hat diese Gönner bei den verschiedensten Gelegenheiten gefeiert, und zwar in der übertriebenen Art, wie es der Zeit und dem Zustande Neapels entsprach; doch irgend einen Lohn, der solcher Mühe wert gewesen wäre, hat ihm das nicht eingetragen. Die andere Gruppe seiner Schriften fand in der Scienza JMuova (erste Ausgabe 1726) Zusammenfassung und Gipfelpunkt; seit diesem Zeitpunkt hat er sich fast nur noch mit der Ausarbeitung und Vervollständigung dieses seines
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Hauptwerks beschäftigt. 1722 bemühte sich Vico vergeblich um einen frei gewordenen juristischen Lehrstuhl, durch den seine Einnahmen erheblich verbessert worden wären; erst ganz zuletzt, als Karl von Bourbon ihn zu seinem Hofhistoriographen ernannte, scheint es ihm etwas besser gegangen zu sein. Einige Jahre vor seinem Tode zwangen ihn Krankheit und Altersschwäche die Vorlesungen aufzugeben; sein Sohn Gennaro wurde sein Nachfolger; 1744 ist Vico gestorben. Der Mangel an Beachtung und Würdigung, den er erlitt, ist wohl ohne Beispiel in der Geistesgeschichte; andere hat man verspottet und verfolgt, Vico ist überhaupt nicht bemerkt worden, und sein großes Werk, von dessen Bedeutung und zukünftiger Wirksamkeit er das Allerhöchste erwartete, blieb ohne Widerhall. Doch ist es ihm wenigstens im Laufe der Jahrzehnte gelungen, mit immer erneuter Anstrengung seinen Gedanken ihren letzten Ausdruck zu geben, und am Ende seines Lebens wünschte er, es möge von all seinen Schriften nur die Neue Wissenschaft ihn überleben. Das klägliche Dasein eines Schulmeisters eine zeitgenössische Satire schildert ihn „mit weit geöffneten Augen und abgezehrt, den Stecken in der Hand" — hat ihm nichts anhaben können; seine innere Leidenschaft zur Wahrheit und seine fanatische Versunkenheit waren so stark, daß er wie im Traum durch das irdische Leben ging. Seine Gedanken haben nicht nur sein Werk, sie haben auch seinen Charakter vollständig bestimmt. Die Widerwärtigkeiten seiner Lage erträgt er mit dem Heldenmut, den er über alles liebte, und es ist in ihm auch nicht der
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leiseste Schatten von Bitterkeit und nervöser Mißgunst, die man sonst bei Zurückgesetzten findet; die Zeitgenossen schildern ihn bescheiden und von lebhaftester Freundlichkeit, voll innerem Anstand und begabt mit der Gutmütigkeit des Herzens, die man oft bei Menschen antrifft, denen ihr äußeres Schicksal nicht wichtig erscheint. Wichtig waren ihm nur seine Gedanken, und hierin ist er von unbeugsamer Härte, ganz und gar unabhängig von der Atmosphäre seiner Zeit und seiner Umgebung, und ohne jede Rücksicht auf ihr Urteil; dies alles jedoch nicht aus Absicht und mit Willensanstrengung, sondern aus selbstverständlichem Instinkt. Er sammelt mit Eifer alle Stimmen, die sich etwa zu seinen Gunsten erheben, und ist mit den bescheidensten Anzeichen des Verständnisses zufrieden und beglückt; man kann sich nichts Rührenderes vorstellen, als seine wissenschaftlichen Korrespondenzen und Polemiken, in denen er immer wieder versucht sich einzureden, der andere habe ihn verstanden und würdige die Bedeutung seiner Entdeckungen in demselben Sinne wie er selbst. Doch dem Geiste seiner Zeitgenossen tatsächlich entgegenzukommen, das zog er nicht einmal in ErwägungTund er hätte wohl auch kaum gewußt, wie er das bewerkstelligen sollte. Er besaß, wie es bei seinem Charakter selbstverständlich ist, einige Freunde von menschlichem und geistigem Rang, und stand bei ihnen, wie überhaupt bei den meisten Gelehrten seiner Zeit und seines Landes, in dem Rufe großen Scharfsinns und bedeutender Gelehrsamkeit; das war aber auch alles. Man disputierte mit ihm über manche Einzelheiten; von einem Verständnis für das Ganze oder gar von
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einer Wirkung ist noch lange nach seinem Tode nichts zu spüren. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wird er weiteren Kreisen bekannt, und dann beginnt eine lange Reihe von Mißverständnissen; die ihn kannten, bildeten ihn nach ihren Tendenzen oder Naturanlagen um, und zwar oft recht gewaltsam 5 und die ihn vielleicht hätten verstehen können, denen blieb er unbekannt. Herder, die Romantiker, Hegel wußten nichts von ihm; Niebuhr kannte ihn, übernahm manches Einzelne für die römische Urgeschichte, und aus seinem Kreise stammt die Anregung zu der ersten deutschen Übersetzung Webers (1821); doch für den eigentlichen Gehalt Vicos besaßen diese Männer kein Organ. In Italien wurde Vico von der Generation, die das Risorgimento heraufführte, als heimlicher Vorfahr, als verkappter Feind der Kirche verehrt; ein tolles Mißverständnis, das sich nur aus der Voreingenommenheit einer revolutionären Epoche erklären läßt, die alles Große der Vergangenheit auf die eigene Lage bezieht. Für Frankreich entdeckte ihn Michelet und machte ihn berühmt; doch gelang dies nur dadurch, daß er seinem Werke die Flügel stutzte und eine Art rationalistischer Romantik herausholte, über die sich Vico nicht gefreut hätte. Immerhin ist von hier die Wirkung, die Vico im 19. Jahrhundert in Europa gehabt hat, ausgegangen; man fühlt sie bei Fustel de Coulanges und bei Sorel, und auch in England und Deutschland erschienen einige gute Monographien; die kurzen Arbeiten des Franzosen Bouvy sind sogar vorzüglich. Aber von einer wirklich breiten und durchgreifenden Wirkung kann man auch hier nicht sprechen: Vico tritt vor das deutsche Publikum fast Vico, N. W. 2
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als Unbekannter, und daß er es überhaupt vermag, verdankt er den Italienern5 dort begannen schon die idealistischen Philosophen, Spaventa, de Sanctis und andere seine wahre Gestalt zu ahnen, und das Verdienst, ihn für alle Zeiten seinem Lande und der Welt wiedergegeben zu haben, gebührt Benedetto Croce.1) Ist es überhaupt vorzustellen, daß ein Mensch völlig vereinzelt und außerhalb seiner Zeit lebt? Letzten Endes natürlich nicht, und auch für Vico wird das Bild sogleich anders, wenn man nicht an Hobbes, Descartes, Grotius und Montesquieu, sondern an Bach oder Johann Balthasar Neumann denkt. Nicht unter den Philosophen und Schriftstellern, sondern bei den Musikern und Baumeistern sind die Zeitgenossen zu suchen, zu denen er gehört. Aber diese kannte er nicht, er lebte zwischen den Gelehrten, die mit Worten sich ausdrücken: und hier stand man unter dem Einfluß eines ihm völlig entgegengesetzten Mannes, der Stoff und Form solchen Ausdrucks bis lange nach Vicos Tode bestimmt hat: es ist Descartes. Dessen Ideal einer wasserklaren, von ruhiger Vernunft bewegten Gesinnung 1
) An dieser Stelle seien die Bücher genannt, die für eine eingehendere Beschäftigung mit Vico den Ausgangspunkt bilden könnten: Die Ausgabe der Scienza Nuova von Nicolini, 3 Bde., Bari 1911—16, und die beidenWerkeCroces:LafilosofiadiG. B. Vico, Bari 1911, 2. Aufl. 1922, und Bibliografla Vichiana, Napoli 1904. Die Übersetzung Webers ist im Handel nicht mehr aufzutreiben, doch besitzen sie mehrere deutsche Bibliotheken. Von Vicos sonstigen Schriften ist die Autobiographie, die seinen Bildungsgang darstellt, von Interesse; die italienische Ausgabe, in den Scrittori d'Italia, Bd. 11, Bari 1911, besorgte Croce, eine deutsche Übersetzung findet sich bei Weber.
