Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft: Universitas litterarum nach 1968 9783110477337, 9783110472622

After the Philipps University was subdivided in 1968 into 20 separate departments, seven professors founded the Marburg

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German Pages 402 [393] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Recht
Kants erste Rechtspflicht: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“
Was ist Kunst? Welche Freiheit und welchen Schutz genießt der Künstler?
Haftung von Staaten für die Zerstörung und Verschleppung von Kulturgütern
„Neoliberalismus“ und Wettbewerbsrecht
Archäologie und Geschichte
Was heißt „Frühe keltische Kunst“?
Die Perseus-Kanne Vlastos in Athen: ein Beitrag zur Theaterpraxis im klassischen Griechenland*
Das Kaisertum als zentraler Akteur im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648)
Ein frühneuzeitliches Beispiel für die Folgen überzogener Friedensbedingungen: die Verhandlungen der europäischen Koalition mit Frankreich in Den Haag (1709) und in Gertruidenberg (1710) gegen Ende des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1713/14)
Sprachen
Woher kommen die lateinischen Wörter? Ein Großwörterbuch bezieht Stellung
Die Afrikanisierung hamitosemitischer Sprachen im Zentralsudan
Texte auf Holzstäbchen aus dem antiken Südarabien
Lebenswissenschaften
Ansprüche der nichtmedizinischen Hirnforschung. Eine philosophische Kritik
Was sind Bioelemente und wie geht man mit ihnen um?
Das Asperger-Syndrom. Von der klinischen Beobachtung zur Hirnfunktion und zum Verständnis exzentrischen Verhaltens
Religion
Kirche und Nation im orientalischen Christentum
„Jesus mit Mutter und Großmutter“ Familienbande als religionsgeschichtliches Phänomen
Wirtschaftswissenschaften
Glück und Ökonomie – ein interdisziplinäres Projekt zur Bedeutung von Institutionen bei Platon
Wissenswertes Wissen – Ein Versuch aus den Perspektiven von Varietätsgesetz, Effizienz und Effektivität sowie Hierarchie
Mathematik
Der Apfeldieb – ein Paradoxon des Unendlichen
Mitglieder der Marburger Gelehrten-Gesellschaft seit 21. Mai 1969
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Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft: Universitas litterarum nach 1968
 9783110477337, 9783110472622

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Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft Universitas litterarum nach 1968

Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft Universitas litterarum nach 1968

herausgegeben von

Volker Mammitzsch Sabine Föllinger Heide Froning Gilbert Gornig Herrmann Jungraithmayr

De Gruyter

Die Herausgeber: Prof. Dr. Volker Mammitzsch Haselhecke 20 35041 Marburg Prof. D. Sabine Föllinger Klassische Philologie Wilh.-Röpke-Str. 6 D 35032 Marburg Prof. Dr. Heide Froning Am Weinberg 26 35096 Weimar Prof. Dr. Dr. h.c.mult. Gilbert Gornig Pfarracker 4 35043 Marburg-Bauerbach Prof. Dr. Herrmann Jungraithmayr Unter dem Gedankenspiel 56 35041 Marburg-Wehrda

ISBN 978-3-11-047262-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047733-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047644-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung und Satz: Satzstudio Borngräber, Dessau-Roßlau Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Recht Reinhard Brandt Kants erste Rechtspflicht: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Volker Beuthien Was ist Kunst? Welche Freiheit und welchen Schutz genießt der Künstler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Gilbert Gornig Haftung von Staaten für die Zerstörung und Verschleppung von Kulturgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Michael Kling „Neoliberalismus“ und Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Archäologie und Geschichte Otto-Herman Frey Was heißt „Frühe keltische Kunst“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Heide Froning Die Perseus-Kanne Vlastos in Athen: ein Beitrag zur Theaterpraxis im klassischen Griechenland . . . . . . 131 Christoph Kampmann Das Kaisertum als zentraler Akteur im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

VI

Inhaltsverzeichnis

Klaus Malettke Ein frühneuzeitliches Beispiel für die Folgen überzogener Friedensbedingungen: die Verhandlungen der europäischen Koalition mit Frankreich in Den Haag (1709) und in Gertruidenberg (1710) gegen Ende des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1713/14) . . . . . 185

Sprachen Bernhard Forssman Woher kommen die lateinischen Wörter? Ein Großwörterbuch bezieht Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Herrmann Jungraithmayr Die Afrikanisierung hamitosemitischer Sprachen im Zentralsudan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Walter W. Müller Texte auf Holzstäbchen aus dem antiken Südarabien . . . . . . . . . . . 229

Lebenswissenschaften Peter Janich Ansprüche der nichtmedizinischen Hirnforschung. Eine philosophische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Arbogast Schmitt Was sind Bioelemente und wie geht man mit Ihnen um? . . . . . . . . 269 Helmut Remschmidt Das Asperger-Syndrom. Von der klinischen Beobachtung zur Hirnfunktion und zum Verständnis exzentrischen Verhaltens . 285

Religion Wolfgang Hage Kirche und Nation im orientalischen Christentum . . . . . . . . . . . . . 301 Martin Kraatz „Jesus mit Mutter und Großmutter“ Familienbande als religionsgeschichtliches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Inhaltsverzeichnis

VII

Wirtschaftswissenschaften Sabine Föllinger/Evelyn Korn Glück und Ökonomie – ein interdisziplinäres Projekt zur Bedeutung von Institutionen bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Bernd Schiemenz Wissenswertes Wissen – Ein Versuch aus den Perspektiven von Varietätsgesetz, Effizienz und Effektivität sowie Hierarchie . . . . . 363

Mathematik Volker Mammitzsch Der Apfeldieb – ein Paradoxon des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . 375

Mitgliederverzeichnis der Marburger Gelehrten-Gesellschaft seit ihrer Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379

Vorwort

Vorwort Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft ist eine aus den Wirren der Universitätsreform hervorgegangene wissenschaftliche Gesellschaft, die seit fast einem halben Jahrhundert besteht und derzeit fünfzig Mitglieder umfasst. Das Jahr 1968 hatte auch an der Philipps-Universität die Wogen hoch gehen lassen. Was war geschehen? Am 16. Mai 1966 trat das Hessische Hochschulgesetz in Kraft. Es bestimmte u. a., die Philipps-Universität müsse sich eine neue Satzung geben. Damit begannen schwierige Zeiten, da die Zusammensetzung der akademischen Gremien heftig umstritten war. Eine später als „Marburger Manifest“ bekannt gewordene Erklärung zu Politisierung und Demokratisierung der Universitäten, ursprünglich von 35 Marburger Ordinarien verfasst und in der Folge deutschlandweit von ca. 1.500 Professoren und Dozenten unterzeichnet, wurde als Anzeigen in der „Welt“ vom 30.04.1968 und in der FAZ vom 09.07.1968 veröffentlicht. Dem vorausgegangen war ein „Brief der Dreiundzwanzig“ vom 13.12.1967 an den damaligen Rektor O. Madelung, der sich gegen dessen Vorschlag einer 15%-igen studentischen Beteiligung in den Gremien wendete. Mehr als die Hälfte der Unterzeichner dieses Briefes trat später der Marburger Gelehrten-Gesellschaft bei. Schließlich beschloss der Große Senat am 20.01.1968 mit knapper Mehrheit, die Studierenden mit 20 % am Satzungsausschuss zu beteiligen. Am 10.02.1968 wurde die konstituierende Sitzung des Satzungsgebenden Senats durch 136 Senatoren aus den Reihen der Akademischen Mitarbeiter und der Studentenschaft gesprengt. Von nun an waren ordentliche Beratungen in den akademischen Gremien nicht mehr möglich: sie tagten zu ungewöhnlichen Zeiten an ungewöhnlichen Orten in Marburg oder außerhalb des Stadtgebiets. Am 27. November 1968 beschlossen, am 13. Januar 1969 vom Kultusminister gebilligt und am 19. September 1972 vom Hessischen Staatsgerichtshof für ungültig erklärt, gelang es erst nahezu vier Jahrzehnte später, nachdem ein neues Hochschulgesetz in Kraft getreten war und die Zeiten sich beruhigt hatten, am 12.07.2011 eine Grundordnung zustande zu bringen. Die Marburger Gelehrten-Gesellschaft wurde am 21. Mai 1969 gegründet. Gründerväter waren die Herren Brunhölzl, Buck, Kienast, Otten, Rau, Schröder und Wimmel. Am 16. Juni 1969 kamen die Herren Benz, Dammann, Drerup, Heuss, W. Kümmel, Nultsch, Reich, Schott und von Stosch hinzu, am 7. Juli 1969 Herr Wolf, am 9. Februar 1970 Herr Kullmann, am 15. Juni 1970 Herr Kating, am 13. Juli 1970 Frau Hampe und Herr Pfister, am 19. Oktober 1970 Herr Roderich Schmidt und am 25. Januar 1971 Herr Grass. Am 1. Juli 1970 erfolgte die Eintragung in das Vereinsregister des

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Vorwort

Amtsgerichts Marburg. Als Vereinszweck nennt die 1980 leicht überarbeitete Satzung „die Aufgabe, die Wissenschaft über die Grenzen der Fachbereiche der Universitäten hinaus für die Allgemeinheit in Wort und Schrift sowie die Wissenschaftsorganisation zu fördern“. In der ersten Zeit mussten Zuwahlen einstimmig erfolgen, Enthaltung war nicht zulässig. Abgestimmt wurde mit großen Bohnen (Phaseolos vulgaris) – weiß bedeutete „ja“, blaurot „nein“. Dieser altertümliche Brauch hat sich bis heute erhalten. Die Forderung nach Einstimmigkeit wurde 1973 durch den Passus „weniger als drei Gegenstimmen“ und 1976 durch eine 3/4-Mehrheit der Anwesenden ersetzt. Als Vorstände haben dem Verein in zeitlicher Abfolge die Herren Rau, Nultsch, Wolf, Buck, Kating, Schröder, Jungraithmayr, W. Kümmel, Roderich Schmidt, Zimmermann und Müller gedient, gegenwärtig wird dieses Amt von Frau Froning und den Herren Jungraithmayr und Mammitzsch wahrgenommen. In den ersten Jahren nach der Gründung trafen sich die Mitglieder der Marburger Gelehrten-Gesellschaft in Privatwohnungen, ab dem 15.06.1970 im „Waldecker Hof“, später im „Kurhotel Ortenberg“, im Stadthallen-Restaurant und im „Alten Ritter“; nach einer kurzen Übergangslösung im „Alten Brauhaus“ finden die monatlichen Treffen während der Vorlesungszeit seit dem

W. Rau (1922–1999), Spiritus rector und langjähriger Vorstand der Marburger Gelehrten-Gesellschaft

Vorwort

XI

15. April 2014 im „Vino Nobile“ statt. Der Gesellschaft gehören derzeit fünfzig Mitglieder an (Stand: Januar 2016); eine Übersicht über aller bisherigen und gegenwärtigen Mitglieder findet sich am Ende des Bandes. Bei den Sitzungen werden wissenschaftliche Vorträge gehalten und anschließend diskutiert. Auch erschienen im Wilhelm Fink Verlag (München, heute Paderborn) zwischen 1971 und 1992 dreiundzwanzig Abhandlungen. Die beiden letzten Publikationen dieser Reihe stammen aus dem Jahr 2000 (Nr. 26) und 2007 (Nr. 27). Der jetzt vorgelegte Sammelband soll zu einer verstärkten Wahrnehmung der Gesellschaft in der breiteren (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit beitragen. Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung der Universität in den Augen der Öffentlichkeit gewandelt. In einem längeren Zeitungsartikel („Die Zeit“ vom 19.07.2012) fragt der Berliner Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth: „Brauchen moderne Gesellschaften Universitäten?“ und gibt gleich die Antwort: „Gesellschaften wie unsere ... sind offenbar auf Universitäten im klassischen Sinne nicht angewiesen, zumindest nicht in der Forschung.“ Dann fährt er fort: „Braucht man zur Ausbildung in Gesellschaften wie unseren die Universität, also die Simultanpräsenz der Universitas Litterarum, der Gesamtheit der Disziplinen und Ausbildungsoptionen? Wohl kaum.“ Sicher trifft zu, was Walter Rüegg in der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ 6/2015 so formuliert: „Eine enzyklopädische Bildung ist heute nicht mehr möglich.“ Aber er fügt gleich hinzu: „Den Naturwissenschaften sowie der Philologie und Philosophie“ – und man darf wohl ergänzen: auch den übrigen Wissenschaften – „liegen jedoch die gleichen Prinzipien zu Grunde, die sich jeder Student und jede Studentin, unabhängig von seiner oder ihrer Studienwahl, aneignen sollte. Man kann und soll bis zu den Wurzeln der Kultur vordringen, auch wenn dies im Laufe der Zeit immer wissenschaftlicher und technologischer geworden ist“. Dieses Verständnis von universitas litterarum gilt für Lehrende und Lernende gleichermaßen. Zu erfahren, wie in Disziplinen auch außerhalb des eigenen Forschungsgebiets gedacht und argumentiert wird, das ist das Anliegen der Vorträge und Diskussionen in der Marburger Gelehrten-Gesellschaft. Aus diesem Geist heraus ist das vorliegende Werk entstanden. Allen Mitgliedern der Marburger Gelehrten-Gesellschaft, die sich daran beteiligt haben, sei an dieser Stelle gedankt, desgleichen den engagierten Mitarbeiterinnen Brockmann, Buch und Buhl des Verlags. Möge es dazu beitragen, das geistige Band zwischen den Wissenschaften zu bewahren und zu stärken und, wo nötig, neu zu knüpfen. Marburg, im April 2016 Volker Mammitzsch Bei der Abfassung des Berichts über die Zeit der Gründungsjahre der Marburger Gelehrten-Gesellschaft konnte auf das unveröffentlichte Manuskript eines Vortrags von Wilhelm Rau zurückgegriffen werden.



Recht

Kants erste Rechtspflicht: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“ Reinhard Brandt Vorbemerkung „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“, lautet die erste der drei Formeln Ulpians1 in Kants „Rechtslehre“ der Metaphysik der Sitten von 1797 (VI 236,24)2. Es folgt die Pflicht „neminem laede“, danach das „suum cuique tribue“; sie werden zusammengefasst unter dem neuen Titel einer „Allgemeinen Eintheilung der Rechtspflichten“. Zur Erläuterung der ersten Rechtspflicht heißt es in der typischen Umständlichkeit und Brisanz: „Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ,Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‘ Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti).“ (236,24–30) Die erste Rechtspflicht steht in einem vermutlich späten Textstück; es enthält Sonderbarkeiten, mit denen sich der kritische Leser beschäftigen muss: 1. Die Rede vom „rechtlichen Menschen“ begegnet in der „Rechtslehre“ nur hier,3 und die Formulierungen „rechtliche Ehrbarkeit“ und „honestas iuridica“ kommen in den gesamten Kantischen Schriften sonst nicht vor. 2.  Ebenfalls nur hier gibt es den Imperativ, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern für sie zugleich Zweck zu sein. 3.  Diese Pflicht soll im Folgenden aus dem Recht der Menschheit in unserer Person erklärt werden, aber die Erklärung findet sich nicht. 1 und 2 gehören zusammen; der Begriff des „rechtlichen Menschen“ nimmt den des „rechtlichen Zustandes“ vom Übergang aus dem Natur- in den Zivil-

1   Der Beitrag ist eine gekürzte und verbesserte Fassung von: Brandt 2012. Vgl. Krüger und Mommsen 1882, 3: „Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere.“ 2   Bloße Band-, Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich hier und im Folgenden auf die Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, Berlin 1900 ff., bloße Seiten- und Zeilenangaben auf Band VI dieser Ausgabe. 3   Jedoch außerhalb der Rechtslehre auch XX 458,24; XXI 462,27; XXIII 359,22; 462,21.  

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Reinhard Brandt

zustand auf und ergänzt oder besser: korrigiert ihn, denn die Despotie macht mich zum bloßen Mittel, obwohl sie legal ist und offiziell zum „rechtlichen Zustand“ gehört. Die Despoten brauchen ihre Bürger in Krieg und Frieden als bloßes Schlacht- und Lastvieh, wie es im Streit der Fakultäten (1798) heißt. Die Signalwörter finden wir auch versteckt im „Völkerrecht“ der „Rechtslehre“. Dort zählen die kriegführenden Fürsten die Menschen zu den Landesprodukten: „Dieser Rechtsgrund aber […] gilt zwar freilich in Ansehung der Thiere, die ein Eigenthum des Menschen sein können, will sich aber doch schlechterdings nicht auf den Menschen, vornehmlich als Staatsbürger, anwenden lassen, der im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst)4, […].“ (345,30–35) Die erste Rechtspflicht gehört einerseits in die Systematik der drei Rechtspflichten und begründet das gesamte Rechtssystem, aber sie formuliert auch die Notwendigkeit des Ausgangs aus der Despotie hin zur Gründung einer Republik, in der allererst ermöglicht wird, ein rechtlicher Mensch zu sein. 3. Wenn diese Pflicht aus einem vorgängigen Recht zu erklären ist und nicht umgekehrt das Recht aus der Pflicht als seiner Voraussetzung abgeleitet wird, liegt dann der gesamten kritischen Rechtslehre ein vorkritisches Recht zugrunde? Das erste der drei Ulpianischen „praecepta juris“ gehörte bei Kant bis zur „Rechtslehre“ der Metaphysik der Sitten von 1797 zur Ethik, nicht zum Recht. Was veranlasste die neue Verortung, und wie wird aus dem ethischen „honeste vive“ eine originäre Rechtspflicht? Die Tafel der drei „praecepta“ lässt sich in ihrer formalen Struktur und Vollständigkeit gut rekonstruieren, aber inhaltlich gerät man in größte Schwierigkeiten; denn wie ist die MittelZweck-Relation in der ersten Rechtspflicht genau zu verstehen, und worauf zielt sie innerhalb der „Rechtslehre“ selbst? Die zweite und dritte Formel lassen sich nach Kantischer Anweisung verorten: Das „neminem laede“ bezieht sich auf das innere und äußere Mein und Dein des Naturzustands, das „suum cuique“ ist die Folgepflicht des Übertritts in den Zivilzustand, in dem jedem das Seine bestimmt und geschützt werden kann. Aber wo ist der Referenzort der ersten Rechtspflicht in der „Rechtslehre“? Unsere Antwort wird lauten: Sie bildet die Grundlage des gesamten, sowohl des Privaten wie auch Öffentlichen Rechts. Damit übertrumpft sie die Absegnung des Öffentlichen Rechts als eines rechtlichen Zustandes, denn die legale Despotie ist ein Zustand höchsten öffentlichen Unrechts. Ihm stellt sich die erste Rechtspflicht wie einem neuen Naturzustand entgegen; sie fordert damit auf, den Weg zum Recht erneut zu begehen, denn erst in der Republik kann der Mensch das Gebot erfüllen, ein rechtlicher Mensch zu sein. Hiermit folgt Kant einem bis in die Antike zurückreichenden Muster: Der eigentliche Staat löst die Herr-

  Zu der paradoxen Formulierung „Zweck an sich selbst“ s. zuerst IV 428,4 ff.

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Kants erste Rechtspflicht: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“

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schaft der Despoten des Anfangs ab. Wir finden also in der ersten Rechtspflicht überraschend eine geschichtsphilosophische Komponente. Sodann: Die Pflicht soll „im folgenden“ aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden. Wir fragten schon: Wo geschieht dies? Und woher stammt das Recht selbst, aus dem sich die Pflicht erklären lasse? Muss es nicht umgekehrt so sein, dass die Pflicht aus dem kategorischen Imperativ stammt und ihrerseits die Grundlage des besagten Rechts ist? Die erste Rechtspflicht betrifft das Innere (237,10), aber in der Pflicht selbst wird der Alteritätsbezug betont, es geht um das „Verhältniß zu Anderen“, wir sollen uns „anderen nicht zum bloßen Mittel“ machen, wir sollen „für sie zugleich Zweck“ sein. Also geht es doch um ein juridisches Außenverhältnis? Die These der folgenden Ausführungen lautet: Die erste Rechtspflicht wird von Kant unter der Voraussetzung des kategorischen Imperativs und „der Vernunftnotwendigkeit des Rechts überhaupt“5 eingeführt als die Grundlage des Rechts, das in den beiden Bereichen des „neminem laede“ und „suum cuique“ als Privat- und Öffentliches Recht abgehandelt wird. Die erste Rechtspflicht ist dabei der Ort der Selbstkonstitution des Menschen als eines Rechtswesens. In der Diktion der Kategorientafel: Die erste Rechtspflicht setzt selbst die Substanz des Menschen als eines Rechtswesens; hieran können das „neminem laede“ und „suum cuique“ wie Kausalität und Wechselbeziehung anschließen. Auf den speziellen Referenzbereich der ersten Rechtspflicht geht Kant ausführlich im ungefähr gleichzeitig verfassten6 zweiten Abschnitt des Streits der Fakultäten ein, aber auch in einem kaum beachteten Kapitel des Öffentlichen Rechts der „Rechtslehre“ (345,30–35). In der Despotie werden Bürger legal als bloße Mittel, als Last- und Schlachttiere, verwendet; nur die Republik genügt der Rechtspflicht, gegen andere den Wert7 eines Zwecks an sich (!) zu behaupten. Die erste Rechtspflicht sprengt damit die traditionell konzipierte Rechtslehre, so wie sie es schon mit ihrer neuen Terminologie tut. Die anschließende Frage der Präzedenz entweder der ersten Rechtspflicht oder aber des Rechts der Menschheit in unserer Person soll erörtert werden, wir gelangen jedoch nicht zu einer eindeutigen Lösung.

  Oberer 2004, 204.   Zur Datierung der „Erneuerten Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“ (VII 79,1–2) s. Brandt 2003b, 15-16; 119–120. 7  Der „Werth eines Menschen“ wird in anderen Zusammenhängen auch als Würde bezeichnet (u. a. IV 434–435); Wert und Würde des freien Menschen stehen im Kontrast zum variablen Preis, s. sehr überzeugend Sensen 2009, auch Hirsch 2010, 16; 63, Klemme 2011 klärt die Differenz von ethischer Würde und Recht der Menschheit in unserer Person. 5 6

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Reinhard Brandt

1.  Recht und Ethik Einige Hinweise zur Genealogie der zwei Stämme der praktischen Philosophie, Recht und Ethik, oder auch: Ethik und Recht. Aristoteles kündigt am Ende der Nikomachischen Ethik eine Schrift zur Politik an; die Menschen, so heißt es, bedürften zur eigenen Ausbildung ihrer Natur einer sittlichen Ordnung, die Menge jedoch müsse durch Zwangsgesetze gelenkt werden. „[...] denn die Vielen beugen sich eher dem Zwang als dem Wort und eher der Strafe als dem Vorbild edlen Handelns.“8 Daher die Dopplung von Tugendlehre und Zwangsrecht, Ethik und Politik. Bei Kant finden wir die tradierte Dualität einerseits in der Dopplung von Rechts- und Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten, andererseits auch in der Dopplung von ethischem und rechtlichem Gemeinwesen in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und der „Rechtslehre“ der Metaphysik der Sitten (1797). Der kategorische Imperativ, der wenigstens ab 1788 die Grundlage der gesamten reinen praktischen Philosophie sein soll, ist naturrechtlich inspiriert9 und bildet in seiner Zweistufigkeit von Maxime und Gesetz die beiden Phasen von Naturzustand und Zivilzustand ab.10 Schon 1767 spricht Kant von einer „Metaphysik der Sitten“ (X 74, 17–18; auch 97,31), aber 1785 (GMS) und 1788 (KpV) scheint eine selbständige Rechtslehre vergessen zu sein; beide Werke konzentrieren sich auf die Ethik und ihre Triebfeder, die Achtung, ohne gesondert herauszustellen, dass zum Freiheitsgesetz auch der Sollensbereich des Rechts gehört, in dem die Triebfeder des moralischen Handelns nicht die Achtung vor dem Gesetz sein muß11. Dass wiederum schon zu Beginn der sechziger Jahre die systematische Beziehung von Recht und Ethik ein Gegenstand der Reflexion war, zeigt eine Herder-Mitschrift: „Die Ethik […] ist der allgemeinen praktischen Philosophie untergeordnet, dem Recht, der Wissenschaft der äußerlichen Pflichten nebengeordnet.“ (XXVII 13,1–3)12 1797 wird die Einheit und Differenz von Recht und Ethik zum Gegenstand einer komplizierten Reflexion innerhalb der Metaphysik der Freiheit, deren Verwicklungen wir uns gleich zuwenden werden.

  Aristoteles 1969, 297 – Nikomachische Ethik 1180a4-5.  Dies ist immer bemerkt worden, auf einige Autoren verweist Metzger 1966, 58 (bes. Anm. 2)–62. 10   Scholz 1972, 178–179: Gesetze als allgemein-gültige Befehle der Staatsgewalt. Maximen können also diesen Status noch nicht haben und gehören in den Naturzustand als private Vorsätze. Ausführlich Brandt 2010, 91–104. 11   Die Präsenz auch des Rechts in der GMS und der KpV zeigt Gregor 1963, 18 ff. 12   Zur Lehrtradition der beiden Disziplinen, in die sich Kant stellt, vgl. Höffe 1999, 1–5. 8

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Kants erste Rechtspflicht: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“

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2.  Die Rechtslehre als Teil der kritischen Moralphilosophie Die viel befolgte sog. „Unabhängigkeitsthese“ besagt nach Julius Ebbinghaus, dass die Möglichkeit der sittlichen Freiheit „in keiner Weise die Voraussetzung für die Gültigkeit des von Kants Rechtslehre vorausgesetzten negativen Freiheitsbegriffs [ist], so bedeutet die Eingeschränktheit der Kantischen Rechtslehre auf den negativen Begriff der Freiheit der menschlichen Willkür zugleich die Unabhängigkeit dieser Rechtslehre von der kritischen Philosophie überhaupt und ihrem transzendentalen Idealismus.“13 Klaus Reich schon 1936: Das strikte Recht bestehe aus nichts anderem als der Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges. „Der Rationalismus der Rechtslehre […] verführt daher auch gewiß nicht zu dem Ansatz einer reinen praktischen Vernunft, zu der Annahme, daß die reine Vernunft vermöge des Gesetzes der Sitten selbst unmittelbar praktisch sei. D. h. also, die rein rationale Rechtslehre führt gewiß nicht auf das Prinzip der Autonomie des Willens.“14 Diese Äußerung ist äquivok; isoliert man die rationale Gesetzesordnung äußerer Handlungen, kann sie der Verwaltungsmodus nur vernünftiger Wesen mit nur instrumenteller Vernunft sein; von einer reinen praktischen Vernunft kann dann nicht die Rede sein. Bezieht man sich dagegen auf die Rechtslehre Kants von 1797, bildet sie klar einen Systemteil der Metaphysik der Sitten auf der Grundlage der reinen praktischen Vernunft. Sie gehört zur Moral. Wenn die reine praktische Vernunft nicht die Grundlage der Rechtslehre ist, dann gibt es in der letzteren keine Pflicht, sondern nur die Klugheitsempfehlung, sich doch bloß an das rationale Freiheitsprinzip zu halten, weil mit ihm das Problem des konfliktfreien Zusammenlebens am besten gelöst werde. Dann aber schlägt die rationale Rechtslehre in eine empirische um: Rational vielleicht, aber als Rechtslehre qualifiziert sie sich durch den empirischen Zweck und Erfolg.15 Der gesetzliche Zwang, der dem Gesetzesübertreter angedroht wird, entspricht dann dem Zweck, den sich alle 13   Ebbinghaus 1988, 296–297. Vgl. Oberer 2010. Scholz 1972, XVII: Klaus Reich und Julius Ebbinghaus leugnen „jede Abhängigkeit der Rechtslehre von der Möglichkeit der Idee der Freiheit.“ Höffe 1999, 41–62 stellt die Abhängigkeit der Rechtslehre vom kategorischen Imperativ noch einmal klar. Zu der Vorstellung der Abhängigkeit des Naturrechts nicht von der Philosophie, sondern dem positiven Recht vgl. Höffe 2001, 21. 14   Reich 2001, 156–157. Zu Reichs Interpretation s. auch Ludwig 1988, 100–101, Anm. 32. 15   Zu Kants Auffassung der empirischen Rechtslehre als der einzigen Alternative zu seiner eigenen s. Naucke 1996. Wolfgang Naucke erläutert Kants Einbeziehung der PhaedrusFabel zur Kennzeichnung der empirischen Rechtslehre: „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phaedrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat.“ (230,4–6) Es gibt nach Kant, wie Naucke zeigt, neben der so gekennzeichneten empirischen und der in der kritischen Philosophie begründeten apriorischen Rechtslehre keine weitere Rechtslehre. Auch eine „rein rationale“ muss empirisch sein, weil sie nur in einem hypothetischen Imperativ praktisch werden kann.

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Reinhard Brandt

setzen; das Quantum und Quale des Zwanges wäre also modifizierbar. Schon hier ist ersichtlich, dass wir uns nicht mehr in der Metaphysik der Sitten bewegen, sondern in einem rationalen System der theoretischen Vernunft. Reich schreibt: „So ist es wenigstens verständlich, wie man dem Irrtum, daß eine reine Rechtslehre auf eine Kritik der praktischen Vernunft habe hinführen können, verfallen kann.“16 Nicht eine beliebige, sondern die Kantische reine Rechtslehre führt auf eine Kritik der praktischen Vernunft hin, weil sie eine auf den kategorischen Imperativ aufbauende Pflichtenlehre ist. Es gibt keine zwei praktischen „Pflicht“-Begriffe, den einen kategorischen der Ethik und den anderen hypothetischen des Rechts. Es gibt nicht zwei Adressaten der Metaphysik der Sitten, einerseits die Verwaltungszombies und andererseits die Personen, die Zweck an sich selbst sind und die die formalen Gesetze, denen sie unterworfen sind, in der Idee selbst geben. Die Teufel, die Kant 1795 ins Gespräch bringt (VIII 366,15–29), sind keine autonomen Vernunft-, sondern nur vernünftige oder Verstandeswesen (VIII 366,16; 17), ganz im Sinn einer Rechtslehre ohne Fundierung in der reinen praktischen Vernunft. Die Personqualitäten, an die Kant z. B. in seinem Eherecht (277,9–280,8) und Strafrecht (331,20–332,10) appelliert, sind Kindermärchen für den Teufel als eines bloßen „animal rationale“ (V 434,22–23). Die Unabhängigkeitsthese formuliert neu, was Fichte 1796 in seiner Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre gelehrt hatte. In dieser Phase seiner Gedankenbildung meinte Fichte, die Versuche der kantianisierenden Rechtslehrer, das Recht in der Moral, d. h. Ethik zu begründen, seien gescheitert; das Recht gehe nicht auf eine Pflicht zurück und gebiete nie kategorisch, sondern immer nur hypothetisch.17 Die Unabhängigkeitsthese versagt schon vor diesem nicht leugbaren Faktum, dass Kant die Rechtslehre nicht als Hypothese anführt; sie versagt vor dem Begriff einer Rechtspflicht, denn Pflichten kann es nur auf dem einen gemeinsamen Fundament der reinen praktischen Vernunft geben. Wie dies in den einzelnen Schritten konsequent durchführbar ist, ob das System der Metaphysik der Sitten konsistent ist, ist eine andere Frage; vielleicht sind Rechtslehre und Ethik nicht in einer einheitlichen Metaphysik der Sitten zu vereinbaren.

  Reich 2001, 158.   Fichte 1966, 320: „[...] diejenigen ausführlich zu widerlegen, welche die Rechtslehre vom Sittengesetze abzuleiten versuchen.“ Statt einer derartigen Ableitung behauptet Fichte die Unabhängigkeit des Rechts vom Sittengesetz, wie sie später auch Ebbinghaus und Reich vertreten werden. – Zum Zusammenhang von Recht und Ethik vgl. auch Höffe 2001, 105–162. Im ersten Kapitel seines Buches („Moral“, 36–104) bringt Höffe einen Vergleich von Aristoteles und Kant, wobei er allerdings den Gesetzesbegriff des kategorischen Imperativs wie üblich durch eine Universalisierung ersetzt und dadurch das wesentliche Element des Kontrastes ausblendet. 16 17

Kants erste Rechtspflicht: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“

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Wer die Unabhängigkeitsthese für falsch hält, nimmt damit nicht an, die Rechtslehre sei ein Teil der Transzendentalphilosophie; das ist sie so wenig wie die KpV; behauptet wird dagegen, dass die Ergebnisse der KrV vorausgesetzt sind und benutzt werden können, so z. B. in der Konstruktion eines intelligiblen Besitzes oder in der für die gesamte Rechtslehre fundamentalen Trennung von „homo phaenomenon“ und „homo noumenon“.18 Der „homo noumenon“ ist die Menschheit oder ihre Idee in der Person eines jeden; ohne diesen Vernunftgrund zerfällt die Rechtslehre in eine verunglückte Sammlung von Klugheitsregeln. Es ist schwer, einen sachlichen Grund für die Unabhängigkeitsthese in Kants Schrift selbst zu finden (die Fichte noch nicht vorlag). Einer könnte sein, dass die Tatsache, dass die Triebfeder im Recht offenbleibt, als so gravierend angenommen wird, dass die Verbindung mit der reinen praktischen Vernunft völlig gekappt wird. Für diese letztere ist dann entscheidend, dass sittlich nur „aus Achtung“ gehandelt wird; mit dem Verzicht auf dieses Attribut würde Kant die Rechtslehre aus dem Bereich der reinen praktischen Vernunft ausschließen. Wir können vorerst nur konstatieren, dass dies nicht der Fall ist, dass die Rechtslehre 1797 zur Pflichtenlehre der reinen praktischen Vernunft gehört und alle Pflichten, die aufgeführt werden, sich an Vernunftwesen wenden, nicht an nur technisch-vernünftige Zombies. Nur Personen sind die Adressaten des Rechts, und die Personqualität macht das Recht überhaupt zu einer Pflicht und restringiert seine Möglichkeiten. Es ist das Verdienst von Ebbinghaus und Reich, die Aufmerksamkeit auf die problematische Beziehung zwischen der äußeren und inneren Reglementierung des Menschen, zwischen Zwangsmöglichkeit und Gesinnung, Bürger und Mensch, Recht und Ethik hingewiesen zu haben. Die Meinung, die Rechtslehre sei in der Intention Kants unabhängig vom System der Transzendentalphilosophie, lässt sich, wie gezeigt, nicht aufrecht halten, die Einbindung allein in den Einleitungen der Metaphysik der Sitten und der Rechtslehre dokumentieren das Gegenteil. So bleibt die Möglichkeit, dass Kant mit dem Verzicht auf eine Triebfeder aus reiner praktischer Vernunft in der Rechtslehre einen nicht intendierten Systembruch vollzieht und damit die These der Unabhängigkeit nicht Kant interpretiert, sondern ihn kritisiert. Was faktisch jedoch weder bei Ebbinghaus noch bei Reich der Fall ist. Unabhängig von der speziellen Frage, wie sich nun Rechts- und Tugendlehre zueinander verhalten, hat Ebbinghaus nach der skurrilen Untauglichkeitsthese von Arthur Schopenhauer19 Mut bewiesen, indem er die Kantische Rechtsphilosophie in einer Zeit ernst nahm, in der so niedere Dinge wie Recht und Unrecht weder in der Philosophie des Seins noch in der dominierenden Praxis Beachtung fanden.   Ju 1990, 99.   Zu Schopenhauers Diagnose der Altersschwäche s. Hirsch 2010, 1.

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In der „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ und der „Einleitung in die Rechtslehre“ erfährt der Leser, dass und wie Recht und Ethik in der reinen praktischen Vernunft begründet sind und wie ihre Differenz systematisch bestimmt ist. In der ersten Einleitung werden die Begriffe angeführt, die beiden Teilen der Metaphysik der Sitten gemein sind. Es soll hier der Katalog der gemeinsamen Prinzipien und Begriffe nicht erörtert werden. Er setzt außer Zweifel, dass Recht und Ethik Teile des kritischen Systems sind und die Transzendentalphilosophie voraussetzen. Beide Pflichtarten sind im kategorischen Imperativ der reinen praktischen Vernunft begründet; auch die Pflichten, die sich nur auf äußere Handlungen beziehen, kennen eine „Idee“ der Pflicht, „welche innerlich ist“ (219,18–19; 220,5), die nun ihrerseits entweder zur Triebfeder wird oder aber als Rechtspflicht die Art der Triebfeder offen lässt. Jede bloße Rechtspflicht muss den Ethik-Test bestehen und sich dazu qualifizieren, auch als Zweck von der jeweiligen Person gewollt werden zu können (390,30–391,7 u. ö.). In der ersten Rechtspflicht als einer Selbstpflicht unterwirft der „homo noumenon“ den „homo phaenomenon“, ermöglicht durch die kritische Philosophie. Es wird von Kant unterstellt, dass der Mensch über reine praktische Vernunft verfügt und aus ihr die Rechtspflicht unmittelbar erkennt, sie ist ein spezielles Pflichtgesetz, das die Freiheit als real erweist und sie bestimmt, auch wenn der Mensch im Einzelfall einer äußeren Nötigung folgt. Diese Begründung war Fichte 1796 noch nicht zugänglich. Die schon zu Kants Zeiten vagabundierende Verkürzung des Vernunftwesens Mensch zu einem bloß vernünftigen Wesen (im Sinn von VI 26 u. ö.) durch die Juristen (VI 345,2) verkennt, dass der Mensch „im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muss (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst)“ (VI 345,34–35). Die Rede vom „Zweck an sich selbst“20 seit der Grundlegung (IV 428.8 u. ö.) ist nur sinnvoll unter der Bedingung der Trennung von Ding an sich und Erscheinung, „homo noumenon“ und „homo phaenomenon“. Auch in unserem Text 236,37–38 ist mit der Formulierung „Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“ nicht die durch die Naturprodukte realisierte Mittel-Zweck-Beziehung gemeint („Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ (V 376,11–13))21, sondern der Kontrast des bloßen Mittels zum Zweck an sich selbst. 20  Die Formulierung ist eine Parallelbildung zu „ens a se“: „Daß das Daseyn irgend eines Dinges als Zweck an sich selbst seyn müsse, und nicht alle Dinge bloß als Mittel seyn können, ist in dem System der Zwecke eben so nothwending, als in der Reihe der wirkenden Ursachen ein Ens a se. Ein Ding, das an sich selbst Zweck ist, ist ein Bonum a se.“ (XXVII 2, 2,1321,12–15; Naturrecht Feyerabend). 21   Während die Urteilstafel als System zeitlos ist, sind die organisierten Produkte der Natur empirisch entstanden und können problemlos Teile enthalten, die in früheren Zeiten

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Und es gibt einen anderen Durchblick aus dem Intelligiblen zum Recht: Es ist der Enthusiasmus, der die Ablösung der Despotie durch die Republik hymnisch begrüßt. Im Streit der Fakultäten spricht Kant von einem „Enthusiasm der Rechtsbehauptung für das menschliche Geschlecht“ (VII 86,33–34). Hier wird das Recht zwar nicht durch die Achtung vor dem Gesetz realisiert, sondern ein Analogon der reinen praktischen Vernunft wird zur Triebfeder, nicht als steter Impuls, aber doch als sympathetischer erster Einklang.22 Nie könnte das Recht eine solche Seelenbewegung auslösen, wenn es eine bloße Verwaltungsregel äußerer Freiheit wäre und nicht in sich mit dem Höchsten im Menschen, der Idee der reinen praktischen Vernunft, der Freiheit und Autonomie, verbunden wäre. 1792 weist Kant auf die Differenz von vernünftigen und Vernunftwesen hin und wiederholt diese Unterscheidung 1797 (VI 26; 418; 434). Zu den nur vernünftigen Wesen kann man die schon erwähnten Teufel von 1795 (VIII 366,15–367,7) zählen; sie sind dezidiert keine möglichen Bürger des Kantischen Staats, die als Vernunftwesen und Personen über einen Wert als Menschen verfügen. Nur von diesen Wesen ist in der MdS die Rede. Dies ist besonders festzuhalten, weil der Bürger als Untertan von der Differenz von vernünftigem und Vernunftwesen nichts zu erfahren braucht, er soll nur jedem legalen Gesetz gehorchen. Als Gesetzgeber jedoch, als der er nach Kant daneben auf Grund des Autonomie-Prinzips zu denken ist, hat er die Gesetze so zu konzipieren, dass sie sich an Personen wenden und ihrem Personen-Status gerecht werden. Wesen, die äußerlich frei sind23 und das Prinzip der Übereinstimmung der Freiheit eines jeden mit der aller anderen als beste Verwaltungsregel ihres Überlebens und ihres Glücks entdeckt haben, können drakonische Strafgesetze erlassen, um endlich die Kriminalität aus der Welt zu schaffen und die Freiheit eines jeden noch Lebenden im Einklang mit der aller anderen durchzusetzen. Die Strafe der Kantischen Rechtslehre bezieht sich dagegen ausschließlich auf Personen als Vernunftwesen, die dadurch bestimmt sind, dass ihre Handlungen zurechenbar sind (u. a. VI 26,10–11 u. ö.).24 Strafen können daher nicht durch einen externen Zweck bestimmt werden; auch der Verbrecher wird nicht zum bloßen Mittel, „ein anderes Gute zu befördern“ (331,23; 26).

Mittel und Zweck waren, danach jedoch funktionslos wurden und trotzdem mitgeführt werden – gegen Kant. 22  Die mit Einschränkung hohe Bewertung des Enthusiasmus geht auf vorkritische Überlegungen zurück, s. II 221,37–222,1; 251,32; 267,10. 23   Im Sinn des jeweiligen Fehlens von Hindernissen, womit Hobbes und Hume sich begnügen. 24   Ju 1990, 131: „Denn die Strafbefugnis des Staats setzt die Unantastbarkeit des Menschenrechts des Bestraften als zurechnungsfähiger Person voraus. Ohne diese Voraussetzung würde die Strafe völlig sinnlos sein.“

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Die nur vernünftigen Wesen kennen nur hypothetische Imperative, die Kant schon 1790 (V 172,14–173,36) aus der reinen praktischen Vernunft herausgenommen und der theoretischen Philosophie zugeschlagen hatte, sie halten einen kategorischen Imperativ für einen schlechten Witz. Vernunft ist ihnen nur bekannt als „causa instrumentalis“, nicht als „causa originaria“ (XXIII 383,3–4). Die instrumentelle Vernunft bedarf keiner kritischen Grundlegung, die sich nur auf die Notwendigkeitsprätention der reinen praktischen Vernunft bezieht, „auf den reinen Begriff der Rechtspflicht (vom Sollen), dessen Princip a priori durch reine Vernunft gegeben ist“ (VIII 379,15–17).

3.  Die Systematik der Rechtspflichten Zunächst zur formalen Ordnung. Kant sucht sie folgendermaßen als systematische Einheit darzustellen und zu begründen: „Also sind obstehende drei classische Formeln zugleich Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten in innere, äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten.“ (237,9–12)25 Gibt es eine Mehrzahl von inneren Rechtspflichten, die hier unter dem Titel des „honeste vive“ zusammengefasst werden? Grammatisch notwendig. Wie immer, jedenfalls hat Kant erst jetzt diese Möglichkeit einer systematischen Einheit der drei Pflichten entdeckt, die nun notwendig in die Rechtslehre gehört. Wie die Ableitung genau aussehen soll, muss wohl dunkel bleiben. „Auffallend an dieser Bestimmung Kants ist vor allem die Ableitungsbeziehung, die Kant zwischen den drei Rechtspflichten herstellt. Doch obwohl Kant von einer ‚Subsumtion‘ spricht, bleibt das genaue logische Ableitungsverhältnis unklar.“26 Wir können umgekehrt sagen: Kants Rekonstruktion der Rechtspflichten besagt, dass sie vollständig sind und keine weiteren empirisch aufgefunden oder eine von ihnen gestrichen werden können. Diese Vollständigkeit ist angewiesen auf einen Nachweis in Anlehnung an den einfachen Syllogismus; die Versatzstücke sind vorgegeben durch das „innen“ der ersten Rechtspflicht. So viel ist ersichtlich: Die Substanz des Rechtssubjekts ist bei der Pluralität dieser Subjekte verletzbar und bedarf des Verbots dieser kausalen Einwirkung, und dies wiederum ist nur realisierbar in einem wechselseitigen Bestimmungs- und Sicherungssystem des „suum cuique“.27 Die Einordnung in „innere“ darf die erste Rechtspflicht nicht aus dem Recht ausgliedern und zurück in die Ethik führen, also muss sie sich auf eine paradoxe Innerlichkeit des grundsätzlich äußerlichen Rechts beziehen.   Zu den Schwierigkeiten Pippin 1999, 68–70.   Hirsch 2010, 48–49. Höffe 2001, 157. 27   Ähnlich Oberer 2004, 204–205. 25 26

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Bevor wir auf diese substantielle Frage eingehen, soll der jetzt angeführte formale Aspekt durch zwei andere Gesichtspunkte ergänzt werden. Die drei Schritte folgen, wie angedeutet, der Kategorie der Relation28, und sie bilden sowohl unter dem einen wie dem anderen Aspekt eine „divisio metaphysica“ (im Gegensatz zur zweiteiligen „divisio logica“29). Die kategoriale Zuweisung bedeutet, dass die erste Formel das rechtliche Subjekt verpflichtet, sich als rechtliche Person zu etablieren, also in sich Rechtssubstanz zu sein, die Läsion bezieht sich auf die einseitige Kausalität, und das „suum cuique tribue“ ist ein System des Seinen, das gegen jeden anderen bestimmt und geschützt wird, also ein System der Wechselbeziehung. „Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“ (236,27–28); es ist nicht überflüssig, darauf zu verweisen, dass es nicht heißt: „Mache andere nicht zu bloßen Mitteln, sondern erhalte sie zugleich als Zweck.“ Mit einer derartigen Formulierung würden wir uns im Einklang mit vielen Formulierungen seit der GMS (IV 430–431)30 finden. Es würde ein Subjekt angesprochen, das im Vollbesitz seiner rechtlichen Freiheit ist und nun über seine sittlichen Handlungsgrenzen gegenüber anderen belehrt wird. Davon ist hier jedoch nicht die Rede. Hier (und in den publizierten Schriften nur hier) wird der spiegelbildlich andere angesprochen, das wirkliche oder potentielle Opfer des Unrechts, das sich nicht zum bloßen Mittel abwürdigen lassen, sondern sein Dasein als eines Zwecks geltend machen soll. Welchen Sinn hat diese Innovation? Die erste Rechtspflicht gehört zu den „praecepta iuris“ und wird 1797 nicht mehr zur Ethik gezogen. So haben wir es zwar mit einem inneren Selbstverhältnis (gegenüber anderen) zu tun, aber nicht mit einer Tugendpflicht derart, dass die Pflicht selbst auch die Triebfeder sein soll, also ein Handeln aus Achtung vor dem Gesetz verlangt wird. Die Triebfeder ist wie bei allen Rechtsforderungen beliebig, sie kann etwa in der Angst vor einer sonst ungünstigen öffentlichen Meinung bestehen. Kann ich rechtlich zur Erfüllung des „Sei ein rechtlicher Mensch“ gezwungen werden? Ein Zwang zur Erfüllung des zweiten und damit des dritten „praeceptum juris“ ist sicher möglich, so wie es beim „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt“ (VI 305,31–32) formuliert wird: Es sei nicht nötig, „die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht (Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.)“ (VI 307,23–26) Hier kann also das „Exeundum“ erzwungen werden. Nun entspricht grundsätzlich der ersten Rechtspflicht keine Zwangspflicht; 28   Schon angedeutet in der Vigilantius-Nachschrift XXVII 602, 10–25; aufgenommen u. a. bei Kersting 1984, 213 29   Vgl. XVI 612–623. 30   Gregor 1963, 40–41.

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die Person, die bloß als Mittel gebraucht wird, hat kein Widerstands- oder Zwangsrecht. Welchem Rechtsgesetz unterliegt jedoch der Sklave, dessen Eigentümer ihn als bloßes Mittel, als bloße Sache gebraucht, der also deklariert, dass er außerhalb der Rechtsgesetze steht? Kann Kant zugestehen, dass es zwar kein Widerstandsrecht gibt, wohl aber das physische Faktum des Widerstands, von dem in der Rechtslehre nicht gehandelt wird? Dieser physische Widerstand hebt ipso facto den Zustand der Rechtlosigkeit auf – „exit e statu naturali“ – und macht den Menschen durch Tötung des Herrn wieder zur Person, die der ersten Rechtspflicht unterliegt. Aber andere Personen können durch den Gebrauch von Menschen als bloßer Mittel nicht deren Rechtspflicht, rechtliche Menschen zu sein, suspendieren, diese können also nicht durch die Umstände zu bloß physischen Objekten regredieren und tun und lassen, was sie animalisch wollen. Interpretieren wir jedoch die erste Rechtspflicht im Licht der dritten, des eben erläuterten „suum cuique“ und des damit verbundenen „exeundum“, dann entsteht im Bereich des „Sei ein rechtlicher Mensch“ und der Erläuterung, dass Personen als bloße Mittel gebraucht werden, die Möglichkeit, eben dies auf den Naturzustand zu beziehen, in dem sich der „andere“ und die angesprochene Person befinden. Dann aber kann der zur bloßen Sache oder zum bloßen Mittel Gemachte sich darauf berufen, im rechtlosen Naturzustand zu sein und den Opponenten rechtens dazu zu zwingen, mit ihm in den Status des „suum cuique“ und des öffentlichen republikanischen Rechts zu treten. Noch ist nicht geklärt, was dazu nötigt, dem „neminem laede“ und „suum cuique“ eine erste Rechtspflicht voranzustellen. Die Antwort auf diese Frage führt m. E. ins Zentrum der Kantischen Innovation. Das Läsionsverbot bezieht sich auf das innere und äußere Mein und Dein; im ersten Fall etwa die angeborene Ehre, im zweiten Fall alles Erwerbbare. Nun besteht, so Kants Überlegung, die Rechtsperson nicht nur aus dem je Meinen, das lädierbar ist und das bestimmt und geschützt werden kann (2 und 3), sondern zunächst aus dem rechtlichen Ich, das durch den bloßen Mittelgebrauch als solches vernichtet wird. Der Untertan des Despoten ist rechtlich ausgelöscht, wiewohl noch lebender, nach fremden Direktiven agierender ichloser Mensch. Diese Bestimmung eines bloßen Mittels geht über die punktuelle Verletzung des inneren Meinen, etwa der Ehre, hinaus, indem sie den Menschen insgesamt seiner Persönlichkeit entkleidet und zum bloßen Instrument eines fremden Willens macht.31 Diese Dimension wird durch die Läsion und die zweite Rechtspflicht, sich den Rechtsläsionen zu entziehen, nicht erreicht und muss deswegen den beiden anderen Geboten als Selbstkonstitution vorangestellt 31   Vgl. dazu schon XX 66,1–10; 91,10–94,14; dazu Brandt 2010, 224–237: „Epilog und Anfang: Kant als Rebell gegen die Gesellschaftsordnung“. – Die begriffliche Vorgabe des Sklaven, der nur als denkbegabtes Mittel gebraucht wird, stammt von Aristoteles, Politik 1253b14–1255b15.

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werden. Dabei ist der Imperativ: „Sei ein rechtlicher Mensch“ die Schöpfung, die vom angesprochenen Subjekt selbst vollzogen werden soll. Soviel zur inneren Ordnung der drei Rechtspflichten. Im Folgenden soll nur die erste Pflicht betrachtet werden, zunächst im Hinblick auf die Begriffe von Mittel und Zweck, sodann bezüglich der vorgeblichen Erklärung dieser (und nur dieser) Rechtspflicht aus dem Recht der Menschheit in unserer Person.

4.  Der Inhalt der ersten Rechtspflicht Die Pflicht, sich selbst anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern zugleich Zweck zu sein, klingt wie die spiegelbildliche Pflicht der GMS: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person jedes andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (IV 429,10–12) In der GMS richtet sich der Imperativ an den Handelnden, in der MdS dagegen an Personen, die sich von anderen zum bloßen Mittel machen lassen (könnten) und nun aufgefordert werden, für sie Zweck zu sein, wir paraphrasieren: den Rechtszustand, in dem sie zu bloßen Mitteln gemacht werden, nicht zu erdulden, sondern selbst als Mitgesetzgeber tätig zu werden. In der Erläuterung der Formel der GMS begegnet die Beobachtung, die Bedeutung der Formel falle in die Augen, „wenn man Beispiele von Angriffen auf Freiheit und Eigenthum anderer herbeizieht. Denn da leuchtet klar ein, daß der Übertreter der Rechte der Menschen, sich der Person anderer bloß als Mittel zu bedienen, gesonnen sei, ohne in Betracht zu ziehen, daß sie als vernünftige Wesen jederzeit zugleich als Zwecke, d. i. nur als solche, die von eben derselben Handlung auch in sich den Zweck müssen enthalten können, geschätzt werden sollen.“ (IV 430,3–9) 1785 formuliert Kant ein wichtiges Präludium unserer Formel, ohne sie als Rechtspflicht des Betroffenen selbst zu bringen, sondern nur als dessen Anspruch. „Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen, von welchem Range sie auch sein mögen, getreten […]: nämlich in Ansehung des Anspruchs selbst Zweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. Hierin und nicht in der Vernunft, wie sie bloß als ein Werkzeug zu Befriedigung der mancherlei Neigungen betrachtet wird, steckt der Grund der so unbeschränkten Gleichheit des Menschen selbst mit höheren Wesen, die ihm an Naturgaben sonst über alle Vergleichung vorgehen möchten, deren keines aber darum ein Recht hat, über ihn nach bloßem Belieben zu schalten und zu walten.“ (VIII 114,20–29) Dies also zeichnet den Menschen in der Schöpfung aus: Von niemandem, auch von Gott nicht, als bloßes Mittel gebraucht zu werden und in dieser Mittel-Verrechnung zu verschwinden.

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Warum interessieren uns diese Äußerungen? U. a. deswegen, weil sie selbst und ähnliche Formulierungen die Grundlage kantianisierender Rechtslehren bildeten, gegen die sich Kant 1797 wendet: Zwecke haben in der Rechtslehre von 1797 ein offizielles Hausverbot. Und die erste Rechtspflicht, die von der Zwecksetzung handelt? Bevor wir diese vertrackte Frage zu beantworten suchen, machen wir einen Umweg und sehen uns einen Text an, der vom Recht auf der Grundlage der Mittel-Zweck-Relation handelt.

5.  Der Ort des „honeste vive“ in der Rechtslehre von 1797 Der ursprüngliche Wortlaut des „honeste vive“ könnte dazu einladen, die erste Rechtspflicht auf die Ehre zu beziehen, von der unter dem Titel des inneren Meinen in der Rechtslehre gehandelt wird (238,1–3; 21–22). Aber die erste Rechtspflicht in ihrer neuen Formulierung kann nicht gut ihre Bedeutung darin erschöpfen, dass sie nur dem Topos der Ehre eine allgemeine Fundierung gibt. Und umgekehrt gibt es dort, wo Kant von der Ehre spricht, keinen Rückgriff auf die neue erste Rechtspflicht und ihre eigentümliche Formulierung. Es lassen sich benennen im Privatrecht das Eherecht, im Öffentlichen Recht das Strafrecht und das Recht des Menschen als bloßen Materials im Krieg. Im „Eherecht“ (277–280) wird von der „Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person“ (277,19) gesprochen, auch: „In diesem Act macht sich ein Mensch selbst zur Sache“ (278,8), aber die Diktion der ersten Rechtspflicht ist nicht präsent; entsprechend wird hier keine besondere Referenz liegen. Im Strafrecht wird gesagt, der Mensch könne nie bloß als Mittel zur Förderung eines anderen Gutes gemacht werden (331,20–29). Aber es wäre wohl allzu zynisch, dem Opfer der menschheitswidrigen Justiz die Rechtspflicht vorzuhalten, sich nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern Zweck an sich zu sein. Im Krieg ist der Fall anders; das ist unsere These, die schon genannt wurde. Aber in der Ökonomie der Schrift ist es nicht gut denkbar, dass sich die erste Rechtspflicht gezielt nur auf dieses besondere Problem des Öffentlichen Rechts bezieht. Gibt es einen anderen Referenztext? Die zweite und dritte Ulpianische Formel werden von Kant an verschiedenen Stellen auf das nachfolgende Privat- und Öffentliche Recht verwiesen;32 aber damit entsteht zugleich der Verdacht, daß es eine analoge einfache Zuständigkeit der ersten Rechtspflicht nicht gibt, denn die möglichen Bereiche sind schon vergeben. Die neue Formel, sich nicht durch andere als bloßes Mittel brauchen zu lassen, sondern für sie zugleich Zweck zu sein, wird an keiner Stelle aufgenommen. Nie cha32   S. z. B. Hirsch 2010, 48: „Folglich bezeichnet ‚neminem laede‘ das Prinzip des Rechts im Naturzustand und ‚suum cuique‘ dasjenige im bürgerlichen Zustand.“ Bedenken formuliert Höffe 2001, 157.

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rakterisiert Kant den „status naturalis“ wörtlich als einen Zustand, in dem Menschen einander als bloße Mittel gebrauchen oder gebrauchen können und dass daraus der Imperativ erwächst, diesen Zustand zu verlassen. Nach Gertrud Scholz ist jedoch der Referenzpunkt der notwendige Ausgang aus dem Naturzustand: „Ich bin nicht zum Rechthandeln gegen den anderen verbunden, wenn dieser mir nicht Sicherheit gibt, er werde auch mein Recht nicht verletzen. Denn ohne solche Sicherheit recht handelnd, würde ich Gefahr laufen, zum Spielball fremder Interessen, zum bloßen Mittel im Dienst der Zwecke anderer zu werden. Und das wäre ein Verstoß gegen die ‚innere‘, d. h. die Rechtspflicht gegen mich selbst. Sie besteht darin, ‚im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten‘, und wird durch den Satz ausgedrückt: ‚Mache dich Anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‘“33 Nun klingt es zunächst überzeugend, die „lex justi“ der ersten Rechtspflicht derart auf den zu verlassenden Naturzustand zu beziehen34 und großzügig darüber wegzusehen, daß die Rede vom rechtlichen Menschen und von der Mittel-Zweck-Beziehung nicht aufgenommen werden. Wir können auch zugestehen, dass dieser Umbruch vom Natur- zum Zivilzustand der einzige Referenzpunkt außer dem Kriegsrecht in der Rechtslehre ist, auf den sich das neue „honeste vive“ beziehen könnte, wiewohl der Wortlaut dazu keine Handhabe gibt.35 Kersting verschärft in der Publikation von 2004 die Position von Scholz; der einschlägige Abschnitt trägt den Titel „Das Recht der Menschheit ist ein Recht auf eine Republik“36. Kant begehe einen schwerwiegenden Fehler, weil er nicht das innere, sondern erst das äußere Mein und Dein zum Ausgangspunkt des „exeundum“ mache, denn bestimmungs- und schutzbedürftig sei schon das „meum internum“ unabhängig vom Privatrecht des erwerbbaren äußeren Mein und Dein. Dies ist die logische Konsequenz der vorsichtigeren Interpretation von Gertrud Scholz. Aber warum, so muss man vorsichtig fragen, sagt Kant das nicht selbst? Die Antwort ist eindeutig, er begeht keinen, sondern meidet einen Fehler: Kant will nicht zu Hobbes zurückkehren, sondern Locke weiterführen. Wenn bereits die Gefährdung des inneren Meinen, also auch meines Leibes, mich gemäß der ersten Rechtspflicht in den „status civilis“ nötigt, dann verdankt sich alle bürgerliche Ausstattung dem Staat, der damit notwendig totalitär wird – seine Bürger können gegen ihn nichts geltend machen außer ihrem nackten Leben, wie Hobbes es wollte. Jedes äußere Mein und Dein verdankt sich dann der „potestas“ des Staats. Man sieht: Die Voranstellung eines provisorischen Besitzes, der allererst zum Übergang in   Scholz 1972, 63–64.  Dazu auch Kersting 2004, 51–54. Das von Kersting formulierte Desiderat, auch für das innere Mein und Dein eine neutrale Instanz der Bestimmung und des wirksamen Schutzes zu haben, bleibt bestehen. 35   Dies ist auch gegen Pippin 1999 einzuwenden. 36   Kersting 2004, 51. 33 34

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den Zivilzustand nötigt, ist eine wohl durchdachte Option. Sie scheint schon im Aufbau der drei Ulpianischen Formeln zu liegen, die das „honeste vive“ über das „neminem laede“ bis zum „suum cuique“ führen. Aber hier ist zu beachten, dass sich das Subjekt der drei Formeln auf dessen inneres Mein und Dein beschränken könnte. Hier ist die erst durch das „Rechtliche Postulat der praktischen Vernunft“ (246,4) ermöglichte Erweiterung des Mein und Dein zum äußeren Mein und Dein noch nicht in Sicht, das „suum“ muß nicht, aber kann auf das Innere beschränkt sein und sich nur auf den „Werth als den eines Menschen“ (236,26) und das „neminem laedere“ beziehen. Auch die Ableitung des „suum cuique“ aus der inneren ersten Rechtspflicht und dem Verbot der Läsion (nach 237,9–12) gelingt, wenn man das „suum“ auf das jeweilige Innere beschränkt. Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass Kant zwar das provisorische äußere Mein und Dein des Privatrechts als die notwendige und hinreichende Bedingung des Übergangs in den „status civilis“ nimmt (312,22–33 u. ö.), aber doch dabei den Rechtsstatus der Personen voraussetzt und auch das innere Mein und Dein unter die staatliche Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit zieht. Aber das innere Mein und Dein für sich mit der Notwendigkeit zu markieren, sich in die Institution zu begeben, die dieses Mein und Dein gesetzlich bestimmt und schützt, ist sicher gegen Kants gut begründete Absicht. Damit ist zugleich die Aporie gezeigt, in die man kommt, wenn man nach einem Referenzort der ersten Rechtspflicht sucht. Wählt man den Übergang zum Zivilzustand, dann genügt diese Rechtspflicht für die Notwendigkeit des „exeundum“, wie es wohl Kersting auch beabsichtigt, und man kann nicht auch noch das Privatrecht geltend machen, wie Scholz es will. Also: Nur wenn wir die erste Rechtspflicht aus dem Übergang fernhalten, können wir das Privatrecht in seiner Begründungsfunktion für das „suum cuique“ erhalten. Es ist dagegen suggestiv, die in § 41 und 42 gebrauchte Formulierung vom „rechtlichen Zustand“ (im Gegensatz zum nicht-peremtorisch-rechtlichen Naturzustand) als überholt anzusehen und zu vermuten, dass sie in der ersten Rechtspflicht ersetzt wird durch die neue Rede vom rechtlichen Menschen. Der Imperativ „Sei ein rechtlicher Mensch“ ist – das ist unsere These – indifferent gegen die Unterscheidung von „status naturalis“ und „status civilis“ und wendet sich an den Menschen als solchen, ob er nun gedacht wird in der alten Schablone der beiden „status“ oder in der neuen der drohenden Beraubung seines Menschenwerts durch den Mißbrauch als eines bloßen Mittels, wo immer und wann immer dies geschieht – auch im „status civilis“ des zur Despotie degenerierten Staats. Ist dies korrekt, dann gibt Kant in der ersten Rechtspflicht die Orientierung an den beiden Zuständen von Natur und Staat auf und ersetzt die Rede vom „rechtlichen Zustand“ (§ 41 und 42) durch die Formulierung vom „rechtlichen Menschen“. Die erste Rechtspflicht wendet sich dann auch an den Menschen, der in einem Staat „seinen Wert als den eines

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Menschen“ verliert. Wenn diese Vermutung zutrifft, dann braucht der besondere Referenzort des „honeste vive“ nicht im Übergang zum Öffentlichen Recht zu liegen, sondern es ist generell jeder Zustand überhaupt. Im „status civilis“ wäre es der Zustand der Despotie, in der der Mensch auf legale Weise seinen Wert verliert und zum bloßen Mittel gemacht wird. Obwohl Bürger eines Staats, ist er rechtlos. Im offiziell rechtlichen Zustand ist der rechtliche Mensch nicht verwirklicht – das ist die revolutionäre Botschaft dieser ersten ausbuchstabierten Rechtspflicht. Die interne Funktion der ersten Rechtspflicht innerhalb der Systematik der drei Ulpianischen Formeln bleibt erhalten, denn das Läsionsverbot („Neminem laede“) bedarf eines positiven Grundes; er liegt im substanziellen Selbst des Menschen, mit dem dieser nicht ontologisch ausgestattet ist, sondern Subjekt und Gegenstand des Imperativs ist, eben dieses Selbst zu sein, sich dazu zu machen, das also zu realisieren, was jeder vor allem Handeln und Leiden paradoxerweise schon ist und nun aus sich selbst verwirklichen soll. Der Zweck steht dem „bloßen Mittel“ gegenüber, das er als Person nicht ist. Wird der Mensch zum bloßen Mittel gemacht, wird er in der Idee als Mensch und Person vernichtet. Dies zu verhindern, ist der Inhalt nicht einer Seinsbehauptung, sondern einer Pflicht der Selbstbehauptung, ist nicht Gegenstand der theoretischen, sondern der reinen praktischen Vernunft. Sie findet sich nicht vor, sondern erzeugt sich selbst im und durch die Rechtspflicht, die alles Recht überhaupt ermöglicht. So ungefähr muß die erste Rechtspflicht charakterisiert werden. Die erste Rechtspflicht ist dann die Grundlage der Ermöglichung von 2 und 3, sie ist jedoch mehr gegenüber dem bisherigen Rechtsbestand: Sie stellt sich gegen Perversionen des Staats, durch die er auf legale Weise die Menschen zu bloßen Mitteln machen kann.

6.  Die erste Rechtspflicht als originäre Rechtsgrundlage Eine reflexive Grundlage der Rechtlichkeit des Menschen derart, dass die Selbstkonstitution des Rechtswesens in einer ersten Freiheitspflicht verankert ist, findet sich wohl erstmals bei Rousseau, und in dessen Contrat social dürfte die Quelle der Inspiration für Kant liegen. „Renoncer à sa liberté c’est reconcer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité, même à ses devoirs. Il n’y a nul dédommagement possible pour quiconque renonce à tout. Une telle renonciation est incompatible avec la nature de l’homme, et c’est ôter toute moralité à ses actions que d’ôter toute liberté à ses actions.“37 Ein ursprünglicher Imperativ, der dem Menschen die Pflicht auferlegt, seine Freiheit zu erhalten, wird nicht genannt, aber Rousseaus Formulierungen bieten ein Äquivalent: Die Moralität macht ihre Selbstverwirklichung zur Pflicht!   Rousseau 1959 ff., III 356.

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Bei Hobbes gab es keine originäre Rechtspflicht, sondern eine Todesvermeidungsklugheit, deren Notwendigkeit im faktischen physischen oder psychischen Selbst-Zwang liegt; die nachfolgende Verwendbarkeit als eines bloßen Mittels des Leviathans muß in Kauf genommen werden, sie ist das Ergebnis einer scheinbar freien Güterabwägung, tatsächlich eines unentrinnbaren psychischen Mechanismus. Bei Locke unterliege ich als Gottesgeschöpf der Erhaltungspflicht inklusive der dazu nötigen Freiheitserhaltung. Rousseau und Kant suchen den archimedischen Punkt des Rechts und der Rechtspflichten in einer moralischen Selbstkonstitution des Menschen. Die zweite Rechtspflicht lautet „neminem laede“. In ihr wird die Bestimmung dessen vorausgesetzt, was überhaupt zum „nemo“-Kreis zählen kann. Es sind nicht die Stühle, die ich zersägen kann, und nicht die Tiere, die der Jäger zum Erhalt des Wildbestandes tötet, sondern diejenigen Wesen, die qua Gattung die erste Rechtspflicht erfüllen können. „Qua Gattung“, also inklusive der Ungeborenen und der Sterbenden und Toten, deren Wert oder Würde die Lebenden zu wahren haben.

7.  Mittel und Zweck Die von Kant benutzte wechselseitige Beziehung von Mittel und Zweck wird von ihm zuerst in der GMS näher ausgeführt, sie wird benutzt in der Teleologie der KdU und findet sich in vielen Variationen in den darauf folgenden Texten. Zweck ist „der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird“, heißt es in der KdU (V 220,1–3). Die reflektierende Urteilskraft verfährt so, dass sie Naturprodukte nach dem Vorbild der technischen Erzeugung von Zwecken interpretiert. Die Definition eines Naturprodukts lautet: „Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ (V 376,11–13) Es gilt also auch für die Glieder von Pflanzen und Tieren, dass sie nicht bloß Mittel sind, sondern immer und notwendig zugleich Zweck. Was unterscheidet den biologischen Organismus und seine Glieder vom politischen Organismus, der nach dem Vorbild des ersteren benannt wurde (V 375,29–37)? Das Postulat jedes Gliedes, für die anderen nicht bloß Mittel, sondern auch Zweck zu sein, gilt idealiter für beide, den biologischen und den rechtlichen Organismus. Es wird dabei jedoch erstens angenommen, dass die Mittel, die die Naturprodukte zur Erzeugung ihrer eigenen Glieder verwenden, in ihrer Funktion nicht ersetzbar sind; wenn jedoch andere funktionsgleiche Glieder an die Stelle der ursprünglichen treten, erfährt die organische Reproduktion keine Einbuße. Auf diese Weise

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kann ein Naturprodukt Schäden heilen.38 Die einzelnen Glieder sind in ihm ersetzbar, nicht dagegen die Menschen im Staat. Diese Unersetzbarkeit des Individuums wird ausgedrückt durch das beigefügte „an sich“39; der Mensch ist in rechtlicher Beziehung für jeden anderen „Zweck an sich“ und soll diesen Status gemäß der ersten Rechtspflicht gegen alle anderen behaupten. Zweitens wird nur vom rechtlichen Individuum gefordert, es müsse „im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden“ (345,34)40. Für die Teile eines Naturprodukts gilt natürlich nicht diese Autonomieforderung. Der Mensch ist Zweck an sich, weil er zwar als Mittel und Zweck fungieren kann, diese Funktion jedoch unter der Bedingung seiner eigenen Freiheit und Mit-Gesetzgebung steht. Für diese Konzeption gibt es in der vorhergehenden politischen Philosophie kein Vorbild. Der Mensch zeichnet sich gegenüber der Organnatur durch die beiden Bestimmungen aus, vernünftig und Vernunftwesen zu sein (VI 26,8–11 u. ö.). Die erste bezieht sich auf die technisch-instrumentelle Handlungsmöglichkeit, die zweite auf die moralische Ebene der Verantwortung. Wenn der Mensch seinen Status dadurch verliert, dass er zum bloßen Mittel gemacht wird, ist nicht die Beraubung der instrumentellen Vernunft des „animal rationale“ gemeint, sondern des Status des für sein Handeln verantwortlichen Wesens; erst damit betreten wir die Ebene des kategorischen Gebots, ein rechtlicher Mensch zu sein und sich als solcher zu behaupten. Organe sind Systeme der egalitären41 kooperativen Erhaltung. Die Mittel-Zweck-Relation überschreitet einerseits die reine Kausalbeziehung der Grundsätze in der KrV (A 189–211), sie unterschreitet andererseits die Bestimmung der reinen praktischen Vernunft, weil sie mit einem Imperativ nichts zu tun hat. Die reflektierende Urteilskraft interpretiert die lebendige Natur so, als ob Glieder der Naturprodukte in einem Mittel-Zweck-Bezug stünden, die Wurzel des Baumes zur Blüte und vice versa. In der reinen praktischen Vernunft der Rechtslehre wird dieses harmonische Verhältnis der Wechselseitigkeit jedoch aufgelöst, Mittel und Zweck stehen einander jetzt wie der mundus sensibilis und intelligibilis gegenüber. Im ersteren mögen immer Erscheinungen in einer Mittel-Zweck-Beziehung verbunden sein, in der zweiten sind die Ebenen heterogen: Der Mensch soll mit kategorischer Notwendigkeit nicht in das teleologische Kontinuum der Natur gestoßen werden, er ist mehr: jenseits der beiden Ebenen (der kausalen und der finalen) qua Zweck an sich.   S. Brandt 2009, 393–496.   Es fehlt in unserem Text 236,28 und muß sinngemäß ergänzt werden. 40   Dies gilt nicht mehr für den Verbrecher, der zwar qua Person nicht als bloßes Mittel behandelt werden darf (331,20–29), aber seine Eigenschaft, als „mitgesetzgebendes Glied“ (345,34) zu gelten, verloren hat. 41   Das Vorbild kann also nicht mehr der kooperative Körper in der Fabel des Menenius Agrippa sein! 38 39

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Wir sagten schon, dass die Mittel-Zweck-Relation in Naturorganen eine funktionale Größe ist, keine individuelle. Es kann die einzelne Knospe wie jedes andere Glied des pflanzlichen oder tierischen Organs durch Surrogate ersetzt werden, wenn nur der Funktionskreis in Takt bleibt. Das Individuum im Gliederbau ist hier nur Statthalter für eine bestimmte gleichbleibende Aufgabe. Daher erlaubt es die organische Natur, dass alte Glieder abgeschnitten und neue Glieder aufgepfropft werden. Mit dem Überschritt von der Natur zur Freiheit gilt die Rechtspflicht: ‚Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‘ D. h. Zweck an sich, den es im mechanischen und finalen Naturgeschehen nicht gibt, wohl aber unter der Bedingung des „homo noumenon“. Der Mensch erfüllt nicht nur seine natürlichen Funktionen als ersetzbares Glied eines organischen Systems, sondern ist darüber hinaus Zweck an sich, d. h. als Individuum nicht ersetzbar. Die Rechtspflicht besagt, sich als derartigen Zweck an sich zu behaupten. Im Hinblick auf die Analogie zwischen Naturprodukten und Rechtspflicht ist auf ein von Kant nicht erörtertes Problem zu verweisen. Wie steht es mit den Grenzbereichen des Organ- und Menschseins? Gehört das absterbende Blatt noch zum Organismus, für den gilt, dass alles in ihm Mittel und zugleich Zweck ist?42 Und im Bereich von Recht und Ethik: Gehört ein Embryo in jeder Phase seiner Entstehung so zu den Personen wie jeder Mensch, der im Moment schläft? Oder debil etc. ist?