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spricht aus allem, was damals geschrieben wurde; es ist die Gesinnung des honndte homme, des anständig aufgeklärten Mannes $ sie verachtet die Phantasie und die Sinnlichkeit als organisches Gebild, erklärt die Tradition für einen Wust unklarer und unbewiesener Gelehrsamkeit, die hingebende Frömmigkeit und das Wunder für bedauernswerten Aberglauben. Sie hat ein unbegrenztes Zutrauen zu ihrer eigenen, menschlichen Vernunft, sie baut die Natur mechanisch, die Gesellschaft atomistisch, den idealen Zustand utopisch. Sie ist durch und durch dualistisch: Geist und Körper, Wirklichkeit und Idee, Erfahrung und Vernunft, und , Staat und Religion, Mensch und Gott hören auf sich zu durchdringen, treten auseinander, reinlich und gesondert, jedes an seinem Platze. Die Überwölbung des Ganzen, die bei den Großen wenigstens niemals fehlte, war nur gedacht, jedem Instinkt unzugängliche, unsinnliche Vernunft. Bei keinem, auch nicht bei Leibniz, kommt das empirisch Einzelne zu seinem Recht als Einmaliges, als Symbol für das Ganze. Für die untere Region, für die große Mehrzahl der Menschen, die leben und denken, hatte die aufklärende Gesinnung eine praktische Wirkung, die schon lange vorbereitet war und die wir bis heute spüren: man verlor das lebendige Bewußtsein des Gebundenseins. Der Mensch wurde ein Einzelner, von mechanischen Kräften Bewegter, gegen die man sich ungestraft empören durfte; er verlor die Bindung nach unten, zu Land und Stadt, Volk und Staat, und die nach oben zu Gott und Schicksal $ er verlor seine Würde vor Gottes Auge und seine unsterbliche Seele. Nichts blieb
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als die tapfere Vernunft: stellte sie fest, daß das empirische Dasein schlecht sei, so konnte es geändert werden, wie man die Möbel in einem Zimmer umstellen kann. Die überlieferte Geschichte wurde Betrug, der Mythos Aber glaube, und hatte man erst einmal die ganze Welt aufgeklärt, so konnte aus vernünftiger Rechnung der utopische Staat beginnen. Auch bei den christlichen Denkern war es nicht viel anders: Gott steht außerhalb und wirkt mit menschlich-rationalen Mitteln: Seiden erklärt Platos Weisheit aus der Reise eines jüdischen Propheten nach Athen, und bei Bossuet hat Gott überdies ein Auftreten voll repräsentativer Erhabenheit, das er eigens für seinen Verkehr mit Ludwig XIV. angenommen zu haben scheint. Aus der Opposition gegen Descartes ist Vico zu dem geworden, als der er heut vor uns steht. Schon in seinen frühesten Schriften bekämpft er die praktischen Folgen des Rationalismus in der Erziehung: man solle den Kindern nicht Logik und allgemeine Prinzipien beibringen 5 Phantasie und Gedächtnis seien der erste Ausdruck menschlicher Begabung, sie solle man pflegen $ an ihnen bilde sich der sensus communis, die Fähigkeit, das Mannigfaltige zu begreifen und zu formulieren j es komme doch schließlich darauf an, für jede Erscheinung möglichst alle Ursachen aufzufinden, nicht umgekehrt alle Erscheinungen auf eine Ursache zurückzuführen: sonst gelange man zu der leeren und arroganten Sophistik, die alles beweist und nichts kennt. Dann wird er schärfer: er spielt Bacon gegen Descartes aus und behauptet, die geometrische Methode habe nichts geleistet $ sie könne Gefundenes beweisen, nichts
V o r r e d e des Ü b e r s e t z e r s selbst finden; denn die Natur sei nicht zu beweisen. Beweisen könne man nur, was man selbst geschaffen habe; wenn wir die Natur beweisen könnten, so würden wir sie schaffen. Nur die experimentelle Methode scheint ihm für die Naturwissenschaften geeignet; die neueren rationalistischen Physiker dagegen scheinen ihm „solchen ähnlich zu sein, denen ihre Eltern ein Haus hinterlassen haben, mit allem, was zum Gebrauch oder zum Luxus gehört, wohl versehen; so daß ihnen nur noch übrig bleibt das weitläufige Gerät etwa von einem Ort an den anderen zu stellen, oder es mit einer dürftigen Bastelei nach der Mode des Jahrhunderts herzurichten." Der Satz, daß man nur beweisen könne, was man selbst geschaffen hat, zieht sich durch Vicos gesamtes philosophisches Werk; er ist seine erkenntnistheoretische Grundlage. Seine Gegnerschaft gegen den Rationalismus wird immer ausgesprochener; in einer 1710 erschienenen Schrift wendet er sich gegen das cogito, ergo sum; das sei Bewußtsein, keine Wissenschaft, keine Wahrheit: aus dem Bewußtsein des Denkens kann nie die Wissenschaft vom Sein gewonnen werden, es sei überhaupt nichts erkennbar und beweisbar, als was man selbst geschaffen habe; mit diesem Satz wird Gott das einzige Subjekt der Erkenntnis. Alle menschlichen Wissenschaften können nur Wahrscheinlichkeit erreichen; hier sind schon die Schranken durchbrochen, die der Rationalismus zwischen den Disziplinen aufgerichtet hatte; die Überlegenheit der deduktivanalytischen Wissenschaften über Tradition und Erfahrung ist aufgehoben; da nichts mehr im strengen Sinne wahr
V o r r e d e des Ü b e r s e t z e r s ist, so wird es wieder erlaubt, sich mit Philologie und Geschichte, mit der Gesellschaftslehre und ihren Grundlagen zu beschäftigen, ebensogut wie mit Mechanik und Naturwissenschaft. Nur der Mathematik räumt Vico eine Ausnahmestellung ein $ sie kann von Menschen erkannt und bewiesen werden, denn sie ist Menschenschöpfung. Durch Abstraktion gewinnt der Mathematiker den geometrischen Punkt und die algebraische Eins. Sie gibt es in der Natur nicht: sie sind nur gedacht, denn der Punkt ist ohne Ausdehnung, und doch Teil der Geraden $ die Eins ist nicht numerus, sondern virtus numeri. Der Mathematiker definiert Punkt und Eins und bildet daraus die Welt der Formen und Zahlen: so schafft und erkennt er zugleich, und seine Erkenntnis ist Wahrheit. Man sieht sogleich, daß diese Begründung der Mathematik mit der cartesianischen nichts zu tun hat. Zum Überfluß wendet sich Vico noch mehrfach ausdrücklich gegen die eingeborene, klare und deutliche Idee, immer mit den gleichen Einwänden : daß es ein nur erkennendes Verhalten nicht geben könne, daß das Erkennen mit dem Schaffen identisch sei. Der Kosmologie Descartes wirft er den unausgeglichenen Dualismus vor, und meint, sie sei keine Erklärung der Natur, sondern eine mechanische Teilung: materiam ponit dividitque. Descartes erkläre kein Werden, sondern er analysiere Gegeben es 5 woher die Kraft komme, wie sie sich auf die Körper übertrage, das bleibe dunkel. Croce bezweifelt, daß es Vico mit der Bevorzugung der Mathematik ganz ernst gewesen sei. Er meint, und ohne Zweifel mit Recht, daß ihre besondere Stellung nicht auf
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ihrer Wahrheit, sondern auf ihrer Willkürlichkeit beruhe. Der Mensch, dem in Vicos System der Zugang zu den Dingen verschlossen ist, begnügt sich mit Namen, er fingiert aus ihnen ein System, und weil dieses Kartenhaus ganz von ihm selbst errichtet ist, so soll es reine Wahrheit, scientiae divinae simile sein. Er nimmt die Eins und multipliziert sie, nimmt den Punkt und zeichnet damit$ so gelangt er wie Gott, ad Dei instar, ins Unendliche; so ist der Fehler der menschlichen Erkenntnis, vitium mentis, beseitigt, daß sie die Dinge stets außerhalb von sich selbst habe, und niemals schaffe was sie erkennen wolle. Ein Schatten von Ironie, so sagt Croce, liege auf solcher Beweisführung, wenn nicht geradezu absichtlich, so doch aus der Sache selbst hervorgehend. Aber das ist nicht so sicher. Vico dachte ganz im Sinne des mittelalterlichen Realismus, oder, wie er selbst sagt, ganz platonisch j die Grenzen zwischen logischer Abstraktion und metaphysischer Realität verschwimmen bei ihm oft 5 hier vollends scheint auch objektiv etwas Wichtiges in seinem Gedanken vorzuliegen. Wenn Gott sich zum Ding an sich verhält wie die menschliche Erkenntnis zu den Erscheinungen, so ist dies Kantischer Phaenomenalismus, und dieser ist deutlich in Vicos Begründung der Mathematik enthalten. Bei ihm handelt es sich freilich um Abstrakionen und nicht um Erscheinungen; er vermag die Spur nicht zu Ende zu verfolgen. Wenn er die Mathematik eine scienza operativa nennt, so kommt er der Entdeckung, daß sie eine anschauliche Wissenschaft sei, ganz nahe. Aber die Anschauungen a priori kannte er nicht, und so blieb nichts
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übrig, als die Apodiktizität der Mathematik metaphysisch zu begründen. Das war nun recht schwierig für einen Gegner des Rationalismus5 das Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit erkannte er nicht an; er war sich bewußt, daß man aus reiner Kontemplation niemals begreifen könne, wie der unausgedehnte Punkt zur Geraden würde; bis zur Erkenntnis der notwendigen Formen der Anschauung drang er nicht vor. So half er sich mit einem Willkürakt, einer mystischen Abstraktion, die ganz unverbindlich ist. Aber Vico empfindet das nicht; die Freude an der Vereinigung platonischer, christlicher und empiristischer Gedanken täuscht ihn darüber hinweg. In den Schriften seiner ersten Periode ist Vico nicht eigentlich originell; selbst das Prinzip von der Übereinstimmung des Schöpfens und Erkennens hatte Sanchez schon vor ihm formuliert. Doch war diese methodische Auseinandersetzung mit dem Rationalismus für ihn eine notwendige Vorarbeit. Nun erst öffnet sich ihm das Tor, und er betritt sein eigenes Land, in dem er König ist. Auf Descartes ist er später nur in der Autobiographie etwas ausführlicher zurückgekommen; trotzdem ist seine originale und fruchtbare Opposition gegen den Rationalismus erst in seinem Hauptwerk, der Neuen Wissenschaft, enthalten, deren erste Fassung 1726 erschien.1) Es zeigte sich nun, daß Vico seine ursprüngliche, gewissermaßen defensive Stellung gegenüber dem Rationalismus x
) Die Neue Wissenschaft ist in drei verschiedenen Fassungen gedruckt worden; außerdem existieren eine Fülle von handschriftlichen Varianten. Wir folgen im Allgemeinen der letzten Ausgabe von 1744.
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nicht mehr genügte. Zuerst hatte er für seine geschichtlichphilologischen Kenntnisse nur Duldung neben den Naturwissenschaften gefordert, weil auch diesen keine Wahrheit erreichbar sei: jetzt geht er zum Angriff über und proklamiert das Primat der Geschichtswissenschaften. „In jener Nacht voller Schatten (so schreibt er), die für unser Auge das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: daß diese historische Welt (questo mondo civile) ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können, (denn sie müssen,) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muss jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen : wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der natürlichen Welt zu erringen j welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird 5 und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben." *) Nun ist Vico am Ziel seiner Wünsche. Die verachtete Traditionswissenschaft, der Haufen obskuren Krams, dem Descartes keinen Blick geschenkt hat, enthält die einzige Wahrheit, sie läßt alle andere menschliche Erkenntnis weit hinter sich zurück. So wie die Geometrie die Formen zugleich schafft und erkennt, soverfährt auch die Geschichtsforschung, nur mit um so größerer Realität, als die Taten der Menschen realer sind als Punkte, Geraden und Ebenen; *) Siehe i . Buch, 3. Abt.
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so wie Gott in der Natur, so schafft der Mensch in der Geschichte ; so daß „ihre Beweise von einer göttlichen Art sind, und dich, o Leser, mit einem göttlichen Entzücken erfüllen müssen; denn in Gott ist Erkennen und Tun dasselbe Ding."1) Wie weit bleibt nun Descartes hinter ihm zurück mit seiner kalten, intellektualistischen Ethik, die nur für den Einsiedler gut ist, und die, ohne Teleologie und ohne Vorsehung, allen wahren ethischen Wertes bar ist — wie weit Spinoza, dessen vernünftige Staatslehre Vico gut genug scheint für einen Staat, der ganz aus Kaufleuten bestände! Vico hat sich die Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie geschaffen, eine erkenntnistheoretische Grundlage hat er dafür gefunden -— und es stört ihn auch nicht, daß diese Grundlage mit seinem System selbst in offenem Widerspruch steht. Er sagt einmal von Gott, er sei Posse, Nosse, Velle infinitum, und in seinem Wesen sei das Zugleichsein (uno actu oder uno visu) aller drei Attribute. Will Vico das auch vom Menschen in Bezug auf die Geschichte behaupten? Schafft, erkennt und will er übereinstimmend und uno actu? Das liegt Vico ganz fern. In seinem Geschichtsablauf ist der Mensch während der ersten beiden Perioden ein von der Vorsehung durchaus geleitetes Geschöpf, das meist ganz anderes will als es schafft. Und im dritten, dem rationalen Zeitalter, ist er der Einbildung, es sei alles nach menschlicher Vernunft entstanden, und schließlich der „Barbai ei der Reflexion", die zu Entartung und Neubeginn x
) Siehe i. Buch, 4. Abteilung.
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führt, unterworfen. Wo ist also Vicos Subjekt der Erkenntnis ? Zwar ist der Gedankengang, der hier zu Grunde liegt, sehr wohl zu verstehen: da Vico nach katholischer Art den freien Willen in mystischer Harmonie neben der Vorsehung bestehen läßt, so hat der Mensch eine gewisse Mitwirkung an der Geschichte, und es ist das von Vico gedachte Gemeinsam-Menschliche, kraft dessen wir die Geschichte eher von innen heraus intuitiv verstehen können als die Natur, etwas durchaus Einleuchtendes. Aber in seiner radikalen Fassung, der Mensch als Geschichte schaffend und erkennend, führt der Satz in die Irre. Jenes GemeinsamMenschliche, das Vico aus Mythos, Gesetz und Sprache schöpft, und das er sensus communis generis humani nennt, ist gewiß kein Erkennen in dem Sinne, wie Gott erkennt. Vico dachte hier an sich selbst; also an einen Menschen auf einem bestimmten Gipfelpunkt der Geschichte, der an diesem , wo sich das Geheimnis der Vorsehung der voll entwickelten menschlichen Vernunft (alia ragione umana tutta spiegata) enthüllt, es zu deuten vermag. Doch gesagt hat er nichts davon, und dieser Mensch sähe dem kartesianischen Vernunftmenschen, der aus reiner ratio klar und deutlich erkennt (von dem aber Vico nichts wissen will) allzu ähnlich. Es bleibt ein unentwirrbarer Widerspruch. Gibt man diesem Gedanken Vicos eine ganz leichte, kaum merkliche Färbung, so wird er ganz und gar neunzehntes Jahrhundert. „Während in der Mathematik, so schreibt Croce, die Konversion von Tat und Erkenntnis nur scheinbar anzuwenden ist, — da der Mensch den Punkt nicht schafft, sondern fingiert —, ist sie in den moralischen
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Wissenschaften so logisch, daß man sie geradezu Übereinstimmung nennen muß. Das menschliche Wissen ist qualitativ das Gleiche, wie das Göttliche, nur quantitativ verschieden, weil Gott auch die Natur erkennt. . . . Der Mensch schafft die menschliche Welt, indem er sich in die staatlichen Formen verwandelt $ indem er sie überdenkt, schafft er von neuem die eigene Schöpfung . . . und erkennt sie mit vollkommener Wissenschaft. Dies ist wirklich eine Welt, und der Mensch ist ihr Gott."1) So denkt Croce; aber Vicos Meinung war es nicht. Für ihn ist die Vorsehung, nicht der Mensch, der Gott der Geschichte, und auf der zweiten Seite der Neuen Wissenschaft nennt er sein Werk „una Teologia civile ragionata della Provedenza divina." Zwar ist es klar, daß seine historische Erkenntnistheorie zu dieser Konsequenz (den Menschen als Gott der historischen Welt) führen kann, aber es scheint doch nicht erlaubt, den so oft Fragmentarischen und so prinzipiell Unvollendeten gerade in der Richtung nach einer autonomen irdischen Welt zu ergänzen, wo doch sein Geschichtssystem nichts ist als eine Theologie, ein Versuch zur Erforschung der Wege Gottes. Die Folge davon ist, daß Croce nach einer vorzüglichen, bis ins Letzte klaren Analyse von Vicos System dessen Gipfelpunkt gewissermaßen mißbilligt. Was Vico durch sein geheimnisvolles Spiel zwischen Vorsehung und Gesellschaft darzustellen strebt, scheint eine großartige und letzten Endes mystische Synthese des Gegensätzlichen zu sein. Empirische Geschichte und ewiger Ratschluß, Transzendenz *) La filosofia di G. B. Vico, S. 29.
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und Immanenz, Gott und Welt zerfließen ineinander; die Stadien der Geschichte sind in ihrer Gesamtheit der sensus communis generis humani; sie sind jedesmal zugleich der Ausdruck des jeweiligen empirischen Daseins, und der ewigen göttlichen Vernunft 5 so daß sein Postulat einer Vereinigung von Philosophie und Philologie nur zu erfühlen, nicht vernünftig zu erkennen ist. Vico versteht unter Philologie alles, was wir heute als Geisteswissenschaften bezeichnen: die gesamte Geschichte im engeren Sinne, Soziologie, Nationalökonomie, die Geschichte von Religion, Sprache, Recht und Kunst 5 und verlangt, daß diese empirischen Wissenschaften eines werden mit der Philosophie; so daß jedes Einzelergebnis aus dem allgemeinen Gesetz, jedes allgemeine Gesetz aus dem einzelnen Tatbestand zu entnehmen ist; aber das ewige Gesetz ist nicht nur immanent, auch nicht präformierte Harmonie, sondern der transzendente Gott ist zugleich immanent und über das Wie erhalten wir keine Auskunft. Nun hat Croce bei Vico die Widersprüche gefunden, in die sich ein jeder verstrickt, der das Unsagbare nicht durch ein Gleichnis, sondern mit bloßen Worten zu äußern versucht; zudem ist er jeder Transzendenz in der Geschichte feindlich gesinnt: er versucht also, logisch unanfechtbar, immer wieder auseinanderzureißen, was Vico zusammenfügt. Daß eine empirische Weltgeschichte storia tipica und sogar storia ideale eterna sein soll — daß es ein universale fantastico, ein nicht vernunftgewonnenes, sondern auf Sinnlichkeit beruhendes Allgemeines geben soll u. s. f. — dagegen wehrt er sich und weist es ab, indem er die Schuld auf
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Vicos Transzendenzglauben schiebt, der ihm den freien Blick versperrt habe — womit zwar Croces philosophischem Gewissen, nicht aber Vico Genüge geschieht, der mit der ganzen Kraft eines entflammten Herzens das Hier und Dort aufheben und Eines dafür setzen wollte: so daß Vernunft und Sinnlichkeit in der Geschichte der göttlichen Vorsehung sich vereinigen. Was Vicos freien Blick betrifft, so erscheint er uns wenigstens neben all denen, die nach ihm Ähnliches versuchten, als ein Gigant an Weiträumigkeit und Horizontgröße $ Herders Humanität, der Gefühlskonservatismus der Romantiker und auch Hegels absoluter Geist tragen, an Vico gemessen, das Gepräge eines häuslichen Wohlgeordnetseins, indem das Ich einen behaglichen Ruhepunkt entweder gewonnen zu haben glaubt oder doch erstrebt und erträumt. Vicos katholischer Gott ist zwar ein Dogma 5 aber er ist nicht methodologisch, nicht erträumt, nicht postuliert, sondern lebendiger Mythos, darum auch unfaßbares Geheimnis und ganz un-menschlich; indeß die entsprechenden Konstruktionen der späteren Zeit, mit ihrer lauwarmen Temperatur, ohne jede sinnliche Kraft sind, aber auch zur hohen Würde der metaphysischen Idee sich nicht erheben j denn sie sind nach Analogie des Menschen, um das so sehr wichtig gewordene Ich herum gebildet; in dem Bestreben, die Welt in das Ich einzubeziehen, um es in ihr heimisch zu machen; so daß die Atmosphäre einer Stube entsteht, in der viele zusammensitzen, um kluge Dinge zu besprechen — während Vico, heißer als sie alle, allein steht, in der eisigen Luft eines Gletschers, und über ihm wölbt sich der ungeheure barocke Kuppelhorizont des
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Himmels. Es ist wahr, er hat eine dynamische, „organische" Geschichtsauffassung, und ist in dieser Hinsicht Descartes und dem gesamten achtzehnten Jahrhundert entgegenzustellen. Man sollte ihn aber darum doch nicht in allzu nahe Verbindung mit den romantischen und nachromantischen Geschichtsphilosophen bringen. Vico ist allem Gefühlspantheismus und Gefühlskonservatismus vollkommen fremd, und würde sich den Versuchen, Gott in die warme Atmosphäre des Menschen einzubeziehen, widersetzt haben: seien sie nun rationalistisch oder dialektisch, mechanisch oder dynamisch. Es ist kein Zufall, daß die Romantiker Vico nicht kannten; über ihn finden sich in dieser Zeit nur zwei Aufsätze in Deutschland: einer von F. A. Wolf, die Homerforschungen betreffend, und einer von Orelli, der gewisse sachliche Übereinstimmungen mit Niebuhr feststellt. Goethe spricht von Vico in der italienischen Reise und vergleicht ihn mit Hamann; Filangieri, einer der Vorkämpfer des Risorgimento, hatte ihm in Neapel die NeueWissenschaft gezeigt und Goethe hatte „einen flüchtigen Überblick" genommen. Sehr bemerkenswert ist eine Erwähnung bei F. H. Jacobi, der Vico wegen der Beziehung zwischen Schaffen und Erkennen den Vorläufern Kants beizählt. Sein Geschichtsdrama wird man in diesem Buche lesen; es ist unnütz, es hier noch einmal zusammenzufassen: Vico wiederholt sich immer wieder, und sein Werk, so vielgestaltig es ist, liegt fast in jeder einzelnen Zeile beschlossen. Wer hier die Entstehung der menschlichen Gesellschaft, ihrer Religion, ihrer Sprache und Dichtung erlebt, wer es
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emfindet, wie trotz der vielen Irrtümer die wunderbare Kraft der Zeichendeutung am Werke ist, wie Mythos, Sprache, Gesetz und Historie lebendig auferstehen, wie ein jedes Überlieferte der Ausdruck eines geistigen Zustands, das Gesamte der Überlieferung zugleich Weltgeschichte und Philosophie des Geistes ist — der wird den Wunsch, ja die Notwendigkeit verstehen, daß Vico nun endlich auch in Deutschland lebendig werden muß. Die cartesianische Epoche freilich besaß überhaupt kein Organ, um Vicos Erkenntnisse aufzunehmenj alle anderen Gesellschaftslehren der Zeit, von Hobbes, Grotius, Pufendorf, von Montesquieu, Voltaire und Rousseau sind neben ihm mechanistische Konstruktionen. Bei Vico ist es zu Ende mit der Vertragstheorie, aus der die Gesellschaft entstand, zu Ende mit dem seligen Naturzustand der Vergangenheit, wie mit der vernünftigen Utopie der Zukunft. Der Urmensch ist ein wirklicher Wilder, grenzenlos und anarchisch, zu binden nur durch die magische Kraft der durch Sinne erzeugten, feierlichen Schrecken erregenden Form; keine eingeborenen vernünftigen Ideen sind in ihm, sondern Furcht und Chaos. Familie und Staat hat nicht die Vernunft gezeugt, sondern die Vorsehung zwang sie zusammen, ohne und gegen den Willen des Menschen, und sie sind nicht mechanische Zweckmäßigkeit, sondern über den Menschen leben sie ein eigenes, nur der Vorsehung unterworfenes Leben 5 nicht der Mensch hat sie geschaffen, sondern Gott schuf sie, lange bevor er in dem Menschen die rechnende, ausgleichende, jedem das Seine zuteilende Vernunft entstehen ließ. Es ist ebenso zu Ende