8.  Das Bezugsfeld der ersten Rechtspflicht Kants erste Rechtspflicht wird nicht als conditio sine qua non des „contrat social“ eingeführt wie Rousseaus rechtliches Grundprinzip. Der Leser erfährt nicht, dass alle Formen der Vergesellschaftung bis auf eine einzige am Einspruch dieses Grundprinzips scheitern. Wie bei Rousseau nur der „pacte fondamental“ die rechtlich notwendige Freiheit erhält und drei andere Formen der Vergesellschaftung an dieser Bedingung scheitern,43 so wird bei Kant nur die Republik dem Desiderat der ersten Rechtspflicht gerecht, aber das ist nicht aus dem Text der Rechtslehre und ihrer Lehre vom „status civilis“ ersichtlich. Die These der folgenden Ausführungen ist, dass Kant mit der ersten Rechtspflicht auf eine Neugründung des legalen Staats zielt, weil in dem traditionellen „status civilis“ die schwersten Verletzungen der Menschenrechte auf legale Weise möglich sind. An die Stelle der Despotie muß in dieser zweiten Staatsphase die Republik treten. Wir wenden uns zeitgleichen   Dazu Brandt 2009, 393–496.   Dazu Rousseau 1959 ff., III 352–360: Rechtlich nicht möglich ist die Staatsbildung durch ein „Recht“ des Patriarchen, des Stärkeren oder die Versklavung, so bleibt viertens nur ein „pacte fondamental“ von Freien und Gleichen. 42 43

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Schriften Kants zu und verlassen damit die „Rechtslehre“, aber in der Sache bleiben wir auf deren Terrain. Die erste Rechtspflicht ist jedenfalls so formuliert, dass sie für die einschlägigen Probleme ihre Gültigkeit behält. Zunächst noch einmal die Passage, die wir schon oben aus dem „Völkerrecht“ der MdS zitierten: „Dieser Rechtsgrund aber […] gilt zwar freilich in Ansehung der Thiere, die ein Eigenthum des Menschen sein können, will sich aber doch schlechterdings nicht auf den Menschen, vornehmlich als Staatsbürger, anwenden lassen, der im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst), […].“ (345,30–35) Wie die Lage in der legalen Despotie generell aussieht, erfahren wir im Streit der Fakultäten; für die Natur sei der Mensch eine Kleinigkeit – „Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen und als eine solche behandeln, indem sie ihn theils thierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, theils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.“ (VII 89,10–15)44 Von einer „Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung“ spricht Kant nur hier. Tierische Belastung45 und Hinschlachten durch die Herrscher, den „Abschaum der Menschheit“ (Schlegel). Beide Formen der tierischen Behandlung der Bürger sind eindeutig identifizierbar als Handlungen, durch welche Menschen andere Menschen als bloße Mittel belasten und abschlachten. Beide Formen sind legal, denn die Belastung durch Steuern geschieht nach bestimmten korrekt erlassenen Gesetzen, und das Ritual des Schlachtens der Bürger passiert zwar nicht durch die Armeen des eigenen, sondern des provozierten fremden Staats, und vice versa. Das eine hängt am anderen, denn der Krieg der Fürstenstaaten wird nur durch das Steueraufkommen der Bürger ermöglicht.46 „Welcher Monarch (aus eigener Machtvollkommenheit) aussprechen darf: es soll Krieg seyn, und es ist alsdann Krieg, der ist ein unbeschränkter Monarch […] und das Volk ist nicht frey sondern unterjocht, denn welche Lasten kann der Grosbrittanische Monarch nun nicht den Schultern seiner Unterthanen selbstbeliebig auflegen? So große auf unabsehbare Zeit drückende, und selbst die Moralität des Volks direct untergrabende, daß an das Fortschreiten des Menschengeschlechts zum Besseren gar nicht zu   Vgl. auch XIX 610–612.   Dazu Herding und Reichardt 1989, 8–11 mit Radierungen, auf denen der dritte Stand als ein Lasttier dargestellt wird, auf dem Adel und Klerus, die keine Steuern zahlen, das Geld verprassen. 46   Die Zusammenstellung von Kriegführung und Steuerlasten findet sich auch bei Forster 1966, 162: „Aus den Verfassungen der europäischen Reiche vom ersten Range, wie sie jetzt bestehen, wie sie strebend nach Vergrößerung und Erweiterung ihrer Macht auf schlaue Bündnisse und berechnete Kriege untereinander, auf stets wachsende Heere und Steuern in ihrem Innern ihre Dauer gründen, […].“ 44 45

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denken ist und, obgleich der Flor und Anwachs der Künste den Verfall noch eine ziemliche Zeit hinhalten kann, gleichwohl der Einsturtz mit Gewisheit voraus zu sehen ist.“ (XIX 606,1–22) Und: „[...] ausser der Republik ist kein Heil, sondern immerwährender Krieg, nicht in immerwährenden Gefechten, sondern immerwährenden Drohungen zu Bekämpfungen, wenn irgend einer in Zurüstungen und Besteurung des Bürgers zu Kriegsrüstungen nachließe.“ (XIX 603,17–20) Und im Ewigen Frieden: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören. […] wozu kommt, daß zum Tödten oder getödtet zu werden, ein Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt.“ (VIII 345,1–11) Gegen die Naturteleologie in der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) endet die Rechtslehre wie auch die Friedensschrift mit dem Imperativ an die Menschen. Nicht an den Frieden zu glauben, sondern auf ihn hinzuwirken, „das ist es, wozu uns eine Pflicht obliegt. ­– Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein“ (354,18–21, auch VIII 386,27–33). Auf den Frieden hinzuwirken ist hiernach eine Rechtspflicht jedes Menschen. Es wird ersichtlich, dass sich die Schlachtrituale der Fürstenkriege dem dualen Schema von „neminem laede“ und „suum cuique tribue“ nicht fügen; dass die Staaten selbst als Rechtsbrecher fungieren, obwohl sie den „status civilis“ besetzt halten. Die erste Rechtspflicht, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen (236,27–28), versucht hier ebenso zu intervenieren wie der Imperativ, zum Frieden hinzuwirken. Es ist die monumentale Aufgabe, die jeder Mensch und die Menschheit im Ganzen zu bewältigen haben. Hier liegt, so wird man vermuten dürfen, der Grund, warum Kant die erste Rechtspflicht 1797 neu konzipierte und aus der Ethik in das Recht holte. Der Fortschritt zum Besseren bedeutet eine „Entwicklung der moralischen Anlage im menschlichen Geschlecht […], welche jenen [wohl: Fortschritt, RB] als Zweck an sich selbst (nicht in der Qualität eines bloßen Mittels zu anderen Zwecken) zum Grunde habe.“ (XIX 612,8–11) Dies ist das Milieu, in das die erste Rechtspflicht derselben Zeit gehört. Ein Vorteil dieser Beziehung liegt darin, dass in den beiden Bereichen der Verwendung der Bürger als bloßer Mittel im Frieden und im Krieg ein genauer Nachweis, dass die Fürsten die Bürger missbrauchen, nicht geführt werden muss: Die Lage ist völlig evident und würde wohl von niemandem bestritten, sondern nur als politisch notwendig beschönigt werden. Wie schon in einigen Überlegungen der Antike, stoßen wir auf zwei Phasen der Vergesellschaftung. Die erste bringt zwar ein Volk zur Einheit, gerät jedoch in eine ausweglose Despotie, die zweite dagegen rettet den Staat aus

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seiner pathologischen Mißbildung und führt die eigentliche rechtliche Republik ein.47 Verknüpfen wir die Texte, dann ruft die erste Rechtspflicht dazu auf, dem Mißbrauch des Menschen als eines bloßen Mittels nicht stattzugeben. Der Text zeigt auch gut, wie schwierig es ist, präzise Angaben zur verbotenen Instrumentalisierung zu machen, wenn auch eine unmenschliche Belastung durch Steuern oder andere Leistungen zur Verwendung der Bürger als bloßer Mittel zählt, nicht nur das Dahinschlachten von Armeen durch die kriegführenden Monarchen. Warum sollten hier die Arbeitsbedingungen in der privat geführten Industrie ausgenommen sein? Die Rechtspflicht besagt, „seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten“. Wieder ein Blick in den Streit der Fakultäten; dort wird vom „Enthusiasm der Rechtsbehauptung48“ (VII 86,33) gesprochen. Um genau diese Behauptung des Werts als eines Menschen und des Rechts geht es in der ersten Rechtspflicht. Wir können ergänzen: Im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung, denn Kant ist der Meinung, dass erstens ein Widerstandsrecht in sich widersprüchlich ist und zweitens jeder status quo die beste Grundlage einer Verbesserung ist, während der Widerstand den „status civilis“ in den „status naturalis“ zurückwirft. Die geforderte Selbstbehauptung des Menschen als einer Rechtsperson muss Leerstellen im Gesetzestext suchen und nutzen, sie darf kein Gebot sein, sich dem Treiben der Despoten tätig zu widersetzen. Aber dies ist die Botschaft der ersten Rechtspflicht: Du bist als Bürger verpflichtet, dich dem Verschleiß als eines bloßen Mittels entgegenzustellen, soweit es die bürgerlichen Gesetze ermöglichen. „Ein mit Freiheit begabtes Wesen kann und soll […] im Bewußtsein dieses seines Vorzuges vor dem vernunftlosen Thier nach dem formalen Princip seiner Willkür keine andere Regierung für das Volk, wozu es gehört, verlangen, als eine solche, in welcher dieses [sc. das Volk, RB] mit gesetzgebend ist: d. i. das Recht der Menschen, welche gehor47   Vgl. z. B. Lucrez De rerum natura V 1136 ff. „Ergo regibus occisis subversa iacebat / pristina maiestas soliorum et sceptra superba […].“ 48   Eine nur hier von Kant gebrauchte Wendung. In der Sache ist Kant einer Darstellung von Christoph Martin Wieland aus dem Jahr 1790 im Neuen Teutschen Merkur verpflichtet, Unparteiische Betrachtungen über die dermalige Staats-Revolution in Frankreich. Gleich zu Beginn werden die Untertanen als Lasttiere aufgeführt (Wieland 1985, 485) und „daß der allzu straff gespannte Bogen plötzlich bricht“ (Wieland 1985, 485 und Kant VIII 367,6–7); „eine Revolution, […] von welcher die Weltgeschichte noch kein Beispiel hat, [...]; „daß eine große Nation […] indem sie sich in die unverjährbaren Rechte des Menschen und des Bürgers wiedereinsetzt, sich eine Staatsverfassung gebe, die auf der festen Grundlage dieser Rechte ruht […], – dies hat die Welt noch nie gesehen“ (Wieland 1985, 486); „dieses erstaunliche Schauspiel geheftet war, sondern daß unter so vielen Millionen auswärtiger Zuschauer, die kein unmittelbares Interesse dabei hatten“ (Wieland 1985, 486; Kant VII 85,11). Zur Übernahme dieser Beurteilung bei Hegel vgl. Ritter 1965, 23 ff. Die Klage über die Kriege der Despoten fehlt hier naturgemäß.

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chen sollen muß nothwendig vor aller Rücksicht auf Wohlbefinden vorhergehen, und dieses ist ihm ein Heiligthum, das über allen Preis (der Nützlichkeit) erhaben ist, und welches keine Regierung, so wohlthätig sie auch immer sein mag, antasten darf.“ (VII 87,25–32; auch Refl. 7779, XIX 514,9–16) Dort der Preis der Nützlichkeit von Sachen, hier der Wert des Menschen als einer rechtlichen Person. Wenn unsere Vermutung korrekt ist, dann wendet sich die erste Rechtspflicht nicht ausschließlich oder primär gegen hin und wieder anzutreffende rechtswidrige Handlungen anderer Menschen, etwa im außerehelichen Geschlechtsverkehr: „Prostituiere dich nicht!“ Auch „Mache dich nicht zum Leibeigenen“ ist durch die Rechtspflicht abgedeckt, aber es ist kaum möglich, dass Kant diese speziellen Fälle jetzt, 1797, unvermittelt an die Spitze der Rechtslehre stellt und in den späteren Ausführungen hierauf nicht mehr in seiner Diktion anspielt. Desgleichen enthält die erste Rechtspflicht ein Verbot, sich einem Gott (einer Kirche) so zu unterwerfen, dass der Gläubige als bloßes Mittel benutzt wird und sich nicht als bürgerlicher Mitgesetzgeber behauptet. Mit dieser Implikation stellt sich die Rechtslehre gegen eine lange Tradition, in der Gott sich als omnipotenter Schöpfer, Gesetzgeber, Richter und Exekutor über alle Rechtsvorstellungen und Rechtspflichten der Menschen hinwegsetzen konnte. Kant, so unsere These, wendet sich gegen einen dem Despotismus inhärenten, legalen Missbrauch der Bürger als bloßer Sachen im Krieg und im Frieden. Kant spricht vom Einzelnen, zielt jedoch zugleich auf die Menschheit im Ganzen. Der Imperativ, sich anderen nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern für sie zugleich selber Zweck (an sich) zu sein, stellt, wie wir sahen, eine Inversion des ursprünglichen Imperativs dar, andere nicht bloß als Mittel zu gebrauchen, sondern sie immer als Zweck zu achten (IV 429,10–12). Diese Verkehrung macht aus der ersten Rechtspflicht des Einzelnen ein weltgeschichtliches Projekt aller. Der Einzelne, der als Adressat erscheint, ist das Glied der Menschheit, die zu ihrer eigenen sittlichen Bestimmung, der rechtlichen Autonomie, gelangen soll: Kein Krieg, keine Leibeigenschaft! Dass wir hier mit unserer Interpretation nicht in ein extravagantes Abseits geraten, zeigt sich nicht nur an den zitierten Texten, sondern auch am Ende der Rechtslehre: Der Einzelne ist Adressat der weltgeschichtlichen Aufgabe, den Frieden zu verwirklichen. Dies Ende ist das Echo der ersten Rechtspflicht, die nicht nur persönlich-statisch ist, sondern eine gesamtgeschichtliche Dynamik gewinnt, von den Despotien zur Republik zu schreiten. Die alte Geschichte huldigt dem Menschenopfer wie Thoas in der Goethischen Iphigenie (1787). Iphigenie bringt die Menschlichkeit nach Tauris, und analog soll die Republik bei Kant endlich die Unterdrückung und das widermenschliche Dahinschlachten von Menschen in den Kriegen der Adligen beenden.

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Das Recht wird durch keinen Rechtsbruch verwirklicht, sondern durch Reform, pari passu mit der Vorsehung oder Natur, die die Entwicklung der Menschheit in die gleiche Richtung leitet, aus der Unterdrückung zur Freiheit.

9.  Gibt es ein Recht des zivilen Ungehorsams? 1804 wird Friedrich Schiller im Wilhelm Tell das Widerstandsrecht im Drama verteidigen: „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / Wenn unerträglich wird die Last – er greift / Hinauf getrosten Mutes in den Himmel / Und holt herunter seine ewgen Rechte, / […] Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, […].“49 Kant ist anderer Meinung. „Sei ein rechtlicher Mensch“ konnte vermutlich in den sechziger Jahren noch nicht formuliert werden. Damals beklagte Kant die gesellschaftlichen Verhältnisse mit Leibeigenschaft und Feudalherrschaft. Der Imperativ, sich nicht zum bloßen Mittel machen zu lassen, nimmt den Gedanken einer Selbstverschuldung von 1784 in der Aufklärungsschrift auf und sucht die Rettung in der Selbsttätigkeit der unterworfenen Opfer. Wie immer es möglich sein soll – die Ermöglichung der Freiheit liegt in der substanziellen Freiheitshandlung der Rechtssubjekte. Aus ihr entspringt der freiheitliche Rechtsstaat, oder es gibt ihn nicht. Ein Aufstand gegen die legale Herrschaft ist durch die erste Rechtspflicht nicht legitimiert. Die Regenten bleiben Rechtssubjekte und werden keine „outlaws“ oder „bêtes“, die man umbringen kann, wie Locke und die französischen Revolutionäre meinten. Es ist zu unterstellen, daß der Mensch oder Bürger, an den sich die erste Rechtspflicht wendet, seinen Status als den eines rechtlichen Menschen im Fall der Verletzung nicht einklagen kann. Er kann die Mißachtung seines Werts oder seiner Würde nicht vor Gericht bringen: jede Klage der steuerlich überlasteten, in den Krieg zur Schlachtung getriebenen Bürger würde abgewiesen, weil alles legal ist. Die Despotie ist ein geschlossenes Rechtssystem. Ein kurzer Blick auf einen parallelen Fall, in dem Lohnabhängige im Kantischen Staat sich zum Status eines Aktivbürgers „empor arbeiten“ möchten (315,21). Kant legt der Gesetzgebung auf, eben dies zu ermöglichen; „[...] welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie50 stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustand zu dem acti  Schiller 1996, 432 – Wilhelm Tell II 2 (Vs. 1276–1282).   Handelt es sich um die Aktiv- oder Passivbürger? Das Stimmrecht haben natürlich nur die ersteren, aber vor der Aufteilung der Bürgerschaft in diese zwei Teile wird vom Staatsbürger überhaupt gesagt, er verfüge über die gesetzliche Freiheit, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“ (314,7–8); die Aufteilung in Aktiv- und Passivbürger folgt erst 314,-•16. S. auch 345,32–346,2. 49 50

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ven empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.“ (315,17–22) Damit greift er durch das formale Recht in die sozialen Verhältnisse derart ein, dass jedem lohnabhängigen (männlichen, mündigen) Passivbürger eine Klagemöglichkeit gegen Gesetze gewährt werden muss, die verhindern, dass er Aktivbürger werden kann. Wie dies im Einzelnen möglich sein soll, ist eine andere Frage. Wenn wir auf der Suche nach der eigentlichen Referenz der ersten Rechtspflicht erfolgreich waren, dann macht Kant die Teilnahme an der Überführung von despotischen in republikanische Staaten zu einer Rechtspflicht ersten Ranges. Der Friedensimperativ an die Menschen tritt der Naturteleologie zur Seite. Die Natur führt durch das Interesse am Kommerz zu einem Interesse der republikanischen Legislative an der friedlichen Lösung von Konflikten zwischen Staaten. Könnte man mit einer zügigen Erfüllung dieses Naturziels rechnen, dürften in Kürze die Schlachten zwischen den Staaten und die tierische Belastung in den Staaten ihr Ende finden. Kant stellt flankierend die Rechtspflicht auf, sich nicht zum Mittel – sc. in den Feudalstaaten – zu machen, also auf die Einrichtung einer gewaltenteiligen, am Frieden natürlicherweise interessierten Republik hinzuwirken. Wie dies möglich sein soll, wird nicht gesagt. Zur pflichtgemäßen Erfüllung des „Sei ein rechtlicher Mensch“ gibt es in der Kantischen Theorie keine Alternative. Der Mensch kann nicht damit rechnen, dass im großen Zeitenumlauf Recht und Unrecht einander ablösen und wir in langen oder kurzen Phasen beides erleiden, denn beides ist uns zuschreibbar. Wir wissen, dass wir die Republik als den einzigen rechtlichen Zustand verwirklichen sollen; das „Wie?“ läßt sich sicher in negativer Hinsicht angeben: Nicht durch Rebellion. Kant hat nicht die Möglichkeit, von der John Locke Gebrauch machte: Wenn die Regierung ihre Rechtsgrundlage zerstört, kann sie durch Aufruhr beseitigt werden. Eine andere Meinung war ihm vertraut durch Rousseaus zweiten Diskurs; das Volk habe jederzeit „das Recht, der Abhängigkeit zu entsagen“51. Also gäbe es ein Menschenrecht dieser „Entsagung“ und damit des zivilen Ungehorsams? Es finden sich keine Indizien, dass sich die Kantische Rechtslehre gegen diese Lösung stellen könnte. Sie muss sie befürworten, wenn sie konsequent sein will. Aber dies wird nicht für sich thematisiert. „Sei ein rechtlicher Mensch!“ und: sei ein gehorsamer Untertan jedes Staats im „status civilis“. Kant schildert dramatisch die rechtliche Situation des Untertans in der Diktatur, sie ist rechtlich ausweglos.52 Kants Freiheitsgesetzgebung stellt sich dar als Kompass jeder rechtlichen Lage, in Wirklichkeit sind   Rousseau 1959 ff., III 185.   Oberer 2004 votiert kühn, aber falsch für das Individuum, das gegen den Staat der ersten Rechtspflicht mit Zwangsrecht folgt. 51 52

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wir jedoch im Konflikt von Despotie und Rechtlichkeit in einer Aporie, im Bild: wir befinden uns auf dem Nord- oder Südpol, wo der Kompass versagt und der sittliche Mensch in ein nicht auflösbares Dilemma gerät.53 Was soll ich tun? Kant weiß es nicht, und er macht dieses Nichtwissen nicht zum Thema. Soll sich der Bürger in einem Staat, den er als rechtswidrig, also als NichtStaat beurteilt („Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism)“, VII 330) zur Wehr setzen? Das wäre ein Aufruf zur Gewalt gegen die zeitgenössischen Monarchien, denen Kant die „Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst“ (VII 89,14–15) testiert. Der Ausweg ist die Vorsehung: Sie wird am Ende zur Realisierung des Rechts führen, die Menschen der Zwischenzeit sind für sie im Grenzfall pures Mittel und Werkzeug (s. VIII 20,12–24; VII 92–93), zur Sklaverei verdammt und zur Freiheit verpflichtet.54

10.  Die Pflicht, die sich aus einem Recht erklären lassen soll Der kategorische Imperativ verweist in seiner Zweistufigkeit von bloß subjektiver Maxime und allgemeinem Gesetz auf die Zweistufigkeit des Naturrechts zurück. Dadurch entsteht zwischen Ethik und Recht eine Homologie, wie wir sie aus Platons Politeia kennen, die die Polis zum Abbild der menschlichen einzelnen Psyche macht. Wir sind immer zugleich Mensch und Bürger; diese Einheit in der Differenz sucht Kant theoretisch zu gestalten. Die Rechtspflicht „Sei ein rechtlicher Mensch“ werde, so heißt es, aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden. Eine wohlüberlegte Formulierung, wie eine parallele Reflexion dokumentiert: „Dieses Recht der Menschheit verbindet auch einen jeden Gegen sich selbst. Er ist in die Menschheit aufgenommen acquirirt ihre Rechte aber unter der Pflicht, die Würde derselben zu erhalten.“ (XIX 538,20–23; R 7862) Zuerst ist zu erkunden, wo sich die angekündigte Erklärung findet: „wird im folgenden […] erklärt werden“ – aber wo? Der einzige seriöse Kandidat ist wohl das angeborene Recht: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ (237,29–32) Hier wird allerdings nicht die angekündigte Erklärung geliefert, sondern nur die Freiheit auf ihren ursprünglichen Rechtsgrund bezogen. Eine andere Passage findet sich jedoch nicht in der gesamten Rechtslehre, in der wir die Erklärung finden könnten. Im übrigen

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  Vgl. dazu Brandt 2010, 118 ff.   Zur Problematik auch Klemme 2011, 48–53.

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wird in den Vorarbeiten zur Rechtslehre55 formuliert: „Die äußere Freyheit ist die Unabhängigkeit des Menschen von der Willkühr Anderer nicht nach ihren sondern dadurch zugleich nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen d. i. nicht blos als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern dienen zu dürfen (genöthigt werden zu können).“ (XXIII 341,18–22) Diese für die erste Rechtspflicht entscheidende Mittel-Zweck-Beziehung fehlt nun gerade VI 237,29–32, und die Vorarbeit bringt die Unabhängigkeit nicht als eine kategorische Abwehrpflicht des Menschen: „Sei frei unter Rechtsbedingungen!“ Bei der Lektüre des Satzes „Diese Pflicht wird im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti)“ (236,28–30) wird man fragen: Wie soll diese Erklärung denn aussehen? Wie kann man aus einem Recht eine Pflicht herleiten? Sicher ist dies nicht möglich bei Abwehrrechten des äußeren Mein und Dein, die ich gegen ebenbürtige Prätendenten verteidigen oder auch aufgeben oder an andere übertragen kann. Das hier gemeinte Recht ist dagegen ein singuläres Vorrecht, ein Geburts-Privileg, das mich als solches verpflichtet. Adel ist angeboren, und er verpflichtet. Die Abfolge, in der wir von der Rechtspflicht vordringen zum Recht der Menschheit, läßt sich deuten mit einer Reflexionsfigur der KpV, gemäß der die Rechtspflicht als kategorischer Imperativ die „ratio cognoscendi“ ist, die mich auf ihre „ratio essendi“ verweist. Diese „ratio essendi“, der Seinsgrund also, erscheint in der Rechtslehre als Recht der Menschheit in unserer eigenen Person (236,29–30). Ich soll kategorisch das mir erteilte Privileg gegen eine Beraubung durch andere verteidigen, es gegen sie „behaupten“. Aber woher kommt seinerseits das Recht der Menschheit in unserer Person, das als „ratio essendi“ meiner ersten Rechtspflicht fungiert? Es gibt zwei Richtungen unserer Frage, eine historische und eine systematische. Historisch werden wir zur stoischen Philosophie geführt. „Iure enim naturali ab initio omnes homines liberi nascebantur“ formuliert das Corpus iuris civilis das stoische Fundamentalrecht.56 Wir haben als Menschen einen angeborenen Wert, der die Pflicht bei sich führt, ihn zu erhalten. In dieser Pflicht ist die gesamte Rechtslehre enthalten. In einer früheren Reflexion steht: „Die Verbindende kraft alles Rechts liegt nicht so wohl in dem, was einer Persohn eigen ist, als vielmehr in dem Rechte der Menschheit. Daher haben alle Menschen die Verbindlichkeit, das Recht eines jeden eintzelnen zu unterstützen. Dieses Recht der Menschheit verbindet auch einen jeden Gegen sich selbst. Er ist in die Menschheit aufgenommen acquirirt ihre Rechte aber unter der 55   Nach Lehmann XXIII 337 handelt es sich um „Vorarbeiten zum Öffentlichen Recht“, aber diese nähere Bestimmung ergibt sich nicht zwingend. 56   Krüger und Mommsen 1882, 3.

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Pflicht, die Würde derselben zu erhalten.“ (XIX 538,17–22)57 Die Rechtslehre handelt von dem äußeren Verhältnis von Personen untereinander, wobei jede Person jedoch sich als solche selbst konstituieren soll und als derart gegen sich selbst verpflichtetes Wesen auf die Rechtsbühne tritt. Es gibt also keinen gnädigen Gott, der die Menschen zu Personen schuf und ihnen damit eine privilegierte Rolle in der Schöpfung zuwies, es gibt keinen Urvertrag wie bei Rousseau, durch den wir aus Tieren zu rechtlichen Menschen werden, auch keine „Déclaration des hommes“, in der sich die Menschen aus dem Sumpf der bloß natürlichen Begegnungen zu Personen herausdeklarieren; Kant greift auf das stoische Naturrecht zurück, gemäß dem die Natur von einem göttlichen, wiewohl materiellen Geist durchwoben ist und einzig der Mensch als Logoswesen an dieser Sonder-Natur schon bei seiner Geburt teilhat. Könnte es sein, dass sich das Begründungsverhältnis innerhalb der ersten Rechtspflicht umkehrt und die Pflicht die „ratio essendi“ des Rechts wird? Dann brauchen wir keine vorkritische Grundlegung des Rechts in einem Privileg der stoischen Logos-Natur, sondern schieben alle Last der Begründung dem kategorischen Imperativ zu, er ist dann der Grund eines Rechts der Menschheit in unserer Person. Weil dieses Recht für die Rechtspflicht notwendig ist, können wir seine objektiv-praktische Realität annehmen. Genau so argumentiert Kant in einer Vorarbeit zur Tugendlehre: „Die Befugnis des Zwanges anderer (sie zu zwingen) gründet sich aber auf die Persönlichkeit des Subjects und die freye Willkür der Person steht selbst unter der Idee ihrer Persönlichkeit wornach in Handlungen die auf sie selbst gehen durch sich selbst genöthigt wird und moralisch gezwungen nach der Analogie mit dem Zwange eines Anderen und diese Verbindlichkeit gegen sich selbst kann also auch das Recht der Menschheit in unserer Person heißen welches aller anderen Verbindlichkeit vorgeht. Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gehört also noch nicht in die Tugendlehre weil sie an sich nicht verlangt daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen sey: Es ist aber die oberste Bedingung aller Pflichtgesetze weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject der Pflichten (Person) zu seyn und zu den Sachen gezählt werden müßte. Wenn also die Befugnis über Gegenstände nach Willkühr zu verfügen das Recht überhaupt heißt so wird die über seine eigene Person durch das Recht der Menschheit in uns selbst eingeschränkt seyn welchem wir keinen Abbruch thun dürfen und dessen Hochachtung nicht zur Tugendlehre sondern zur Rechtslehre als bloße Einschränkende Bedingung gehört.“ (XXIII 390,22–391,5) Es gäbe also keine Pflichten, sondern wir müssten zu den Sachen gezählt werden, wenn es kein Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gäbe. Dieses vorgängige Recht der Menschheit leitet sich jedoch aus der Pflicht ab, die es ermöglicht. 57   Die Reflexion gehört in den Bereich der „societas inaequalis“, aber sie formuliert ihre Zuständigkeit so, dass sie sich auf das Recht der Menschheit überhaupt bezieht.

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Wenn diese Selbstzeugung und Letztbegründung der Moral und damit des Rechts und der Ethik Kants Intention ist, wird gut verständlich, warum der 236,29–30 angekündigte Gedanke nicht gebracht wird: Die erste Rechtspflicht lässt sich nicht aus dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person erklären, ohne zugleich zu sagen, dass dieses Recht nur aus der Rechtspflicht erklärbar ist. Kant hat darauf verzichtet, diesen Zirkel in den Grundlagen der Moralphilosophie als einen nicht viziösen zu thematisieren. Das Versprechen, das nicht einlösbar ist, verdeckt die Unerklärbarkeit der originären Rechtspflicht. Die erste Rechtspflicht, die sich aus dem Recht der Menschheit in unserer Person erklären lassen soll, ist janusköpfig: Die Pflicht ist der subjektive Aspekt, in dem sich die Person selbst konstituiert; das fundierende Recht ist der objektive Aspekt, den die Person jedem anderen, der sie bloß als Mittel gebrauchen will (und sei es die Person selbst), ihren Würdestatus entgegen hält. So gelangen wir zu einem Wechselspiel von innerem Gebot: „Sei ein rechtlicher Mensch! Sei für andere nicht ein bloßes Mittel!“ und außengerichtetem Verbot: „Benutze keine Person als bloßes Mittel!“ Die beiden Seiten der Rechtspflicht bedingen sich gegenseitig als Aspekte einer Sache, als causa sui der reinen praktischen Vernunft.

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Was ist Kunst? Welche Freiheit und welchen Schutz genießt der Künstler? Prof. Dr. iur. Volker Beuthien Übersicht1 I. Kunstschutz als Persönlichkeitsschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Begrenzter Kreis ausschließlicher Schutz- und Verwertungsrechte . . . . . . 36 III. Rechtsbegriffe der Kunst und des Kunstwerkes. . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.  Rechtsbegriff der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.  Rechtsbegriff des Kunstwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 IV. Inhalt und Schutzzweck des Urheberrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 V. Verhältnis von Eigentum und Urheberrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.  Das Grundproblem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.  Rechtliche Leitlinie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.  Besondere Rücksichtspflicht bei Bauwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 VI. Grenzen und Missbrauch der Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) . . . . . . . . . . 49 VII. Ursprung und gesellschaftlicher Nutzen der Kunst. . . . . . . . . . . . . . . 51

Einleitung Erwarten Sie nicht zuviel von diesem Abend! Ich bin weder ein Kunstexperte noch ein ausgewiesener Spezialist des Rechts der Kunst. Ich möchte Ihnen nur in aller Kürze einen Eindruck davon vermitteln, wie sich die Rechtsordnung (d. h. das Gesetz und die dieses auslegenden Richter) mit den vielfältigen eigens rechtlichen Aspekten der Kunst und des Kunstschaffens auseinandersetzt.

I.  Kunstschutz als Persönlichkeitsschutz Alle Kunst geht von einem Künstler aus. Deshalb gilt es zunächst den Künstler im Rechtssystem zu verorten. Im Mittelpunkt der Privatrechtsordnung steht der Mensch (vom Gesetz nüchtern als „natürliche Person“ 1   Der Verfasser ist emeritierter Direktor des Instituts für Handels- und Wirtschaftsrecht der Philipps-Universität.

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bezeichnet). Ein Mensch hat nicht nur einen Körper, sondern auch eine Persönlichkeit. Diese darf der Mensch, weil er mit Geist und Seele begabt ist und Menschenwürde (Art. 1 I GG) genießt, grundsätzlich frei entfalten (Art. 2 I GG). Als freie Persönlichkeit denkt der Mensch nicht nur nach, sondern er betätigt sich bei entsprechendem Talent auch schöpferisch. Aus dieser eigenschöpferischen Tätigkeit entstehen als Ausdruck und Frucht der Persönlichkeit Werke der verschiedensten Art. Aus der menschlichen Werkvielfalt ragen vor allem drei Werkgruppen hervor: Technische Werke | Erfindung

Bildnerische und klingende Werke | Malerei, Skulptur, Baukunst, Musik

Geistige Werke | Literatur, Wissenschaft

Da der schaffende Mensch in seinem Wirken und Werken seine Persönlichkeit entfaltet und verwirklicht, scheint es auf den ersten Blick folgerichtig zu sein, jedem Menschen in Bezug auf das, was er ersonnen und gestaltet hat, ein besonderes Persönlichkeitsrecht zuzuweisen, das ihn in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk schützt. Hat das Werk einen Marktwert, liegt es ebenso nahe, demjenigen, der es kraft seiner persönlichen Gaben erdacht und erstellt hat, das ausschließliche Recht zuzuweisen, es zu nutzen und gegen Entgelt zu verwerten. Zu Recht hat daher die Rechtsordnung derartige Ausschließlichkeitsrechte entwickelt, und zwar im Patentgesetz für technische, gewerblich verwertbare Erfindungen (§ 1 PatG) sowie im Urheberrechtsgesetz für Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst (§ 1 UrhG).

II.  Begrenzter Kreis ausschließlicher Schutz- und Verwertungsrechte Aber der ständig wachsenden Anzahl von Menschen stehen nur begrenzte Erkenntnis-, Ausdrucks- und Gestaltungsmittel zur Verfügung. Auch entfalten Ausschließlichkeitsrechte für alle Nachschaffenden eine Sperrwirkung, weil diese dann für vergleichbare Werke kein solches Recht mehr erwerben können. Deshalb dürfen Ausschließlichkeitsrechte nicht allzu großzügig, sondern nur sparsam für außergewöhnliche Leistungen und nicht auf ewig gewährt werden. Die Rechtsordnung trägt dem dadurch Rechnung, dass sie als schutzfähig nur Werke anerkennt, die eine weit aus dem Durchschnitt herausragende Werkhöhe aufweisen, und dass sie das jeweilige Ausschließlichkeitsrecht zeitlich begrenzt.

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So wird für ein Patent eine den bisher erreichten Stand der Technik deutlich überragende Erfindungshöhe verlangt. In einem Kunstwerk muss sich eine eigenschöpferische, unverwechselbare Gestaltungskraft ausdrücken. Diese muss etwa bei Bildwerken über die bloße Gegenständlichkeit des Dargestellten hinausreichen und damit eine bestimmte, den Durchschnitt überragende Gestaltungshöhe aufweisen. Die Schutzfrist für Patentrechte beschränkt sich auf zwanzig Jahre, von der Anmeldung beim Patentamt an gerechnet (§ 16 I 1 PatG), die von Urheberrechten auf siebzig Jahre, vom Tode des Urhebers an gerechnet (§ 64 I, 69 UrhG). Das Urheberrecht wird in kein öffentliches Register eingetragen, sondern entsteht schon aufgrund des Schöpfungsaktes. Unterhalb der Patent- und Urheberrechte gibt es noch eine geschützte Zwischenzone vor dem, was gemeinfrei ist, und zwar im Bereich der technischen Erfindungen die Gebrauchsmuster und im Bereich der Kunst die Geschmacksmuster (sog. „kleine Münze“ des Leistungsschutzrechts).

III.  Rechtsbegriff der Kunst und des Kunstwerks 1.  Rechtsbegriff der Kunst Kunstschutz scheint rechtlich nur möglich zu sein, wenn man genau weiß, was Kunst ist. Es gibt jedoch keine Vorschrift, in der das Wort „Kunst“ begrifflich näher umschrieben wird. In Art. 5 III GG heißt es lediglich, dass Kunst und Wissenschaft frei sind. Auch das UrhG enthält keine Kunstdefinition. Das ist kein Zufall. Denn der Kunstbegriff lässt sich rechtlich nicht genau genug erfassen. Schon Kant hat erkannt, dass ästhetische Urteile subjektiver Natur und daher nicht objektivierbar sind. Das gilt umso mehr, weil diese stark vom sich ständig wandelnden Zeitgeist und Zeitgeschmack abhängen. Die Unmöglichkeit, allgemeingültig zu sagen, was Kunst ist, ficht die Juristen jedoch nicht an. Diese sind es gewohnt, Allgemeinbegriffe nicht in ihrer Totalität erfassen zu müssen. Juristen legen vielmehr ihr Augenmerk darauf, was der Allgemeinbegriff nach dem Schutzzweck der betreffenden Vorschrift im jeweiligen Sachzusammenhang aussagen soll. So braucht beim Begriff der „Wettbewerbsbeschränkung“ nicht umfassend ergründet zu werden, was „Wettbewerb“ ist. Vielmehr kommt es bei der Auslegung der jeweils einschlägigen Vorschrift darauf an, ob die wettbewerbliche Verhaltensfreiheit der Marktbeteiligten eingeengt wird, ob zu vermachtete Marktstrukturen entstehen oder ob es zu wettbewerbspolitisch unliebsamen Marktergebnissen zu kommen droht. Ebenso schutzzweckbezogen verfährt man im Recht der Kunst. So soll mit der verfassungsrechtlich geschützten Kunstfreiheit i. S. des Art. 5 III GG vornehmlich gewährleistet werden, dass sich der Künstler frei von einengen-

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den staatlichen Eingriffen zu betätigen vermag. Dagegen schützt das Urheberrecht nicht die künstlerische Entfaltungsfreiheit, sondern die persönlichen und vermögensrechtlichen Interessen des Künstlers an einem bestimmten Werk. Urheberrechtlich geschützt wird also nicht das Schaffen des Künstlers, sondern das Ergebnis seines Kunst erzeugenden Schaffens. Im Urheberrecht geht es mithin nicht darum, wer ein Künstler ist und was ein solcher darf, sondern was rechtlich als Kunstwerk schützenswert ist und daher vor Zugriffen anderer bewahrt werden muss. Ganz dementsprechend heißt es in § 1 UrhG, dass die Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst „für ihre Werke“ Schutz nach Maßgabe dieses Gesetzes genießen. Der maßgebliche Grundbegriff des Urheberrechts ist also der des Kunstwerkes. Damit fragt sich, welche sachlichen Anforderungen an ein Kunstwerk zu stellen sind. 2.  Rechtsbegriff des Kunstwerkes a)  Unmittelbar einsichtig ist, dass nicht alles, was Menschen täglich tun und schaffen und damit (wie der Volksmund sagt „ins Werk setzen“), ein Kunstwerk sein kann. Sonst wäre die Welt voller Künstler und würde vor Kunst überquellen. Die Kunst, die in einem Kunstwerk Ausdruck findet, muss also etwas ganz Besonderes und Außergewöhnliches sein. Wie aber soll man dieses Besondere und Außergewöhnliche ergründen und fassen? Kommt „Kunst von Können“, wie man früher gesagt hat, setzt also ein Kunstwerk ein herausragendes handwerkliches Geschick, also Kunstfertigkeit voraus? Muss Kunst schön sein oder darf sie auch abstoßen? Muss Kunst in Ausdruck oder Form neuartig sein? Muss sie einen geistigen Gehalt haben? Muss sie im Dienste eines über sie hinausweisenden Zieles wie der Preisung und Verherrlichung Gottes oder der Schöpfung stehen? Muss sie dazu auffordern, dass der Be­trachter oder Hörer „in sich geht“. Oder darf Kunst sich auch selbst genügen, nur zweckfrei Kunst um der Kunst willen (l’art pour l’art) sein? Alle diese Kriterien haben sich, wie die Kunstentwicklung zeigt, als nicht tragfähig erwiesen. Das geltende Urheberrecht hat daher einen anderen Ansatz gewählt. Es knüpft daran an, dass der Künstler in seinem Kunstwerk eine schöpferische Idee in eigenpersönlicher und damit unverwechselbarer Weise umsetzt und gestaltet. In diesem Sinne werden urheberrechtlich „nur persönliche geistige Schöpfungen“ geschützt (§ 2 UrhG). Dementsprechend wird der Urheber als „Schöpfer des Werkes“ bezeichnet (§ 7 UrhG). Die schöpferische Tätigkeit des Urhebers muss sich insbesondere in einem Sprachwerk (§ 2 I Nr. 1 UrhG), in einem Werk der Musik (§ 2 I Nr. 2 UrhG), einem Werk der bildenden Kunst einschließlich der Baukunst (§ 2 I Nr. 4 UrhG) sowie Licht- und Filmwerken (§ 2 I Nr. 5 u. 6 UrhG) niederschlagen.

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b)  Jeweils stellt sich die entscheidende juristische Wertungsfrage, ob und warum das betreffende geistige Erzeugnis den Rang einer schutzwürdigen, eigenpersönlichen menschlichen Schöpfung erreicht. Die Rechtsprechung verstrickt sich insoweit in weithin tautologische Wendungen, die weithin in sich selbst kreisen. Danach muss ein Kunstwerk „mit den Darlegungsmitteln der Kunst durch formgebende Tätigkeit hervorgebracht“ werden und in seinem „ästhetischen Gehalt einen solchen Grad erreichen, dass nach den im Leben herrschenden Anschauungen noch von Kunst gesprochen werden kann“2. Dabei bleibt offen, was die „Darlegungsmittel der Kunst“ sind und was dabei das Künstlerische ausmacht. Was den „ästhetischen Gehalt“ des Kunstwerks angeht, ist man sich heute unter dem Eindruck der modernen Kunst darüber einig, dass ein Kunstwerk keinerlei Schönheit ausstrahlen, sondern nur die Sinne ansprechen, also Sinneseindrücke irgendwelcher Art hervorrufen muss. Diese können zu Recht von Erbauung und Bewunderung bis zu Ekel und Abscheu reichen. Denn ein Künstler muss die gesamte Welt erfassen und darstellen dürfen und diese hat auch ihre hässlichen und grauenhaften Seiten. Ein Künstler darf und soll, wie die schützenswerte Satire zeigt, die Welt auch verspotten und veralbern. In jüngerer Zeit verlangt der BGH für ein Kunstwerk deshalb nur noch, dass es in seinem Gesamteindruck eine deutlich aus dem Alltäglichen herausragende „künstlerische Gestaltungshöhe“ aufweist3. Aber dabei bleibt wiederum unbeantwortet, was künstlerisch ist und ab welcher Höhe das Künstlerische beginnt. Die Antwort weiß letztlich niemand. So wie man letzte Wahrheiten nur zu erahnen vermag, muss man, was Kunst ist, erfühlen. Man kann das auch dahin ausdrücken, dass man Kunst nicht vollends zu begreifen vermag, sondern dass diese den Betrachter nur ihrerseits ergreifen kann. Meine persönliche Erfahrung ist: Je mehr Kunstwerke der verschiedensten Art man sieht, desto wacher, breiter und tiefer wird der Kunstsinn. Dieser „erkennt“ dann Kunst als das immerwährende Suchen und Tasten nach dem Urgrund aller Dinge und Phänomene der Welt und „begrüßt“ sie als solche. Ausgehen lässt sich daher nur davon, dass hinter aller Kunst eine außergewöhnliche gestalterische Idee steckt, die im jeweiligen Kunstwerk in einer ersichtlich unverwechselbar charakteristischen Weise umgesetzt wird. Schutzwürdig ist dabei also nicht schon die Idee selbst, sondern erst deren konkrete eigenpersönliche Verwirklichung. Das muss so sein, weil der Vorrat an schöpferisch umsetzbaren Ideen begrenzt ist und der Kunstbetrieb sonst alsbald eingeschnürt wäre. So ist die Idee von J. Christo, Gegenstände durch ihre Verpackung zu verfremden, oder der Einfall Calders, Gegenstände in einem Mobile in ein schwebendes Gleichgewicht zu bringen und im Luft  BGHZ 24, 55, 63 f. Ledigenheim, ständige Rechtsprechung.   BGH, GRUR 1982, 305, 305 Büro Möbelprogramm.

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hauch umeinander tanzen und kreisen zu lassen, nicht urheberrechtsfähig. Nagelbilder darf nicht nur Uecker erstellen. Urheberrechtsschutz genießt also nicht eine bestimmte Werksart oder ein bestimmter Kunststil, sondern jeweils nur das einzelne Werk (wie der von Christo entworfene und später ausgeführte Plan, eigens den Berliner Reichstag in ganz bestimmter Weise zu verhüllen). c)  Bei vielen Erscheinungsformen der modernen Kunst fällt es allerdings zunehmend schwer, einen eigenpersönlichen Schöpfungsakt von beachtlicher Gestaltungshöhe zu erkennen. Das trifft insbesondere bei der sog. Aktionskunst und der Objektkunst zu. Bei ersterer wird schon der Kunstakt zur Kunst erklärt (so – noch einigermaßen nachvollziehbar – beim action painting von Jackson Pollock, aber schon grenzwertig bei sog. happenings). Bei der Objektkunst wird der Gegenstand selbst zur Kunst erhoben, indem ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand lediglich in ein anderes Umfeld gestellt (etwa ein Urinoir unverändert an eine Museumswand gehängt) wird4. Die Grenze der Kunst wird erreicht, wenn Kunst und Leben gleichgesetzt werden nach dem Motto: „Kunst ist Leben, alles Leben ist Kunst.“ Denn wenn alles Kunst ist, ist nichts mehr Kunst, weil sich dann das Besondere im Gewöhnlichen auflöst. Das gilt insbesondere, wenn sich der „Künstler“ selbst in einer Galerie ausstellt und allein diese Selbstdarstellung zur Kunst erklärt5. Letztlich ist freilich alles Bemühen, das, was ein Kunstwerk ausmacht, begrifflich zu umschreiben, eitel. Denn angesichts der ungemein vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen fehlen dafür hinreichend feste Bewertungskriterien. Da Kunst die Sinne anspricht, kann man im Zweifel wiederum nur erspüren, was schon und was nicht mehr Ausdruck von Kunst ist. Nicht von ungefähr hebt die Rechtsprechung dabei nicht darauf ab, was Kunstwissenschaftler, Kunstsachverständige oder intellektuelle Kunstkenner als Kunst 4   Es fehlt dann ein „Dialog der Dinge“ (wie bei den Dingserien Warhols). Aber beginnt Objektkunst schon bei zwei Klos oder bei einem ganzen und einem halben? 5   Vgl. auch LG Hamburg, ZUM 1999, 658 f., wo Eva & Adele für sich beanspruchen: „Wherever we are is museum“. Beide hatten als sog. Perfomance-Künstlerinnen der „Zeit“ ein Interview mit Lichtbildern gegeben. Die Verwertungsgesellschaft, der sie ihre Nutzungsrechte abgetreten hatten, verlangte Nutzungsentgelt. Nach Ansicht des AG Hamburg (ZUM 1998, 1047) zu Recht: Mit kahlrasiertem Schädel, maskenhaft starkem Schminken und auffälligem Partnerlook seien sie eine „Art lebendes Bild“ und „maskenhaftes Zwillingspaar“ und als solches nicht nur „Abbild von der täglichen Realität“. Insofern bestehe eine Wertungsparallele zu den englischen Künstlern „Gilbert & George“ als living sculptures. Dagegen verneint vom LG Hamburg (ZUM 1999, 658), weil Eva & Adele nach eigenem Bekunden tagtäglich so aufträten und daher nur ihr normales, als solches urheberrechtlich nicht schutzfähiges Leben darstellten! Es fehlte wohl auch die urheberrechtlich erforderliche Gestaltungshöhe, sowohl von der Idee als auch von der Art der Umsetzung her. Auch wer sich rundum in außergewöhnlichen Mustern tätowieren lässt, wird dadurch nicht selbst zum Kunstwerk, sondern trägt ein solches auf sich.

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anerkennen. Sie hält auch nicht für maßgeblich, was gebildete, für die Kunst aufgeschlossene Kreise als Kunst auffassen. Vielmehr lassen die Gerichte angesichts der Breite der Gesellschaft und der Offenheit der Kunst zu Recht genügen, was ein für den Anruf der Kunst empfänglicher und wohlmeinender Durchschnittsmensch noch als Kunst empfindet. Diese weitgefasste Formel enttäuscht nur auf den ersten Blick. Denn derart muss die Rechtsprechung notgedrungen immer dann vorgehen, wenn sie offene gesellschaftliche Allgemeinbegriffe auszufüllen hat. So hebt sie, wenn das Bürgerliche Recht (in den §§ 138 I, 826 BGB) auf die gesellschaftlich anerkannten, aber nirgends kodifizierten „guten Sitten“ verweist, seit eh und je auf das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ ab, ohne insoweit in umfassende empirische Erhebungen einzutreten. Was billig und gerecht ist, schöpfen die Richter dann vornehmlich aus dem, was sie nach ihrer Herkunft, Vorbildung, Lebens- und Berufserfahrung dafür halten. Mehr ist von einem Gericht in aller Regel nicht zu erwarten. So schlimm ist das meist auch nicht. Denn dort wird nicht auf Feststellung geklagt, was Kunst oder ein Kunstwerk ist. Vielmehr haben die Gerichte in aller Regel nur darüber zu entscheiden, ob ein Urheberrecht verletzt worden ist. Das aber lässt sich, da ein Urheberrecht begrifflich verhältnismäßig klar bestimmte Befugnisse vermittelt, jedenfalls insoweit einigermaßen verlässlich entscheiden. Dieser Aufgabe wird die Rechtsprechung (wie eine Fülle von Entscheidungen zeigt) durchweg gerecht, und zwar weniger durch kunsttheoretische Ausführungen, sondern vornehmlich durch sorgfältiges Herausarbeiten der Besonderheiten des jeweiligen Sachverhaltes.

IV.  Inhalt und Schutzzweck des Urheberrechts Bei der Urheberrechtsverletzung kommt es darauf an, unter welchem Aspekt das Urheberrecht verletzt ist. Das Urheberrecht hat einen ideellen und einen materiellen Gehalt und insoweit eine Doppelfunktion: Als Urheberpersönlichkeitsrecht schützt es den Urheber in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk (§ 11 S. 1 Fall 1 UrhG). Als Vermögensrecht sichert es den Urheber in der Nutzung des Werkes (§ 11 S. 1 Fall 2 UrhG). Geschützt wird insoweit vornehmlich dessen Interesse, von denjenigen, die das Werk nutzen, eine angemessene Vergütung zu erhalten (§ 11 S. 2 UrhG). Kraft seines Urheberpersönlichkeitsrechts darf der Urheber bestimmen, ob und wie sein Werk zu veröffentlichen ist (§ 12 UrhG). Als Nutzungsberechtigter hat der Urheber das ausschließliche und grundsätzlich umfassende Recht, sein Werk in körperlicher Form zu verwerten (§ 15 I Halb. 1 UrhG) oder in unkörperlicher Form öffentlich wiederzugeben (§ 15 II 1 UrhG). Als ihm vorbehaltene Verwertungsrechte werden ihm insbesondere das Vervielfältigungsrecht (§ 16 UrhG), das Verbreitungsrecht

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(§ 17 UrhG) und das Ausstellungsrecht (§ 18 UrhG) sowie vornehmlich das Vortrags- und Aufführungs- sowie Senderecht zugewiesen. Wird das Urheberverwertungsrecht (insbesondere eines der im Gesetz ausdrücklich aufgeführten Verwertungsrechte) widerrechtlich verletzt, kann der Urheber von dem Verletzer Unterlassung, Beseitigung der Störung sowie bei einem schuldhaften Eingriff Schadensersatz verlangen (§ 97 UrhG).

V.  Verhältnis von Eigentum und Urheberrecht 1.  Das Grundproblem a)  Besonders problematisch ist immer wieder, wie sich das Sachenrecht und das Urheberrecht zueinander verhalten. Da der Urheber das ausschließliche Recht hat, über die Nutzung seines Werkes zu bestimmen, wird er auch als dessen geistiger Eigentümer bezeichnet. In der Tat ähnelt das Urheberrecht in seiner Ausschließlichkeit dem absoluten Sacheigentumsrecht, dessen Inhaber mit seiner Sache grundsätzlich nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen darf (§ 903 S. 1 BGB). Allerdings gilt dies nur, „soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen“. Als ein solches hinderliches Drittrecht tritt vielfach das zwar nicht dinglich auf der Sache lastende, aber ebenso absolute (d. h. gegenüber jedermann wirkende) Urheberrecht auf den Plan. Es kommt dann zu einem oft schwer lösbaren Rechtskonflikt zwischen zwei Herrschaftsrechten, dem Sacheigentum und dem Urheberrecht als geistiges Eigentum am Werk. b)  Das mögen folgende, im In- und Ausland von der Rechtsprechung entschiedene und weithin bekannte Streitfälle verdeutlichen: (1)  Lady Churchill lässt das von dem bekannten Maler Graham Sutherland erstellte Ölporträt Winston Churchills, das diesem vom britischen Parlament zum 80. Geburtstag geschenkt worden war, kurzerhand verbrennen, weil es diesem wegen seiner nichts beschönigenden Art bedrückte6. Durfte sie das (vorausgesetzt, dass sie im Einverständnis ihres Mannes handelte), ohne die Zustimmung des Künstlers einzuholen oder diesen wenigstens zu fragen? (2)  Der Eigentümer einer Berliner Villa ließ im Treppenhaus von einem Kunstmaler ein Fresko „Felseneinland mit Sirenen“ erstellen. Als ihm (oder seiner prüden Frau) dieses nicht mehr gefiel, ließ er es ohne Einverständnis des Künstlers derart übermalen, dass die ursprünglich nackten Sirenen

6   Pleister/Schild, Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, 1988, S. 240 mit Abbildung.

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nunmehr bekleidet erschienen. Der Künstler verlangt, dass die Übermalung wieder beseitigt wird7. Zu Recht? (3) Eine Großstadt lässt für ihren im Zentrum gelegenen großen, von einem Gebäudekranz umgebenen, etwas öden Platz eine abstrakt-moderne Metallkonstruktion erstellen, um diesem einen visuellen Halt zu geben. Da das Metallarrangement vielen Bürgern nicht gefällt, verbringt die Stadtverwaltung dieses in einen Vorort, wo es nach Ansicht des Künstlers „verloren“ herumsteht. Muss die Stadt die Skulptur wieder am ursprünglichen Ort aufstellen8? (4)  Ein in der Gaststätte lange auf sein Essen wartender Kunststudent trägt auf das Tischtuch ein Ölgemälde auf, das allseits bewundert wird und für das ihm sogleich 500 € geboten werden. Darf er das bemalte Tuch mitnehmen? (5)  Ein Grundeigentümer findet am Morgen seine frisch gestrichene Hauswand mit einem Graffiti verziert vor. Darf er dieses, obwohl es in Stil und Farbigkeit ganz außergewöhnlich ausgestaltet ist, ohne Weiteres abwaschen? 2.  Rechtliche Leitlinie Für alle diese Fälle gilt: Bei einem Gemälde erstreckt sich das Eigentum am Stoff zwar auch auf das darauf befindliche Bild. Aber das Sacheigentum vermag das am Kunstwerk bestehende Urheberrecht nicht zu verdrängen. Vielmehr bestehen beide Rechte nebeneinander. Veräußert der Künstler sein Kunstwerk, so pflegt er dem Erwerber in der Regel nicht auch sein Urheberrecht zu übertragen. Sacheigentum und Urheberrecht fallen dann auseinander. Beide Rechtsinhaber müssen, weil sie in einer rechtlichen Sonderbeziehung zueinander stehen, aufeinander Rücksicht nehmen (§ 242 BGB). Das Eigentumsrecht darf daher nur möglichst unbeschadet des Urheberrechts, und das Urheberrecht nur möglichst unbeschadet des Eigentumsrechts ausgeübt werden9. a) Im Churchill-Fall hat der Kunstmaler das ursprünglich ihm zustehende Sacheigentum auf Winston Churchill übertragen. Im Sirenenfall hat er nie Eigentum an dem auf fremder Wand angebrachten Gemälde erworben, weil dieses wesentlicher Bestandteil des Gebäudes und damit des Grundstücks wird. Auch im Metallskulpturfall wurde die Stadt Sacheigentümer des erstellten Werkes. Jeweils scheint es, dass der Eigentümer mit seiner   RGZ 79, 397.   Vergleichbarer Fall: Kasseler Halbtreppe auf dem Königsplatz, den die Stadt Kassel abreißen ließ, weil sie der Bevölkerung als „Elefantenklo“ nicht mehr gefiel. Schonendere Lösung: Versetzung als ehemaligen Documenta-Gegenstand in die Karlsaue mit der aufklärenden Bezeichnung „Treppe ins Nichts“? 9   So RGZ 79, 397 (400) im Sirenenfall. 7 8

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Sache machen kann, was er will. Dazu ist er auch grundsätzlich befugt. Nur darf er dabei nicht das an dem Werk fortbestehende Urheberrecht verletzen. Dieses schützt den Urheber indes nicht umfassend, sondern nur „in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk“ (§ 11 S. 1 UrhG). Damit soll dessen Interesse daran gewahrt werden, dass sein Werk der Mit- und Nachwelt möglichst so erhalten bleibt, wie er es eigenschöpferisch gestaltet hat. Der Erwerber eines Kunstwerkes darf dieses also nicht kraft seines Sacheigentums nach Belieben verändern, sondern muss dieses grundsätzlich so belassen, wie es der Urheber geschaffen hat. Dieses allgemeine urheberrechtliche Änderungsverbot hat nach Ansicht der Rechtsprechung10 seine Grundlage im Wesen und Inhalt des Urheberpersönlichkeitsrechts,11 ist also – wie man auch sagt12 – dem Urheberrecht immanent. Es wird daher vom Gesetz stillschweigend vorausgesetzt. Das Werkänderungsverbot erfasst nur Eingriffe in die körperliche Substanz des Werkes. Das scheint im Churchill-Fall in schlimmster Weise der Fall zu sein, weil das Bild vernichtet wird. Aber dadurch wird das Werk nicht verändert, sondern beseitigt. Dem Künstler wird also keine andere Werkgestaltung untergeschoben. Sein künstlerisches Ansehen bleibt daher unberührt. Ein Recht auf Werkerhaltung gibt es urheberrechtlich grundsätzlich nicht. Will der Künstler sicher gehen, dass sein Werk erhalten bleibt, darf er es nicht an ihm gegenüber rechtlich ungebundene Dritte veräußern. Freilich muss der Sacheigentümer auf das Werkerhaltungsinteresse des Urhebers, soweit ihm das zumutbar ist, Rücksicht nehmen. Dazu gehört, den Künstler zuvor zu benachrichtigen, um diesem so Gelegenheit zu geben, das Werk selbst den Wünschen des Sacheigentümers entsprechend zu ändern, es zurückzunehmen oder in gute andere Hände zu geben. Vom Ehepaar Churchill war indes eine solche Rücksicht nicht zu erwarten, da die schonungslose Bildgestaltung Sir Winston nicht nur im eigenen Hause bedrückte. Vielmehr wollte dieser sich so überhaupt nicht, insbesondere nicht in einem öffentlichen Gebäude oder Museum, der Nachwelt überliefert sehen. b)  Anders verhält es sich im Sirenenfall. Von Sirenen weiß man aus der Odyssee, dass sie betörend singen, um vorüberfahrende Seefahrer anzulocken und auszusaugen. Da nur Männer verführt werden sollen, passt zu dem betörenden Singen zumindest etwas laszive weibliche Nacktheit. Deshalb wurde dem Sirenenbild mit den aufgemalten Kleidern der abgründige erotische Reiz und damit eine wesentliche, vom Künstler beabsichtigte Gestaltungswirkung

  Seit RGZ 69, 242, 244.   So BGH GRUR 2008, 984, 986 St. Gottfried und OLG Stuttgart, ZUM 2011, 183, 180 Stuttgart 21. 12   So BGH NJW 1970, 2245 Maske in Blau. 10 11

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genommen. Mögen die den Sirenen verpassten Kleidungsstücke diesen noch so gut stehen. Der Grundcharakter des Bildes hat sich geändert. Nicht ganz so eindeutig scheint es zu liegen, wenn die Sirenen in durchsichtige Schleier eingehüllt worden wären13. Aber auch dann ist das Interesse des Sacheigentümers, die erotische Ausstrahlung des Bildes durch eine leichte Verschleierung abzumildern (oder zu steigern), nicht dringender als das Interesse des Künstlers, sein Werk so erhalten zu sehen, wie er es ersonnen und erschaffen hat. So hat es auch das Reichsgericht beurteilt und hat daher der Klage des Urhebers auf Beseitigung der Übermalung (heute: § 97 UrhG) stattgegeben. Nicht ohne Reiz ist es, den Sirenenfall dahin umzukehren, dass die ursprünglich bekleideten Sirenen nachträglich entkleidet werden und das Gemälde dadurch an lebendiger Ausstrahlung gewinnt. Aber der Sacheigentümer darf das Kunstwerk auch nicht verschönern (etwa plumpe und massige Frauengestalten von Picasso verschlanken oder von Klumpfingern und -füßen befreien). Entscheidend ist jeweils die Abweichung von der künstlerischen Konzeption, die der Sacheigentümer grundsätzlich zu achten hat. Das urheberrechtliche Werkänderungsverbot setzt sich im Entstellungsverbot (§ 14 UrhG) fort. Danach hat der Urheber das Recht, eine Entstellung oder eine andere Beeinträchtigung seines Werkes zu verbieten, die zwar nicht in die Werksubstanz eingreift, aber geeignet ist, seine berechtigten geistigen oder persönlichen Interessen am Werk sonstwie zu gefährden. Eine Entstellung ist eine besonders schwere Form der Werkbeeinträchtigung. Sie liegt vor, wenn in besonders weitreichender und damit besonders schwerwiegender Weise von der dem Werk zugrundeliegenden und aus diesem ersichtlichen eigenpersönlichen Konzeption des Künstlers abgewichen wird. Herabgesetzt zu werden braucht das Werk dabei nicht. c) Im Metallkonstruktionsfall wird zwar nicht in deren körperliche Substanz eingegriffen. Aber die Konstruktion ist für eine bestimmte Umgebung entworfen worden und soll zu dieser in eine eigentümliche, die Atmosphäre des Platzes belebende Wechselwirkung treten. Sie stellt sog. Raumkunst dar. Deshalb wird sie entstellt, jedenfalls in ihrem schöpferischen Gehalt beeinträchtigt, wenn sie an einen anderen Ort verbracht wird, auf den sie nicht in vergleichbarer Weise auszustrahlen vermag. d)  Ein besonderes Problem ist die sog. aufgedrängte Kunst, bei welcher der Schutz des Sacheigentümers im Vordergrund steht. Darum geht es im Tischtuch- und Graffiti-Fall. Der Kunststudent erschafft mit dem Farbauftrag auf dem fremden Tischtuch eine neue bewegliche Sache und erwirbt an ihr (gem. § 950 I BGB) mittels Verarbeitung Sacheigentum, da der Wert 13   So wird der Sachverhalt im akademischen Unterricht meist (obwohl die abgedruckten Urteilsgründe das nicht hergeben) dargestellt.

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der Verarbeitung höher ist als der Stoffwert. Freilich muss er dem Gastwirt den Wert des Tischtuches erstatten (§ 951 I BGB). Dieser darf das Tischtuch zurückbehalten, bis der Student bezahlt hat (§ 273 I BGB). Dagegen erlangt der Sprayer kein Sacheigentum an dem auf die fremde Hauswand aufgesprühten Graffiti, da dieses (wie das Sirenengemälde) Teil des Hauses geworden ist und damit vom Grundeigentum erfasst wird. Aber dieser erwirbt, obwohl er rechtswidrig gehandelt hat, das uneingeschränkte Urheberrecht an seinem Werk und darf sogar Zugang zu diesem verlangen, freilich nur solange dieses Recht besteht. Der Hauseigentümer darf das Graffiti beseitigen, weil der Sprüher sich wegen vorsätzlicher Sachbeschädigung (§ 303 StGB) strafbar gemacht und daher kein schutzwürdiges Erhaltungsinteresse hat14. Da der Sprüher schuldhaft das Eigentum des Hauseigentümers verletzt hat, muss er das Graffiti sogar selbst beseitigen (lassen) oder dem Hauseigner die insoweit entstehenden Kosten erstatten (§§ 823 I, 249 BGB)15. Aber er darf das Graffiti nicht verwerten (z. B. keine Fotografien davon als Postkarten vertreiben)16. Dazu ist nur der Sprayer befugt. 3.  Besondere Rücksichtspflicht bei Bauwerken Die Pflicht, aufeinander Rücksicht zu nehmen, ist besonders ausgeprägt bei Werken der Baukunst. Denn diese sind keine reinen Kunstwerke, sondern zugleich langlebige Gebrauchsgüter. Deshalb hat der Sacheigentümer ein besonders schutzwürdiges Interesse, sie an dringende neue Nutzungszwecke anzupassen (insbesondere durch Anbau, Aufstockung oder Einbau von Fahrstühlen). Es ist ihm dann nicht zuzumuten, die Gebäude gleichsam als Baumuseum stehen zu lassen und als solches aufwendig zu unterhalten. Aber der Sacheigentümer hat sich seinerseits zurückzuhalten. Je höher der eigenpersönliche Schöpfungsgrad des Bauwerks ist, desto behutsamer muss die Änderung erfolgen. Es sind also die Dringlichkeit des Nutzungsinteresses und die Schöpfungshöhe gegeneinander abzuwägen. Entsprechendes gilt bei der Kunst am Bau.

14   BGHZ 129, 66, 71 beiläufig; Schack, GRUR 1983, 60. Vgl. auch BVerfG NJW 1984, 1923 in Bezug auf den als „Sprayer von Zürich“ bekannt gewordenen Harald Nägeli. 15   Der Sprüher darf sich auch nicht auf einen Entfaltungsnotstand berufen („Irgendwohin und irgendwo drauf muß ich doch sprühen“). Vgl. demgegenüber aber Stadt Stuttgart, die eine Unterführung als öffentliche Sprühfläche zur Verfügung stellt. Dort soll jedoch großes Gedränge der Sprühwilligen herrschen! 16   So waren zwei Künstler, welche die Berliner Mauer bemalt hatten, am hohen Versteigerungserlös für die einzelnen Mauerstücke zu beteiligen (BGH NJW 1995, 1556), und zwar wegen Eingriffs in das umfassende urheberrechtliche Verwertungsrecht (§§ 812 I 1 Fall 2, 818 II BGB). Rechtskonstruktiv besser wohl Herausgabe des Verletzererlöses (§ 687 II, 681 S. 2 BGB).

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Beispiele: (1)  Neue Kircheninnenraumgestaltung17: Ein Hochaltar wird abgesenkt und näher an die Sitzreihen gerückt und z. T. von diesen umgeben. Darin liegt zwar eine wesentliche körperliche Abänderung des Kirchenraumes, die aber ausnahmsweise gerechtfertigt ist, weil das 2. Vatikanische Konzil liturgisch empfohlen hatte, die alten Richtungskirchen in einen gemeindlichen Zentralraum umzugestalten. (2)  Astra-Hochhaus18. Aus einem Kelchhaus („Biertulpe“) wird ein 3 m breiteres und 3 Geschosse höheres Hochhaus, das nur einmal im 4. Geschoss unterbrochen wird. Erhalten bleibt nur die Tragkonstruktion (Kelch), die der besonders beschaffene Untergrund erfordert. Der Teilabriss ist zwar ein schwerer Eingriff in die Bausubstanz, aber die neue Ummantelung lässt das ursprüngliche Bauwerk nicht mehr erkennen und kommt daher einem (zulässigen) Vollabriss gleich. Dieser ist jedoch nicht zumutbar, da der Tragkelch noch tauglich ist und auch dessen Abriss daher unnötige Kosten verursachen würde. (3)  Berliner Hauptbahnhof19: Der Architekt (v. Gerkan) hatte zwar dem Bauherrn (Deutsche Bahn) im Objektplanervertrag das Recht eingeräumt, „die Pläne und Entwürfe für das vertragsgegenständliche Projekt ganz oder teilweise zu nutzen und zu ändern“20! Aber die DB hatte die vom Architekten vorgesehene Kreuzgewölbedecke genehmigt und damit insoweit auf ihr Änderungsrecht verzichtet. Zudem deckte das grundsätzliche Einverständnis des Architekten mit Planänderungen keine entstellenden Eingriffe. Die erforderliche Interessenabwägung ergibt: Das Kreuzgewölbe war ein das gesamte Gebäude mit prägendes wesentliches Gestaltungselement. Die Mehrkosten betrugen nur ca. 4 Mio Euro (während sich die Kosten des Abbruchs allein der Flachdecke auf 44 Mio Euro beliefen). Die Fertigstellung bis zur FußballWM war nicht so dringend, weil die Fans auch unter der als Provisorium erkennbaren Rohbaudecke zum Stadion gehen konnten. Letzteres war ohnehin deren vordringliches Interesse21! (4)  Mannheimer Loch22: In der städtischen Kunsthalle Mannheim hatte die Holländerin Nathalie Braun Barends vor etwa zehn Jahren in mehreren Geschossdecken übereinander liegende kreisrunde Löcher angebracht, die

  BGH GRUR 2008, 984 St. Gottfried.   LG Hamburg, GRUR 2005, 672. 19   LG Berlin, GRUR 2007, 964. 20   Hervorhebung vom Verfasser. 21   Leider wurde der Rechtsstreit nicht durch ein Urteil, sondern durch einen Vergleich beendet, der einen Verzicht des Architekten auf das Kreuzgewölbe beinhaltete. 22   Bericht von Rüdiger Soldt in FAZ v. 7.2.2015, S. 7 und Alexander Albrecht in RheinNeckar-Zeitung v. 25.4.2015. 17 18

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das von einem Projektor im Erdgeschoss erzeugte Licht nach oben „bis in den Himmel“ strahlen ließ. Beim die völlige Entkernung des zentralen Innenraums umfassenden Umbau der Kunsthalle wollte die Stadt die als „HHole (for Mannheim)“ bezeichneten Löcher beseitigen und auch künftig entfallen lassen. Deren Urheberin widersprach und klagte auf Unterlassung und gegebenenfalls auf Wiederherstellung ihrer Installation. Die Stadt machte demgegenüber geltend, ein Loch sei ein Nichts und an nichts könne kein Urheberrecht bestehen. Gegenständlich erfassbar seien nur die Lochränder, diese aber stünden in ihrem ausschließlichen Sacheigentum. In der Presse wurde daraufhin gefragt, ob das „Loch ohne das Gebäude überhaupt ein Loch“ sei. Diese Frage hat Witz, aber sie ist nur spitzfindig und trifft nicht das rechtlich Entscheidende. Denn ein Kunstwerk lässt sich auch auf einen fremden Gegenstand aufbringen. Es kann auch darin bestehen, dass dieser umgestaltet wird. In welcher Weise und wie weitgehend dies geschieht (Mulde oder Loch, runde, eckige oder mehrfache Öffnung), ist unerheblich. Fraglich ist nur die Gestaltungshöhe, die sich aber, wenn man das „Mannemer Loch“ als Zusammenspiel von Decken, Raum und Licht versteht, vertretbar bejahen lässt. Jedoch war die Stadt als Grundeigentümerin nicht dazu verpflichtet, das ihr Gebäude durchziehende Licht-Loch-Arrangement auf Dauer zu erhalten oder in den Neubau zu übernehmen. Vielmehr hatte sie ein schützenswertes Interesse daran, ihr Gebäude neuen technischen Erfordernissen und Nutzungsplänen anzupassen. Das gilt umso mehr, als zumindest das größte Loch während der Öffnungszeiten auf Verlangen der Baupolizei aus Brandschutzgründen23 durch einen eigens dafür abgestellten Feuerwehrmann bewacht werden musste. Untersagt war der Stadt nur eine Werkverfälschung, die aber nicht vorliegt. Auch als Trägerin einer Kunsthalle war die Stadt (da sie sich nicht gezielt dahin verpflichtet hatte)24 nicht gehalten, einen beträchtlichen Teil ihrer Ausstellungsfläche auf Dauer einem bestimmten Kunstwerk vorzubehalten25. Rücksicht durch Rückgabe des Werkes an die Raumkünstlerin war technisch nicht möglich. Vielmehr war dieser lediglich zu gestatten, die Fortexistenz ihrer Rauminstallation als geistige Schöpfung, wenn auch nur unvollkommen, durch eine fotografische oder sonstige Dokumentation zu sichern.

  Drohende Verqualmung der Räume.   Auf eine dahingehende, aber nicht beweisbare mündliche Zusage berief sich die Klägerin. Im Überlassungsvertrag war das HHole zwar als „permanente Rauminstallation“ bezeichnet worden. Aber das bedeutete lediglich, dass deren Präsentation nicht von vornherein nur auf eine bestimmte Zeit angelegt war. So verpflichtet auch eine „Dauerleihgabe“ nicht dazu, die entliehene Sache auf unbegrenzte Zeit nutzen zu müssen. Vielmehr darf diese vorzeitig zurückgegeben werden. 25   Zu Recht so entschieden vom LG Mannheim, Urteil v. 24.4.2015 – 7 O 18/14. 23 24

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VI.  Grenzen und Missbrauch der Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) Das Grundgesetz erklärt Kunst und Wissenschaft vorbehaltlos für frei. Für die Kunstfreiheit gelten weder die besonderen Schranken des Art. 5 II GG noch die allgemeinen des Art. 2 I Halbs. 2 GG. Anders als die Meinungsfreiheit findet die Kunstfreiheit also nicht schon ihre Grenze in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze (insbes. zum Schutz der persönlichen Ehre).26 Vielmehr hat die Kunstfreiheit nach Ansicht des BVerfG27 lediglich die Grundrechte Dritter und andere verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter zu achten. Dazu zählten insbesondere der Jugendschutz, der seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 6 II 1 GG und Art. 1 I GG i. V. m. Art. 2 I GG hat28, sowie die Freiheit der Religionsausübung. Dementsprechend legt das BVerfG den Kunstbegriff weit aus, und zwar sowohl mittels eines materialen Kunstbegriffs als auch mittels eines formalen Kunstbegriffs. Nach dem materialen Kunstbegriff ist für eine künstlerische Betätigung die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache unmittelbar anschaulich gemacht werden, maßgeblich29. Dagegen genügt nach dem vordringenden formalen Kunstbegriff, dass die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps (vom Straßentheater bis hin zu avantgardistischen Formen künstlerischer Installation oder Interaktion) erfüllt sind30. Jeweils wird die Kunstfreiheit sowohl im Werkbereich des künstlerischen Schaffens als auch im Wirkbereich der Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks gewährleistet31. Beispiele: (1)  Graffiti-Haus32: Die Bauaufsicht darf nicht gegen vom Eigentümer auf seine Haus- und Giebelwände aufgebrachte große Graffiti-Motive (Texte „we want it“, Symbole, Comicfiguren, Porträts usw.) vorgehen, weil sie aus behördlicher Sicht als Blickfang die Sicherheit des Straßenverkehrs sowie das 26  Auch ein Künstler darf daher durch sein Werk niemanden straffrei beleidigen (§ 185 StGB). Aber der Beleidigte darf nur dann die Beseitigung des Werks als der Beleidigungsquelle verlangen (§ 823 II BGB i.V.m. § 185 StGB), wenn die Kränkung das Ausmaß und die Tiefe eines Eingriffs in die Menschenwürde (Art. 1 I GG) erreicht. Nur dann darf der Staat das Werk als Produkt einer Straftat einziehen (§ 74 II Nr. 1 StGB). 27   BVerfGE 81, 278, 292 = NJW 1990, 1982. 28   BVerfGE 83, 130, 139 ff. 29   So BVerfGE 30, Mephisto. 30   So BVerfGE 67, 213, 224 f. 31   BVerfGE 30, 173, 188 f. = NJW 1971, 1645 u. 67, 213, 224 = NJW 1985, 261; BVerfGE 84, 71, 73 f. = NJW 1990, 2011. 32   OVG Koblenz, NJW 1998, 1422.

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psychische Wohlbefinden der Nachbarn und damit den sozialen Frieden der Dorfgemeinschaft gefährden. Der Eigentümer hatte sich demgegenüber darauf berufen, dass er die Kunst als einen wesentlichen Bestandteil auch des Alltagslebens ansehe und diese daher als sozialverträglich hinzunehmen sei. Das Gericht gab ihm insoweit recht33. (2)  Straßenkünstler34: Wer mit Klappstuhl und Staffelei in der Fußgängerzone den Passanten Scherenschnitte von ihrer Silhouette gegen Entgelt anbietet, braucht für diese „Spontankunst“ keine gewerbliche Sondernutzungserlaubnis und verstößt nicht gegen das Ladenschlussgesetz. (3)  Spott- und Hasslied35: Im Abspielen des radikalkritischen von der Hamburger Punkrockgruppe Slime verfassten Liedes „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ liegt keine strafbare Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole i. S. des § 90a StGB. Das Gericht stellte zu Recht einen Wertungsvergleich an zu Heinrich Heine „Die schlesischen Weber“ und dem damals heftig umstrittenen Hamburger Denkmal für das Hanseatische Infanterieregiment Nr. 76 mit der Umschrift „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“. Das Rockerlied war gezielt als Gegenlied dazu verfasst. (4)  Pornografiekunst36: In einer Kunstausstellung wurden zwei Ölgemälde „Der nackte Mann“ (114 × 146 cm) und „Die große Nacht im Eimer“ (180 × 150 cm), jeweils mit erigiertem Penis, gezeigt, was etlichen Besuchern missfiel. Ursprünglich ist die Rechtsprechung davon ausgegangen, dass sich Kunst und Pornografie ausschließen, weil zum Wesen der Kunst die „Übermittlung gedanklicher Inhalte“, die „geistige Auseinandersetzung mit der Welt“ sowie die „Durchgeistigung und Sublimierung“ gehöre. Die Pornografie stelle aber geschlechtliche Vorgänge nur tatsächlich dar. Das Vergeistigungserfordernis wurde dann durch den BGH aufgegeben37, weil es nur auf die formgebundene Äußerung, nicht aber notwendig auf die Übermittlung geistiger Inhalte ankomme. Sonst würden ganze Bereiche der indischen sowie der chinesisch-japanischen Kunst, die als sog. Kopfkissen- und Hochzeitsbücher ausschließlich der sexuellen Stimulierung dienten, aus dem Kunstbegriff herausfallen. Menschliche Geschlechtsorgane sind nicht schon   Die Straßenverkehrsgefährdung wurde, weil das Haus zurückgesetzt lag, verneint.   BVerwGE 84, 71 ff. Hierher gehört auch der vom AG Lübeck (FAZ v. 16.5.2015) entschiedene Tortendesignfall: Die Inhaberin eines Geschäfts für Backzubehör „Sugar Heart“ gestaltete von den Bestellern gelieferte Torten zu den jeweils gewünschten Motivtorten. Gegenüber der Handwerkerkammer berief sie sich, als sie aufgefordert wurde, sich gebührenpflichtig in die Handwerksrolle eintragen zu lassen, mit Erfolg darauf, dass sie kein Konditor, sondern Künstlerin sei. 35   BVerfG, NJW 2001, 596. 36   BGH, NJW 1965, 983. 37   BGHSt 37, 55 ff. = NJW 1990, 3026 Opus Pistorum von Henry Miller. 33 34

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als solche (per se) anstößig. Das ist auch nicht der Geschlechtsakt als solcher. Bei der erotischen Darstellung muss nicht „der sublimierende abstrakte Symbolgehalt vorherrschen“ (so die Vorinstanz). Entscheidend ist allein der eigenschöpferische Gehalt der Darstellung. Diese darf nur nicht obszön (abstoßend, schmutzig) sein. (5)  Nacktauftritt38: Die Stadt Münster erließ zu Recht eine Ordnungsverfügung gegen einen Mann, der ständig seine alltäglichen Verrichtungen wie Einkauf, Fahrradfahren, Anwaltsbesuch) nackt durchführte, dabei zum Teil mit einzelnen, wechselnden Kleidungsstücken (Mütze, rechter oder linker Strumpf). Leitend sei nicht dessen natürliches Verhältnis zur Nacktheit39, sondern das zur Schau gestellte Bedürfnis, anderen Personen den Anblick seines nackten Körpers aufzudrängen. Also handele es sich um keine künstlerische Aktion, da dem bloßen Nacktsein und Nacktauftreten keinerlei schöpferische Ausstrahlungskraft zueigen sei. Vielmehr liege ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne der Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten in der Öffentlichkeit vor, die allgemein als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Lebens angesehen werden.

VII.  Ursprung und gesellschaftlicher Nutzen der Kunst Schlussendlich fragt sich, ob Kunst zum Menschsein gehört und welchen gesellschaftlichen Nutzen Kunst hat. Geht es auch ohne jede Kunst? Kunst ist (wie gezeigt) das Ergebnis eines kreativen Hirnprozesses. Ob es schon Kunst gegeben hat, seit es Menschen gibt, ist fraglich. Jedenfalls findet sich Kunst bereits in uralter Zeit. Musik und Tanz, aber auch Malerei und Skulptur treten schon in der Altsteinzeit hervor. Sie tragen zur Ausgestaltung und Ausstattung von Kulten und Ritualen bei. Mit der Frage, was Kunst ist und wozu sie dient, befassen sich nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern seit langem vor allem auch die Biologie, die Psychologie und die Neurowissenschaft. In der Evolutionstheorie wird schöpferisches Verhalten in der Regel mit einem Selektionsvorteil erklärt. Sich Bemalen und Schmücken ist vorteilhaft bei der Partnerwahl (Zierrat, Mode, Ornamente), Tänze erregen Aufmerksamkeit (Balztanz) oder machen Mut (Kriegstanz). Bestimmte Schrittfolgen und Gesten verleihen Würde und Ansehen (besonders wichtig für Amtsträger), ebenso verzierte Waffen und Amtsinsignien. Die Fähigkeit, Kunst herzustellen, weist nach außen erkennbar auf einen kreativen Geist hin, der

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  OVG Münster, NJW 1997, 1180.   So der Einwand des Mannes.

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offenbar auch andere schwierige Aufgaben zu bewältigen vermag (kluger, gescheiter, einfallsreicher, handwerklich begabter Mensch). Damit empfiehlt er sich als Partner und Amtsträger. Töne und Klänge, Schnitzen und Malen lassen Einsamkeit und Hunger vergessen40 und können so die Überlebensbereitschaft und -fähigkeit stärken (vor allem in der Gefangenschaft). Insofern ist ein menschliches Kunstbedürfnis schon biologisch gegeben. Als allseits benutzte oder bewunderte Kulturgegenstände kann die Gebrauchskunst zudem das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, durch Kunstbesitz soziale Unterschiede verdeutlichen und so menschliche Gemeinschaften strukturieren und stützen. Auf diese Weise entfaltet die Kunst eine soziale Funktion. Ob das Kunstschaffen deshalb ein ausschließlich menschliches Phänomen ist oder ob sich auch Tiere (in den Grenzen ihrer Möglichkeiten) kunstschöpferisch zu betätigen vermögen, steht damit noch nicht unzweifelhaft fest. Die im Zoo von dem Schimpansen Congo erstellten, wie abstrakte Kunst wirkenden Farbkompositionen zeugen von Farb- und Formsinn und stimmen nachdenklich. In der modernen Gesellschaft wirkt die Kunst wie eine gärende Hefe und kritische Masse. Als solche entfaltet sie soziologisch eine belebende Funktion, weil der Künstler der Gesellschaft sein eigenes Weltempfinden und sein eigenes Bild von der Welt entgegenhält, um sie damit anzurühren. Inwieweit freilich der moderne Kunstbetrieb dieser gesellschaftlichen Funktion der Kunst noch gerecht wird, ist zweifelhaft. Vieles, was als moderne Kunst dargeboten wird, erscheint hohl, flach, banal, vor allem hergeholt und gekünstelt. Aber man muss sich auch insoweit vor einem vorschnellen Verriss hüten. Zu Recht stellt der BGH auf das Urteil eines „wohlmeinenden und um Verständnis bemühten Betrachters“ ab. Wohlmeinend in diesem Sinne ist nur ein Mensch, der bereit ist, sich dem gegenüber, was ihm als Kunstwerk entgegentritt, zu öffnen, es zu „lesen“ oder es jedenfalls unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen. Andererseits hat Kunst lediglich so lange Sinn, wie sie menschliches Interesse und damit gesellschaftliche Akzeptanz findet. Gelingt das bestimmten Kunstformen nicht oder nicht mehr, werden sie durch andere künstlerische Ideen verdrängt. Insofern reguliert sich die Kunst gesellschaftlich selbst. Niemand ist genötigt, beliebige „Kunsterzeugnisse“ für eigene Zwecke (etwa in der Werbung oder im eigenen Presseerzeugnis) zu nutzen. Tut das jemand dennoch, so muss er auch das übliche41 oder sonstwie angemessene Entgelt dafür entrichten. Daher besteht keinerlei Anlass zu irgendeinem Kulturpessimismus. Denn letztlich treibt alles im Wechselstrom der Zeit. Das gilt auch für die Kunst. Wesentlich für die menschliche Kultur ist nur, dass der Kunstwille lebt und   Nach Ansicht von Freud können sie sogar den Sexualtrieb zurückdrängen oder veredeln.   Zum Beispiel das für einen Feuilletonartikel übliche Zeilenhonorar.