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mit dem vernünftigen Ursprung der Sprache, mit der vernünftigen Beurteilung der Poesie, mit allenmechanischen, natürlichen, euhemeristischen Erklärungen von Religion und Mythologie. Dies alles ist Ausdruck von sinnlichen Dingen, die einmal empirisch da waren; vor der vernünftigen, epistolaren Sprache waren stumme Zeichen, Lautmalerei und Metapher, vor der prosaischen Sprache war die rhytmische, und in ihr war alles Dichtung; denn bevor die Menschen zu abstrahieren vermochten, wie konnten sie sich ausdrücken, wie ein Allgemeines erfassen als sinnbildlich und personifizierend, das Geistige verkörperlichend? Und ebenso herrschte auch im Privatrecht vor dem Zeitalter der Verträge ein phantastischer Formalismus, der den Willen der Götter zu erforschen suchte, der sich der Zweikämpfe, der heraldischen Zeichen für die Person und das Eigentum, und einer Fülle symbolischer Handlungen bediente. Vico ist ohne Zweifel, wenn auch gewissermaßen unterirdisch, ein Begründer der modernen Ästhetik und der Völkerspychologie — Croces berühmte Ästhetik „come scienza dell' espressione e linguistica generale" ist geradezu eine Art moderner Paraphrase seiner Gedanken. Wenn man bedenkt, daß zu seiner Zeit in Frankreich Cre'billon und der junge Voltaire, in Italien Maffei, in Deutschland Gottsched dichteten, dann wird man sich über die aktuelle Bedeutung seiner Theorien klar; sie sprechen allen Dichtern seiner Zeit die Existenzberechtigung ab. Die vernünftige, epistolare, abstrahierte Sprache, die das Bewußtsein ihrer sinnlichen Bedeutung verloren hat, ist unpoetisch. Vico, N. W. 3
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Dichtung ohne lebendigen Mythos und ohne bildhafte Sprache ist undenkbar. Das klingt nun alles sehr modern. Aber man soll sich doch nicht verhehlen, daß Vico, der neapolitanische Schulmeister, der kränkliche und arme Gelegenheitsredner, diese Dinge viel schroffer und absoluter ausspricht als irgend einem der Späteren (Hölderlin und Nietzsche vielleicht ausgenommen) lieb wäre. Das poetische Zeitalter ist nur poetisch und mythologisch, und ganz und gar nicht vernünftig j auch seine Ethik, seine Politik, seine Naturwissenschaften sind poetisch. Und das rationale Zeitalter ist absolut unpoetisch, und seine Poesie ist letzten Endes unwahr* Wo kämen wir da hin? Croce wehrt sich heftig dagegen1), und zwar bezeichnender Weise mit logisch-analytischen Einwänden. Er meint, Vico habe die konkreten Geschichtsstadien mit den Kategorien einer Philosophie des Geistes verwechselt. Ein absolut poetisches oder absolut rationales Zeitalter gäbe es nicht, sondern nur ein Überwiegen des einen oder des anderen Moments. Das gibt auch Vico einmal zu, obgleich er auch praktisch seine Einteilung mit großer Strenge durchführt. Doch wir sehen, Croce gegenüber, in dieser strengen Scheidung nicht einen dunklen Punkt, einen „im Schatten liegenden Winkel" inmitten des wahrheitsstrahlenden Aufbaus Vico'scher Gedanken, den man ohne Schaden unbeachtet lassen könne, sondern glauben, daß sich hier eine Kluft auftut, die Vico vom neunzehnten oder dem beginnenden zwanzigsten Jahrhundert ebenso trennt wie vom achtzehnten. Freilich *) Estetica S. 263 f.
Vorrede des Ü b e r s e t z e r s können wir ihn heute besser verstehen, als es damals gelang, eben weil wir die irrationalen und poetischen Elemente des menschlichen Geistes zu berücksichtigen gelernt haben, und weil wir durch unsere erweiterten ethnographischen Kenntnisse und experimentellen Möglichkeiten vieles erfahren haben. Aber unsere innere Einstellung gegenüber diesen Erscheinungen hat sich, von Vico aus gesehen, nicht prinzipiell geändert; den Versuchen gegenüber, sie wissenschaftlich zu begreifen, und durch Vernunft einzuordnen, sowie es geschah und geschieht, hätte er sich ablehnend verhalten 5 mehr noch : sein Lieblingszitat : caelum ipsum petimus stultitia — hätte gleichmäßig fast allen modernen Systemen der Philosophie gegolten. Doch das unauflösliche Paradox seines Wesens ist, daß er selbst schon als erster einen solchen Versuch zu „gottloser" Systematik machte. Er hätte eben wirklich und überall ein Dichter sein müssen: dann wäre die göttliche Komödie neu erstanden — was nach seiner Überzeugung im rationalen Zeitalter nicht mehr gelingen konnte. Ähnlich ist es mit der Rechtswissenschaft. Sein grausamformalistisches Sakralrecht der Heroen ist der Auffassung vom utopisch-glückseligen Naturmenschen ganz entgegengesetzt (wobei man übrigens nicht vergessen darf, daß Vico prinzipiell auch den glückseligen Urmenschen kennt, nämlich im Paradies vor dem Sündenfall). Auch die dynamische Entwicklung durch famuli und Lehnswesen zu allmählicher Gleichheit und jus aequum ist gar nicht berührt von der Aufklärungsphilosophie, um so weniger, als Vico das aufgeklärte Zeitalter in seiner Geschichte-
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entwicklung, wenn auch mit einem Schein von Ehrerbietung, so doch in Wahrheit mit geheimer Verachtung und jedenfalls mit tiefster Interesselosigkeit behandelt, und ihm schleunigst die Barbarei der Reflexion und den Verfall anhängt. Doch den Weg zur romantischen Rechtsauffassung hat nicht er gebahnt, sondern die deutsche Humanität, Rousseau und der englische Traditionsliberalismus. Die Atmosphäre, die bei Vico herrscht, ist eben eine grundverschiedene. Es ist nicht so, daß er die Rassen- und Bodenfrage nicht erkannt hat; er hätte die Individualität des einzelnen Volkes sicher ebensowenig geleugnet, wie etwa den Staat als Organismus. Aber er ließ das bei Seite; das Sicheinspinnen in gewisse partikuläre Gegebenheiten, seien sie rational oder intuitiv gewonnen, lag ihm fern; der Volksgeist interessierte ihn nicht und er machte sich weder dialektisch noch psychologisch noch sonstwie an seine Darstellung. Er betrachtete den Menschen überhaupt und die Gesellschaft überhaupt, überspannte sie mit der riesigen Wölbung seiner Spekulation und nannte das Ganze einmal die Geschichte der göttlichen Vorsehung und das andere Mal die storia dell' autoritä, die Geschichte der überlieferten Normen. Er betrachtete Menschen und Zustände nicht aus Interesse für ihre Besonderheit, sondern als Ausdruck Gottes; er betrachtete Gott, und nicht die Menschen, und in der Neuen Wissenschaft weht der eisige und doch zugleich leidenschaftliche Atem des Unbedingten, Voraussetzungslosen; es ist die Luft der Spinoza und Leibniz, nicht die der Romantik oder der Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Und daran
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kann alles Dynamische, Organische, Emanatistische, oder wie man es sonst nennen mag, nichts ändern. Das Wichtigste für Vico ist die beständige Wirksamkeit der Vorsehung. Mit der größten Heftigkeit bekämpft er immer wieder die Meinung des Grotius, daß die staatlichen Grundgesetze ohne Gott unverändert ihre Geltung behalten. Grotius sagt einmal zu Anfang seines Buches De jure belli et pacis, das Naturrecht sei so unveränderlich, daß Gott selbst es nicht ändern könne5 an diesem Satz läßt sich Vicos Anschauung gut darstellen. Für ihn wäre er sinnlos: denn das Naturrecht ist eben das göttliche und ist auch das jeweils empirisch geltende; aber die Vorsehung ist trotzdem nicht immanent im jeweiligen Rechtszustand ; sonst müßte sie ja Stadien durchlaufen, sich verändern und entwickeln 5 Gott ist aber für Vico unbewegt und unveränderlich: so ist also der jeweilige Rechtszustand Ausdruck seines Willens, und zwar auf den Zeitpunkt bezogener, vergänglicher Ausdruck seines ewig unveränderten teleologischen Willens. Die Vorsehung senkt in die Herzen der Menschen die religiöse Konzeption, ohne die eine Ordnung niemals entstehen und keinen Augenblick dauern könnte; die Geschichte ist der Weg der Vorsehung, führt die Gesellschaft von der Anarchie zur Ordnung nach ihrem ewigen Ratschluß. Aber wo führt sie hin? Wo ist ihre Erfüllung, ihr letztes Ziel? Hier ist Vicos erstaunliche, schwer zu begreifende Lücke. Er hat mit dem Sündenfall begonnen; er müßte mit dem jüngsten Tag enden. Aber davon ist keine Rede.
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Zwar behandelt er die Geschichte der Juden, die sich der unmittelbaren göttlichen Offenbarung erfreuten, ganz gesondert und das ist nicht ohne weiteres als abstrus zurückzuweisen 5 denn wirklich erscheint die hebräische Geschichte, vor und nach Christus, so singular, daß sie sich aller Analogie entzieht. Aber dann verliert er diesen Gesichtspunkt ganz aus dem Auge. Christi Erscheinen ist für ihn kein Angelpunkt, die Geschichte nach ihm erscheint nicht wesentlich verschieden von der antiken, und vor allem: es fehlt das letzte Ziel, der jüngste Tag, am Ende des Umlaufs steht der Ricorso, und alles beginnt von neuem. Noch mehr: da er ja die moderne absolute Monarchie, wenn auch ohne Liebe und ohne überhaupt viel auf sie einzugehen, als höchsten Punkt seiner menschlichen Peripetie hinstellt, so könnte es scheinen, als ob er, nicht viel anders als seine Zeitgenossen, keinen besseren menschlichen Zustand wüßte, als den aufgeklärt-vernünftigen 5 nur daß er ihn, skeptischer als die Utopisten des Barock, nicht durch weitere Ausgestaltung zur absoluten Glückseligkeit werden läßt, sondern schon in ihm die Keime des Verfalls und Neubeginns sieht. Doch es wäre Täuschung, und das wird jeder, der ihn liest, empfinden, wenn man ihn deshalb für einen Parteigänger des aufgeklärten Staatsbegriffs halten wollte. Für ihn war ein jeder Staat gut in seiner eigentümlichen Zeit, und einen glückseligen Gottesstaat hat er nicht beschrieben. Irdische Geschichte wollte und konnte er darstellen, und ein Weiteres mag man in seinen Worten ahnen. Und es geht auch nicht an, Vico als Entdecker und Bekenner einer
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immanenten Vorsehung hinzustellen, und zu bedauern, daß ihn der leidige Katholizismus den modernen Begriff des Fortschritts nicht finden ließ. Freilich wirkt seine Vorsehung in den empirischen Stadien der Geschichte 5 aber sie ist das Erlebnis eines Gläubigen, der sie als transzendente Realität anschaut. Gerade dies ist ja Vicos Absicht: die Religion als Grundbedingung der menschlichen Gesellschaft hinzustellen, Gott und Ordnung gleichzusetzen, den hochmütigen Vernunftmenschen seiner Zeit zu binden an Gott und Erde.