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sich ungehindert zu entfalten vermag und dass jeder Bürger frei bleibt, ob und inwieweit er sich auf ihm als fragwürdig erscheinende Kunsterzeugnisse einlassen will.

Schluss Das war meine kleine juristische Reise in das schillernd-bunte Land der Kunst. An deren Ende ist man so klug wie zuvor: Was Kunst ist, was sie antreibt und wie man sie erkennt, ist und bleibt ein Geheimnis, unergründlich wie das Wunder des Lebens.

Literaturverzeichnis Pleister/Schild (1988): W. Pleister / W. Schild, Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, (Köln1988), 240 mit Abbildung.

Abkürzungen AG Amtsgericht Art. Artikel BGB Bürgerliches Gesetzbuch Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshof in Strafsachen BGHSt BGHZ Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshof in Zivilsachen BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung GG Grundgesetz GRUR Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht LG Landgericht NJW Neue Juristische Wochenschrift OVG Oberverwaltungsgericht RGZ Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen S. Satz StGB Strafgesetzbuch ZUM Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht

Haftung von Staaten für die Zerstörung und Verschleppung von Kulturgütern Gilbert Gornig I.  Formen der Bedrohung von Kulturgütern Die heutigen Formen der Bedrohung von Kulturgütern1 sind vielschichtig. Neben der Zerstörung in bewaffneten Konflikten oder aus religiösem Wahn, der Verschleppung in und nach kriegerischen Auseinandersetzungen spielen auch Umweltgefahren2, Desintegration3, Diebstahl und Vandalismus eine wesentliche Rolle.4 In den letzten Jahren zerstörten fanatische Islamisten unersetzliche Kulturwerke des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit. Zum Kulturerbe im Bamiyan-Tal gehörten die Überreste der beiden Buddha-Statuen aus dem 5. und 6. Jahrhundert, mit 53 und 38 Metern die größten stehenden Buddha-Statuen der Welt. Nach ihrer gewaltsamen Zerstörung durch die Taliban im März 2001 wurden sie ein Mahnmal gegen religiösen Fanatismus und Intoleranz.5 Man denke aber auch an die Zerstörung unersetzlicher Kulturgüter in Palmyra, wie die Sprengung des dortigen Baal-Tempels.6 Kunstraub im Rahmen kriegerischer Konflikte gab es in allen Perioden der Geschichte der Menschheit. Seit alters her haben siegreiche Truppen Kulturgüter im Feindesland zerstört oder sie von dort als Trophäen mit nach Hause genommen. Massenvernichtungswaffen können in der Regel nicht zielgenau eingesetzt werden und zerstören Städte   Zum Begriff vgl. Gornig (2011a) 11 ff.  Die Umweltverschmutzung in Athen hatte auch schwere Schäden an den antiken Kulturgütern der Stadt zur Folge. Vgl. dazu Gornig (2011b) 389. 3   Es handelt sich um die fehlende Rücksichtnahme auf das Kulturgut durch die umliegende Bebauung. So ist beispielsweise der Kölner Dom im Juli 2004 auf die Rote Liste des Welterbes genommen worden, nachdem die Stadt Köln entschieden hatte, ihre Hochhauspolitik, die den Blick auf den Dom einschränkt, fortzusetzen. Wegen der Waldschlösschenbrücke geriet das Elbtal auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes und verlor drei Jahre später den Welterbetitel. 4   Vgl. Schorlemer, Sabine von, Internationaler Kulturgüterschutz: Ansätze zur Prävention im Frieden sowie im bewaffneten Konflikt, 1992, S. 25. 5   Vgl. dazu Zekri, Sonja, Zwei Löcher, hundert Pläne. Das große Spiel von Bamian: Die Trümmer sind gesichert, nun soll Afghanistan über die Zukunft der zerstörten Buddhas entscheiden, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.11.2005, Nr. 253, S. 11. 6   Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2.9.2015, S. 9; 3.9.2015, S. 13. 1 2

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ohne Rücksicht auf die dort lebende Bevölkerung, aber auch ohne Rücksicht auf kulturelle Werte, die unwiderruflich vernichtet werden. Man denke etwa an die sinnlose Vernichtung Dresdens und vieler anderer deutscher Städte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, aber auch an die Zerstörung der Stadt Dubrovnik im Jugoslawienkrieg durch die Serben 1991 bis 1992, obwohl sie seit dem Jahre 1980 auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO7 steht. In allen Fällen der Verschleppung, Beeinträchtigung und Zerstörung von Kulturgütern stellen sich auch schwierige Haftungsfragen. In diesem Beitrag soll die Haftung für Zerstörung und Verschleppung in Folge eines Krieges im Mittelpunkt stehen.

II. Anspruchsgrundlagen Die Frage der Haftung von Staaten für die Zerstörung oder Verschleppung von Kulturgütern ist nicht in internationalen Übereinkommen geregelt, da die Staatenhaftung bzw. Staatenverantwortlichkeit als solche noch keine völkerrechtlich verbindliche Kodifizierung erfahren hat. Schon im Jahre 1953 wurde die International Law Commission8 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der Ausarbeitung eines Konventionsentwurfs über die Staatenverantwortlichkeit beauftragt9, doch erst im Jahre 2001 kamen die Beratungen zu einem vorläufigen Abschluss10. Der Entwurf wurde als Anlage in eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgenommen. Die Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen haben allerdings nur empfehlenden Charakter. Einige Aspekte des Konventionsentwurfs werden aber unterdessen als Völkergewohnheitsrecht angesehen11, das durch Praxis, also lang andauernde Übung, und Rechtsüberzeugung entsteht. Es steht damit fest, dass nach Völkergewohnheitsrecht die Verletzung völkerrechtlicher Pflichten einen sekundären Haftungsanspruch auslöst.   Gornig (2012a) 33 ff.  Die Völkerrechtskommission (engl. International Law Commission, ILC) ist ein Nebenorgan der UNO und wurde 1947 von der Generalversammlung der UNO zur Weiterentwicklung und Kodifizierung des Völkerrechts eingesetzt. Vorwiegend ist sie mit der Ausarbeitung von Konventionsentwürfen befasst. 9   GA Resolution 799 (VIII) vom 7.12.1953. Request for the Codification of the Principles of International Law Governing State Responsibility. Text: http://daccess-dds-ny. un.org/doc/RESOLUTION/ GEN/NR0/086/64/IMG/NR008664.pdf?OpenElement. 10   GA Resolution 56/83 vom 12.12.2001. Deutscher Text: http://eydner.org/dokumente/ darsiwaev.PDF. 11  So hat der Ständige Internationale Gerichtshof in der Chorzów-Entscheidung bereits 1927 festgestellt: „It is a principle of international law that the breach of an engagement involves an obligation to make reparation in an adequate form“. PCIJ, Chorzów I (Deutschland v. Polen), Urteil vom 26.7.1927, PCIJ Series A No. 17, S. 47 f. 7

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III. Anspruchsinhaber 1.  Passive Deliktsfähigkeit Die Frage, wer auf internationaler Ebene einen solchen Haftungsanspruch geltend machen kann, ist umstritten. Völkerrechtssubjekte sind in erster Linie Staaten und von Staaten getragene internationale Organisationen. Inhaber eines völkerrechtlichen Haftungsanspruchs, also taugliches Objekt einer völkerrechtlichen Verletzungshandlung, kann somit auch nur ein Völkerrechtssubjekt sein. Ein Staat kann allerdings Entschädigungsansprüche nicht vor den Gerichten des anderen Staates geltend machen. Nach Art. 2 Nr. 1 UN-Charta gilt nämlich das Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten, unabhängig von Größe, politischem, militärischem oder wirtschaftlichem Gewicht, so dass der Grundsatz par in parem non habet iudicium12 zur Anwendung kommt. Individuen und juristische Personen hingegen sind grundsätzlich nicht als Völkerrechtssubjekte anerkannt13. Sie können also auch nicht völkerrechtliche Rechte geltend machen. Dies kann nur der Staat, dem diese Individuen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit oder die juristischen Personen aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit angehören14. Das Recht eines Staates, seine Staatsangehörigen gegenüber anderen Völkerrechtssubjekten zu schützen, nennt man diplomatischen Schutz15 und ist Folge der Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht. Diplomatischer Schutz ist aber erst möglich, wenn der Betroffene den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft hat (local remedies rule). Dass es sich beim diplomatischen Schutz um das Recht des Staates und nicht des Einzelnen handelt, hat der Internationale Gerichtshof im MavrommatisKonzessionen-Fall16 klargestellt. Die Tatsache, dass Individuen aus völkerrechtlichen Verträgen, wie den Menschenrechtsabkommen, Rechte ableiten und diese vor internationalen Gerichten durchsetzen können, macht diese nicht zu Völkerrechtssubjekten. Sie werden nur durch staatliches Handeln begünstigt. Gegen die völkerrechtliche Deliktsfähigkeit von Privatpersonen spricht auch, dass diese weder rechtlich noch tatsächlich derartige Ansprüche durchsetzen könnten. Wenn Staaten im Rahmen von Entschädigungs12   Dieser Rechtsgrundsatz entstammt ursprünglich dem Römischen Recht und findet sich bereits bei den antiken Juristen Ulpian (170–223) und Iulius Paulus (3. Jahrhundert) sowie in den unter Justinian I. erstellten Digesten (533). 13   Z. B. von Arnauld (2014), 23 Rn. 64. 14   International Court of Justice, La Grande (Germany v. USA), Urteil vom 27.6.2001, ICJ-Reports 2001, S. 466 § 77. Vgl. auch Art. 42 ff. ILC-Entwurf. 15  Ob der betroffene Staatsangehörige ein subjektives Recht auf die Ausübung des Schutzrechts durch seinen Heimatstaat hat, richtet sich nach dessen innerstaatlichem Recht, in Deutschland nach den Grundrechten. 16   PCJI, The Mavrommatis Palestine Concessions, Urteil vom 30.8.1924, PCJI-Series A No. 2, S. 12.

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abkommen Empfänger von Entschädigungen werden, bleibt es im Ergebnis ihnen überlassen, inwieweit sie die erhaltenen Mittel an die enteigneten Privatpersonen weitergeben. Eine passive Deliktsfähigkeit von Privatpersonen entspricht also nicht dem Stand des Völkerrechts. Eine besondere Problematik ergibt sich für die Entschädigung von Völkern. Völker sind keine Völkerrechtssubjekte im Sinne des Völkerrechts und damit grundsätzlich nicht passiv deliktsfähig. Sie sind aber immerhin Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das ihnen die freie Entscheidung über den politischen Status gibt und auch vor Vertreibung und Vernichtung schützt. Als Träger eines völkerrechtlichen Rechts haben sie auch einen Anspruch auf Wiedergutmachung, wenn das völkerrechtliche Recht verletzt wird. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist aber erst mit dem Inkrafttreten der beiden Menschenrechtspakte 1976 für die Vertragspartner und Ende der achtziger Jahre mit dem Erstarken zu Völkergewohnheitsrecht und ius cogens universell rechtlich verbindlich geworden17. Eine passive Deliktsfähigkeit für Völker bestand also jedenfalls nicht zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Jahre danach bis zur Wende 1990. Da also das jüdische Volk nicht passiv deliktsfähig war und der Staat Israel, der erst am 14. Mai 1948 gegründet wurde, keine Ansprüche geltend machen kann, die vor seiner Existenz entstanden, können für Wiedergutmachungsansprüche des jüdischen Volkes lediglich moralische Erwägungen geltend gemacht werden18. Die Bundesrepublik Deutschland, die als Staat mit dem Deutschen Reich subjektsidentisch19 ist und sich damit für die Wiedergutmachung (anders als die DDR als Teil des fortbestehenden Deutschlands) verantwortlich fühlte, sah sich allerdings nicht nur gegenüber dem Staat Israel, sondern auch gegenüber dem jüdischen Volk zur Entschädigung verpflichtet20. So war die Jewish Restitution Successor Organization Verhandlungspartner und Entschädigungsleistungsempfänger, zumal man den unterdessen kommunistisch und diktatorisch regierten Heimatländern vieler Juden keine Entschädigung zahlen wollte und die Juden zum größten Teil diese Länder verlassen hatten. Die Zahlung an das jüdische Volk war also nicht rechtlich verpflichtend, aber moralisch gerechtfertigt. Soweit heute Haftungsansprüche wegen Verletzung des Selbstbestimmungsrechts bestehen, sind die Völker passivlegitimiert. Allerdings wird es häufig an einer vertrauenswürdigen Organisation fehlen, der man die Entschädigung auszahlen könnte. Auch im Fall von Bevölkerungsaustausch und Vertreibung ist es angebracht, dem vertriebenen Volk seine Kulturgüter, denen eine identitätsstiftende Funktion zukommt, her-

  Vgl. etwa Gornig (1993) 14 ff.   Vgl. Friehe (2015) 47–50. 19  Gornig/Rusu (2006) 78 ff., 100 ff.; Gornig (2007) 14 ff. 20   Féaux de la Croix (1985) 119 ff. 17 18

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auszugeben21. Da ein Volk passiv deliktsfähig sein kann, kann auch ein Volk berechtigt sein, eine Art diplomatischen Schutz für seine Volkszugehörigen auszuüben22. Dies wird allerdings nur dann möglich sein, wenn das Volk über legitime Organe verfügt, die eine geordnete Vertretung nach außen ermöglichen, wie es bei der Jewish Restitution Successor Organization der Fall ist23. 2.  Anspruchsberechtigte Eigentümer der Kulturgüter Nur diejenigen Passivdeliktsfähigen können Ansprüche geltend machen, die Eigentümer der Kulturgüter sind oder die Kulturgüter ihnen zugeordnet werden können. Die Frage der Zuordnung von Kulturgütern ist nur dann relevant, wenn die Eigentumsfrage umstritten ist. Wurde das Objekt trotz fremden Ursprungs rechtmäßig erworben, erfolgte also beispielsweise der ordnungsgemäße Ankauf eines ausländischen Objekts durch ein Museum oder einen Privatmann24, stellt sich die Frage der Zuordnung nicht. a.  Nationale Zuordnung Das Konzept der nationalen Zuordnung von Kulturgütern25, dem vor allem wirtschaftlich arme Länder mit hohem Kulturgutaufkommen anhängen, hat zum Inhalt, dass Kulturgut, welches aus einem Land oder Kulturkreis hervorgeht, grundsätzlich auch in diesem verbleiben soll. Kulturgüter sind aber in der Regel nur schwer einer Nationalität bzw. einem Volk zuzuordnen. Gehört ein von einem Chinesen in den USA zu einem aztekischen Symbol bearbeiteter Bernstein nach China, in die USA, nach Mexiko oder an die Samlandküste? Es stellt sich ferner die Frage, ob auch ausländische Werke als nationale Kulturgüter qualifiziert werden können. So differenziert beispielsweise das deutsche Gesetz zum Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung vom 6. August 195526 nicht nach den Ursprüngen eines Objekts. Es kann also ein in fremden Ländern entstandenes Kunstwerk nationales Kulturgut sein. Die Nofretete und der Pergamon-Altar27 sind   Rusu (2007) 117 ff.   So zutreffend Friehe (2013) 56. 23   Friehe (2013) 56. 24   Vgl. von Schorlemer (1992) 61. 25   Jaeger (1993) 2 f. 26   Dieses Gesetz verpflichtet die Länder, das nationale Erbe vor der Abwanderung zu bewahren. Danach sind Kunstwerke und anderes Kulturgut einschließlich Bibliotheksgut, deren Abwanderung einen wesentlichen Verlust für den deutschen Kulturbesitz bedeuten würde, und Archive, archivalische Sammlungen, Nachlässe und Briefsammlungen mit wesentlicher Bedeutung für die deutsche politische Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in ein „Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes“ bzw. „Verzeichnis wertvoller Archive“ einzutragen. Text: BGBl. 1955 I, 501 ff. 27   Gornig (2000) 61 ff. 21 22

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bekannte Beispiele für die Zuordnungsproblematik28. Ähnlich schwierig gestaltet sich die Umsetzung einer Repatriierung der Kulturgüter. Beispiele hierfür sind die Elgin-Marbles29 und die Nofretete. Schwer lösbare Probleme bestehen, wenn es um die Zuordnung von Kulturgütern aus einer ehemaligen Kolonie30, aus einem von einer Staatensukzession betroffenen Gebiet oder aus einer Region, deren Bevölkerung vertrieben wurde31, geht. Für die Bestimmung der nationalen Zugehörigkeit eines Kulturguts fehlen einheitliche Kriterien. Jedenfalls gehören nur diejenigen Objekte, die die Qualität eines Kulturguts aufweisen und auf besondere Weise mit dem Staat verbunden sind, zum nationalen Kulturerbe. Diese besondere Verbindung mit dem Staat lässt sich aus verschiedenen Faktoren herleiten: Der Bezug zu einem Staat kann bestimmt werden – durch die Person des Künstlers, nämlich dessen Staatsangehörigkeit, dessen Lebensort, dessen aktuellem Aufenthalt, der Dauer des Aufenthalts, – durch den typischen Charakter des Kunstwerks, – dessen Erschaffungsstätte, – aber auch durch die Herkunft des verwendeten Materials32, – durch die Tatsache des Fundes auf dem Territorium des Schutzstaates, etwa bei einer archäologischen Grabung, – durch die Zugehörigkeit zu einer unbeweglichen Sache, – durch den Ursprung oder die Herkunft des Kulturguts (Prinzip des »district d’ origine»)33, – durch das «patrimoine intellectuel»34. Auch in der UNESCO-Konvention über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übertragung von Kulturgut vom 14. November 197035 wird eine besondere Verbindung zu einem Staat gefordert, wenn dieses Kulturgut seinem kulturellen Erbe zugerechnet werden soll. Hier kann die besondere Verbindung (connection test) auf fünffache Weise zustande kommen (Art. 4). Einem Staat gehört Kulturgut, das entweder von Staatsangehörigen eines Staates geschaffen wurde,   Mußgnug (1977) 7 ff.; Gornig (2000) 61 ff.   Dargestellt in: Hugger (1992) 997 ff. 30   Fechner (1991) 101. 31   Rusu (2007) 117 ff. 32   Vgl. Jayme (1991)14 ff.; Jaeger (1993) 11; Jayme (1994) 42 ff.; aufgezählt auch in der UNESCO-Konvention 1970, Art. 4. 33   Es wird festgestellt, dass die auszuliefernden Güter sich auf dem betreffenden Territorium befanden und von dort weggebracht wurden. 34   Nach diesem Prinzip wird als Herkunftsterritorium das Gebiet angese­hen, das – nach Abwägung mit den Interessen der Bewohner des von der Auslieferung betroffe­nen Territoriums – mit dem Kulturgut am engsten verbunden ist. 35   Text: http://www.unesco.de/infothek/dokumente/uebereinkommen/konvention-gegenillegalen-handel-mit-kulturgut.html. 28 29

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oder innerhalb der Grenzen des Staates von ausländischen Staatsangehörigen oder staatenlosen Personen, die innerhalb des Gebiets wohnen, geschaffen wurde (nationaler Schöpfungsakt), Kulturgut, das innerhalb des nationalen Gebiets gefunden wurde (Fund auf nationalem Territorium), Kulturgut, welches mit der Zustimmung der zuständigen Behörden des Ursprungslandes von archäologischen, ethnologischen oder auch naturwissenschaftlichen Missionen erworben wurde (rechtmäßiger Erwerb im Ausland), Kulturgut, das Gegenstand eines vereinbarten kulturellen Austausches war (Austausch), Kulturgut, das als Geschenk empfangen wurde oder mit der Zustimmung der zuständigen Behörde vom Ursprungsland rechtmäßig gekauft wurde (Erwerb im Inland). Diese Kriterien geben allerdings keineswegs eine eindeutige Auskunft über die Zugehörigkeit eines Kulturguts zu einem bestimmten Staat. Haben mehrere Staaten Ansprüche, taucht das Problem auf, dass im Wege der Naturalrestitution nicht allen Staaten das Kulturgut herausgegeben werden kann, zumal Art. 4 UNESCO-Konvention von 1970 keine Rangfolge für die einzelnen Verbindungen erkennen lässt. Art. 17 Abs. 5 UNESCO-Konvention sieht lediglich vor, dass die UNESCO auf Ersuchen von mindestens zwei Parteien des Übereinkommens, zwischen denen eine Streitigkeit über die Durchführung des Übereinkommens entstanden ist, ihre guten Dienste anbietet, um die Kontroverse beizulegen. Eine Lösungsmöglichkeit stellt die Idee der stärksten Verknüpfung (strongest link) dar, die in einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln ist36. b.  Gemeinschaftliches Erbe der Menschheit Wegen der Schwierigkeit der Lösung des Problems der nationalen Zuordnung zeigt das Prinzip des Common Heritage of Mankind einen anderen Weg auf. Nach dem Common Heritage-Prinzip werden Kunst und Kulturgut als das gemeinschaftliche Erbe der Menschheit verstanden und auch Ansprüche hierauf begründet. Diese Ansicht teilen in erster Linie am Kunsthandel Beteiligte, ferner Staaten, die Kulturgut importieren möchten, und Staaten, die in Kolonialzeiten und Kriegszeiten erworbenes Gut nicht herausgeben wollen. Die Zielrichtung des Begriffs bleibt gleichwohl unklar37, auch ist die Entnationalisierung durch Erklärung zum Weltkulturerbe38 nicht ganz unproblematisch. Wenn Kulturgüter zum Erbe der Menschheit gehören, so ist jeder Staat verpflichtet, Kulturgut zu schützen, egal, wem es zugewiesen ist. Von Staaten im Besitz wertvollen fremden Kulturguts wird die Frage des Aufbewahrungsortes des Kulturgegenstandes daher gerne unter Berufung auf das Common Heritage-Prinzip als gegenstandslos hingestellt.   Greenfield (1989) 256; Friehe (2013) 59.   Paech/Stuby (2001) 798. 38   Jayme (1991)13. 36 37

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IV. Anspruchsgegner Der Anspruchsgegner muss die aktive Deliktsfähigkeit besitzen. Darunter versteht man die Fähigkeit, ein völkerrechtliches Delikt zu begehen; diese Fähigkeit besitzen Völkerrechtssubjekte, also in erster Linie die Staaten. Der Staat haftet aber nur, wenn er völkerrechtlich handlungsfähig ist. Diese Handlungsfähigkeit fehlte dem deutschen Staat zwischen 1945 und 194939, als er vollständig der Viermächteverantwortung unterworfen war.

V.  Dem Staat zurechenbares völkerrechtswidriges Verhalten 1. Staat Ein völkerrechtlicher Haftungsanspruch gegen einen Staat besteht aber nur dann, wenn dem Staat ein zurechenbares Verhalten vorgeworfen wird40. Staaten haften für das Verhalten ihrer Organe. Das Verhalten jedes staatlichen Organs wird nach dem Völkerrecht als Handeln dieses Staates betrachtet, unabhängig davon, ob das Organ rechtsetzende, vollziehende, rechtsprechende oder andere Funktionen ausübt41. Liegt die Situation einer Besetzung eines fremden Staates vor, befinden sich die besetzenden Soldaten immer im Dienst und handeln stets als Organ ihres Staates, auch dann, wenn sie Kulturgüter zu privaten Zwecken verschleppen. Auch Handeln ultra vires, also außerhalb der staatlichen Kompetenz, schließt die Zurechenbarkeit nicht aus. So bestand ein deutscher Haftungsanspruch gegen die USA wegen der Mitnahme des Quedlinburger Domschatzes durch einen US-Soldaten, obwohl dieser zur privaten Bereicherung und in Widerspruch zu US-amerikanischen Militärbefehlen gestohlen wurde42. Deutschland als identisch mit dem Deutschen Reich (also nicht Rechtsnachfolger!) haftet demnach auch für ultra vires-Handeln der Wehrmachtssoldaten43. Obwohl das heutige Russland Rechtsnachfolger der untergegan  Gornig (2007) 20 ff.   Art. 2 lit. a i. V. m. Art. 4 ff. ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit. 41   Art. 4 ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit. 42   Am 19.4.1945 besetzten US-amerikanische Truppen Quedlinburg. Bereits im Jahre 1943 waren alle Teile des Domschatzes in eine Höhle unter der Altenburg ausgelagert worden. Die Bewachung der Höhle übernahm nun unter anderem US-Leutnant Joe Tom Meador. Er erkannte die Bedeutung des Schatzes und es gelang ihm, zwölf ausgewählte Stücke (Samuhel-Evangeliar, Wiperti-Evangelistar, Heinrichsschrein und neun kleinere Stücke wie Reliquienkreuze) per Feldpost nach Whitewright in Texas zu versenden. 1980 verstarb der Soldat, seine Erben versuchten die Beutekunst auf dem internationalen Kunstmarkt zu verkaufen. Nach einem langen juristischen Ringen und letztlich einem Vergleich kehrten zehn der Stücke 1992 nach Deutschland zurück; vgl. Heydenreuter (1993); Goßlau (1996). 43   Gornig/Rusu (2006) 78 ff., 100 ff.; Gornig (2007) 14 ff. 39 40

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genen Sowjetunion ist, haftet es für die Verbrechen der Roten Armee, da sich Russland selbst als „Fortsetzerstaat“ begreift44. Letztendlich ist es damit irrelevant, ob man Russland als identisch mit der Sowjetunion oder als Fortsetzerstaat qualifizierte, da jedenfalls in beiden Fällen Russland für den Kulturgüterraub der Sowjetunion Verantwortung trägt. Eine Besonderheit besteht bezüglich Russland aber aufgrund des russischen Beuteschutzgesetzes, mit dem es das Eigentum an den aus Deutschland verschleppten Kulturgütern beansprucht, quasi als Kompensation für eigene Verluste an Kulturgütern durch Einwirkungen der deutschen Wehrmacht (restitution in kind)45. 2. Privatpersonen Für das Handeln von Privatpersonen kann ein Staat grundsätzlich nicht haftbar gemacht werden. So haftet der Irak nicht für die Plünderung des irakischen Nationalmuseums in Bagdad46 während des Golfkrieges. Privatleute nutzten die chaotischen Umstände während und nach den Kämpfen, um sich in den Besitz der Kulturgüter des Museums zu bringen. Ausnahmsweise haftet der Staat aber dann, wenn er eine ihm obliegende Pflicht verletzt hat. Eine solche Pflichtverletzung ist insbesondere dann zu bejahen, wenn Privatpersonen von Staatsorga­nen zu völkerrechtswidrigem Handeln ermutigt, angestiftet oder unterstützt werden47. Staatsorgane haben ferner die erforderliche Sorgfalt48 aufzuwenden, um Schädigungen von vornherein zu verhindern49.

VI.  Verletzung des Völkerrechts 1.  Verschleppung und Zerstörung Die Verschleppung oder Zerstörung fremden Kulturguts muss völkerrechtliche Normen verletzen. Art. 46 Haager Landkriegsordnung (HLKO)50 schützt das Privateigentum und Art. 47 HLKO verankert das Plünderungsverbot. Gemäß Art. 56   Vgl. Willershausen (2002); Gornig/Rusu (2006) 78 ff., 100 ff.; Gornig (2010) 66 f.   Die Theorie der restitution in kind ist zudem völkerrechtswidrig. Vgl. unten X. 46  Im Irakkrieg stürmten Plünderer das Nationalmuseum, sie stahlen mehr als 15.000 Objekte. http://www.sueddeutsche.de/kultur/irak-museum-nur-die-mongolen-warenschlimmer-1.431190 (17.5.2010); Bogdanos (2005) 3. 47   Vgl. Case Concerning United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran, in: ICJReports 1980, 34 f. 48  „due diligence“; vgl. Max Huber in seinem Schiedsspruch vom 1.5.1925 in der , in: RIAA, vol. II, 615 ff. (642, 645). 49   Das Ausmaß der erforderlichen Sorgfalt hängt von den Umständen ab. 50   Text: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/18990009/index.html. 44 45

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Abs. 1 HLKO ist das öffentliche Eigentum an Kulturgütern dem Privateigentum gleichgestellt, so dass auch die Verschleppung von Kulturgütern in öffentlichem Eigentum untersagt ist. Jede Beschlagnahme, jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist gemäß Art. 56 Abs. 2 HLKO untersagt. Art. 4 Abs. 3 S. 1 der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 195451 verbietet ausdrücklich jede Art von Diebstahl, Plünderung oder sonstiger widerrechtlicher Inbesitznahme. Auch die Beschlagnahme ist nach Art. 4 Abs. 3 S. 2 Haager Konvention von 1954 verboten. Darüber hinaus verlangt das Abkommen, derartiges Verhalten zu unterbinden, sodass eine Verletzung auch dann vorliegt, wenn die Besatzungsmacht es unterlässt, gegen private Plünderer vorzugehen. 2. Kriegsbeute Kunstraub im Rahmen kriegerischer Konflikte gab es in allen Perioden der Geschichte der Menschheit. Zu Hause konnten die erbeuteten Kunstgegenstände von den Triumphen der Soldaten und damit von der Leistungsfähigkeit des Souveräns zeugen, gleichzeitig aber auch die Niederlage oder Unterwerfung des Gegners symbolträchtig und auf subtile Art verstärken, besonders wenn es sich um religiöse Gegenstände oder um Reichsinsignien handelte. Die Kunstbeute im Krieg hatte aber auch mythologische und religiöse Wurzeln: durch Wegnahme der am meisten verehrten Gegenstände konnte man den Feind besonders treffen, glaubte man doch, ihm damit den Schutz seiner Gottheiten zu nehmen52. Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte sich jedoch allmählich der Gedanke, geraubte Kunstwerke und andere Kulturgüter den früheren Eigentümern wieder zurückzugeben53. So sah der Westfälische Frieden von 1648 die Rückerstattung von Archiven, literarischen Dokumenten und anderen unbeschädigten beweglichen Gegenständen vor54. Ferner enthielten die Friedensverträge von Oliva 1660, Nijmwegen 1679 und Rykswik 1697 Vorschriften über die Rückgabe entführter Archive55. Die wenigen Vereinbarungen von Restitutionspflichten lassen aber nicht den Schluss zu, dass im 17. Jahrhun  Text: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19540079/index.html.   Vgl. Engstler (1964) 78 f.; Rudolf (1989) 855. 53   Der erste völkerrechtliche Vertrag, der eine solche Resolution vorsah, stammt aus dem 16. Jahrhundert; Cesare Borgia verpflichtete sich in diesem Vertrag, alle aus dem herzoglichen Palast in Urbino entwendeten Gegenstände und Statuen an den Herzog von Urbino zurückzugeben; vgl. Engstler (1964) 86. 54  Vgl. § 110 Instrumentum Pacis Monasteriensis; Art. 16 § 15 Instrumentum Pacis Osnabrugensis. 55   Vgl. Engstler (1964) 88 f. 51 52

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dert das Beuterecht an Kunstwerken völkerrechtlich verboten gewesen wäre. Das Beuterecht war als Erwerbsgrund für das Eigentum an Kulturgütern vielmehr durchweg anerkannt, ebenso wie das Plündern als legitimes Recht der Kriegführenden gebilligt wurde. Im 18. Jahrhundert wurde dann vom Beuterecht weniger Gebrauch gemacht. Im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) plünderte Friedrich der Große nicht Dresden, die Russen plünderten nicht Berlin. Allerdings kannte das 1794 in Kraft getretene und damals als fortschrittlich geltende Preußische Allgemeine Landrecht noch das Beuterecht als eine Form des Eigentumserwerbs56. Kunstwerke waren davon nicht ausgenommen. Auch in den Napoleonischen Kriegen war das Beuterecht an Kunstgütern üblich, wenngleich der in diesem Umfang noch nie dagewesene systematische Kunstraub heftig kritisiert wurde57. Nach dem Sturz Napoleons musste Frankreich einen großen Teil der Kunstbeute an die früheren Eigentümer zurückerstatten58. Diejenigen, die eine solche Restitution von Kunstgegenständen förderten, waren neben den Preußen die Briten, dort insbesondere Außenminister Robert Stewart Castlereagh (Außenminister seit 1812). Schon damals wurde zum Ausdruck gebracht, dass selbst Friedensverträge kein legitimer Rechtstitel für den Erwerb von Kulturgütern seien. In den Vereinigten Staaten entwickelten sich zuerst Regeln zum Kulturgüterschutz: Der Lieber Code, der von Franz Lieber 1863 entworfen wurde, beinhaltete eine völkerrechtliche Dienstvorschrift für die Unionstruppen der Vereinigten Staaten im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865). Bestimmte Objekte, wie klassische Kunstwerke, Bibliotheken, wissenschaftliche Sammlungen oder Präzisionsinstrumente, Kirchengüter oder Museumsstücke, wurden nach Art. 34 als Privateigentum behandelt und damit vom Beuterecht ausgenommen. Die Brüsseler Deklaration von 187459 entwickelte den Gedanken des Art. 34 Lieber Code fort: „Das Eigentum von Kirchengemeinden und Einrichtungen, die der Religion, Wohltätigkeit, Erziehung, Kunst oder der Wissenschaft gewidmet sind“, wird wie Privateigentum behandelt und vom Beuterecht ausgeschlossen. Zudem stand „die Wegnahme, Zerstörung und bewusste Beschädigung von historischen Denkmälern und Werken der Kunst und Wissenschaft im besetzten Gebiet“ (Art. 8) unter Strafe. Trotz aller Bemühungen, den Kulturgüterraub einzudämmen, muss man davon ausgehen, dass die aufgrund des Beuterechts oder eines völkerrechtlichen Vertrages erworbenen Kulturgüter bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu Recht erworben wurden. Das Beuterecht galt somit über Jahrhunderte als ein

  Vgl. § 194 Abs. 1, 9 ALR.   Allerdings hat sich Napoleon bei seiner Sammlung von Kunstwerken nicht allein auf das Beuterecht gestützt, sondern Kunstwerke auch als Kriegskontributionen oder durch Verträge mit seinen unterlegenen Vertragspartnern erlangt; vgl. Engstler (1964) 109 ff. 58   Vgl. zur Restitution von Kulturgütern 1814/15: Vogt (1955) 12 ff. 59   Text: https://www.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/INTRO/135?OpenDocument. 56 57

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Recht der Kriegführenden60. Vielleicht wird dieses Recht eher verständlich, wenn wir uns bewusst machen, dass das Völkerrecht in seiner sog. klassischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vom Recht des Krieges und der Annexion beherrscht wurde. Wenn man ein Land annektieren durfte, so durfte man es erst recht ausplündern. Eine Änderung der Rechtslage trat mit dem Inkrafttreten der Haager Landkriegsordnung ein: In der Haager Landkriegsordnung von 1899/190761, die im Jahre 1910 für Russland und Deutschland in Kraft trat, wurde das Kriegsvölkerrecht kodifiziert und auch zum Kriegsbeuterecht Stellung genommen. Aus den Haager Bestimmungen wird gefolgert, dass die Wegnahme zum Zwecke der Bereicherung, der Kompensation oder Reparation nicht im Sinne des Grundverständnisses des internationalen Kulturgüterschutzes liegen kann. Eine Erniedrigung eines Nachbarvolkes durch die Wegnahme aller Grundlagen des jeweiligen nationalen Kulturerbes sollte ausgeschlossen sein. Kulturgüter können damit nicht wie Artikel der Wirtschaft, des Handels oder der Finanzen beurteilt werden, da es sich bei ihnen in der Regel um Unikate handelt, die nationale Kulturleistungen repräsentieren. Auch in Amerika entwickelten sich die Regeln zum Kulturgüterschutz weiter: Der Roerich-Pakt, der am 15. April 1935 von den Mitgliedstaaten der Panamerikanischen Union unterzeichnet und von zehn amerikanischen Staaten ratifiziert wurde, enthält Regelungen über den Schutz von Museen, künstlerischen und wissenschaftlichen Institutionen, Denkmälern sowie des Personals. Nach Art. 2 und 3 des Paktes mussten Kulturgüter gekennzeichnet werden. Nach Art. 4 und 5 jedoch verloren militärisch genutzte Kulturgüter, wie Gebäude, ihren Schutzanspruch. Zusammen mit dem Roerich-Pakt wurde am 15. April 1935 der Washingtoner Vertrag unterzeichnet, der am 17. Juli 1937 in Kraft trat. Unterzeichner sind ebenfalls die Staaten der Panamerikanischen Union. Der Art. 8 des Abkommens beschäftigt sich mit dem Schutz von beweglichen Kulturgütern im bewaffneten Konflikt62. Nicht nur das Völkervertragsrecht, sondern auch das Völkergewohnheitsrecht enthielt zum Ende des Zweiten Weltkriegs Regeln zum Kulturgüterschutz: Betrachtet man die beiden Elemente des Völkergewohnheitsrechts, die Praxis und Rechtsüberzeugung, so wird deutlich, dass sich die Staaten seit der Haager Landkriegsordnung verpflichtet fühlen, Kulturgut zurückzu­ geben, das im Laufe einer Okkupation mitgenommen wurde63. Die meisten Regierungen verurteilten schon während des Zweiten Weltkriegs Angriffe   Vgl. Jäger (1993) 67 f.   RGBl. 1901, 423 ff./1910, 107 ff. Die auf der Haager Konferenz 1899 von 24 Staaten verabschiedete HLKO übernahm zum Teil wörtlich die Formulierung der Brüsseler Deklaration von 1874. Auf der Haager Konferenz von 1907 wurde diese Regelung von 41 Staaten bestätigt und auf den Seekrieg ausgedehnt. 62   Rudolf (Anm. 1) 858 f. 63   Vgl. Fiedler (1989) 209. 60 61

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auf Kulturgüter und bei den Bombardements der Alliierten wurde zum Teil behauptet, man habe nur militärische Ziele im Auge gehabt64. Der Internationale Militärgerichtshof im Übrigen betrachtete die Regeln des IV. Haager Abkommens, also auch die Haager Landkriegsordnung, für alle Kriegsparteien als gewohnheitsrechtlich verbindlich65. Infolge dieses gewohnheitsrechtlichen Verbots gaben die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs erbeutetes Kulturgut heraus, etwa Kanada die Gobelins aus dem Wawel in Krakau, die USA die Stephanskrone 1978 an Ungarn. Die USA verpflichteten sich bereits 1945, alle geplünderten Kunstgegenstände, die in den USA auftauchen sollten, an die rechtmäßigen Eigentümer zu übergeben mit der Folge, dass eine große Zahl von Kunstwerken den Weg nach Deutschland zurückfand66. Auch die Sowjetunion, die zum Ende des Krieges Kunstwerke, Bücher und Dokumente in großem Umfang abtransportierte67, gab aufgrund mehrerer völkerrechtlicher Verträge mit der DDR Kulturwerke wieder heraus68. Das Verbot der Beschlagnahme gehört zum ius in bello und schützt auch die Staaten, die die Aggression begonnen haben. Art. I Abs. 3 Protokoll zur Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten vom 14. Mai 195469 verpflichtet die Vertragsparteien, bei Beendigung der Feindseligkeiten zur Rückgabe von im Verlauf des bewaffneten Konflikts verbrachten Kulturguts. Gemäß Art. I Abs. 1 des Protokolls trifft die Besatzungsmacht darüber hinaus eine Erhaltungs- und Bewahrungspflicht für die sich auf dem von ihr besetzten Gebiet befindlichen Kulturgüter. Das Erste Genfer Zusatzprotokoll vom 8. Juni 197770 regelt in Art. 35 in umfassender Weise die Instrumente der Kriegsführung, wonach in einem bewaffneten Konflikt die Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegsführung haben. Nach Art. 52 Abs. 1 dürfen zivile Objekte weder angegriffen noch zum Gegenstand von Repressalien gemacht werden. Nach Absatz 3 wird vermutet, dass ein in der Regel für zivile Zwecke bestimmtes Objekt, wie beispielsweise eine Kultstätte, nicht dazu verwendet wird, zu militärischen Handlungen beizutragen. Art. 53 schließlich untersagt, feindselige Handlungen gegen geschichtliche Denkmäler, Kunstwerke oder Kultstätten zu begehen, die zum kulturellen oder geistigen Erbe der Völ-

  Vgl. auch von Schorlemer (1992) 299.  Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14.11.1945 bis 1.10.1946, Bd. 1, 1947, 237; vgl. auch von Schorlemer (1992) 27; Fiedler (1989) 206 ff. 66   Vgl. Engstler (1964) 169 f. 67  Vgl. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.), Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland. Die Verluste der öffentlichen Kunstsammlungen in Mittelund Ostdeutschland, 1943/1946 (1954). 68   Vgl. Engstler (1964) 171 ff. 69   Hinz/Rauch (1984) Nr. 1512. 70   Hinz/Rauch (1984) Nr. 1570. 64 65

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ker gehören, solche Objekte zur Unterstützung des militärischen Einsatzes zu verwenden oder zum Gegenstand von Repressalien zu machen. Art. 85 Abs. 4d stellt derartige Verletzungen unter Strafe. Das Zweite Genfer Zusatzprotokoll vom 8. Juni 197771 enthält eine Verpflichtung zum Schutz der Kulturgüter in Art. 16.

VII. Rechtfertigung Die Rechtswidrigkeit und damit die Haftung können durch Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen sein. Die wichtigsten Rechtfertigungsgründe im Völkerrecht sind die Einwilligung des verletzten Staates, die individuelle und kollektive Selbstverteidigung, die rechtmäßige Kriegsmaßnahme, die höhere Gewalt, das Notrecht und der Repressaliencharakter der schädigenden Handlung. Unter einer Repressalie, die allein hier relevant sein kann, versteht man ein vom Völkerrecht zugelassenes Mittel der Selbsthilfe, kraft dessen eine von einem Völkerrechtssubjekt begangene Völkerrechtsverletzung mit Maßnahmen beantwortet werden darf, die an sich ebenfalls völkerrechtswidrig wären. Die Maßnahmen sind aber wegen des Repressaliencharakters gerechtfertigt. Der Repressalie muss eine erfolglose Forderung auf Wiedergutmachung des vom Gegner gesetzten Unrechts vorausgehen. Sie muss eingestellt werden, sobald die Verletzung aufhört oder Wiedergutmachung geleistet wor­den ist, darf nicht in Güter eingreifen, die durch ius cogens geschützt sind, und muss den Grund­satz der Verhältnismäßigkeit beachten. Gegen Kulturgüter sind aber Repressalien unzulässig, wie es Art. 4 Abs. 4 Haager Konvention von 1954 bestimmt. Aber selbst wenn man das Repressalienrecht anwenden wollte, wäre zu beachten, dass die Repressalie nur darauf gerichtet sein darf, den damit belegten Staat zur Rückkehr zum völkerrechtsgemäßen Verhalten anzuhalten. Die Verschleppung deutschen Kulturguts während der Besatzungszeit durch die Russen erfolgte aber zu einem Zeitpunkt, als das Deutsche Reich durch die bedingungslose Kapitulation handlungsunfähig geworden war und das Reich völkerrechtswidriges Verhalten längst eingestellt hatte. Das Argument der Sowjetunion, man hätte die Kunstschätze beseitigt, um sie vor den Kriegseinwirkungen zu schützen, trifft nicht zu, da unterdessen längst bekannt ist, dass der Abtransport durch die Sowjetunion erst nach dem Ende der kriegerischen Aktionen erfolgte, also zu einem Zeitpunkt, als die betreffenden Kunstobjekte nicht mehr in Gefahr waren, zerstört zu werden. Motivation für die umfangreichen Verschleppungen deutscher Kulturgüter durch die sog. Trophäen-Kommissionen, die aufgrund der ausdrücklichen Befehle

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  Hinz/Rauch (1984) Nr. 1575.

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Joseph Stalins und der Militärspitze handelten, war die Errichtung eines gigantischen Beutemuseums in Moskau, das an Größe und Umfang sowohl den Louvre als auch den Prado übertreffen sollte.

VIII. Verschulden Bei der Verschleppung und Zerstörung kommt es auf ein Verschulden nicht an, da sich im Völkerrecht die Erfolgshaftung durchgesetzt hat. Zudem wäre ein Verschulden bei Verschleppung jedenfalls zu bejahen.

IX. Rechtsfolge Der Anspruchsgegner und Schädiger ist in erster Linie zur Naturalrestitution verpflichtet. Er muss also denjenigen Zustand wiederherstellen, der vor der Völkerrechtsverletzung bestand. Ist jedoch eine Restitution nicht mehr möglich, weil das Kulturgut zerstört wurde, ist der Haftungsanspruch auf Schadensersatz in Geld gerichtet.

X. Kompensation Bezüglich zerstörter und verschollener Kulturgüter, die sich nicht neu herstellen lassen, wird im Völkerrecht eine besondere Form der Ersatzleistung diskutiert, nämlich die kompensatorische Restitution oder restitution in kind, also das Überlassen eines gleichartigen und gleichwertigen Stückes aus den eigenen Kunstgegenständen als Ersatz. Schon nach den Napoleonischen Kriegen ließ sich der Gedanke nachweisen, dass verlorene Kulturgüter durch andere Kulturgüter ersetzt werden könnten. Nach dem Vorschlag von Preußen sollte Frankreich die manessische Liederhandschrift72 sowie die aus der Villa Albani in Rom stammenden Winkelmann-Manuskripte im Gegenzug zum Verzicht für noch in Frankreich befindliches geraubtes Kulturgut herausgeben. Dieser Vorschlag stieß aber auf russischen Widerstand73. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland 72  Der Codex Manesse (auch Manessische Liederhandschrift oder Manessische Handschrift oder auch als Große Heidelberger Liederhandschrift oder Pariser Handschrift bezeichnet) ist die berühmteste deutsche Liederhandschrift des Mittelalters. Erst seit 1888 wird sie wieder in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt (Signatur: UB Heidelberg, Cod. Pal. Germ. bzw. cpg 848). Der Kodex enthält auf 425 großformatigen Pergamentblättern in 38 Lagen 140 Gedichtsammlungen, die von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis etwa 1300 zu datieren sind. 73   Engstler (1964) 104 f.; Friehe (2013) 78.

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durch Art. 247 Versailler Vertrag74 vom 28. Juni 1919 verpflichtet, der Universität Löwen innerhalb von drei Monaten nach der ihm durch Vermittlung der Wiedergutmachungskommission zugehenden Aufforderung Handschriften, Inkunabeln, gedruckte Bücher, Karten und Sammlungsgegenstände in gleicher Zahl und in gleichem Werte zu liefern, wie sie durch den von Deutschland an die Bibliothek von Löwen angelegten Brand zerstört wurden. Das Völkerrecht nach dem Zweiten Weltkrieg lehnt aber den Gedanken der restitution in kind im Zusammenhang mit Kulturgütern ab. Von den Hauptsiegermächten befürwortete allein Frankreich die Verwendung von deutschen Kulturgütern generell zu Reparationszwecken und ein weitgehendes restitution-in-kind-Programm.75 Daneben haben einige kleinere europäische Staaten nach Kriegsende eine weitgehende restitution in kind-Lösung angestrebt. In einer Resolution zu Fragen der Restitution, die dem „Pariser Abkommen“ über die deutschen Reparationen76, die Errichtung einer interalliierten Reparationsagentur und die Rückerstattung von Münzgold beigefügt ist, heißt es, dass „objects (...) of an artistic historical, scientific, educational or religious character which have been louded by the enemy occupying power shall, so far as possible, be replaced by equivalent objects if they are not restored“77. Von den an der Pariser Konferenz teilnehmenden Staaten haben die USA, Australien, Kanada, Ägypten, das Vereinigte Königreich, Norwegen, Neuseeland und Südafrika die Resolution nicht mit verabschiedet und somit ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass eine kompensatorische Restitution nicht in Betracht kommt. Durch die Praxis des Alliierten Kontrollrats wurde eine solche generelle restitution in kind auch nie gedeckt. Vielmehr haben sich insbesondere die USA und das Vereinigte Königreich ausdrücklich dagegen ausgesprochen. So haben auch die Vereinigten Staaten nach 1945 erkannt, dass Hitlers Verbrechen nicht durch eine Konfiszierung deutscher Kulturgüter und Kunstwerke kompensiert werden könne78. Sogar die Sowjetunion hat sich im Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 9. November 199079 mit Deutschland damit einverstanden erklärt, „daß verschollene oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze, die sich auf ihrem Territorium befinden, an den Eigentümer oder seinen Rechtsnachfolger zurückgegeben werden“ (Art. 16). In einem   RGBl. 1919, 687 ff.   Vgl. Turner (1991) 123. 76   Das Pariser Reparationsabkommen wurde auf der Konferenz am 14.1.1946 zur Aufteilung von Reparationsansprüchen gegen das Deutsche Reich nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossen. Es wurde von der Sowjetunion boykottiert. 77   Fiedler (1991) Annex 284 f. 78   Vgl. Turner (1991) 119 ff. So nahmen auch US-amerikanische Kunstschutzoffiziere am 7.11.1945 von Wiesbaden aus gegen den Abtransport deutscher Kulturgüter in die USA Stellung. 79   Text: BGBl. 1991 II, 799 ff. 74 75

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Abkommen über kulturelle Zusammenarbeit vom Dezember 1992 wird diese Verpflichtung von Russland als „Fortsetzerstaat“ wiederholt. Aber auch wenn es zwischen den Alliierten zu einer solchen Regelung der restitution in kind gekommen wäre, wäre diese für die Bundesrepublik Deutschland res inter alios acta, weil ohne Mitwirkung des betroffenen Staates über dessen völkerrechtlich geschützte Rechtspositionen von dritten Staaten nicht verfügt werden darf. Gemäß Art. 6 Beutekunstgesetz der Russischen Föderation beansprucht Russland gleichwohl völkerrechtswidrig das Eigentum an den sich in ihrem Besitz befindlichen aus Deutschland verschleppten Kulturgütern. Diese lagern heute noch in großer Zahl in geheimen Depots, in den Kellern einiger berühmter russischer Museen, ohne der Öffentlichkeit zugänglich zu sein80. Ein beträchtlicher Teil dieser Kunstwerke wurde allerdings in den 50-er und 60-er Jahren an die frühere Deutsche Demokratische Republik zurückgeführt, wie der Pergamon-Altar, die Gemälde der Dresdener Galerie und Raffaels Sixtinische Madonna. Das Zentralkomitee der KPdSU rechtfertigte die Rückgabe dieser Kulturgüter mit der „großen Bedeutung dieser Kostbarkeiten für die Geschichte der Nationalkultur Deutschlands“ (Dokument Nr. 2, 1958, S. 1)81. Anlässlich der Konferenz zwischen der Russländischen Föderation und der Bundesrepublik Deutschland im Juni 1994 forderte Deutschland aber, dass weitere 200.000 Kunstobjekte, zwei Millionen Bücher und drei Kilometer Archiv-Material nach Deutschland in die entsprechenden Museen, Bibliotheken, Archive und Sammlungen zurückgebracht werden sollten82. Die Menge der tatsächlich in Russland lagernden deutschen Kulturgüter wird aber noch weitaus höher geschätzt. Es handelt sich bei den genannten Zahlen um Angaben, die auf sowjetischen Dokumenten beruhen. Das Zentralkomitee der KPdSU sprach während der Rückführungsverhandlungen mit der DDR von 2.614.874 „Gegenständen der Kunst und Kultur, die sich in der UdSSR befinden“. Unter den Kulturgegenständen finden sich bedeutende Bestände der Berliner Museen, der Goldschatz von Eberswalde83, zwei Gutenberg-Bibeln, die wertvollen Bücher der Gothaer Sammlung, Bestände der Bremer Kunsthalle, der Nachlass Wilhelm von Humboldts sowie viele nicht der deutschen Kultur zurechenbare Kulturgüter, wie der Schatz des Priamos, auf die auch andere Ansprüche geltend machen. Es handelt sich um vielfach unersetzbare Teile historischer und kultureller Leistungen, mit denen Russland in der Lage wäre, die deutsche Geschichte   Zu den Problemen mit Polen vgl. Gornig ( 2013) 67 ff.; ders. (2012) 226 ff.   Vgl. hierzu Akinscha/Koslow/Toussaint (1995) 41 ff. 82   Protokoll der 2. Sitzung der gemeinsamen deutsch-russischen Kommission zur beiderseitigen Rückführung von Kulturgütern vom 30.6.1994. Punkt 4, Text: Fiedler (1995) 45 f. 83   In Finow bei Eberswalde kam 1913 einer der bedeutendsten vorgeschichtlichen Goldfunde Deutschlands zutage; verzierte Trinkschalen, Hals-, Arm- und Haarschmuck sowie Goldbarren. Der Fund stammt aus der Bronzezeit; er ging 1945 im Berliner Zoobunker verloren. 80 81

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in allen Phasen ihrer Entwicklung zu repräsentieren84. Diese Kriegsbeute ist zurzeit auch Teil des illegalen Kunsthandels auf der Welt und trägt dazu bei, Russland Devisen zu verschaffen85. Zwar ist die Enteignung im Völkerrecht unter gewissen Voraussetzungen erlaubt. Ganz abgesehen davon, dass es an einer vom Völkerrecht geforderten prompten, adäquaten und effektiven Entschädigung fehlt, umgeht eine Enteignung von verschlepptem Kulturgut die Normen des Kulturgüterschutzes. Russland ist somit völkerrechtlich verpflichtet, die aus Deutschland abtransportierten Kulturgüter zurückzugeben, auch trotz der großen Schuld, die Deutschland im Zweiten Weltkrieg auf sich geladen hat. Es ist nicht ersichtlich, warum deutsche Kulturgüter aus den vergangenen Jahrhunderten geeignet sein sollen, russische Kriegsverluste in angemessener Weise auszugleichen. Der Verlust an eigener kultureller Identität kann nicht dadurch ausgeglichen werden, dass die Kulturgüter eines anderen Staates oder eines fremden Volkes die aufgetretenen Verluste auffangen86.

XI. Zurückbehaltungsrecht Unter Umständen können die Staaten, die Ansprüche auf Herausgabe entführter Kunstgegenstände haben, ein Zurückbehaltungsrecht geltend machen, wenn auch ihnen gegenüber Forderungen nach Rückgabe von Kulturgütern erhoben werden. Die Siegermächte hatten zunächst Anspruch auf Restitution, also auf Rückgabe der von Deutschland aus ihren Ländern abtransportierten Kulturgüter und Beseitigung von Kriegsschäden durch die Wiederherstellung des früheren Zustands. Die Nationalsozialisten nahmen aus den von ihnen okkupierten Territorien die Kunstwerke mit und brachten sie nach Deutschland87. Vor allem die Aktivitäten des „Einsatzstabes Rosenberg“ und die SS-Organisation „Ahnenerbe“ kennzeichneten das Vorgehen der deutschen Sondereinheiten in Osteuropa. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse schildern das Vorgehen der entsprechenden Einsatzgruppen in aller Deutlichkeit88. Hitler wollte ein gigantisches Beutemuseum in Linz errichten. Hinzu kommt, dass in vielen Staaten Kulturgüter auch durch die Kriegsereignisse zerstört wurden. Soweit also in Deutschland noch Kulturgüter vorhanden sein sollten, die Russland gehören, könnte der russische Staat sie mit vollem

  Vgl. auch Turner (1991) 109 ff., 125 ff.   Vgl. Siehr (1993) 9 Anm. 301. Zu den Problemen mit Polen vgl. Gornig (2013) 93 ff. 86   Fiedler (1996) 170. 87   Vgl. Eichwede/Hartung (1998) 225 ff. 88  Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14.11.1945 bis 1.10.1946, Bd. 1, 1947, 59 ff., 267 ff. 84 85

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Recht zurückfordern und notfalls Deutschland gehörende Kulturgüter so lange zurückbehalten, bis sie zurückgegeben werden. In der Londoner Erklärung vom 5. Januar 194389, die sich gegen Verschleppung und Erwerb von Kulturgut aus den von Deutschland besetzten Gebieten richtete, behielten sich die Alliierten vor, alle Transaktionen von Kulturgütern im Herrschaftsbereich der Achsenmächte für nichtig zu erklären. Infolgedessen organisierte der Alliierte Kontrollrat die Sammlung und Restitution der Kunstwerke, die von den deutschen Sondereinheiten nach Deutschland gebracht worden waren. Auf diese Weise wurden über tausend Depots der Nationalsozialisten aufgelöst, in denen die geraubten Kunstschätze versteckt waren. Sie wurden in vier zentralen Sammelpunkten der West-Alliierten zusammengetragen und in ihre Herkunftsländer zurücktransportiert90. So wurden Hunderttausende von Kunstwerken in die Sowjetunion zurückbefördert, ohne dass ihre Rückgabe nochmals mühsam verhandelt werden musste. Es befinden sich daher zurzeit keine nennenswerten russischen Kunstwerke mehr in Deutschland. Allerdings ist unklar, ob die von den Deutschen geplünderten bzw. weggenommenen Kunstwerke von der Sowjetunion wieder an ihren Herkunftsort zurückgebracht wurden. Es ist nicht auszuschließen, dass etwa geraubte ukrainische oder weißrussische Kulturgüter in andere Teile der Sowjetunion gebracht wurden. Diese Ungewissheiten müssten in völkerrechtlichen Verträgen zwischen diesen Staaten und Russland ausgehandelt werden. Den Schlussstrich unter dieses Kapitel setzte das Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes von 23. Oktober 195491. Die weggenommenen Gegenstände konnten bis zum 8. Mai 1956 herausverlangt werden. Nach diesem Termin waren aber privatrechtliche Ansprüche nicht ausgeschlossen. Da Russland also keine Ansprüche mehr gegenüber Deutschland hat, besteht auch kein Zurückbehaltungsrecht bezüglich der von der Sowjetunion verschleppten deutschen Kulturgüter. Aber auch wenn Russland noch Ansprüche hätte, stünde Russland kein Zurückbehaltungsrecht zu, da kein Anspruch auf kompensatorische Restitution besteht92.

XII. Ergebnis Staaten haften völkerrechtlich für die durch ihre Organe erfolgende Zerstörung und Verschleppung von Kulturgütern. Sie haften auch dann, wenn 89   Alliierte Erklärung über die in den vom Feind besetzten oder unter seiner Kontrolle stehenden Gebieten begangenen Enteignungshandlungen: Text: Fiedler (1991) 282 f. 90   Vgl. hierzu Kurtz (1958) 163; Engstler (1964) 149 f.; Friemuth (1995) 7. 91   BGBl. 1955 II, 213. 92   So richtig Friehe (2013) 81.

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sie infolge fehlender erforderlicher Sorgfalt Vandalismus von Privatpersonen nicht verhindert haben. Die Kulturgegenstände müssen zurückgegeben werden. Wenn dies wegen Zerstörung nicht mehr möglich ist, ist Schadensersatz zu leisten. Eine kompensatorische Restitution ist völkerrechtswidrig.

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„Neoliberalismus“ und Wettbewerbsrecht Michael Kling A. Einleitung I.  Die Fragestellung Der vorliegende Beitrag1 ist der Frage gewidmet, ob und inwieweit die „neoliberalen“ Wettbewerbstheorien – namentlich die neoklassischen Lehren der Ordoliberalen – für das heutige Wettbewerbsrecht und insbesondere für die Lösung konkreter Fälle noch Bedeutung haben. Unstreitig waren die Lehren der führenden ordoliberalen Denker für die Schaffung des modernen Wettbewerbsrechts in den 1950er Jahren prägend. Sowohl die Entwurfsverfasser des deutschen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957 als auch die mit der Schaffung des EWG-Vertrags von 1957 mit den Europäischen Wettbewerbsregeln betrauten Personen konnten auf ein breites und tiefes wettbewerbstheoretisches Fundament aufbauen, welches zum Teil noch aus der Vorkriegszeit stammte2. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien als Vertreter des Ordoliberalismus genannt: Franz Böhm (1895–1977), Walter Eucken (1891–1950)3, Leonhard Miksch (1901–1950)4, Alfred MüllerArmack (1901–1978)5, Wilhelm Röpke (1899–1966)6 und Alexander Rüstow (1885–1963)7. Was genau diese Lehren – bei allen Unterschieden im Detail, die das Denken der genannten Wissenschaftler auszeichnet – im Kern bedeuten, wird 1   Der vorliegende Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verf. am 21. April 2015 vor der Marburger Gelehrten-Gesellschaft gehalten hat. 2   Die Einzelheiten können hier nicht nachgezeichnet werden; siehe dazu Kling (2015) 1 ff. 3   Siehe zu Euckens ordoliberaler Theorie die treffende Charakterisierung bei Hentschel (1996) 62: „Der Ordoliberalismus war, namentlich in den Schriften Walter Euckens, ein Entwurf von bezwingender Systematik und grandioser Gedankenstrenge und Geschlossenheit, bedeutend ohne Zweifel und doch zugleich abseitig in der Tradition des ökonomischen Denkens, der Geschichte mehr als der formalen Theorie verpflichtet, heikel in der Beweisführung, dogmatisch im Anspruch, sehr deutsch.“ 4   Vgl. zu Mikschs ordoliberalen Vorstellungen Hentschel (1996) 60. 5   Vgl. zu Müller-Armacks ordoliberalen Vorstellungen Hentschel (1996) 83. 6   Zum engen Verhältnis zwischen Wilhelm Röpke und Ludwig Erhard siehe Hentschel (1996) 64 ff. 7   Zu den Phasen ordoliberaler Theoriebildung siehe eingehend Ptak (2004) 21 ff., 57 ff.

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sogleich unter B. erörtert. Eines aber soll klarstellend vorausgeschickt werden: Mit einem kaltherzigen „Manchesterkapitalismus“ haben sie nichts zu tun, denn: „Neoliberale sind im Grunde Menschenfreunde“8. II.  Begriffsklärung – Was bedeutet der Ausdruck „Wettbewerbsrecht“? Vorab soll zum besseren Verständnis kurz aufgezeigt werden, was es mit dem Begriff „Wettbewerbsrecht“ auf sich hat. Unter dieser Bezeichnung werden nach dem deutschen Rechtsverständnis eigentlich zwei verschiedene Rechtsmaterien erfasst, nämlich einerseits das Kartellrecht des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und andererseits das Lauterkeitsrecht des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb (UWG). Auf der europäischen Ebene spricht man vom „Wettbewerbsrecht“ oder von den „Wettbewerbsregeln des Vertrags“ (scil. des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union), wenn man die Bestimmungen der Artikel 101 bis 109 AEUV, mindestens aber die Artikel 101 und 102 AEUV, in Bezug nimmt. Im Folgenden werde ich ausschließlich kartellrechtliche Fragestellungen behandeln. Das Schlagwort „Kartellrecht“, das eigentlich eine unzulässige begriffliche Verkürzung enthält, betrifft im Kern die folgenden drei Materien: – Zunächst gibt es sowohl auf der europäischen wie auf der nationalen Ebene Kartellverbote. Diese sind in Art. 101 AEUV und in § 1 GWB geregelt und seit 1957 weitgehend unverändert geblieben. Die genannten Vorschriften verbieten Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen sowie Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen, die den Wettbewerb beschränken. Diese Verbotsregelungen sind mit einer Nichtigkeitsanordnung verknüpft (ausdrücklich geregelt in Art. 101 Abs. 2 AEUV, siehe i. Ü. § 134 BGB), die dazu führt, dass die als Wettbewerbsbeschränkungen qualifizierten Vereinbarungen etc. keinerlei Rechtswirkungen entfalten. Ausnahmen von diesem Verbot sind nur unter engen Voraussetzungen zulässig, namentlich dann, wenn die betreffenden Vereinbarungen für den Wettbewerb günstige Wirkungen entfalten, die größer sind als die mit ihnen verbundenen Nachteile. Man spricht in diesen Fällen davon, dass sog. „Effizienzvorteile“ erzielt werden. Als praktisches Beispiel können Vertriebsvereinbarungen zwischen einem Automobilhersteller und seinen Händlern dienen, die zwar typischerweise verschiedene vertikale Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, aber unter bestimmten Voraussetzungen ipso iure vom Kartellverbot freigestellt sind. Der Grund dafür ist relativ einfach: Ein flächendeckendes Netz von Vertriebshändlern verstärkt den Wettbe  Straubhaar (2015).

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werb zwischen den Autoherstellern (die Wettbewerbsrechtler sprechen von „Inter-brand-Wettbewerb“) und entfalten offensichtlich auch positive Wirkungen für den Endverbraucher, der „seinen“ Vertragshändler in der Nähe findet, was als Effizienzvorteil zu bewerten ist. Die Einzelheiten zu den Ausnahmen vom Kartellverbot regelt für die meisten Arten von Vertikalverträgen eine europäische Verordnung, die Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 330/2010, die schlagwortartig als Vertikal-GVO bezeichnet wird. – Sodann existieren – und zwar wiederum auf der europäischen wie auf der nationalen Ebene – verschiedene kartellrechtliche Bestimmungen, die sich gegen missbräuchliche Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen richten (siehe v.a. Art. 102 AEUV und § 19 GWB). Diese Missbrauchsverbote sind seit ihrer erstmaligen Aufnahme in das Gesetz bzw. in den EWG-Vertrag in der Sache ebenfalls unverändert geblieben. Das deutsche Missbrauchsverbot wurde allerdings durch die 6. GWB-Novelle von 1998 an die europäische Regelung angepasst und seinerzeit zu einer unmittelbaren Verbotsregel umgestaltet. Inhaltlich geht es um einseitige Maßnahmen marktbeherrschender Unternehmen, die solchen Unternehmen als missbräuchliche Verhaltensweisen verboten sind. Hintergrund der Missbrauchsverbote ist die besondere Verantwortung für den sog. „Restwettbewerb“, welche die marktbeherrschenden Unternehmen tragen. Solche Unternehmen sind nämlich aufgrund ihrer Marktmacht dazu in der Lage, sich gegenüber ihren Konkurrenten und den Verbrauchern weitgehend unabhängig zu verhalten, was z. B. zu Versuchen führen kann, den Markt zu Lasten der Wettbewerber zu verschließen. Der Europäische Gerichtshof vermutet die Marktmacht bei einem Marktanteil von 50 % auf dem relevanten Markt; unterhalb dieser Vermutungsregel kann Marktbeherrschung ab einem Marktanteil von etwa 40 % vorliegen. Es kann übrigens vorkommen, dass sowohl das Kartellverbot als auch das Missbrauchsverbot auf einen konkreten Fall Anwendung findet, z. B. dann, wenn eine langfristige Ausschließlichkeitsbindung (also eine zweiseitige vertragliche Regelung) und eine Rabattregelung (also eine einseitige Maßnahme des marktbeherrschenden Unternehmens) zusammentreffen. Der Europäische Gerichtshof hat Fallgestaltungen dieser Art schon mehrfach zu beurteilen gehabt. – Eine dritte Materie, welche in einem weiteren Sinn zum Kartellrecht zu rechnen ist, ist die Fusionskontrolle bzw. Zusammenschlusskontrolle, die ebenfalls auf europäischer wie auf nationaler Ebene geregelt ist (in Deutschland seit der 2. GWB-Novelle von 1973, siehe §§ 35 ff. GWB; in Europa seit 1990, d. h. seit der VO Nr. 4064/89 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, welche inzwischen durch die VO Nr. 139/2004 ersetzt worden ist, kurz: FKVO). Hier geht es um die Kontrolle des sog. externen Unternehmenswachstums. Unternehmenszusammenschlüsse von zwei zuvor selbständigen Unternehmen, die zu einer erheblichen Behin-

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derung des Wettbewerbs bzw. zur Entstehung von Marktmacht führen, können von den Kartellbehörden aus Gründen des Wettbewerbsschutzes untersagt werden. Sämtlichen der o. g. Teilregelungen des Kartellrechts ist gemeinsam, dass sie den „Wettbewerb als solchen“ und die Handlungsfreiheit der Wettbewerber (d. h. von konkurrierenden Unternehmen) schützen. Das Kartellrecht ist in rechtsdogmatischer Hinsicht keine Verbraucherschutzmaterie, wie es etwa erhebliche Teile des BGB – die umgesetztes europäisches Verbraucherschutzrecht enthalten – sind. Gleichwohl behält das Kartellrecht die positiven und negativen Auswirkungen auf die Verbraucher immer im Blick. Man kann diesbezüglich von einem Rechtsreflex sprechen: Indem der Wettbewerb als solcher und die Wettbewerber vor Beschränkungen des Wettbewerbs geschützt werden, kommt es auf Seiten der Verbraucher zu gewollten günstigen Wirkungen (scil. niedrige Verbraucherpreise, bessere Produktqualität, höheres Maß an Innovation, etc.). Im US-amerikanischen Kartellrecht liegt die Sache etwas anders. Dort rechtfertigt man das Kartellrecht als ein Mittel zur Herstellung oder Erhaltung der Konsumentenoder Verbraucherwohlfahrt (engl. consumer welfare). Der Wettbewerb als solcher ist nach diesem Verständnis nur eine Art notwendiges Zwischenziel zur Erreichung des Endziels der Konsumentenwohlfahrt. In der Praxis führen die unterschiedlichen Ansätze diesseits und jenseits des Atlantiks nicht zu wesentlich unterschiedlichen Ergebnissen, so dass die Unterschiede in der wettbewerbstheoretischen Konzeption im Folgenden außer Betracht bleiben können.

B.  Wesensmerkmale ordoliberaler Wettbewerbstheorien I.  Bekenntnis zur Marktwirtschaft Bei den ordoliberalen Wettbewerbstheorien handelt es sich sämtlich um marktwirtschaftliche Theorien, welche auf dem Grundsatz der Privatautonomie und auf den Grundpfeilern „Vertrag“ und „Wettbewerb“ aufbauen9. Sie stehen im Gegensatz zur Zentralverwaltungswirtschaft, d. h. zur Planwirtschaft, wie sie in der jüngeren Vergangenheit in sozialistischen Wirtschaftsordnungen praktiziert wurde. Nachdem unlängst ein früher sozialistisch ge9  Böhm (1971) 20: „Die der marktwirtschaftlichen Ordnung spezifisch zugeordnete Freiheit ist die Privatautonomie, das heißt die Freiheit, die dem Privatrechtssubjekt zusteht, erweitert durch die Gewerbefreiheit.“; Rittner (1999) § 5 Rn. 45: „Der Wettbewerb soll als rechtliches Ordnungsprinzip, als Teil der durch die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit aller Rechtspersonen verfassungsrechtlich statuierten Ordnung, gewährleistet werden, innerhalb deren er und die Privatautonomie sich gegenseitig bedingen und ergänzen, somit komplementäre Größen sind.“

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ordneter Staat wie die Volksrepublik China die „sozialistische Marktwirtschaft“ ausgerufen hat und auch auf Kuba marktwirtschaftliche Elemente Anerkennung finden, kann heute wohl nur noch Nordkorea als eine reine Planwirtschaft charakterisiert werden. Unter dem Begriff „Marktwirtschaft“ versteht man nach einer Umschreibung von Franz Böhm „ein ökonomisches System, das ohne jede obrigkeitliche Lenkung auskommt, bei dem vielmehr die Lenkung der gesellschaftlichen Kooperation einem Mechanismus, nämlich dem Marktpreissystem anvertraut wird, der die ihm übertragene Lenkungsaufgabe automatisch besorgt“10. Was die einzelnen Kennzeichen marktwirtschaftlichen Denkens anbetrifft, kann ich mich kurz fassen und Wilhelm Röpke zitieren. Er schreibt in seinem Lehrbuch Die Lehre von der Wirtschaft prägnant: „Es bleibt uns nur die Marktwirtschaft. Wer aber Marktwirtschaft sagt, sagt: freie Preisbildung, Konkurrenz, Verlustrisiko und Gewinnchance, Selbstverantwortung, freie Initiative, Privateigentum“11. Franz Böhm zufolge ist die Marktwirtschaft „eine Ordnung, die den Unternehmer zum Nutzen der ganzen Gesellschaft steuert, nicht eine Ordnung, in der die Gesellschaft den undomestizierten Interessen der Unternehmer huldigt“12. Böhm macht mit seiner Aussage zugleich deutlich, dass es nicht allein um die Verwirklichung klassischer liberaler Ideen geht, wie sie von Adam Smith und einigen seiner Zeitgenossen vertreten wurden, sondern um das, was wir heute unter dem Schlagwort „Soziale Marktwirtschaft“13 kennen14.

  Böhm (1960) 3.   W. Röpke (1968) 331 f. 12   Böhm (1971) 27. 13   Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ wurde geprägt von Alfred Müller-Armack, in: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg 1947. Zum Streit um die Autorschaft des Begriffs siehe Wünsche (2015) 226 ff. sowie Weiss (1996) 571 f. 14   Zum Verhältnis des Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft siehe Ptak (2004), passim; Hentschel (1996) 60 ff., 103 ff., 171 ff., 215 ff., 314 ff. Hinsichtlich des Selbstverständnisses von Ludwig Erhard – gemäß den Düsseldorfer Leitsätzen über Wirtschaftspolitik, Landwirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Wohnungsbau vom 15. Juli 1949 – siehe das wörtliche Zitat bei Wünsche (2015) 271 f. sowie Hentschel (1996) 84 f., der dazu ausführt, die ordnungspolitischen Leitsätze „hätten aus den Lehrbüchern des Ordoliberalismus abgeschrieben sein können und waren dies womöglich auch“. Kennzeichnend für Erhards Soziale Marktwirtschaft ist neben dem Leistungswettbewerb, der durch das Kartellverbot (vgl. § 1 GWB a.F.) und die Missbrauchsaufsicht (vgl. §§ 22 ff. GWB a.F.) geschützt wird, die „Monopolkontrolle“, in deren Fehlen er das Hauptdefizit der „‚freien Wirtschaft‘ liberalistischer Prägung“ sieht. Im Übrigen hat Erhard in „Wohlstand für alle“ einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Wirksamkeit des Kartellrechts und der Sozialen Marktwirtschaft hergestellt: „Es bedeutet wirklich keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß ein auf Verbot gegründetes Kartellgesetz als das unentbehrliche »wirtschaftliche Grundgesetz« zu gelten hat. Versagt der Staat auf diesem Felde, dann ist es auch bald um die »Soziale Marktwirtschaft« geschehen.“, siehe Erhard (2009) 17. 10 11

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II.  Wettbewerb als Dreh- und Angelpunkt der marktwirtschaftlichen Ordnung Das Realphänomen Wettbewerb bildet den Dreh- und Angelpunkt jeder marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Ordoliberalen haben seine Bedeutung für das Funktionieren der Marktwirtschaft stets mit Nachdruck hervorgehoben. Was aber bedeutet „Wettbewerb“ oder genauer „wirtschaftlicher Wettbewerb“ in diesem Zusammenhang? Wettbewerb entsteht, wenn Rechtssubjekte im Wirtschaftsverkehr von ihrer individuellen Handlungsfreiheit im Wirtschaftsverkehr Gebrauch machen15. Der Umfang der den Privatrechtssubjekten gewährten Wettbewerbsfreiheit hängt dabei maßgeblich von der jeweiligen Wirtschaftsordnung ab – d. h. von der grundlegenden Entscheidung für eine Marktwirtschaft oder für eine Zentralverwaltungswirtschaft. Während in marktwirtschaftlichen Systemen die Befugnis zur Teilnahme am Wirtschaftsverkehr eine nicht weiter begründungsbedürftige Regel darstellt, ist sie in planwirtschaftlichen Systemen grundsätzlich dem Staat vorbehalten. In solchen Fällen bildet die wirtschaftliche Aktivität Privater eine Ausnahme, d. h. sie hängt von einer staatlichen Erlaubnis ab. Der Begriff (wirtschaftlicher) Wettbewerb ist sowohl für das Unionskartellrecht (Art. 101 ff. AEUV) als auch das deutsche Kartellrecht des GWB ein unerlässlicher Zentralbegriff. Er entzieht sich jedoch einer allgemeingültigen positiven Definition16. Eine solche Definition des Wettbewerbsbegriffs würde nämlich dazu führen (oder zumindest die Gefahr bergen), dass bestimmte (vor allem neue) Formen des Wettbewerbs vom Anwendungsbereich der Kartellrechte oder deren Beschränkungen ausgeschlossen blieben17. Der wirtschaftliche Wettbewerb lässt sich immerhin mittels einer inhaltlichen Annäherung an dessen Wesen und Funktionen umschreiben. Allgemein zeichnet sich der wirtschaftliche Wettbewerb nämlich aus durch (1)  die Existenz von Märkten, auf denen (2)  mindestens zwei Anbieter bzw. Nachfrager vorhanden sind, die sich (3)  antagonistisch (d. h. nicht kooperativ) verhalten, also ihre eigene Marktposition zu Lasten anderer zu verbessern suchen18. Der Begriff „Wettbewerb“ kann daher im Sinne einer wirtschaftlichen „Wettkampfrivalität“ – durchaus vergleichbar mit dem sportlichen Wettstreit – verstanden werden. Diese „Wettkampfrivalität“ setzt ihrerseits vor15   Kling/Thomas (2016) § 1 Rn. 10. Siehe ferner Hoppmann (1972) 11: „Unter Wettbewerb verstehen wir jenes komplexe System von Marktprozessen, das aufgrund der Freiheit, an Marktprozessen teilzunehmen und innerhalb dieser nach eigenem Plan tätig sein zu können, herauswächst.“ 16   Siehe auch Emmerich (2014) § 1 Rn. 2 ff. 17   Rittner/Dreher/Kulka (2014) Rn. 5 f. 18   Schmidt/Haucap (2013) 1 f.; Kling/Thomas (2016) § 1 Rn. 13.

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aus, dass ein unabhängiges Handeln der Wirtschaftssubjekte ohne Absprachen (= Kartellvereinbarungen) möglich ist. Darüber hinaus muss eine hinreichend große Zahl potenzieller und tatsächlicher Wettbewerber zur Verfügung stehen (so dass außergewöhnliche Gewinne eliminiert werden). Ferner muss auf Seiten der Konkurrenten ein ausreichendes Wissen über die Marktverhältnisse (d. h. der Zugang zu den wesentlichen Marktinformationen) sowie ausreichend Zeit für die notwendigen Anpassungsvorgänge bei der Faktorallokation (d. h. in Bezug auf die Verteilung von Produktionsfaktoren) gegeben sein19. Die Ergebnisse des Wettbewerbs können vorab nicht definiert, geplant oder prognostiziert werden20. Es handelt sich nach v. Hayek vielmehr um ein „Such- und Entdeckungsverfahren“, das zu „spontanen Ordnungen“ führt21. Darauf wird noch zurückzukommen sein (siehe unten D. II.).