Von vielen Seiten bin ich bei meiner Arbeit unterstützt und ermutigt worden. Insbesondere fühle ich die Verpflichtung des Dankes gegenüber dem Andenken Troeltschs, von dem die belebende Anregung zu meiner Beschäftigung mit Vico ausging. Ferner danke ich auch an dieser Stelle Herrn Dr. Gottfried Salomon in Frankfurt, dessen Initiative den Verlag zu dieser Ausgabe veranlaßte.
Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker
A Jove p r i n c i p i u m M u s a e (Motto der ersten Ausgabe)
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Erklärung des gegenüberstehenden Gemäldes als Einleitung des Werkes. o wie Kebes *) aus Theben mit den moralischen Dingen tat, so zeigen wir hier ein Gemälde der politischen^ damit es dem Leser dazu diene, den Gedanken dieses Werkes vor dem Lesen zu erfassen; zugleich auch, damit es den Gedanken seinem Gedächtnis leichter einpräge, indem es seiner Phantasie hilft, nachdem er das Buch gelesen hat. Die Frau mit dem geflügelten Haupt, die auf der Weltkugel, oder der Welt der Natur steht, ist die Metaphysik, denn dies ist ihr Name. Das leuchtende Dreieck mit dem schauenden Auge, das ist Gott mit dem Blick seiner Vorsehung $ um dieses Blickes willen betrachtet ihn die Metaphysik in ekstatischer Haltung über die Ordnung der natürlichen Dinge hinweg, um deren willen die Philosophen ihn bisher betrachtet haben: denn in diesem Werk hebt sie sich höher empor und betrachtet in Gott die Welt des menschlichen Geistes, welches die metaphysische Welt ist, um seine Vorsehung zu erweisen in der Welt des menschlichen Willens, welches die historische Welt ist oder die Welt der Völker j und diese wird, als von ihren Elementen, gebildet von all den Dingen, die unser Gemälde als
S
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) Der Thebaner Kebes, aus den platonischen Dialogen als Schüler des Sokrates bekannt, galt als Verfasser einer populär-ethischen Schrift mit dem Titel , das Gemälde.
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Hieroglyphen unten zur Schau stellt. Deshalb wird die Kugel (das heißt die physische oder natürliche Welt) nur von einer Seite von dem Altar gestützt} denn bis jetzt haben die Philosophen, indem sie die Vorsehung nur in Bezug auf die Ordnung der Natur betrachteten, nur den einen Teil von ihr gezeigt, wegen dessen Gott, als dem frei und schrankenlos über die Natur herrschenden Geist, von den Menschen Anbetung durch Opfer und andere göttliche Ehren erwiesen wird; noch aber haben sie sie nicht betrachtet von der Seite, die doch die Eigentümliche der Menschen ist: deren Wesen diese Haupteigenschaft hat, daß sie gesellig sind. Für solche Haupteigenschaft hat Gott voraussorgend die menschlichen Dinge so geordnet und angelegt, daß die Menschen, abgefallen von der reinen Gerechtigkeit durch die Erbsünde, fast immer etwas ganz Anderes, oft geradezu Gegenteiliges beabsichtigend — wodurch sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse einsam lebten wie wilde Tiere — eben auf ihren verkehrten und gegenteiligen Wegen durch ihre Bedürfnisse selbst dahin gebracht wurden mit Gerechtigkeit zu leben und sich in Gesellschaft zu halten, und so ihrer geselligen Natur nachzuleben j welche im Verlauf des Werkes als die wahre politische Natur des Menschen erwiesen wird, so daß es also von Natur ein Recht gibt. Solches Vorgehen der göttlichen Vorsehung ist eine der wichtigsten Materien, mit deren Behandlung sich diese Wissenschaft befaßt, so daß sie aus diesem Gesichtspunkt zu einer vernünftigen Theologie der göttlichen Vorsehung in der Geschichte wird.
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Auf dem Streifen des Tierkreises, der die Weltkugel in ihrer vollen Ausdehnung umspannt, erscheinen in erhabener Arbeit nur die beiden Zeichen des Löwen und der Jungfrau, um zu bedeuten, daß diese Wissenschaft in ihren Prinzipien zuerst betrachtet Herkules, (denn es zeigt sich, daß jedes heidnische Volk von einem solchen erzählt, der sein Gründer gewesen sei); und zwar betrachtet sie ihn bei seiner schwersten Arbeit, welches die war, durch die er den Löwen tötete, der flammenspeiend den nemeischen Wald entzündete; mit seinem Fell geschmückt wurde Herkules zu den Sternen erhoben; hier wird gezeigt, daß der Löwe der alte große Urwald der Erde war, an den Herkules als ein Charakter politischer Heroen, wie sie vor den kriegerischen Heroen auftreten mußten, das Feuer legte und ihn dem Ackerbau unterwarf; und andererseits betrachtet sie ihn, um den Anfang der Zeiten zu geben, welcher bei den Griechen (die uns alles überliefert haben, was wir von der heidnischen Urzeit wissen) von den Olympiaden begann, mit den olympischen Spielen, deren Gründer ebenfalls Herkules gewesen sein soll; diese Spiele müssen von den nemeischen herstammen, eingeführt, um Herkules' Sieg über den Löwen zu feiern; und so begannen bei den Griechen die Zeiten, seit unter ihnen der Anbau der Felder begann. — Und die Jungfrau, die von den Dichtern mit einem Kranz von Ähren dargestellt wird, will ausdrücken, daß die griechische Geschichte mit dem goldenen Zeitalter anfing; die Dichter erzählen deutlich, daß dies das erste Zeitalter ihrer Welt war, in dem viele Jahrhunderte lang die Jahre nach den Kornernten gezählt wurden; das Korn aber
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erweist sich als das erste Gold der Erde 5 dem goldenen Zeitalter der Griechen entspricht bei den Lateinern das Zeitalter des Saturn, genannt nach sata, die Saaten. In solchem goldenen Zeitalter, so berichten uns ebenfalls getreulich die Dichter, verkehrten die Götter auf Erden mit den Heroen j weiter innen wird nämlich gezeigt werden, daß die ersten Menschen des Heidentums, die einfaltig und roh waren, getäuscht von ihrer sehr kräftigen Phantasie und ganz befangen in schreckensvollemAberglauben, wirklich meinten die Götter auf Erden zu sehen 5 und später wird sich auch zeigen, daß in gleicher Art, durch Übereinstimmung der Ideen, ohne daß einer vom ändern wußte, bei den Orientalen, Ägyptern, Griechen und Römern die Götter zu den Planeten, die Heroen zu den Fixsternen erhoben wurden. Und so ergeben sich von Saturn, der Kronos bei den Griechen heißt — und bedeutet ihnen die Zeit — neue Grundlagen für die Chronologie oder Lehre von den Zeiten. Auch möge es dir nicht ungehörig erscheinen, daß der Altar unter der Weltkugel steht und sie stützt. Denn es wird sich herausstellen, daß die ersten Altäre der Welt von den Heiden aufgerichtet wurden im ersten Himmel der Dichter, welche uns in ihren Mythen treu überliefert haben, daß der Himmel auf Erden über die Menschen geherrscht und große Wohltaten dem menschlichen Geschlecht erwiesen habe, zu der Zeit als die ersten Menschen, wie Kinder des werdenden Menschengeschlechts, glaubten, der Himmel sei nicht höher als die Höhe der Berge, wie jetzt noch die Kinder ihn für wenig höher halten als die
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Dächer ihrer Häuser — später, als die griechischen Geister sich weiter entwickelten, wurde er auf die Gipfel der allerhöchsten Berge, wie des Olymp, erhoben, wo Homer erzählt daß die Götter sich aufhalten j — schließlich erhob er sich über die Sphären, wie es uns jetzt die Astronomie lehrt, und der Olymp stieg über den gestirnten Himmel. Der Strahl der göttlichen Vorsehung, der einen konvexen Edelstein bestrahlt, mit dem die Brust der Metaphysik geschmückt ist, zeigt an das reine und klare Herz, das die Metaphysik hier haben muß, nicht schmutzig und befleckt von geistigem Hochmut oder von der Niedrigkeit körperlichen Genusses5 aus jenem entstand bei Zeno das Fatum, aus dieser bei Epikur der Zufall; und beide leugneten deshalb die göttliche Vorsehung. Außerdem aber bedeutet er, daß die Gotteserkenntnis nicht bei der Metaphysik endet, so daß sie nur für sich von den geistigen Dingen erleuchtet würde und nur ihre eigene sittliche Haltung danach regelte, wie es bisher die Philosophen getan haben 5 das wäre mit einem glatten Edelstein angedeutet worden. Sondern er ist konvex, so daß der Strahl zurückspringt und nach außen sich verbreitet, weil die Metaphysik Gottes Vorsehung erkennt in den öffentlichen sittlichen Dingen, oder politischen Sitten, durch die die Völker in der Welt entstanden sind und sich erhalten. Eben dieser Strahl fällt von der Brust der Metaphysik auf die Statue Homers, des ersten Autors des Heidentums der uns überliefert ist; weil wir kraft der Metaphysik — die von Anfang an entstanden ist gemäß einer Geschichte der menschlichen Ideen von der Zeit an, da solche Menschen
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begannen menschlich zu denken — schließlich hinabsteigen zu den unbeholfenen Geistern der ersten Gründer der heidnischen Völker, die nichts waren als ganz starke Sinne und ungeheure Phantasie; und — da sie ja nichts hatten als die bloße Fähigkeit, und auch die noch ganz dumpf und blöde, menschlichen Verstand und Vernunft brauchen zu können — finden sich, von dem, was man bisher glaubte, völlig verschieden, ja entgegengesetzt dazu, die Anfange der Dichtkunst innerhalb der aus denselben Gründen bisher verborgenen Anfange der poetischen Weisheit oder Wissenschaft der theologischen Dichter; welche ohne Widerspruch die älteste Weisheit der Welt für die Heiden war. Das Standbild Homers auf einem beschädigten Sockel will die Entdeckung des wahren Homer ausdrücken; welcher, da man ihn bisher nicht kannte, uns die wirklichen Verhältnisse der sagenhaften Zeit der Völker verborgen hielt, und noch mehr die der dunklen Zeit, und infolgedessen auch die wahren Ursprünge der Verhältnisse in der historischen Zeit; welches die drei Zeitalter der Welt sind, wie der gelehrteste Schriftsteller über römische Vorzeit, M. Terentius Varro, in seinem verlorenen Werke Rerum divinarum et humanarum schrieb. Außerdem wird daraufhingewiesen, daß in diesem Werk, mit einer neuen kritischen Kunst die bisher gefehlt hat, die Philosophie, indem sie die Wahrheit über die Urheber der Völker selbst zu erforschen sucht (bei denen weit mehr als tausend Jahre verfließen mußten, bevor die Schriftsteller auftreten konnten, mit denen allein die Kritik sich bisher befaßt hat) sich daran macht die Philologie zu prüfen —