C.  Leistungen und Irrtümer des deutschen Ordoliberalismus – retrospektiv betrachtet I. Leistungen 1.  Privatautonomie und Unternehmerfreiheit als zentrale Grundlagen wirtschaftlichen Handelns Die Betonung der Privatautonomie und der Unternehmerfreiheit als den wesentlichen Grundlagen jeder marktwirtschaftlichen Ordnung durch die ordoliberalen Wissenschaftler findet ihren Widerhall auch in der Dogmatik des Kartellrechts22. Denn gemäß dem sog. kartellrechtlichen Selbständigkeitspostulat hat jedes Unternehmen selbständig (d. h. frei, unbeeinflusst) zu bestimmen, welche Politik es auf dem Binnenmarkt betreiben will23. Das Selbständig Schmidt/Haucap (2013) 5; Kling/Thomas (2016) § 1 Rn. 15.  Hoppmann (1988) 290: „Wettbewerb ist also jener marktwirtschaftliche Prozeß, der aufgrund dieser Spielregeln abläuft. Er ist grundsätzlich in seinem konkreten Ablauf nicht vorweg zu definieren oder zu prognostizieren. Er kann auch nicht durch ein Modell beschrieben oder durch ein Experiment simuliert werden. Die grundsätzliche Offenheit dieses Prozesses ist zugleich der Boden, aus dem die ökonomische Effizienz erwächst.“ 21   v. Hayek (1994) 167: „Das Problem, das die spontane Marktordnung löst, ist gerade das der Nutzung von mehr Wissen, als irgendein einzelner Verstand besitzt. Die Marktordnung erreicht dies durch ein Entdeckungsverfahren, das wir Wettbewerb nennen.“ 22   Siehe dazu auch Erhard (2009) 223: „Der freie Unternehmer steht und fällt (...) mit dem System der Marktwirtschaft. In jeder anderen Ordnung wird er mehr und mehr zum bloßen Vollzugsorgan fremden Willens und zum Funktionär planwirtschaftlicher Entscheidungen herabgewürdigt.“ 23   EuGH v. 16.12.1975 – verb. Rss. 40/73 u. a., Slg. 1975, 1663 Rn. 173/174 – Suiker Unie; EuGH v. 14.7.1981 – Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 Rn. 13 f. – Züchner/Bayerische Vereinsbank; EuGH v. 27.9.1988 – verb. Rss. C-89/85 u. a., Slg. 1993, I-1307 Rn. 63 – Ahlström/Kommission (= Zellstoff). 19 20

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keitspostulat steht daher jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die den Zweck haben oder bewirken, dass das Marktverhalten von Mitbewerbern beeinflusst oder die Mitbewerber über das künftige eigene unternehmerische Verhalten ins Bild gesetzt werden, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht24. Nur selbständig handelnde wirtschaftliche Einheiten sind danach Unternehmen im kartellrechtlichen Sinn. Umgekehrt folgt daraus: Fehlt der handelnden wirtschaftlichen Einheit die für die Unternehmenseigenschaft erforderliche Autonomie – beispielsweise, weil ein verbindliches nationales Gesetz ein Verhalten vorschreibt, welches jedoch gegen das europäische Kartellrecht verstößt –, so kann diese wirtschaftliche Einheit dafür kartellrechtlich nicht belangt werden. Also können weder die Kartellbehörden Sanktionen verhängen noch geschädigte private Dritte (scil. Unternehmen oder Verbraucher) gemäß § 33 GWB Schadensersatz verlangen. In solchen Fällen ist vielmehr der regelnd eingreifende EU-Mitgliedstaat kraft der ihn treffenden Loyalitätspflicht (siehe Art. 4 Abs. 3 Satz 3 EUV i. V. m. dem Protokoll Nr. 27 zum Vertrag von Lissabon, sog. Grundsatz der Unionstreue) der richtige Adressat. Die EU-Mitgliedstaaten dürfen nämlich keine Gesetze oder Rechtsverordnungen erlassen, die gegen das höherrangige europäische Kartellrecht verstoßen. 2.  Wettbewerb als „geniales Entmachtungsinstrument“ und „Streikbrecher ökonomischer Machtbildung“ Eine weitere zentrale wettbewerbstheoretische Erkenntnis stammt von Franz Böhm. Er hat den Wettbewerb als „das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“ und als „Streikbrecher ökonomischer Machtbildung“ bezeichnet25. Es handele sich bei dem Wettbewerb um ein Instrument, das man nur zu beschwören brauche, „alle weitere Arbeit leistet es von allein“26. Für das Kartellrecht folgt daraus zumindest zweierlei: Wettbewerb ist ein dynamisches Geschehen, dessen Innovationskraft nicht nur den technischen Fortschritt ermöglicht, sondern auch manche scheinbar auf ewig festgefügten ökonomischen Machtpositionen beseitigen kann, und zwar mitunter sehr schnell. Heutzutage schaut man mit Argwohn auf IT- und Internetgiganten wie Google, Microsoft, Apple, Facebook und WhatsApp usw., und allzu vorschnell wird der Ruf nach dem kartellrechtlichen Instrument der Zerschlagung laut, meist auch, um wettbewerbsfremde Ziele wie einen ver24   EuGH v. 16.12.1975 – verb. Rss. 40/73 u. a., Slg. 1975, 1663 Rn. 173/174 – Suiker Unie; EuGH v. 14.7.1981 – Rs. 172/80, Slg. 1981, 2021 Rn. 14/12 – Züchner/Bayerische Vereinsbank; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-7/95 P, Slg. 1998, 3111 Rn. 87 – Deere; EuGH v. 8.7.1999 – Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287 Rn. 160 – Hüls. 25   Böhm (1960) 22. 26   Böhm (1960) 22.

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besserten Datenschutz zu erreichen. Machtpositionen, wie sie die Betreiber von Internet-Kommunikationsplattformen („Social Media“) innehaben, sind jedoch äußerst fragil. Wir wissen aus neueren soziologischen Studien, dass die 11 bis 13-jährigen Jugendlichen diesseits wie jenseits des Atlantiks weniger häufig auf Facebook vertreten sind als das früher der Fall war, wohl vor allem deshalb, weil sie nicht dieselbe Plattform wie ihre Eltern nutzen wollen. Man hat den Plattformbetreiber StudiVZ und ähnliche Anbieter schnell vom Markt verschwinden und den Message-Dienst WhatsApp sich binnen kürzester Zeit am Markt etablieren sehen. Im Kartellrecht spricht man insoweit von sog. bestreitbaren Märkten (engl. contestable markets). Möglicherweise ist es deshalb – Franz Böhms Thesen aus dem Jahr 1960 folgend – auch im Bereich der New Economy im Jahr 2016 gerechtfertigt, auf die „Selbststeuerungskraft des marktwirtschaftlichen Systems und die Funktionsfähigkeit der Privatrechtsordnung“ zu vertrauen und auf „freiheitsbeschränkende Eingriffe“ zu verzichten27. Keinesfalls sollte das Kartellrecht als Hilfsmittel zur Herstellung von Datenschutz oder sonstigen wettbewerbsfremden Zielsetzungen herhalten müssen. Für das Kartellrecht folgt aus dem Vorstehenden zwingend, dass nicht nur der aktuell bestehende, sondern vor allem auch der potenzielle Wettbewerb geschützt werden muss, indem künstlich geschaffene, wettbewerbsfeindliche Marktzutrittsschranken beseitigt werden. Denn nur so kann die Entmachtung durch Wettbewerb von Seiten der – gleichsam am „Spielfeldrand“ auf Marktzutritt wartenden – Wettbewerber gelingen. Diese wichtige Erkenntnis verdanken wir den Ordoliberalen. Wettbewerb als Entmachtungsinstrument zu begreifen bedeutet nach Franz Böhm überdies, den „Freiheits-, Gleichgewichtigkeits- und Gerechtigkeitsgehalt des marktwirtschaftlichen Systems“ zu bestimmen28. Den Vorschriften des Wettbewerbsrechts kommt daher zumindest mittelbar eine wichtige sozialethische Funktion und wohl auch eine nicht unbeträchtliche verfassungsrechtliche Dimension in einem freiheitlich und demokratisch verfassten Gemeinwesen zu29. Diese auszuleuchten ist hier allerdings nicht der geeignete Ort. II.  Irrtümer, Überholtes und Fragwürdiges im ordoliberalen Denken – vier Aspekte So unbestritten die Verdienste der ordoliberalen Wettbewerbstheoretiker auch sind – manches, was seinerzeit als zentrale Grundannahme vertre  Böhm (1960) 22.   Böhm (1971) 20. 29   Erhard (2009) 199, der die These vertrat, „Daß die Wettbewerbswirtschaft die ökonomischste und zugleich die demokratischste Form der Wirtschaftsordnung ist (...).“ (Hervorhebung im Original) 27 28

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ten wurde, erscheint heute unrichtig oder überholt, jedenfalls als frag- oder zumindest diskussionswürdig. Ich möchte im Folgenden nur vier solcher Aspekte herausgreifen. 1.  Das Postulat von der notwendigen Herstellung „vollständiger Konkurrenz“ Ein aus kartellrechtlichem Blickwinkel zentraler Einwand ist gegenüber dem ordoliberalen Postulat von der Herstellung „vollständiger Konkurrenz“ bzw. dem Konzept des „vollständigen Wettbewerbs“ zu erheben. Die Theorie der vollständigen Konkurrenz (engl. theory of perfect competition) wurde im frühen 20. Jahrhundert entwickelt. Sie beanspruchte über eine lange Zeit die Vorherrschaft in der ökonomischen Wissenschaft (namentlich im Bereich der Preistheorie)30. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie von großen Ökonomen wie Joseph A. Schumpeter und Walter Eucken (zumindest verbal) weiterhin offensiv vertreten. Als gänzlich verfehlt hat sich in diesem Zusammenhang vor allem die Annahme erwiesen, dass verschiedene „statische“ Umstände wie die Einheitlichkeit von Preisen, die Homogenität von Gütern und eine vollkommene Markttransparenz kennzeichnend für den Wettbewerb seien31. Dies sind nämlich gerade keine Eigenschaften des Wettbewerbs, sondern vielmehr Kennzeichen seines Fehlens. Friedrich A. v. Hayek hatte schon 1946 erkannt, „daß, wenn der von der Theorie des vollkommenen Wettbewerbs angenommene Zustand je bestehen würde, er nicht nur allen Tätigkeiten, die das Wort «Wettbewerb» beschreibt, die Entfaltungsmöglichkeit nehmen, sondern sie in ihrem Wesen unmöglich machen würde“32. Denn der Wettbewerb sei „seiner Natur nach ein dynamischer Prozeß, dessen wesentlichste Merkmale als nicht bestehend angenommen werden, wenn man die Annahmen macht, die der statischen Analyse zugrunde liegen“33. «Vollkommener» Wettbewerb bedeute tatsächlich „das Fehlen aller wettbewerblichen Tätigkeiten“34. Wilhelm Röpke konstatierte, dass durch „gewisse moderne Theorien“ eines «vollkommenen» Wettbewerbs „viel Verwirrung“ angerichtet worden sei; er forderte konsequent dessen Ersetzung durch das workable competition-Konzept von J. M. Clark35. Sodann brandmarkte Erich Hopp30   Als Vertreter dieser Theorie seien genannt Edward Hastings Chamberlin (1899–1967) in den USA, Piero Sraffa (1898–1983), Joan Robinson (1903–1983) und Sir Roy Forbes Harrod (1900–1978) im Vereinigten Königreich, Kurt Sting und Heinrich Frhr. v. Stackelberg (1905–1946) in Deutschland, Frederik Ludvig Bang von Zeuthen (1888–1959) in Dänemark und Ragnar Anton Kittil Frisch (1895–1973) in Norwegen. 31   v. Hayek (1946) 125. 32   v. Hayek (1946) 122 f.; ebenso Hoppmann (1967) 286. 33   v. Hayek (1946) 125. 34   v. Hayek (1946) 128. 35   W. Röpke (1961) 392.

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mann das Leitbild der „vollkommenen Konkurrenz“ als „die Definition des totalen statischen Gleichgewichts und umgekehrt“36. Ebenso treffend wie despektierlich ist der von Friedrich A. Lutz dafür geprägte Begriff der „Schlafmützenkonkurrenz“37. Die Kritik der genannten Ökonomen am Leitbild der „vollständigen Konkurrenz“ ist aus wettbewerbsrechtlichem Blickwinkel völlig überzeugend38. In den Fällen des Vorhandenseins weniger Akteure auf dem Markt, die praktisch alles übereinander wissen – also auf oligopolistisch strukturierten Märkten –, bestehen für die miteinander konkurrierenden Unternehmen letztlich keinerlei Anreize dafür, besondere Bemühungen zu entfalten und etwa die Preise zu senken, die Qualität und die Vielfalt ihrer Produkte zu steigern bzw. zu erweitern und den Kundenservice zu verbessern. Es ist – entgegen den Vorstellungen der Ordoliberalen – für Wettbewerbsmärkte offensichtlich nicht normal, „daß jede Person, die sich am Markte beteiligt, vollkommene Kenntnis von allem besitzt, das den Markt beeinflußt“39. Bei einem „statischen“ Marktgeschehen liegt vielmehr häufig ein sog. enges Oligopol vor, das sich durch eine geringe Anzahl von Anbietern auszeichnet und das – neben Monopolen und Dyopolen – wettbewerbsrechtlich betrachtet eines der problematischsten Marktstrukturphänomene darstellt. Kurz: Im engen Oligopol erzielen die Marktakteure den sprichwörtlich gewordenen Monopolgewinn, dass sie ein „ruhiges Leben“40 führen können, während sie in einem wettbewerblich geprägten Umfeld ständig um den Verlust erreichter Marktpositionen fürchten und sich dem entsprechend anstrengen müssen, wenn sie von der Konkurrenz nicht überrundet werden wollen. Man darf mit gutem Grund vermuten, dass Walter Eucken und seine ordoliberalen Gesinnungsgenossen nicht ernsthaft daran geglaubt haben, die von ihnen postulierte „vollständige Konkurrenz“ sei in der Praxis tatsächlich umsetzbar41. Euckens ehemaliger Freiburger Wissenschaftlicher Assistent Hans Otto Lenel (geb. 1917) hat dazu ausgeführt: „Eucken kannte die Wirklichkeit zu genau, um nicht zu wissen, daß vollständige Konkurrenz (auch in seinem Sinne) auf vielen Märkten nicht zu finden ist.“42 Eucken selbst schrieb   Hoppmann (1967) 285.   Lutz (1956) 31 f. 38   Anders noch Erhard (2009) 208: „Wer sich indessen über das »Denkmodell« des vollkommenen Wettbewerbs glaubt lustig machen zu sollen, verrät damit nur seine geistige Unzulänglichkeit.“ Das Datum der Erstveröffentlichung dieser Sentenz ist freilich 1957, als die Idee der vollständigen Konkurrenz noch sehr populär war. 39   v. Hayek (1946) 126. 40   Vgl. Hicks (1935) 8: “The best of all monopoly profits is a quiet life.” 41   A.A. wohl Rittner (1999) § 5 Rn. 37: „Die ordo-liberale Konzeption mußte schon deswegen scheitern, weil sie von der irrigen Voraussetzung ausging, daß vollständige Konkurrenz auf den meisten Märkten herrsche oder zumindest durch wettbewerbspolitische Maßnahmen herzustellen sei.“ 42  Lenel (1975b) 63. 36 37

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dazu – wenngleich an einer etwas versteckten Stelle – bereits im Jahr 1940: „Beide Fälle [scil. Monopol und vollständige Konkurrenz] sind irreal, und die gesamte Wirklichkeit liegt zwischen ihnen.“43 Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, wenn der Freiburger Rechtswissenschaftler Fritz Rittner (1921–2010) behauptet, dass das wirklichkeitsfremde Modell der vollständigen Konkurrenz, das dem ersten GWB-Entwurf zugrunde gelegen habe, bei dessen Abfassung durch Eberhard Günther schon „längst überwunden“ gewesen sei44. Das ändert aber nichts an dem Umstand, dass das Schlagwort von der „vollständigen Konkurrenz“ in den Jahren und Jahrzehnten danach im ordoliberalen Schrifttum weiterhin Verwendung fand, ganz so, als ob es sich dabei um eine praktisch umsetzbare Zielsetzung und nicht bloß um ein ziemlich lebensfernes theoretisches Konstrukt gehandelt hätte. Heute steht fest, dass dieses Modell allenfalls im Börsenhandel – wenngleich nur annäherungsweise – verwirklicht werden konnte45. 2.  Die Verhinderung wirtschaftlicher Macht – die sog. „Monopolfrage“ Allein historisch zu erklären ist die seinerzeit als drängend empfundene Bewältigung der sog. „Monopolfrage“, d. h. der Verhinderung der Entstehung ökonomischer Machtbildung46. Franz Böhm hat im Jahr 1947 die von ihm selbst aufgeworfene Frage, warum man auf den Gedanken gekommen sei, zu fordern, dass Kartelle aufgelöst und Konzerne entflochten werden sollten, ganz schlicht beantwortet: „Die Antwort lautet: weil Kartelle und Konzerne mögliche Träger wirtschaftlicher Macht sind.“ Die Verhinderung und Bekämpfung des Erwerbs und des Besitzes von wirtschaftlicher Macht wird von ihm als „eine Verfassungsfrage empfunden, die jeden angeht“47. Schon 1937 hatte er gefordert: „Die Erscheinung der privaten Macht muß aus der Wirtschaft verschwinden.“48 Walter Euckens Forderungen gingen in die gleiche Richtung. Er meinte: „Wirtschaftliche Macht sollte in einer Wettbewerbsordnung nur insoweit bestehen, wie sie notwendig ist, um die Wettbewerbsordnung aufrecht zu erhalten.“49 Eucken formulierte deshalb den Grundsatz: „Die Politik des Staates sollte darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktion zu begrenzen. Jede Festi-

  Eucken (1940) 284 Anm. 34.   Rittner (2006) 19. 45   Rittner (1999) § 5 Rn. 37. 46  Ebenso spöttisch wie treffend schreibt W. Röpke (1961) 392, betreffend die Lehre vom vollkommenen Wettbewerb, diese „theoretische Spielerei“ habe „einen Pessimismus genährt, der in der Marktwirtschaft überall sozusagen monopolistische Radioaktivität wittert“. 47   Böhm (2007) 61 f. 48   Böhm (1937) 150. 49   Eucken (1952) 291; ebenso ders. 336. 43 44

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gung der Machtgruppen verstärkt die neufeudale Autoritätsminderung des Staates.“50 Die Wirtschaftspolitik sollte sich aus Euckens Sicht nicht in erster Linie gegen die „Mißbräuche vorhandener Machtkörper“ wenden, „sondern gegen die Entstehung der Machtkörper selbst“51. Der Zitatenschatz ließe sich nahezu beliebig mit ähnlich lautenden Textstellen erweitern. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Ordoliberalen mit der Konzernierung (Stichwort: IG Farben etc.)52 und der Gleichschaltung der Wirtschaft im „Dritten Reich“ sind die Forderungen nach der Verhinderung der Entstehung wirtschaftlicher Macht historisch besehen ohne Weiteres verständlich. Wettbewerbstheoretisch wurde diese Grundthese allerdings schon früh bestritten, beispielsweise von Friedrich A. v. Hayek, der monierte, „daß das Schädliche nicht das Monopol als solches oder auch nur die Unternehmensgröße ist, sondern nur die Hindernisse gegen den Eintritt in eine Industrie oder einen Handelszweig und andere monopolistische Handelspraktiken“53. Damit ist das auch von den ordoliberalen Wissenschaftlern als zentral empfundene Problem der Marktzutrittsschranken angesprochen. Wie stellt sich nun das Problem der wirtschaftlichen Macht im Kartellrecht dar? Die Antwort auf diese Frage lautet, dass das moderne Kartellrecht seit 1957 zu keinem Zeitpunkt die Entstehung wirtschaftlicher Macht durch aktiv internes Unternehmenswachstum bekämpft, sondern sich seit jeher auf eine Verhaltenskontrolle marktbeherrschender Unternehmen beschränkt hat. Es gibt kein wettbewerbsrechtliches „Verbot marktbeherrschender Stellungen“, sondern nur die Verbote des Missbrauchs von marktbeherrschenden Stellungen. Die kartellrechtlichen Missbrauchsverbote setzen das Vorhandensein von Marktmacht vielmehr gerade tatbestandlich voraus. In dieser Hinsicht sind die ordoliberalen Forderungen also nicht erfüllt worden, und wie ich meine, zu Recht, weil sich die kartellrechtlichen Missbrauchsverbote in einer Jahrzehnte währenden kartellbehördlichen und gerichtlichen Praxis als ziemlich scharfe Schwerter erwiesen haben. Eine „strukturelle Maßnahme“ (gemäß Art. 7 Abs. 1 VO 1/2003 bzw. § 32 Abs. 2 GWB) wie die Zerschlagung marktmächtiger Unternehmen dürfte sich vor diesem Hintergrund in aller Regel als ein unverhältnismäßiger, nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Unternehmerfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG bzw. in die Eigentumsfreiheit des Art. 14 Abs. 1 GG darstellen54.

  Eucken (1952) 334.   Eucken (1952) 172. 52   Die IG Farben wurde 1925 gegründet, nach dem Zweiten Weltkrieg zerschlagen, aber erst zum 31. Dezember 2012 aufgelöst. 53   v. Hayek (2005) 360. 54   Nettesheim/Thomas (2011) 37 ff., 85 ff., 132 ff. 50 51

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3.  Die dominierende Rolle des Staates Ein weiterer aus heutiger Sicht fragwürdiger Punkt ist die Einstellung der Ordoliberalen zum „starken Staat“. Namentlich Franz Böhm und Leonhard Miksch haben recht früh, d. h. während der Zeit des Nationalsozialismus55, aber noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, mehrfach die Forderung nach einem „starken Staat“ erhoben56. Ich zitiere als Beispiel aus dem grundlegenden Werk Wettbewerb als Aufgabe von Leonhard Miksch aus dem Jahr 1937: „Nun zeigt aber die Analyse der modernen Wirtschaft, daß der Aufbau einer geordneten Wirtschaftsverfassung im Sinne Franz Böhms nicht denkbar ist ohne einen starken Staat, der die einzelnen Märkte in größerer oder geringerer Freiheit organisiert und dafür sorgt, daß das Gesamtsystem seine Einheitlichkeit und Geschlossenheit nicht wieder verliert. Der – keineswegs nur aus wirtschaftlichen Gründen – verstärkte Führungswille des Staates erfüllt also eine wettbewerbspolitische Forderung“57.

In zwei wegweisenden frühen Beiträgen aus den Jahren 1937 und 1942 entwickelte Franz Böhm während der NS-Zeit „ein System von Freiheit und mittelbarer Lenkung“. Er forderte die Umsetzung des Prinzips der „mittelbaren Marktlenkung durch ein rechtlich geordnetes Tausch- und Wettbewerbsverfahren“ und einer „relativ freien Wirtschaftsverfassung“58. Böhm ging im Jahr 1937 von einem „Primat der Politik“ aus59. Ordnungen könnten „nur noch das Ergebnis eines bewußten und wachen politischen Willens, einer sachkundigen, autoritativen Führungsentscheidung sein“60. Insgesamt bauten die Ordoliberalen – zumindest während der NS-Zeit – „auf einen aktiven, autoritären Staat, um (...) ein Maximum an freiem Wettbewerb im

55   Zu der außerordentlich interessanten Frage des Verhältnisses der ordoliberalen Wissenschaftler zum Nationalsozialismus, das wohl differenziert beurteilt werden muss, siehe ausführlich Ptak (2004), 62 ff. In Bezug auf Alfred Müller-Armack steht heute fest, dass er zu Beginn der NS-Herrschaft für diese Begeisterung zeigte, 1933 in die NSDAP eintrat und im NS-Staat Karriere machte (während er für sich selbst später in Anspruch nahm, sich während der Nazizeit in der „inneren Emigration“ befunden zu haben), siehe Ptak (2004), 81 ff. Für Franz Böhm kann einerseits festgestellt werden, dass ihm wegen seiner Kritik an den NS-Rassenpolitik 1940 – als er eine Vertretungsprofessur in Jena innehatte – die Lehrerlaubnis entzogen wurde, andererseits aber auch, dass er der von den Nationalsozialisten propagierten Idee einer aus „Führung“ und „Gefolgschaft“ bestehenden Unternehmensstruktur (vgl. § 70 AktG 1937) durchaus nahestand, siehe Ptak (2004) 57 f., 102. 56   Eine der frühesten Forderungen nach einem „starken Staat“ wurde seitens der Ordoliberalen im Jahr 1932 von Alexander Rüstow erhoben, siehe Rüstow (1932) 169, 172: „Der neue Liberalismus (...) fordert einen starken Staat, aber einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten“ (hier zitiert nach Ptak [2004] 42); siehe ferner Müller-Armack (1932) 126; ders. (1933) 26 f. 57   Miksch (1937) 5. 58   Böhm (1937) 61. 59   Böhm (1937) 11. 60   Böhm (1937) 56.

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Wirtschaftsprozeß durchzusetzen“61 – was für sich besehen ein Paradoxon ist. Was in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs vermutlich als verbale Konzession an den ungeliebten „Führerstaat“ und die von Böhm und seinen Mitstreitern abgelehnte Zentralverwaltungswirtschaft verstanden werden kann, wird bei dem „späteren“ Böhm allerdings deutlich abgeschwächt62. Im Jahr 1960 heißt es bei ihm, dass das „Prinzip der Staatskontrolle“ nur insoweit anzuwenden sein solle, als „ökonomische Machtstellungen übrig bleiben, die von der Konkurrenz nicht beseitigt werden können“63. 1971 schreibt er, die Regierungen hätten „nur noch die Aufgabe, die politischen und sozialen Rahmenbedingungen bereitzustellen, die erfüllt sein müssen, damit das sich selbst regulierende Verfahren zufriedenstellend arbeiten kann, und den Ordnungsrahmen zu pflegen, innerhalb dessen sich dieses Verfahren abspielt. Ihre Aufgabe besteht darin, im Rahmen des Systems eine gesetzgeberische und verwaltungsmäßige Hilfestellung zu leisten. (...) Alles Übrige, d. h. die ganze eigentliche Wirtschaftslenkung, Stimulierung der produktiven Individualenergien und Kontrolle der Individualpläne und des Individualverhaltens besorgt der Marktmechanismus“64.

Ein Vertreter der Volkswirtschaftslehre hat die Neoliberalen kürzlich treffend als „Staatsfans“ bezeichnet65. Allerdings ist es gerade dieser – ursprünglich mit Vehemenz geäußerte, später abgeschwächte und zum Teil völlig verstummte – Ruf der Ordoliberalen nach dem „starken Staat“, der uns heute besonders problematisch erscheint, ja irritiert66. Abgesehen davon, dass der Vorstellung von einem „starken (National-)Staat“ in einem europäischen Binnenmarkt und in einer globalisierten Wirtschaft längst kein vernünftiger ökonomischer und rechtspolitischer Sinn mehr zukommt, widerspricht sie – jedenfalls in der frühen, von Böhm und Miksch ab 1937 geäußerten

  Ptak (2004) 106.   Siehe auch Ptak: „Von der theoretisch inspirierten Idee zum tatsächlich umgesetzten Konzept war ein weiter Weg zurückzulegen, in dessen Folge viele theoretische Vorgaben des Ordoliberalismus geopfert werden mußten. Das betraf insbesondere die Prämisse vom ‚starken Staat‘, die unter Maßgabe einer demokratischen Verfassung nicht aufrecht zu erhalten war (...).“ 63   Böhm (1960) 23. 64   Böhm (1971) 14. 65   Straubhaar (2015) schreibt unter der Zwischenüberschrift „Neoliberale sind Staatsfans“: „Ein starker Staat mit Gewaltenteilung, eine Verfassung, die niemandem Macht über alles gibt, und ein Wirtschaftsrecht, das den Zugang zu den Märkten offenhält und für einen funktionierenden Wettbewerb sorgt, sind die unverzichtbaren Voraussetzungen, um individuelle Freiheits- und Grundrechte für alle zu sichern und Menschen, Minderheiten und Märkte gegen Übergriffe, Monopole und Interessengruppen aller Art zu schützen.“ 66   Siehe z. B. noch das frühe Bekenntnis zum „starken Staat“ bei Rüstow (1963) 258 (geäußert anlässlich einer Diskussionsrede auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik über »Deutschland und die Weltkrise« in Dresden am 28.9.1932). 61 62

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Form67 – ganz offensichtlich dem modernen Verfassungsstaat68, mit der eine staatlich-autoritär „geordnete“ Freiheit schlechthin unvereinbar wäre (vgl. die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte in Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG). Die Forderungen der ordoliberalen Wissenschaftler nach einem „starken Staat“ mit einer Dominanz des Staates über die Wirtschaft69 gehört – ungeachtet der nach wie vor hohen etatistischen Erwartungen der deutschen Bevölkerung an den modernen fürsorgenden Wohlfahrtsstaat70 – „zu den Hindernissen, die der Rezeption des Ordoliberalismus heute entgegenstehen“71. Eine Klarstellung sei mir an dieser Stelle gestattet: Natürlich bedeutet auch für die Kritiker der Ordoliberalen die Freiheit der Wirtschaftstätigkeit nicht der Verzicht auf staatliche Ordnung oder staatliche Tätigkeit schlechthin, sondern „Freiheit unter dem Gesetz“72. Von der Warte des Wettbewerbsrechtlers betrachtet ist das Kriterium des „starken Staates“ für die Rechtsanwendung irrelevant. Soweit „der Staat“ rein hoheitlich handelt, ist das Kartellrecht von vornherein unanwendbar. Fungiert der Staat als Wirtschaftsteilnehmer am Markt, wird er gemäß dem sog. funktionalen Unternehmensbegriff des Kartellrechts grundsätzlich wie alle anderen (privaten) Unternehmen behandelt und den einschlägigen kartellrechtlichen Bestimmungen unterworfen. Lediglich für den Bereich der staatlichen Nachfrage anerkennt der EuGH73 eine – systematisch verfehlte, häufig kritisierte und vom BGH für das deutsche Kartellrecht nicht übernommene – Ausnahme74. Soweit die Mitgliedstaaten ordnend und regulierend eingreifen, werden sie gemäß der Loyalitätspflicht zur Europäischen Union für Verstöße gegen das europäische Wettbewerbsrecht verantwortlich gemacht, wenn und soweit sie den betroffenen (privaten) Unternehmen keine Handlungsspielräume mehr belassen, die diese selbständig ausfüllen können. Daran wird deutlich, dass das Maß der „Stärke“ des Staates für die Anwendung der wettbewerbsrechtlichen Kartell- und Missbrauchsverbote keine sinnvolle Kategorie bildet, sondern nur die – mitunter schwierig zu beantwortende – Frage: Handelt die betreffende staatliche Einheit „hoheitlich“

67   Siehe noch Böhm (1937) 101 f.: „Denn auch das Recht der Marktwirtschaft anerkennt die Freiheit nur im Rahmen der Ordnung. Bei einem Konflikt zwischen Freiheit und Ordnung kommt dem Gesichtspunkt der Ordnung unbedingter Vorrang zu; jeder Freiheitsmißbrauch zieht unweigerlich staatlichen Zwang nach sich.“ (Hervorhebungen im Original gesperrt gedruckt) 68   Ebenso Ptak (2004) 135. 69   So Miksch (1937) 76. 70   Treffend schon W. Röpke (1961) 229: „dieser aufgeblähte Wohlfahrtsstaat von heute (...) System der staatlich organisierten Massenfürsorge“. 71   Tönnies (2009) 194. 72   So v. Hayek (2005) 304. 73   EuGH v. 26. 3. 2009 – Rs. C-113/07, Slg. 2009, I-2207 Tz. 103 – SELEX. 74   Siehe dazu ausführlich Kling (2014) 18 ff.

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oder „wirtschaftlich“75? Insbesondere wegen des Anwendungsvorrangs des Europäischen Unionsrechts würde ein gegenläufiges, von einem „starken“ ordnenden und regelnden Mitgliedstaat der Europäischen Union geschaffenes nationales (Regulierungs-)Recht keine Rolle spielen können76. Anders gewendet: Den EU-Mitgliedstaaten sind die Hände gebunden, können sie doch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht einseitig, d. h. aus eigener Regelungsvollkommenheit, aushebeln. Ein Beispiel dazu: Der deutsche Gesetzgeber sah sich vor einigen Jahren dazu gezwungen, den § 111 des deutschen Energiewirtschaftsgesetzes von 2005 zu streichen. Mittels dieser Vorschrift hatte der deutsche Gesetzgeber die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots des Art. 102 AEUV (ex Art. 82 EG) ausschließen wollen. Was auf nationaler Ebene durchaus möglich wäre und dem Gedanken des Vorrangs des spezielleren Gesetzes – hier: dem Vorrang des Energiewirtschaftsgesetzes vor dem Kartellgesetz – entspräche, ist bei Normkonflikten mit dem normhierarchisch höher angesiedelten Unionsrecht aus Gründen der Normenhierarchie (d. h. wegen des Vorrangs des Unionsrechts) nicht möglich (es sei denn, das Unionsrecht selbst enthielte eine einschlägige „opt out“-Vorschrift). 4.  Das soziale Element Schließlich erscheint das Element des Sozialen im Werk der Ordoliberalen der Diskussion bedürftig. Der zuvor erörterte Gedanke des ordnenden, am Gesamtwohl orientierten Staates findet sich bei Walter Eucken namentlich im Zusammenhang mit sozialen Fragestellungen77. Eucken schreibt: „Es gibt nichts, was nicht sozial wichtig wäre. Es gibt keine wirtschaftspolitische Maßnahme, die nicht zugleich auch, sei es direkt oder indirekt, soziale Auswirkungen und soziale Bedeutung hätte. Wer soziale Interessen vertreten will, sollte daher sein Augenmerk vor allem auf die Gestaltung der Gesamtordnung richten.“78

Wilhelm Röpke meinte in diesem Zusammenhang, dass der „Begriff des Wohlfahrtsstaates vieles umfaßt, zu dem wir nicht einfach nein sagen können“79. Es ist allerdings ein Gebot der Redlichkeit zu erwähnen, dass es gerade Wilhelm Röpke war, der immer wieder nachdrücklich vor dem „unaufhaltsamen Fortschreiten des Wohlfahrtsstaates“ gewarnt hat80. Ihm ging es um die Bestimmung von dessen Grenzen und Gefahren81, in Abgren  S. zu dieser schwierigen Abgrenzung Kling (2014) 3 ff., 13 ff.; Kling/Dally (2014) 3 ff.   Abgesehen von dem seltenen Ausnahmefall, dass das Unionsrecht selbst eine entsprechende „Opt-out-Regelung“ enthält. 77  Zu den gesellschaftspolitischen Aspekten des Ordoliberalismus („Soziale Frage“) nach dem Zweiten Weltkrieg siehe Ptak (2004) 189 ff. 78   Eucken (1952) 313. 79   W. Röpke (1961) 227. 80   W. Röpke (1961) 226. 81   W. Röpke (1961) 228. 75 76

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zung von „den Sozialdemagogen, die die Versprechungen des Wohlfahrtsstaates und inflationärer Politik zur politischen Bestechung der Massen benutzen“82. Für Röpke war „dieser aufgeblähte Wohlfahrtsstaat von heute im Grunde ein Anachronismus“83. Schließlich bestand ja auch ein wesentliches Merkmal der „Sozialen Marktwirtschaft“ Ludwig Erhards darin, den Sozialstaat nicht ausufern zu lassen, sondern vornehmlich auf die Prinzipien der Eigenverantwortung und Geldwertstabilität zu setzen84. Wie auch immer man zum Thema Sozialstaat und Sozialfürsorge stehen mag, so lässt sich doch für die Kartellrechtsanwendung feststellen, dass soziale Erwägungen hierfür naturgemäß von untergeordneter Bedeutung sind. Es gibt zwar eine Handvoll eng gefasster sog. Bereichsausnahmen vom Kartellrecht, so etwa für den Bereich des Arbeitskampfes und des Tarifrechts85. Außerdem hat der EuGH eine Bereichsausnahme vom Unionskartellrecht für bestimmte, vorgeblich „rein soziale“, nichtwirtschaftliche Tätigkeiten von gesetzlichen Krankenkassen (bzw. ihren Verbänden) und Rentenversicherungsträgern anerkannt86. Diese Rechtsprechung wird aber von dem überwiegenden Teil des deutschen Schrifttums abgelehnt87. Der BGH hat sie für das deutsche Kartellrecht zu Recht nicht übernommen, und der deutsche Gesetzgeber hat die Streitfrage dadurch geklärt, dass er durch eine Vorschrift im Fünften Sozialgesetzbuch die entsprechende Geltung des deutschen Kartellrechts für gesetzliche Krankenkassen ausdrücklich anordnete88.   W. Röpke (1961) 227.   W. Röpke (1961) 229 (Hervorhebung im Original). 84  Näher dazu Erhard (2009) 23, 112 ff., 286 ff., 288 ff.; aus wissenschaftlicher Sicht damit übereinstimmend W. Röpke (1961) 226 ff. 85   St. Rspr. des EuGH, zuletzt bestätigt durch EuGH v. 4.12.2014 – Rs. C-413/13, WRP 2015, 337 = NZKart 2015, 147 – FNV Kunsten Informatie en Media/Staat der Niederlanden mit folgendem Leitsatz: „Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass eine tarifvertragliche Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die Mindesttarife für selbständige Dienstleistungserbringer vorsieht, die einer der angeschlossenen Arbeitnehmervereinigungen angehören und für einen Arbeitgeber auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags die gleiche Tätigkeit ausüben wie die bei diesem Arbeitgeber angestellten Arbeitnehmer, nur dann vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen ist, wenn die Leistungserbringer ‚Scheinselbständige‘ sind, d. h. sich in einer vergleichbaren Situation wie die Arbeitnehmer befinden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.“ Siehe dazu auch Lettl (2015) 294 ff. 86  EuGH v. 17.2.1993 – verb. Rs. C-159/91 und C-160/91, Slg. 1993, I-637 Tz. 15, 18 – Poucet und Pistre; EuGH v. 16.3.2004 – verb. Rs. C-264/01, C-301/01, C-354/01 und C-355/01, Slg. 2004, I-2493 Tz-57 – AOK Bundesverband u. a./Ichthyol u. a.; EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03, Slg. 2006, I-6295 Tz. 24 ff. – FENIN/Kommission. 87   Siehe dazu ausführlich Kling/Thomas (2016) § 4 Rn. 18, § 5 Rn. 23 ff., 31, jeweils m.w.N. 88   § 69 Abs. 2 SGB V lautet: „Die §§ 1, 2, 3 Absatz 1, §§ 19, 20, 21, 32 bis 34a, 48 bis 80, 81 Absatz 2 Nummer 1, 2a und 6, Absatz 3 Nummer 1 und 2, Absatz 4 bis 10 und §§ 82 bis 95 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten für die in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen entsprechend.“ Mit den „in Absatz 1 genannten Rechtsbeziehungen“ 82 83

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Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass auch nach Ansicht des EuGH die Einrichtungen des sozialen Sektors nicht schlechthin, sondern nur im Hinblick auf „rein soziale“ Tätigkeiten vom Anwendungsbereich des Unionskartellrechts ausgenommen werden (wie z B. die Festbetragsfestsetzung durch die gesetzlichen Krankenkassen und ihre Verbände, die Verwaltung der gesetzlichen Rentenversicherung etc.)89. Notfall- und Krankentransportdienstleistungen werden vom EuGH beispielsweise zutreffend als wirtschaftliche Tätigkeiten qualifiziert90. Insgesamt leidet die Rechtsprechung des EuGH zum Bereich der sozialen Sicherungssysteme an einer bemerkenswerten Unschärfe, was hier aber nicht vertieft werden kann91. Jenseits der angesprochenen Bereichsausnahmen können soziale Erwägungen in sehr engen Grenzen bei der Rechtfertigung von Kartellen gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV (bzw. § 2 GWB) eine Rolle spielen. Die Rspr. des EuGH und die Kommission haben – wenngleich nur vereinzelt – nichtwirtschaftliche, „soziale“ Umstände wie die Erhaltung von Arbeitsplätzen92 zu den Effizienzgewinnen im Sinne der Vorschrift gerechnet. In aller Regel dient das Eingehen der Unionsorgane auf nichtwettbewerbliche Zielsetzungen aber bloß der zusätzlichen Absicherung des nach Art. 101 Abs. 3 AEUV

sind „die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen und ihrer Verbände zu Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Apotheken sowie sonstigen Leistungserbringern und ihren Verbänden, einschließlich der Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse nach den §§ 90 bis 94“ gemeint. 89   In dem Fall AOK Bundesverband aus dem Jahr 2004 hat der EuGH zutreffend klargestellt, man könne nicht ausschließen, dass die gesetzlichen Krankenkassen und die Kassenverbände „außerhalb der Aufgaben rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeit ausüben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben“, sodass sie als Unternehmen bzw. als Unternehmensvereinigungen im unionskartellrechtlichen Sinn anzusehen seien, s. EuGH v. 16.3.2004 – verb. Rs. C-264/01, C-301/01, C-354/01 und C-355/01, Slg. 2004, I-2493 Tz-58 – AOK Bundesverband u. a./Ichthyol u. a. Zum sog. relativen Unternehmensbegriff siehe noch Kling (2014) 61. 90   EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-475/99, Slg. 2001, I-8089 Tz. 22 – Ambulanz Glöckner/ Landkreis Südwestpfalz. 91   Näher dazu Kling (2014) 56 ff. 92   EuGH v. 25.10.1977 – Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 Tz. 43 – Metro/Kommission: „(...) Außerdem stellt der Abschluss von Lieferverträgen für einen angemessenen Zeitraum ein stabilisierendes Element für die Erhaltung von Arbeitsplätzen dar, die unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der allgemeinen Bedingungen der Warenerzeugung gerade unter den Voraussetzungen einer ungünstigen Wirtschaftskonjunktur zu den Zielen gehört, die Artikel 85 Absatz 3 zu verfolgen gestattet.“; EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 42/74, Slg. 1985, 2545 Tz. 42 – Remia/Kommission (i. E. allerdings verneinend); EuG v. 15.7.1994 – Rs. T-17/93, Slg. 1994, II-595 Tz. 139 – Matra Hachette/Kommission betreffend die Auswirkungen des streitgegenständlichen Vorhabens „auf die staatlichen Infrastruktureinrichtungen und die Beschäftigung sowie auf die europäische Integration“; s. ferner Kommission v. 23.12.1992, Fall IV/33.814, ABl. EG 1993 Nr. L 20, S. 14 Tz. 36 – Ford/Volkswagen.

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bzw. § 2 Abs. 1 GWB gefundenen Ergebnisses. Für die Frage der Rechtfertigung potentiell missbräuchlichen Verhaltens nach Art. 102 AEUV bzw. § 19 GWB kann insoweit nichts anderes gelten. Vor diesem Hintergrund wäre es verfehlt, wenn man aus den eng zu interpretierenden Bereichsausnahmen im sozialen Bereich und aus der bloß rudimentären Fallpraxis zur Rechtfertigung von Kartellen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV schließen wollte, dass das Kartellrecht echte „soziale Elemente“ enthielte, dass es der Verwirklichung der Idee sozialer Gerechtigkeit dienen würde oder dergleichen. Die Europäischen Wettbewerbsregeln der Art. 101 ff. AEUV und die §§ 1, 19 GWB auf nationaler Ebene haben zumindest nicht unmittelbar das Ziel der Mehrung sozialer Gerechtigkeit. Sie dienen dem Schutz des Wettbewerbs, was mittelbar zu den erwünschten sozialen Folgewirkungen führt93. Wettbewerbstheoretisch stände ein Modell der „sozialen Gerechtigkeit“ ohnehin auf wackligen Füßen. Friedrich A. v. Hayek hat es einmal mit scharfen Worten als „quasi-religiösen Aberglauben“ zurückgewiesen94. Dieser Frage soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Anderenfalls müssten wir die Büchse der Pandora „Soziale Marktwirtschaft im europäischen Kontext“ öffnen, was vom eigentlichen Thema wegführen würde95.

D.  Die konkurrierenden liberalen Wettbewerbstheorien von J. M. Clark und F. A. v. Hayek sowie ihre Bedeutung für die praktische Kartellrechtsanwendung I. Überblick Wer über Wettbewerbstheorien und Kartellrecht spricht, der darf die Namen zweier bedeutender Wirtschaftswissenschaftler, die nicht zu den Ordoliberalen rechnen, nicht unerwähnt lassen: John Maurice Clark (1884–1963) und 93   Siehe auch Erhard (2009) 1 f.: „Das erfolgversprechendste Mittel zur Erreichung und Sicherung jeden Wohlstands ist der Wettbewerb. Er allein führt dazu, den wirtschaftlichen Fortschritt allen Menschen, im besonderen in ihrer Funktion als Verbraucher, zugute kommen zu lassen, und alle Vorteile, die nicht unmittelbar aus höherer Leistung resultieren, zur Auflösung zu bringen. Auf dem Weg über den Wettbewerb wird – im besten Sinne des Wortes – eine Sozialisierung des Fortschritts und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wachgehalten.“ (Hervorhebung im Original) 94   v. Hayek (1981) 98: „(...) Womit wir es im Falle der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ zu tun haben, ist einfach ein quasi-religiöser Aberglaube von der Art, daß wir ihn respektvoll in Frieden lassen sollten, solange er lediglich seine Anhänger glücklich macht, den wir aber bekämpfen müssen, wenn er zum Vorwand wird, gegen andere Menschen Zwang anzuwenden. Und der vorherrschende Glaube an ‚soziale Gerechtigkeit‘ ist gegenwärtig wahrscheinlich die schwerste Bedrohung der meisten anderen Werte einer freien Zivilisation.“ 95   S. dazu Kling (2015) 433, 477. Zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard siehe zuletzt Wünsche (2015) passim.

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Friedrich August v. Hayek (1899–1992). Ich wage die Behauptung: Mit den von ihnen gewonnenen grundlegenden Erkenntnissen kann man auch heute noch schwierig zu lösende Fallgestaltungen im Kartellrecht praktisch bewältigen. Diese positive Einschätzung der Kartellrechtswissenschaft kontrastiert allerdings deutlich mit der Sicht der Ordoliberalen auf die von ihnen teilweise als „Altliberale“ oder „Paläoliberale“ verspotteten Wissenschaftler, namentlich jene der sog. Österreichischen Schule. Manche Ordoliberalen hatten vor allem gegenüber v. Hayek und seinem Lehrer Ludwig v. Mises (1881–1973)96 erhebliche Vorbehalte, weil deren wissenschaftliches Werk verfrüht als überholt angesehen wurde. Sehr treffend ist die folgende, allerdings nur privatim (nämlich brieflich) getätigte Äußerung Alexander Rüstows gegenüber Wilhelm Röpke vom 21. Februar 1942: „[Hayek und] sein Meister Mises gehören in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe97 heraufbeschworen haben.“

Mit Euckens Forderung nach einer „positiven wirtschaftlichen Ordnungspolitik“ bzw. einer „positiven Wirtschaftsverfassungspolitik (…) die darauf abzielt, die Marktform der vollständigen Konkurrenz zur Entwicklung zu bringen“98, lässt sich v. Hayeks Denken in der Tat nur schwer vereinbaren. Die beiden Genannten waren einander allerdings sowohl fachlich als auch persönlich freundschaftlich verbunden, und es ist eine spannende Frage, zu welchen Ergebnissen die wissenschaftlichen Diskussionen zwischen ihnen geführt hätten, wenn Walter Eucken nicht plötzlich und unerwartet im Jahr 1950 auf einer Vortragsreise in London verstorben wäre99. Der relativ frühe Tod Euckens ist umso bedauerlicher, als er sich der meisten von v. Hayek identifizierten Probleme bewusst war. Er schreibt beispielsweise im Jahr 1948, dass niemand „den Gesamtprozeß tagtäglich überblicken“ sowie „unmittelbar die notwendigen Anpassungen und Veränderungen vollziehen“

96  Mises Hauptwerk Nationalökonomie. Theorie des Handelns und des Wirtschaftens erschien 1940 in Genf. 97  Gemeint ist wahrscheinlich die „Große Depression“ seit 1929, die bis tief in die 1930er Jahre hineinwirkte. 98   Eucken (1952) 255. 99  v. Hayek (1994) 2: „Weitaus am wichtigsten für mich war aber meine langjährige Freundschaft, gegründet auf völlige Übereinstimmung in theoretischen wie in politischen Fragen, mit dem unvergeßlichen Walter Eucken.“; s. dazu auch Lenel (1975b) 72, der feststellt, dass v. Hayeks Kennzeichnung des Wettbewerbs als ein Entdeckungsverfahren Eucken nicht bekannt gewesen sei. Das ist plausibel, da Eucken 1950 verstorben war und v. Hayek sein Konzept erst in seinem Kieler Vortrag von 1968 öffentlich präsentierte. Lenel, ein Schüler Euckens, hält v. Hayeks Betrachtung des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren zutreffend für „eine wichtige Bereicherung des wettbewerbstheoretischen Denkens“, s. Lenel (1975a) 329.

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könne100, und er konstatiert in den posthum veröffentlichten Grundsätzen der Wirtschaftspolitik, dass die Lenkung des Wirtschaftsprozesses dadurch „wesentlich kompliziert“ werde, dass dieser „meist dynamischen Charakter“ trage101. Daraus folgt, dass man zwischen den Vertretern verschiedener wettbewerbstheoretischer Schulen nicht unbedingt einen krassen Gegensatz in den grundsätzlichen Anschauungen festzustellen vermag. II.  Die wettbewerbsfördernde Wirkung sog. Marktunvollkommenheiten – Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs nach J. M. Clark Das von Clark um das Jahr 1940 entwickelte Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs (engl. workable competition) stellt einen Meilenstein – nicht nur in wettbewerbstheoretischer Hinsicht, sondern auch für die Kartellrechtsanwendung – dar102. Etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts machte dieses Konzept der Theorie der vollständigen Konkurrenz die Vorherrschaft streitig, um sie in der Folgezeit nahezu völlig zu verdrängen. Der Marburger Ökonom Erich Hoppmann hat mit zwei wichtigen Beiträgen aus den Jahren 1966 und 1967 zur Verbreitung dieses Wettbewerbskonzepts im deutschen Sprachraum beigetragen103. Der „funktionsfähige Wettbewerb“ markiert insofern die kopernikanische Wende in der Wettbewerbstheorie, als von Clark kein „vollkommener Wettbewerb“ mehr angestrebt, sondern ausdrücklich ein sog. second best-Konzept verfolgt wird: “(...) With this has come the realization that ‘perfect competition’ does not and cannot exist and has presumably never existed, for reasons quite apart from any inescapable tendency toward collusion, such as Adam Smith noted in his familiar remark on the gettings-together of members of a trade104. What we have left is an unreal or ideal standard which may serve as a starting point of analysis and a norm with which to compare actual competitive conditions. It has also served as a standard by which to judge them.”105

Der entscheidende Wandel besteht darin, dass erstmals bestimmte Marktunvollkommenheiten (engl. remedial imperfections) nicht mehr als wettbe-

  Eucken (1948) 56, 63.   Eucken (1952) 5. 102   Clark (1940) 241 ff. 103   Hoppmann (1966) 249 ff.; Hoppmann (1967) 145 ff. 104   Adam Smith, Wealth of Nations, 1776, vol. 1, Book I, Chapter X, p. 160: “People of the same trade seldom meet together, even for merriment and diversion, but the conversation ends in a conspiracy against the publick, or in some contrivance to raise prices. It is impossible indeed to prevent such meetings, by any law which either could be executed, or would be consistent with liberty and justice. But though the law cannot hinder people of the same trade from sometimes assembling together, it ought to do nothing to facilitate such assemblies; much less to render them necessary.” (unveränderte Orthographie der Erstausgabe) 105   Clark (1940) 241. 100 101

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werbsvermindernd, sondern zutreffend als wettbewerbsfördernd erkannt wurden (sog. „Gegengiftthese“)106: “For some of the features listed as ‘imperfections’ in our present theoretical scheme may turn out to have some positive use in actual situations. It would be a truism to say that the most effective forms of competition we have, or can have, are imperfect forms, since there are no others.”107

Eine grundlegende Erkenntnis Clarks, die der Theorie der vollständigen Konkurrenz diametral entgegensteht, lautet, dass die Reduzierung oder gar der Ausschluss von Unsicherheit für den Wettbewerb grundsätzlich nachteilig ist108. D. h. die Ungewissheit über das Verhalten der Marktteilnehmer infolge unvollkommener Marktübersicht fungiert – vor allem im Oligopol – als Motor des Wettbewerbs. Die positive Bewertung von bestimmten Marktunvollkommenheiten durch Clark wird heute rückblickend zu Recht als „der entscheidende Meilenstein für die Entwicklung der dynamischen Wettbewerbstheorie in den folgenden Jahrzehnten“ bewertet109. Seine Erkenntnisse werden im Kartellrecht beispielsweise im Rahmen der Kartellverbote des Art. 101 AEUV und § 1 GWB für identifizierende Preismeldesysteme110 bzw. für den Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern allgemein111 fruchtbar gemacht. Der Austausch marktrelevanter, nicht aggregierter Daten zwischen Wettbewerbern verstößt nämlich gegen die genannten Kartellverbote. Ob der Informationsaustausch unmittelbar zwischen den konkurrierenden Unternehmen oder mittelbar über deren Unternehmensverbände erfolgt, spielt keine Rolle, da auch Verbände Normadressaten des Kartellrechts sind. Später begründete John M. Clark seine Theorie in einer Monographie mit dem Titel Competition as a Dynamic Process aus dem Jahr 1961 wesentlich ausführlicher. Bereits ab 1954 hatte er die Begrifflichkeit etwas verändert, indem er von dem Ausdruck workable competition zu der Bezeichnung effective competition wechselte. Entscheidend ist aber nicht so sehr die terminologische Abweichung, sondern vielmehr, dass der Wettbewerb von ihm vor allem als ein dynamischer Prozess charakterisiert wird112, der durch eine Folge nie abgeschlossener Vorstoß- und Verfolgungsphasen (engl. “a sequence

 Kling/Thomas (2016) § 1 Rn. 20.   Clark (1940) 242. 108   Clark (1940) 249. 109   Schmidt/Haucap (2013) 13; anders noch Schumpeter (1950) 135 Fn. 1. 110   Zum Problem der Marktinformationsverfahren s. Kling/Thomas (2016) § 5 Rn. 79, 126 ff. 111   S. z. B. Dreher/Hoffmann/Kling (2015) § 7 Der Austausch von Informationen in der Versicherungswirtschaft; Kling/Thomas (2016) § 5 Rn. 79, 126 ff. 112  Clark (1954), Author’s Preface: “The theory of effective competition is dynamic theory”. 106 107

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of initiatory moves and counteracting responses)113 gekennzeichnet ist114. Dazu schreibt Clark Folgendes: “The basic relation between initiatory and defensive competition can be briefly stated: without initiatory moves, competition does not begin, without defensive responses it does not spread.”115

Temporäre Vorzugsstellungen einzelner Wettbewerber gelten seither als tolerierbare Erscheinungen des Wirtschaftslebens, wobei die Geschwindigkeit ihres Abbaus als Ansatzpunkt für die Bestimmung der Wettbewerbsintensität zu betrachten ist116. Die zentrale Erkenntnis Clarks, dass Wettbewerb kein statisches, sondern ein dynamisches Geschehen ist, hat für das Kartellrecht eminente Bedeutung. Daraus folgt beispielsweise, dass der Schutz des Wettbewerbs vor allem auch den potenziellen Wettbewerb bzw. potenzielle Unternehmen i. S. des Kartellrechts mit einschließen muss. Daraus ergibt sich weiter, dass die Innehabung von Marktmacht durch Unternehmen nicht in Stein gemeißelt und also für sich besehen keinen rechtfertigenden Grund für die Zerschlagung von marktmächtigten Unternehmen bildet. III.  Spontane Ordnung und Wettbewerb als Entdeckungsverfahren nach F. A. v. Hayek Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1974, Friedrich A. v. Hayek, beschreibt den Wettbewerb als eine „spontane Ordnung“117 bzw. als ein „Such- und Entdeckungsverfahren“118, dessen Ergebnisse nicht vorausgesagt werden können und die im Ganzen von niemandem hätten bewusst angestrebt werden können119. V. Hayeks Studien aus den 1960er Jahren zufolge entstehen Ordnungen bzw. Institutionen spontan, 113  Clark (1954) 326 et seq. Der zitierte Text steht dort in der Abschnittsüberschrift. Im Haupttext spricht Clark von einer “combination of (1) initiatory actions of a business unit, and (2) a complex of responses by those with whom it deals, and by rivals” (p. 326); s. ferner noch folgende Aussage: “Progress in efficiency implies leaders and followers; hence difference in efficiency and cost in different enterprises are not a mere random imperfection, but are of the essence of a progressive state.” (p. 329). 114   S. dazu auch Kling/Thomas (2016) § 1 Rn. 24. 115  Clark (1961); s. ferner Clark, a.a.O., Chapter 19 zum Thema “Common Requirements of Healthy Competition” unter Ziffer 4 “Competition as a Sequence of Moves and Responses” (471–476). 116   Schmidt/Haucap (2013) 14. 117   v. Hayek (1948) 30; ders. (1994) 40 ff., 108 ff., 161 ff.; s. ferner Hoppmann (1967) 242 f. 118   Grundlegend dazu v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Vortrag, gehalten am 5.7.1968 im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, wieder veröffentlicht in: v. Hayek (1994) 249 ff.; s. auch Kling/Thomas (2016) § 1 Rn. 31 ff. 119   Ebenso Hoppmann (1972) 17 = Hoppmann (1988) 305: „Die grundsätzliche Offenheit des Wettbewerbs als eines Entdeckungsverfahrens macht es unmöglich, den konkreten Ablauf gewünschter Marktprozesse durch ein Modell zu beschreiben.“

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d. h. sie sind weder geplant noch konstruiert, sondern es handelt sich um „unbeabsichtigte Konsequenzen absichtlicher Handlungen“120. Die wichtigsten Funktionen des wirtschaftlichen Wettbewerbs kämen also gar nicht zum Vorschein, wenn man von einer vollständigen Transparenz und der „Allwissenheit“ der Akteure über die Vorgänge auf dem Markt ausginge. Das Problem bestehe gerade darin, zu erklären, warum es für den Einzelnen möglich sei, unter Bedingungen der Ungewissheit über künftige Entwicklungen rational zu handeln. Nicht ohne Grund zitiert v. Hayek in Die Verfassung der Freiheit (dt. Ausgabe 1971) ein berühmt gewordenes Zitat von Oliver Cromwell: „Ein Mensch steigt niemals höher, als wenn er nicht weiß, wohin er geht.“121 Daraus folgen zugleich einige praktische Handlungsanweisungen für die Kartellrechtsanwendung: Zunächst ist der Gedanke abzulehnen, dass die Anwendung der wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen der Schaffung einer bestimmten, als besonders wettbewerbsfreundlich anzusehenden Marktstruktur dienen sollte. „Unschöne“ Marktergebnisse können lediglich indiziell als Aufgreifkriterien für eine Untersuchung durch die Kartellbehörden dienen, zu mehr aber sind sie nicht geeignet. Und sollte das Verbraucherverhalten einmal irrational, insbesondere wirtschaftlich nicht sinnvoll erscheinen (Beispiel: ein fehlender Wechselwille des Verbrauchers hinsichtlich günstigerer Telefon- und Internetanbieter), so hat diese Irrationalität von den Anwendern des Kartellrechts, namentlich von den zu seiner Durchsetzung berufenen Behörden, als Faktum akzeptiert zu werden. Außerdem legt v. Hayek den Finger in die Wunde des – maßgeblich von Walter Eucken geprägten122 – und bis heute im Kartellrecht angewandten Konzepts des sog. „Als-ob-Wettbewerbs“. Dieses Konzept wird von v. Hayek und seinen Schülern (wie z. B. dem Marburger Ökonomen Jochen Röpke in einem FAZ-Artikel aus dem Jahr 1974) mit beachtlichen Gründen als „Anmaßung von Wissen“ abgelehnt. Das „Als-ob-Konzept“ hat nach wie vor große Bedeutung im Zusammenhang mit Preishöhenmissbräuchen nach Art. 102 Satz 2 lit. a AEUV bzw. § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB (sog. Ausbeutungsmissbrauch). Gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB liegt ein Missbrauch vor, wenn marktbeherrschende Unternehmen Entgelte oder sonstige Geschäftsbedingungen fordern, die von denjenigen abweichen, die sich bei wirksamem Wettbewerb mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben würden. Der entscheidende Maßstab für die Prüfung, ob die jeweils verlangten Konditionen und Preise unter wettbewerbswidrigen Bedingungen zustande gekommen sind,   v. Hayek (1994) 97 ff.   v. Hayek (2005) 51. 122  S. zum Konzept des Als-ob-Wettbewerbs aus wettbewerbsökonomischer Sicht grundlegend Eucken (1952) 295; Lenel (1975a) 317 ff. 120 121

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ist der hypothetische Wettbewerb auf dem relevanten Markt, der „Als-obWettbewerb“ genannt wird. Der schwerwiegendste Einwand, dem sich das Konzept des „Als-ob-Wettbewerbs“ ausgesetzt sieht, ist die Tatsache, dass es mit dem Gedanken des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren i. S. der v. Hayek’schen Lehre nicht vereinbar ist. Jochen Röpke hat dies treffend auf den Punkt gebracht: Die Vertreter des Als-ob-Konzepts glaubten, „ein hochkomplexes Wettbewerbssystem so steuern zu können, als ob es weniger komplex wäre, als ob sie jene Informationen bereits besäße(n), welche erst durch normativ geregelten Wettbewerb unvoraussehbar geschaffen werden“123. V. Hayek bezeichnet „jede direkte Preiskontrolle“ als „mit dem Funktionieren des freien Systems“ aus verschiedenen Gründen für unvereinbar124. Derlei Kontrollen unterlägen ihrer Natur nach „dem Ermessen und der Willkür“ von Behörden125. Den Behörden solche Gewalten zu erteilen heiße aber, „ihnen die Macht zu geben, zu entscheiden, was und von wem und für wen produziert wird“126. Wenn man auf die Verfolgung von Ausbeutungsmissbräuchen durch das Kartellrecht nicht vollständig verzichten will, so existiert derzeit allerdings noch kein besser geeignetes oder weniger fehleranfälliges Modell zur Ermittlung der wettbewerbsanalogen Verhältnisse als das tradierte Als-ob-Konzept127. Der BGH hat daher in seiner sog. Wasserpreise-Rechtsprechung128 zu § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB a.F. (jetzt: § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB n.F.) sowie im Bereich der Preiskontrolle im Energiesektor129 keine andere Möglichkeit gehabt, als auf das Als-ob-Konzept zurückzugreifen.   J. Röpke (1974) 14.   v. Hayek (2005) 313. 125   v. Hayek (2005) 313 f. 126   v. Hayek (2005) 314. 127   Lenel (1975a) 325 ff. A.A. Röpke (1974) 14: „Eine Mißbrauchsaufsicht also, die ein marktbeherrschendes oder marktmächtiges Unternehmen zu jenem Verhalten zwänge, das bei Vorherrschen von (Als-ob)Wettbewerb bestünde, scheint offensichtlich nicht möglich. Die Wettbewerbspolitik des Als-ob ist eine Fehlentwicklung, die (...) weit hinter jenen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis zurückgeht, auf der Adam Smiths Vorstellung vom freien Wettbewerb unter der Herrschaft des Gesetzes gründet (...).“ 128   BGH WuW/E DE-R 3632 Tz. 17 = NJW 2012, 3243 – Wasserpreise Calw; BGHZ 164, 168 Tz. 26 = NJW 2010, 2573 – Wasserpreise Wetzlar: „Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass mit der 6. GWB-Novelle 1998 das System der konstitutiv wirkenden Abstellungsverfügung durch ein ex tunc wirkendes Missbrauchsverbot in § 19 GWB ersetzt worden ist. Dieses Missbrauchsverbot gilt zwar auch für Wasserversorgungsunternehmen (...). Denn es besteht kein Anlass, diese Unternehmen etwa von einer Kontrolle anhand des Alsob-Wettbewerbspreises freizustellen und sie nur an dem Vergleichspreis im Feld mehrerer Monopolunternehmen nach § 103 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 GWB 1990 zu messen. Daraus ergibt sich aber kein Grund, das Regelungssystem der § 22 Abs. 5, § 103 Abs. 5, 7 GWB 1990 auf Wasserversorgungsunternehmen nicht mehr anzuwenden. (...)“ 129  BGHZ 163, 282 Tz. 27 = WuW/E DE-R 1513 – Stadtwerke Mainz: „Kommt es danach darauf an, im Rahmen des ‚Als-Ob-Konzepts‘ den Vergleichspreis zu ermitteln, den das in die Betrachtung einbezogene andere Unternehmen als Netzbetreiber in dem Gebiet 123 124

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E. Schluss Insgesamt zeigt sich, dass die ordoliberalen Lehren, die bei der Schaffung des europäischen wie des deutschen Kartellrechts gleichermaßen Pate gestanden haben, in einigen wesentlichen Punkten teilweise überholt sind (scil. „Theorie der vollständigen Konkurrenz“, „starker Staat“), während andere Erkenntnisse nach wie vor Gültigkeit besitzen (scil. „Wettbewerb als Entmachtungsinstrument“, Verringerung von Marktzutrittsschranken, insbesondere durch den Schutz des potenziellen Wettbewerbs). Die hier geäußerte Kritik mindert die großen Verdienste der Ordoliberalen im Ergebnis nicht. Deren wissenschaftliche Arbeiten dürften erheblich dazu beigetragen haben, dass die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine zentralverwaltungswirtschaftlich gelenkte „sozialistische“ Wirtschaftsordnung bekommen hat130. Das ist zwar ein Gedanke, der uns heute gänzlich fernliegend erscheint, er war immerhin unter den Intellektuellen Großbritanniens gegen Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus populär – und zwar so populär, dass v. Hayek sich zur Abfassung seines wichtigen Buches The Road to Serfdom (1944) entschloss, welches er „den Sozialisten in allen Parteien“ (engl. “To the Socialists in all Parties”) widmete. In Deutschland haben gegen Ende der 1940er Jahre offenbar parteienübergreifend ganz ähnliche „sozialistische“ Vorstellungen bestanden131. Mein Fazit lautet ungeachtet dessen, dass sich die liberalen Lehren von J. M. Clark und F. A. v. Hayek für die Lösung wettbewerbsrechtlicher Fälle der Betroffenen fordern würde, können bei den Zu- und Abschlägen ausschließlich solche Faktoren Berücksichtigung finden, mit denen jeder Anbieter von Netzdienstleistungen in diesem Gebiet konfrontiert wäre. Das führt dazu, daß individuelle, allein auf eine unternehmerische Entschließung zurückgehende Umstände außer Betracht zu bleiben haben, dagegen strukturelle Gegebenheiten, die jeden Anbieter treffen und von ihm bei seiner Entgeltgestaltung beachtet werden müssen, den Ansatz von Zu- oder Abschlägen rechtfertigen.“ 130   A. A. Wünsche (2015) 54 mit Fußn. 38, 59 ff., 94, der dieses Verdienst allein der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards zuschreibt. Erhard selbst hat sich dahin geäußert, dass er Wilhelm Röpkes Bücher noch im Dritten Reich gelesen, als Offenbarung empfunden und daraus Trost geschöpft habe (Brief von Erhard an Röpke v. 7. 10. 1959, zitiert nach Hentschel [1996], 65). 131   Siehe dazu Wünsche (2015) 87: „Auch in allen damals [scil. vor 1948] aktiven Parteien – auch der CDU – galt der Sozialismus – natürlich nicht der Bolschewismus, sondern eine irgendwie humanere Variante – als die einzig zukunftsfähige Ordnung. Diese Ansicht war so fixiert, dass der Vorsitzende der Berliner CDU, Jakob Kaiser, glaubte, [Ludwig] Erhard nachdrücklich warnen zu müssen: In einer öffentlichen Versammlung werde jeder, der es ablehnt, sich als Sozialist zu bezeichnen, als liberal-kapitalistisch-reaktionär abgestempelt.“ Wünsche (2015) 81 zufolge soll im Jahr 1951 bei vielen die Überzeugung bestanden haben, dass die durch die Korea-Krise bewirkten Preissteigerungen nur durch eine Rückkehr zu Bewirtschaftung und Preiskontrollen zu bewältigen seien. Siehe bestätigend ferner W. Röpke (1961) 41: „Als der zweite Weltkrieg zu Ende ging, gab es nur wenige, die es wagten, der freien Wirtschaftsordnung der Marktwirtschaft ein gutes Leumundszeugnis auszustellen oder gar noch eine Zukunft vorauszusagen.“

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gegenüber dem ordoliberalen Gedankengut als wirkungsvoller erweisen. Sie sind erheblich passgenauer und vor allem nicht mit einer Theorie belastet, die wie die „Theorie der vollständigen Konkurrenz“ allein im wirtschaftswissenschaftlichen Modell, nicht aber in der Praxis, funktionieren kann.

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Archäologie und Geschichte

Was heißt „Frühe keltische Kunst“? Otto-Herman Frey Erreichen wir durch diese Frage schon einen Einblick in die Vorstellungswelt der Kelten im 5./4. Jahrhundert v. Chr., also unmittelbar vor oder am Beginn des Zeitraums, in dem nach antiken Erwähnungen ganze Stämme über die Alpen in die antike Welt einfielen? Finden wir jetzt in reich ausgestatteten Gräbern Mitteleuropas Güter, die unter griechischen bzw. etruskischen Anregungen in einem neuen Stil, dem sogen. Latènestil verziert wurden? Unterscheiden diese sich deutlich von den etwas älteren der Hallstattzeit? Wie weit spiegelt sich darin ein Aufbruch in eine sich ändernde geistige Situation? Der Marburger Wissenschaftler Paul Jacobsthal1, der bis zu seiner Emigration 1935 den hiesigen Lehrstuhl für Archäologie inne hatte und Grundlegendes zum Ausbau unseres ganzen Fachs leistete, war fasziniert von dem Widerschein griechischer Elemente in dieser uns so fernen Kunstübung, begann daraufhin ihre einzelnen Motive genauer zu analysieren, und bezeichnete die Werke der ganzen Zeitstufe, Namen prägend, als „frühe keltische Kunst“. Dass es bereits in der vorausgehenden Hallstattzeit engere Kontakte mit der antiken Welt gab, was z. B. zahlreiche Scherben griechischer Keramik aus Siedlungsgrabungen erkennen lassen, war ihm und seinen Kollegen damals noch unbekannt2. Doch wird daran heute deutlich, dass nicht die unmittelbare Begegnung mit dem antiken Kulturraum die Epochenwende brachte, sondern dass erst weitere Schritte den hier zu diskutierenden Wandel in den Köpfen der Menschen auslösten. Was ist dabei historisch relevant? Können wir mehr aus den Kunstwerken selbst erschließen? Besprechen wir ‚skizzenhaft‘ lediglich ein Ornament als Beispiel aus dieser Epoche (Abb. 1)3 trotz dem Vorbehalt, dass sich in den weit ausgreifenden Keltengebieten gewisse lokale Schattierungen in Motivauswahl und Stil ergeben4. Ich wähle den Schmuck eines importierten Bronzegefäßes, nämlich die sekundären Gravuren auf einer etruskischen Schnabelkanne ohne genaueren 1   Von den zahlreichen Nachrufen vgl. z. B. Jagust (2012). Zum Werk des Wissenschaftlers in vorliegendem Zusammenhang vgl. Jacobsthal (1944). 2   Kimmig (2000). 3   Frey (1955). 4   Einen gewissen Überblick über die frühe keltische Kunst vermitteln neuere Ausstellungskataloge, z. B. Kat. Frankfurt (2002); Kat. Bern (2009); Kat. Stuttgart (2012/13). Für ein typisches Beispiel aus dem mittleren Kunstgebiet siehe Frey (1971).

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Fundort im Museum in Besançon. Etruskische Gefäße kennen wir in Mitteleuropa aus zahlreichen Gräbern des späten 6. und des 5. Jahrhunderts, die deutlich machen, dass sogar solchen fremden Kannen im lokalen keltischen Bestattungsritual ein besonderer Platz zukam5. Unser Exemplar illustriert also ebenfalls damalige über die Alpen führende Beziehungen. Vergleichbare keltische Gravuren auf Grabbeigaben aus Nordfrankreich lassen den ursprünglichen Ort der Bergung unseres Stücks erahnen. Um vor Jahren für die Publikation eine zeichnerische Abrollung der Kannenzier herzustellen, dachte ich mir einen Zylinder um das Gefäß, auf den die Muster gleichsam projiziert seien. Diesen konnte ich ‚aufschneiden‘ und flächig ausbreiten. Entsprechend wurde der Dekor um den vorspringenden Schnabel etwas verzerrt, und der nach innen umgebogene Schulterbereich fiel schmäler aus. Doch blieb so der Aufbau des Ornaments unverändert. Die Gravuren überziehen in mehreren horizontalen Zonen die gesamte Kanne. Hinzu kommt der beim Abstellen des Behälters nicht erkennbare, jedoch ebenfalls geschmückte Boden. Die Zier musste also nicht uneingeschränkt sichtbar, nur vorhanden sein. In der Mitte der obersten Schmuckzone, d. h. unmittelbar unter dem Schnabel, ist ohne Mühe eine Palmette mit punktgefüllten Blättern erkennbar. Letztere sind nicht frei vom Untergrund abgehoben, sondern noch einmal durch leichte Einziehungen im glatten Fond nachgezeichnet. Die zwei untersten Blätter sind mit zwei weiteren, die sich aus der Umrahmung lösen, zu Blattwirbeln verschlungen, deren Schwung sich nach den Seiten wie mit einer Ranke in einem breiten, an- und abschwellenden Band im glatten Grund – verdickt durch lanzettförmige Gebilde mit Wellenlinie – zu weiteren Blattwirbeln hinzieht. Charakteristisch für unseren Dekor ist, dass die gefüllten Elemente und der glatte Fond erst zusammen die Komposition wiedergeben. Ein neutraler Hintergrund entfällt. Das Konzept für das zunächst verwirrende Muster wird aber beim Vergleich mit dem Halsornament einer anderen etruskischen Kanne sofort verständlich (Abb. 2)6. Auf dem Schulterfries sehen wir eine Folge abwechselnd stehender und hängender Dreiblatt-Palmetten, verbunden ebenfalls durch ein für die Zeit typischerweise verdicktes Band (Ranke), in welchem wieder lanzettförmige Füllungen schwimmen. Man könnte das ganze Ornament mit den fortlaufenden Bogenfriesen auf dem Helm aus dem Prunkgrab von Berru, Marne, vergleichen (Abb. 3, 2–3)7, wo nur auf dem Nackenschirm das Muster zu vier Wirbeln vereinfacht ist (Abb. 3, 4), oder z. B. mit etruskischen Zierborten, wie sie figürliche Szenen etwa auf den Elfenbeinzisten aus der Pania-Nekropole von Chiusi rahmen.   Vorlauf (1997); Adam (2003).   Nach Jacobsthal/Langsdorff (1929) Taf. 37a; vgl. auch Taf. 14a. 7   Nach Dechelette (1914) Fig. 656. 5 6

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Bezeichnend ist, dass in unserem Fall die Dreiblatt-Palmetten nicht nur durch einen Bogen eingefasst sind, sondern im glatten Grund als Teil eines ‚Fächers‘ erscheinen, welchen die gefüllten, geschweiften Dreiecke an langen Stängeln umgeben; bei letzteren handelt es sich um ein deutliches Negativmotiv, vgl. (Abb. 4, 1)8. Fächer kehren häufig auf etwas jüngeren keltischen Arbeiten wieder (Abb. 5, 1–3), z. T. auch aufgeschnitten, wobei ein kleinerer Fächer umgekehrt in einen größeren eingeschoben wird (Abb. 5, 6); ebenso mögen Dreiecke Fächer ersetzen, wobei jene sich weiter verranken (Abb. 5, 4–5). Eine solche Gestaltung zeichnet sich auch schon bei unserem Stück an Trieben im umrahmten glatten Grund ab. Dass hier zusammen mit dem ursprünglichen Hintergrund neue, selbständige Motive erfunden wurden, ist evident. Die Muster der großen Bauchzone der Kanne sind eng an die Zier des Schulterfrieses angelehnt. In der Mitte hängt ein großes Dreiblatt, nur von einer punktgefüllten Linie halbkreisförmig umzogen. Sein Mittelblatt ist mit einem der gerade beschriebenen verselbständigten Blatt-Dreieck-Motive zwischen dislozierten Gebilden mit Wellenlinie gefüllt (Abb. 4, 3). Den Raum daneben nehmen zwei hornförmige Körper ein. Die Seitenblätter des großen ‚Dreiblatts‘ mit Füllseln aus reduzierten ‚Halbpalmetten‘ kreiseln mitsamt zweier entsprechender Blätter um ein Band im glatten Grund, das sich rankenartig in leicht S-förmigem Schwung zur Henkelseite der Kanne fortsetzt. Dort sind aber an Stelle eines zu erwartenden aufrecht stehenden Dreiblatts zwei große, verselbständigte Blattwirbel wiedergegeben. Denn die Stelle eines Mittelblattes nimmt hier die Henkelattache ein. Die hornförmigen Gebilde von der Vorderseite der Kanne wurden zu langen Blättern abgerundet. In den Zwickeln ober- und unterhalb des rankenartigen Bandes, das die großen Motive verbindet, tummeln sich verschiedene, bereits in anderen Zusammenhängen gesehene Schmuckelemente, immer wieder in kleinen Blattwirbeln zusammengeführt. Der schmale Fries darunter zeigt eine Folge von Blatt-Dreieck-Motiven, wieder verbunden durch das Band (die fette Ranke) mit den lanzettförmigen Füllungen, zusammen lesbar durch den alles umfangenden glatten Grund. Das Schema des Dekors bilden aneinandergereihte S-Spiralen (Abb. 6, 1), an deren Enden sich jeweils ein gefülltes und ein leeres Blatt, wie schon mehrfach beschrieben, umeinander rollen. Den Boden der Kanne schmückt ein zusammenhängendes Wirbelmuster. Ein glattes Band umschlingt vier kleine Blattwirbel, von denen jeweils Halbpalmetten ausgehen. Einen reicher ausgeführten Vergleich – wieder aus dem gleichen Kunstkreis – bietet die Zier der Bronzeschale von Les SaulcesChampenoises, Ardennes (Abb. 7)9.   Frey (2007) 11 Abb. 3.   Nach Dechelette (1914) Fig. 655.

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Das Ornament unserer Kanne gehört nicht ganz an den Anfang der Latènephase. Stéphane Verger stuft es schon in seinen ‚premier style continu‘ ein10. Es präsentiert aber vorzüglich eine frühe Entwicklungsstufe keltischer Kunst, die nach Werken aus dem Pariser Becken mit den zugehörigen Verrankungen ohne Bruch in die folgende Latène B-Stufe übergeht. Auch wenn es bei unserer Gravur einige Flüchtigkeiten gibt, zeigt sie einen symmetrisch durchgeformten Entwurf mit Wiederholungen in Variationen, der den Rang seines Künstlers verdeutlicht. Die Anlehnung an einzelne antike Vorbilder wie Palmetten oder Halbpalmetten ist ebenso klar wie diejenige an ganze antike Kompositionen, in welchen die keltischen Details ähnlich zusammengefasst sind. Trotzdem ist auch die Ferne zu südlichen Darstellungen sofort ersichtlich. Getreue Nachahmungen griechischer Motive scheinen nicht erstrebt. Das resultiert schon daraus, – da sich unser Ornament nicht vor einem gestaltlosen Hintergrund entwickelt – dass sich alle Muster aus einem Einklang von belebten Flächen mit dem glatten Grund ergeben. Dabei entstehen mehrere beliebige neue, abstrakte Motive. Sie lassen die Qualität organischen Wachstums vermissen; stattdessen gewinnt der ganze Aufbau eine für uns unerwartete Dynamik. In meiner alten Publikation hatte ich die Tendenzen zu abstrakten Wiedergaben dadurch hervorheben wollen, dass ich als einen entfernten Vergleich eine durchbrochene Schmuckscheibe aus Somme-Bionne, Marne, abbildete (Abb. 8)11. Eine Umzeichnung sollte klar machen, dass es sich bei letzterer um eine reine Zirkel-Konstruktion handele. Verschiedene Schöpfungen, die nur auf Kreisschläge mit dem Zirkel zurückgehen, sind aus dem gesamten Raum der Frühlatènekultur bekannt12. Bei den bisher angesprochenen Beispielen geht es allein um Ornamente. Doch gibt es in der weit verzweigten Frühlatènekunst ebenfalls eine Fülle figürlicher (verständlicherer?) Zeichnungen, nach Jacobsthal „masks and beasts“, also menschliche Gesichter und Tiere, bzw. Fabelwesen. Für manche haben wir direkte Modelle im Süden; auch östliche Kontakte wären zu diskutieren. Können wir aber schon allein den Ornamenten weiterführende Aussagen entnehmen, die über ‚neutralen Schmuck‘ hinausführen? Auffällig ist, dass die südlichen Vorlagen für die keltischen Muster oft aus sekundären Zusammenhängen stammen, etwa nur von den Borten szenischer Darstellungen. Wir hatten das bereits bei der Zier der Schulterzone bemerkt. Heißt das, dass die lokalen Künstler lediglich einzelne Elemente aus dem südlichen Musterschatz als Anregungen für ihr Schaffen herausgelöst haben? Jedoch selbst, auch nicht aus einem gewissen Prestige-Denken heraus, keine strukturell   Verger (1987).   Vgl. Dechelette (1914) Fig. 506,2; Stead/Rigby (1999) 132f. Fig. 1369. 12   Lenerz-de Wilde (1977). 10 11

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wichtigen Kopien antiken Formenguts anstrebten? Denn wie wären dabei die verschiedenen neuartigen, nicht dem Repertoire antiker Motive entlehnten Muster einzuschätzen, wie sie bei unserem Werk z. B. aus der Verselbständigung von Füllungen oder ‚Negativen‘ entwickelt worden sind? Lassen überhaupt unsere Ornamente mehr vom Denken der keltischen Bevölkerung erahnen? Ich bringe drei unterschiedliche Belege: Zum einen beziehe ich mich auf die Blattwirbel aus den verschiedenen Konstellationen: das sind nicht ausgestaltete, sondern verkürzte Spiralen. Dieses Bewegungsmotiv dominiert die Frühstufe der Latènewerke, wobei es verschiedene Formen annehmen kann, sei dabei ein umlaufendes oder von einem Zentrum ausgehendes Kreisen eingefangen. Dabei ist die Drehrichtung, etwa die der vier großen Wirbel auf der Bauchzone nicht gleich, sondern wechselnd, was ebenso die zwei kontrastierenden Friese auf der genannten Schale von Les Saulces-Champenoises zeigen (Abb. 7); einen bruchlosen Bewegungsfluss gibt es nur auf dem Bodenrund unseres Stücks. Vorformen für solche Motive fehlen weitgehend in der älteren westlichen Hallstattkultur und sind ebenso in ihrer eigenartigen, unorganischen Lebendigkeit, vielmehr fast mechanischen Bewegtheit ungewöhnlich für den gleichzeitigen antiken Musterschatz13. Dabei sind die Wirbel nicht isoliert zu betrachten; vielmehr sind sie nur Basisteile von Palmetten, oder es handelt sich um andere verselbständigte Voluten. Auch sind sie mit zugehörigen Ranken in größere Kompositionen eingebunden, etwa in intermittierende Wellenranken (Abb. 5, 2.5–6), oder sie bilden andere fortlaufende Bewegungen (Abb. 6, 2–3). Diese üppigen Verrankungen in endlosen Varianten werden erst typisch für die jüngere Stufe Latène B. Allerdings haben wir in der untersten Zone unseres Ornaments eine Folge ‚aufgeputzter‘, gegen einander gestellter S-Gebilde, die in etwas späterer Zeit miteinander verschlungen und oft auf diese Verbindungsglieder umakzentuiert sind (Abb. 6, 2–3)14. Gegenüber einer griechischen Wellenranke zeigen sie einen ganz anderen, fremden Rhythmus. Solche und weitere dynamische Chiffren sind anschauliche Beispiele für ein anderes Empfinden, ein eigenes Denken keltischer Künstler. Es offenbart einen freieren, oft spielerischen Umgang mit den Formen, der nicht allein die gesamte frühe Kunst durchzieht, sondern sich bis hin zur irischen Buchmalerei verfolgen lässt. Bei dem geometrischen Entwurf der herangezogenen Scheibe von SommeBionne (Abb. 8) wurde bereits die Häufigkeit abstrakter Konstruktionen erwähnt. Zu solchen gehören neben einfacheren, vierfach geteilten Kreisen (Abb. 9, 1) auch ‚sechsstrahlige Sterne‘, die isoliert oder in Friesen als aneinander gefügte, sich überschneidende Beispiele vorkommen (Abb. 9, 3). Als ein weiteres keltisches Zeugnis zeige ich dafür die Gravierungen auf einem 13  Oder können wir an Verbindungen nach Osten denken, die auch die sorgfältigen Spiralmuster auf die Grabplatten von Nesactium gebracht haben? Siehe Fischer (1984). 14   Vgl. Ranken auf dem Helm von Amfreville: Kruta (1978).

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Kannenfragment aus dem Prunkgrab von Eigenbilzen, belgisch Limburg (Abb. 9)15. Andere Zirkelmuster ließen sich anschließen. Sind das nur bedeutungslose Spielereien? An so etwas könnte man denken, erschienen nicht solche Zirkelsterne und Kreismuster unterhalb der Blattkronen an den Stirnen/Köpfen, bzw. Kappen der noch erhaltenen steinernen Grabskulpturen Mitteleuropas (Abb. 10, 4–7)16. Welche Toten diese Bildwerke repräsentieren, wird allerdings noch diskutiert. Was für einen Sinn transportiert ein solches Zirkel-Ornament? Denn dass es an den Figuren einen bestimmten Sinn beinhaltet, lässt sich kaum bezweifeln. Drittens hatte ich im Vergleich zu den Motiven von der Schulterzone unserer Kanne verschiedene keltische Fächer samt Varianten zusammengestellt (Abb. 5). Wenn man dort das erste Beispiel, den Beschlag von Brunn am Steinfeld (Abb. 5, 1), um 180 Grad dreht, dann schaut uns aus der Zier ein menschliches Gesicht an. Das Mittelblatt aus der Fächerfüllung wird zur Nase, die Kreise an Stelle der Seitenblätter bilden die Augen. Könnte man nicht auch ähnlich den Schmuck von unserer Kanne lesen? Passt ein solches Gesicht nicht zum Aufkommen der zahlreichen Köpfe/Masken an Fibeln und anderen Gegenständen in der ersten Latènestufe? Macht eine solche Ansprache der Darstellung nicht einen fließenden Übergang vom Ornament zum Figurenbild deutlich? Eindrucksvoller beschreibt so etwas die Zeichnung um den Ausguss einer etwa gleichaltrigen Röhrenkanne aus Grab 2 vom Glauberg in Hessen (Abb. 11, 1–2)17. Verziert ist das ganze Gefäß mit Streifen von Blattsternen und weiteren Themen. Auf den Zonen mit pflanzlichen Motiven wachsen – an Kreisen befestigt – zwischen größeren S-Gebilden kleine S-Verbindungen und Blätter auf, bzw. hängen herab. Unter dem Ausguss ist das entsprechende Muster nochmals wiedergegeben; jedoch sind zwei Kreise zu Augen verkleinert und das Blatt dazwischen dient umgedreht als Nase. Unmittelbar entsteht aus dem Ornament ein deutliches Gesicht (Abb. 11, 2). Die umfangenden S-Gebilde enden hier, desgleichen verlebendigt, in Konturen von Vogelköpfen. Jacobsthal hat dieses Phänomen an der „cheshire cat“ aus dem Kinderbuch „Alice in Wonderland“ veranschaulicht18, deren Erscheinung sich beim Verabschieden erst langsam auflöst, wobei allein das Grinsen noch eine Weile sichtbar, d. h. der flüchtige Eindruck noch länger erhalten bleibt. Um ähnlich nicht gut präzisierbare Darstellungen zu bezeichnen, denen man auch einen doppelten Sinn unterschieben könnte, wird heute entsprechend meist von einem „cheshire-style“ gesprochen.   Nach Schwappach (1973) Abb. 9, 5. 7. 9; Kimmig (1983).   Nach Frey (2014) 12 mit Abb. 9. 17   Nach Frey (2014) 12f. mit Abb. 10. 18   Jacobsthal (1944) 19. 15 16

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Ich hatte drei Beispiele gebracht: das früh sich in den Vordergrund drängende Wirbelmotiv als Beispiel für die Eigentümlichkeit keltischen Ornaments, abstrakte Zirkelzeichnungen und die miteinander verquickte Wiedergabe von Ornament und Gesicht. Gezeigt werden sollte, dass keltische Künstler und diejenigen, die hinter ihnen stehen, eine gegenüber der in der antiken Welt abweichende Auffassung vom Sinn eines Ornaments pflegten. Hier stoßen zwei unterschiedliche Grundvorstellungen aneinander. Müssten wir nicht ebenfalls in solchen Zusammenhängen überlegen, warum die Kelten bei ihren Kontakten mit dem Süden zwar einige Figuren übernahmen, aber keine mit figürlichen Szenen verzierten Bilder akzeptierten? Nicht wie die Griechen in der orientalisierenden Phase „eagerly appropriated all kinds of narrative types, reshaped them, and depicted the life and deeds of gods and men. The Celts had in their hands painted Greek vases and good bronze figure work: but where is there any reflection of them? They did not decide for Greek humanity, for gay and friendly imagery“19. Stattdessen spiegelt die frühe keltische Kunst zunächst Ornamente, die, soweit übernommen, vornehmlich nur von den Borten/Einfassungen griechischer Bilderzählungen oder vom Schmuck auf den Henkelseiten der Vasen stammen, und entwickeln diese weiter. Hier präsentiert sich im Kunsthandwerk eine andere Mentalität, der wir hoffen, noch weiter auf die Spur zu kommen. Allerdings fassen wir mit der Diskussion um die Ornamente, seien es Ableitungen von griechischer Pflanzenornamentik oder mehr abstrakte Muster, nur eine Seite der frühen keltischen Kunst. Den figürlichen Darstellungen, den „masks and beasts“ hatte sich Jacobsthal erst relativ spät gründlicher zugewandt, auch wenn er z. B. Satyr-/Silensköpfe, analog denen von etruskischen Stamnos-Griffen, und anderes bereits in seinen ersten Schriften aufzeigte20. Das zu diesem Thema gehörige Material, besonders aus dem zentralen und östlichen Bereich der Frühlatènekultur, hat beträchtlich zugenommen21; wir kennen sogar Regionen des Kunstschaffens, wie die um den Dürrnberg bei Hallein, aus welchen wir (neben abstrakten Mustern) fast nur figürlich bewertbare Schöpfungen haben, ähnlich stilisiert wie Ornamante. Was erschließen sie uns? Schon aus der jüngeren Hallstattzeit sind einzelne figürlich verzierte Stelen oder ganze Statuen zur Bezeichnung von Gräbern oder heiligen Stätten auf uns gekommen. Das setzt sich in die frühe Latènezeit fort22. Allerdings sind in der Kleinkunst ganze menschliche Gestalten Ausnahmen. In großer Zahl verfügen wir dagegen über Köpfe oder nur Gesichter – ‚masks‘ bei   Jacobsthal (1944) 162.   Jacobsthal (1944) 21. Dem Vergleich weiter nachgegangen ist Megaw (1965/66). 21  Vgl. Bagley (2014). Intensiv befassten sich in diversen Schriften mit dem Thema R. und V. Megaw, vgl. z. B. dies. (2001). 22   Rasshofer (1998); Kat. Frankfurt (2002) 206 ff. 19 20

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Jacobsthal – an Ringen, Gürtelhaken, Fibeln und weiteren Gegenständen. Haben solche Bilder die Funktion von Amuletten? Sollten die Träger des Schmucks von helfenden, dienenden und schützenden Wesen begleitet werden? Eben eine solche Funktion möchte man den Köpfen des Goldreifs zubilligen, der am Hals des ausgezeichneten Toten in Grab 1 vom Glauberg entdeckt wurde23. Denn neben anderen Symbolen umringen letzteren gleich zehn menschliche Häupter. Ähnliches ist auch bei Gürtelverschlüssen oder Fibeln zu vermuten, zumal wohl göttliche Symbole wie die Blattkronen24 oder Spiralen die Köpfe zusätzlich markieren. Manche Gesichter wirken fratzenhaft. Andere haben ausgewogenere Züge. Ferner können Tiere menschliche Häupter aufweisen oder sind von Häuptern unmittelbar überragt. Man möchte meinen, die ganze Umwelt der Leute sei von solchen überirdischen Kreaturen bevölkert, so wie wir es auch von späteren Sagen oder Märchen wissen. Zu den Köpfen oder ganzen Mischwesen gesellen sich in den Darstellungen unverwechselbare Tiere: z. B. Pferde, deren überwirklicher Charakter oft durch Flügel, die wohl Schnelligkeit symbolisieren, direkt angesprochen wird. Erst mit der Epochenwende erscheinen Widder, bzw. Schafe25. Die aus der Hallstattkultur bekannten Rinder sind dagegen im Frühlatène seltener, und Hirsche tauchen erst später abermals auf. Fast nur am Dürrnberg sind schon in der Stufe Latène A typische (Wild-)Schweine wiedergegeben26, obwohl sie im angrenzenden Hochgebirge nicht heimisch sind. Hinzu kommen Hunde und ebenso Raubtiere, nicht selten menschliche Häupter bedrohend, sie verschluckend oder wieder ausspeiend27. Unter alle mischen sich Vögel, meist nur als Köpfe an Blätter oder Ranken angewachsen, ihnen Lebendigkeit verleihend. Um die Funktion aller solcher Wesen in größerem Zusammenhang besser zu verstehen, sei eine bronzene Schnabelkanne aus lokaler Fertigung angesprochen, d. h. ein reich geschmücktes Ritualgefäß aus dem ersten Grab vom Glauberg28. Auf die elegante Form der typischen Kanne und auf den eingeritzten Dekor von ihrer Wandung gehe ich hier nicht ein. Nur die freiplastischen Figuren auf dem Mündungsrand seien vorgestellt (Abb. 12). In der Mitte sehen wir im Schneidersitz einen schön gestalteten Mann in einem Kompositpanzer. Die ‚Epomides‘ wurden nur über der Brust übereinander geschlagen. Die ‚Pteriges‘ sind am unteren Rand deutlich sichtbar. Weitere Waffen sind nicht angegeben. Dass die Kelten – anders als wir es aus der antiken Welt wissen – zum Sitzen keine erhöhten Möbel benutzten, ist   Kat. Frankfurt (2002) 246–7 Abb. 237–8.   Lambrechts (1954). 25   Lenerz-de Wilde in: Kimmig (1988) 229–257. 26   Gebhard (1991). 27   Eindrucksvoll die beiden Gürtelhaken aus den Gräbern 1–2 vom Glauberg, vgl. Kat. Frankfurt (2002) 253 Abb. 247 und 250 Abb. 256. 28   Kat. Frankfurt (2002) 243–245 Abb. 233–236. 23 24

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auch durch spätere Schriftquellen bezeugt. Auffällig ist die Haarfrisur des Mannes: Ein Kranz von Buckellocken(?) umzieht sein Haupt, wie wir es ähnlich von antiken Skulpturen der Zeit um 500 v. Chr. oder vom unmittelbaren Anfang des Jahrhunderts kennen. Die Haare sind hinten kurz geschnitten, was eine Datierung weiter zurück ins 6. Jahrhundert ausschließt, wo man lange Locken erwarten würde. Wir haben hier ein Zeugnis dafür, dass sich keltische Herren bei der Erstellung kostbarer Prestige-Güter noch an antiken Vorbildern spätarchaischer Zeit orientierten. Ohne direkten Körperkontakt blickt der wohlproportionierte Mann ruhig auf die beiden Wesen vor ihm, die zu ihm zurückschauen. Man könnte bei ihnen an Sphingen denken; doch haben sie keine Flügel. Ihr Leib ist zudem ornamental aufgelöst: sie haben statt Füßen mächtige Klauen, die Oberschenkel und Schultern zieren große Spiralen, die Rückenlinie wird durch einen Wulst betont, der im eingerollten Schwanz ausläuft. Von den Haaren fällt eine lange Strähne zu den Vorderklauen hinab. Den Kopf mit riesigen Augen und Brauen schmücken auf dem Scheitel als ein besonderes Symbol zwei nach außen eingerollte Spiralranken. Jeweils vor den Wesen sind dem Gefäßrand das Gesicht eines ‚Satyrs‘ mit spitzen Tierohren aufgelegt. Das Ensemble beschreibt ohne Zweifel den sogen. ‚Herren der Tiere‘29, das Gegenstück zu der in Etrurien häufigeren ‚Potnia Theron‘, der Herrin der Tiere. Eine ähnliche Vorstellung ist schon aus dem Orient bekannt. Dort schwingt der Gott z. B. Löwen, an den Beinen gepackt, durch die Luft. Eindrucksvoll wird so die Überlegenheit der Schrecken einflößenden ‚fernen‘ Gottheit demonstriert. Bei den Griechen mischen sich die Götter unter die Menschen. Aus allen Schilderungen wird eine Nähe zu ihnen, zu ihrer gedachten Gestalt und ihren Werken ersichtlich. Und wieder unähnlich ist trotz der Übernahme griechischer Mythen die Gottesauffassung bei den Etruskern und bei den Römern. Dagegen manifestiert sich in der Kunst der Kelten in Mitteleuropa der Gott ähnlicher Funktion abweichend, nicht so aktiv, beobachtend, wartend? Meine kurzen Hinweise auf die Geisterwelt und auf das Erscheinungsbild des ‚zentralen‘ Herrn der Tiere vermittelt hier ein eigenes religiöses Erkennen, die Andersartigkeit, die das Leben der Kelten ausfüllte. In wieweit eine gedankliche Auseinandersetzung zwischen Gottesvorstellungen im Süden mit denjenigen von unseren keltischen Werken stattgefunden hat, bleibt unklar. Allerdings finden sich im frühen Latènebereich nicht wenige Darstellungen, die das Thema von einem Gott, der über Tiere bzw. Mischwesen herrscht, ihnen befiehlt, sie benutzt, in zahlreichen Varianten weiterführen. Oft wird dabei die überirdische Gestalt auch nur durch einen Kopf repräsentiert. Ich vergleiche dazu einen Gürtelbeschlag aus Stupava in der Südwestslowakei, auf dem ein plastisch gebildeter Kopf umgekehrt 29

  Counts/Arnold (2010).

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zwischen zwei eingeritzten ‚Löwen‘, deren Zungen wie in Etrurien weit heraushängen, wiedergegeben ist (Abb. 13)30. Die ganze Hierarchie bei den überweltlichen Kräften lässt erkennen, was für Strukturen man der übernatürlichen Geisterwelt damals zuschrieb, welche die Menschen gefangen hielt. Die hier nur summarisch angeführten Darstellungen zeigen, dass gegenüber der tonangebenden, traditionellen Gesellschaft jetzt in der Kunst der Latènekultur neben vielem anderen gewandelte Gedanken, basierend auf wesentlich neuen religiösen Gesetzen, Anwendung fanden. Wie ist das zu erklären? Hat sich etwa an der Stellung der Priester, die ja den religiösen Vollzug regelten, etwas geändert? Das lassen ab der späten Hallstattzeit künstlich angelegte Heiligtümer annehmen wie z. B. das von Les Herbues bei Vix31, das möglicherweise eine ständige Priesterschaft voraussetzte. Unwillkürlich denkt man aber an das Sich-Positionieren, an eine zunehmende Einflussnahme der so machtvollen Druiden, die das Geistesleben beherrschten, die den Ausbruch von Kriegen regelten, die die Jugend ausbildeten und mehr32. Von ihrem Wirken entwirft später Caesar in seinen commentarii de bello Gallico (VI,13ff.) ein detailliertes Bild. Und es sind die mächtigen Druiden, die in der Einleitung zur Philosophengeschichte des Diogenes Laertius noch als „semnotheoi“ ‚wie Götter erhaben‘ genannt werden. Geht diese herausragende Charakterisierung auf eine verschüttete alte Tradition zurück? Sollte mit der Bezeichnung eine besondere Nähe an der Seite der Götter ausgedrückt werden? Wir wissen jedoch zu wenig, um hier klarer urteilen zu können.

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  Nach Frey (2007) Abb. 17.   Chaume/Olivier/Reinhard (2000). 32   Brunaux (2009); Maier (2009). 30 31

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Was heißt „Frühe keltische Kunst“?

Abb. 1  Die Schnabelkanne in Besançon

Abb. 2  Halsornament einer etruskischen Bronzekanne im British Museum

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Abb. 3  Ornament des Helms von Berru, Marne

Abb. 4  1  Gravierte Innenzier eines sog. Comacchioblechs, Norditalien; 2–3  Motive des Dekors der Schnabelkanne in Besançon

Was heißt „Frühe keltische Kunst“?

Abb. 5  1  Bronzebeschlag von Brunn am Steinfeld, Niederösterreich; 2–3  Motive vom Dekor der Goldringe aus Waldalgesheim, Kr. Kreuznach; 4  Gravierte Innenzier eines sog. Comacchioblechs, Norditalien; 5  Ornament der Schwertscheide von Filottrano, Ancona; 6  Ornament des Helms von Canosa, Apulien

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Abb. 6  1  Schema des Ornaments der untersten Zone der Schnabelkanne in Besançon; 2–3  Ornamente der Schwertscheide von Moscano di Fabriano und des Helms von Amfreville, Eure (nach Kruta)

Abb. 7  Bronzeschale von Les Saulces-Champenoises, Ardennen

Abb. 8  Schmuckscheibe aus Somme-Bionne, Marne

Was heißt „Frühe keltische Kunst“?

Abb. 9  Ritzmuster von einer Bronzekanne aus Eigenbilzen, belg. Limburg (nach Schwappach)

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Abb. 10  Oberkörper des Keltenfürsten vom Glauberg

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Abb. 10a  1–3  Zirkelmuster und ihre Rekonstruktion von der Bronzekanne aus Grab 2 vom Glauberg, Hessen; 4–5  entsprechende Muster von der Kappe der ganz erhaltenen Statue vom Glauberg; 6–7  Stirnzier der vier Gesichter des Steinpfeilers von Pfalzfeld

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Abb. 11  Gravierungen auf der Kanne aus Grab 2 vom Glauberg

Was heißt „Frühe keltische Kunst“?

Abb. 12  Figuren von der Mündung der Kanne aus Grab 1 vom Glauberg (Fotos: U. Seitz-Gray und W. Fuhrmannek, HLMD.)

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Abb. 13  Gürtelbeschlag aus Stupava, Südwest-Slowakei

Abbildungsnachweise Alle Abbildungen wurden vom Verfasser erstellt oder aus seinen früheren Publikationen übernommen (Frey 1955; 1971; 2007; 2014). Die wenigen Ausnahmen wurden in den Bildunterschriften gekennzeichnet.

Die Perseus-Kanne Vlastos in Athen

Die Perseus-Kanne Vlastos in Athen: ein Beitrag zur Theaterpraxis im klassischen Griechenland* Heide Froning Im Zentrum des Beitrags steht eine rotfigurig bemalte Weinkanne der speziellen Form Chous, die an dem Dionysosfest Anthesterien in Athen verwendet worden ist (Abb. 1–5)1. Sie ist um 420 v. Chr. in Athen entstanden und soll in Anavyssos an der Westküste Attikas gefunden worden sein. Seit ihrer Erstpublikation durch Giacomo Caputo 1935 ist ihre Darstellung in der Fachliteratur vielfach diskutiert worden2. Dennoch sind Fragen offen geblieben und wichtige Details werden bis heute unterschiedlich interpretiert. Ein Grund für diesen unbefriedigenden Forschungsstand ist der schlechte Erhaltungszustand der Oberfläche der Kanne. Der schwarze Glanzton ist an vielen Stellen abgerieben. Zusätzliche Farben, ausgenommen geringe Reste von Weiß, fehlen ganz. Auch ist die antike Oberfläche an einigen Stellen nicht erhalten, sondern modern mit Ton ausgefüllt worden. Aber immerhin: es gibt keine modernen Übermalungen. Zusätzlich wurden die Bemühungen um die Interpretation des Vasenbildes dadurch erschwert, dass sich die Kanne in der griechischen Privatsammlung Vlastos befand und im Anschluss an die Erstpublikation für Jahrzehnte der Forschung nicht zugänglich war. Diese Situation änderte sich erst, nachdem die Sammlung Vlastos dem Nationalmuseum in Athen überlassen worden war3. Dort ist sie seit 2009 in den Räumen des Museums im Obergeschoss des Museums zusammen mit der Sammlung Vlastos ausgestellt. Dank der freundlichen Erlaubnis der Leiterin der Vasensammlung des Nationalmuseums, Dr. Christina Avronidaki, konnte ich die Kanne aus der *   Der vorliegende Beitrag ist eine aktualisierte, leicht gekürzte Fassung meines Aufsatzes „Comedy and Parody: Some Reflections on the ‚Perseus-Jug‘ of the Vlastos Collection“, in: P. Valavanis – E. Manakidou (Hrsg.), Egraphsen kai epoiesen. Essays on Greek Pottery and Iconography in Honour of Professor Michalis Tiverios (Thessaloniki 2014) 303–320. 1   Athen, Archäologisches Nationalmuseum, Sammlung Vlastos, BΣ 518: ARV² 1215, 1; Addenda² 348. 2  Caputo (1935). Für eine ausführliche Bibliographie s. das Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags. 3  Für die Forschungsgeschichte der Kanne und für die Sammlung Vlastos s. Hughes (2006) 413–414.

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Nähe studieren. Viele Linien, deren Glanzton verschwunden ist, können im Streiflicht noch gesehen werden. Für die Publikation von Caputo 1935 hat Hermann Wagner vom Deutschen Archäologischen Institut in Athen Photographien von der Vase hergestellt, die hier als Vorlagen für die Abbildungen verwendet werden (Abb. 1–4). Dazu hat Caputo eine Zeichnung des Vasenbildes von Edouard Gilliéron publiziert (Abb. 5). Diese gibt die Darstellung bemerkenswert genau und ohne Ergänzungen der fehlenden Partien wieder, wie ihr Vergleich mit den alten Photographien und der Kanne heute bestätigte. Der Vergleich zeigte außerdem, dass die Vase an der Mündung und an einigen Stellen des Bildes seit der genannten Erstpublikation weitere Verluste erlitten hat. Im Folgenden werde ich jedes Element des Bildes unter Einbeziehung der Beobachtungen meiner Autopsie4 beschreiben, sodann die bisherigen Erklärungen kritisch diskutieren und meinerseits einen Vorschlag zur Interpretation machen. Abschließend möchte ich die Aussage des Bildes im Kontext der attischen Aufführungspraxis im späteren 5. Jahrhundert v. Chr. betrachten. Auf einer niedrigen Plattform hüpft oder tanzt ein einzelner Mann (Abb. 2. 3. 5). Er reißt das rechte Bein und den rechten Arm hoch. Der linke Fuß stand leicht nach außen gedreht auf der Plattform. Mehr ist davon nicht mehr zu erkennen, da die Partie von der Mitte des linken Unterschenkels an mit dem vorderen Abschluss der Plattform fehlt und mit Ton modern gefüllt ist. Von der linken Schulter und dem linken Arm hängt ein Mantel herab. In der Hand hält er eine Sichel, die einst farbig war. Davon ist auf der Sichel nur noch eine kompakte Unterlage vorhanden, der eigentliche Farbton ist verschwunden. Am Unterarm hängt eine viereckige Tasche mit zwei Schlaufenhenkeln. Während Körper, Arme und Beine weitgehend in Vorderansicht dargestellt sind, ist der Kopf ins Profil gedreht. Der Mund ist geöffnet. Darüber sitzt ein schmaler Schnurrbart, dazu am Kinn ein zotteliger Bart ähnlich einem Ziegenbart. Die Nase weist einen Höcker auf und ist an der Wurzel eingedrückt. Im lockigen Haar befindet sich eine Binde, die ehemals weiß gemalt war, wie geringe Reste an ihrem hinteren Ende zeigen. Einzelne, längere Locken liegen auf Schläfe, Wange und Hals. Quer über die Körpermitte verläuft ein Bruch. Zu beiden Seiten des Bruchs sieht man am Original eine matte, bräunliche Verfärbung. Sie ist auf der Zeichnung von Gilliéron nicht angegeben, aber bereits auf den Photographien von 1935 gut zu erkennen. Sie dürfte sekundär beim Restaurieren der Kanne, die aus vielen Scherben zusammengesetzt worden ist, entstanden sein. Denn die Verfärbung zieht sich schmaler werdend entlang der Bruchli4   Meine Beobachtungen bestätigen oft, aber nicht immer, die von Alan Hughes (2006), der die Kanne 2004 ebenfalls aus der Nähe studiert hat. Hughes hat in seinem Artikel genau vermerkt, was verglichen mit dem Zustand 1935 nicht mehr vorhanden ist.

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nie bis zum Mantel und durch diesen noch hindurch. Anders verhält es sich mit den zwei parallelen, leicht glänzenden Strichen, die diagonal über die rechte Brustseite verlaufen und auf der Zeichnung von Gilliéron ebenfalls nicht erscheinen. Sie sind meinem Eindruck nach mit Glanzton gemalt, also antik. Es könnte sich um den Rest eines Bandes handeln, das zu dem Mantel gehörte und verhindern sollte, dass er bei heftigen Bewegungen seines Trägers herunterfiel. Die zahlreichen Erklärungsvorschläge, die diese Figur erfahren hat, basieren fast alle auf den Beobachtungen und Schlussfolgerungen von Caputo5. Er hielt die Figur für einen Komödien-Schauspieler in der Rolle des Perseus, allerdings ohne Maske und ohne Kostüm, mit den für Perseus typischen Attributen harpe (Sichel) und kibisis (Tasche). In der Folgezeit wurden mehrere Varianten dazu vorgeschlagen. Heinrich Bulle sah in der Figur einen Tänzer, der Perseus parodiert6. Wegen des Fehlens von Maske und Kostüm dachten Semni Karouzou und Oliver Taplin an die Probe einer PerseusKomödie7, andere an einen Mimus oder Pantomimus8 und Margarete Bieber an eine Farce9. Manche Forscher fühlten sich an einen Zwerg erinnert10. Frank Brommer wollte hier sogar einen Silen in der Rolle des Perseus sehen und dachte an ein Satyrspiel11, obwohl alle Elemente eines Satyrspiels fehlen. Keine Zustimmung fand zu Recht die gelehrte Interpretation von Margot Schmidt12. Sie lehnte einen Zusammenhang mit einer Aufführung welcher Art auch immer ab und wollte stattdessen in dem Bild die Sonderform eines Mordprozesses erkennen, in der sich der angeklagte Mörder von einem Schiff aus vor den Richtern verteidigte – wohlgemerkt hier mit der Mordwaffe in der Hand. Da längst bemerkt worden ist, dass die Interpretation des gekurvten Gegenstands in der rechten unteren Ecke des Bildes als Teil eines Schiffs nicht zutrifft13, ist es nicht nötig, auf die Schmidt’sche Deutung der Figur als Mörder in einem Prozess weiter einzugehen. 5   Caputo (1935) 274. Für die verschiedenen Erklärungen der Figur s. auch den Überblick bei Hamilton (1978) 385 mit Anm. 4–13; Hughes (2006) 419–420. 6   Bulle (1937) 53. 7   Karouzou (1945) 42; Taplin (1993) 9; ebenso Arnott (1962) 16. 8   Pickard-Cambridge (1953) 237; Breitholtz (1960) 197; ARV2 1215, 1. Ebenso Bulle (1937) 53, obwohl er es nicht direkt ausgesprochen hat. 9   Bieber (1961) 48. 10   Pickard-Cambridge (1953) 237; van Hoorn (1951) 37 Nr. 276; ARV2 1215, 1. 11   Brommer (1959) 32–33 Abb. 21–23 S. 74 Nr. 43; ähnlich Wiles (2008) 377. 12   Schmidt (1995) 65–70. 13   Die Schiffstheorie hat Hamilton (1978) 385–387, zuerst vorgeschlagen und zugleich selbst die Argumente genannt, die dagegen sprechen. Nach der Konvention der Darstellungen von Schiffen in der attischen rotfigurigen Vasenmalerei müsste links, wo die beiden Männer auf Stühlen sitzen, das Meer sein. Eine ausführliche Widerlegung der Interpretation des Gegenstandes als Teil eines Schiffs: Hughes (2006) 423; vgl. auch hier unten Anm. 31.

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Bereits 1953 hat T. B. L. Webster die Diskussion über die Interpretation der Perseus-Figur auf eine neue Grundlage gestellt14. Er erkannte, dass sie das Trikot des Komödien-Kostüms trägt. Gilliéron hat am rechten Handgelenk der Figur zwei waagerechte Striche gezeichnet (Abb. 5). Sie geben den Abschluss des langen Trikot-Ärmels wieder. Die beiden Striche sind im Streiflicht noch heute am Original zu verifizieren15. Dasselbe trifft für zwei Striche am rechten Fußknöchel zu, die den Abschluss des ebenfalls langen Trikot-Beins markieren. Das linke Handgelenk und der linke Knöchel sind nicht erhalten. Attische Vasenbilder der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. zeigen, dass die langen Ärmel und Beine des Komödienkostüms so lose sitzen, dass sie viele Falten werfen. Genannt seien der zum Teil erhaltene Komödienschauspieler auf einem Schalenfragment von der Agora in Athen (Abb. 6), entstanden um 440–430 v. Chr., und der Ausschnitt des Bildes auf einer attischen Weinkanne (Abb. 7), ebenfalls einem Chous, gemalt um 410 v. Chr., das eine komische Apotheose des Herakles zeigt16. Der von grotesken Kentauren gezogenen Quadriga des Herakles (hier nicht abgebildet) läuft eine Komödienfigur voraus, die in den Händen zwei Fackeln hält. Sie trägt das faltige Komödien-Trikot mit langen Ärmeln und langen Beinen. Auch der Perseus unserer Kanne trug ein derartiges Komödientrikot. Schwache Spuren der Falten sind am Original noch in der Mitte des rechten Unterarms, in der Armbeuge sowie auf dem linken Bein unterhalb des Bruchs, der durch das Knie läuft, zu erkennen. Es ist also klar, dass die Figur einen Komödienschauspieler in der Rolle des Perseus darstellt. Alle damit nicht kompatiblen Benennungen, wie Mimus, Zwerg und angeklagter Mörder, entfallen. Das für einen Mantel ungewöhnliche Band, das schräg über die Brust verläuft, dürfte ein realistisches Element des Theaterkostüms sein. Die beiden Vergleichsbeispiele für das zeitgenössische Komödienkostüm belegen außerdem, dass ein enger, fester body-suit zu dem Trikot mit locker sitzenden Ärmeln und Beinen gehörte 17. Das griechische Wort für diesen body-suit war somation18. Er sollte den nackten Körper darstellen, mit der Angabe physischer Details wie Brustwarzen, Bauchnabel und Körperbehaarung. An ihm war ein großer, künstlicher Phallos befestigt, der zur üblichen Ausrüstung des männlichen Komödienkostüms gehörte. Attische   Webster (1953–54) 200.   Hughes (2006) 425, sah nur eine Linie, aber es sind beide vorhanden, die parallel und exakt in der Breite des Handgelenks verlaufen. 16   Fr. Schale des Malers von Heidelberg 211, Athens, Agoramuseum P 10798: ARV2 945, 28; Moore (1997) 326 Nr. 1440 Taf. 136; Froning (2009) 117 Abb. 4. – Chous des NikiasMalers, Paris, Louvre N 3408: ARV2 1335, 34; Add2 365; Denoyelle (1994) 150–151 Nr. 70 mit Abb.; Walsh (2009) 304–305 Kat. Nr. 50 S. 236–237 Abb. 107a–b. 17   Für die Kostüme der Alten und Mittleren Komödie s. Webster (1953–54) 192–201; Foley (2000) 275–311; Green (2002) 104–105. 18   Platon Comicus = Kassel – Austin (1989) 544 Fr. 287; Pollux II 235. IV 115. 14 15

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Komödienschauspieler-Terrakotten der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr., wie zum Beispiel zwei Tonstatuetten in Würzburg, zeigen außerdem, dass das somation vorn und hinten kräftig ausgepolstert war. Die eine zeigt einen komischen Schauspieler in der Rolle einer verschlagenen, alten Frau19. Das zweite, fragmentierte Stück zeigt einen Schauspieler in einer männlichen Rolle (Abb. 8)20. Er trägt unter einem weiten Mantel das ausgepolsterte somation mit aufgerolltem, künstlichem Phallos. Auch der Komödien-Perseus der Vlastos-Kanne (Abb. 2. 5) trägt ein festes somation mit künstlichem Phallos, der ebenfalls aufgebunden ist. Es scheint nicht so stark gepolstert zu sein wie das der Schauspieler-Terrakotten der Mittleren Komödie, aber der Bauch ist auffallend sackartig plump gebildet. Hinzu kommt, dass der Schauspieler der Vlastos-Kanne eine Maske trägt (Abb. 3). Diese ist bislang nicht erkannt worden21, aber nach meiner Autopsie unzweifelhaft vorhanden. Einige Archäologen fühlten sich wegen der grotesken Gesichtszüge an einen Zwerg erinnert22. Als Zwerg müsste die Figur aber einen abnorm großen und kahlen Kopf sowie zu kurze Beine und Arme haben23. Der Perseus der Vlastos-Kanne hingegen hat normale Proportionen. Sein Kopf zeigt jedoch einige Elemente, die von dem zeitgenössischen Ideal abweichen. Diese Elemente sprechen für eine Theatermaske. Der Mund ist geöffnet, die Nasenwurzel eingedrückt, die Nase selbst gekrümmt und die Augenbraue kräftig und geschwungen. Die stark betonte Kinnlinie biegt fast im rechten Winkel zum Ohr um, das unter dem Haar verborgen ist. Am Original sieht man, dass diese Linie noch ein Stück neben der zweiten herabhängenden Haarsträhne weiterläuft. Sie gibt den unteren Rand der Maske wieder. Von den vier langen Haarsträhnen auf Wange und Hals ist die vordere wie aus Draht spiralig gedreht. Ausgeprägte, bis zum Ohr hochgezogene Kinnlinien und steife, drahtige Haare sind im 5. Jahrhundert v. Chr. typisch für die Wiedergabe von Theatermasken24. Allerdings fehlen der Perseusmaske einige Elemente, die man von den bereits genannten attischen Komödienschauspieler-Terrakotten kennt (Abb. 8). Das betrifft den zu einem breiten Grinsen verzerrten Maskenmund und die weit aufgerissenen, kugeligen Augen. Dass diese Züge hier nicht vor-

19   Würzburg, Martin-von-Wagner-Museum H 4598 a: Schmidt (1994) 31 Nr. 13 Taf. 5 a; Froning (2002b) 87 Abb. 116–117 S. 91. 20   Würzburg, Martin-von Wagner-Museum H 4698: Schmidt (1994) 122–123 Nr. 185 Taf. 34 c; Froning (2002b) Abb. 115. S. 91. 21  Ausdrücklich gegen das Vorhandensein einer Maske: Caputo (1935) 274; PickardCambridge (1968) 211 (“the mask has melted into the actor’s face”); Webster (1953–54) 200; Taplin (1993) 9; Schmidt (1995) 68. Maskenähnliche Elemente, aber eher keine Maske: Csapo – Slater (1994) 64; Hughes (2006) 424. 22   s. hier oben Anm. 10. 23   Dasen (1990) 191–207; Dasen (1993); Stähli (2009) 17–34. 24   Vgl. z. B. Froning (2002b) 72–73 Abb. 85–87. 90–91.

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handen sind, kann mit der auf die Schauspieler-Terrakotten bezogene um circa 20 Jahre frühere Zeitstellung der Kanne zusammenhängen, einer Zeit, in der die Ausstattung der Schauspieler der Mittleren Komödie offenbar noch nicht kanonisiert war25. In diese Übergangsphase gehört auch das Komödienbild auf einem attischen Glockenkrater des frühen 4. Jahrhunderts in Heidelberg (Abb. 9)26. Die linke Figur trägt Kostüm und Maske einer weiblichen Rolle. Die rechte Figur zeigt einen jungen Mann, der sich in derselben Haltung bewegt wie der Perseus der Vlastos-Kanne. Er hält eine Fackel in der Hand. Seine Maske hat er auf den Oberkopf zurückgeschoben, so dass man das bartlose Gesicht des Schauspielers sieht. Die Augenhöhle seiner Maske ist leer. Beide Masken haben einen relativ kleinen Mund und keine kugelig aufgerissenen, sondern normal gebildete Augen. Dasselbe gilt für die fünf komischen Masken eines Choenkännchens von 410–400 v. Chr. in der Ermitage von St. Petersburg27. Der Komödien-Schauspieler der Vlastos-Kanne tanzt auf einer niedrigen Plattform, die man von der Schmalseite sieht (Abb. 2. 5). Sie ist offensichtlich aus Holz errichtet gedacht. Ein Pfosten stützt den Holzboden, der aus drei Lagen besteht. An der Vorderseite führt eine Leiter ohne Geländer auf die Spielfläche hinauf. Dieses Bild ist die einzige attische Theater-Darstellung mit Angabe der Bühne. Die hintere Ecke des Bühnengestells wird von einem großen, leicht konkav gebogenen Gebilde überschnitten. Gekurvte, parallele Doppellinien unterteilen es der Länge nach in drei Streifen. In dem oberen und in dem mittleren Streifen sind zwei beziehungsweise drei Binnenlinien erhalten, die mit verdünntem Glanzton gemalt sind. Diese Binnenlinien laufen nicht parallel zueinander und auch nicht parallel zu den gliedernden Doppellinien. Die Erklärung dieses Objekts hat den Archäologen und den TheaterHistorikern besonders große Schwierigkeiten gemacht. Caputo schlug einen Vorhang, eine Art siparium, vor, der zur Seite gezogen sei28. Offenbar dachte er an das aulaeum an der Vorderseite der Bühne. Aber dieser Vorhang vor der Bühne gehörte erst zum römischen Theater29. Er wurde auch nicht zur Seite gezogen, sondern heruntergelassen beziehungsweise hochgezogen. Bulle

  Nach Schmitt (2008) 308–309, gehörte bereits Aristophanes der Mittleren Komödie

25

an.

 Attisch rf. Glockenkrater, Heidelberg B 134: Trendall – Webster (1971) 119–120 Nr.  IV 4; Webster (1978) 61 AV 16. 27   Attisch rf. Choenkännchen, St. Petersburg, Eremitage ΦA 1869.47: Trendall – Webster (1971) 118–119 Nr. IV 3; Webster (1978) 32 AV 8; Wiles (2008) 378–379 Abb. 16. 1; Csapo (2010) 24–25. 28   Caputo (1935) 274. 276. 278. 29  See Pickard-Cambridge (Oxford 1946) 128–131; Bieber (1961) 179–180. – Für die Unterscheidung von aulaeum und siparium : Csapo – Slater (1994) 371–372. 384–385 (Übersetzung von Apuleius, Metamorphosen X 29). 26

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schlug eine Leinwand als Hintergrund vor und meinte konkret, dass sie in breiten Faltenzügen schräg vor der Flanke des Podiums herabhängt30. Diese Leinwand habe nichts zu tun mit dem römischen aulaeum oder siparium. Gegen Bulles Vorschlag spricht, dass der Gegenstand eindeutig aus einem festen Material besteht und nicht aus Stoff, der Falten wirft. Auszuschließen ist auch die Idee, er gäbe einen Teil eines Schiffes wieder, das aus Planken gebaut ist. Die attischen zeitgenössischen Vasenmaler stellen Schiffe zwar in abgekürzter Form dar, aber diese umfasst das komplette Schiffsheck mit dem Steuerruder31. Die Interpretation von Alan Hughes 2006 überzeugt ebenfalls aus ikonographischen Gründen nicht32. Er schlägt vor, dass das Objekt die steinernen Sitzstufen des attischen Theaters in Thorikos darstellt, deren seitliche Flügel gekrümmt sind. Konkret sei der westliche Flügel gemeint. Wir haben in der griechischen Vasenmalerei Darstellungen von Sitzstufen einer Tribüne, die sich aus mehreren Stufen zusammensetzt33. Die Sitzbänke sind immer im Profil als Stufen und nicht in Vorderansicht als parallele Streifen gezeigt. Hinzu kommt, dass die divergierenden inneren Linien auf der VlastosKanne, von denen bereits die Rede war, nicht zu dem Material Stein passen. Den richtigen Weg für die Erklärung des gebogenen Objekts hat wiederum Webster gefunden, auch wenn er zu einem anderen Ergebnis, als hier vorgeschlagen wird, gekommen ist34. Er verwies auf Aristoteles35, der in der „Nikomachischen Ethik“ als Beispiel für einen protzigen banausos einen Choregos für die Komödie, d. i. den Financier der Aufführung, anführt, der „Purpur in der Parodos einführt, wie die Leute in Megara“. Webster leitete von dieser Stelle bei Aristoteles die Vorstellung ab, dass bei Komödien-Aufführungen Purpurstoffe in der Parodos aufgehängt wurden. Später präzisierte er: “probably the parodos means here the way up to the central door, the background”36. Er hielt die gebogenen Linien an der Schmalseite der Bühnen-Plattform der Vlastos-Kanne für einen Vorhang aus Stoff im

  Bulle (1937) 53.   Vgl. z. B. Kelchkrater des Kadmos-Malers, Bologna, Archäologisches Museum 303: ARV² 1184–1185, 6; Add² 341; CVA (4) Taf. 79, 3–4. 83, 1.Volutenkrater des Talos-Malers, Ruvo, Jatta 1501: ARV² 1338, 1; Add² 366–367; s. auch hier oben Anm. 13. 32   Hughes (2006) 428–429. 33   Fr. attisch sf. Dinos des Sophilos, Athen, Archäologisches Nationalmuseum 15499: ABV 39–40, 16; Add2 10; Simon – Hirmer (1976) Taf. 50; Froning (2002a) 35 Abb. 27. – Attisch sf. Amphora des Castellani-Malers, Florenz, Museo Archeologico Nazionale 3773: ABV 95–96, 8. 683; Add2 25; Froning (2002a) 35 Abb. 28. – Pseudo-panathenäische Amphora, Paris, Bibliothèque Nationale, Cabinet des Médailles 243: CVA (1) Taf. 88. 89, 1–2; Shapiro (1992) 56 Abb. 36. 34   Webster (1953–54) 200. 35   Aristoteles, Nikomachische Ethik p. 1123 a23–24. 36   Webster (1962-63) 262. 30 31

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Hintergrund der Bühne zu Seiten der Mitteltür des Bühnenhauses37. Der Terminus parodos wird in den antiken Schriftquellen synonym mit eisodos gebraucht und bezeichnet den Weg oder Korridor, der in das Theater hineinführt und von Zuschauern, Chören und Schauspielern benutzt wird38. Er definiert nicht einen Teil des Bühnengebäudes selbst. Im Übrigen könnte sich die Bemerkung des Aristoteles auch auf die Kleidung des Chors beziehen und nicht auf „purpurne Vorhänge“39. Die zitierte Textstelle bei Aristoteles trägt für die Lösung unseres Problems zwar nichts bei, doch der antike Kommentar zu dieser Stelle ist umso interessanter. Er besagt, dass Häute (derreis) als parapetasmata (Vorhänge) bei Komödien-Aufführungen üblich waren und nicht purpurfarbene Stoffe. Dafür zitiert der Kommentar Myrtilos, einen attischen Komödiendichter in der Zeit der Vlastos-Kanne40. Hinzu kommt, dass für die ältere dorische Komödie Siziliens ebenfalls die Verwendung von Häuten überliefert ist. Von Phormis oder Phormos, einem Komödiendichter aus Syrakus und Zeitgenossen des Epicharmos in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr., heißt es, er habe als erster purpurne Häute für die Bühne verwendet41. Dieses Zeugnis ist auch deshalb interessant, weil nach Aristoteles die ältere sizilische Komödie des Epicharmos und des Phormis der attischen Komödie in der Entwicklung vorausging42. Aristoteles verknüpfte also die sizilische Komödie der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. mit der Entwicklung der attischen Komödie. Das Material Haut oder Leder passt gut zu dem dargestellten Gegenstand des Vasenbildes. Er ist für einen Vorhang aus Stoff zu steif. Andererseits sprechen die unterschiedlich gebogenen Binnenlinien gegen Holz oder Stein. Der gekurvte Gegenstand kann nach meiner Meinung sehr gut ein Parapetasma darstellen, das aus mehreren Häuten zusammengesetzt ist. Offen bleibt die Frage, ob der Vasenmaler dieses Parapetasma aus Häuten als Hintergrund der Bühnen-Plattform oder als deren seitliche Begrenzung wiedergeben wollte. Es bleibt noch übrig, die beiden Zuschauer genauer zu betrachten, die vor der Bühnen-Plattform auf Stühlen des Typus Klismos sitzen (Abb. 4. 5). Der im Vordergrund sitzende bärtige Mann ist vollständig in sein Himation gehüllt, so dass auch beide Arme und Hände bedeckt sind. Er trägt im gelockten Haar ein weißes Band mit einem Efeukranz, dessen Blätter einst

  Trendall – Webster (1971) 117 Nr. IV 1; vgl. Csapo – Slater (1994) 64 Nr. 131.   Pickard-Cambridge (1946) 21 mit Anm. 1. 39   Vgl. Hamilton (1978) 386. 40   Kassel – Austin (1989) 30, Fr. 1. Myrtilos siegte an den Lenäen in Athen 429–428 v. Chr.: IG II2 2325; Pickard-Cambridge (1968) 113. 41   Suda, s. v. Phormos = Kassel – Austin (2001) 174, 1. 42   Aristoteles, Poetik 1449 b5–9. 37 38

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auch weiß aufgemalt waren43. Neben ihm sitzt ein bartloser, jüngerer Mann. Dieser ist heute schlechter erhalten als 1935. Sein Gesicht ist mit Ausnahme des inneren Winkels des rechten Auges verloren. Außerdem fehlen heute Hals, beide Schultern, der obere Teil des Rumpfes und der linke Oberarm. Vom rechten Arm sind die Umrisse des Ellenbogens und des Unterarms noch zu erkennen, doch die Hand ist verloren. Er trug einst ebenfalls einen Kranz in seinem kurzen, lockigen Haar. Sein Mantel bedeckt nur die Beine, sein Oberkörper war nackt, wie die alten Photographien zeigen. Der junge Mann drehte sich zu dem würdigen bärtigen Mann um und stieß ihn mit dem Ellenbogen an, während er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf den Schauspieler deutete. In der linken Hand hält er eine lange, leicht gebogene Rute, die nach schräg hinten zeigt. Auch für diese beiden Personen wurden verschiedene Benennungen vorgeschlagen. Bulle44 dachte an ein Liebespaar, einen vornehmen erastés und an einen jungen eromenos, was zu Recht nicht akzeptiert wurde. Andere Forscher wie John Beazley, Margarete Bieber und Arthur Pickard-Cambridge erklärten die beiden Personen als abgekürzte Wiedergabe des Publikums45. Caputo hielt den bärtigen Mann für den Priester des Dionysos und den jungen Mann mit der langen Gerte für den Choregos, also den Financier der Aufführung46. Dieser Vorschlag hat viel Zustimmung erfahren, auch mit der Variante, dass der bärtige Mann der Dichter sein könnte47. Die Ikonographie dieser beiden Personen ist nicht singulär48. Wir kennen das Duo, beide auf Stühlen sitzend und bestehend aus einem würdigen, bärtigen Mann, der ganz in seinen Mantel eingehüllt ist, und aus einem unbärtigen, jüngeren Mann, von zeitgenössischen Vasenbildern, die musische Wettkämpfe darstellen. Ein fragmentierter attischer Kelchkrater von 440–435 v. Chr., im Museum der mittelgriechischen Stadt Larisa, zeigt einen solchen musischen Agon in der oberen Zone (Abb. 10)49. Am rechten Bruchrand steht ein siegreicher Aulet (Kopf verloren), auf den von links eine Nike 43   Nur ein einzelnes weißes Efeublatt ist auf dem schwarzen Haar neben dem weißen Band erhalten. Auf den Efeublättern über der Stirn fehlt das Weiß heute. 44   Bulle (1937) 52–53. 45  ARV2 1215, 1; Bieber (1961) 48; Trendall (1967) 22 Nr. 7; Pickard-Cambridge (1968) 211. 46   Caputo (1935) 275. – Hamilton (1978) 386, und Wiles (2008) 377, sahen in dem bärtigen Mann den Gott Dionysos selbst. 47  Karouzou (1945) 42: Dichter und Choregos; Webster (1953–54) 200: Dichter und Choregos; Trendall – Webster (1971) 117: Dichter und Choregos; Csapo – Slater (1994) 65: Priester des Dionysos und ein anderer Priester/ eine andere Priesterin oder Dionysos und Ariadne oder Choregos und Dichter; Wilson (2000) 378 Anm. 204: Dichter/Priester des Dionysos und Choregos. 48   Vgl. auch Hughes (2006) 427. 49   Tiverios (2008) 17–97 Abb. 6–8; Shapiro (1992) 61 Abb. 39a. – Für die zuständigen Beamten bei musischen Wettkämpfen s. auch Kotsidu (1991) 106–108.

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mit einer Hydria als Siegespreis zufliegt. Diese Nike wird von zwei Männern flankiert, die auf Klismoi sitzen: der vordere, ein bartloser junger Mann, hält einen langen Stab, der hintere, ein bärtiger Mann, ist vollständig in seinen Mantel eingehüllt. Beide Männer sind bekränzt und namentlich benannt. Der Bärtige heißt AΡΙΣΤΩΝ und der jüngere NEOKΛΗΣ. Beide Namen sind als Bürgernamen in der attischen Prosopographie belegt50. Die Szene ist eine von vier Szenen auf diesem Kelchkrater, die sich alle auf das Fest der Panathenäen beziehen. Wie Michalis Tiverios, der dieses wichtige Gefäß publiziert hat, überzeugend ausgeführt hat, gehören diese beiden Männer den Gremien an, die für die Durchführung der Agone zuständig waren. An den Panathenäen waren das die Hieropoioi und die Athlotheten. In der Entstehungszeit des Kelchkraters 440–435 v. Chr. waren noch beide Körperschaften für die Durchführung der musischen Wettkämpfe an den Großen Panathenäen verantwortlich51. Das änderte sich erst nach 420 v. Chr., als die Athlotheten allein die Verantwortung für die musischen Agone an diesem Fest übernahmen. Eine weitere Parallele für den sitzenden bärtigen Mann, dessen Mantel auch Arme und Hände bedeckt, findet sich auf einem attischen Kelchkrater aus den Jahren 430–420 v. Chr. in London52. Auf ihm ist ein siegreicher Kitharöde dargestellt, der ein Podest besteigt. Vor ihm steht eine Nike und am rechten Bildrand sitzt ein bärtiger Athlothet, ganz in sein Himation eingehüllt, auf einem Klismos. Aus der Serie von Darstellungen musischer Wettkämpfe auf attischen schwarz- und rotfigurigen Vasen resultiert, dass die beiden sitzenden Männer auf der Vlastos-Kanne zwei für den Ablauf des Agons der DramenAufführung zuständige Personen darstellen. Der Choregos gehörte nicht zu dieser Gruppe, weil er nicht aktiv an der Aufführung selbst beteiligt war53. In Athen waren die Theater-Aufführungen als Wettkämpfe organisiert. Das Ziel war der Sieg. Zehn Richter gaben ihre Voten verdeckt ab. Davon wählte der Archon Eponymos nach dem Zufallsprinzip nur einen Teil aus, gewöhnlich waren es offenbar fünf Voten, die über Sieg oder Niederlage entschieden 54. Deshalb ist es möglich, dass die beiden vor der Bühnen-Plattform sitzenden Männer zwei Richter darstellen. Die biegsame Gerte in der Hand des jün-

  Tiverios (2008) 83–86.   Tiverios (2008) 24–27. 52   London, British Museum E 460: ARV2 1041, 2; Add2 319; Kotsidu (1991) 122. 309 V79 Taf. 19, 2. – Vgl. auch attische Pelike des Kassel-Malers von 440–430 v. Chr., Athen, Archäologisches Nationalmuseum 1469: ARV2 1084, 17; Kotsidu (1991) 310 V83. 53   Für die Aufgaben des Choregos eines dramatischen Agons in Athen, vor und nach der Aufführung: Csapo – Slater (1994) 139–157 (mit Schriftquellen); Wilson (2000) 71–103. 54   Pickard-Cambridge (1968) 95–99; Csapo – Slater (1994) 157–165; Schuller – Dreher (2000) 523–540; Schmölder-Veit (2002) 99–100. 50 51

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geren ist für Schiedsrichter in Szenen nicht nur athletischer, sondern auch musischer Wettkämpfe55 belegt. Daneben gibt es jedoch noch eine andere, vielleicht bessere Möglichkeit der Interpretation. Die steife Haltung des bärtigen Richters, dessen Arme und Hände unbeweglich in das Himation eingehüllt sind, erinnert an den idealen Redner, von dem erwartet wurde, dass er in der Ekklesia mit äußerster Selbstkontrolle auftrat, wozu auch das Vermeiden des Gestikulierens mit den Händen gehörte. Die von dem Himation bedeckten Arme und Hände charakterisieren den Redner wie den Richter als einen ehrbaren Menschen von hoher moralischer Reputation56. Die emotionale Bewegtheit des jüngeren Mannes auf der Vlastos-Kanne passt deshalb für einen Richter eher nicht, und zwar, wie das Beispiel auf dem Kelchkrater in Larisa (Abb. 10) zeigt, auch nicht für einen jungen Richter. Er bedrängt förmlich den bärtigen Mann, für die Perseus-Komödie als Sieger zu stimmen (Abb. 4. 5). Diese Situation ruft in Erinnerung, dass sich Aristophanes in seinen Komödien direkt an die Richter wendet, um sie dazu zu bewegen, ihm den ersten Preis zuzuerkennen57. Es ist deshalb gut möglich, dass der erregte junge Mann den Dichter der Komödie darstellt. Die Gerte in der Hand eines Dramendichters würde ihn als Didaskalos kennzeichnen, der die Komödie selbst einstudiert hat. Diese Praxis war üblich im 5. Jahrhundert v. Chr.58. Noch Aristophanes und Euripides führten bei ihren Aufführungen selbst Regie59. Das enge räumliche Nebeneinander eines Richters und eines Dichters bei einer Dramen-Aufführung gibt keine reale Situation wieder, da die Richter bei den Dramen-Agonen, zumindest im Dionysos-Theater in Athen, getrennt vom Auditorium in einem Block zusammensaßen60. Der Dichter, der hier auf der Vlastos-Kanne neben dem Richter sitzt, wäre als parodistischer Scherz zu verstehen. Ich ziehe diese Lösung vor, weil zahlreiche attische Darstellungen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. belegen, dass sich die Richter athletischer und musischer Wettkämpfe ruhig und würdevoll verhalten.

55  Für musische Wettkämpfe s. zum Beispiel sf. pseudo-panathenäische Amphora, Oldenburg, Stadtmuseum: Shapiro (1992) 74 Abb. 50. – Sf. Pseudo-panathenäische Amphora, London, British Museum B 141: Shapiro (1992) 62 Abb. 40. 56   Aischines, Timarchos 21–25. Vgl. Zanker (1995) 51–54. 57   Aristophanes, Ekklesiazusen 1154–1162; vgl. auch Aristophanes, Acharner 1224–1225; Vögel 445–447. 1101–1117. Kratinos, Dionysoi, Fr. 52 = Kassel – Austin (1983) 147, Fr. 52. 58   Pickard-Cambridge (1968) 84–85; Csapo – Slater (1994) 352; Wilson (2000) 83 mit Anm. 145–146. 59   Aristophanes, Friede 738: Aristophanes nennt sich selbst komodidaskalos;vgl. auch die Statuenbasis aus Eleusis, hier unten Anm. 70. – Euripides als didaskalos: Weihinschrift auf einer Statuenbasis um 440 v. Chr aus Varkiza/Anagyros: Csapo – Slater (1994) 360–361 Nr. 307. Vgl. auch Plutarch, de audiendo 46b; Csapo – Slater (1994) 360 Nr. 305. 60   Csapo – Slater (1994) 158.

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Es bleibt noch zu untersuchen, in welchen Kontext die Komödien-Aufführung der Vlastos-Kanne gehört. Damit hängt die Frage zusammen, wo man die hölzerne Bühnen-Plattform lokalisieren kann. Das Vasenbild stellt nicht die Probe einer Perseus-Komödie dar, da der Schauspieler Maske und Kostüm trägt. Dasselbe Argument spricht gegen die Situation des Proagon, einer öffentlichen Veranstaltung, die kurz vor Beginn des Festes der Städtischen Dionysien61 in Athen stattfand. Der Proagon wurde nach ca. 440 v. Chr. im Odeion, das östlich des Dionysos-Theaters lag, durchgeführt62. Die Dichter, die für den Dramen-Wettbewerb ausgewählt worden waren, bestiegen zusammen mit ihren Schauspielern und Choreuten eine Plattform63, um dem Publikum ihr Werk vorzustellen. Ein antiker Kommentar zu Aischines besagt, dass die Schauspieler beim Proagon weder Kostüme noch Masken trugen64. Wahrscheinlich kann man auch ausschließen, dass der Vasenmaler zu seinem Bild durch Komödien-Aufführungen im Dionysos-Theater von Athen angeregt worden ist. Nach heutigem Kenntnisstand wurde in diesem Theater im 5. Jahrhundert v. Chr. auf der Orchestra vor einem aus Holz errichteten, eher lang gestreckten Bühnengebäude, der Skene, gespielt (Abb. 12)65. Diese Skene besaß ein bespielbares, flaches Dach. Damit stimmt die auf der Vlastos-Kanne dargestellte erhöhte Bühnen-Plattform (Abb. 1), die von vorn über eine Holzleiter betreten wurde und hinten, vielleicht auch an den Seiten durch einen Behang, jedenfalls nicht durch ein Gebäude abgeschlossen war, nicht überein. Doch Komödien-Aufführungen auf hölzernen Bühnen-Plattformen könnten gut zu Dramenaufführungen an den Ländlichen Dionysien in den Demen, den Landgemeinden Attikas, passen66. Es ist anzunehmen, dass die Bühnenverhältnisse in den kleinen ländlichen Theatern wesentlich bescheidener waren als in dem großen Theater der Stadt Athen. Dieses war in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. bereits mit zwei Theatermaschinen versehen, dem Ekkyklema, einer Konstruktion auf Rädern, mit der ein Gegenstand oder etwas, das im Innern des Bühnenhauses stattgefunden hatte, auf die Orchestra herausgerollt und so dem Publikum vor Augen

61   Proagon: Pickard-Cambridge (1968) 63. 67–68; Csapo – Slater (1994) 105. 109 Nr. 4–8 (Schriftquellen in Übersetzung); Wilson (2000) 95–97. 62   Aischines, Ktesiphon 66–67 mit Scholion. 63   Platon, Symposium 194: okríbas. 64   s. hier oben Anm. 62. 65  Für den Forschungsstand s. das Modell des Dionysostheaters im 5. Jahrhundert v. Chr. von Christian Schieckel, München, Deutsches Theatermuseum: Froning (2002a) Abb. 50–52; Schlesier – Schwarzmaier (2008) 99 Abb. 4. 66  Ländliche Dionysia: Pickard-Cambridge (1968) 42–56; Whitehead (1986) 212–222; Csapo – Slater (1994) 121–122.

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geführt werden konnte, und der Mechane, einem Kran, mit dem man einen Schauspieler oder sonst etwas durch die Luft fliegen lassen konnte67. Für mindestens 11 Demen sind durch epigraphische und literarische Quellen Dramen-Aufführungen belegt68. Die meisten Inschriften gehören in das 4. Jahrhundert v. Chr., sind für unsere Kanne also zu spät. Doch es gibt auch schriftliche Belege bereits für das 5. Jahrhundert v. Chr. Ein Dekret aus Ikarion, zu datieren zwischen 440 und 415 v. Chr., bestimmt zwei Choregen für einen Tragödien-Wettbewerb69. Auf einer Statuenbasis aus dem letzten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts, gefunden in Eleusis, befindet sich eine Inschrift, die sich auf eine Synchoregie von 3 Choregen für Komödie und Tragödie bezieht70. Der Dichter und Regisseur (Didaskalos) für die Komödie war Aristophanes, für die Tragödie Sophokles. Gegenwärtig sind 7 Dementheater archäologisch nachgewiesen71. Das Theater in Acharnai wurde erst im Februar 2007 entdeckt72. Bis jetzt ist nur ein sehr kleiner Teil der Orchestra aufgedeckt worden, dazu von dem Zuschauerraum ein ganzer Sitzblock (Kerkis) und Teile von den beiden angrenzenden Kerkides mit den Resten eines oberen Umgangs (Diazoma) und eines oberen Rangs. Die muschelförmige Anlange des Theaters gehört frühestens in das fortgeschrittene 4. Jahrhundert. Ob an dieser Stelle bereits das durch die schriftlichen Quellen bezeugte Theater des 5. Jahrhunderts gelegen hat, ist nicht bekannt. Das Theater in Halimous, in der Nähe von Agios Kosmas gelegen, konnte zwar auch noch nicht ausreichend untersucht werden, aber es ist bereits deutlich, dass der Zuschauerraum die geradlinige Form der frühen Theater des 5. Jahrhunderts hatte73. Das ebenfalls geradlinige Theater in Euonymon dagegen ist vollständig ausgegraben worden und gut erforscht74. Es ist das einzige Theater in Attika, dessen Bühnengebäude 67   Ekkyklema: Pickard-Cambridge (1946) 100–122; Csapo – Slater (1994) 258. 270–272 Nr. 78 A–K; C. – Mechane: Pickard-Cambridge (1946) 127–128; Csapo – Slater (1994) 258. 268–270 Nr. 77 A–I; Lendle (1995) 165–172. 68   Acharnai, Aixone, Eleusis, Ikarion, Kollytos, Myrrhinous, Paiania, Piraeus, Rhamnous, Salamis und – nicht gesichert Aigilia, Anagyrous: Whitehead (1986) 219–220; Csapo – Slater (1994) 124–132 Nr. 49–60. Die neueste Zusammenstellung der antiken Schriftquellen und der Bibliographien zu den attischen Dementheatern (auch den nicht gesicherten) s. nun bei Goette (2014) 77–105 (mit Katalaog). 69   IG I3 254 = Csapo – Slater (1994) 125–126 Nr. 50 A. 70   IG II2 3090 = Csapo – Slater (1994) 129 Nr. 52 A. – Für das Theater in Piraeus s.hier unten Anm. 76.90. 71   Vgl. auch Goette (2014). Eine Karte von Attika mit den antiken Demen s. bei Travlos (1988) XVI Abb. 1. 72   Theater in Acharnai: Platonos-Giota (2013) 147–149 mit Abb. 15 (mit Rekonstruktions-Skizze) 16; Goette (2014) 100 Kat. Nr. 1. 73   Theater in Halimous: Kaza-Papageorgiou (1993) 67–70 Taf. 27; Kaza – Kladia (2006) 82–83 (mit Rekonstruktions-Skizze); Goette (2014) 102–103 Kat. Nr. 12. 74   Theater in Euonymon: Froning (2002a) 39–41 mit Abb. 48–49; Tzachou-Alexandri (2007) 1–42; Goette (2014) 102 Kat. Nr. 8.

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erhalten ist. Die erste Phase dieses Theaters wird von der Ausgräberin in die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. datiert, mit Hilfe der Reste einer Inschrift auf einigen Steinplatten, die auf der untersten Sitzstufe des Auditoriums liegen. Frau Alexandri hält es für möglich, dass eine in Holz errichtete Phase vorausging, die noch in das 5. Jahrhundert v. Chr. gehören könnte. Das erhaltene, in Stein errichtete Bühnen-Gebäude stammt aus einer späteren Phase und wird um 330 v. Chr. datiert. Von dem sehr einfachen Theater in Rhamnous sind nur drei von ehemals sieben Marmorsesseln erhalten75. Ihre Stifterinschrift gehört in das 4. Jahrhundert. Das ältere von den beiden Theatern in Piräus lag am Abhang des Mounichia-Hügels. Es ist durch antike Schriftquellen für das spätere 5. Jahrhundert v. Chr. bezeugt76. Seine Lage ist bekannt, aber nicht seine Form, weil es unter Gebäuden der modernen Stadt liegt. Die ältesten, archäologisch nachweisbaren Theater in Attika sind die in Ikarion77 und in Thorikos78. In Ikarion werden die trapezförmige Stützmauer der Orchestra und die Nordmauer des Auditoriums gewöhnlich in das späte 6. Jahrhundert v. Chr. datiert. Der unregelmäßig trapezoide, im Mittelteil geradlinige Zuschauerraum des Theaters in Thorikos ist relativ gut erhalten. Sein unterer Rang wird um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Zu einer früheren Phase soll die erste, heute nicht mehr sichtbare Stützmauer der Orchestra gehören, die die Ausgräber an das Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. datieren. Die sichtbare, modern restaurierte Stützmauer der Orchestra wird um die Mitte des 5. Jahrhunderts datiert, also in dieselbe Zeit wie der untere Rang des Auditoriums. Zu den attischen Dementheatern des 5. Jahrhunderts dürften in Holz errichtete Bühnen-Vorrichtungen gehört haben. Diese sind nicht erhalten. Aber in Thorikos wurden am Fuß der zweiten Stützmauer der Orchestra einige Steinblöcke aufgedeckt, die viereckige Löcher für Holzpfosten aufweisen79. Diese oder ähnliche Blöcke könnten einst für eine hölzerne BühnenStruktur verwendet worden sein. Die hölzerne Bühnen-Plattform, die auf der attischen Vlastos-Kanne dargestellt ist, kann uns eine Vorstellung davon geben, wie die Bühnen der attischen Dementheater in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ausgesehen haben können. Die gemalte Plattform entspricht den hölzernen Bühnen, die auf zahlreichen westgriechischen Komödienvasen, den sogenannten   Theater in Rhamnous: Petrarkos ( 1991) 48–51 Abb. 34–35; Goette (2014) 105 Kat. Nr. 23. 76   Theater in Piraeus, Mounichia: Thukydides VIII 93, 1 (bezieht sich auf 411–410 v. Chr.); weitere Schriftquellen: Csapo – Slater (1994) 124–125 Nr. 49 A–H. Zu Aelianus, Varia Historia 2, 13, s. hier unten Anm. 90; Goette (2014) 104 Kat. Nr. 19. 77   Theater in Ikarion: Biers – Boyd (1982) 1–18; Goette (2014) 103 Kat. Nr. 13. 78   Theater in Thorikos: Hackens (1967) 75–96 Taf. V (Chronologie); Froning (2002a) 35–36 Abb. 32–39; Goette (2014) 105 Kat. Nr. 25. 79   Froning (2002a) 36 mit Abb. 38. 75

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Phlyaken-Vasen, dargestellt sind (Abb. 11)80. Deshalb dachte Caputo, dass der attische Vasenmaler der Vlastos-Kanne diesen Bühnentypus von italischen Theatertruppen kannte, die Komödien in Athen aufführten, also von einer Art Wandertheater aus Süditalien in Athen81. Dieser Vorschlag überzeugt schon deshalb nicht, weil die Vlastos-Kanne gut zwanzig Jahre früher entstanden ist als die ersten sogenannten Phlyaken-Vasen. Die Lösung des Rätsels ist meiner Meinung nach gerade andersherum. Der Typus der westgriechischen Phlyaken-Bühne ist der Typus der attischen Demen-Theater wie auf der Vlastos-Kanne dargestellt. Dafür spricht auch, dass es in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. intensive direkte Kontakte zwischen Athen/Attika und Westgriechenland gab. 443 v. Chr. wurde mit Hilfe Athens die Kolonie Thurioi als Nachfolgerin der zerstörten Stadt Sybaris gegründet. In der Folgezeit wanderten attische Töpfer und Vasenmaler aus und gründeten in Süditalien und Sizilien neue Werkstätten, in denen sie nach attischem Vorbild rotfigurig bemalte Vasen herstellten82. Auch soll Euripides Syrakus während des Peloponnesischen Kriegs besucht haben83. Die Bedingungen für die Inszenierung von Dramen attischer Dichter, auch in überarbeiteter Form, waren offenbar in Attika in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts und in Westgriechenland im 4. Jahrhundert die gleichen. Aus der bisherigen Erörterung ergibt sich: Das singuläre Bild auf der attischen Vlastos-Kanne (Abb. 1–5) zeigt einen Komödien-Schauspieler, der Perseus parodiert. Ein parodistisches Element dieser Figur ist, neben der übersteigerten Bewegung, der hässliche, dünne Ziegenbart. Er klassifiziert den Komödien-Perseus als gesellschaftlich niedrig stehend84, im Gegensatz zum mythischen Perseus, der Sohn des Zeus und der Königstochter Danae war. Wir kennen diese spezielle Komödie nicht, aber Perseus-Parodien sind für die attische Komödie mehrfach belegt. Zum Beispiel brachte Aristophanes am Ende der „Thesmophoriazusen“ einen parodistischen Perseus auf die Bühne, den er übrigens mit Hilfe des Krans durch die Luft fliegen ließ85. Die 80   Apulisch rf. Glockenkrater, London, British Museum F 151: Trendall (1967) Nr. 37; Trendall – Webster (1971) 142–143 IV 35. s. auch hier unten Anm. 86. 81   Caputo (1935) 277–278. Für Wandertheater in Griechenland im 4. Jh. v. Chr.: Platon, Gesetze 817c; Pöhlmann (1997) 3–12. 82  Zur Auswanderung attischer Keramiker nach Unteritalien und Sizilien und den Beginn der westgriechischen rotfigurigen Vasenmalerei s. Macdonald (1981) 159–168; Mannino (1996) 363–370. 83   Aristoteles, Rhetorik 1384 b15, mit Scholion. Bereits Aischylos hat sich zweimal in Sizilien aufgehalten, 471/470 und 458–456 v. Chr.: Kossatz-Deissmann (1978) 6–8; Föllinger (2009) 22. 28. 84   Zur Klassifizierung durch die Bartform s. Wannagat (2001) 54–63. 85   Aristophanes, Thesmophoriazusen 1098 ff. Vgl. Kratinos, Die Leute von Seriphos: Kassel – Austin (1983) 233–239, Fr. 218–232. Antiphanes, Andromeda: Kassel – Austin (1991) 327, Fr. 33. – Für die ältere dorische Komödie s. Phormis/ Phormos, Kepheus oder Perseus: Kassel – Austin (2001) 174, 1.

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Maske und das Kostüm des Schauspielers auf der Vlastos-Kanne haben noch nicht die im 4. Jahrhundert für Komödien-Aufführungen kanonische Form. Die Spielstätte ist sehr einfach gestaltet. Als Bühne dient eine niedrige Plattform aus Holz mit einer Leiter an der Vorderseite und Gehängen aus Häuten, die die Bühne hinten und / oder an den Seiten begrenzen. Da diese Bühnen-Plattform stark den hölzernen Bühnen der rund zwanzig Jahre später einsetzenden westgriechischen Phlyaken-Vasen ähnelt86, schlage ich vor, den Typus der sogenannten Phlyaken-Bühne von den Bühnen in attischen Demen-Theatern abzuleiten. In attischen Demen-Theatern wurden zum Beispiel an den Ländlichen Dionysien Komödien und Tragödien aufgeführt, und zwar wie an den Städtischen Dionysien und an den Lenäen als Agon. Es gab auch dort Richter und Sieger. Wie bei den Aufführungen in Athen siegten die Dichter und Choregen87. Wir wissen, dass neben weniger bekannten auch die großen Dichter in einigen Demen-Theatern ihre Stücke aufgeführt haben. Aufführungen des Aristophanes und des Sophokles sind für den Demos Eleusis88 belegt, weniger sicher solche des Kratinos und des Sophokles für den Demos Halai Aixonides89. Von Euripides überliefert Aelianus die nette Geschichte, dass sich Sokrates nichts aus Theater-Aufführungen machte, „außer wenn Euripides im Agon mit neuen Tragödien antrat. Dann ging er sogar in den Piräus, wenn Euripides dort im Wettkampf aufführte“90. Wiederaufführungen oder Zweitfassungen, besonders von Komödien, dürften im 5. Jahrhundert v. Chr. an den Ländlichen Dionysien häufiger möglich gewesen sein als an den Städtischen Dionysien91. Es ist unwahrscheinlich, dass die einfachen Demen-Theater Bühnenmaschinen wie den Flugkran hatten. Das bedeutet, dass die Dramen-Inszenierungen dort weniger spektakulär waren, sozusagen technisch weniger raffiniert, auf jeden Fall verschieden von den Inszenierungen im städtischen Dionysos-Theater. Deshalb ist davon auszugehen, dass Komödien in den Demen-Theatern, ob in originaler oder in revidierter Form, einfacher als im Dionysos-Theater aufgeführt worden sind. Und schließlich ist davon auszugehen, dass der attische Maler der VlastosKanne Aufführungen in attischen Demen-Theatern gesehen hat.

86  Zur westgriechischen Phlyaken-Bühne s. Billig (1980) 34–83, besonders 58–80; Brandes-Druba (1994) 187–188; Kossatz-Deissmann (2000) 194–198. 87   Für die Organisation der dramatischen Wettkämpfe an den Ländlichen Dionysien: Pickard-Cambridge (1968) 43–52; Csapo – Slater (1994) 121–122. 124–132; Whitehead (1986) 215–222. 88   IG II2 3090: Pickard-Cambridge (1968) 47–48. 89   IG II2 3091: Pickard-Cambridge (1968) 54–56; Whitehead (1986) 46 Anm. 32. 90  Aelianus, Varia Historia II 13. – Pickard-Cambridge (1968) 46; Csapo – Slater (1994) 125 Nr. 49 G. 91   Vgl. Pickard-Cambridge (1968) 99–100; Wagner (1995) 173–178; Seidensticker (2010) 15.

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Abb. 1  Attisch rf. Chous, Athen, Archäologisches Nationalmuseum, Sammlung Vlastos 518, um 420 v. Chr. Photo Neg. D–DAI ATH–Athen Varia 1088 (Hermann Wagner).

Abb. 2  Wie Abb. 1. Photo Neg. D–DAI ATH–Athen 1975/725 (Hermann Wagner).

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Abb. 3  Wie Abb. 2 (Detail). Photo Neg. D–DAI ATH–Athen 1975/ 725 (Hermann Wagner).