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das heißt die Lehre von all den Dingen, die vom menschlichen Willen abhängen, wie die Geschichte der Sprachen, der Sitten und der Ereignisse, sowohl im Krieg wie im Frieden der Völker; bisher hat die Philosophie, wegen der von ihr beklagten Dunkelheit der Ursachen und unendlichen Vielfältigkeit der Wirkungen gewissermaßen einen Abscheu gehabt davon zu handeln; hier aber führt sie die Philologie zurück zur Form der Wissenschaft, indem sie in ihr den Plan einer ewigen idealen Geschichte entdeckt, nach der in der Zeit verlaufen die Geschichten aller Völker: so daß, nach diesem ihrem zweiten Hauptgesichtspunkt, diese Wissenschaft wird zu einer Philosophie der Überlieferung. Denn kraft der neuen hier entdeckten Grundlagen der Mythologie, die sich aus den neuen hier wiedergefundenen Grundlagen der Poesie ergeben, wird bewiesen, daß die Mythen wahre und strenge Geschichten der Sitten bei den ältesten Völkern Griechenlands waren; und zwar erstens, daß die Mythen von den Göttern Geschichten sind aus den Zeiten, wo die Menschen des rohesten Heidentums glaubten, daß alle dem Menschengeschlecht nötigen oder nützlichen Dinge Gottheiten seien; die Schöpfer solcher Dichtung waren die ersten Völker, die ganz aus theologischen Dichtern bestehend gezeigt werden; diese haben ohne Zweifel, wie uns überliefert ist, mit den Mythen von den Göttern die ersten Nationen gegründet. Und dann werden, mit Hilfe der neuen kritischen Kunst, Untersuchungen darüber angestellt, zu welchen Zeiten und bei welchen Gelegenheiten die ersten Menschen erst diese und dann jene Götter erdichteten; solche natürliche Theogonie, oder Vico, N. W. 4
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Erzeugung der Götter, wie sie natürlich im Geiste jener ersten Menschen vor sich ging, soll uns eine vernünftige Chronologie der poetischen Geschichte der Götter liefern. Die heroischen Mythen waren wahre Geschichten der Heroen und ihrer heroischen Sitten, wie sie bei allen Völkern in ihrer barbarischen Zeit blühten; so daß die beiden Gesänge Homers sich erweisen als zwei große Schatzkammern für Entdeckungen über das natürliche Recht der griechischen Stämme, als sie noch Barbaren waren. Diese Epoche dauerte, wie in dem Werk bestimmt wird, bis zu der Zeit Herodots, genannt Vater der griechischen Geschichte, dessen Bücher angefüllt sind mit Mythen, und dessen Stil noch sehr viel von dem homerischen bewahrt. Unter den Hieroglyphen unseres Gemäldes tritt zunächst in Erscheinung ein Altar, weil die politische Welt bei allen Völkern mit den Religionen begann. Auf dem Altar, zur Rechten, erscheint zuerst ein lituus oder Augurenstab, mit dem die Auguren die Orakel empfingen oder die Auspizien beobachteten: dies soll zu verstehen geben die Weissagekunst, mit der bei allen Heiden die ersten göttlichen Dinge begannen. Denn die Gottheit besaß das Attribut der Vorsehung — bei den Hebräern in Wahrheit, denn sie glaubten, daß Gott ein unendlicher Geist sei, der folglich alle Zeiten zugleich in einem Punkte von Ewigkeit sehe, so daß er durch die Engel, die Geister sind, oder durch die Propheten, zu deren Geist er sprach, seinem Volk die Zukunft verkündete — bei den Heiden in der Einbildung, welche sich die Körper zu Göttern dichteten, die deshalb mit sinnlich wahrnehmbaren Zeichen den
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Völkern die Zukunft anzeigten; und darum wurde allgemein vom ganzen Menschengeschlecht dem Wesen Gottes der Name divinitas gegeben, nach einer gemeinsamen Vorstellung, die die Lateiner divinari, weissagen, nannten. Auf dem gleichen Altar, nahe dem Augurenstab, sieht man Wasser und Feuer, und zwar das Wasser in einem Krug; denn wegen der Weissagungen entstanden bei den Heiden die Opfer aus dieser ihrer gemeinsamen Sitte, die die Lateiner procurare auspicia nannten, das heißt opfern, um die Orakel recht zu verstehen, damit man die göttlichen Befehle gut ausführen könne. Und dies sind die göttlichen Dinge bei den Heiden, aus denen später alle ihre menschlichen Einrichtungen entstanden. Die erste von diesen waren die Ehen, dargestellt durch die Fackel, die an dem Feuer auf dem Altar entzündet ist und sich an den Krug lehnt; sie sind, wie alle Politiker zugeben, die Pflanzstätten der Familien, sowie die Familien die Pflanzstätten der Staaten sind. Und um dies anzuzeigen, steht die Fackel, obgleich Zeichen für eine menschliche Einrichtung, auf dem Altar zwischen Wasser und Feuer, die Hieroglyphen sind für göttliche Zeremonien — sowie die alten Römer die Hochzeiten aqua et igni feierten, deren Gemeinsamkeit durch göttlichen Ratschluß die Menschen zuerst dahin gebracht hatte, in Gesellschaft zu leben. Die zweite der menschlichen Einrichtungen, wegen derer zuerst und eigentlich von den Lateinern nach humare, begraben, humanitas abgeleitet wird, sind die Begräbnisse. Sie sind dargestellt durch eine Aschenurne, die die Inschrift
5) . XVI, 97 ff. *) Od. XI, 488 ff.
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Das ist der Heros, dem Homer mit dem ständigen Beiwort des untadligen den griechischen Völkern als Muster heroischer Tugend preist! Man kann dies Beiwort nicht anders verstehen, als für einen hochmütigen Menschen, von dem man heutzutage sagen würde, er gestatte keiner Fliege an seiner Nasenspitze vorbeizufliegen; es wird also hier die stets empfindliche Tapferkeit gepriesen, auf die zur Zeit der wiedergekehrten Barbarei die Helden der Zweikämpfe ihre ganze Moral aufbauten; aus ihr stammen die stolzen Gesetze, die hochgemuten Unternehmungen und die rachwütigen Genugtuungen der irrenden Ritter, die die Romanzendichter besingen. Andrerseits denke man an den Schwur der Heroen, den Plebejern auf ewig Feinde zu sein;1) ferner bedenke man, was die römische Geschichte aus den Zeiten der römischen Tugend erzählt, denen Livius seine Bewunderung ausdrückt mit den Worten: nulla aetas virtutum feracior:2) Brutus, der mit seinen zwei Söhnen sein Haus der Freiheit opfert; Scaevola, der den König Porsenna vertreibt, indem er seine rechte Hand im Feuer dafür straft, daß sie jenen nicht zu töten wußte; Manlius, genannt Imperiosus, der seinen siegreichen Sohn für eine erfolggekrönte Überschreitung der militärischen Disziplin, die ihm von tapferen und rühmlichen Motiven eingegeben war, das Haupt abschlagen läßt; Curtius, der sich bewaffnet, zu Pferde, in den verhängnisvollen Abgrund stürzt; die Decier, Vater und Sohn, die sich für die Rettung ihrer Heere opfern; die Fabricier, die Curier, die die Goldhaufen der Samniten, den Anteil an l
) Elemente 86.
*) IX, 16.
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dem Reich, das Pyrrhus ihnen bietet, verschmähen; Attilius Regulus, der nach Karthago in den gewissen, höchst grausamen Tod geht, um die Heiligkeit der römischen Eide zu wahren; — welchen Nutzen brachten sie wohl den unglücklichen römischen Plebejern? — als den, sie immer mehr in den Kriegen zu bedrücken, sie immer weiter in einem Meer von Zinsen zu ertränken, sie immer tiefer in den privaten Kerkern der Adligen zu begraben, wo sie sie mit Ruten auf die nackten Schultern schlugen wie elendeste Sklaven? Und wer etwa aus jenem Stand der Heroen es unternahm sie durch irgendein Ackergesetz ein wenig zu entlasten, zur Zeit solcher römischen Tugend, der wurde als Rebell angeklagt und hingerichtet: so ging es in Rom dem Manlius Capitolinus, der das Kapitol vor der Einäscherung durch die Gallier gerettet hatte, so in Sparta dem König Agis. Eben weil sich die Adligen der frühesten Völker für Heroen hielten, also für höher geartet von Natur als ihre Plebejer, gingen sie so schlecht um mit der elenden Menge ihrer Völker. Denn ganz gewiß setzt die römische Geschichte jeden aufmerksamen Leser in Erstaunen, wenn er sie unter folgenden Gesichtspunkten betrachtet: was ist römische Tugend bei soviel Hochmut? was Mäßigung bei soviel Habsucht? was Milde bei soviel Grausamkeit? was Gerechtigkeit bei soviel Ungleichheit? Daher müssen die Grundsätze, die solchen erstaunten Fragen Genüge tun, notwendig folgende sein: I. Die Erziehung der Kinder sei, in Verfolg jener tierischen bei den Giganten, von der wir gehandelt haben, streng, hart, grausam, wie bei den wissenschaftsfremden Spartanern,
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den Heroen Griechenlands, die im Tempel der Diana ihre Söhne bis auf den Tod peitschten, damit sie sich gewöhnten Schmerz und Tod nicht zu fürchten 5 und solche cyklopenhafte väterliche Herrschaft erhielt sich bei den Griechen wie bei den Römern, so daß es gestattet war eben geborene unschuldige Kinder zu töten5 während das Entzücken, das wir jetzt an unsern Kindern empfinden, wenn sie noch klein sind, die ganze Zartheit unseres Wesens zeigt. II. Die Frauen seien durch die heroischen Brautgeschenke gekauft; (dies erhielt sich noch später als feierliche Zeremonie bei den römischen Priestern, die die Ehen coemptione et farre begingen ; ebenso findet sich die Sitte, nach Tacitus,l) bei den alten Germanen); die Frauen halte man nur wegen der Notwendigkeit der Natur, um Kinder zu erzeugen; im übrigen seien sie behandelt wie Sklaven — während heutzutage die Mitgiften Kaufpreise sind, mit denen die Frauen die Freiheit der Männer erkaufen, und öffentliche Bekenntnisse, daß die Männer nicht ausreichen, um die Lasten der Ehe zu tragen. III. Die Söhne mögen erwerben, die Frauen sparen für ihre Väter und Gatten; wovon heut gerade das Gegenteil geschieht. IV. Die Spiele und Vergnügungen seien anstrengend, wie Zweikampfoder Wettlauf; auch gefährlich, wie Turnier und Jagd nach wilden Tieren, so daß man sich gewöhne, die Kräfte und den Mut zu stählen und das Leben zu mißhandeln und zu verachten. V. Luxus, Eleganz und Bequemlichkeit seien unbekannt. J
De mor. Germ. 18.