Abb. 4  Wie Abb. 1. Photo Neg. D–DAI ATH–Athen Varia 1090 (Hermann Wagner).

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Abb. 5  Wie Abb. 1. Zeichnung E. Gilliéron père et fils: nach Caputo (1935) Abb. 5.

Abb. 6  Fr. attisch rf. Schale, Athen, Agoramuseum P 10798, 440–430 v. Chr. Photo Agora Excavations Neg. Nr. LXXVIII-4.

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Abb. 7  Attisch rf. Chous (detail), Paris, Louvre N 3408, ca. 410 v. Chr.: nach Denoyelle (1994) 150 Nr. 70.

Abb. 8  Fr. attische TerrakottaStatuette, Würzburg, Martin-vonWagner-Museum H 4698, 375–350 v. Chr. Photo Museum (Karl Öhrlein).

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Abb. 9  Attisch rf. Glockenkrater (Detail), Heidelberg, Antikenmuseum der Universität B 134, ca. 390 v. Chr. Photo Museum (Hubert Vögele).

Abb. 10  Attisch rf. Kelchkrater (Detail), Larisa, Archäologisches Museum 86/101, 440–435 v. Chr.: nach Shapiro (1992) 61 Abb. 39a.

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Abb. 11  Apulisch rf. Glockenkrater, London, British Museum F 151, 380–370 v. Chr. Photo courtesy Trustees of the British Museum.

Abb. 12  Modell des Dionysos-Theaters von Athen in der 2. Hälfte des 5. Jhs. v. Chr., von Christian Schieckel, München, Deutsches Theatermuseum: nach Moraw – Nölle (2002) 27 Abb. 22.

Das Kaisertum als zentraler Akteur im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648)* Christoph Kampmann I.  Zur Historiographie Der Kaiser war unbestritten die politische und militärische Schlüsselfigur des Dreißigjährigen Krieges. Die Geschichtsschreibung hat an dieser Tatsache eigentlich nie einen Zweifel gelassen; dies wird durch die übliche historische Begrifflichkeit zum Dreißigjährigen Krieg noch unterstrichen. Die Handbuchliteratur teilt diesen Krieg üblicherweise in vier verschiedene Phasen ein: den „Böhmisch-Pfälzischen“, den „Niedersächsisch-Dänischen“, den „Schwedischen“ sowie den „Schwedisch-Französischen“ Krieg. Sie sind sämtlich nach den jeweiligen Hauptfeinden des Kaisers benannt, dem damit implizit der Status der wichtigsten Kriegspartei zuerkannt wird. Während des Krieges wurde das Heilige Römische Reich deutscher Nation, im Folgenden dem historiographischen Usus entsprechend als römisch-deutsches Reich bezeichnet, aufeinanderfolgend von drei verschiedenen Kaisern regiert: Matthias (gestorben 1619), Ferdinand II. (reg. 1619 bis 1637) und Ferdinand III. (reg. 1637 bis 1657). Die ältere Geschichtsschreibung hat sich mit den drei Herrschern in sehr unterschiedlicher Weise befasst. Lange Zeit widmete die Geschichtsschreibung weder Matthias noch Ferdinand III. besonders viel Aufmerksamkeit1. Hingegen entwickelte sich Ferdinand II. zu einer der heftig, geradezu leidenschaftlich umstrittenen Herrscherpersönlichkeiten der deutschen Geschichtsschreibung. Eine stark kleindeutsch-protestantisch, preußisch beeinflusste Historiographie betrachtete Ferdinand II. als einen der *   Übersetzte, aktualisierte und erweiterte Fassung des Beitrags ‘The Emperor’, in: The Ashgate Research Companion to the Thirty Years’ War, hrsg. v. O. Asbach/P. Schröder (Ashgate, 2014) 39–52. Übersetzt mit freundlicher Genehmigung der Verleger der englischen Originalausgabe Copyright © 2014. [Translated by permission of the Publishers from ‘The Emperor’, in: The Ashgate Research Companion to the Thirty Years’ War, eds O. Asbach/P. Schröder (Farnham: Ashgate, 2014) 39–52. Copyright © 2014.] 1   Zur geringen Beachtung, die Kaiser Matthias in der Geschichtsschreibung gefunden hat, vgl. Press (1990) 112–123, 477–478, hier 478. Geoffrey Parker hat im Jahr 1984 Ferdinand III. noch als ‚cinderella of scholarship‘ beschrieben; so Parker (1984) 291; dies hat sich erst in jüngerer Zeit durch zwei zu diesem Kaiser erschienenen Biographien geändert; vgl. Höbelt (2008) und Hengerer (2012).

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Hauptverantwortlichen für die Katastrophe des Dreißigjährigen Kriegs, weil er – abhängig von seinen Ratgebern, insbesondere seinen jesuitischen Beichtvätern – eine extrem katholisch-konfessionalistische, pro-spanische Politik verfolgt habe, mit furchtbaren Konsequenzen für die deutsche Nation. Die Antwort der großdeutsch-katholischen, pro-österreichischen Historiographie fiel konträr, wenn auch nicht weniger entschieden aus – in ihrer Apologie eines aus ihrer Sicht friedliebenden und tieffrommen Habsburgers2. In jüngerer Zeit freilich hat sich eine weniger leidenschaftliche, pragmatischere Sicht auf Kaiser Ferdinand II. durchgesetzt3. Es wurde betont, dass der Einfluss der kirchlichen Ratgeber am Kaiserhof in Wien nicht überschätzt werden sollte; im Grunde seien deren politische Möglichkeiten nicht größer gewesen als an vielen anderen Höfen jener Zeit4. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass die Konfession nicht der allein bestimmende und prägende Faktor für die Politik Ferdinands II. gewesen sei. Konfession sei nur eine Zielvorstellung gewesen; maßgeblichen Anteil hätten daneben auch dynastische Rücksichten, der Territorialstaatsausbau und die Stärkung der kaiserlichen Position im römisch-deutschen Reich gehabt5. In neuerer Perspektive erscheint Ferdinand als sehr selbst- und machtbewusster Herrscher, der im Zweifelsfall äußerst energisch handeln konnte, dabei stets bemüht um formale Rechtstreue6. Entsprechend stieg der kaiserliche Gerichtshof, der Wiener Reichshofrat, zum wichtigsten Ratsgremium des Kaisers auf7. Aber in einer Hinsicht hat die Neubewertung Kaiser Ferdinands II. in der jüngeren Geschichtsschreibung nichts geändert: Auch sie misst der kaiserlichen Politik eine zentrale Bedeutung für die Entstehung und Eskalation des Dreißigjährigen Kriegs als größter politisch bedingter Katastrophe der deutschen Geschichte in der Frühen Neuzeit zu.

2  Für die stark weltanschaulich-politisch gefärbten Kontroversen um Ferdinand II. vgl. Brockmann (2011) 17–21. In diesem Sinne auch die neue Biographie dieses Kaisers aus der Feder von Bireley (2014) VII. Diese Biographie stellt eine vorzügliche Synthese der neueren Forschungen zu diesem Kaiser dar. 3   Wilson (2009) 71, der Ferdinand II. – natürlich ohne seine streng römisch-katholische Position zu leugnen – als ‚rather devout than a fanatic‘ beschreibt. 4   Für eine grundlegende Revision des traditionellen Bildes Ferdinands II. als vorgeblich so „schwacher Herrscher“ vgl. Brockmann (2011) 29 f. 5   Brockmann (2011) 22–26. 6   Kampmann (1993). Vgl. in diesem Sinne auch Wilson (2009) 71. 7   Kampmann (1993).

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II.  Der römisch-deutsche Kaiser am Vorabend des Dreißigjährigen Kriegs A)  Der römisch-deutsche Kaiser in seiner dreifachen Rolle Im Zeitalter des Dreißigjährigen Kriegs besaß der römisch-deutsche Kaiser drei unterschiedliche, einerseits eng miteinander verwandte, andererseits aber auch partiell widerstreitende Rollen. In seiner für das Reich vornehmsten Rolle fungierte er als dessen monarchisches Reichsoberhaupt, andererseits musste er als Landesherr allerdings auch die Interessen der habsburgischen Erblande wahren, und drittens vertrat er als Mitglied des Gesamthauses Österreich die Casa de Austria. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts sah sich der Kaiser in allen drei Funktionen mit ernsthaften politischen Herausforderungen konfrontiert. a)  Der Kaiser als monarchisches Oberhaupt des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation An erster Stelle ist hier die Stellung des Kaisers als gewähltes Oberhaupt des römisch-deutschen Reichs zu nennen – eine Stellung, die sich durch die Reformation und Konfessionalisierung erheblich gewandelt hatte. Einerseits gehörte es zu den traditionellen Aufgaben des Reichsoberhaupts, als Advocatus Ecclesiae die Kirche (und damit auch das Kirchengut) zu schützen. In den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts hatten die Kaiser des römisch-deutschen Reichs diese Aufgabe insofern neu interpretiert und gewichtiger genommen, als sie entschiedener die Rückgabe säkularisierten Kirchenguts einforderten. Die Forderung der kaiserlich-katholischen Partei im Reich nach Rückgabe des „entfremdeten“ Kirchenguts, insbesondere solchen, das nach dem Frieden von Passau (1552) bzw. dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 in evangelische Hände gelangt war, war einer der zentralen politisch-konfessionellen Streitpunkte im Reich gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts8. Andererseits gehörte es zu den zentralen Obliegenheiten des kaiserlichen Amtes, über den Landfrieden und die Einheit des Reichs zu wachen, sie zu schützen und ggf. wiederherzustellen. Gerade deshalb musste die Entstehung bewaffneter konfessioneller Bünde im Reich (die protestantische Union von 1608 und die katholische Liga von 1609) alarmierend auf die kaiserliche Regierung wirken. Konnte es doch keinen Zweifel geben, dass erst der Zusammenbruch des regulären Rechtsgefüges zur Gründung von Union und Liga geführt hatte. Gerade der Stillstand der Reichsjustiz, namentlich des Speyrer Reichskammergerichts, und die Funktionsunfähigkeit des Reichstags sind hier zu nennen. Als eine Reihe von Reichsständen – gerade die   Luttenberger (1992).

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kleineren, schutzbedürftigen – sich im Reich bewaffneten ständischen Selbstschutzbünden anschloss, zeigten sie damit ihr fundamentales Misstrauen in die Fähigkeit von Kaiser und Reich, ihnen angesichts einer Verschärfung der konfessionellen Gegensätze weiterhin Schutz und Sicherheit zu bieten. Die Rolle des Kaisers als oberster Landfriedenswahrer des Reichs hatte offensichtlich Schaden genommen9. b)  Der Kaiser als Territorialherr der habsburgischen Erblande Vor erheblichen Problemen stand der Kaiser auch als erblicher Landesherr einer Reihe von Reichsfürstentümern, der sogenannten habsburgischen Erblande. Seit dem 15. Jahrhundert entstammten die Kaiser des römisch-deutschen Reichs ausschließlich der österreichischen Linie der habsburgischen Dynastie, die über einen beträchtlichen Territorialbesitz im Südosten und Südwesten des römisch-deutschen Reichs verfügte. Dazu gehörten die österreichischen Erzherzogtümer (Ober- und Niederösterreich, Tirol, Krain, Steiermark) sowie das Gebiet von Vorderösterreich im äußersten Südwesten des Reichs. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts erbten die Habsburger darüber hinaus die Länder der Wenzelskrone (Böhmen, Schlesien, Mähren) sowie jenen schmalen Streifen des Königreichs Ungarn (das „königliche Ungarn“), der seit den 1520er Jahren nicht unter direkte oder indirekte osmanische Herrschaft geraten war10. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde die Stellung des Kaisers als Landesherr zunehmend prekär, weil die Mehrheit der Einwohner, insbesondere die adligen Führungsschichten in den Erblanden, sich der neuen reformatorischen Lehre anschloss, während das Haus Habsburg streng am alten Glauben festhielt. Besonders problematisch wirkte sich der Konfessionsgegensatz im Königreich Böhmen aus. Der König von Böhmen gehörte seit der Goldenen Bulle von 1356 anerkanntermaßen zu jenen sieben Fürsten, die als sogenannte Kurfürsten das Recht besaßen, den Kaiser zu wählen. Aufgrund des königlichen Ranges und der Größe des Landes stellte Böhmen unbestritten den zentralen, unverzichtbaren Teil des habsburgischen Territorialbesitzes dar. Im Gegensatz zu den österreichischen Erzherzogtümern, die Erbfürstentümer waren, beanspruchte in Böhmen der Adel das Recht, seinen künftigen königlichen Landesherrn wählen oder zumindest den geeigneten Vertreter der regierenden Dynastie „annehmen“ zu dürfen. So gesehen war es für die regierende Herrscherfamilie in hohem Maße bedrohlich, dass die Mehrheit des Adels nicht katholischen Glaubens war; denn es war kaum vorstellbar, dass die

  Vgl. jetzt Ernst/Schindling (2010).   Körber (2002), 62–71.

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nichtkatholische Adelsmehrheit dauerhaft eine katholische Herrscherfamilie akzeptieren würde11. In den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts begann das Haus Habsburg auf diese komplizierte, langfristig gefährliche Lage zu reagieren. So wurden immer stärkere gegenreformatorische Maßnahmen ergriffen – wozu die Reichsfürsten gemäß des Augsburger Religionsfriedens prinzipiell berechtigt waren. Aber hinsichtlich der Umsetzung ging man durchaus differenziert vor: Besonders scharfe Maßnahmen ergriff Erzherzog Ferdinand (der spätere Kaiser Ferdinand II.) in Innerösterreich, da er hier sein Recht als Landesherr auf der Basis des Augsburger Religionsrechts besonders weitgehend auslegte12. Vorsichtiger agierten die Habsburger in Ober- und Niederösterreich sowie in Böhmen. Doch insgesamt war um die Wende vom 16. bis zum 17. Jahrhundert eine deutlich verschärfte konfessionelle Stimmung in den Erblanden zu beobachten. c)  Der Kaiser als Mitglied des Gesamthauses der Casa de Austria Schließlich ist drittens noch die Stellung des Kaisers als wichtiges Mitglied der Gesamtdynastie, der Casa de Austria zu nennen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts war es zur Teilung der Dynastie gekommen in eine ältere Linie, die die Herrschaft über Spanien einschließlich seiner Überseebesitzungen, die nord- und süditalienischen Fürstentümer (insbesondere Mailand, Neapel, Sizilien) sowie über Burgund übernahm und eine jüngere österreichische Linie, die den mitteleuropäischen Hausbesitz erbte. Seither beschworen beide Linien konstant die unverbrüchliche Einheit ihres Gesamthauses – eine Einheit, die immer wieder durch Eheschließungen zwischen Abkömmlingen beider Linien feierlich bestätigt wurde. Für den Kaiser bedeutete die enge dynastische Bindung an die spanische Linie des Hauses Fluch und Segen zugleich. Natürlich war es ein enormer politischer Vorteil für den Kaiser als Haupt der österreichischen Linie, sich gerade in Krisenzeiten auf das Bündnis mit dem Spanischen Weltreich stützen zu können – oder sich wenigstens gegenüber Freund und Feind auf die enge Verbindung berufen zu können. Auf der anderen Seite forderte Spanien vom Kaiser als Reichsoberhaupt allerdings stets kategorisch dessen Unterstützung ein, wenn es um spanische Interessen im Reich bzw. in Reichsitalien ging. Dies barg für die kaiserliche Regierung die Gefahr, in weitausgreifende Konflikte verstrickt zu werden13. Einer davon war der langwährende „achtzigjährige“ Krieg zwischen Spanien und den aufständischen Niederlanden 1566–164814. Für Spanien war in die  Bahlcke (1997); Machilek (1989) 134–152.   Bireley (2014) 31–60. 13  Vgl. zu den wiederholten, scharfen Spannungen zwischen Madrid und Wien Asch (1997) 75; Elliott (1988) 185, und Ernst (1991). 14   Parker (1977). 11 12

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sem Zusammenhang besonders die Kontrolle der sogenannten Spanischen Straße (Camino Real) wichtig, der gesicherte Truppenkorridor zwischen Italien und Flandern, der durch den Westen des Reichs führte und für dessen Verteidigung kaiserliche Hilfe unverzichtbar war15. Der andere, damit eng verknüpfte Konflikt, in dem Spanien die Unterstützung des Kaisers beanspruchte, war das Ringen zwischen Spanien und Frankreich um die politische Hegemonie innerhalb der Christenheit, der auch im Westen des Reichs bzw. in Reichsitalien liegende Territorien immer wieder in Mitleidenschaft zog. B)  Die Krise der österreichischen Habsburger zu Beginn des 17. Jahrhunderts Nach 1600 geriet der Kaiser bzw. die österreichische Linie des Hauses Habsburg in die tiefste Krise ihrer Geschichte; Ursache war der erbitterte Konflikt zwischen Kaiser Rudolf II. (reg. 1576–1612) und seinen jüngeren Brüdern, insbesondere Erzherzog Matthias, dem späteren römisch-deutschen Kaiser. Schon kurz nach der Jahrhundertwende waren innerhalb des engeren Führungskreises der österreichischen Habsburger Zweifel laut geworden, ob der Kaiser gesundheitlich überhaupt noch in der Lage sei, seinen Pflichten als Reichsoberhaupt und Landesherr hinreichend nachzukommen oder ob sein schwankender Geisteszustand ihn zunehmend daran hindere. Der Kaiser betrachtete dies – wohl nicht ganz zu Unrecht – als Versuch seiner jüngeren, in der Erbfolge benachteiligten Brüder, ihm seine Herrschaft streitig zu machen, und reagierte mit scharfen, auch militärischen Mitteln16. Daraus entwickelte sich der legendäre, auch mit Waffengewalt ausgetragene „Bruderzwist“ zwischen Rudolf und Matthias, der katastrophale Folgen für die Gesamtdynastie hatte. In ihrem leidenschaftlichen, zunehmend verzweifelten Ringen um Unterstützung in den österreichischen Erzherzogtümern und in Böhmen gingen sowohl Rudolf als auch Matthias dazu über, dem Adel in den Erblanden großzügige Privilegien zu gewähren. Das zweifellos weitreichendste Zugeständnis machte Rudolf II. 1609 in Böhmen mit dem Majestätsbrief: Darin gestand der katholische König Rudolf dem gesamten, mehrheitlich nichtkatholischen Adel feierlich Glaubensfreiheit zu – ein schwerer Schlag und kaum zu überwindendes Hindernis für alle künftigen Bemühungen, den Protestantismus im Königreich Böhmen zurückzudrängen17. Die gesamte Krise des „Bruderzwists“ erwies sich als geradezu traumatische Erfahrung für das Haus Österreich. Es erkannte, dass ein solcher   Parker (2004).   Zum Bruderzwist jetzt konzise Whaley (2012) 434–437. 17   Bahlcke (1994). 15 16

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innerdynastischer Konflikt – gerade angesichts seiner konfessionell prekären Situation – die Herrschaft des Hauses insgesamt gefährden und zu einer existentiellen Krise führen könnte. Nach dem Tod Kaiser Rudolfs und der Nachfolge von Matthias in Österreich, Böhmen (1611) und schließlich auch im Reich (1612) stimmte das gesamte Erzhaus darin überein, dass ähnliche innerdynastische Streitigkeiten in der Zukunft vermieden werden müssten. Erzherzog Ferdinand aus der jüngeren Grazer Linie des Hauses, bislang bekannt durch seine energische gegenreformatorische Politik, wurde im Konsens zum künftigen Oberhaupt der österreichischen Linie bestimmt. 1617 gelang es auch, König Philipp III. von Spanien (reg. 1598–1621), das Oberhaupt der spanischen Linie des Hauses, im streng geheimen OñateVertrag für diese gemeinsame Lösung zu gewinnen: Madrid erkannte die Nachfolge Ferdinands in Böhmen und im Reich an und erhielt im Gegenzug den Erbanspruch auf den auch für die Sicherung der Spanischen Straße so wichtigen Hausbesitz im Elsass18. Im Anschluss ging das Haus Österreich energisch daran, Ferdinands Herrschaftsanspruch Schritt für Schritt zu realisieren. Schon 1617 setzte die Wiener Regierung durch, dass Ferdinand als künftiger König von Böhmen angenommen wurde – gegen erstaunlich geringen Widerstand der protestantischen Stände, die durch die feierliche Bestätigung des Majestätsbriefs gewonnen werden konnten. 1618 wurde Ferdinand auch zum König von Ungarn gewählt. Gestützt auf die neugewonnene Einheit des Hauses, ging Kaiser Matthias bzw. präziser: sein allmächtiger Ratgeber Kardinal Khlesl dazu über, die durch den Bruderzwist unterbrochene gegenreformatorische Politik wieder aufzunehmen19.

III.  Kaiserliche Selbstbehauptung I: Die Politik Wiens nach der Böhmischen Revolution von 1618 Die Entwicklung hin zu einer langsamen Besserung der kaiserlichen Position wurde durch den Ausbruch der Böhmischen Revolution abrupt gestoppt. Ausgangspunkt war bekanntlich der Prager Fenstersturz, bei dem im Mai 1618 radikale Vertreter des böhmischen protestantischen Adels aus Protest gegen die gegenreformatorischen Maßnahmen der kaiserlichen Regierung die königlichen Statthalter zu töten versuchten; Ziel der beteiligten Adligen war die endgültige Beseitigung der habsburgischen Herrschaft in Böhmen20.   Gliss (1930).  Instrument war vor allem die gezielte Förderung der katholischen Adelspartei; vgl. dazu Whaley (2012) 450; Ziegler (1989) 128–130. 20   Sturmberger (1959) 14–34. 18 19

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Diese revolutionäre Aktion traf Kaiser Matthias’ Regierung vollkommen unvorbereitet21. Ohne Geld und Truppen konnte die Wiener Regierung zunächst nichts unternehmen, um die neue böhmische Ständeregierung, die sich bald nach dem Prager Fenstersturz konstituierte, an der Übernahme der Regierungsgewalt in fast ganz Böhmen zu hindern. Aber die kaiserliche Regierung war fest entschlossen, nicht nachzugeben, und vermied peinlich jede Anerkennung der neuen Ständeregierung in Prag. Stattdessen verfolgte Wien eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite versuchte die Regierung, den Aufstand aufzuhalten, indem sie von einer scharf gegenreformatorischen Politik wieder abrückte und eher moderatere Töne anschlug. Auf der anderen Seite hielt die Wiener Führung Ausschau nach auswärtigen Bundesgenossen, um den Aufstand langfristig mit militärischen Mitteln niederwerfen zu können. Hilfsersuchen wurden an katholische Reichsfürsten, an Spanien und an den Papst gerichtet. Dies zeigte schon bald erste Wirkung: Im Herbst 1618 entschied die spanische Regierung nach dramatischen und erhitzten internen Diskussionen, dass Spanien das Risiko, die österreichische Linie des Hauses im böhmischen Konflikt fallenzulassen, nicht eingehen könne – würde dies doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Verlust des Kaisertums zur Folge haben22. Aber in der angespannten Situation des Herbstes 1618 war dies nicht viel mehr als ein Hoffnungsschimmer: es konnte kein Zweifel bestehen, dass es doch erhebliche Zeit kosten würde, bis Hilfe aus Spanien tatsächlich einträfe. In der Zwischenzeit wuchs die unmittelbare Gefahr für die habsburgische Seite beständig weiter, um im März 1619, mit dem Tod von Kaiser Matthias, einen neuen Höhepunkt zu erreichen. Wirklichen politischen Einfluss hatte Kaiser Matthias in den letzten Monaten seiner Herrschaftszeit ohnehin nicht mehr besessen: Im Juli 1618 hatte der designierte Nachfolger Ferdinand, höchst unzufrieden mit der Regierungsführung in Wien, befohlen, Kardinal Khlesl festzunehmen; damit war Matthias de facto entmachtet23. Ferdinand übernahm selbst die Führung der Geschäfte und gab sie von nun an bis 1637 nicht mehr aus der Hand. Zusammen mit Ferdinand übernahm eine Reihe von Räten die politischen Schlüsselstellungen in Wien – Räte, die bereits in seiner Zeit als Landesherr in der Steiermark zu den engsten Ratgebern des neuen „starken Mannes“ am Wiener Hof gehört hatten: Zu nennen sind hier besonders Graf Johann von Eggenberg (1568–1634) und Maximilian von Trauttmansdorff (1584–1650), der eine Schlüsselfigur der kaiserlichen Regierung bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs blieb24. 21  Eine gründliche Darstellung der kaiserlichen Politik gegenüber dem Böhmischen Aufstand Brockmann (2011) 66–192. 22   Brightwell (1982) 117–141. 23   Bireley (2014) 93 f. auch zu den Verhandlungen mit dem Papsttum, das die Behandlung des Kardinals nicht widerspruchslos hinnahm. 24   Vgl. Croxton/Tischer (2002c); Kampmann (2015).

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Obwohl also Matthias schon in den letzten Monaten seines Kaisertums nur noch rein nominell Herrscher war, markierte sein Tod doch den Beginn der dramatischsten Phase des Aufstands in den habsburgischen Erblanden. Nach Matthias’ Tod weitete sich die Ständerebellion von Böhmen und Schlesien auf Mähren, Ober- und Niederösterreich und Ungarn aus25. Im Lichte dieser bedrohlichen Entwicklung gelangten Ferdinand und seine Ratgeber zu der Überzeugung, dass die Aufrechterhaltung des Anspruchs Ferdinands, Kaiser Matthias’ rechtmäßiger Nachfolger zu sein, absolute politische Priorität haben müsse, wurde dies doch als ausschlaggebende Voraussetzung angesehen, weitere Verbündete zu gewinnen. Gerade bei diesem Anliegen gelang Ferdinand im August 1619 ein erster großer Erfolg: Er wurde durch die Kurfürsten als Matthias’ Nachfolger zum Kaiser gewählt; zugleich erkannten ihn seine Wähler als rechtmäßigen König von Böhmen an. Das Ergebnis der Frankfurter Wahl erwies sich insofern als höchst bedeutsam, weil die Böhmischen Stände zum gleichen Zeitpunkt endgültig mit der habsburgischen Herrschaft brachen und Ferdinand ihrerseits nun auch formell absetzten. An seiner Stelle wählten sie den Kurfürsten von der Pfalz, Pfalzgraf Friedrich V., zum neuen König von Böhmen. Ausgestattet mit seiner jüngst erworbenen kaiserlichen Würde konnte Ferdinand seine Bemühungen fortsetzen, neue Bundesgenossen für den absehbaren „Showdown“ mit den „Rebellen“ in den verschiedenen Erblanden zu gewinnen. Auf seiner Rückreise von Frankfurt nach Wien gelang es, ein Bündnis mit dem Haupt der katholischen Liga und zu diesem Zeitpunkt zugleich mächtigsten katholischen Fürsten im Reich, Herzog Maximilian von Bayern, zu schließen. Im Münchener Vertrag erklärte Herzog Maximilian seine Bereitschaft, den Kaiser im kommenden Konflikt mit den böhmischen „Rebellen“ zu unterstützen. Im Gegenzug forderte er von Ferdinand einen hohen politischen Preis, der schlaglichtartig die verzweifelte politische Situation des neugewählten Kaisers beleuchtete. Maximilian verlangte, den zukünftigen Feldzug gegen die böhmische Ständeregierung persönlich führen zu dürfen, während der Kaiser abseits stehen sollte bei der Rückeroberung seiner Erblande – ein die Reputation des Reichsoberhaupts erheblich beschädigender Schlag. Darüber hinaus hatte Ferdinand alle Kosten des Feldzugs zu erstatten. In einer geheimen Zusatzabsprache sicherte der Kaiser überdies zu, dass er Herzog Maximilian mit der pfälzischen Kurwürde belehnen werde, sobald Friedrich als Anführer einer antikaiserlichen, landfriedensbrecherischen „Rebellion“ geächtet worden sei. Maximilian könne Oberösterreich als Sicherheit behalten, bis der Kaiser all seine Versprechungen eingelöst habe. Die extrem harten Bedingungen, die Ferdinand im Münchener Vertrag eingehen musste, lassen dieses Bündnis als nichts Geringeres als eine kaiserliche Kapitulation vor dem neuen, unverzichtbaren Alliierten 25

  Strohmeyer (2006) 240–254.

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erscheinen – eine kaiserliche Kapitulation, deren situationsbedingt gleichsam erzwungene Zugeständnisse erheblich zur Fortsetzung und Eskalation des Krieges nach dem Böhmisch-Pfälzischen Krieg beitragen sollten26. Kurzfristig betrachtet hatte das neue Bündnis allerdings außerordentliche Vorteile für die kaiserliche Sache. Gestützt auf die neue bayerische Verbindung konnte der Kaiser im Frühjahr 1620 weitere Bündnispartner im Kampf gegen die böhmischen „Rebellen“ gewinnen, besonders den lutherischen Kurfürsten von Sachsen – ein Erfolg, der auch erheblichen politischen Symbolwert hatte, begab sich doch damit der mächtigste protestantische Fürst im Reich und zugleich einer der ranghöchsten Reichsstände auf die kaiserliche Seite27. Andererseits scheiterten – angesichts der schrittweisen Formierung einer mächtigen kaiserlich-katholischen Allianz – alle Anstrengungen der böhmischen Ständeregierung, neue Verbündete zu gewinnen, fast vollständig und höchst kläglich. Die protestantische Union erklärte sich für nicht zuständig und neutral, und der König von England, Schwiegervater des pfälzischen Kurfürsten und böhmischen (Gegen-)Königs Friedrich V., lehnte jede Hilfestellung für das in seinen Augen illegitime und politisch höchst unkluge böhmische Abenteuer ab28. Im Sommer und Herbst 1620 fand der nominell vom Bayernherzog Maximilian geführte Feldzug in den habsburgischen Erblanden zur Niederwerfung der verschiedenen Ständerevolten statt. Maximilian und sein militärisch begabter sowie tüchtiger General Tilly eroberten zunächst Oberösterreich, gingen sodann zum Angriff auf Böhmen über und schlugen schließlich die Truppen der böhmischen Ständeregierung in der berühmten Schlacht am Weißen Berg. Es war ein leicht erfochtener Sieg ungleicher Gegner – eher ein Scharmützel, dessen politische Folgen freilich umso weitreichender waren: König Friedrich und seine Gemahlin Elisabeth Stuart mussten Böhmen fluchtartig verlassen, die Regierung der ständischen „Directoren“ brach in sich zusammen29. Den Abmachungen des Münchener Vertrags entsprechend war Kaiser Ferdinand während des Feldzugs ein stiller und passiver Beobachter jener militärischen Entwicklungen geblieben, die seine Machtposition in den bisher im Aufstand befindlichen Fürstentümern wiederherstellten. Es war ein großartiger kaiserlicher Sieg, aber nicht einer, der auf eigener Stärke beruhte, sondern auf jener seiner katholischen Bundesgenossen: ein „geliehener Sieg“30.

  Albrecht (1998) 503–509.   Müller (1996). Im Gegenzug versprach Ferdinand II. die Abtretung der Lausitzen an Kursachen – ein Versprechen, das dann nach dem Krieg tatsächlich umgesetzt wurde. 28   Adams (2003) 61–84. 29   Kampmann (2013) 41 ff. 30   Vgl. zur Qualifizierung des kaiserlichen Sieges als ‚geborgtem Sieg‘ Press (1991) 199. 26 27

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IV.  Die Folgen des Böhmischen Sieges: Neue Möglichkeiten – neue Gefahren (1621–1625) Der „geliehene“ Sieg erwies sich für den Kaiser als zweischneidiges Schwert. Vorteile in den Erblanden standen neuen Gefährdungen der kaiserlichen Position im Reich gegenüber. A)  Neue Möglichkeiten: Die Neuordnung in den habsburgischen Erblanden Durch den Sieg im Böhmischen Krieg gewann der Kaiser ganz neue Möglichkeiten in seinen Erblanden – Möglichkeiten, die keiner seiner habsburgischen Vorgänger seit der Mitte des 16. Jahrhunderts besessen hatte, denn die bisher so starke antihabsburgische Opposition lag vollständig am Boden. Und in höchst charakteristischer Weise zeigte die Regierung Ferdinands von Anfang an ihre Entschlossenheit, für eine dauerhafte Neuordnung in den habsburgischen Erblanden zu sorgen. Alle protestantischen Adligen, die sich an der Ständerevolution beteiligt und die Möglichkeit zu einer Verständigung mit dem Kaiser vor der militärischen Niederlage versäumt hatten, wurden hart bestraft, wobei ihre Güter eingezogen und adligen, selbstverständlich katholischen Gefolgsleuten des Kaisers übertragen wurden. Dies zeitigte weitreichende Folgen, insbesondere für Böhmen: Der alteingesessene nichtkatholische böhmische landbesitzende Adel wurde fast vollständig ersetzt durch eine international geprägte katholische Elite, die nicht nur tschechischer und deutscher, sondern auch italienischer und spanischer Herkunft war. Es war die größte Vermögensumschichtung, die Böhmen bis 1945 erlebte. Die hier eingesetzte habsburgtreue Nobilität behielt bis zum 20. Jahrhundert ihre soziale Vorrangstellung. Der Kaiser hatte sich von der Neuverteilung des böhmischen Landbesitzes eine deutliche Verbesserung seiner finanziellen Lage erhofft. Diese Erwartung blieb weitestgehend unerfüllt. Auf Kosten der kaiserlichen Kammer nutzte ein kleiner Kreis von adligen Würdenträgern rund um den kaiserlichen Statthalter von Böhmen, Karl von Liechtenstein (zu dessen Vertrauten in dieser Zeit auch der später berühmt-berüchtigte böhmische Adlige Albrecht von Wallenstein gehörte) die Situation aus, um ein gewaltiges Vermögen anzuhäufen. Dies wurde bewerkstelligt, indem die Vertreter dieses eng vertrauten Kreises die Güter enteigneten, was ihnen die Möglichkeit gab, zugleich als Verkäufer und Käufer aufzutreten31. Der Verlust für die kaiserliche Hofkammer war umso größer, als Liechtenstein auch das Recht zur Münzprägung besaß und dies ausnutzte, indem er minderwertiges Geld in Umlauf brachte, mit dem er das konfiszierte „Rebellengut“ aufkaufte. Dies führte zu einer veritablen Inflation in Mitteleuropa (der sog. „Kipper- und 31

  Mortimer (2010) 37–51.

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Wipper“-Zeit)32. Die ganze Angelegenheit enthüllt ein für die gesamte Dauer des Krieges typisches Charakteristikum der kaiserlichen Regierung: ihre ausgeprägte ökonomische bzw. finanztechnische Inkompetenz. Im Unterschied zu anderen fürstlichen Regierungen dieser Zeit, zum Beispiel derjenigen des Bayernherzogs Maximilian, versagte die kaiserliche Regierung in dieser Hinsicht weitgehend. Im Gegensatz dazu erwiesen sich die Maßnahmen der kaiserlichen Regierung zur Umwandlung der Erblande in konstitutioneller und konfessioneller Hinsicht als weit effektiver. Vom Rechtsstandpunkt des Kaisers bzw. des kaiserlichen Reichshofrats aus hatten die Stände durch ihre Rebellion alle ihre Privilegien verwirkt. Damit setzte die Umwandlung der habsburgischen Lande im Reich, insbesondere Böhmens, in erbliche, wesentlich stärker zentralisierte und ausschließlich römisch-katholische Fürstentümer ein. Dies führte, gerade im Fall Böhmens, zu einer umfangreichen Auswanderungswelle der protestantischen Einwohner in benachbarte protestantische Territorien. Kleine Ausnahmen bei der Rekatholisierung wurden in Hinblick auf protestantische Einwohner Schlesiens und Niederösterreichs gemacht (entsprechend einiger, kurz vor dem Zusammenbruch der Ständerevolution gewährten Konzessionen Ferdinands, an die sich der Kaiser gebunden fühlte – ein weiteres Zeichen für seinen so charakteristischen Legalismus33). Zum vorläufigen Abschluss kam dieser Umstrukturierungsprozess mit der Verkündung der sogenannten Verneuerten Landesordnung von 1627, der Böhmen in ein zentralisiertes, römisch-katholisches Erbkönigreich verwandelte. Das Experiment einer böhmischen protestantischen Adelsrepublik war damit endgültig beendet worden34.

V.  Neue Gefahren für den Kaiser: Die Fortsetzung des Kriegs im Reich Auf der anderen Seite hatte der Kaiser einen hohen Preis für seinen geliehenen Sieg zu zahlen. Sein Verbündeter, Maximilian von Bayern, bestand strikt auf der Einhaltung der Bedingungen des Münchener Vertrags, auch auf der Übertragung der pfälzischen Kurwürde und der Oberpfalz35. Einen ersten Schritt zur Erfüllung unternahm der Kaiser im Januar 1621: Pfalzgraf Friedrich V., der nach der Besetzung der Unter- und der Oberpfalz durch bayerische und spanische Truppen im niederländischen Exil lebte, wurde als   Rosseaux (2001).   Vgl. zum ‚deep legalism‘ Ferdinands II. Wilson (2009) 71. 34   Zur Schärfe der Straf- und Konfiskationsmaßnahmen in Böhmen vgl. Machilek (1989) 149 f.; Rentzow (1998). 35   Albrecht (1998) 583 f. 32 33

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sogenannter „notorischer Rebell“ in die Acht erklärt; seine reichsfürstlichen Besitzungen konnten als erledigte Lehen betrachtet, vom Kaiser eingezogen und neu vergeben werden36. In Wien gab man sich keinen Illusionen darüber hin, dass eine Übertragung der Pfalz auf Bayern einen friedlichen Kompromiss so gut wie unmöglich machen würde, zumal Spanien in Hinblick auf die Sicherung der Spanischen Straße strategisch wichtige Teile der Kurpfalz im Rheintal besetzt hielt. Eine derart radikale Verschiebung der Machtverhältnisse im Reich zugunsten der kaiserlich-katholischen Partei würde nicht nur für Pfalzgraf Friedrich, sondern auch für viele protestantische Reichsfürsten wie auch europäische Mächte absolut inakzeptabel sein. Frankreich, die Niederlande, Dänemark und England ließen daran keinen Zweifel. Aber dem Kaiser blieb keine andere Wahl, als die Bedingungen des Münchener Vertrags einzulösen, hing er doch in seiner finanziell verzweifelten Lage auf Gedeih und Verderb von dem bayerischen Alliierten und der von ihm geführten Armee der Liga ab. Überdies hielt Maximilian nach wie vor Oberösterreich besetzt und machte unmissverständlich klar, dass eine Restitution an den Kaiser nur in Frage käme, wenn der Kaiser sich seinerseits vertragstreu zeigte. Beim Regensburger Kurfürstentag 1623 belehnte Kaiser Ferdinand Maximilian von Bayern feierlich mit der pfälzischen Kurwürde ad personam und gab zudem das geheime Versprechen, dass Maximilian und der bayerischen Linie des Hauses Wittelsbach die Kurwürde langfristig als erblich übertragen werden würde37. Unter diesen Rahmenbedingungen wurde der Krieg im Reich fortgesetzt. Die pfälzische Exilregierung, die Subsidienzahlungen von verschiedenen europäischen Mächten erhielt, hob im Niedersächsischen Kreis neue Söldnerarmeen aus, die sich verlustreiche Schlachten mit der Ligaarmee unter Tilly lieferten38 und dabei schwere Niederlagen erlitten. Das Vorrücken der Liga-Truppen trug zur Ausweitung des Krieges bei. Die im niedersächsischen Kreis beheimateten protestantischen Fürsten fühlten sich durch die Anwesenheit schlagkräftiger und siegreicher ligistischer Armeen in ihrem Kreisgebiet bedroht und reagierten darauf mit einem riskanten Schritt: Sie akzeptierten das Angebot König Christians IV. von Dänemark, sich zu ihrem Schutzherrn zu machen, und wählten Christian, dessen Haus Oldenburg auch über Territorialbesitz im Niedersächsischen Kreis verfügte, zu ihrem Kreisobersten, also zum militärischen Befehlshaber im Kreis. Dies bedeutete de facto nichts anderes als Krieg mit Kaiser und Liga. Der

36   Eine genaue Darstellung der ohne Prozess ausgesprochenen Ächtung Friedrichs V. und ihrer Hintergründe vgl. Kampmann (1993) 47–70. 37   Brockmann (2011) 230 f. 38   Mout (1988).

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geliehene Sieg des Kaisers über Böhmen und die Pfalz hatte zu einer neuen europäischen Eskalation des Krieges geführt39.

VI.  Der Strukturwandel der kaiserlichen Position nach 1625: Auf dem Weg zu einer neuen Reichsordnung? Die kaiserliche Regierung war überzeugt, dass auf den dänischen Kriegseintritt sehr scharf und entschlossen reagiert werden müsse. In den voraufgegangenen Jahren hatte der vermögende böhmische Adlige Albrecht von Wallenstein, Abkömmling eines alten Geschlechts des böhmischen Herrenstandes, dem Kaiserhof wiederholt angeboten, auf eigene Kosten nicht nur – wie üblich – ein Regiment, sondern eine ganze Armee aufzustellen. Dies war bis dahin stets abgelehnt worden. Jetzt aber, unter dem Eindruck der akuten dänischen Gefahr, änderte der Kaiser seine Meinung: Wallenstein erhielt den Auftrag, für den Kaiser eine ganze Armee aufzustellen40. Wieder einmal ließ sich beobachten, dass in der kaiserlichen Regierung offensichtlich niemand langfristig finanziell planend daran dachte, auf welche Weise denn diese Armee dauerhaft unterhalten werden sollte. Deshalb geriet schon nach kurzer Zeit die neue von Wallenstein ausgehobene Armee in eine tiefe finanzielle Krise. Aber Wallenstein gelang es, das drohende Verhängnis mit organisatorischem Geschick, vor allem aber mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit abzuwenden. Er löste das Problem, indem er dazu überging, alle Reichsterritorien, in denen seine Armee stationiert war, für deren Unterhaltungskosten aufkommen zu lassen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um Territorien handelte, die dem Kaiser feindlich, neutral oder gar freundlich gegenüberstanden. Dieses Vorgehen stellte einen Bruch der herkömmlichen reichsrechtlichen Regelungen dar, die den Kriegsherrn verpflichteten, den Hauptteil der Finanzierung seiner Armee zu tragen. Doch der Kaiser, der über keine andere Möglichkeit zum Unterhalt seiner Truppen verfügte, billigte notgedrungen das Vorgehen Wallensteins, meist stillschweigend, bisweilen aber auch ausdrücklich41. Die Tatsache, dass der Kaiser nun über eine starke Armee im Reich verfügte, änderte die Lage grundlegend und zeitigte weitreichende Konsequenzen. Zunächst hatte dies natürlich Auswirkungen auf das Verhältnis zu seinen Verbündeten Bayern und Frankreich. Dank Wallensteins Armee, die rasch zum stärksten militärischen Faktor in Mitteleuropa aufstieg42, konnte sich der Kaiser aus der bayerisch-spanischen Abhängigkeit befreien und stellte eine eigenständige militärische Größe dar – zum ersten Mal seit Kriegsausbruch.   Kampmann (2013) 56 f.   Mortimer (2010) 75–81. 41   Redlich (1964) Bd. 1, 359-365. 42   Albrecht (1990) 133. 39 40

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Überdies trug die neue kaiserliche Armee entscheidend dazu bei, dass sich die Machtverhältnisse im Reich zwischen der kaiserlich-katholischen Partei und ihren protestantisch-dänischen Gegnern verschoben. Aufgrund der großen militärischen Erfolge Wallensteins und Tillys in den Jahren 1626 bis 1627 konnte ganz Norddeutschland und Jütland durch kaiserliche und ligistische Truppen besetzt werden. Dies bedeutete, dass sogar diejenigen Teile des Reichs, die traditionell als kaiserfern betrachtet worden waren, nun unter direkte kaiserliche Kontrolle gerieten. Im Verlauf des Niedersächsisch-Dänischen Kriegs erreichte der Kaiser eine Machtfülle, die diejenige irgendeines Vorgängers einschließlich Kaiser Karls V. in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei weitem übertraf43. Schließlich sah sich der Kaiser einer wachsenden Opposition von reichsständischer Seite gegenübergestellt. Die hohen Belastungen durch die kaiserliche Armee, insbesondere die enorm hohen Kriegssteuern (Kontributionen), die Wallenstein ihnen auferlegte, brachten protestantische wie katholische Fürsten gleichermaßen gegen den Kaiser auf. Überdies nährte die Präsenz einer solch starken kaiserlichen Armee im Reich den Argwohn vieler Reichsfürsten, dass Ferdinand II. das Reich in eine zentralisierte Monarchie auf Kosten der fürstlichen „Libertät“ umzuwandeln trachtete. Entsprechend wurde eine ganze Reihe von Maßnahmen des Kaisers, so die Einziehung von sogenanntem „Rebellengut“ zugunsten der Armee (darunter die mecklenburgischen Fürstentümer, die recht willkürlich eingezogen und Wallenstein übertragen worden waren) mit höchstem Misstrauen betrachtet44. In der Geschichtswissenschaft ist wiederholt die Überzeugung vertreten worden, dass Ferdinand II. geplant habe, die Reichsverfassung grundlegend umzugestalten. Einige Historiker sind dabei so weit gegangen, dem Kaiser regelrechte Pläne zur Aufrichtung eines „Reichsabsolutismus“ zu unterstellen45. Jüngere Forschungen haben freilich sehr überzeugend herausarbeiten können, dass es keinerlei Belege für solch weitreichende Zielvorstellungen gibt. Ein wichtiges Belegbeispiel ist Ferdinands Haltung zum Wahlcharakter des Heiligen Römischen Reichs, der das wohl entscheidende Hindernis für alle „absolutistischen“ Pläne dargestellt hätte. Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass die kaiserliche Regierung auf die Abschaffung der Wahlmonarchie hingearbeitet, noch entsprechendes auch nur erwogen hätte46. Im Gegenteil spricht viel dafür, dass der stark legalistische, am Reichsherkommen und der rechtlichen Überlieferung orientierte kaiserliche Regierungsstil beibehalten worden ist, selbst noch auf dem Höhepunkt kaiserlicher Macht im Reich47.   Repgen (2015a), 397–424.   Die beste Darstellung der Liga-Politik gegenüber dem Kaiser und Wallenstein bietet Kaiser (1999); für die Konfiskationen des „Rebellenbesitzes“ vgl. Kampmann (1993) 71–104. 45   Gotthard (2002) 146. 46   Brockmann (2011) 459. 47   Dies hat bereits Schwarz (1943) 95 sehr überzeugend herausgearbeitet. 43 44

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Dies trifft sogar zu für jenen Bereich, in dem die kaiserliche Politik besonders weitreichende Regelungen traf, den Bereich der Konfessionspolitik. Ferdinands ebenso berühmtes wie umstrittenes „Restitutionsedikt“, das die Rückgabe des gesamten, seit 1552/1555 entfremdeten Kirchengutes anordnete, basierte auf dem Augsburger Religionsfrieden. Zwar berief sich der Kaiser hier auf eine streng katholische Interpretation des Religionsfriedens, aber auf eine offene oder heimliche Abschaffung der Regelungen von 1555 arbeitete der Kaiserhof nicht hin48.

VII.  Die Krise der kaiserlichen Politik: Vom Frieden von Lübeck zum Prager Frieden (1629–1635) Das Restitutionsedikt stellte einen ersten Wendepunkt der kaiserlichen Politik dar. Erstmals wurden – der militärischen Stärke des kaiserlichen Lagers zum Trotz – die politischen und konfessionellen Grenzen der kaiserlichen Machtstellung sichtbar. Die protestantische Opposition im Reich verfestigte sich, und sogar kaiser- und reichstreu eingestellte Fürsten wie der lutherische Kurfürst von Sachsen distanzierten sich vom Kaiser. Zudem verschlechterte sich aus Sicht des Kaisers die internationale Großwetterlage; die Gefahr einer schwedischen und französischen Intervention im Reich wuchs. Dies veranlasste den Kaiser (bzw. Wallenstein), mit dem geschlagenen Dänenkönig doch recht rasch einen friedlichen Ausgleich zu suchen – dass dies zu bemerkenswert gemäßigten Bedingungen erfolgte, zeigt die Dringlichkeit des Anliegens. Der König von Dänemark versprach, sich künftig aus den Reichshändeln herauszuhalten. Als Gegenleistung wurde ihm die territoriale Unversehrtheit der dänischen Gebiete zugesagt. Im Zeichen der militärischen Erfolge über Dänemark hatte der Wiener Hof hochfliegende Pläne zur Neuverteilung dänischer Territorien verfolgt, die nun rasch aufgegeben wurden – ein Zeichen für erste Risse im Gefüge der kaiserlichen Macht. Die (auch verfassungsrechtlich bedingten) Grenzen kaiserlicher Macht wurden noch deutlicher im Verlauf des Regensburger Kurfürstentags von 1630. In bemerkenswerter Kooperation machten sowohl die katholischen als auch die protestantischen Kurfürsten dem Kaiser klar, dass er alle Pläne, seinen Sohn zum Nachfolger im Kaiseramt wählen zu lassen, aufgeben könne, wenn er nicht den bei den Ständen verhassten Generalissimus aus seinem Dienst entlasse. In der Folge sah sich der Kaiser genötigt nachzugeben und sich von Wallenstein zu trennen – eine auch symbolische Niederlage von höchster

48   Martin Heckel (1983) 146 hat bereits vor Längerem den strikten Legalismus des Restitutionsedikts herausgearbeitet. Seine Ergebnisse sind durch die Ergebnisse von Brockmann (2011) 459 bestätigt worden.

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Bedeutung und ein weiteres Zeichen für eine fortschreitende Schwächung der kaiserlichen Macht49. Auf welch schwankenden Fundamenten die kaiserliche Macht ruhte, wurde in den folgenden Jahren seit 1630 endgültig deutlich. Die Ereignisse dieser Jahre zwangen den Kaiser erneut, sich militärische Macht „zu leihen“ – ähnlich wie in den ersten Jahren des Kriegs: Angesichts des militärischen Eingreifens König Gustav II. Adolfs von Schweden im Reich und dessen gewaltigen militärischen Erfolgen über die ligistisch-kaiserlichen Truppen seit 1631, die zur schwedischen Besetzung Süddeutschlands führten, wurde der Kaiser nur durch das militärische Organisationstalent und die Kreditwürdigkeit Wallensteins gerettet, der nach der verheerenden Niederlage von Breitenfeld im September 1631 wieder zum kaiserlichen Oberbefehlshaber berufen worden war. Doch Wallenstein ließ den Kaiser spüren, wie abhängig der Wiener Hof von ihm war. Nach dem Tod Gustav II. Adolfs bei Lützen wuchsen die Spannungen zwischen der kaiserlichen Regierung und ihrem Generalissimus, weil seine zurückhaltende, eher passive Kriegsführung nicht den Wiener Erwartungen entsprach und er immer unverhohlenerer mit Meuterei drohte50. Dies führte zum Bruch, zu Wallensteins zweiter Entlassung und Ächtung; auf der Flucht aus Böhmen wurde er von kaisertreuen Offizieren getötet. Nach seinem Tod geriet die kaiserliche Armee in eine tiefe Krise, aus der den Kaiser erneut „geliehene“ Hilfe rettete, die diesmal aus Spanien kam. Es war die spanische Flandernarmee, der es im Verbund mit der kaiserlichen Armee gelang, die schwedischen Streitkräfte bei Nördlingen zu schlagen und aus Süddeutschland zu vertreiben51. Die traumatischen Erfahrungen der Jahre 1631 bis 1634 hatten der kaiserlichen Regierung deutlich vor Augen geführt, wie leicht ihre militärische Machtposition zu erschüttern war und wie schlagartig sich die kriegerischen Konjunkturen zu wandeln vermochten. Dies führte zu einer Kehrtwende der politischen Strategie des Kaiserhofs, der nach 1634 eine kompromissbereitere politisch-konfessionelle Linie verfolgte: Wien suchte vor allem nach einer Verständigung mit jenen Reichsfürsten, die in der Vergangenheit im Wesentlichen loyal zum Kaiser gestanden hatten und sich erst aufgrund der unerbittlichen konfessionellen und militärischen Vorgehensweise der 1620er Jahre vom Kaiserhof abgewandt hatten. Dies betraf vor allem den führenden protestantischen Reichsstand, den Kurfürsten von Sachsen. Tatsächlich gelang es der kaiserlichen Politik bis 1635, sich mit Kursachsen auszusöhnen. Nachdem der Kaiser das Restitutionsedikt stillschweigend aufgegeben hatte, 49   Kaiser (1999) 279–302 und Mortimer (2010) 125–131 über die bemerkenswert gleichmütige Reaktion Wallensteins. 50   Über Wallensteins Sturz vgl. Kampmann (1993) 101–172. 51   Über die entscheidende Rolle der spanischen Flandernarmee beim Sieg von Nördlingen vgl. Parker (1972) 259.

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wurde im kaiserlich-kursächsischen Frieden von Prag vereinbart, dass die konfessionellen Verhältnisse des Jahres 1627 (als sogenanntes Normaljahr: annus normalis) als verbindlich für die nächsten vierzig Jahre festgeschrieben werden sollten52. Überdies sollte die kaiserliche Armee, die in den 1620er Jahren durch die Kontributionsmaßnahmen Angst und Schrecken verbreitet hatte, restrukturiert und in eine Reichsarmee umgewandelt werden. Als solche sollte sie als einzige regulär anerkannte Armee im Reich operieren, allerdings unter dem nach Regionen aufgeteilten Oberbefehl des Kaisers, Kursachsens und Kurbayerns. Das vereinte Reichsheer sollte nur noch eine einzige Aufgabe haben: den Krieg zu beenden und die fremden Armeen aus dem Reich zu vertreiben53. Im Reich schien die neue, viel stärker auf Ausgleich angelegte politische Linie Früchte zu tragen. Fast sämtliche Reichsstände, die zum Beitritt in den Prager Frieden eingeladen worden waren, schlossen sich der Friedensregelung tatsächlich an. Bald gelang noch ein weiterer Erfolg, der durch den Frieden von 1635 überhaupt erst ermöglicht worden war: Der Kaiser vermochte – auch dank spanischer Hilfe – durchzusetzen, dass sein ältester Sohn Ferdinand (III.) zum römischen König gewählt wurde, der ihm dann nach seinem Tod im Februar 1637 tatsächlich im Kaiseramt nachfolgte54. Die Bereitschaft, sich dem Prager Frieden anzuschließen, wurde erhöht durch eine „reichspatriotische“, reichs- und kaisertreue Publizistik, die den „Teutschen“ nationalen Charakter des Friedensschlusses betonte55. Dies war freilich in einer Hinsicht eher irreführend: Der Friede von Prag und seine Durchsetzung wurden nur möglich, weil Spanien weiterhin bereit war, dem Kaiser auch nach 1635 substantielle militärische und finanzielle Hilfe zu leisten56. Im Gegenzug unterstützten Ferdinand II. und – offensichtlich noch in weit stärkerem Maße – Ferdinand III.57 ihrerseits Spanien, entweder direkt militärisch (so in Norditalien, im Elsass, oder in der Picardie im Kampf gegen Frankreich) oder wenigstens indirekt gegen die Vereinigten Niederlande. Die erneuerte Allianz innerhalb der Casa de Austria war hilfreich für den Kaiser, erwies sich aber langfristig als entscheidender Grund für das Scheitern des Prager Friedens.

  Fuchs (2010) 119–149.   Es gibt nach wie vor keine zufriedenstellende Monographie über den Prager Frieden und die ihn ermöglichende kaiserliche Politik; eine umfassende Edition von Quellen zum Frieden hat Bierther (1997b) vorgelegt; wertvoll auch Bierthers Einführung, Bierther (1997a). 54   Haan (1967). 55   Wandruszka (1955). 56  Vgl. Haan (1967) 230 f.; eine gründliche Rekonstruktion der massiven spanischen Unterstützung für den Kaiser liefert Ernst (1991) 236 f. 57   Die stark auf Spanien orientierte Position Ferdinands III., der darin wohl jeden Vorgänger der österreichischen Linie übertraf, zeigt Höbelt (2008) 117 und 410. 52 53

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VIII.  Die gescheiterte Konflikteinhegung: Kaiserliche Politik im Europäischen Krieg (1636–1645) Für das Gelingen des Prager Friedens gab es eine entscheidende Vorbedingung, dass nämlich die am Krieg beteiligten auswärtigen „Kronen“, also Frankreich und Schweden, diesen Friedensvertrag über kurz oder lang gleichfalls annehmen würden. Aber das erwies sich als große und gefährliche Illusion. Schweden hatte Mindestbedingungen für einen Friedensschluss formuliert, nämlich eine finanzielle Entschädigung, eine territoriale Kompensation sowie Amnestie für protestantische Reichsstände – Mindestbedingungen, von denen es selbst in Zeiten ärgster militärischer Bedrängnis nicht abrückte. Und Frankreich wollte unter keinen Umständen seine Bindungen zum Reich aufgeben, schon gar nicht, seit der Kaiser so eng mit dem französischen Erzfeind Spanien verbunden war, dem Frankreich 1635 den Krieg erklärt hatte. Der Kaiserhof hielt es erstaunlich lange für realisierbar, zu einem friedlichen Ausgleich mit Frankreich zu kommen, und verkannte dabei, dass der französische Kardinalpremier Richelieu gerade die Prager Friedensordnung zu verhindern suchte, da sie aus seiner Sicht eine Hegemonie der österreichischspanischen Habsburger in Mitteleuropa erst recht zementierte58. Nachdem alle Versuche gescheitert waren, auch mit Frankreich und Schweden zu einer Friedenslösung zu kommen, schien dem Kaiser nichts anderes übrig zu bleiben, als den Prager Frieden mit Waffengewalt auch gegen französischen und schwedischen Widerstand durchzusetzen. Aber erneut verfing sich die kaiserliche Regierung in einer Illusion, da ihr dazu die notwendigen militärischen Mittel fehlten: 1636 bis 1637 gelang es dem Kaiser bzw. der Reichsarmee noch, einige Erfolge gegen Frankreich und Schweden zu erzielen. Aber zwischen 1638 und 1640 verschoben sich die militärischen Kräfteverhältnisse schrittweise zugunsten der fremden „Kronen“. Regelrecht gefährlich wurde die militärische Lage des Kaisers, als Spanien, auf dessen Unterstützung Wien bisher immer hatte zählen können, keine substantielle Hilfe mehr leisten konnte. Geriet doch Spanien seit den frühen 1640er Jahren, überlastet durch die verschiedenen verzehrenden Kriege, selbst in eine tiefe Krise, die ihren Ausdruck in weitausgreifenden Aufstandsbewegungen innerhalb des Spanischen Imperiums fand (so in Portugal, Süditalien-Neapel und in Katalonien). Nun zeigte sich, wie stark der Kaiser von Spanien abhängig gewesen war: Angesichts der durch das Ausbleiben spanischer Hilfen ausgelösten Krise des Kaisers sagten sich immer mehr Reichsstände vom Reichsoberhaupt los, wandten sich damit von der Prager Friedensordnung ab und schlossen sich Frankreich und Schweden an. Das Prager Friedenssystem zeigte bedrohliche Risse. 58   Eine gründliche Darstellung der kaiserlich-französischen Beziehungen zwischen 1630 und 1641 legt Hartmann (1998) vor.

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Bemerkenswerterweise zeigten sich der Kaiser und seine engsten Ratgeber lange vollkommen unbeeindruckt von dieser für sie höchst ungünstigen Entwicklung. Erstaunlich lange klammerte sich Ferdinand III. an die ursprüngliche Strategie, eine Friedensordnung für das Reich ohne die fremden „Kronen“ durchzusetzen. Entsprechend widersetzte sich der Kaiser außerordentlich hartnäckig der von Frankreich favorisierten Idee eines Universalfriedenskongresses, bei dem alle nationalen und internationalen Streitfragen erörtert und sämtlich beigelegt werden sollten. Selbst die beiden katastrophal verlaufenden kaiserlichen Feldzüge gegen Frankreich und Schweden 1643/44 konnten den Kaiser nicht von der Idée fixe abbringen, dass der Prager Frieden weiterhin die Basis für eine endgültige Friedenslösung bieten könne. Und dass es ausreichen würde, mit Frankreich und Schweden zu Separatfriedensverträgen zu gelangen59. Aus der Perspektive des monarchischen Reichsoberhauptes war die Abneigung, mit auswärtigen „Kronen“ und Reichsständen zugleich über einen Friedensvertrag zu verhandeln, in gewisser Weise verständlich: Betrachtete der Kaiser doch – reichsrechtlich durchaus zutreffend – die Reichsstände als seine Vasallen und Untertanen, mit denen Wien nicht so „auf Augenhöhe“ verhandeln könne und dürfe wie mit auswärtigen Monarchen. Freilich erwies sich der hinhaltende Widerstand des Kaisers gegen den von den „Kronen“ gewünschten Universalfriedenskongress als zunehmend problematischer für seine Sache. Da im Verlauf des fortgehenden Kriegs immer mehr Regionen Deutschlands furchtbar verwüstet wurden, wuchs der Missmut der Reichsstände über die hinhaltende Strategie des Kaiserhofs. In wachsendem Maße sah die Öffentlichkeit im kaiserlichen Vorgehen das eigentliche Hindernis für den Reichsfrieden. Dies wurde besonders manifest, als 1643 der von Frankreich gewünschte Universalfriedenskongress in Münster und Osnabrück zusammengetreten war. Zunächst waren dort neben Frankreich und Schweden vor allem die vom Kaiser geächteten Reichsstände vertreten gewesen, die nie in den Prager Frieden aufgenommen worden waren (wie die Kurpfalz und Hessen-Kassel). In der Folgezeit entschlossen sich jedoch immer mehr Reichsstände, auch ohne kaiserliche Erlaubnis, Friedensdelegationen zu diesem Kongress zu entsenden60. Erst das Jahr 1645 brachte dann auch am Kaiserhof die Strategiewende. Den Hintergrund bildeten weitere dramatische Niederlagen, die dem Kaiser nun endgültig die Ausweglosigkeit seiner Situation vor Augen führten. Im März 1645 hatte Schweden eine letzte, mit größter Anstrengung aufgestellte Feldarmee, die nominell vom Kaiser selbst kommandiert wurde, bei Jankau in Böhmen vernichtet. Während schwedische Truppen erstmals in dem Krieg 59   Zur bedrängten militärischen Lage des Kaisers, der sich gleichwohl hartnäckig allen Plänen eines Universalfriedenskongresses widersetzte, vgl. Kampmann (2013), 142–151. 60   Kampmann (2013) 150 f.

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in Niederösterreich einmarschierten (und damit der Residenz Wien gefährlich nah kamen), griff gleichzeitig Großfürst Georg I. von Siebenbürgen, ein Vasall des Osmanischen Sultans, von Südosten an. Hinzu kamen politische Rückschläge: Selbst bisher streng loyal gebliebene Reichsstände, allen voran Kursachsen, sagten sich vom Kaiser los. Damit ließ sich der endgültige Zusammenbruch des Prager Friedenssystems nicht mehr leugnen. Unter dem Eindruck drohenden militärischen Ruins und völliger politischer Isolation im Reich erklärte sich der Kaiser schließlich bereit, ernsthafte Verhandlungen beim Universalfriedenskongress in Münster und Osnabrück aufzunehmen und seinen bisherigen Widerstand aufzugeben61. Politisch sinnfällig machte Ferdinand III. dies, indem er seinen engsten Vertrauten und wichtigsten Berater, Graf Trauttmansdorff, als kaiserlichen Botschafter nach Münster entsandte62.

IX.  Kaiserliche Selbstbehauptung II: Der Kaiser und der Westfälische Frieden Bereits kurz nach seiner Ankunft in Münster stieg Graf Trauttmansdorff zur Schlüsselfigur des gesamten Friedenskongresses auf – ein beeindruckender Erfolg, wenn man vergegenwärtigt, wie sehr sich der Kaiser den Westfälischen Verhandlungen zunächst widersetzt hatte63. In Anbetracht der äußerst ungünstigen militärischen und politischen Situation, in der sich der Kaiser in den letzten Jahren des Krieges befand, war offenkundig, dass dem Kaiser weitreichende Zugeständnisse nicht erspart bleiben würden – sowohl Ferdinand III. als auch Trauttmansdorff waren sich dessen bewusst und dazu auch bereit. Ohne Einschränkung galt dies freilich nicht, im Gegenteil: Je nach der bereits skizzierten unterschiedlichen Rollenfunktion, die der Kaiser als monarchisches Reichsoberhaupt, als Territorialherr der Erblande und als Mitglied der universalen Casa de Austria einnahm, war die Kompromissbereitschaft höchst unterschiedlich ausgeprägt64. Als monarchisches Oberhaupt des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation verfolgten Ferdinand III. und Trauttmansdorff eine bemerkenswert nachgiebige Politik65. Ferdinand III. rückte vom Prager Frieden ab und gab   Zur entscheidenden Bedeutung der Schlacht von Jankau vgl. Croxton/Tischer (2002b) 144 f. 62   Kampmann (2013) 151. 63   Vgl. Westphal (2015) 46 f. 64  Vgl. Ruppert (1979). Die Edition der kaiserlichen Korrespondenz beim Friedenskongress ist im Rahmen des Gesamtunternehmens der Acta Pacis Westphalicae (APW) fast abgeschlossen. 65   Eine wertvolle Überblicksdarstellung der Bestimmungen des Westfälischen Friedenskongresses bei Repgen (2015b). 61

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auch wichtige kaiserliche Prärogativrechte auf. So erhielten die Reichsstände das Ius Foederis, also das Recht, untereinander und mit fremden Mächten Bündnisse zu schließen, solange diese sich nicht offen gegen Kaiser und Reich richteten – ein erstaunliches Zugeständnis an politischer Handlungsfreiheit für Vasallen und Untertanen. Überdies durfte das Reich nur noch als Gesamtcorpus Krieg erklären und Frieden schließen, also nur dann, wenn die Reichsstände den Beschlüssen zugestimmt hatten. Schmerzhafte Zugeständnisse musste der Kaiser auch in Hinblick auf die Regelung der Konfessionsfragen im Reich machen. Wieder zeigte der Kaiser ein erstaunliches Maß an politischer Flexibilität. Allen Ständen wurde Amnestie mit Wirkung von 1618 gewährt – grundsätzlich sollten alle politischen Verhältnisse auf den Zustand dieses Jahres zurückgeführt werden. Als „Normaljahr“, welches darüber entschied, wie die künftige Konfessionsverteilung aussehen sollte, wurde das Jahr 1624 bestimmt; dies begünstigte die Protestanten weit stärker als das Jahr 1627, das im Prager Frieden festgelegt worden war66. Schließlich wurde feierlich die politische wie rechtliche Gleichberechtigung der drei Konfessionen im Reich festgeschrieben, des Katholizismus, des Luthertums und der reformierten, calvinistischen Konfession (die im Augsburger Religionsfrieden noch ausgeschlossen gewesen war). All diese Regelungen sollten von nun an ohne jedwede zeitliche Beschränkung gültig bleiben67. Kompromissbereitschaft zeigte Ferdinand III. in seiner Eigenschaft als Reichsoberhaupt auch in Hinblick auf die territorialen Zugeständnisse des Reichs. Der traditionelle kaiserliche Ehrentitel semper Augustus, steter Mehrer des Reichs, verwies auf eine bindende politische Verpflichtung. Dessen ungeachtet willigte der Kaiser ein, dass zwei bedeutende Gemeinwesen, die Schweizerische Eidgenossenschaft und die Republik der Vereinigten Niederlande, sich vom Reich lossagten68. Zudem war er bereit, strategisch wichtige Gebiete im Elsass an Frankreich abzutreten, die vom Reich gelöst und unter die Suprema Potestas des französischen Königs gestellt wurden69. Die territorialen Zugeständnisse an Schweden (die Herzogtümer Bremen, Verden und Vorpommern) waren aus Reichsperspektive weit weniger problematisch, weil Königin Christina von Schweden, die Nachfolgerin Gustav Adolfs, sie als Reichslehen erhielt, sie also Teil des Reichs blieben70. Eine noch weitergehende, und durchaus im Bereich des Realen liegende, demütigende Demontage als Reichsoberhaupt blieb Ferdinand III. erspart. Zwar hatte es auf dem Friedenskongress radikale Vorschläge Schwedens und   Fuchs (2010) 159–225.   Zu den reichsreligionsrechtlichen Regelungen jetzt Westphal (2015) 77–82. 68   Bezeichnend war, dass die Lösung der Generalstaaten vom Reich nur implizit vorgesehen war und im Friedensvertrag ganz unerwähnt blieb, jene der Eidgenossenschaft über die Exemtion von der Reichsjustiz erfolgte; Westphal (2015) 105. 69   Zu den kaiserlich-französischen Friedensverhandlungen vgl. Tischer (1999) 239–293. 70   Kampmann (2013) 173; Westphal (2015) 102. 66 67

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einiger protestantischer Reichsstände gegeben, das Reich auf Kosten des Kaisers und der Kurfürsten radikal umzugestalten. Ihre Verwirklichung hätte die Umgestaltung des Reichs in eine Art deutscher Adelsrepublik bedeutet, in der dem Kaiser gleichsam nur die Position eines Ehrenvorsitzenden zugestanden worden wäre71. Doch diese Vorstöße setzten sich nicht durch, wohl auch deshalb, weil viele Reichsstände befürchteten, dass dies den Zusammenhalt des Reichs insgesamt schwächen würde. Stattdessen wurde die Entscheidung darüber auf den ersten regulären Reichstag nach dem Krieg verschoben – letztlich blieb die Diskussion über diese Reichsreformvorschläge zur Schwächung des Kaisers bis zum Ende des Alten Reichs 1806 unentschieden72. In Hinblick auf seine Position als Territorial- und Landesherr verfolgte der Kaiser dagegen eine weit härtere, kompromisslosere Linie als beim Reich – und hier war die kaiserliche Verhandlungsführung in Münster höchst erfolgreich. Der Westfälische Friedensvertrag erkannte die Umwandlung der habsburgischen Erblande, auch Böhmens, in zentralisierte, stark monarchisch ausgerichtete, ausschließlich römisch-katholische Fürstentümer an. In Böhmen, wo der Krieg ausgebrochen war, hatte der Kaiser gesiegt. Als Landesherr der Erblande war die Position des Kaisers bei Abschluss des Friedensvertrags 1648 gegenüber 1618 deutlich gestärkt73. Eine schwere politische Niederlage hatte der Kaiser hingegen in seiner Rolle als Mitglied der Casa de Austria, des dynastischen Gesamthauses, hinzunehmen. Das Elsass – eigentlich der spanischen Linie des habsburgischen Hauses versprochen – musste er an Frankreich abtreten. Überdies wurde dem Kaiser im Friedensvertrag ausdrücklich verboten, Spanien im fortgeführten spanisch-französischen Krieg beizustehen – ein erheblicher Schlag für die kaiserliche Reputation. Ferdinand III., der ausgeprägte politische Beziehungen zu Madrid unterhielt, versuchte alles, um dieses bittere Zugeständnis, wodurch dem Kaiser – und zwar im Gegensatz zu den Reichsständen! – das Ius Foederis verweigert wurde, zu verhindern – aber schließlich blieb ihm nichts weiter übrig, als auf Druck sämtlicher Gegner und Verbündeten, insbesondere des Drucks aus dem Reich, nachzugeben74. Insgesamt gesehen erwies sich die kaiserliche Verhandlungsstrategie auf dem Westfälischen Friedenskongress dennoch als recht erfolgreich. Einige   Ein vielbeachteter publizistischer Protagonist entsprechender radikaler Umbaupläne der Reichsverfassung war Bogislaw Philipp Chemnitz in seiner unter dem Pseudonym Hippolithus à Lapide erschienenen Dissertatio de ratione status in Imperio nostro 1640/47; vgl. dazu auch Croxton/Tischer (2002a) 55 f. 72   Vgl. Schindling (1991). 73   Kampmann (2013) 172. 74   Höbelt hat darauf hingewiesen, dass ausgerechnet Ferdinand III. – der zu den am stärksten ‚pro-spanisch‘ eingestellten habsburgischen Kaisern gehörte – diese Zugeständnisse machen musste. Vgl. Höbelt (2008) 410. 71

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der Zugeständnisse waren zweifellos schmerzhaft, aber auf lange Sicht konnten sie die kaiserliche Position als Reichsoberhaupt nicht wirklich erschüttern. In anderer Hinsicht schadete der Verlauf des Dreißigjährigen Kriegs dem Kaiser weit mehr. Die erhebliche Zurückhaltung und das lange Zögern, sich auf die Friedenslösung in Westfalen überhaupt einzulassen und mit den Reichsständen zu verhandeln, hatten im Reich das Misstrauen gegenüber dem Friedenswillen Wiens weiter befeuert. Viele Reichsstände, sowohl protestantische wie katholische, belasteten den Kaiser mit dem Verdacht, bei erster Gelegenheit die Ergebnisse des Westfälischen Friedens kassieren zu wollen. Ein klares Indiz dafür war, dass die Reichsstände bereit waren, Frankreich und Schweden als auswärtige Garanten des Friedensschlusses zu akzeptieren – de facto (auch wenn dies im Friedensvertrag nicht so formuliert wurde) als Garanten gegen alle mutmaßlichen Revisionsversuche von kaiserlicher Seite75. Es sollten zwei Jahrzehnte ins Land ziehen, bis der Kaiser den Argwohn der Reichsstände überwinden konnte. Und dass ihm dies gelang, lag nicht allein an der kaiserlichen Politik, sondern auch und vor allem an der aggressiven Politik Ludwigs XIV. gegenüber dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seit den 1660er Jahren. Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts gelang dann ein kaum für möglich gehaltener Wiederaufstieg des Kaisers im Reich – ein Wiederaufstieg, der durch die Regelungen des Westfälischen Friedens grundgelegt worden war76.

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Ein frühneuzeitliches Bsp. für die Folgen überzogener Friedensbedingungen

Ein frühneuzeitliches Beispiel für die Folgen überzogener Friedensbedingungen: die Verhandlungen der europäischen Koalition mit Frankreich in Den Haag (1709) und in Gertruidenberg (1710) gegen Ende des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1713/14) Klaus Malettke Für das im Endeffekt eingetretene Scheitern von Verhandlungen zur Bewältigung von Krisen, Beilegung von gravierenden Konflikten und zur Beendigung von Kriegen, weil ein mächtiger politischer Akteur oder die jeweils politisch, militärisch oder ökonomisch dominierenden Mächte der Gegenseite exzessive Forderungen unterbreiteten und sehr häufig auch durchsetzten, gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele. Es sei hier nur an entsprechende Vorgänge während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648), in den Kriegen der Ära Kaiser Napoleons I. (1804–1814) und an die jüngsten Auseinandersetzungen und Kontroversen im Zusammenhang mit den Bemühungen der Europäischen Union zur Bewältigung der griechischen Finanzkrise erinnert. Ein weniger bekanntes, aber doch sehr aussagekräftiges Beispiel stellen die hier zu erörternden Verhandlungen in Den Haag (1709) und in Gertruidenberg (1710) dar, die dort gegen Ende des Spanischen Erbfolgekrieges stattfanden. Sie verdienen insofern besondere Beachtung, weil sie symptomatisch sind für die negativen Folgen, wenn sich politische Akteure allzu sehr von tradierten Feindbildern oder von Befürchtungen leiten lassen, die jeweils andere Konfliktpartei meine es bei den Verhandlungen nicht ernst, lasse zu geringe Kompromißbereitschaft erkennen oder hege letztlich weiterhin Pläne zur Wiederherstellung einstweilen verlorener Macht bzw. zur Realisierung hegemonialer Ambitionen. Die folgenden Ausführungen sind in drei Teile gegliedert. Im ersten werden die Charakteristika des europäischen Staatensystems gegen Ende des 17. Jahrhunderts sowie die Ursachen für den Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges im Jahre 1701 skizziert. Der zweite Teil ist der Erörterung der Kernprobleme gewidmet, um die während der Verhandlungen in Den Haag und in Gertruidenberg gestritten wurde. Im dritten Teil werden die Folgen, die aus dem Festhalten der Gegner Frankreichs an ihren exzessiven Friedens-

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Klaus Malettke

bedingungen resultierten, sowie die Frage behandelt, welche Funktion der Begriff der Ehre, der Reputation, in den Entscheidungsprozessen des französischen Königs Ludwig XIV. (1643–1715) hatte.

1.  Das europäische Staatensystem gegen Ende des 17. Jahrhunderts und die Ursachen für den Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges Nach den Friedensschlüssen von Nijmegen von 1678/79, mit denen der durch den französischen Überfall auf die Republik der Vereinigten Niederlande ausgelöste Krieg sein Ende fand, ein Krieg, der bald nach seinem Ausbruch durch die Bildung einer großen antifranzösischen Allianz europäische Dimensionen erreichte, schien Ludwig XIV. der Realisierung der von ihm angestrebten Hegemonie Frankreichs im europäischen Staatensystem sehr nahezukommen. Unter dem immer stärker dominierenden Einfluß der damaligen französischen Außenpolitik schien sich in der Staatenwelt Europas ein Wandel zu vollziehen von der bis dahin zumindest noch im wesentlichen vorhandenen Pluralität gleichberechtigter Staaten, also von einem multipolaren Saatensystem, dessen Grundstruktur durch die Existenz einer variierenden Anzahl mehr oder minder gleichstarker und zumindest im Prinzip gleichberechtigter Mächte sowie von einer größeren Zahl mindermächtiger, kleinerer Staaten charakterisiert war, zu einem von Frankreich weitgehend dominierten und zunehmend monopolisierten Staatensystem, dessen Multipolarität mehr und mehr zugunsten einer kontinuierlichen Verstärkung und Ausweitung der Hegemonie Frankreichs reduziert zu werden drohte1. Dagegen manifestierte sich in wachsendem Maße sowohl bei der zunehmenden Zahl der Gegner Ludwigs XIV. als auch in der Publizistik Widerstand. Die seit Ende der 1660er-Jahre immer aggressiver agierende Außenpolitik Ludwigs XIV. wurde nicht nur von den davon direkt betroffenen Staaten und deren politischen Akteuren, sondern auch von den meisten übrigen europäischen Mächten mit wachsender Sorge, ja mit zunehmender Ablehnung verfolgt. Immer häufiger ließen deren führende Politiker verlauten, der französische Monarch strebe eine präponderierende Position, ja die Etablierung einer Universalmonarchie in Europa an. In jener Phase der Herrschaft Ludwigs XIV. besaß das von der Publizistik gezeichnete Bild von der Universalmonarchie ausschließlich negative Züge. Wie schon in früheren Epochen implizierte der frühneuzeitliche politische Leitbegriff der „monarchia universalis“ die Vorstellung „von einer die Einzelstaaten Europas übergreifenden Herr-

1   Malettke (1998) 10–14, 26–35, 38 f.; Malettke (1996); Malettke (2007) 45-49; Malettke (2012) 376 f. Dazu auch Malettke (2015) 17–33.

Ein frühneuzeitliches Bsp. für die Folgen überzogener Friedensbedingungen 187

schaftsform, von der bestimmender Einfluß auf die Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen in Europa ausgehe“2. Für die Gegner Ludwigs XIV. bot der Vorwurf, dieser habe die Absicht, eine Universalmonarchie in Europa zu errichten, einen doppelten Vorteil: er verschaffte ihnen einmal die Möglichkeit, seine Außenpolitik zu interpretieren und auf den Begriff zu bringen, und lieferte ihnen zum anderen das zentrale Argument, mit dem sie nicht nur das eigene Agieren, sondern auch den an die übrigen Staaten Europas gerichteten Appell begründen konnten, sie sollten gemeinsam gegen die von Frankreich ausgehende Bedrohung vorgehen. „Jeder der Kriege Ludwigs XIV. in Europa wurde von solchen publizistischen Angriffen seiner Gegner begleitet und erklärt, wobei der Kern der Argumentationsfunktion darin lag, den jeweiligen aktuellen Anlaß als Vorstufe für die universale Herrschaft zu interpretieren, von der in absehbarer Zukunft zunächst einzelne, dann zunehmend mehr und schließlich alle europäischen Staaten bedroht seien“3. Derartige Argumentationsmuster lassen sich nicht nur in zeitgenössischen Flugschriften, sondern in zunehmender Häufigkeit auch im internen politischen Sprachgebrauch der politischen Hauptakteure sowie in regierungsoffiziellen Manifesten der europäischen Gegner Ludwigs XIV. finden. Seit den 1670er-Jahren schwoll die Zahl der gegen die ausgreifende Politik des französischen Königs gerichteten Flugschriften stark an. In ihnen wurde immer vernehmlicher eine konzertierte Reaktion der europäischen Staaten auf die vom „Sonnenkönig“ ausgehende Bedrohung postuliert. Von den europäischen Mächten wurde gefordert, sich zu einer Abwehr-Allianz gegen Frankreich zusammenzuschließen. Ludwig XIV. lieferte dafür nicht nur mit seiner aggressiver werdenden Außenpolitik – die allerdings nicht nur in offiziellen französischen Verlautbarungen, sondern gelegentlich auch von modernen Historikern4 als defensive Maßnahmen dargestellt wurden und werden –, sondern auch mit dem von ihm selbst erhobenen Anspruch, ihm gebühre der erste Rang und die Position eines alleinigen Schiedsrichters (arbiter) in der Christenheit5, Argumente für derartige immer lauter erhobenen Forderungen. Es gibt deutliche Hinweise, daß des Königs Anspruch, ihm allein stehe der erste Rang und die Stellung des Schiedsrichters in der Christenheit zu, auch regierungsintern bei der Konzipierung der französischen Außenpolitik ein nicht zu unterschätzendes Gewicht besaß. Seit den frühen 1680er-Jahren manifestierten sich aber in zunehmendem Maße Indikatoren, die einen Wandel signalisierten, der sich nun zu Lasten der hegemonialen Stellung Frankreichs und Ludwigs XIV. vollzog. Die   Bosbach (1988) 121.   Bosbach (1988) 118. 4   Chaline (2005) 125. 5   Kampmann (2001) 152 f., 200 f.; Malettke (2015) 28 f. 2 3

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gegen Ende der 1680er- und in den 1690er-Jahren in Europa eintretenden politischen Ereignisse und Entwicklungen und deren Folgen lassen diesen Wandel in aller Deutlichkeit erkennen. Im Kontext der internationalen Politik erfolgte in den Jahren 1688/89 die Weichenstellung zugunsten eines Ordnungsprinzips, das fortan insbesondere von England nicht nur propagiert, sondern auch aktiv in die internationalen Beziehungen eingeführt wurde. Es war das Konzept der „balance of power“, das als Instrument zur Eindämmung von Hegemonialmächten auf dem europäischen Kontinent dienen sollte. Diesem Konzept lag die Vorstellung zugrunde, daß eine effektiv gegebene, eine vermutete oder drohende politisch-militärische Dominanz einer einzigen Macht in Europa oder in auch in Übersee nicht zu tolerieren sei und die übrigen Mächte sozusagen automatisch veranlassen müsse, einer solchen Gefahr nicht nur mit politischen, sondern erforderlichen Falls auch mit militärischen Mitteln entgegenzutreten. Vereinfacht formuliert, wurde der Begriff „balance“ im 17. Jahrhundert eher im Sinne eines mechanischen Austarierens der politisch-territorialen Gewichte unter den europäischen Leitmächten verstanden6. Zum bekanntesten Verfechter des Konzepts der „balance of power“ wurde Wilhelm III. von Oranien, Statthalter der Niederlande von 1672 bis 1702 und von 1689 bis 1702 König von England und Schottland. Konstitutiv für die Gestaltung des europäischen Staatensystems war für ihn die Durchsetzung des „Gleichgewichts der Mächte“, als dessen „spiritus rector“ er gelten kann. Die bereits in den 1670er-Jahren zunehmend in der europäischen Öffentlichkeit diskutierte und verbreitete Idee des „Gleichgewichts der Mächte“ wurde im Kontext des Friedens von Rijswijk (1697) von den politischen Akteuren mehr und mehr als politische Norm zur Gestaltung des europäischen Staatensystems akzeptiert. Generell hatte das Gleichgewichtsprinzip bereits in den 1680er-Jahren weitgehend Eingang in die europäische Politik gefunden7. Der Neunjährige Krieg von 1688 bis 1697 und der Friede von Rijswijk (1697) beendeten die „Phase der französischen Hegemonie in Europa“8, auch wenn das die damaligen politischen Hauptakteure so noch nicht erkannt haben mögen. Auch in diesem europäische Dimensionen annehmenden Krieg, der durch die Nachfolgeprobleme im Kurfürstentum der Pfalz und im Erzbistum Köln sowie durch die militärische Intervention Frankreichs in der Nacht vom 24. auf den 25. September 1688 im Reich ausgelöst worden war, kam es 1689/1690 zur Bildung einer europäischen antifranzösischen Koalition zwischen dem Kaiser Leopold I. (1658–1705), der Republik der Vereinigten Niederlande, Großbritannien, Spanien und dem Reich, so daß sich Ludwig XIV. schließlich isoliert sah und in den Friedensverträgen von   Malettke (2012) 27–30.   Zum Konzept des „Gleichgewichts der Kräfte“: Strohmeyer (1994). 8   Duchhardt (1990) 24. 6 7

Ein frühneuzeitliches Bsp. für die Folgen überzogener Friedensbedingungen 189

Rijswijk von 1697 seinen Gegnern erhebliche Konzessionen machen mußte. Aus der Rückschau betrachtet, markiert Rijswijk die Beendigung französischer Hegemonie in Europa und des Strebens des „Sonnenkönigs“ nach einer machtpolitischen Monopolstellung im europäischen Staatensystem9. Sensibilisiert durch die negativen Erfahrungen, die die übrigen europäischen Mächte in den vergangenen Jahrzehnten mit der aggressiv auftretenden Außenpolitik Frankreichs gemacht hatten, blieb – verständlicherweise – ihr Mißtrauen gegenüber den politischen Absichten Ludwigs XIV. jedoch auch in den Jahren nach 1697 sehr groß. Durch die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Spanischen Erbfolgkrieg sahen sie sich in ihrem Mißtrauen und in ihren Befürchtungen bestätigt. Das von den europäischen Regierungen und Dynastien lange erwartete und am 1. November 1700 schließlich eingetretene Ableben des spanischen Königs Karl II. (1665–1700), des spanischen Habsburgers, der keine legitimen männlichen Nachfolger hatte, ließ aus der jahrzehntelang latenten Thronfolgeproblematik, die die politischen Hauptakteure mit zunehmender Sorge über die daraus resultierenden Gefahren verfolgten, eine akute europäische Krise werden. Diese Krise mündete schließlich in den zweitlängsten Krieg im Europa des 18. Jahrhunderts10. Wegen des sehr früh angegriffenen Gesundheitszustandes und der zu erwartenden Kinderlosigkeit des Königs hatte die Sukzession auf dem Thron des damals noch riesigen spanischen Imperiums seit 1665, dem Jahr seiner Thronbesteigung, die Regierungen der europäischen Staaten beschäftigt. Vor allem trieb sie die Frage um, welcher der möglichen Prätendenten das immense spanische Erbe antreten werde, denn davon hingen die Zukunft des Staatensystems und die Mächtebeziehungen in Europa und in Übersee ganz wesentlich ab. Insbesondere waren die Seemächte, die Republik der Vereinigten Niederlande und Großbritannien, die sich in ihrer Außenpolitik mehr und mehr vom Prinzip der „balance of power“ leiten ließen, daran interessiert, zu verhindern, daß das spanische Erbe ungeteilt in die Hände der österreichischen Habsburger oder der französischen Bourbonen fiel. In beiden Fällen drohte nicht nur nach ihrer Ansicht die Gefahr, daß entweder die österreichischen Habsburger oder die Bourbonen eine hegemoniale Position in Europa erlangten. Sie befürchteten erneut die Entstehung einer Universalmonarchie. Den mit der Intervention französischer Truppen in Oberitalien im Februar 1701, wo die spanische Krone mit dem Herzogtum Mailand über eine in strategischer Hinsicht wichtige Machtbasis verfügte, begonnenen militärischen Aktionen, die schließlich mit den Kriegserklärungen Großbritanniens, der Republik der Vereinigten Niederlande und Kaiser Leopolds I. vom 15. Mai 1702 und des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vom 9 10

  Malettke (2012) 419–447.   Statt detaillierter Literaturbelege: Malettke (2012) 461–510; Malettke (2013).

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6. Oktober 1702 an Frankreich und Spanien in einen europäische Dimensionen annehmenden Krieg einmündeten, der aber auch in Übersee geführt wurde, lagen folgende Ursachen zugrunde: Die Hauptursache waren konkurrierende dynastische Ansprüche auf die Thronfolge in Spanien. Aus verschiedenen – hier nicht näher zu erörternden – Gründen konnten mehrere Häuser der europäischen „société des princes“11, die mit den spanischen Habsburgern verwandt waren, ernstzunehmende Argumente anführen, daß sie Ansprüche auf das spanische Erbe zu erheben berechtigt seien. In erster Linie waren das die österreichischen Habsburger und die französischen Bourbonen. Zwischen den österreichischen und dem spanischen Zweig der Habsburger existierten seit jeher sehr enge dynastische Verbindungen. Im Unterschied zu den spanischen Infantinnen, die französische Könige geheiratet hatten, waren die Erbansprüche jener Infantinnen, die Erzherzöge des österreichischen Zweiges der Habsburger geehelicht hatten, bei der Eheschließung vertraglich ausdrücklich gewahrt worden. Diese Infantinnen blieben infolgedessen erbberechtigt. Als aber die spanische Infantin Anna von Österreich im Jahre 1615 Ludwig XIII. (1610–1643) und im Jahre 1660 die Infantin Maria Theresia, die älteste Tochter des spanischen Königs Philipp IV. (1621–1665), Ludwig XIV. von Frankreich heirateten, hatten beide vertraglich auf ihre Erb- und Nachfolgeansprüche in Spanien vertraglich verzichten müssen. Die Gültigkeit ihrer Verzichtserklärungen wurde indessen später von französischen Kronjuristen und in der Publizistik mit Argumenten bestritten, die zwar nicht unbegründet, aber in rechtlicher Hinsicht strittig waren, worauf hier nicht einzugehen ist12. Daß auf Grund des seit längerem zu erwartenden Aussterbens des spanischen Zweiges des Hauses Habsburg und wegen mehrerer konkurrierender Prätendenten auf die Nachfolge in Spanien große Kriegsgefahr bestand, war den damaligen politischen Hauptakteuren sehr wohl bewußt. Deshalb wurden bereits seit Mitte der 1660er-Jahre Bemühungen unternommen, eine friedliche Lösung des Problems zu erreichen. Das Ergebnis derartiger Bemühungen, die hier nicht näher zu behandeln sind, waren Verträge, mit denen 1668, 1698 und 1700 jeweils Teilungen des spanischen Imperiums für den Fall des Todes Karls II. fixiert wurden13. Die beiden letzten Verträge wurden von Großbritannien, den Vereinigten Niederlanden und Frankreich ausgehandelt und abgeschlossen. Spanien, der Kaiser und das Reich waren daran aber nicht beteiligt. Es kann deshalb nicht überraschen, daß das von den vertragschließenden Parteien anvisierte Ziel, einen Erbfolgekrieg zu vermeiden, letztlich nicht erreicht wurde. Gleichwohl markieren diese Teilungsverträge einen wichtigen Punkt in der Geschichte der internationalen Beziehungen. Mit die  Dazu Bély (1999).   Malettke (2012) 288 f., 316 f., 328 ff., 462 f. 13   Zum Inhalt der Teilungsverträge: Malettke (2012) 333 f., 466–470. 11 12

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sen Verträgen wurde erstmals versucht, ein kompliziertes, vielschichtiges und den Frieden in Europa bedrohendes Problem auf dem Wege der Konsultation der Großmächte zu lösen14. Handlungsleitend waren insbesondere bei den englischen und niederländischen Akteuren neben dem Wunsch, einen Krieg zu vermeiden, auch der Gedanke, eine Lösung zustande zu bringen, mit der ein Gleichgewicht der Kräfte in Europa etabliert werden könne. Diesem letztlich gescheiterten Versuch haftete aber der Makel an, daß an den letzten beiden von Großbritannien, den Vereinigten Niederlanden und Frankreich geführten Verhandlungen Spanien, der Kaiser und das Reich, also drei von den Teilungsprojekten direkt betroffenen Mächte, nicht mitentscheidend beteiligt worden waren. Im Gefolge des sich im Verlauf des Jahres 1700 rapide verschlechternden Gesundheitszustandes des spanischen Königs Karl II. wuchs in Spanien die Zahl derjenigen politischen Akteure, die Kaiser Leopold I. nicht die Fähigkeit, aber auch nicht zutrauten, über die erforderlichen Mittel zu verfügen, den Zusammenhalt des spanischen Imperiums auf Dauer zu sichern, sollte nach dem Tod Karls II. ein österreichischer Habsburger die Thronfolge in den Ländern der spanischen Krone antreten. Schließlich gelang es den Wortführern der kastilisch-national orientierten „Partei“, Karl II. davon zu überzeugen, daß er im spanischen Interesse handle, wenn er in seiner letztwilligen Verfügung einen Enkel Ludwigs XIV., den Herzog Philipp von Anjou, zum Universalerben einsetze. Am 3. Oktober 1700 unterzeichnete der spanische König dann auch das dementsprechende Testament. Bei seiner Entscheidung siegten schließlich das „spanische Nationalgefühl“ und die spanische Staatsräson über das dynastische Prinzip, demgemäß seine Entscheidung zu Gunsten der österreichischen Habsburger hätte ausfallen sollen. Die in Madrid zu Gunsten eines Bourbonen getroffene Entscheidung versetzte Ludwig XIV. in eine schwierige Lage. Akzeptierte er nach dem Tod Karls II. dessen letztwillige Verfügung, handelte er im Interesse seiner Dynastie und Frankreichs. Zugleich brach er aber sein Wort, das er im dritten Teilungsvertrag den Seemächten gegeben hatte. Lehnte er die Annahme des Testaments Karls II. aber ab, dann kamen dem letzten Willen des Verstorbenen gemäß die österreichischen Habsburger bei der Thron- und Erbfolge in Spanien zum Zuge. Eine derartige Perspektive lag jedoch weder im Interesse des Hauses Bourbon noch entsprach es der Staatsräson Frankreichs. Hinzu kommt, daß Ludwig XIV. nicht zu Unrecht davon überzeugt war, daß er einen Krieg wohl auch dann nicht vermeiden könne, wenn er am letzten Teilungsvertrag von 1700 festhalte. Ihm war nämlich klar, daß die Realisierung der in diesem Vertrag vorgesehenen Teilung des spanischen Imperiums gegen den Widerstand Wiens durchgesetzt werden mußte. Aus französischer Sicht betrachtet, war es also nur konsequent, daß Ludwig XIV. nach intensiven 14

  Duchhardt (1997) 64.

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Beratungen im Staatsrat das Testament Karls II. annahm. Er hatte zudem auch die Hoffnung, daß seine Entscheidung in Europa weitgehend akzeptiert und daß der Kaiser – allein auf sich gestellt – wohl einen Krieg doch nicht riskieren werde. Am 16. November 1700 wurde dann Philipp von Anjou in der Großen Galerie des Versailler Schlosses dem spanischen Botschafter und dem dort versammelten französischen Hof als König Philipp V. von Spanien präsentiert. Ludwig XIV. war sich gleichwohl bewußt, daß er ein großes Risiko einging. Am 13. November hatte er nämlich laut dem Bericht eines gut informierten Höflings erklärt: „Ich bin sicher, daß mich – welche Entscheidung ich auch immer treffe – viele Leute verdammen werden“15. In Wien registrierten die politischen Hauptakteure die testamentarischen Verfügungen Karls II. zu Gunsten des Bourbonen Philipp von Anjou mit Entsetzen16. In der Sitzung der Geheimen Konferenz, dem wichtigsten politischen Beratungs- und Entscheidungsgremium des Kaisers, wurde erkennbar, daß Leopold I. weder die letztwilligen Verfügungen des verstorbenen spanischen Verwandten noch die Regelungen des dritten Teilungsvertrages anzuerkennen bereit war. Es wurde beschlossen, unverzüglich Vorbereitungen für die Aufstellung einer Italienarmee einzuleiten. Daraus ist gleichwohl nicht zu schließen, daß Leopold zielstrebig einen Krieg anvisiert habe. Man wollte in Wien einen Krieg mit Frankreich nicht provozieren. Die Geheime Konferenz „beschloß daher, Ludwig XIV. Verhandlungen über das spanische Erbe anzubieten“17. Man war aber entschlossen, das im spanischen Besitz befindliche Mailand und die von diesem Herzogtum abhängigen Lehen als erledigte Reichlehen einzuziehen. Wenn französische Truppen – so wurde argumentiert – nicht in Italien einmarschierten, werde man es ebenfalls nicht tun18. Als die Bemühungen Wiens gescheitert waren, ohne Kampf die Reichslehen einzuziehen, und nachdem französische Truppen im Februar 1701 in Italien einmarschiert waren, erhielt Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736) Order, mit seiner Armee nach Italien aufzubrechen. Der König von England und Schottland, Wilhelm III. von Oranien, sah sich wegen der in der englischen Öffentlichkeit verbreiteten Kompromißbereitschaft und wegen der Haltung des englischen Parlaments veranlaßt, im späteren Frühjahr 1701 Philipp V. als neuen spanischen König anzuerkennen. Mutatis mutandis gilt dies auch für die Republik der Vereinigten Niederlande. Schließlich hatten aber einige Aktionen Ludwigs XIV. zur Folge, daß es zu einem Umschwung in der Öffentlichkeit der Seemächte kam. In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1701 marschierten nämlich französische Truppen in die Barriereplätze ein, die gemäß den Regelungen des Friedens von Rijs  Französischer Originaltext bei Malettke (2001) 554.   Braubach (1963) 305. 17   Von Aretin (1997) 103. 18   Von Aretin (1997) 103f. 15 16

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wijk von 1697 zur Sicherung der Republik der Vereinigten Niederlande in den südlich von ihnen gelegenen Spanischen Niederlanden geschaffen worden waren. Als Ludwig XIV. dann auch noch damit begann, den Handel zwischen England und Frankreich empfindlich zu stören und französischen Kaufleuten zu Lasten der englischen Konkurrenten Vorteile im Handel mit den spanischen Kolonien zu gewähren, gelang es Wilhelm III., das englische Parlament für eine entschiedene antifranzösische Politik zu gewinnen. Wegen der hier nur skizzierten Vorgänge und Ereignisse wuchs bei den Seemächten im Juni/Juli 1701 das Interesse, in Verhandlungen mit Leopold I. einzutreten mit dem Ziel, die „Große Allianz“ von 1689 zu erneuern. Die Seemächte wollten verhindern, daß Ludwig XIV. wieder eine hegemoniale Position in Europa etabliere. Der – aus ihrer Sicht – erneut drohenden Gefahr der Errichtung einer Universalmonarchie setzten sie ihr Konzept eines multipolaren Gleichgewichts in Europa entgegen. Am 7. September 1701 endeten schließlich die Verhandlungen zwischen dem Kaiser und den Seemächten mit dem Abschluß der Haager Allianz, die allgemein als „Große Allianz“ oder „Große Koalition“ bezeichnet wird. Einige Tage später traf Ludwig XIV. eine Entscheidung, die insbesondere in London und bei Wilhelm III. von Oranien mit Empörung zur Kenntnis genommen wurde. Als am 16. September 1701 Jakob II. (1685–1689), der 1688 im Zusammenhang mit den Ereignissen der „Glorious Revolution“ nach Frankreich geflohene englische König starb, erkannte der französische König nämlich dessen katholischen Sohn Jakob Eduard als König Jakob III. von England an. Auf der britischen Insel betrachtete man diesen Akt als einen klaren Bruch entsprechender Regelungen des Vertrages von Rijswijk, mit denen Ludwig XIV. Wilhelm III. als rechtmäßigen König von Großbritannien anerkannt hatte19. Berücksichtigt man dieses Faktum, dann läßt sich konstatieren, daß Großbritannien im Spanischen Erbfolgekrieg auch für die Durchsetzung der protestantischen Thronfolge auf der britischen Insel und für die Bewahrung der Errungenschaften der „Glorious Revolution“ kämpfte. Im Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges manifestierte sich einmal mehr ein strukturelles Defizit des frühmodernen Fürstenstaates. Die immer wieder eintretenden dynastischen Krisen waren ein Strukturmerkmal der Monarchien des Ancien Régime. Sie waren Ursachen für Erbfolgekriege und hatten stets gravierende Folgen für die internationalen Beziehungen sowie für das Mächtesystem. Der „Pfälzische Erbfolgekrieg“ (1688–1697) und der „Österreichische Erbfolgkrieg“ (1740–1742, 1744–1745) sind weitere Beispiele dafür20.

19 20

  Malettke (2012) 442.   Dazu Kunisch (1979); Kunisch/Neuhaus (1982).

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2.  Große Koalition versus Frankreich in Den Haag (1709) und in Gertruidenberg (1710) Je länger der Krieg zwischen der Großen Koalition und Frankreich dauerte, desto mehr geriet die französische Monarchie wegen wachsender innerer Probleme und zunehmender Rückschläge auf den Schlachtfeldern in eine krisenhafte Lage. Um Pfingsten 1709 rettete nur die Ankunft einer mit 90 Millionen Piastern beladenen Flotte aus den spanischen Überseebesitzungen Frankreich vor dem Staatsbankrott. Wegen der äußerst zugespitzten inneren Lage und der auswärtigen Mißerfolge sahen sich Ludwig XIV. und seine wichtigsten Berater schon 1706 gezwungen, den Feinden ernsthaftes Interesse an einer kurzfristigen Beendigung des Krieges und an einem schnellen Friedensschluß zu signalisieren. Bei den über verschiedene Kanäle laufenden Sondierungen in Den Haag ließ die französische Regierung den Gegnern weitgehende Konzessionen anbieten. Diese offiziösen Gespräche scheiterten aber wegen unüberbrückbarer Differenzen. Der Niederländer Anton Heinsius (1614–1720), ein ehemaliger enger Vertrauter Wilhelms III. von Oranien, bestand auf der Forderung, Philipp V. müsse auf den spanischen Thron verzichten. Generell herrschte bei den Alliierten großes Mißtrauen gegenüber dem ernsthaften Friedenswillen Ludwigs XIV. Als sich aber die militärische Situation und die inneren Probleme Frankreichs weiter zuspitzten, ließ der französische Minister und Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten Jean-Baptiste Colbert, marquis de Torcy (1665–1746), verlauten, daß Frankreich nicht mehr auf „der Verlängerung eines Krieges beharren könne, dessen Lasten die Untertanen in Unruhe versetzten […] Allgemein sei man der Meinung, daß der einzige Weg, zu einem Frieden zu gelangen, darin bestehe, daß man sich an Holland wende“21. Im Frühjahr 1709 erteilte Ludwig XIV. schließlich einem namhaften französischen Bevollmächtigten den Auftrag, in die Republik der Vereinigten Niederlande zu reisen und die dortigen Ansprechpartner sogleich darüber in Kenntnis zu setzen, daß er auf der Grundlage der Abtretung Spaniens, beider Indien, des Herzogtums Mailand und der Spanischen Niederlande durch Philipp V. zur alsbaldigen Aufnahme von Friedensverhandlungen bereit sei. Außerdem sollten den Holländern günstige Handelsbedingungen gewährt werden. Philipp V. sollten nur noch die Königreiche Sizilien und Neapel und – wenn möglich – Sardinien sowie einige Plätze an der toskanischen Küste erhalten bleiben. Des Weiteren wurden Konzessionen gegenüber dem Reich signalisiert. Generell sollte der französische Bevollmächtigte die Kompromißbereitschaft Ludwigs XIV. unterstreichen. Am 28. April 1709 erörterte schließlich der Staatsrat Ludwigs XIV., der „Conseil d’En haut“, die vom Bevollmächtigten übermittelten, sehr harten Friedensbedingungen, die ihm   Französischer Originaltext in André (1950) 327; vgl. auch Malettke (2012) 492.

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seine Gesprächspartner unterbreitet hatten. Aber in Kenntnis der verzweifelten Lage, in der sich Frankreich damals befand, beschlossen die Teilnehmer an den Beratungen, den Frieden um jeden Preis zu suchen und Torcy, der mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet wurde, nach Den Haag zur Aufnahme von Verhandlungen zu entsenden22. Einzelheiten des Verlaufs der Verhandlungen sollen hier nicht dargelegt werden. Besonders hervorzuheben ist aber, daß die von den beteiligten politischen Akteuren der „Großen Koalition“ Torcy gestellten Bedingungen über die von diesem unterbreiteten Konzessionsangebote weit hinausgingen. In Versailles wollte man aber wegen der generellen Notlage, mit der sich Frankreich konfrontiert sah, die Verhandlungen nicht scheitern lassen. Deshalb erhielt Torcy in einer vom 14. Mai 1709 datierten Depesche die Vollmacht, im äußersten Fall für Philipp V. auf jegliche territoriale Entschädigung für dessen Aufgabe des spanischen Thrones zu verzichten. Die entsprechende Passage dieser Depesche lautet: „Ich [Ludwig XIV.] will im Extremfall zustimmen, daß dem König, meinem Enkel, kein Staat reserviert wird, und ich will auch versprechen, ihm keine Assistenz zu seiner Verteidigung zu gewähren. Allerdings werde ich mich […] weder verpflichten, gegen ihn mit meinen militärischen Kräften vorzugehen, noch den Truppen der Alliierten Durchzug durch meine Lande gestatten […]“23. Am 24. Mai 1709 wurden Torcy die von Heinsius redigierten Friedenspräliminarien überreicht, die 40 Artikel umfaßten. Diese sind hier im Einzelnen nicht zu erörtern. In unserem Zusammenhang verdient jedoch der Artikel 4 ganz besondere Beachtung. In diesem wurde von Ludwig XIV. verlangt, er müsse sich mit eigenen Truppen am Krieg, den die Alliierten gegen Philipp V. von Spanien führten, beteiligen, um seinen Enkel zur Annahme der am 28. Mai von den Verbündeten unterzeichneten Präliminarien zu zwingen. Das lief de facto auf eine Absetzung Philipps V. hinaus, ohne daß dieser in irgendeiner Weise entschädigt werden sollte. Nachdem Torcy den Inhalt der Präliminarien kurz zur Kenntnis genommen hatte, war ihm sofort klar, daß er sie nicht annehmen konnte, insbesondere nicht die Bedingung, daß Ludwig XIV. in enger militärischer Kooperation mit den Mächten der „Großen Koalition“ gegen seinen Enkel vorgehen solle, falls dieser sich weigere, die ihn betreffenden Bestimmungen der Friedenspräliminarien zu akzeptieren. Torcy verließ Den Haag und kehrte am 1. Juni nach Versailles zurück, wo er Ludwig XIV. über seine Verhandlungen im Detail informierte24. In Reaktion auf die ihm von den Mächten der „Großen Koalition“ in den Friedenspräliminarien unterbreiteten Friedensbedingungen – insbesondere auch auf den Inhalt des Artikels 4 – entschied sich Ludwig XIV. zu einem für   Malettke (2012) 494 ff.   Französischer Originaltext in Legrelle (1892) 493; vgl. auch Malettke (2012) 496. 24   Malettke (2012) 496 f. 22 23

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seinen üblichen Regierungsstil sehr ungewöhnlichen Schritt. In einem offenen Brief vom 12. Juni 1709 ließ er seine Untertanen über die aus seiner Sicht unerträglichen Forderungen der Feinde Frankreichs und über die Gründe seiner Ablehnung in Kenntnis setzen. Dieser Brief war an die Gouverneure und Bischöfe in den französischen Provinzen adressiert. Letztere waren angewiesen, das Schreiben des Königs in allen Pfarrgemeinden von den Kanzeln der dortigen Kirchen verlesen zu lassen. Ludwig XIV. ließ in diesem Schreiben folgendes ausführen: „In meinem Königreich war die Hoffnung auf einen [baldigen] Frieden so weit verbreitet, daß ich es für meine Pflicht gegenüber der Treue erachte, die alle meine Völker mir während meiner Herrschaft erwiesen haben, sie über die Gründe zu informieren, die es verhindern, daß sie in den Genuß der Ruhe gelangen, die ihnen zu verschaffen ich die Absicht gehabt habe. Um den Frieden wieder zu erreichen, hatte ich Bedingungen akzeptiert, die in hohem Maße der Sicherheit meiner Grenzprovinzen widersprachen. Aber je mehr Beweise ich für meine Entschlossenheit lieferte, das bei meinen Feinden vorhandene Mißtrauen gegenüber meiner Macht und meinen Absichten zu widerlegen, desto größer wurden ihre Forderungen […]“. „Ich übergehe mit Stillschweigen ihre mir unterbreiteten Insinuationen, daß ich meine Truppen mit jenen der Koalition [Liga] vereinigen und gemeinsam mit ihnen den [spanischen] König, meinen Enkel, zwingen solle, seinen Thron aufzugeben, für den Fall, daß er nicht freiwillig akzeptiere, zukünftig ohne Herrschaften [Etats] wie ein Privatmann [particulier] zu leben. Schon allein die Tatsache, daß sie auch nur das Ansinnen an mich richteten, mich zu verpflichten, mit ihnen eine derartige Allianz zu schließen, stellt einen Akt der Unmenschlichkeit dar [il est contre l’humanité]. Aber obwohl meine Zärtlichkeit [tendresse] für mein Volk nicht geringer ist als für meine eigenen Kinder […] und obwohl ich ganz Europa gegenüber bekundet habe, daß ich aufrichtig wünsche, meine Untertanen wieder in Frieden leben zu sehen, bin ich überzeugt, daß diese selbst den Frieden nicht unter Bedingungen erlangen wollen, die weder mit dem Recht noch mit der Ehre Frankreichs zu vereinbaren sind“.25 Der offene Brief endete mit einem Appell des Königs an seine Untertanen, weitere Lasten und Entbehrungen auf sich zu nehmen, um bei den Alliierten einen für Frankreich akzeptablen Frieden durchsetzen zu können. Die Ablehnung der Annahme der Friedenspräliminarien durch Torcy und dessen Abreise aus Den Haag bedeuteten aber nicht, daß damit die Verhandlungen endgültig abgebrochen waren. In Versailles reagierte man positiv auf Signale, die im Sommer von Den Haag an die französische Seite gesendet wurden. Am 29. Januar 1710 wurde schließlich in einer Sitzung des „Conseil d’En haut“ entschieden, mit der Republik der Vereinigten Niederlanden über   Französischer Originaltext in Cornette (1997) 504 f.; vgl. auch Malettke (2013) 33 f.

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die im Juni 1709 von Torcy noch abgelehnten Friedenspräliminarien in Verhandlungen einzutreten. Der bis dahin nicht als Diplomat hervorgetretene Marschall d’Huxelles (1652–1730) und der in diplomatischen Angelegenheiten durchaus bewanderte Abbé de Polignac (1661–1714) wurden von Ludwig XIV. mit der Verhandlungsführung betraut. Die schließlich sehr kontrovers verlaufenden Verhandlungen fanden in dem kleinen holländischen, an der Maas gelegenen Städtchen Gertruidenberg statt. Sie begannen am 10. März. In der den französischen Bevollmächtigten erteilten Instruktion vom 4. März heißt es, daß der französische König sich wegen der Notlage, in der sich Frankreich befinde, gezwungen sehe, die Verhandlungen mit seinen Gegnern wieder aufzunehmen. Er erachte „dieselben Bedingungen, die zu gewähren er zuvor weit entfernt gewesen sei, nun nicht mehr als unüberwindbar, um zu einem Frieden zu gelangen“26. Am 23. Juni 1710 ließ Ludwig XIV. schließlich signalisieren, daß er sogar zur Abtretung des Elsasses bereit sei, „um meinem Volk Ruhe zu verschaffen“27. Der französische König ließ den Alliierten sogar anbieten, sie mit Subsidienzahlungen bei ihrem Kampf gegen Philipp V. zu unterstützen, um diesen aus Spanien zu vertreiben. Heinsius ließ jedoch mit einem Memorandum das Subsidienangebot ablehnen und Ludwig XIV. auffordern, sich dahingehend verbindlich zu erklären, daß er willens sei, „gegen den spanischen König Krieg zu führen“ sowie den „Herren der Republik der Vereinigten Provinzen Spanien und beide Indien auszuliefern, ohne daß diese sich an deren Eroberung beteiligten“28. Damit war klar, daß die Koalition nach wie vor darauf bestand, daß Ludwig XIV. sie auch militärisch dabei unterstützen müsse, Philipp V. zum Verlassen Spaniens und damit zum Thronverzicht zu zwingen. Die Alliierten forderten den französischen König am 13. Juli 1710 ultimativ auf, innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen die ihm unterbreiteten Friedenspräliminarien zu akzeptieren. Ludwig XIV. lehnte dies jedoch ab und befahl am 20. Juli seinen Bevollmächtigten, nach Frankreich zurückzukehren. Damit scheiterten auch die in Gertruidenberg geführten Verhandlungen an den exzessiven Bedingungen der Alliierten, die in Überschätzung ihrer militärisch günstigen Situation und der Notlage Frankreichs die Chance verspielten, einen für sie sehr vorteilhaften Frieden zu erreichen. Die Hauptverantwortung dafür war den politischen Akteuren in London anzulasten. Sie hatten am unnachgiebigsten auf der Forderung beharrt, Frankreich müsse sich auch mit eigenen Truppen an der Vertreibung Philipps V. aus Spanien beteiligen. Sie wurden in ihrer Unnachgiebigkeit tatkräftig von Heinsius unterstützt. Dieser befürchtete nämlich, Ludwig XIV. „werde, wenn die Alliierten [ohne aktive militärische Beteiligung Frankreichs] Philipp V. aus   Französischer Originaltext in Recueil (1923) 232; vgl. auch Malettke (2012) 497.   Französischer Originaltext in: Malettke (2012) 497. 28   Französischer Originaltext in: André (1950) 331. 26 27

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Spanien vertrieben, die Gelegenheit dazu nutzen, um durch ein Vorgehen gegen die Niederlande im letzten Augenblick einen besseren Frieden zu erzwingen“29. Indessen waren aber auch Kaiser Joseph I. (1705–1711) und das Reich nicht bereit, von ihren überzogenen Forderungen Abstriche zu machen. Bald nach dem Scheitern der Verhandlungen in Gertruidenberg traten in der internationalen Lage folgenreiche Veränderungen ein, wovon die französische Diplomatie profitierte. Es kam in London zu einem Revirement in der amtierenden Regierung und zur Auflösung des Parlaments. Bei den deshalb erforderlich gewordenen Neuwahlen im Oktober 1710 erhielten die Tories eine Mehrheit, die einen möglichst baldigen Friedensschluß anstrebte. Das zweite Ereignis, das die internationale Lage zu Gunsten der Bourbonen veränderte, war das plötzliche Ableben Kaiser Josephs I. am 17. April 1711, des Nachfolgers des am 5. Mai 1705 verstorbenen Kaisers Leopold I. Mit der Wahl des Erzherzogs Karl (Karl III. von Spanien), des einzigen noch lebenden Habsburgers in direkter Linie, zum Kaiser (Karl VI., 1711–1740) am 12. Oktober 1711 ergab sich aber aus der Sicht der Seemächte eine gefährliche Bedrohung des Gleichgewichts der Mächte, weil de facto eine Vereinigung Österreichs mit Spanien in Personalunion eintreten würde, wenn Karl (III.) als König von Spanien anerkannt würde. Verglichen mit dieser Möglichkeit erschien Großbritannien und der Republik der Vereinigten Niederlande die Akzeptanz einer bourbonischen Sekundogenitur in Spanien als das geringere Übel30. Diese hier nur knapp angesprochenen Ereignisse trugen ganz wesentlich dazu bei, daß Ludwig XIV. in den Friedensschlüssen von Utrecht 1713, Rastatt und Baden – in der Schweiz – 1714 ganz erheblich günstigere Friedensbedingungen durchzusetzen in der Lage war. Sein Enkel Philipp blieb König in Spanien und Herr über die spanischen Überseebesitzungen.

3.  Zu den Folgen des Agierens der Großen Koalition in Den Haag und in Gertruidenberg sowie zur Funktion der Begriffe Ehre und Reputation in den Entscheidungsprozessen Ludwigs XIV. Betrachtet man rückblickend noch einmal genauer den Verlauf der Verhandlungen und insbesondere das durchaus konzessionsbereite Auftreten der französischen Bevollmächtigten in Den Haag und in Gertruidenberg gegenüber den exzessiven Forderungen der Repräsentanten der „Großen Koalition“, ist zu konstatieren, daß es in erster Linie nicht die seitens der Alliierten formulierten territorialen Forderungen waren, die das Scheitern dieser Verhandlungen verursachten, sondern die Ludwig XIV. sogar ultimativ gestellte 29 30

  Von Aretin (1997) 230.   Malettke (2012) 498 f.

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Bedingung, sich mit eigenen Truppen am Kampf der Alliierten gegen seinen Enkel Philipp V. zu beteiligen, um diesen aus Spanien zu vertreiben und zu einem definitiven Thronverzicht zu zwingen. Dies war für Ludwig XIV. eine völlig inakzeptable Forderung, die wie – es in seinem zitierten offenen Brief an die französischen Gouverneure und Bischöfe hieß – mit der „Ehre des französischen Namens“ (l’honneur du nom français) unvereinbar sei. Diese Bezugnahme auf die Ehre Frankreichs war für den König keineswegs eine bedeutungslose Floskel. Nein, die Verwendung des Begriffes „l’honneur du nom français“ läßt wie der häufige Rekurs auf ähnliche oder analoge Termini in anderen Dokumenten, die dem engeren Umfeld des Königs zuzuordnen sind, Rückschlüsse auf Grundüberzeugungen zu, die bei allen Entscheidungen Ludwigs XIV. eine zentrale Rolle spielten. In der einschlägigen Forschung ist unstrittig, daß sich der König bei seinem Handeln von einem bei ihm sehr stark ausgeprägten Streben nach Ruhm, Reputation und Ehre leiten ließ. Wie ein Leitmotiv ziehen sich die Begriffe „ma dignité“, „ma gloire“, „ma grandeur“, „ma réputation“, „mon honneur“ durch seine sog. Memoiren und zahlreiche andere Dokumente aus seinem näheren Umfeld31. Persönlicher Ruhm, persönliches Ansehen, persönliche Ehre waren für den „Sonnenkönig“ – und nicht nur für ihn – mit der Macht und dem Wohl des Staates auf das engste verknüpft32. Trotz der bei ihm nicht zu leugnenden Tendenz, seine Reputation, seine Ehre, seine Interessen und diejenigen seiner Dynastie mit jenen des Staates gleichzusetzen, war aber Ludwig XIV. durchaus fähig, zwischen seiner Person und dem Staat zu differenzieren. Daß dieser Unterschied existierte, betonte er zuletzt 1715, als er auf dem Sterbebett konstatierte: „Je m’en vais, mais l’Etat demeurera toujours“33. Wie bereits betont, waren die von den politischen Akteuren Ludwig XIV. in Gertruidenberg gestellten exzessiven Friedensbedingungen der Hauptgrund für das Scheitern der Verhandlungen. Die „Große Koalition“ hat damals eine realistische Chance, einen für sie sehr vorteilhaften Friedensschluß zu erreichen, verspielt, eine Chance, die sich ihr – mit derartig weitreichenden französischen Konzessionen – wenige Jahre später bei den Verhandlungen in Utrecht nicht mehr bieten sollte. Welche Hauptgründe waren aber 1710 bei den Entscheidungen der Alliierten handlungsleitend, Frankreich derart überzogene Friedensbedingungen zu unterbreiten? Wie bereits dargelegt, verhielten sich die damaligen politischen Hauptakteure in London, aber auch der Niederländer Heinsius, besonders in der zentralen Forderung kompromißlos, Ludwig XIV. müsse mit eigenen Truppen und gemeinsam mit der 31   Vgl. André (1950) XVI f.; Goubert (1986) 370; Goubert (1992) 31–39; Chaline (2005) 226-230; Malettke (2008) 201. 32   „L’intérêt de l’Etat doit marcher le premier. Quand on a l’Etat en vue, on travaille pour soi. Le bien de l’un fait la gloire de l’autre.“ Zitiert nach André (1950) XII. 33   Zitiert nach Bluche (1986) 900; vgl. auch Malettke (2013) 36.

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„Großen Koalition“ gegen seinen Enkel, Philipp V. von Spanien, kämpfen, um diesen zum Verzicht auf den spanischen Thron und zur Annahme der Friedenspräliminarien zu zwingen. Für den Fall, daß es zu einer Einstellung des Kampfes mit Frankreich kommen sollte und die Alliierten allein und ohne militärische Einbindung Frankreichs ihren weiterhin zu führenden Krieg gegen Philipp V. fortsetzen müßten, befürchtete der Niederländer Heinsius, daß Ludwig XIV. diese Gelegenheit nutzen könne, um gegen die Republik der Vereinigten Niederlande militärisch vorzugehen und für Frankreich letztlich doch noch günstigere Friedensbedingungen durchzusetzen. In dieser Befürchtung manifestierte sich das große Mißtrauen, das nicht nur bei Heinsius, sondern bei den Alliierten generell gegenüber dem französischen König vorherrschte. Dieses Mißtrauen resultierte aus den negativen Erfahrungen, die die europäischen Mächte seit den 1660er-Jahren mit der zunehmend aggressiver auftretenden französischen Außenpolitik und mit den – aus ihrer Sicht häufig begangenen – Wortbrüchen des „Sonnenkönigs“ gemacht hatten. Insbesondere die Seemächte sahen darin eine Bestätigung ihrer Befürchtung, Ludwig XIV. werde – sofern man ihm die Möglichkeit dazu lasse – weiterhin die Absicht verfolgen, seine Hegemonie in Europa zu erreichen, also eine französische Universalmonarchie zu etablieren. Um einer derartigen Gefahr erfolgreich entgegenzutreten, setzten sie auf das Konzept der „balance of power“. Damit sollte ein multipolares Gleichgewicht in Europa erreicht und auf Dauer etabliert werden. Deshalb wollten sie sicherstellen, daß das riesige spanische Imperium ungeteilt weder in die Hände der Bourbonen noch der österreichischen Habsburger geriet34. Geschichte wiederholt sich nicht, zumindest nicht exakt so, wie sie einmal abgelaufen ist. Die Rahmenbedingungen, Gegebenheiten und Konstellationen, unter denen sich das jeweilige Geschehen in der Vergangenheit vollzogen hat und in der Gegenwart vollzieht, unterlagen und unterliegen ständigen Veränderungen und Entwicklungen. Die Rahmenbedingungen, Gegebenheiten und Konstellationen sind nie identisch. Diese Feststellung gilt für die Geschichte generell und natürlich auch für die globalisierte Gegenwart. Insofern sind Versuche zum Scheitern verurteilt, aus der Analyse von Ereignissen und Vorgängen in der Vergangenheit, in der Geschichte, ganz konkrete Handlungsanweisungen für die Gegenwart abzuleiten. Aber völlig zu Recht hat der bekannte französische Historiker Marc Bloch, der als Angehöriger der französischen Résistance während der deutschen Besatzung Frankreichs im März 1944 in Lyon von der Gestapo verhaftet und am 16. Juni 1944 erschossen worden ist, in seiner hinterlassenen Schrift „Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers“ im dortigen Kapitel VI – „Die Gegenwart durch die Vergangenheit verstehen“ – geschrieben: „[…] der Mangel an historischen Wissen gereicht nicht nur dem Verständnis der Gegenwart   Malettke (2013) 36.

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zum Nachteil, er bringt auch das gegenwärtige Tun in Mißkredit“35. Und im Kapitel VI „die Vergangenheit durch die Gegenwart verstehen“ konstatiert er: „Das Unverständnis der Gegenwart gegenüber entsteht zwangsläufig aus der Unkenntnis der Vergangenheit. Doch bemüht man sich vielleicht nicht minder vergeblich um das Verständnis der Vergangenheit, wenn man von der Gegenwart nichts weiß“36. Auf Grund dieses Sachverhalts ist es nachvollziehbar, daß der Historiker bei manchen Entscheidungen und Verhaltensweisen politischer Akteure der Gegenwart gewisse Analogien zu Verhaltensweisen von politischen Entscheidungsträgern der Vergangenheit, auch in der Frühen Neuzeit, zu erkennen vermag. Wir sollten uns aber über das Verhalten, das die politischen Akteure der Alliierten 1709 und 1710 gegenüber Ludwig XIV. praktiziert haben, nicht in überheblicher und besserwisserischer Attitude mokieren, denn es gab nicht nur in der Folgezeit zahlreiche weitere Beispiele dafür, daß man seinem jeweiligen Gegenüber exzessive, ja unannehmbare Forderungen präsentierte. Derartige Beispiele begegnen dem aufmerksamen Beobachter auch in der Gegenwart.

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Sprachen

Woher kommen die lateinischen Wörter?

Woher kommen die lateinischen Wörter? Ein Großwörterbuch bezieht Stellung Bernhard Forssman Von der Herkunft lateinischer Wörter soll hier gesprochen werden, also von ihrem Zustandekommen, ihrer Vorgeschichte. Nähern wir uns diesem Gegenstand vom Deutschen aus, fragen wir also zunächst: Woher kommen die deutschen Wörter1? Unter den deutschen Wörtern lassen sich einige Hauptgruppen ausmachen. Erstens die „Elementarwörter“. So nennt man oft diejenigen Wörter, auf deren Klang die Wortbedeutung entscheidend eingewirkt hat: Kuckuck, plumpsen, wimmeln. – Zweitens die sehr viel zahlreicheren „Weiterbildungen“. Das sind deutsche Wörter, die im Deutschen mit Hilfe bestimmter sprachlicher Mittel aus bereits vorhandenen „Grundwörtern“ hergestellt, also „weitergebildet“ sind. Viele Weiterbildungen lassen die Grundwörter und die sprachlichen Mittel leicht erkennen: Apfel-baum, un-schön, herumstehen, Schön-heit, wind-ig. Diese Wörter wirken „durchsichtig“. Gleichen oder ähnlichen Aussehens, aber weniger durchsichtig sind Wörter wie hässlich, Ungeziefer, befehlen, verstehen, Bräutigam sowie auch Armbrust. häss-lich ist aus dem Grundwort Hass weitergebildet, war also einmal gleichfalls durchsichtig und wurde dann „verdunkelt“; ähnlich die übrigen bis auf Armbrust, das anders liegt2. – Dann gibt es drittens die große Gruppe der „Lehnwörter“, die aus einer anderen Sprache ins Deutsche gekommen sind: pikant wurde aus dem Französischen „entlehnt“, Sopran aus dem Italienischen, Cocktail aus dem Englischen; schon weit früher Mauer aus dem Lateinischen (mu¯rus). Es verbleibt dann noch als Viertes ein großer Restbestand aus Wörtern, die sich nicht von vornherein in ähnlicher Weise eingruppieren lassen3. Über viele von ihnen kann jedoch die Historisch-vergleichende Sprachwissen1   An den meisten Stellen sollte hier nicht von „Wörtern“, sondern von „Vokabeln“ oder „lexikalischen Einheiten“ die Rede sein. Noch einige weitere Vereinfachungen schienen angezeigt. – Als „Wort“-Beispiele werden hier nur Substantive, Adjektive, Zahlwörter und Verben herangezogen; die übrigen Wortarten werden also vernachlässigt. 2   Eine sogenannte „Volksetymologie“: In das mittellateinische Wort arcuballista wurden die deutschen Wörter Arm und Brust hineingedeutet. 3   Die Grenzen zwischen allen diesen Gruppen sind selbstverständlich nicht ganz scharf zu ziehen.

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schaft etwas aussagen, und zwar über die „Erbwörter“ aus der Vorgeschichte des Deutschen, das zu den indogermanischen Sprachen gehört. Die deutschen Wörter stehen oder Wind, die offensichtlich zu keiner der obigen drei Gruppen gehören, haben in den verwandten Sprachen Latein und Sanskrit Spiegelbilder bzw. „Entsprechungen“: lateinisch sta¯re, ventus; Sanskrit stha¯, va´¯ta-. Deutsch stehen und Wind sind also Erbwörter aus der diesen Sprachen gemeinsamen „ur-indogermanischen“ Vergangenheit; dasselbe gilt für viele weitere deutsche Wörter, z.B. flechten, Fuß, Vater. Darüber Näheres später im Zusammenhang mit dem Latein! – Gerade über solche Erbwörter im Deutschen geben die „etymologischen“ Wörterbücher Auskunft, außerdem vor allem auch über Lehnwörter und über allerlei undurchsichtiges Wortgut; ein häufig aufgelegtes Werk ist Kluge / Seebold (2012)4. „Etymologie“ ist der Name des Teilgebiets der Sprachwissenschaft, das sich mit der Herkunft und der Vorgeschichte von Wörtern befasst; etymologische Wörterbücher sind also Herkunftswörterbücher. Im lateinischen Wortschatz5 kann man die genannten Gruppen gleichfalls ausmachen. Erstens die Elementarwörter, eine besondere Rolle spielen sie nicht: murmura¯re ‚murren‘, pı¯ pa¯re ‚piepen‘. – Umso wichtiger sind zweitens wieder die Weiterbildungen. „Komponiert“ (zusammengesetzt) sind etwa ple¯ni-lu¯nium ‚Voll-mond‘, praeter-ı¯ re ‚vorbei-gehen‘. „Suffigiert“ (am Wortende erweitert) sind ara¯-trum ‚Pflug‘, eigentlich ‚Mittel zum Pflügen‘ (ara¯re), pisc-ı¯ na ‚Fischteich‘ (aus piscis ‚Fisch‘). Die genannten Weiterbildungen sind durchsichtig wie deutsch Apfel-baum, wind-ig. Wie hässlich, verstehen im Deutschen erschließen sich andere, ähnlich aussehende Wörter im Lateinischen nicht so leicht: perconta¯rı¯ ‚erkunden‘, perfidus ‚treulos‘, perpetuus ‚beständig‘, plaustrum ‚Lastwagen‘, profecto¯ ‚tatsächlich‘, pro¯mulga¯re ‚bekanntmachen‘, pro¯vincia ‚Provinz‘. Die Lehnwörter als dritte Hauptgruppe sind auch im lateinischen Wortschatz stark vertreten. Die weitaus meisten stammen aus dem Griechischen, dieser bedeutenden Kultursprache der Antike. Viele davon verraten sich durch ihr besonderes Schriftbild: pharetra ‚Köcher‘ (häufig), pseudothyrum ‚Hintertür‘ (selten), thea¯trum ‚Theater‘ (häufig). In nichtentlehnten lateinischen Wörtern ist ein ph, th oder y, wie es in diesen Lehnwörtern erscheint, unüblich. Die griechischen Vorbilder lauten φαρέτρα (pharétra), ψευδόθυρον (pseudóthyron), θέατρον (théatron). Nicht alle Lehnwörter lassen sich so leicht erkennen, z.B. pı¯ ra¯ta ‚Seeräuber‘, entlehnt aus griechisch πειρατής (peirate¯´s). Als Viertes verbleibt auch im lateinischen Wortschatz, nach vorläufiger Aussonderung der genannten drei Hauptgruppen, ein großer Rest. Und   Ein weiteres Werk dieser Art aus neuerer Zeit ist Pfeifer (2000).   Hier ist ausschließlich vom antiken Latein die Rede, nicht vom mittelalterlichen oder neuzeitlichen. 4 5

Woher kommen die lateinischen Wörter?

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ganz ähnlich wie beim Deutschen ist die Sprachwissenschaft in der Lage, viele Wörter dieser Restgruppe den Vorstufen der lateinischen Sprache zuzuweisen und als Erbwörter zu bestimmen. Wie schon erwähnt, gehört das Lateinische (zusammen mit seinen italischen Nachbarsprachen) ebenso wie das Deutsche (samt den übrigen germanischen Sprachen) zur Familie der „indogermanischen“ Sprachen. Zu dieser gehören noch weitere Sprachen oder Sprachzweige. Einige sind nach Asien gelangt: Indisch mit Sanskrit als ältester Ausprägung, Iranisch, Tocharisch, Armenisch, Hethitisch. Nach Europa gehören, außer Latein (bzw. Italisch) und Deutsch (bzw. Germanisch), noch Griechisch, Albanisch, Slavisch, Baltisch, Keltisch. Sie alle haben eine gemeinsame Vorstufe, das verlorene, aber weitgehend erschließbare Ur-Indogermanische. Auf dieses gehen viele lateinische Erbwörter zurück. Schon erwähnt wurden sta¯re ‚stehen‘ und ventus ‚Wind‘. Ein weiteres lateinisches Erbwort ist pe¯s pedis, es hat unter anderem folgende Entsprechungen (Spiegelbilder): deutsch Fuß, Sanskrit pa´¯d-, griechisch πούς ποδός (poús podós). Alle diese Entsprechungen bedeuten ‚Fuß‘, und alle sind Maskulina, wie man etwa an lateinisch pe¯s dexter ‚der rechte Fuß‘ sehen kann, auch das gehört also zum ur-indogermanischen Erbe. Weitere lateinische Erbwörter mit einigen ihrer Entsprechungen in den verwandten Sprachen: pater mit deutsch Vater, Sanskrit pitár-, griechisch πατήρ (pate¯´r); plectere mit deutsch flechten; septem mit deutsch sieben, Sanskrit saptá, griechisch ἑπτά (heptá), litauisch (baltisch) septynì, irisch (keltisch) secht. Ein etwas abweichender Fall ist lateinisch pretium ‚Wert‘; es ist eine alte Weiterbildung aus einem urindogermanischen Grundwort, das im Latein nicht mehr erhalten ist, aber im Sanskrit noch widergespiegelt wird: práti ‚gegen, entgegen‘. pretium war eigentlich das ‚Gegen-Stück‘, der ‚Gegen-Wert‘6. Wie der deutsche Wortschatz, so ist auch der lateinische mehrmals in etymologischen Wörterbüchern (Herkunftswörterbüchern) behandelt worden. Im Umlauf sind derzeit hauptsächlich drei: Walde / Hofmann (1938–1956), Ernout / Meillet (1959), de Vaan (2008). Vor de Vaan beherrschten die beiden älteren Werke lange Zeit gemeinsam das Feld. Deren Ausrichtung ist unterschiedlich. Das deutschsprachige Werk beeindruckt durch die Fülle, ja Überfülle des Materials aus dem Latein und aus anderen Sprachen, dazu auch durch den Reichtum an Literaturangaben. Am französischen schätzt man die Übersichtlichkeit, die Lesbarkeit und die vielen geistreichen Beobachtungen. Der Ernout / Meillet hat den Untertitel „Histoire des mots“, Geschichte der Wörter: Die Verfasser begleiten das Leben lateinischer Wörter durch die Antike und sogar noch ihr Weiterleben in den romanischen Nachfolgesprachen; diese Betrachtungsweise kommt den heutigen Romanen, zu denen ja auch die Franzosen gehören, besonders entgegen. Der Walde / Hofmann sucht dagegen vor allem in die dunkle Vorgeschichte lateinischer Wörter  Auf pretium geht letzten Endes deutsch Preis zurück.

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hineinzuleuchten, also Erbwörter nachzuweisen. Deren Zahl ist bei Walde / Hofmann deutlich höher als in dem vorsichtigeren französischen Werk. Die Etymologie ist ja wohlgemerkt eine Wissenschaft, die ohne Hypothesen nicht auskommt und in der es folglich voneinander abweichende Meinungen gibt und weiterhin geben wird. Gerade aus diesem Grund war das Erscheinen eines weiteren etymologischen Wörterbuches zum Latein durchaus zu begrüßen. De Vaan (2008) verzeichnet denn auch Erkenntnisse und Ansichten, die in den beiden etwas älteren, aber schätzbaren Wörterbüchern nicht zu finden sind. Auffällig ist der wesentlich geringere Umfang des neuen Buches. De Vaan hat nicht zuletzt im lateinischen Wortmaterial Platz gespart. Gemäß eigener Aussage7 zielt de Vaan in erster Linie auf die im Latein – sowie im übrigen Italischen – bewahrten Erbwörter wie die erwähnten pater, pe¯s, sta¯re, ventus usw.; in zweiter Linie auf Wörter einstweilen dunkler, vielleicht teilweise mediterraner Herkunft wie cicur ‚zahm‘, scru¯pus ‚spitzer Stein‘8. Alle Lehnwörter aus bekannten Sprachen im Latein sind dagegen beiseitegelassen, mit Ausnahme derjenigen aus den italischen Nachbarsprachen. Das Gerüst des Buches bilden die etwa 1850 Stichwörter9; es sind lateinische Grundwörter wie die erwähnten pater ‚Vater‘, pe¯s ‚Fuß‘, sta¯re ‚stehen‘. Unter jedem solchen Stich- und Grundwort sind einschlägige Weiterbildungen aufgezählt, in der Regel aber nur diejenigen, die schon im älteren Latein vorkommen10. Unter pater stehen 17 Weiterbildungen (z.B. impetra¯re ‚durchsetzen‘, patro¯nus ‚Schutzherr‘), unter pe¯s deren 33 (z.B. quadrupeda¯ns ‚vierfüßig‘, tripudium ‚Waffentanz‘), unter sta¯re 55 (z.B. pro¯stituere ‚preisgeben‘, statio ‚Posten‘, superstitio¯sus ‚abergläubisch‘). Es folgen die Entsprechungen in den anderen indogermanischen Sprachen, z.B. griechisch πατήρ (pate¯´r) unter pater, griechisch πούς (pou´s) unter pe¯s. Ganz kurze Erläuterungen schließen sich an; pater, pe¯s und sta¯re werden samt ihren Weiterbildungen in je knapp 10 Zeilen etymologisch besprochen11. De Vaans Arbeitsplan hat dazu geführt, dass in seinem Wörterbuch viele wichtige lateinische Wörter ganz übergangen sind und dass vielen etymologischen Sonderfällen und Problemwörtern keine ausreichende Erörterung zuteil geworden ist. Nicht aufgenommen sind z.B.: perso¯na ‚Maske, Rolle, Person‘ (samt Weiterbildungen), das erkennbar bis in unsere Gegenwart fortwirkt; poena ‚Strafe‘ (samt Weiterbildungen wie pu¯nı¯ re ‚bestrafen‘), zentraler Bestandteil der Sprache des römischen Rechts (und in deutsch Pein fortwir-

  de Vaan (2008) 1.   Aus der Verkleinerungsform scru¯pulus ‚spitzes Steinchen‘, dann auch ‚Besorgnis‘, ist deutsch Skrupel entlehnt. 9   Nach der Angabe von de Vaan (2008) 11. 10   de Vaan (2008) 11. 11   Den Beschluss bilden jeweils einige Literaturangaben. 7

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kend); pessulus ‚Riegel‘; perconta¯rı¯ ‚erkunden‘. Die ersten drei sind sicherlich gemäß de Vaans Programm als Lehnwörter ausgeklammert, und als Lehnwort betrachtet er offensichtlich auch das Grundwort des vierten, contus ‚Stange, Ruderstange‘. Warum hingegen plaustrum ‚Lastwagen‘ und perfidus ‚treulos‘ fehlen, ist nicht ersichtlich; perfidus erwartet man unter de Vaans Stichwort fı¯ dere ‚vertrauen‘12, und auf plaustrum hätte er vielleicht unter seinem Stichwort plaudere ‚klatschen‘ hinweisen können. – Ohne weitere Erörterung geblieben ist z.B. perpetuus ‚beständig‘; man erfährt nur, dass es irgendwie zu dem Stich- und Grundwort petere ‚streben‘ gehören soll. plica¯re ‚falten‘ steht ohne nähere Begründung unter plectere ‚flechten‘, profecto¯ ‚tatsächlich‘ unter facere ‚machen‘, profundus ‚tief‘ unter fundus ‚Boden‘. Ganz gelegentlich einmal wird eine auffallende Zuordnung zu einem Grundwort auch begründet, z.B. ganz kurz bei pro¯mulga¯re ‚(ein Gesetz vorläufig) bekanntgeben‘, das unter mulge¯re ‚melken‘ steht, und bei pro¯vincia ‚Amtsbereich (eines Beamten), Provinz‘ unter vincı¯ re ‚fesseln, binden‘: pro¯mulga¯re sei eigentlich ‚to milk forth‘ (also ‚hervormelken‘), und eine pro¯vincia sei als ‚load, burden, charge‘ (und dann schließlich als ‚task‘) gedacht gewesen, also wohl als ‚aufgebundene‘ Last. Hier ist also manches beiseite geblieben, was man in einem Herkunftswörterbuch doch wohl erwarten könnte. Demgegenüber sei behauptet: Jedes lateinische Wort13 hat in der lateinischen Sprache einen eigenen – oft sicher nur kleinen – Verwendungsbereich, eine eigene – oft sicher nur kurze – Geschichte und jedenfalls seine eigene Herkunft. Folglich hat eigentlich auch jedes Anspruch auf eine eigene etymologische Betrachtung, und das gilt auch für ein Lehnwort wie thea¯trum ‚Theater‘ und für eine Weiterbildung wie profecto¯ ‚tatsächlich‘. Dieser Anforderung sucht ein lateinisches Wörterbuch auf seine Weise auch nachzukommen, der noch unvollendete „Thesaurus linguae Latinae“, die ‚Schatzkammer der lateinischen Sprache‘, im Folgenden kurz „Thesaurus“ genannt. Dieses größte Wörterbuch der lateinischen Sprache wurde 1893 von den damaligen 5 deutschsprachigen wissenschaftlichen Akademien ins Leben gerufen14. Im Jahre 1900 begann der erste Band zu erscheinen, 1905 war er fertig. Heute (im Jahre 2016) liegen 15 Bände abgeschlossen vor, dazu einige Zusatzteile und Einzelhefte, insgesamt über 14.000 Druckseiten in großem Format; der Druckspiegel einer doppelspaltigen, klein und eng bedruckten Seite misst etwa 26 mal 19 Zentimeter. Die lateinischen Stichwörter sind wie üblich alphabetisch angeordnet. Im Jahre 1981 waren die Anfangsbuch12   Gebucht sind jedoch perfidia ‚Treulosigkeit‘, perfidio¯sus ‚treulos‘, beide anscheinend Weiterbildungen aus dem fehlenden perfidus: de Vaan (2008) 218. 13   Richtiger: „Vokabel“ oder „lexikalische Einheit“, s. Anmerkung 1. 14  Über Geschichte, Trägerschaft, Arbeit und Leistung des Thesaurus unterrichten Krömer (1995) und Krömer / Flieger (1996).

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staben von A bis M fertig, danach kamen bis zum Jahre 2010 zunächst O und P hinzu. Der Bearbeitung des restlichen Wortschatz-Drittels – N und Q-Z – widmet sich die wie eh und je in München angesiedelte Arbeitsgruppe des Thesaurus, sie wird von etwa 30 Akademien und anderen wissenschaftlichen Gesellschaften aus vielen Ländern getragen. Die Mitarbeiter müssen gute Lateiner sein, denn der Thesaurus ist ein einsprachiges Wörterbuch, er ist auf lateinisch abgefasst: Bei seiner Gründung war das beinahe selbstverständlich, heute ist es wiederum beinahe eine Herausforderung. Das Ziel des Thesaurus ist die genaue Beschreibung aller Wörter des antiken Lateins. Insbesondere sollen alle Gebrauchsweisen eines lateinischen Wortes genau erfasst und durch reichliche Zitate aus den Quellen-Texten belegt werden. Kommt ein Wort in den antiken Texten häufig vor, so lassen sich gewöhnlich viele verschiedene Gebrauchsweisen erkennen. Ein häufig vorkommendes Wort ist z.B. pe¯s ‚Fuß‘, es hat demzufolge einen Artikel von 11 großen Druckseiten erhalten. Manche Wörter beanspruchen noch mehr Raum. Dafür sind viele andere nur selten oder sogar nur ein einziges Mal überliefert. Solche Wortartikel fallen dann gewöhnlich kurz aus; allerdings kann gerade auch ein seltenes Wort besondere Probleme mit sich bringen, und der Thesaurus umgeht sie nicht. Der Thesaurus ist also in erster Linie ein beschreibendes, kein etymologisches Wörterbuch. Aber er steht der Etymologie nicht fern. Von Anfang an bestand vielmehr der Vorsatz, in jedem Wortartikel des Thesaurus auch die Herkunft des betreffenden Wortes kurz zu besprechen oder wenigstens anzudeuten15. Gewiss wurde der Vorsatz im Lauf der Zeit – der Thesaurus erscheint jetzt (2016) seit 116 Jahren – verschieden verwirklicht und nicht immer eingehalten. Aber es wurde jedenfalls keine Gruppe des Wortschatzes davon ausgeschlossen, auch die Lehnwörter nicht. Die meist sehr knappen etymologischen Bemerkungen werden zum Teil von Münchener ThesaurusMitarbeitern abgefasst, zum Teil auch von auswärtigen Sprachwissenschaftlern; diesen obliegen z.B. die Erbwörter wie pe¯s ‚Fuß‘ und andere besondere Wörter16. Alle vorhin erwähnten Wörter wie perso¯na, die de Vaan (2008) übergangen hat, sind im Thesaurus-Band P17 unter eigenen Stichwörtern etymologisch kurz besprochen. perso¯na ‚Maske‘ (usw.) könnte irgendwie durch Entlehnung aus dem Etruskischen ins Latein gelangt sein, aber wichtige Einzel  Über die Etymologie im Thesaurus berichtet Forssman (2002).  Von 1990 bis 2010 hat der Verfasser dieses Beitrags den Thesaurus sprachwissenschaftlich begleitet. Damals war man gerade bei der Bearbeitung des Buchstabens P. Im vorliegenden Beitrag werden folglich als lateinische Beispiele überwiegend Wörter mit dem Anfangsbuchstaben P verwendet. 17  Thesaurus Band X 1 P-Porro (1982–2010), Thesaurus Band X 2 Porta-Pyxodes (1980–2009), jeweils unter den Stichwörtern; diese stehen in üblicher alphabetischer Anordnung, Seitenzahlen erübrigen sich daher. 15 16

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heiten bleiben einstweilen ungeklärt, zumal weil über das Etruskische nicht genug bekannt ist. – poena ‚Strafe‘, das in den ältesten erhaltenen lateinischen Texten vorkommt, ist in der Tat nach verbreiteter Ansicht aus griechisch ποινή (poine¯´) entlehnt18. Auffällig und der Erörterung wert ist immerhin der frühe Zeitpunkt der Entlehnung eines so zentralen Rechts-Terminus, auffällig auch die Weiterbildung pu¯nı¯ re ‚bestrafen‘, man erwartet eher ein Verbum auf -a¯re. – pessulus ‚Riegel‘ ist in Form und Bedeutung so verschieden von griechisch πάσσαλος (pássalos) ‚Pflock‘, aus dem es entlehnt sein soll, dass man auch andere Möglichkeiten der Herkunft zumindest erwägen muss. – contus ‚Stange, Ruderstange‘ im Verbum per-cont-a¯rı¯ ‚erkunden‘ – mit der merkwürdigen Nebenform per-cu¯nct-a¯rı¯ – braucht gleichfalls kein Lehnwort zu sein, auch ein Erbwort kommt in Frage19. Das interessante und anschauliche Verbum lässt wohl an einen Schiffer denken, der mit seiner Stange die Fahrrinne ‚erkundet‘. – plaustrum ‚Lastwagen‘ kann durch anderswo nachweisbare, also berechenbare Lautveränderungen aus einem *pro-ve(k)strom20 ‚Transport-Mittel‘ entstanden und aus pro-vehere ‚vorwärts transportieren‘ weitergebildet sein21. – perfidus ‚treulos‘ ist wahrscheinlich aus der Redewendung per fidem ‚meiner Treu!‘ erwachsen, indem diese vom Hörer als erheuchelt erkannt werden konnte22. Zur Herkunft der bei de Vaan, wie vorhin gesagt, nur aufgezählten oder nur ganz knapp erläuterten Weiterbildungen wie perpetuus ‚beständig‘ äußert sich der Thesaurus im Band P ebenfalls: perpetuus ist eher aus dem Verbum per-pet-ı¯ ‚durchstehen‘ – und damit letzten Endes aus dessen Grundverbum patı¯ ‚leiden‘ – weitergebildet als aus petere ‚streben‘. – plica¯re ‚falten‘ unterscheidet sich zumal in der Bedeutung merklich von plectere ‚flechten‘; die beiden Verben sind etymologisch zu trennen; die formale Ähnlichkeit dürfte allerdings zu einer gewissen Vermischung geführt haben23. – profecto¯ ‚tatsächlich‘ ist entgegen dem ersten Eindruck nicht aus einem Verbum – formal in Frage kämen pro¯ficere ‚Fortschritte machen‘ und proficiscı¯ ‚aufbrechen‘ – weitergebildet, sondern aus der Wortgruppe pro facto¯ ‚für eine Tatsache‘ –

18   Auch Entlehnung von poena aus einer anderen italischen Sprache ins Latein ist mitunter erwogen worden; sollte das zutreffen, so käme das Wort für de Vaan in eine andere Kategorie und würde für sein Anliegen wesentlich. 19   Als Erbwort wäre contus sogar für de Vaans Hauptanliegen einschlägig; vgl. Anm. 18. 20   Der Stern vor dem Wort kennzeichnet eine ältere, erschlossene Form, die so nicht überliefert ist. 21   Es gab – zuweilen erheiternde – Versuche, plaustrum ‚Lastwagen‘ als Weiterbildung mit dem Verbum plaudere ‚klatschen‘ zu verbinden. 22   Diese ungewöhnliche Art der Wortbildung nennt man „de-lokutiv“; perfidus ist aus einem Ausspruch – lateinisch locu¯tio – gebildet. Ein deutsches Beispiel ähnlicher Art ist Gottseibeiuns ‚Teufel‘. 23   Es spielt noch ein dritter lateinischer Stamm mit herein, plac- ‚Fläche, Schicht‘; vgl. de Vaan (2008) 472.

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darin das Substantiv factum ‚Tatsache, Faktum‘ – zusammengewachsen24. – pro-fundus ‚tief‘ ist ein altertümliches Kompositum (Zusammensetzung); beispielsweise ist mare profundum eine ‚Meeresfläche, deren Boden (fundus) fern ist (pro-)‘; möglicherweise ist profundus sogar ein Erbwort, da das verwandte Iranische ein frühes Wort frabuna- aufweist, das vielleicht eine genaue Entsprechung – ein Spiegelbild – von profundus ist25. Dass der staatsrechtliche Ausdruck pro¯mulga¯re ‚(ein Gesetz vorläufig) bekanntgeben‘ mit der Hilfe des Verbums mulge¯re ‚melken‘ zustande gekommen ist (so de Vaan), darf bezweifelt werden; es dürfte eher eine zufällige äußere Ähnlichkeit vorliegen. Da bei der Bekanntgabe von Gesetzen eine mehrwöchige Verzögerung vorgeschrieben war, mag man vermuten, dass dieser Umstand in dem Verbum ursprünglich zum Ausdruck gebracht werden sollte. Somit könnte es durch eine Weiterbildung aus mora ‚Aufschub, Rast‘ entstanden sein; ein Ansatz *pro-mor-(i)ga¯re ‚hinaus-zögern‘ würde dem Rechnung tragen. – Auch de Vaans Deutung von pro¯vincia ‚Amtsbereich, Provinz‘ dürfte nicht die einzig mögliche sein; es lag kaum nahe, ein Staatsamt als ‚aufgebundene‘ Bürde zu bezeichnen. Also ist vielleicht der Anklang an vincı¯ re ‚binden, fesseln‘ wiederum nur zufällig. Demgegenüber darf erwogen werden, ob im Wort pro¯vincia nicht der Umstand zu finden ist, dass den römischen Kollegiatsbeamten ihr Bereich durch das Los zufiel. Für diesen Vorgang des Zufallens durch das Los wurde das Verbum venı¯ re ‚kommen‘ samt seinen Zusammensetzungen verwendet. Beim Losen sollte das betreffende Amt für den künftigen Amtsinhaber ‚heraus-‘ oder ‚hervorkommen‘ (e¯-venı¯ re, pro¯-venı¯ re); die pro¯-vincia könnte somit zunächst eine *pro¯-ven-(i)cia, eine ‚(durchs Los) hervorkommende‘ gewesen sein. Schluss: Den Gegenstand der Etymologie bilden die Wörter einer Sprache. Wörter kommen und vergehen; Wörter können auf reguläre – systembedingte – Weise gebildet werden oder auf ungewöhnlichem Wege zustande kommen; sie können sich äußerlich auf reguläre – „lautgesetzliche“ – Weise verändern oder unter besonderen Einflüssen umgestaltet werden, sogar spielerisch; sie können ihre Bedeutungen lange Zeit festhalten oder rasch und bis zur Unkenntlichkeit verändern; Veraltetes kann neu belebt werden; Wörter können über eine oder mehrere Sprach- und Dialektgrenzen wandern – und so weiter. Die Vielfalt der Möglichkeiten rät zur Vorsicht in der Etymolo-

24   Dieser Vorgang wird „Zusammenrückung“ genannt; sie ist von der „Zusammensetzung“ verschieden, wie sie etwa in lateinisch pro-fundus, deutsch Voll-mond zu beobachten ist. – Die im Text erwähnte, sicher zutreffende Auffassung über profecto¯ ist jetzt die allgemein übliche. Sie wird offensichtlich auch von de Vaan geteilt, denn er setzt profecto¯ (bei ihm steht „pro¯fecto¯“) innerhalb der Weiterbildungen von facere ‚machen‘ neben das Substantiv factum: de Vaan (2008) 198 Zeile 8. 25  Sollte profundus tatsächlich ein Erbwort sein, so würde es bei de Vaan eine besondere Stellung bekommen; vgl. Anm. 19.

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gie; sie macht andrerseits auch ein gewisses Ausmaß an Subjektivität in der Etymologie unvermeidlich. Es sollte darum verschiedene etymologische Nachschlagewerke über eine bestimmte Sprache geben, so auch über das Latein. Wenn ein derartiges Werk im Wesentlichen auf die Erbwörter im Latein ausgerichtet ist wie dasjenige von de Vaan, so bleiben manche berechtigten Wünsche der Benutzer unerfüllt: De Vaan hat den Stoff stark beschränkt, und die Diskussion der etymologischen Probleme kommt bei ihm offensichtlich zu kurz weg. Andere Werke können aber zur Ergänzung herangezogen werden, sowohl die älteren etymologischen Wörterbücher als auch der Thesaurus. Gegen Versäumnisse, Irrtümer und Fehlurteile ist dessen etymologischer Teil aber ganz gewiss auch nicht gefeit26.

Literaturverzeichnis Ernout / Meillet (1959): A. Ernout – A. Meillet, Dictionnaire étymologique de la langue latine. Histoire des mots (4. Aufl. Paris 1959; 1. Aufl. 1932) Forssman (2002): B. Forssman, Etymologie im Thesaurus linguae Latinae, Museum Helveticum 59, 2002, 172–187 Kluge / Seebold (2012): Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von E. Seebold (25. Aufl. Berlin / New York 2012) Krömer (1995): D. Krömer (Hrsg.), Wie die Blätter am Baum, so wechseln die Wörter (Stuttgart / Leipzig 1995) Krömer / Flieger (1996): D. Krömer – M. Flieger (Hrsg.), Thesaurus-Geschichten (Stuttgart / Leipzig 1996) Pfeifer (2000): W. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (5. Aufl. Berlin 2000) Thesaurus: Thesaurus linguae Latinae (Leipzig 1900 ff., jetzt Berlin / Boston; im Erscheinen) de Vaan (2008): M. de Vaan, Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages (Leiden / Boston 2008) Walde / Hofmann (1938–1956): A. Walde – J. B. Hofmann, Lateinisches etymologisches Wörterbuch (3. Aufl. Heidelberg 1938–1956; 1. Aufl. von Walde 1906)

26   Was im Thesaurus über die Herkunft des merkwürdigen Wortes pro¯le¯ta¯rius ‚niederklassig‘ gesagt ist, kann allenfalls als Notbehelf angesehen werden. Nicht zuletzt über dieses Wort, das im 19. Jahrhundert einen Sturm hat entfachen helfen, sollte weiter nachgedacht werden; de Vaan (2008) 426 versucht keine Erklärung. Vielleicht ist die gelegentlich vorgeschlagene, inhaltlich passende Herleitung aus einem *pro¯te¯l-a¯rius ‚der zum Zugseil (pro¯te¯lum) Gehörende‘, also ‚der gezwungenermaßen am Zugseil Arbeitende‘, trotz der sprachlichen Schwierigkeiten doch überlegenswert.

Die Afrikanisierung hamitosemitischer Sprachen im Zentralsudan Herrmann Jungraithmayr Johannes Lukas und Otto Rössler in Dankbarkeit gewidmet

Vorbemerkung Die folgenden Ausführungen sind eine Quintessenz aus den Erkenntnissen, die der Verfasser in sechzig Jahren Befassung mit zahlreichen Sprachen der so genannten tschadischen Sprachfamilie gewonnen hat. Die Erkenntnisse verdankt er zahllosen afrikanischen Gewährsleuten („Informanten“), den Sprechern der Sprachen, die sie ermöglicht haben. Die Feldaufenthalte in Nigeria und der Republik Tschad zwischen 1958 und 2005, die heute wegen des Terrors von Boko Haram nicht mehr möglich wären, hat dankenswerter Weise die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt. Den ersten Anstoß zur Befassung mit diesem südwestlichsten Zweig des hamitosemitischen Sprachstamms verdankt der Verfasser seinem Lehrer Johannes Lukas. Ihm und Otto Rössler, auf dessen systematische Interpretation die hier vorgetragenen Gedanken fußen, sei dieser Essay gewidmet.

Fakten und Thesen Faktum 1: Bis zum 4. Jt. war Nordafrika noch weitgehend grün. Das bezeugen die Felsbilder (mit Elefanten!) und das Tschadmeer mit Seetierund Großfischknochenfunden im heutigen Sandboden der Sahara-Wüste. Gute Lebensbedingungen also für Mensch und Tier. Faktum 2: Ab dem 4./3. Jt. allmählich einsetzende Desertifikation. Die Sahara heute ca. 8 Mill. km2, etwa ¼ des gesamten Kontinents.