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VI. Die Kriege mögen alle, wie die antiken heroischen, um der Religion willen geführt werden, wodurch sie (aus dem Grunde, den wir zum Hauptprinzip dieser Wissenschaft gemacht haben) äußerst grausam werden. VII. Ebenso sei die heroische Sklaverei üblich, wie sie solchen Kriegen folgt, bei denen die Besiegten für Menschen ohne Gott gelten ; wodurch sie, neben der politischen, auch die natürliche Freiheit verlieren ; und hier habe ihren Platz jener vorausgeschickte Grundsatz:1) die natürliche Freiheit ist um so unbändiger, je unmittelbarer der Besitz noch mit dem eigenen Körper zusammenhängt, und die politische Knechtschaft wurzelt in den Glücksgütern, die nicht zum Leben notwendig sind. Wegen alles dessen seien die aristokratischen Republiken ihrem Wesen nach von äußerster Stärke ; sie mögen zu den politischen Ämtern nur wenige adlige patres zulassen; das öffentliche Wohl bestehe in den durch das Vaterland aufrechterhaltenen Familienmonarchien; dies sei das wahre Vaterland, patria, das Interesse der patres, wie wir oben sagtenj darum seien die Bürger natürlicherweise Patrizier; mit solchen Charakteren, solchen Sitten, solchen Staaten, Ständen und Gesetzen wird der Heroismus der ersten Völker in Erscheinung treten; was jetzt aus Ursachen, die den hier aufgezählten gerade entgegengesetzt sind (welche Ursachen später die beiden ändern Arten von Staatsformen hervorbrachten, die wir oben beide als menschlich gesittet erwiesen haben, nämlich die volksfreien Republiken, und noch mehr die Monarchien) nach dem Wesen des politischen Lebens *) Elemente 94.
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ganz unmöglich ist. Denn aus der ganzen Zeit der römischen Volksfreiheit genießt den Ruhm eines Heroen nur Cato Uticensis, und zwar wegen seiner aristokratischen Staatsgesinnung; da er nicht mitansehen konnte, wie die Nobilität von Caesar gedemütigt wurde, tötete er sich selbst. Man muß daher schließen, daß ein solcher Heros, [der gerecht und ein Wohltäter des Volkes wäre], wohl von den bedrängten Völkern ersehnt, von den Philosophen konstruiert, von den Dichtern erträumt werden kann; doch das Wesen der Geschichte kennt solche Wohltaten nicht. Alles was wir hier erörtert haben, erhält Licht und Glanz von den beiden voraus geschickten Grundsätzen *) über den römischen Heroismus j sie finden ihre Anwendung auch auf den Heroismus der alten Athener, zu der Zeit, wo sie von strengen Areopagiten beherrscht wurden, und auf den der Spartaner, die ein Staat von Herakliden oder Grundherren waren.
Sechste Abteilung Einziges Kapitel Z usammenfassendeBemerkungen zur poetisch enGeschich t e.
I. Diese ganze göttliche und heroische Geschichte ist uns von den theologischen Dichtern nicht sehr glücklich in dem Mythos von Kadmos dargestellt. Er tötet die große Schlange (das heißt er rodet den alten Urwald aus), sät ihre Zähne (eine schöne Metapher für das Pflügen mit gebogenem harten Holz, bevor man den Gebrauch des ') Elemente 90 und 91,
Zweites B u c h , sechste A b t e i l u n g Eisens kannte); wirft einen großen Stein (der die harte Erde ist, die die Klienten für sich pflügen wollten); aus den Furchen entstehen bewaffnete Männer (wegen der heroischen Kämpfe um das erste Agrargesetz erheben sich die Heroen aus ihrem Grund und Boden, um anzuzeigen, daß sie seine Herren sind; sie vereinigen sich in Waffen gegen die Plebejer, und kämpfen, zwar nicht gegeneinander, sondern gegen die empörten Klienten; mit den Furchen sind die Stände gemeint, in denen sie sich zusammenschließen, und mit denen sie die ersten Gemeinwesen auf der Basis der Waffen bilden und befestigen); und Kadmos verwandelt sich in eine Schlange, draco, woraus die Herrschaftsgewalt der aristokratischen Senate entsteht: denn bei den Griechen ist es Draco, der die Gesetze mit Blut schreibt. Der Mythos von Kadmos enthält also mehrere Jahrhunderte poetischer Geschichte, und ist ein wichtiges Beispiel für die Un behilflichkeit, mit der die Kindheit der Welt sich auszudrücken bemüht war; dies ist eine der Hauptquellen für die Schwierigkeit der Mythenerklärung. II. Mit wunderbarer Kürze und Deutlichkeit erzählt dagegen Homer dieselbe Geschichte, ganz zusammengefaßt in der Hieroglyphe vom Szepter Agamemnons : *) Vulkan fertigte es für Jupiter (denn Jupiter gründete mit den ersten Blitzen nach der Sintflut sein Reich über Götter und Menschen, nämlich das göttliche Reich in der Familienverfassung); dann gab es Jupiter dem Merkur (das war der Heroldsstab, mit dem Merkur das erste Agrargesetz zu den Plebejern trug, aus dem die heroischen Reiche in den n II. II, 101 ff.
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ersten Gemeinwesen entstanden)5 hier gab es Merkur dem Pelops, Pelops dem Thyestes, Thyestes dem Atreus, Atreus dem Agamemnon (dies ist die ganze Erbfolge des königlichen Hauses von Argos). III. Doch noch vollständiger und deutlicher ist die Geschichte der Welt, die derselbe Homer uns auf dem Schilde Achills beschrieben überliefert.1) 1) Zu Anfang sah man darauf Himmel, Erde, Meer, Sonne, Mond und Sterne: dies ist die Epoche der Schöpfung der Welt. 2) Sodann zwei Städte: in der einen war Gesang, Hymenäen und Hochzeiten: dies ist die Epoche der heroischen Familien, bestehend aus Söhnen, die in feierlicher Ehe erzeugt sind; in der ändern sah man nichts von diesen Dingen: dies ist die Epoche der heroischen Familien von Knechten, die nur natürliche Ehen eingingen, ohne die Feierlichkeiten der heroischen Vermählung. So stellen beide Städte zusammen den Naturzustand dar, oder den Familienzustand; es sind ganz genau die gleichen Städte, von denen Eumaeus, der Hausverwalter des Odysseus, erzählt, in seiner Heimat habe sein Vater beide beherrscht;2) in welchen die Bürger all ihre Dinge geteilt für sich hatten, das heißt keinen Teil des Bürgerrechts unter sich gemeinsam besaßen. 3) Ferner sah man in jener Stadt der Hochzeitsfeiern auch Ratsversammlungen, Gesetze, Gerichte und Strafen. Genau ebenso antworteten die Patrizier in den heroischen Kämpfen den Plebejern, daß die Ehen, die Amtsbefugnisse,
') n. xviii, 485 ff. ') Od. XV, 412 f.
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die Priesterwürden, von denen die Wissenschaft der Gesetze und damit auch die Rechtsprechung abhing, ihr ausschließlicher Rechtsbesitz seien, weil ihnen die Auspizien, die Hauptfeierlichkeit der Ehen, zuständen: dies ist daher die Epoche der heroischen Gemeinwesen, die sich auf den Familien aus famuli in strengster aristokratischer Verfassung aufbauten. 4) Die andere Stadt wird mit Waffen belagert, und gegenseitig werden Beutezüge unternommen j1) und so wird aus der Stadt ohne Ehen, welches die Plebejer der heroischen Städte waren, eine andere vollständige feindliche Stadt. Hier wird uns aufs Erstaunlichste bestätigt, was wir oben auseinandergesetzt haben, daß die ersten Fremden, die ersten hostes, die Plebejer der heroischen Völker waren, deren ewige Feinde zu sein die Heroen schwuren $ weshalb später ganze Städte, weil untereinander fremd, durch heroische Raubzüge ewige Feindseligkeiten gegeneinander übten. 5) Schließlich sah man darauf abgebildet die Geschichte der Künste der Menschheit, angefangen von der Epoche der Familien j indem vor allem anderen darauf zu sehen war der Vater als König, das Szepter in der Hand, der den gebratenen Ochsen unter die Schnitter zu verteilen gebietet5 dann sah man darauf eine Pflanzung von Reben; dann Herden, Hirten und Hütten j am Ende des Ganzen waren Tänze dargestellt. Dies Bild zeigt in schöner und wahrer Ordnung der menschlichen Dinge als zuerst erfunden die Künste des Notwendigen: das Landleben, und zwar erst das *) Abweichend von Homer.
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Brot, und dann den Wein; sodann die des Nützlichen: die Viehzucht; weiterhin die des Angenehmen: die städtische Baukunst; zuletzt die des Vergnügens: die Tänze.
Siebente Abteilung Poetische Physik Erstes Kapitel Von der poetischen Physik.
Indem wir nun zu einem anderen Ast des metaphysischpoetischen Stammes übergehen, durch welchen die poetische Weisheit sich verästelt in die Physik, von da in die Kosmographie, durch diese in die Astronomie, deren Früchte Chronologie und Geographie sind: beginnen wir diesen Teil der Erörterung, der noch bleibt, mit der Physik. Die theologischen Dichter betrachteten die Physik der Völkerwelt; das Chaos ist bei ihnen die Konfusion der menschlichen Samen im anarchischen Naturzustand der Frauengemeinschaft, nicht die der allgemeinen Samen der Natur, wie später die Gelehrten glaubten. Auch als Orkus wurde es gedacht, als ein formloses Ungetüm, das alles verschlingt: weil die Menschen aus der Zeit der ruchlosen Gemeinschaft nicht eigentliche Menschenform hatten, und vom Nichts verschlungen wurden, indem sie, bei der Ungewißheit der Nachkommenschaft, nichts von sich hinterließen. Von den Physikern wurde das Chaos später für den UrstofF der natürlichen Dinge genommen, der als formlos heißhungrig ist nach Formen und alle Formen verschlingt.
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Doch die Dichter gaben ihm auch die ungeheuerliche Form des Pan, des Waldgotts, der die Gottheit aller Satyrn des Waldes ist; auf diesen führten sie die götterlos Umherschweifenden im großen Urwald der Erde zurück, die das Aussehen von Menschen und die Sitten verworfener Bestien besaßen; die Philosophen deuteten ihn später, mit gezwungener Allegorie, getäuscht von dem Wort ? das „alles" bedeutet, auf das geformte Weltall. Endlich blitzte der Himmel, und Jupiter setzte der Welt der Menschen ihren Anfang, indem er ihnen den Impuls *) gab, welcher das Eigentümliche des freien Willens ist, so wie aus der Bewegung, die den Körpern eigentümlich ist (welche ihrerseits aus Zwang Handelnde sind), die Welt der Natur begann. Aus solchem Impuls ging hervor das bürgerliche Licht, dessen Darstellung Apollo ist. Die Welt der theologischen Dichter erstand aus vier heiligen Elementen: der Luft, in der Jupiter blitzt ; dem Wasser der lebendigen Quellen, deren Gottheit Diana ist; dem Feuer, mit dem Vulkan die Wälder entzündete; der bebauten Erde, die Kybele oder Berekynthia darstellt. Diese Vier sind die Elemente der göttlichen Zeremonien: nämlich Auspizien, Wasser, Feuer und Korn, die Vesta hütet; sie ist dieselbe wie Kybele oder Berekynthia, und ist gekrönt mit den bebauten, durch Hecken befestigten Ländereien, samt den Landsitzen auf den Höhen in Gestalt von Türmen; in solcher Krone ist beschlossen, was den Namen orbis terrarum behielt; dies ist eigentlich die Welt der Menschen. Davon nahmen die Physiker später das Motiv, um den vier J
) „Dal poner (gli uomini) in conato".
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Elementen nachzuforschen, aus denen die Welt der Natur zusammengesetzt ist. Die gleichen theologischen Dichter gaben sowohl den Elementen als auch den daraus erwachsenen unzähligen besonderen Wesen lebendige und sinnliche Formen, und zwar meist menschliche, und bildeten so unendlich viele und mannigfaltige Gottheiten 5 daher gelang es Plato die Lehre seiner Geister oder Intelligenzen darin einzuführen: Jupiter sei der Geist des Äthers, l ) Vulkan des Feuers, und andere ähnliche. Doch die theologischen Dichter begriffen so wenig dergleichen intelligente Substanzen, daß man bis auf Homer nicht einmal den menschlichen Geist verstand, insofern er kraft der Reflexion dem Sinne widersteht: hierfür zeugen zwei klassische Stellen der Odyssee,2) wo er heilige Kraft oder verborgene Gewalt genannt wird, was dasselbe bedeutet. Zweites Kapitel Von der poetischen P h y s i k in Bezug auf den M e n s c h e n , oder von der h e r o i s c h e n N a t u r .
[Nach einer Erinnerung an die Umbildung der riesenhaften gigantischen Körper durch sakrale Waschungen und heroische Erziehung zu menschlich-natürlichem Maß wird die Einteilung des Menschen in ein metaphysisches Sein (esse) und ein physisches Bestehen (existere) dargestellt; diese Einteilung kannten schon die theologischen Dichter, doch ganz roh und konkret: das Sein bedeutet für sie essen, l
~) Bei Plato findet sich nichts davon. ) Od. XVIII, 34 u. 60.
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Vico, N. W. 19
Zweites Buch, siebente Abteilung das Bestehen ist die Substanz, die darunter steht und stützt, die Sohlen. Der Bau des Körpers wurde zurückgeführt auf flüssige und feste Teile 5 die letzteren sind Fleisch, Knochen, Gelenke, auch die Nerven, die eine Versinnbildlichung der Kräfte darstellen; schließlich die Eingeweide, in die man die eigentliche Blüte des Lebens legte. Die flüssigen Teile reduzierten sie sämtlich auf das Blut, also auch die Nervenund Samensubstanz. — Die Seele setzten die theologischen Dichter in die Luft, und betrachteten sie als das Lebenspendende: daher die lateinischen Ausdrücke ducere vitales auras, animam ducere, animam efflare. Dagegen ist der Atem, animus, Maskulinum, weil er in der anima wirksam ist. Durch die anima leben wir, durch den animus fühlen wir: der animus ist der Diener des Willensimpulses, des conatus, er ist der igneus vigor, von dem Vergil spricht1).] Sie verstanden die Erzeugung auf eine Art, von der wir zweifeln, ob die Gelehrten später je eine eigentlichere gefunden haben. Diese Art ist ganz in dem Wort concipere enthalten, welches die natürliche Tätigkeit der physischen Formen ausdrückt, die benachbarten Körper von allen Seiten heranzuziehen, ihren Widerstand zu besiegen, sie sich anzugleichen und der eigenen Form anzupassen. Die Auflösung bezeichnete man mit corrumpi, auseinanderbrechen, welches den Bruch der Teile, die den Körper zusammensetzen, ausdrückt, so daß sie also glauben mußten, die Krankheiten brächten den Tod durch Zersetzung der festen Bestandteile. ') Aen, VI, 730.
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Alle inneren Funktionen des animus führte man auf drei Teile des Körpers zurück: Haupt, Brust und Herz. Dem Haupt schrieben sie alle Kenntnisse zu 5 und weil diese alle phantastisch waren, so legte man in das Haupt das Gedächtnis, welchen Ausdruck die Lateiner für Phantasie brauchten.*) Denn die Phantasie ist nichts anderes als ein Wiederhervorspringen von Erinnerungen, und die Erfindungskraft nichts als eine Tätigkeit an den Dingen, deren man sich entsinnt. Da nun der Verstand in jenen Zeiten nicht durch die Kunst des Schreibens überfeinert, nicht durch die Gewohnheit des Rechnens spiritualisiert, nicht durch die vielen abstrakten Ausdrücke abstrahierend geworden war, so übte man nicht die Kritik oder das Urteil, sondern die Topik oder Erfindungsgabe, und mit Recht nannten die theologischen Dichter das Gedächtnis die Mutter der Musen. Hier ist eine wichtige Bemerkung nicht zu übergehen die für das, was wir in der Methode2) sagten, von großer Bedeutung ist: daß man sich jetzt gar nicht mehr vorstellen kann, wie die ersten Menschen gedacht haben, die die heidnische Humanität begründeten: sie waren von so konkreter, am Einzelnen haftender Geistesbeschaffenheit, daß sie bei jeder neuen Ansicht einer Gestalt sogleich eine andere neue Gestalt vermuteten, wie es der Mythos von Proteus zeigt 5 bei jeder neuen Leidenschaft glaubten sie an ein anderes Herz, eine andere Brust, einen anderen Willenj daher werden in der poetischen Redeweise oft ora, vultus, animi, pectora, corda für die Einzahl gebraucht. ') V. zitiert Terenz, Andria 723, mit der Lesart „memoria" für „malitia". *) S. Seite 151. 19'
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Die Brust machten sie zum Sitz der Leidenschaften, und zwar setzten sie den Zorn in den Magen, und die Begierde in die Leber, die als Werktätte des Blutes bezeichnet wurde; die Dichter nannten sie praecordia. Auf das Herz führten sie alle Ratschläge zurück, weshalb die Heroen agitabant, versabant, volutabant corde curas; denn sie dachten nicht an die auszuführenden Dinge, ohne von Leidenschaften bewegt zu werden, weil sie blöde und von stumpfem Verstand waren 5 daher nannten die Lateiner die Weisen cordati, dagegen die Törichten vaecordes: und die Beschlüsse hießen sententiae, denn wie sie empfanden, so urteilten sie 5 darum waren die heroischen Beschlüsse stets wahr in der Form, wenn auch oft falsch in ihrem Inhalt. [Die anschließenden Kapitel dieser Abteilung enthalten kurze Zusätze: das dritte, daß die ersten Menschen allgemeine Sentenzen stets individualisierend empfanden und ausdrückten 5 das vierte, daß ihre Worte für die Tätigkeiten der Sinne lebendige Beschreibungen waren und daß sie mit sinnlicher Gewalt die Dinge schufen, indem sie sie ausdrückten $ das fünfte gibt eine Charakteristik der Heroen in dem schon bekannten Sinn: sie waren ungesellig, grausam, herrisch und stolz, und andererseits offenherzig, großmütig und edel. Der galante Heroismus der späteren Dichter hat ihren Charakter verfälscht: in der Ilias gibt es zum Beispiel keine schmachtenden Liebesklagen des Achill um Briseis oder des Menelaus um Helena.]
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Achte Abteilung Einziges Kapitel Von der poetischen Kosmographie.
So wie die theologischen Dichter als Grundlagen der Physik die von ihnen als göttlich erdachten Substanzen festsetzten, so bildeten sie eine dieser Physik entsprechende Kosmographie, indem sie die Welt hinstellten als zusammengesetzt aus den Göttern des Himmels, der Hölle und denen, die zwischen Himmel und Erde ihren Sitz haben. Von der Welt betrachteten sie zuerst den Himmel, dessen Gegenstände für die Griechen die ersten oder erhabene Gegenstände, und die ersten oder zu betrachtende göttliche Gegenstände, sein mußten. Ihre Betrachtung nannten die Lateiner contemplatio, nach den Himmelsgegenden, die die Auguren bezeichneten, um die Wahrzeichen zu erkennen, und die sie templa coeli nannten. Für die Dichter war der erste Himmel nicht höher als die Gipfel der Berge, wo die Giganten von den ersten Blitzen Jupiters in ihrem tierischen Umherschweifen angehalten wurden; das ist der Himmel, der auf Erden regierte und der von jenem Zeitpunkt an dem menschlichen Geschlecht viele Wohltaten erwies. Daher dachten sie sich den Himmel als die Gipfel der Berge, ganz wie die Kinder sich vorstellen, daß die Berge Säulen seien, die die Himmelsdecke stützen $ von diesen haben sich zwei als die Säulen des Herkules erhalten, wovon wir noch sprechen werden j von solcher Himmelsdecke spricht Thetis bei Homer, wenn sie Achill erzählt, daß Jupiter mit den anderen Göttern da-
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rauf vom Olymp ins atlantische Reich zum Mahle gegangen sei. *) Daher muß der Mythos von dem Kriege der Giganten gegen den Himmel, bei dem sie auf den Pelion den Ossa und auf den Ossa den Olymp türmen, um ihn zu ersteigen und die Götter zu verjagen, nach Homer erfunden worden ein; denn er erzählt in der Ilias stets, daß die Götter sich auf dem Gipfel des Olymp aufhalten, so daß es genügte den Olymp einstürzen zu lassen, damit die Götter herabfielen. Auch paßt dieser Mythos 2) gar nicht zur Odyssee, obgleich er dort erzählt wird: denn in diesem Gedicht ist die Unterwelt, wo Odysseus die verstorbenen Heroen sieht, nicht tiefer als eine Grube;3) und wenn Homer eine so enge Idee von der Unterwelt hatte, so kann er notwendig vom Himmel nur eine entsprechende gehabt haben. In diesem Himmel regierten zu Anfang die Götter und verkehrten mit den Heroen, in der Ordnung der natürlichen Theogonie, die wir oben dargestellt haben, mit Jupiter beginnend. In diesem Himmel verwaltete Astraea das Recht auf Erden, mit Ähren gekränzt und mit der Wage ausgerüstet; denn das erste Recht erhielten die Menschen von den Heroen durch das erste Agrargesetz; und sie begriffen zuerst das Gewicht, dann das Maß, und sehr spät erst die abstrakte Zahl. In diesem Himmel färbt Juno die Milchstraße, nicht mit ihrer eigenen Milch, denn sie war unfruchtbar, sondern mit der der Mütter der Familien, die ihre rechtmäßigen, aus heroischer Ehe, deren Göttin Juno war, stammenden Kinder säugten; durch diesen Himmel werden die Götter gefahren auf Wagen von poetischem OH. 1,423. ')0d. XI, 3138. ')XI, 35, 42.
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