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These 1: Ethnisch-linguistisch waren die Bewohner Nordafrikas Hamitosemiten, d.h. hamitosemitische/„afroasiatische“ Sprachen sprechende Afrikaner1. Mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen setzte peu à peu ein Exodus in Richtung Wasserquellen ein: a)  Einerseits nach dem Osten an den Nil – und möglicherweise an Euphrat und Tigris (Zweistromland); b)  andererseits nach dem Süden an die Ufer des Tschadmeeres, dessen Fläche damals ein Vielfaches der heutigen betrug. Faktum 3: Der nordafrikanisch-vorderasiatische Sprachstamm, genannt „Hamitosemitisch“, „Semitohamitisch“ oder „Afroasiatisch“ – dem „Indogermanischen/-europäischen“ vergleichbar –, umfasst die folgenden fünf Familien: Semitisch (v.a. Vorderasien), Berberisch (Nordafrika), Kuschitisch (Ostafrika), Altägyptisch/Koptisch und den hier behandelten Zweig Tschadisch (Zentralsudan). Insgesamt mögen es etwa 250 bis 300 Sprachen sein; diejenige mit der größten Sprecherzahl und auch der weitesten Verbreitung ist das Arabische, das vom Irak im Osten bis nach Marokko im Westen gesprochen wird. These 2: Die Auswanderer nach dem Osten mit dem Ziel Niltal (und Zweistromland?) trugen wesentlich zu den kulturellen Großleistungen Altägyptens (und im Zweistromland?) bei. These 3: Die Südmigranten, deren Hauptziel das Binnenmeer MegaTschad war, stießen in diesem Raum auf autochthon-afrikanische Völker, Kulturen und Sprachen; nach dem heutigen Befund handelt es sich um viele unterschiedliche Sprachen, die entweder dem Niger-Kongo- (West-, Zentralund Südafrika) oder dem nilosaharanischen Sprachstamm (Zentral- und Ostsudan) zuzurechnen sind. These 4: Aus der (friedlichen oder kriegerischen) Begegnung und Auseinandersetzung zwischen den Nordvölkern, die hamitosemitische Sprachen sprachen, und den „nigritische“ Sprachen sprechenden Südvölkern entstanden in den vergangenen 4–5 Jahrtausenden neue, hybride Sprachen, die nach dem Großgewässer Tsade/Tschadsee benannten tschadischen Sprachen. Faktum 4: Heute werden in den Savannen südwestlich, südlich und südöstlich des sehr stark geschrumpften Tschadsees ca. 150 Sprachen gesprochen, die eindeutig hamitosemitische Erbmasse aufweisen, der aber in unterschiedlichstem Maße nigritisches Sprachgut beigefügt ist.

1   Diese These geht davon aus, dass die Urheimat der Hamitosemiten Nordafrika war – und nicht Vorderasien; eine nicht unumstrittene, viel diskutierte These.

Die Afrikanisierung hamitosemitischer Sprachen im Zentralsudan

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Dokumentation Unsere Kenntnis von der Beschaffenheit der heute im Zentralsudan (Nordnigeria, Nordkamerun, Zentraltschad) beheimateten Sprachen, deren Urheimat in Nordafrika (und Vorderasien?) lag, verdanken wir den Feldforschungen der letzten rund 80 Jahre, durchgeführt vor allem von Johannes Lukas, Carl Hoffmann, Herrmann Jungraithmayr, Paul und Roxana Newman, Zygmunt Frajzyngier, Russell Schuh, Henry Tourneux, Daniel Barreteau, Rudolf Leger, Dymitr Ibriszimow, Bernard Caron, Karen Ebert, Joseph Greenberg. Es handelt sich um etwa 150 Minoritätensprachen, deren Gesamtsprecherzahl nicht über 3–5 Millionen hinausgehen dürfte. Die einzige tschadische Majoritätensprache ist das Hausa, das von rund 35 Millionen Nordnigerianern und Nigerern (im Süden der Republik Niger) gesprochen wird. Diese numerisch bedeutendste tschadische Sprache ist uns bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Grammatiken und Wörterbücher bekannt. Die Gesamtzahl der Sprecher tschadischer Sprachen dürfte somit bei ca. 40 Millionen liegen. Von etwa einem Drittel dieser Sprachen liegen wissenschaftliche Dokumentationen größeren oder mittleren Umfangs vor, d.h. es existieren Monographien, die den Lautbestand (Phonologie und Tonologie), das grammatische Formengut (Morphologie) und das Wortgut (Wörterbuch) dokumentieren. Für viele von ihnen fehlen aber noch derartige Aufzeichnungen bzw. Sprachbeschreibungen.

Befunde Die aus dem Norden einwandernden Ethnien (Sprachgemeinschaften) stießen auf Völkerschaften unterschiedlicher Herkunft und Prägung. Das eigene Sprachgut wurde im sozialen Neben- und Miteinander (Heirat, Nachbarschaft, etc.) Wirkkräften und Neuerungen ausgesetzt, die zu mehr oder weniger tief greifenden Strukturveränderungen führten. Da aber jede einzelne Sprachgemeinschaft dabei ihre eigene, je besondere Begegnung und Auseinandersetzung mit der „neuen Welt“ zu verkraften hatte, führte dies zu einer Vielzahl unterschiedlichster Hybridisierungen. Das heißt, die heute real existierenden hundertfünfzig Sprachen stellen jeweils ein eigenes, besonderes Produkt aus der Verbindung zwischen einer ursprünglich hamitosemitischen und einer nigritisch-afrikanischen Sprache dar. Grundsätzlich ist das, was in den vergangenen fünf Jahrtausenden im Zentralsudan geschehen ist, in der Geschichte der Völkerwanderungen immer wieder vor sich gegangen. Man denke nur an die „Gallisierung“ des Lateinischen, die zum hybriden Französisch, oder an die „Slawisierung“ der romanischen Muttersprache, die zur Herausbildung des Rumänischen geführt hat.

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Geht man davon aus, dass die aus dem Norden in den Sudan eingewanderten Ethnien selbst bereits unterschiedliche, wenn auch genetisch miteinander verwandte Sprachen sprachen und dies sich auch, wie gesagt, auf der gegenüberliegenden Seite so verhielt, dann bekommen wir eine Vorstellung von der Vielgestaltigkeit der Sprachen, die wir heute realiter vor uns haben. Dabei kann das ursprüngliche HS-Erbe noch weitgehend bewahrt oder aber bei AN-Dominanz in hohem Maße reduziert sein.

Der Afrikanisierungsprozeß Was haben die hamitosemitischen Sprachen im Zentralsudan aufgegeben bzw. verloren und was haben sie dafür an neuen Strukturmerkmalen gewonnen? Stets sind die Verluste durch Neues ersetzt bzw. kompensiert worden. Dabei handelt es sich aber meistens nicht um Tauschvorgänge – was aber erst noch zu untersuchen wäre! – , sondern um Ersatzmaßnahmen, Adaptionen, die es den Sprechern – die ja nun nach der soziokulturellen Integration in der neuen, zentral-sudanischen Umwelt auch keine „reinen Hamitosemiten“ mehr waren – erleichterte, den Anforderungen und Erwartungen ihrer neuen Lebenswelt gerecht zu werden. Nach einer Terminologie, die wir von Otto Rössler (1950) übernehmen, wollen wir zwischen archimorphen (AM), d.h. vom Ursprung her ererbten, und metamorphen (MM), d.h. erneuerten, innovierten Strukturmerkmalen unterscheiden. Sie betreffen vor allem die sprachlichen Sektoren Wortgut, Phonologie und Morphologie. Die wichtigsten Merkmale werden in der folgenden Übersicht präsentiert: Archimorphie (Hamitosemitisch (HS))

Metamorphie (Afrikanisierte HS-Sprachen (AHS))

1.

Zahl der Konsonanten klassisch (22–30)

Vermehrung bis Wucherung der Konsonanten (40–70)

2.

Zahl der Vokale minimal, i.d.R. drei: a, i, u

Zahl der Vokale maximal, bis zehn (/zwölf)

3.

Druckakzent

Tonhöhen

4.

Wortstruktur drei- und zweiradikalig

Apokopie: Wortstruktur i.d.R. zwei- und einradikalig

5.

Ablaut (Apophonie)

Abton (Apotonie)

6.

Innere (synthetische) Flexion

Äußere (analytische) Flexion

7.

Verb: Aspektbinarität

Binarität + Vielzahl verbaler Konjugationen (mittels TAMs)

8.

Einheitliche Subjektspronominalreihe

Mehrere durch TAM-Elemente erweiterte Subjektspron.-Reihen

Die Afrikanisierung hamitosemitischer Sprachen im Zentralsudan 9.

Präfix- und Suffixkonjugation

(Nur) Präfixkonjugation

10.

+ Grammatisches Geschlecht

– Grammatisches Geschlecht

11.

Natürliches Geschlecht in 2. und 3. Pers. unterschieden

z.T. Nivellierung

219

Die Tabelle gibt Auskunft zu phonologischen und morphologischen Eigenschaften der Sprache, verzichtet aber auf den Bereich der Syntax. Was das weite Feld des W o r t g u t e s betrifft, sei hier nur festgestellt, dass im Prozess der Afrikanisierung der HS-Sprachen deren ursprüngliches Wortgut fast gänzlich verloren bzw. von Seiten der autochthonen Sprachen ersetzt worden zu sein scheint. „Scheint“ deshalb, weil das Wortgut der meisten tschadischen Sprachen immer noch nicht systematisch und akribisch – trotz Jungraithmayr/Ibriszimow 1994 – genau auf ihren etymologischen Kern hin durchleuchtet worden ist; diese notwendige Arbeit gestaltet sich schwierig, weil die Lautveränderungen in der Regel zu Formen geführt haben, die eine Erkennbarkeit der ursprünglichen, lautlichen Gestalt eines Wortes kaum mehr zulässt. So z.B. ru für ursprüngl. mutu „sterben“: → mtu → tu → ru. In konservativeren tschadischen Sprachen haben sich einige HS-Lexeme erhalten, die noch ohne weiteres als alte Erbwörter erkennbar sind. So z.B. die Etyma für „Name“, Knochen“, „sterben“, „Zunge“, „Bruder/Schwester“, „vier“ etc.

Erläuterungen und Beispiele 1. Konsonantismus Die Zahl der Konsonanten in den Alt-HS-Sprachen übersteigt in der Regel nicht 30. In den jüngeren zentralsudanischen Nachfolgesprachen kann die Zahl aufgrund einer Reihe von lautlichen Derivations- und Extensionsmaßnahmen, deren sich die Sprachen bedienen, auf das Doppelte und mehr ansteigen. Diese „Maßnahmen“ bestehen im Wesentlichen aus folgenden vier Schritten: Glottalisierung, Palatalisierung, Labialisierung und Pränasalierung. Allein für die stimmhaften Verschlusslaute b, d, g können damit die folgenden zwölf zusätzlichen, sekundären Lautgebilde erzeugt, geschaffen werden: Glott.

Palat.

Labial.

Pränasal.

b

ɓ

by

bw

mb

d

ɗ

dy

dw

nd

g

ɠ

gy

gw

ng

220

Herrmann Jungraithmayr

Nimmt man die übrigen Grundkonsonanten (s, z, f, dz, ts etc.) hinzu, kann, zumindest theoretisch (praktisch wird vieles Mögliche nicht realisiert), die Gesamtzahl eine extreme Höhe erreichen. 2. Vokalisierung Ähnlich wie bei den Konsonanten kann auch die Zahl der Vokale durch Feindifferenzierung erhöht werden. So z.B. im nordostnigerianischen Tangale, wo durch größere Mundöffnung bzw. Retraktion der Zungenwurzel aus den fünf Grundvokalen a, e, i, o, u fünf weitere sekundäre Vokalqualitäten kreiert worden sind: a , ɛ, ɪ, ɔ, ʊ. In einigen Sprachen werden auch noch die zentralen Qualitäten ə und ʌ aktiviert, so dass im Extremfall insgesamt zwölf Vokale – phonemisch! – zum Einsatz kommen (können). 3.  Prosodologie: Akzent oder Ton Neben Konsonant und Vokal wird jedes Wort außerdem durch ein ‚Prosodem‘, d.h. entweder durch einen Druckakzent oder durch musikalische Tonhöhen bestimmt. Die semitischen und berberischen HS-Sprachen Vorderasiens und Nordafrikas sind Druckakzentsprachen; die zentralsudanischtschadischen Schwestersprachen hingegen fast durchgehend Ton-Sprachen. Man vergleiche den beiden Bereichen gemeinsamen Verbalstamm für „sterben“ in der folgenden Gegenüberstellung:

Arabisch (Akzent) Mushere (Ton)

Perfektiv (er starb/ist gestorben) máat-a múut (hoch)

Imperfektiv (er stirbt/wird sterben) -múut-u mùut (tief)

4. Wortstruktur Nur wenige konservative tschadische Sprachen haben die in Alt-HS-Sprachen vorherrschende dreiradikalige Wortstruktur bewahrt. Die meisten aber treten uns in einer durch den „Zahn der Zeit“ verkürzten Gestalt entgegen. So wurde z. B. aus sakur des Ron-Daffo „Bein, Fuß“ im Tangale ein yoo – und zwar über belegbare Zwischenstufen wie etwa saku, sheke, sak, sau und soo. Oder: Aus ar. maat- und mat/muwaat „sterben“ im Mubi wurde im Tumak der einradikalige Wortstamm ma. Im Tangale kann man in vivo studieren, wie man sich den Verkürzungsprozess vorstellen muss. Tangalewörter sind dem Gesetz der Apokopie unterworfen, d.h. tritt eine Ableitungssilbe an einen Wortstamm, wird dieser – nach Möglichkeit – gekürzt, z.B. lo·bi· „lieben“→ lo· -ko· „geliebt haben“.

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5.  Ablaut (Apophonie) : Abton (Apotonie) Während die Alt-HS-Sprachen sowohl in der Pluralbildung als auch in der Strukturierung ihrer verbalen Aspektsysteme ausschließlich den vokalischen Ablaut einsetzen – vgl. Ar. daraba „er schug“: ya-dribu „er schlägt“; kitaab „Buch“: kutub „Bücher“ – , bedient sich die Mehrheit der Jung-HS-Sprachen im Zentalsudan – neben suffigierter Pluralelemente – des Ton-Mediums („Abton“); vgl. dazu auch § 3. Zum Beispiel: Ron-Butura: gáshât (hochfallend) (Sg.): gashát (mittel-hoch) (Pl.) „Penis“. Eine konservative Minderheit der tschadischen Sprachen bewahrt aber den altsprachlichen Ablaut-Modus, und zwar sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Form; so z.B. Ron-Bokkos: ɗishil (Sg.): ɗishal (Pl.) „Stall“; Mubi: mìndírè (Sg.): màndàr „Mädchen“; Ron-Kulere: yidi (Sg.): yeed (Pl.) „Vogel“; nana (Sg.): nini (Pl.) „Mutter“; Migama: ítín (Sg.): èttènná (Pl.) „Nase“; Hausa: dóokìi (Sg.): dáwáakíi (Pl.) „Pferd“. Das Mokilko, das einerseits eine immense innovative Wucherung bei den präfigierten Subjektspronominalreihen (s. § 8) aufweist (vgl. Jungraithmayr (1990)), ist gleichzeitig wohl diejenige Sprache mit dem größten Ablautreichtum. Eine Sprache also, in der ältestes Erbgut mit extremen Neuerungen kombiniert auftritt. 6. Flexion In den altsprachlichen HS-Strukturen herrscht die innere oder synthetische Struktur vor. Sowohl das Nomen als auch das Verb werden im Innern des Wortstamms flektiert. Affixe bilden die Ausnahme. Die Mehrheit der TS-Sprachen gestaltet dagegen ihre Verbalformen mittels dem Verbalstamm voran- oder nachgestellter Lautelemente. So z.B. Hausa yáa zóo „er ist gekommen“: yá-nàa zúwàa „er kommt“. 7.  Aspekt und Tempus Allen HS-Sprachen liegt im verbalen Bereich ein binäres Aspektsystem zugrunde, d.h. das Denken fokussiert vor allem auf die Frage, ob eine Handlung abgeschlossen (frz. „accompli“) oder unabgeschlossen („inaccompli“) ist; die Frage, wann sie geschehen ist oder wird, ist von sekundärer Bedeutung. Dieses alt-HS-sprachliche Modell gilt allgemein für die semitischen Sprachen, ist aber auch im Tschadischen – explizit oder implizit – gegeben. In seinen älteren, d.h. konservativeren Vertretern wird es noch – erbgemäß – durch Ablaut, in den innovativen jungtschadischen Sprachen durch Tonopposition (Abton) verwirklicht. Man vergleiche folgende Beispiele:

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Herrmann Jungraithmayr Mubi síì / súwáà màt / mùwáat

„trinken“ „sterben“

Mokilko síɓè / sóɓò ìndá / ûntó

Mushere shwáa / shwáà múut / múùt (mùut)

8. Subjektspronominalreihen Das Altsemitische (Akkadische) unterscheidet zwei Präfixkonjugationen – Präteritum (Perfektiv) und Präsens (Imperfektiv) –, die beide mittels ein und derselben Pronominalreihe konjugiert werden. Im Tschadischen ist es nur das archaische Mubi (Jungraithmayr (2013), das ebenfalls nur eine einzige Subjektspronominalreihe für seine beiden Aspekte einsetzt; es sind dies die folgenden: Sg.

1c 2m 2f 3m 3f

ní ká kí à dì

Pl.

1c 2c

á ká

3c



In einer einfachen Verbalform stehen sich also folgende zwei Aspektformen gegenüber:   à síì „er trank“

:

  à súwáà „er trinkt / wird trinken“

Vom Mubi abgesehen haben nun aber alle tschadischen Sprachen zusammen mit den „tenses“ auch die Subjektsproniminalreihen vermehrt, und zwar entweder segmental, d.h. durch Modifikation des konsonant-vokalischen Bestands, oder suprasegmental, d.h. durch Tonveränderung. Dies lässt sich z.B. anhand der Konstellation im Ngas gut illustrieren: Aorist: Futur: Subjunktiv: Perfekt: Progressiv:

ŋā shwēē ŋá shwēē ŋà shwēē ŋāà shwēē ŋán pò shwée

„ich trinke, trank“ „ich werde trinken“ „ich möge trinken“ „ich habe getrunken“ „ich bin am Trinken“

Im Fyer werden die folgenden acht Subjektspronominalreihen unterschieden (nach Jungraithmayr (1970:44)); es wird hier – pars pro toto – nur die 1. Person („ich“) zitiert: Sg. 1

Aorist Subjunktiv Futur Perf. I yí yì yı¯˙ yáà

Perf. II yí kà

Habit. yāá

Progress. Temporalis yāâ yáā

Die Afrikanisierung hamitosemitischer Sprachen im Zentralsudan

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9. Präfix-/Suffix-Konjugationen Die Konfiguration, wie wir sie aus dem Jungsemitischen, z.B. Arabischen kennen, wonach einer imperfektivischen Präfixkonjugation eine perfektivische Suffixkonjugation gegenübersteht, so z.B. ya-qtulu „er tötet“ versus qatal-a „er hat getötet“, scheint im Tschadischen unbekannt zu sein. Wohl gibt es Verbalformen des Typs VS + PS, doch haben diese scheinbaren „Suffixkonjugationen“ andere, oft morphosyntaktische und nicht verbalaspektuelle Funktionen. 10.  Grammatisches Geschlecht Die für alle Alt-HS-Sprachen selbstverständliche grammatische Unterscheidung zwischen maskulinen und femininen Nomina findet sich im Tschadischen nur noch in seinen konservativeren Vertretern, etwa im Osten im Mubi, Migama und Mokilko, im Westen im Ron. So werden z.B. „Sonne“ und „Mond“ in diesen vier Sprachen gleich klassifiziert, nämlich feminin bzw. maskulin, also wie im Deutschen und nicht wie in den romanischen Sprachen. Die Reflexe lauten folgendermaßen: „Sonne“ „Mond“

Mubi fàt tírí

Migama páató kóoyò

Mokilko pèeɗó térè

Ron (Kulere) fāt túré

In den meisten tschadischen Sprachen ist aber der Sinn für eine derartige grammatische Unterscheidung verloren gegangen. Das Tangale befindet sich im Übergang zur Nivellierung. Bei einer Befragung konnten sich die Dorfältesten nicht über die Zuordnung der beiden Himmelskörper zu einem bestimmten Geschlecht einig werden. Dass aber ein Bewusstsein für Genusunterscheidung noch latent existiert, zeigt besonders deutlich folgendes Ereignis. Bei der Aufnahme von Verbalformen des Sarwa, einer Kleinstsprache, gesprochen am Ufer des mittleren Schari/Tschad, überraschte mich der Sprecher damit, dass er – sogar! – die Formen des Perfektivs – im Arabischen – mud - akkar, also männlich, und die des Imperfektivs mu ͗annat- , weiblich, nannte! 11.  Natürliches Geschlecht beim Pronomen Im Gegensatz zu den indoeuropäischen Sprachen, die nur e i n „du“ für die angesprochene Person kennen, unterscheiden die HS-Sprachen zwischen einem männlichen „du“ und einem weiblichen „du“ bzw. „dein“. Sie markieren also nicht nur in der 3., sondern auch in der 2. Person Singular das natürliche Geschlecht. So hat man im Arabischen z. B. folgende Formen:

224 2m 2f 3m 3f

Herrmann Jungraithmayr -ka -ki -hu -ha

kitaabu-ka kitaabu-ki kitaabu-hu kitaabu-ha

„dein (m.) Buch“ „dein (f.) Buch“ „sein Buch“ „ihr Buch“

Bemerkenswerter Weise ist diese Differenzierung der 2. Person in zahlreichen jung-HS-Sprachen des Zentralsudan bewahrt worden, und zwar sogar in stark innovativen Sprachen. Man vergleiche die folgenden Possessivsuffixe in drei westtschadischen Sprachen: 2m 2f 3m 3f

Hausa -ka -ki -sa -ta

Ngas -gha -yi -ɗi (log.) -ɗa (log.)

Tangale -ko -si -ni -to

In der Regel bauen aber die jüngeren Tschadsprachen diese differenzierten Pronominalformen Schritt für Schritt ab, wobei es erstaunt, dass die Nivellierung nicht bei der 2., sondern bei der 3. Person einsetzt. Es gibt also Sprachen, die „er“ und „sie“ vereinheitlichen, nicht aber „du“ (m.) und „du“ (f.)! Die meisten zentraltschadischen Sprachen – in Nord-Kamerun – unterscheiden das natürliche Geschlecht in keiner der beiden Personen mehr. So kennt z.B. das Ouldémé (nach de Colombel (1997:48)) nur noch die folgenden zwei postponierten Possessivpronomina yākw (2c) und yāŋ (3c).

Zusammenfassung und Fazit Die allseitig wirksamen Grundtendenzen, die sich beim Prozess der Afrikanisierung der HS-Sprachen – im Zuge der Metamorphisierung – feststellen lassen, sind einerseits Reduktion und Nivellierung, andererseits Vermehrung, ja oft Wucherung bei der Produktion sprachlicher Mittel, damit gesteigerte Präzision in der Wiedergabe und Abbildung der materiellen, sozialen und spirituellen Umwelt. Implizite synthetische Strukturen werden durch analytische Explikation aufgelöst. Im osttschadischen Mubi gibt es nur ein denkbar simples Aspektsystem, bestehend aus zwei Verbalformen, dem Perfektiv und dem Imperfektiv, unmittelbar vergleichbar mit dem altsemitischen Akkadisch, grundsätzlich aber auch mit dem jungsemitischen Arabisch. Es gibt keine wesentlichen, von diesem Zweiersystem abgeleiteten weiteren Formen. Das Mubi bildet aber innerhalb der tschadischen Sprachfamilie, die in ihrer Vielfältigkeit das Produkt des jahrtausendelang andauernden Afrikanisierungsprozesses darstellt, eine einzigartige Ausnahme. Schon das benachbarte Mokilko begnügt sich nicht mehr mit dem denkbar simplen binären Grundgerüst. Es nützt es wohl, errichtet darüber aber zusätzlich einen höchst dif-

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ferenzierten Überbau, dessen Bausteine Konsonanten, Vokale und Tonhöhen sind, die zwischen Subjektspronomen und Verbalstamm eingefügt werden. Zum Beispiel: y-íìmí y-áà-d-íìmí

„er hat gegessen“ „er hat davon noch einmal gegessen“

Diese hoch differenzierten verbalen Formenkonstrukte – insgesamt 77! –, die sich aus sieben Ablautstämmen, z.B. íìmí, óòmí, óòmó, ômɓó, íìmáà, und elf Ableitungsinfixen (s.o.), zusammensetzen, schaffen der Sprachgemeinschaft ein Reservoir an Ausdrucksmitteln, deren Nuancen in unseren Sprachen kaum wiederzugeben sind. Der Prozess der Afrikanisierung hat zu großen Verlusten an altererbtem Sprachgut geführt. Zum einen natürlich im Wortgut, in dem nur noch wenige ursprüngliche HS-Erbwörter, darunter sm „Name“ und mwt „sterben“, bewahrt sind. Zum anderen im grammatischen Formengut, in dem – bis auf Ausnahmen – Ablaut und innere Flexion geschwunden und dafür äußere, analytische Bildungsmethoden getreten sind. Auf der Zugewinnseite sind Neuerungen wie das Intransitive Copy Pronoun (ICP) und die logophorischen Pronomina zu verzeichnen. Beim ICP handelt es ich um ein Pronominalelement, das einem Verbalstamm suffigiert wird, z.B. Tangale: na ambe oder na ambu-no „ich besteige“. Logophorische Pronimina (LP) helfen, in einem Satz wie dem folgenden Missverständnisse zu vermeiden: „Er sagt, er würde kommen.“ Bei Identität der beiden „er“s wird im Nebensatz das LP eingesetzt; handelt es sich aber um zwei verschiedene Subjekte, wird das erste, allgemeine Pronomen wiederholt. Die Frage schließlich, ob der Afrikaniserungsprozess so weit ging, dass man von einer Aneignung der HS-Sprachen durch die afrikanisch-nigritische Sprachenwelt sprechen müsste, ist sicherlich diskutierbar. Durch das nun am Schluss noch einzubringende Argument, dass für Fragen genetischer Verwandtschaftsklassifikation des Pronomens von besonderem Gewicht ist, ist die Frage aber m.E. mit Nein zu beantworten: die Pronominalmorpheme und -systeme der meisten tschadischen Sprachen lassen sich in ihren Grundelementen auf die der althamitosemitischen Sprachen zurückführen. Man vergleiche in der folgenden Tabelle die Pronomina in den TS-Sprachen Tangale und Hausa mit denen des Arabischen. Die entsprechenden Pronomina des dem Tangale unmittelbar benachbarten Waja, einer nigritischen Adamawa-Sprache (nach Kleinewillinghöfer 1989), sind gänzlich anderer Art. Sg. 2 m 2f 3m 3f

Tangale ka si (< *ki) yi ta

Hausa ka ki ya ta

Waja ma ma a a

Vgl. Arab. (Poss.)   -ka   -ki   -hu   -ha

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Herrmann Jungraithmayr

Pronomina zählen nachweislich zu den veränderungsresistentesten Bauelementen einer Sprache. Und: Sie werden nur selten entlehnt; vielleicht einzeln, kaum jedoch als Kombinat wie in unserem Fall. Damit – neben dem Vorhandensein von Genus und Ablaut – dürfte die ursprünglich genetische Zugehörigkeit der Tschadsprachen zum hamitosemitischen Sprachstamm als erwiesen gelten.

Abkürzungen AHS afrikanisierte HS-Sprache AM archimorph AN afrikanisch-nigritisch arabisch ar., AR c communis feminin f Habit. Habitual HS hamitosemitisch Intransitive copy pronoun ICP log. logophorisch LP logophorisches Pronomen m maskulin MM metamorph Person P Perf. Perfekt Plural Pl PS Pronominalsuffix Singular Sg SP Subjektspronomen TAM Tempus-Aspekt-Modus tschadisch TS VS Verbalstamm

Literatur Cohen (1947): M. Cohen, Essai comparatif sur le vocabulaire et la phonétique du chamitosémitique (Paris 1947) de Colombel (1997): Véronique de Colombel, La langue ouldémé. Nord-Cameroun (Paris 1997) Diakonoff (1988): I.M. Diakonoff, Afrasian Languages (Moscow 1988) Frajzyngier (1985): Z. Frajzyngier, Logophoric systems in Chadic, Journal of African Languages and Linguistics 7, 1985, 23–37 Jungraithmayr (1970): H. Jungraithmayr, Die Ron-sprachen (Glückstadt 1970) Jungraithmayr (1980): H. Jungraithmayr, Kontakte zwischen Adamawa-Ubangi und Tschad-Sprachen: Zur Übertragung grammatischer Systeme, Zeitschr. d. Deutschen Morgenländ. Gesellschaft 130, 1980, 70–85 Jungraithmayr (1982): H. Jungraithmayr (Hrsg.), The Chad Languages in the HamitoSemitic-Nigritic Border Area (Berlin 1982)

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Jungraithmayr (1991): H. Jungraithmayr, A Dictionary of the Tangale Language (Berlin 1992) Jungraithmayr (1994): H. Jungraithmayr, Was ist am Tschadischen hamitosemitisch? Zeitschr. f. Althebraistik 7 (2) 225–33 Jungraithmayr (2005): H. Jungraithmayr, Hamitosemitic Features of Chadic, in: Eva Apor – István Ormos (eds.), Goldziher Memorial Conference (Budapest 2005) 143–150 Jungraithmayr (2010): H. Jungraithmayr, Mubi and Semitic – Striking Parallels, in: F. M. Fales – G. F. Grassi (eds.), CAMSEMUD 2007 (Padova 2010) 133–138 Jungraithmayr – Adams (1992): H. Jungraithmayr – Abakar Adams, Lexique migama (Berlin 1992) Jungraithmayr (2013): H. Jungraithmayr, La langue mubi (Berlin 2013) Jungraithmayr – Holubová (2016): H. Jungraithmayr – M. Holubová, The Ngas Language (Berlin 2016) Jungraithmayr – Ibriszimow (1994): H. Jungraithmayr – D. Ibriszimow, Chadic Lexical Roots, 2 Bde. (Berlin 1994) Kleinwilliginghöfer (1989), U. Kleinewillinghöfer, Die Sprache der Waja (nyan wịyáù. ) (Frankfurt am Main 1989) Lukas (1937): Johannes Lukas, Zentralsudanische Studien (Hamburg 1937) Mukarovsky (1987): H. Mukarovsky, Mande-Chadic Common Stock (Wien 1987) Newman (1980): P. Newman, The Classification of Chadic within Afroasiatic (Leiden 1980) Rössler (1950): O. Rössler, Verbalbau und Verbalflexion in den semitohamitischen Sprachen, Zeitschr. d. Deutschen Morgenländ. Ges. 100, 1950, 461–514 Schuh (1976): R. G. Schuh, The Chadic verbal system and its Afroasiatic nature, Afroasiatic Linguistics 3(I), 1976, 1–14 Takács (2011): G. Takács, Studies in Afro-asiatic Comparative Phonology: Consonants (Berlin 2011) Voigt (2001): R. Voigt, Semitohamitische Philologie und vergleichende Grammatik: Geschichte der vergleichenden Semitohamitistik, History of the Language Sciences, edited by Sylvain Auroux etc. (Berlin 2001), 1318–1325 Vossen (1997): R. Vossen, Die Khoe-Sprachen (Köln 1997) Wolff – Gerhardt (1977): E. Wolff – L. Gerhardt, Interferenzen zwischen Benue-Kongo und Tschad-Sprachen, Zeitschr. d. Deutschen Morgenl. Ges. Suppl. III,2, 1518–43

Texte auf Holzstäbchen aus dem antiken Südarabien Walter W. Müller

Inschriften aus dem antiken Jemen Aus dem südwestlichen Teil der Arabischen Halbinsel, jenem Gebiet, das sich im wesentlichen mit der heutigen Republik Jemen deckt, sind aus vorislamischer Zeit zahlreiche epigraphische Schriftdenkmäler erhalten, die in einer Sprache abgefasst sind, welche man als Altsüdarabisch (englisch Ancient South Arabian oder auch Epigraphic South Arabian) bezeichnet. Dieses Altsüdarabische bildet mit den semitischen Sprachen Äthiopiens oder den äthio-semitischen Sprachen und den heute noch im Osten des Jemen, im Südwesten des Sultanats Oman und auf der Insel Sokotra gesprochenen illiteraten Sprachen und Dialekten des Neusüdarabischen den südlichsten Ableger der semitischen Sprachen, ohne dass damit etwas über ihre sprachgeschichtliche Einordnung und über ihr Verhältnis zu den übrigen semitischen Sprachen ausgesagt werden soll. Das Altsüdarabische zerfällt seinerseits wiederum in vier Hauptsprachen, nämlich in das Sabäische, Minäische, Qatabanische und Hadramitische, so benannt nach den vier größten Völkern, den Sabäern, Minäern, Kattabanern und Chatramotitern, welche der griechische Geograph Eratosthenes im 3. Jh. v. Chr. (überliefert in Strabons Geographika XVI,4,2) im äußersten Teil Arabiens entlang des Erythräischen Meeres aufzählt. Die Namen dieser Völkerschaften leiten sich von den vier wichtigsten und am frühesten bezeugten altsüdarabischen Reichen ab, welche in den einheimischen Sprachen Saba, Ma‘in, Qataban (bzw. Qitban) und Hadramaut (bzw. Hadramut) heißen. Inschriftenträger sind vorwiegend sorgfältig zugehauene Steinplatten und Quadersteine unterschiedlicher Größe, andere steinerne Objekte oder geglättete Felswände, aber auch Bronzetafeln und metallene Objekte, ikonographische Artefakte, wie Reliefs, Statuen, Statuetten und dergleichen, sowie Amulette, Siegel und Münzen. Weit mehr als die Hälfte der mittlerweile an die elftausend Nummern zählenden Inschriften, von denen allerdings viele nur fragmentarisch erhalten sind, stammen von den Sabäern. Auch wenn aus der Zeit der legendären Königin von Saba, die nach biblischem Bericht (1Könige 10,1–13; 2Chronik 9,1–12) König Salomo in Jerusalem besucht haben

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Walter W. Müller

soll, sich in Südarabien keine Zeugnisse über sie nachweisen lassen außer Bauten, die später mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wurden, so sind doch die Sabäer die ersten, welche Inschriften hinterlassen haben. Diese epigraphischen Texte setzen höchstwahrscheinlich bereits zu Beginn des 10. Jhs. v. Chr. ein und reichen ohne Unterbrechung über anderthalb Jahrtausende bis in die zweite Hälfte des 6. Jhs. n. Chr. Ihrem Inhalt nach handelt es sich im wesentlichen um in Heiligtümern aufgestellte Weih- oder Widmungsinschriften, welche bisweilen eigenständige Berichte über Feldzüge oder andere Ereignisse enthalten, Bauinschriften, in denen die erbrachte Arbeitsleistung bei der Errichtung von Tempeln, Häusern, Bewässerungsanlagen oder anderen Bauten dokumentiert wird, Rechts- und Wirtschaftstexte, wie Gesetze, Verträge, Grenzbestimmungen oder Regelungen der Bewässerung, Monumentalinschriften, welche die Taten ihrer Verfasser festhalten, Buß- und Sühneinschriften, in denen ein öffentliches Schuldbekenntnis abgelegt wird, Grabinschriften, Gedenkinschriften zum Gedächtnis der Toten oder Graffiti, mit denen sich die Schreiber in Erinnerung bringen wollen. Bei Steinen und Metallen als Inschriftenträger musste bisher für literarische Texte wie Epen oder Mythen Fehlanzeige erstattet werden, ebenso, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für Texte in gereimter Form wie Hymnen und Gedichte. Auf den epigraphischen Denkmälern basiert jedenfalls unsere Kenntnis nicht nur von den Sprachen, sondern auch von der Geschichte, Kultur und Religion des vorislamischen Südarabien.

Die altsüdarabische Monumentalschrift Die Schrift, in welcher die epigraphischen Denkmäler des antiken Südarabien abgefasst wurden, wird herkömmlich als altsüdarabische Monumentalschrift bezeichnet. Es sind sorgfältig ausgeführte Buchstaben, deren Höhe zur Breite in genau festgelegten Proportionen steht. In der frühen Zeit weisen von den 29 Buchstaben, welche das konsonantische Phoneminventar wiedergeben, 21 Schriftzeichen symmetrische Formen auf, von denen wiederum elf doppelt symmetrisch sind. Die altsüdarabische Monumentalschrift mit ihrem konstanten und an Architektur erinnernden Formentypus gehört mit zum Schönsten und Elegantesten, was in der semitischen Epigraphik hervorgebracht wurde. Ein besonderes Kennzeichen der archaischen und altsabäischen Inschriften (10.–4. Jh. v. Chr.) ist neben den den frühen paläographischen Stufen zuzuordnenden Buchstabenformen die Bustrophedon-Schreibweise, wie sie sich auch in alten griechischen Sprachdenkmälern findet. Diese Art zu schreiben, bei welcher die Schreibrichtung sich mit jeder Zeile ändert und abwechselnd nach links und rechts mit gespiegelten Buchstaben verläuft, wird verständlich durch die mitunter mehrere Meter messende Länge der einzelnen Zeilen in den antiken Monumentalinschriften.

Texte auf Holzstäbchen aus dem antiken Südarabien

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Mit Ende der altsabäischen Periode hat sich auch in Südarabien wie in den meisten alten semitischen Sprachen die einheitliche linksläufige Schreibrichtung durchgesetzt. Ornamentale Schönheit der geometrischen Formen zeigt sich auch in der die Zeit vom 3. Jh. v. Chr. bis zum 4. Jh. n. Chr. umfassenden mittelsabäischen Periode, als die Enden der Buchstaben verbreitert, gerade Linien eingebogen, Kreise zu Ellipsen gestreckt, spitze Winkel vorherrschend wurden und sich noch andere Veränderungen an den Schriftzeichen beobachten lassen, die ihnen eine weniger wuchtiger wirkende Gestalt verliehen. Vor allem durch die große Zahl der aus dem 2. und 3. Jh. erhaltenen, zum Teil langen Votivinschriften ist das Mittelsabäische die epigraphisch am besten bezeugte Periode. Sofern es sich nicht um Inschriften auf Metall handelt, wurden die Buchstaben in den geglätteten Stein eingemeißelt; in der späteren Zeit allerdings, als sich ein zu Verzierungen neigender Schreibstil durchsetzte, wurden die Inschriften in versenkten Reliefbuchstaben aus dem Stein herausgehauen. Diese spätsabäische Periode umfasst die Zeit vom 4. bis zum 6. Jh., als das geeinte sabäo-himjarische Reich seine größte Ausdehnung erreichte und mithin auch die epigraphischen Denkmäler bis weit nach Zentralarabien hinein zu finden sind. Die Entwicklung der altsüdarabischen Monumentalschrift ermöglicht es immerhin, die Texte innerhalb der einzelnen Perioden in ihren paläographischen Stufen ungefähr zeitlich einzuordnen, auch wenn in den Inschriften kein Herrscher genannt wird oder in der späteren Zeit keine Datierung nach der himjarischen Ära angegeben ist. Die altsüdarabischen Inschriften wurden in der islamischen Zeit nach dem letzten der antiken Reiche himjarische Inschriften genannt. Nach dem Aussterben ihrer Sprache war auch deren Kenntnis erloschen, so dass die Texte nicht mehr gelesen und verstanden werden konnten. Neben der zur Vorherrschaft gelangten arabischen Schrift wurde in der jemenitischen Überlieferung die Schrift der himjarischen Inschriften als Musnad-Schrift bezeichnet. Im Sabäischen findet sich das Nomen ms´ nd in der Bedeutung einer meist auf einer Bronzetafel angebrachten Widmungsinschrift, die in einem Tempel aufgestellt wurde (sabäisch s´ nd „aufstellen“), später auch einer Felsinschrift. Der Göttinger Semitist und Epigraphiker Mark Lidzbarski hat bereits 1902 in der Frühzeit der Sabäistik das Wort ms´ nd, Musnad, auf die Form der Schriftzeichen mit ihren Säulen und Stützen zurückführen und nach dem arabischen Verb sanada „stützen“ als „Stützung, Stützenwerk, Stützschrift“ erklären wollen. Die altsüdarabische Monumentalschrift, die bei ihrem ersten Erscheinen bereits eine schriftgeschichtliche Entwicklung durchlaufen hatte, gehört zum südlichen Zweig der semitischen Alphabetschrift, der sich etwa im 13. Jh. v. Chr. von der im syrisch-palästinischen Raum entstandenen protokanaanäischen Schrift abgespalten hat und wenig später auf die Arabische Halbinsel gelangt sein dürfte.

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Die Entzifferung der altsüdarabischen Minuskelschrift Mein arabischer Kollege Mahmud al-Ghul, Professor an der YarmukUniversität in Irbid in Jordanien, zeigte mir im Herbst 1972 anlässlich eines Besuchs in Tübingen zwei beschriftete Holzstäbchen, die nach Informationen des jetzigen Besitzers 1970 im nordwestjemenitischen Dschauf ausgegraben worden sein sollen. Die Stäbchen waren 16 bzw. 12 Zentimeter lang, hatten einen Durchmesser von zwei bis drei Zentimetern und waren mit jeweils 14 Zeilen beschrieben. Unsere gemeinsamen Bemühungen, die Schriftzeichen mit einem der aus dem Vorderen Orient bekannten Alphabete in Verbindung zu bringen, blieben ohne Erfolg, und auch orientalistische Fachkollegen, die wir zurate zogen, konnten uns nicht weiterhelfen. Um besser damit arbeiten zu können, ließen wir die Stäbchen photographieren und die Schrift vergrößern. Bei den Versuchen, die einzelnen Schriftzeichen zu isolieren, stellte sich heraus, dass die Texte etwa dreißig verschiedene Buchstaben enthielten, was die Vermutung bestärkte, dass es sich um Texte in einer semitischen Sprache handeln dürfte; das Altsüdarabische mit dem umfangreichsten Phoneminventar unter den alten semitischen Sprachen weist 29 Buchstaben auf. Da die Fundstätte im Jemen außer Zweifel zu sein schien, führte dies schließlich zur Gewissheit, dass hier zum ersten Mal altsüdarabische Texte in einer bisher unbekannten Schreibschrift vorlagen. Von 1975 bis 1982 haben Alfred F. L. Beeston aus Oxford, Mahmud al-Ghul, Jacques Ryckmans aus Löwen und ich an der Erstellung eines sabäischen Wörterbuches gearbeitet, und während unserer regelmäßigen Arbeitstreffen, von denen jährlich eines in Marburg stattfand, haben wir uns immer wieder Zeit genommen und uns mit der Entzifferung der Schrift auf den Holzstäbchen beschäftigt. Die Berücksichtigung der Häufigkeit der einzelnen Grapheme, die unverkennbare Ähnlichkeit mancher Buchstaben mit denen der Monumentalschrift sowie die Entdeckung der zwei wichtigsten sabäischen Gottheiten in einem der beiden Texte in dem Wunsch, dass „ʿAthtar und Almaqah dir Wohlergehen gewähren mögen“, brachten uns dem Ziel einer vollständigen Entzifferung immer näher. Dies wurde nicht zuletzt dadurch erleichtert, dass wie bei der Monumentalschrift auch bei dieser Schrift die einzelnen Wörter durch einen senkrechten Strich voneinander getrennt sind. Dass das Fehlen von Worttrennern die Interpretation von Texten erschweren kann, zeigt sich bei den althebräischen, phönizischen und altaramäischen Inschriften. Es stellte sich heraus, dass es sich bei den beiden beschrifteten Stäbchen um zwei Briefe handelt, womit aus dem antiken Südarabien zum ersten Mal jene bis dahin unbekannte literarische Gattung bezeugt ist. Leider kam Mahmud al-Ghul nicht mehr dazu, die Entzifferungsergebnisse zu veröffentlichen; er verstarb am 10. Dezember 1983 in London im Alter von sechzig Jahren. Seit Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren im Jemen auf dem Antikenmarkt zahlreiche weitere beschrif-

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tete Holzstäbchen aufgetaucht, so dass sich dadurch die Gelegenheit bot, die bisher geleistete Entzifferungsarbeit zu überprüfen und die Untersuchungen auf eine breitere Basis zu stellen. Als mein ehemaliger Schüler und Doktorand Yusuf Abdallah, inzwischen Professor an der Universität S. anʿa¯ʾ, sich als erster jemenitischer Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung ab Februar 1985 ein Jahr lang an der Philipps-Universität Marburg aufhielt, brachte er einige beschriftete Holzstäbchen mit, die in das Museum der Archäologischen Abteilung der Universität S. anʿa¯ʾ gelangt waren. Dazu kamen noch ein halbes Dutzend weitere Stäbchen, die sich in Privatbesitz befanden und mir zur Begutachtung zugeschickt worden waren. Dies gab uns die Möglichkeit, sich intensiv mit jenen neugefundenen Schriftdokumenten zu beschäftigen, wozu Jacques Ryckmans im Juli 1985 eine Woche zu einem Arbeitstreffen nach Marburg kam. Als Frucht seiner intensiven Studien veröffentlichte er 1986 in einer Festschrift zum Thema Scripts, Scriptures, Scribes and Languages in the Near East einen Aufsatz, in welchem er vorschlug, die neuentdeckte Schrift als Minuskelschrift zu bezeichnen und nicht als Kursivschrift, da jener Terminus gelegentlich für Graffiti aus der spätsabäischen Zeit verwendet wurde, deren Duktus deutlich erkennbar an denjenigen der Monumentalbuchstaben erinnert. Diese Minuskelschrift wurde von speziell ausgebildeten Schreibern mit spitzen metallenen Schreibgriffeln in noch frische entrindete Holzstäbchen oder in verholzte Palmblattrippen eingraviert. Inzwischen wurden in einem Behältnis fünf, bis zu vierzehneinhalb Zentimeter lange Stili oder Schreibgriffel gefunden; zwei waren aus Elfenbein verfertigt, je einer aus Bronze und Eisen, und bei dem letzten handelt es sich um einen mit einem Aufhängeloch versehenen Holzgriff, an dessen anderem Ende eine bleierne Spitze befestigt war. Da Elfenbein zum Einritzen in Holz ungeeignet ist, scheinen jene Stili für Wachstafeln bestimmt gewesen zu sein. Bedingt durch die starke, zum Verwechseln führende Ähnlichkeit mancher Buchstaben, durch individuelle Schreibgewohnheiten der einzelnen Verfasser oder berufsmäßigen Schreiber, denen der Text diktiert wurde, und nicht zuletzt durch den mitunter schlecht erhaltenen Zustand der Hölzer und der eingravierten Schrift, ist es oft schwierig, auf Grund einer gesicherten Lesung einen einigermaßen zuverlässigen Text herzustellen, welcher die Voraussetzung für die richtige Übersetzung der Dokumente und die darauf aufbauende Interpretation derselben ist. Das Verständnis der Inschriften wird zusätzlich erschwert durch darin vorkommende bisher unbekannte Wörter und noch nicht belegte grammatische Formen sowie durch den Stil bislang unbezeugter Textgattungen. Auf einem Symposium, welches im Dezember 1984 an der Yarmuk-Universität in Irbid zum Gedächtnis an Mahmud al-Ghul abgehalten wurde, hielt A. F. L. Beeston einen Vortrag über die neuentdeckte altsüdarabische Minuskelschrift, in welchem er eine Transkription des Textes der beiden zeitweilig in Verwahrung von M. al-Ghul befindlichen 14-zeiligen Briefe auf

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Holzstäbchen mit einer versuchsweisen Teilübersetzung einiger Passagen darbot. Auch Jacques Ryckmans beließ es in seinem Beitrag zu Festschrift für Walter Dostal 1993 bei der Behandlung von Document A und B von Ghul bei Abbildungen, Faksimiles und Transkriptionen, die bis auf wenige Stellen, an denen die Alternative zwischen zwei in Frage kommenden Buchstaben offengelassen wurde, als gesichert gelten können; eine Übersetzung der beiden Briefe hat er damals jedoch noch nicht gegeben. In den erhaltenen Büchern des an der alten Geschichte seines Landes sehr interessierten jemenitischen Gelehrten al-Hamda¯nı¯ aus dem frühen 10. Jh. begegnet, besonders im achten Buch seines Iklı¯l über die Altertümer Südarabiens, einige Male ein Verbum zabara und davon abgeleitete Formen in der Bedeutung „schreiben“ sowie ein Nomen zabu¯r mit dem Plural zubur „Schrift, Geschriebenes“, die stets in Verbindung mit den Himjaren und der vorislamischen Zeit des Jemen verwendet wurden. So wird z.B. berichtet, dass in den Schatzkammern der Himjaren Dokumente aufbewahrt wurden, aus denen man sich über ihre Genealogien informieren konnte, dass Schriftstücke in Urkundenbehältern gefunden wurden und dass Inschriften von Grabsteinen auf Palmzweigen abgeschrieben wurden, oder es werden Männer erwähnt, die neben den antiken Musnad-Inschriften auch die Zabu¯rSchrift der Himjaren lesen konnten. Zu den aus den beschrifteten Stäbchen gewonnenen neuen, bisher nicht bezeugten sabäischen Wörtern gehört auch ein Nomen zbr „Geschriebenes, Schriftstück“ und das Verbum zbr, mit dem häufig am Ende einer Vertragsurkunde der namentlich genannte Schreiber durch seinen Namenszug bekundet, dass er dies geschrieben bzw. unterschrieben hat. Damit kann als erwiesen gelten, dass mit der in arabischen Werken aus dem Jemen erwähnten Zabu¯r-Schrift die neuentdeckte altsüdarabische Schreibschrift auf Holzstäbchen gemeint ist. Wenn ein altarabischer Dichter wie der berühmte um 540 gestorbene Imraʾalqais aus dem südarabischen Stamm der Kinda in seinem Diwan schreibt, dass ihn die verwehten Spuren eines verlassenen Lagerplatzes, auf die er beim Ritt durch die Wüste stieß, an Striche der Zabu¯r-Schrift auf einem jemenitischen Palmstengel erinnern, so darf man auch dabei einen Vergleich mit der von uns Minuskelschrift genannten sabäischen Schrift sehen.

Die ersten Veröffentlichungen auf Holz geschriebener Texte Die erste Publikation eines mit Minuskelschrift beschriebenen Holzstäbchens erfolgte 1986 durch Yusuf Abdallah in einer jemenitischen Zeitschrift. In dem in der Sammlung des Antikenmuseums der Universität S. anʿa¯ʾ verwahrten neunzeiligen, im letzten Drittel unvollständigen Dokument wird Folgendes festgelegt: Ein Mann namens Marthadum, Sohn des Magı¯dum, entrichtet an Scharah. ʾil von der Sippe Kaʿma¯n aus Naschqum für die Miete eines

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Kamels eine bestimmte nach einem Tempel benannte Maßeinheit an Datteln, wenn ein gewisser Rabı¯bum von der Sippe Gira¯fum aus Ruh. a¯bata¯n zurückkehrt. Der durch Zeugen beglaubigte und durch die Unterschrift bestätigte Vertrag ist datiert im Monat Dhu¯-Kaschabim des Jahres des Tubbaʿkarib, des Sohnes des Maʿdı¯karib, von der (Eponymats)sippe Kabı¯r Khalı¯l. Die Rückkehr erfolgte wohl mit dem mit Datteln beladenen Kamel, denn Ruh. a¯bata¯n ist eine südwestlich von der Sabäerhauptstadt Ma¯rib gelegene, bis heute den Namen Ruh. a¯ba tragende Talebene, in welcher sich bis in das Mittelalter große Dattelpalmpflanzungen befanden. Der Vermieter des Kamels ist ein Einwohner der Stadt Naschqum, wodurch wir gleichzeitig einen Anhaltspunkt über die mögliche Herkunft der Inschrift erhalten. Naschqum und ihre Schwesterstadt Naschscha¯n sind zwei etwa hundert Kilometer nordnordöstlich von S. anʿa¯ʾ im oberen Dschauf zu lokalisierende einstige sabäische Siedlungen, deren antike Ruinenstätten heute al-Bayd. a¯ʾ, „die Weiße“, und as-Sawda¯ʾ, „die Schwarze“, genannt werden. Dass neben der Stadt Naschqum und Einwohnern derselben auch die Stadt Naschscha¯n und Einwohnern derselben in den neugefundenen Dokumenten erwähnt werden, lassen die Angaben glaubwürdig erscheinen, dass ein großer Teil der bisher leider nur durch Raubgrabungen zutage geförderten beschrifteten Holzstäbchen aus einem Archiv oder mehreren Archiven des heutigen as-Sawda¯ʾ, somit aus dem einstigen Naschscha¯n, stammen soll. Aus dem antiken Südarabien ist eine größere Anzahl von Texten bekannt, die nach einem Eponym datiert sind; ihre Zahl ist allerdings nicht groß genug, um eine Reihenfolge derjenigen wechselnden obersten Beamten der Verwaltung erstellen zu können, nach denen das laufende Jahr benannt wurde. In Saba war die Eponymatsdatierung während der mittelsabäischen Periode vom 1. bis zum 3. Jh. in Gebrauch. In einer Reihe von Aufsätzen, deren letzter 2001 erschien, hat Jacques Ryckmans die in verschiedene Stadien mit Übergangsphasen unterteilte graphische Entwicklung der Minuskelschrift erarbeitet, was die Erstellung einer relativen Chronologie ermöglicht. Danach wäre die obige Inschrift wahrscheinlich in das 2./3. Jh. zu datieren. Die Zeitspanne, aus welcher die Texte aus Holz stammen, reichen wie diejenige der Inschriften auf Stein und Metall vom 10. Jh. v. Chr. bis in das 6. Jh. n. Chr., und der Ursprung der Minuskelschrift ist, wie ihre ältesten Inschriften eindeutig erkennen lassen, in der Monumentalschrift zu suchen. Auch im Alten Ägypten reicht die hieratische Kursivschrift zeitlich bis nahe an die Entstehung der Hieroglyphenschrift heran. Während die jüngste der nach der himjarischen Ära datierte Monumentalinschrift die Jahreszahl 669 (= 554/559 n. Chr.) trägt, weist deren Entsprechung in den Minuskelinschriften, wo die himjarische Ära nur selten verwendet wurde, die Jahreszahl 632 (= 517/522 n. Chr.) auf. Auf dem Markt von S. anʿa¯ʾ, der auch ein Umschlagplatz mehr oder weniger gut gefälschter als auch echter vorislamischer antiker Artefakte ist, sind seit 1985 immer wieder beschriftete Stäbchen aufgetaucht, die aus nicht kon-

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trollierten Grabungen im jemenitischen Dschauf stammen sollen. Ihre Zahl geht mittlerweile in die Tausende. Die im Jemen tätige französische Ölgesellschaft Total und die Indo-Suez-Bank haben 1991 eine größere Anzahl dieser Dokumente erworben, sie der Direktion des Antikenmuseums in S. anʿa¯ʾ überlassen und drei Sabäisten ersucht, sie zu entziffern, zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Bei den drei damit beauftragten Personen handelt es sich um die beiden bereits erwähnten Herren Jacques Ryckmans und Yusuf Abdallah, der damals Präsident der Verwaltung der Antiken, Museen und Handschriften der Republik Jemen war, und um mich. Nach einigen Arbeitstreffen, von denen zwei in Marburg stattfanden, konnten wir 1994 zum ersten Mal eine ausschließlich den neuentdeckten Inschriften gewidmete Publikation unter dem Titel „Textes du Yémen antique inscrits sur bois“ vorlegen. Nach dem Wunsch unserer Auftraggeber wurde das Buch auf Französisch und Arabisch abgefasst; nach einleitenden Abschnitten folgen zunächst zwei Kapitel über die Dokumente in dem neuen Schrifttyp auf Palmblattrippen und Holzstäbchen und über Hinweise auf jene Schrift des vorislamischen Jemen in der früharabischen Überlieferung, sodann Beschreibung, Inhaltsangabe und Übersetzung mit Kommentar der veröffentlichten beschrifteten Stäbchen, die in einem besonderen Teil in farbigen Abbildungen und Faksimiles wiedergegeben und deren Texte in lateinischer und arabischer Schrift transliteriert wurden. Als Beispiel aus der von uns veröffentlichten Sammlung sei die Nr. 14 ausgewählt. Es handelt sich um einen relativ kurzen (am Ende unvollständigen?) vierzeiligen (inzwischen von Peter Stein 2006 teilweise verbesserten) Text, den man Anbahnung eines Vertragsabschlusses überschreiben könnte. Die Übersetzung der Inschrift lautet: „An Asʿad Schas´ʿa¯ n von Ausʿatht. Und was ihn [d.h. den Absender] betrifft, so hat er vor diesem Schreiben an dich geschrieben als Antwort auf das Schreiben, das du geschrieben hattest. Und was ihn (ferner) betrifft, siehe, so hat er dir zwei (Vertrags)ausfertigungen geschickt und beide unterzeichnet. Und wenn sie dir zugesandt worden sind, so unterzeichne sie beide, und schicke ihm [d.h. dem Absender] eine Ausfertigung, und eine verbleibe bei dir. Und was dich anbelangt, so lass deine Untergebenen (dies) beglaubigen, wie du es wünschst. Und bei der dir gegebenen Garantie aus der (Vertrags)ausfertigung des bewässerten Feldes so kannst du die Garantie übertragen, welche rechtskräftig wird (?), sobald du sie beglaubigen lässt. Und Siegellack möge es bekräftigen, denn einem anderen außer dir hat er (die Vertragsausfertigung) nicht zugesandt.“ Das bemerkenswerteste unter den neuen Wörtern in diesem Text ist das aus dem Indischen entlehnte lkm, lakkum, das seit der Antike in zahlreiche orientalische, und später auch in europäische Sprachen übernommen wurde. In dem in die zweite Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. zu datierenden griechischen Seefahrerhandbuch des Periplus Maris Eythraei wird lákkos chro¯mátinos, „farbiger Lack“ – nebenbei bemerkt ein Hapaxlegomenon im Griechischen – unter den

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Produkten aufgeführt, welche aus Indien in die Häfen am Arabischen Golf verschifft wurden. Im Jahre 1987 wurde der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München durch Vermittlung Dritter eine Anzahl beschrifteter Holzstäbchen zum Kauf angeboten. Da die Echtheit der Stücke außer Zweifel stand, habe ich der Bayerischen Staatsbibliothek in meinem Gutachten empfohlen, die mit Minuskelschrift beschriebenen Holzstäbchen zu erwerben und für die weitere Erforschung zur Verfügung zu stellen. Meiner Empfehlung wurde entsprochen, und in der Folgezeit wurden in mehreren Etappen weitere altsüdarabische Holzstäbchen, insgesamt etwa 800, angekauft; für den erworbenen Bestand wurde ein eigenes Fach mit der Signatur Monumenta scripturae sabaicae eingerichtet. Im fraglichen Zeitraum gelangte eine größere Anzahl derartiger Objekte auch in den Besitz des Oosters Instituut der Universität Leiden. In den folgenden Jahren erschien eine Reihe von Aufsätzen, in denen weitere auf Holz geschriebene Texte veröffentlicht wurden, so etwa aus den in S. anʿa¯ʾ verwahrten Beständen Editionen von Yusuf Abdallah und später von Mohammad Maraqten. Aus der Sammlung des Oosters Instituut in Leiden wurden einige Stücke von Jacques Ryckmans vorgelegt, zum Teil in Zusammenarbeit mit A. G. Lundin und anschließend mit A. J. Drewes. Die ersten Minuskelinschriften aus der Bayerischen Staatsbibliothek wurden von Stefan Weninger publiziert, bis Peter Stein mit ihrer Veröffentlichung betraut wurde. Letzterer unternahm auch 2005 einen ersten zusammenhängenden Interpretationsversuch der beiden sabäischen Briefe Ghul A und B. Einen Meilenstein in der Erforschung der neuen epigraphischen Denkmäler stellt das 2010 erschienene zweiteilige Werk von Peter Stein im Umfang von 764 Seiten und 190 Tafeln dar, in welchem 205 altsüdarabische Minuskelschriften aus der Bayerischen Staatsbibliothek (X.BSB 1-205) bearbeitet wurden. Das dritte Buch zu diesem Thema sind die Altsüdarabischen Texte auf Holzstäbchen von Mohammed Maraqten aus dem Jahre 2014, worin 101 Inschriften aus der Sammlung des Nationalmuseums in S. anʿa¯ʾ (ATHS 1-101) veröffentlicht wurden. An der Universität S. anʿa¯ʾ wurde 2013 von A. ʿA. Faqʿas eine Magisterarbeit unter dem arabischen Titel „Inschriften auf Holz in Zabu¯r-Schrift aus der Sammlung des Nationalmuseums in S. anʿa¯ʾ“ eingereicht, die bald in Druck gehen dürfte, und der zweite Band der Minuskelinschriften aus der Bayerischen Staatsbibliothek und die Bestände des Oosters Instituut in Leiden werden hoffentlich in absehbarer Zeit vorliegen, von Einzelpublikationen beschrifteter Holzstäbchen ganz abgesehen. Es sei noch erwähnt, dass auch minäische und hadramitische Minuskelinschriften gefunden wurden, die jedoch gegenüber der Menge der sabäischen Dokumente bisher kaum ins Gewicht fallen.

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Die Erweiterung unserer Kenntnis der Kulturgeschichte des antiken Jemen Soweit es der aus den bisher veröffentlichten Texten auf Holz gewonnene Überblick gestattet, handelt es sich bei dem neuentdeckten epigraphischen Material um persönliche und geschäftliche Korrespondenz, Bittschreiben und Anmahnungen, Empfehlungsschreiben oder sonstige durch Boten überbrachte Mitteilungen, die Einblicke in das Alltagsleben gewähren. In der Mehrzahl sind es Texte, wie etwa privatrechtliche Verträge und Abmachungen jeglicher Art, die man unter der Bezeichnung Dokumente zum Rechtsund Wirtschaftsleben zusammenfassen kann, wie sie uns zu Tausenden und Abertausenden von Papyri aus Ägypten und von Tontafeln aus Mesopotamien bekannt sind. Der Brief ist eine bis dahin unbekannte literarische Gattung in der altsüdarabischen Epigraphik gewesen. An Briefarten unterscheidet man Privatbriefe, amtliche Briefe und Geschäftsbriefe, die meist kürzer gehalten sind als die privaten Schreiben. Ein Brief setzt sich aus den drei Bestandteilen der Einleitung, dem eigentlichen Inhalt des Schreibens und dem Briefschluss zusammen. Die Einleitung besteht aus den Namen des Absenders und des Empfängers sowie aus den Grußformeln, in denen von den Göttern Wohlergehen gewünscht, Segen erfleht und Heil zugesichert wird, ehe mit dem eigentlichen Text der Inhalt des Schreibens mitgeteilt wird. Der Briefschluss und die Abschiedsgrüße sind meist stereotyp gehalten. Die sabäischen Briefe weisen einen eigenen Sprachstil mit standardisierten Sätzen und formelhaften Wendungen auf und stehen mit diesen allgemeinen Merkmalen in der Tradition der altorientalischen Briefliteratur. Das Textkorpus der sabäischen Briefe ist mittlerweile so umfangreich, dass sie innerhalb der altsemitischen Sprachen nach den akkadischen und vor den ugaritischen, hebräischen und aramäischen Briefen die zweitgrößte Gruppe in dieser Literaturgattung bilden. In der Mehrzahl der neuen Texte werden Angelegenheiten aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben behandelt. Sie geben Einblicke in die Verhältnisse der Landwirtschaft mit dem Anbau verschiedener Getreidearten, wie Weizen, Gerste oder Durrasorten, der Viehzucht mit der Haltung der auch heute im Jemen vorkommenden Nutztiere, und sie berichten über Tiermiete und Viehpacht und regeln Einzelheiten im komplizierten ertragssteigernden Bewässerungssystem. Bei manchen Texten handelt es sich um Unterlagen für die Buchführung und Verwaltung, andere enthalten Namenslisten von Personen und Sippen, die vielleicht für zu erbringende Arbeitsleistungen, zu zahlende Steuern oder zu erhebende Abgaben in Naturalien zusammengestellt wurden. Eine Reihe von beschrifteten Holzstäbchen sind Bestellungen, Lieferscheine bzw. Empfangsbestätigungen von Getreide und sonstigen Lebensmitteln, Heilpflanzen, Gewürzen und Aromata. Zahlreiche Namen

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von landwirtschaftlichen Produkten kommen in den neuen Dokumenten zum ersten Mal vor, und einige davon begegnen noch heute in den arabischen Dialekten des Jemen als sabäisches Sprachgut. So werden z.B. in einem Text unter Feldfrüchten bls´ nm, ʿtrm, glglnm, h. mrm und h. lfm aufgezählt. Diese fünf Nomina finden sich auch in den Schriften mittelalterlicher jemenitischer Autoren und in den Wörterbüchern arabischer Lexikographen und leben in Südarabien bis in die Gegenwart weiter, so dass wir sie nicht nur botanisch als Linsen, Erbsen, Sesam, Früchte des Tamarindenbaumes und Samen der Gartenkresse bestimmen können, sondern es ebenso zulässig sein dürfte, das Konsonantengerüst der sabäischen Substantive analog zu den in den jemenitischen Dialekten überlieferten Formen als bilsin, ʿatar, gˇilgˇila¯n, h. umar und h. ilf zu vokalisieren. Die Texte, in denen Lieferungen von Getreide oder Datteln erwähnt werden, nennen häufig auch Hohlmaße, mit denen jene Waren gemessen werden, die jedoch kaum Aussagen über ihre Relation zu heutigen Maßeinheiten ermöglichen. Aus den neuen Schriftzeugnissen erhalten wir auch Kenntnis von der Verwendung diverser Gewichtseinheiten und von den verschiedenen in Umlauf befindlichen Münzen. Wir besitzen bereits zahlreiche Monumentalinschriften juristischen Inhalts, die von einer langen Rechtstradition und einem hoch entwickelten Rechtssystem im antiken Südarabien Zeugnis ablegen. Auch die neuen Texte erweitern unser Wissen über das einstige Rechtswesen im Jemen. Während Gesetze, die das öffentliche Recht betreffen, in Stein gemeißelt wurden, wurden privatrechtliche Vereinbarungen, wie Bürgschaften, Konzessionen, Pachtverträge, Darlehen oder Schuldscheine, auf Holzstäbchen geschrieben. Unter den Schriftdenkmälern befinden sich auch Texte, die zu Schulzwecken und als Vorlagen für Schreibübungen dienten, sowie Alphabete, aus denen sich die festgelegte Reihenfolge der Schriftzeichen ergibt. Im Gegensatz zu den Abgad-Reihen der nordwestsemitischen Sprachen, z.B. des Hebräischen, und der Abgˇad-Reihenfolge bei der Verwendung der Buchstaben als Zahlzeichen im Arabischen wird dadurch die abweichende Sequenz des altsüdarabischen Alphabets mit seinen 29 Schriftzeichen bestätigt. Analog zu unserem Abece nennt man sie nach den vier ersten Buchstaben h, l, h. und m die Halh. am-Reihenfolge, die möglicherweise mit dem bisher unerklärten lateinischen Wort elementum, das ursprünglich die Buchstaben des Alphabets bezeichnet, zusammenzustellen ist. Schließlich leisten die beschrifteten Holzstäbchen einen wesentlichen Beitrag zur Kenntnis der Stellung der Frau in der damaligen Zeit. Frauen sind nicht nur Absender und Empfänger von Briefen, sie treten in Urkunden auch als rechtsfähige Personen auf, die Verfügungsrecht über eigenes Vermögen haben und selbständig wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben. Frauen bekleiden öffentliche Ämter und tragen vom König verliehene Titel; sie verrichten Dienste in Tempeln, vollziehen religiöse Rituale und wallfahren zu Kultstätten, die unter dem Patronat besonders von Frauen verehrter Gott-

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heiten stehen. Die aus dem antiken Südarabien mehrfach bezeugte Institution der Polyandrie erlaubt es einer Frau, gleichzeitig mit zwei oder mehreren Männern verheiratet zu sein. Aus all dem kann geschlossen werden, dass im vorislamischen Jemen die Frau volle Rechtsfähigkeit besaß und Geschäfte verbindlich erledigen konnte und dem Mann gegenüber weitgehend, wenn nicht vollständig gleichgestellt war. Die künftig zu erwartende Veröffentlichung weiterer beschrifteter Holzstäbchen dürfte zweifellos dazu führen, dass durch diese authentischen Zeugnisse zahlreiche Lücken in unserem Wissen über den antiken Jemen geschlossen werden und wir somit ein wesentlich detaillierteres Bild vom wirtschaftlichen und sozialen Leben seiner Bevölkerung erhalten. Den zahlreichen in Musnad-Schrift abgefaßten Originaldokumenten aus dem alten Südarabien treten vermehrt solche in Zabu¯r-Schrift an die Seite, die uns Einblicke in Bereiche gewähren, welche uns bisher verschlossen geblieben waren. Das geflügelte Wort Saxa loquuntur, „Die Steine reden“, welches den Pharsalia (6,618) des römischen Epikers Lucanus entnommen ist, kann für die Sabäer nunmehr in Saxa et ligna loquuntur, „Die Steine und Hölzer reden“, abgewandelt werden.

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Abb. 1  Ausschnitt aus einer altsabäischen Bustrophedon-Inschrift aus dem 7. Jh. v. Chr. Foto: Deutsches Archäologisches Institut

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Abb. 2  Ausschnitt aus einer spätsabäischen Bauinschrift vom Damm von Ma¯rib aus dem Jahre 450 n. Chr., Foto: W. W. Müller

Abb. 3  Nachzeichnung eines 14-zeiligen Briefes in sabäischer Minuskelschrift auf einem Holzstäbchen, Zeichnung: J. Ryckmans

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Abb. 4  Entwicklung der altsüdarabischen Monumentalschrift und Minuskelschrift nach P. Stein, s. Stein 2013

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Lebenswissenschaften

Ansprüche der nichtmedizinischen Hirnforschung. Eine philosophische Kritik1 Peter Janich Die ehrenvolle Einladung des Herrn Dekans zu diesem Festvortrag war mit der Bitte verknüpft, ich möge als Philosoph über die Hirnforschung sprechen. Ich tue also, was des Philosophen ist: ich übe Kritik. Ich übe Kritik natürlich nicht im Sinne der Alltagssprache, wo „kritisieren“ soviel bedeutet wie herummäkeln oder ablehnen, sondern im Sinne des griechischen Verbums krínein, unterscheiden, beurteilen. Schließlich waren ja auch die drei großen „Kritiken“ von Immanuel Kant keine Ablehnungsschriften, sondern Versuche der Klärung und Aufklärung. Ich versuche also, Klärendes und Aufklärendes über die Hirnforschung vorzutragen. Mein Programm einer philosophischer Kritik hat unmittelbare Folgen: Hirnforscher sprechen über Hirne. Ich nicht. Ich spreche über Hirnforscher, genauer, darüber, was sie tun und sagen. Etwas fachlicher ausgedrückt, ich werde mit Mitteln der Wissenschaftstheorie die naturwissenschaftlichen Methoden der Neurophysiologie und mit Mitteln der Sprachphilosophie ihre Begriffsbildungen und Thesen analysieren. Um gleich mit der sprachlichen Seite der Hirnforschung zu beginnen: es empfiehlt sich nicht, angesichts des Reichtums der deutschen Sprache, sich von Anfang an den Beschränkungen anderer Sprachen zu unterwerfen, etwa des (unter Naturwissenschaftlern so beliebten) Englisch, wo es nur ein „mind-body-problem“ als die Frage gibt, wie das Gehirn den Geist hervorbringt; oder des Lateins von Descartes, der ebenfalls nur einen Gegensatz kennt, den zwischen einer res extensa, also der Materie, deren Wirkungen durch ihre Ausdehnung kausal bestimmt sind, und einer res cogitans, bestimmt mit dem Verbum cogitare, denken, das Ihnen vielleicht aus Descartes’ berühmtem cogito, ergo sum (ich denke, also bin ich) bekannt ist. Die res cogitans soll zugleich die anima umfassen, die von Gott gegebene Seele, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Das Deutsche dagegen kennt ein „Körper-Geist-Problem“ und ein „LeibSeele-Problem“, wo es für die Hirnforschung um das Verhältnis unseres Zen1  Der vorliegende Text wurde (gekürzt und frei) als Festvortrag der Medizinischen Fakultät der Universität Mannheim am 5. November 2014 in der Alten Aula der Universität Heidelberg gehalten. Die Vortragsform wurde hier beibehalten. Erstveröffentlichung.

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tralorgans zu typischen Äußerungen und Leistungen von Menschen geht – und das ist ein wahrlich wichtiger Unterschied. Körper und Leib sind leicht am Kriterium der Teilbarkeit zu unterscheiden. Teilt man einen Körper, zum Beispiel einen Stein oder ein Stück Holz, erhält man als Teile wieder Körper, also Steine oder Holzstücke. Teilt man dagegen einen Leib, etwa ein Tier, so sind die Teile nicht wieder Leiber, nicht wieder Tiere. Ein Leib ist etwas lebendiges und unteilbares, lateinisch, ein Individuum, dessen Teile abgetrennt nicht lebensfähig sind. Für diese Unterscheidung muss man sich nicht auf die antike Vorstellung einer scala naturae, einer Leiter des Natürlichen einlassen, wonach die natürlichen Dinge grob eingeteilt werden in Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen. Modern unterscheiden wir vielmehr Körper und Leib durch die verschiedenen naturwissenschaftlichen Methoden, denen sie sinnvoll unterworfen werden. Wo nur Physik und Chemie zuständig sind, sprechen wir von Körper, häufiger von materiellen Systemen. Aber wir wissen schon im Alltag, dass man auch Menschen höchst sinnvoll wie einen Stein, das heißt als Körper behandeln kann, indem man Gewicht und Temperatur misst oder die chemische Zusammensetzung (etwa in Form eines Blutbildes) ermittelt. Man kann also durch Methodenwahl Lebewesen als Körper betrachten. Bei Pflanzen kommen im Unterschied zu den Steinen Stoffwechsel, Fortpflanzung, Altern, Geburt und Tod, Entstehen und Vergehen ins Spiel. Sie bedürfen bestimmter biologischer und biochemischer Methoden. Tiere schließlich sind selbstbeweglich, haben also nicht nur Skelett und Muskulatur, sondern auch Sinnesorgane und Nervensysteme, deren Erforschung wieder andere Methoden erfordert. Und der Mensch unterscheidet sich, ungeachtet seiner evolutionsbiologischen Abstammung, noch einmal vom Tier u. a. dadurch, dass er sich mit Sprache gegenseitig verantwortlich macht für sein Handeln und Sprechen. Und er hat, anders als Tiere, mit seiner persönlichen Lerngeschichte einen indiviuellen Ort in der Geschichte seiner Gemeinschaft. Auch die Begriffe Geist und Seele bedeuten uns schon in der Alltagssprache Verschiedenes und sind im Deutschen kaum unter einen Oberbegriff zusammen zu fassen, der dem englischen mind entspräche. Wenn wir von einer Person sagen, sie sei besonders intelligent, habe einen klaren Verstand, könne mathematische Probleme brillant lösen oder verfüge über das glänzende Gedächtnis, das den Pharmazeuten wie den Historikern so gute Dienste tut, dann sprechen wir wohl vom Geist dieser Person. Wenn wir dagegen von einer Person etwa sagen, sie sei großzügig, solidarisch, sensibel, empathisch, habe ein ausgeglichenes oder ein cholerisches Temperament, einen geradlinigen oder einen schlechten Charakter, dann sprechen wir wohl von der Seele einer Person. Ich möchte hier nicht der Versuchung erliegen, die gefährlichen Substantiva Geist und Seele zu definieren; Substantiva, zu Deutsch, Dingwörter, suggerieren immer, dass da von einer Substanz oder einem Ding die Rede

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sei. Stattdessen stütze ich mich auf die Einsicht von Sprachphilosophen, dass Verben, vor allem für menschliche Handlungen, die wir selbst ausführen können, sowie Adjektiva, in denen wir Aspekte unseres Handelns näher bestimmen, viel leichter und vor allem lebensnah an Beispielen und Gegenbeispielen festzulegen sind. Deshalb geht es mir, anstelle der Dingwörter, der Substantiva „Geist“ und „Seele“ nur um die Adjektiva „geistig“ und „seelisch“ für geistige und seelische Leistungen des Menschen. Auch für diese beiden Wörter beanspruche ich keine erschöpfende Definition, sondern ich stütze mich auf die wohl unkontroverse Einschätzung, die wichtigsten geistigen Leistungen des Menschen seien die kognitiven, also die Wahrnehmungs-, Denk- und Erkenntnisleistungen; und die wichtigsten seelischen Leistungen des Menschen seien emotiv, wörtlich also (uns selbst) „bewegend“, nämlich zum Handeln bewegend. Kognitive Leistungen nenne ich solche, deren Ergebnisse am Ende nach wahr und falsch beurteilt werden können. Emotive Leistungen sind solche, die am Ende auf tun und lassen, also auf den Vollzug einer Handlung oder auf das Unterlassen einer Handlung hinauslaufen. Viel ist öffentlich zu lesen und zu hören, welche Fortschritte die kognitive Neurowissenschaft macht, also welche Beiträge sie unter der Überschrift „Körper-Geist-Verhältnis“ leistet. Bekanntlich gibt es aber auch seit Jahren eine wilde öffentliche Diskussion, ob wir selbst es sind, die über unser Handeln entscheiden. Oder ob dies eine Illusion sei, weil immer schon unser Hirn für uns entschieden hätte, auch wenn wir uns selbst als Urheber unserer Handlungen empfinden. Das Stichwort für diese Diskussion ist „Willensfreiheit“, und die These einiger Hirnforscher besagt, dass die Willensfreiheit experimentell durch die Hirnforschung widerlegt sei.2 Damit liegen für die Hirnforschung zwei Probleme auf dem Tisch. Fragt man so plakativ wie beliebte Titel auflagenstarker Bücher oder viel diskutierter Zeitungsartikel, dann lauten die beiden Fragen: wie kommt der Geist in die Materie, und wie kommt die Seele in den Leib – hinein oder heraus, je nachdem? Übersetzt in das naturwissenschaftliche Methodenverständnis der Neurowissenschaften heißt das: Sind kognitive Leistungen Kausalwirkungen eines neuronalen Geschehens, und wie können sie experimentell nachgewiesen werden? Und die zweite Frage: Legt das menschliche Zentralorgan Hirn unser Handeln kausal fest? Und dann wieder, ist dieses Ursache-WirkungsVerhältnis entgegen unserer Selbstwahrnehmung experimentell nachweisbar? Damit ist die Hauptgliederung meines Vortrags vorgezeichnet. Im ersten Teil erläutere ich, warum die Neurowissenschaften das Körper-Geist-Problem missverstehen und wie es dennoch durchaus zu lösen ist. Im zweiten   vgl. Singer (2003); Singer (2004) 30–65; Geyer (Hrsg.) 2004; Janich (2009)

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Teil geht es mir darum, warum die Neurowissenschaften (etwa unter dem diffusen Schlagwort Willensfreiheit) das Leib-Seele-Problem missverstehen, und warum ihnen dabei zwei schwere Fehler, ein Kategorienfehler und ein anthropologischer Fehler, unterlaufen sind.

1.  Das Körper-Geist-Problem in der Hirnforschung Wo die Neurowissenschaftler das Hirn ausschließlich als materielles System betrachten, indem sie bestimmte physikalische und chemische Verfahren anwenden, um Struktur und Funktion des Hirns physiologisch zu beschreiben, wird durchaus verständlich, das Hirn als Maschine zu bezeichnen. Philosophisch ist einzuwenden, dass ja das Wort Maschine etwas Künstliches, Technisches bedeutet. Es ist vom griechischen mechanáomai abgeleitet – das Wort bedeutet ich ersinne eine List – nämlich zur Überlistung der Natur, etwa in der Theatermaschine, welche den menschlichen Zeusdarsteller als „deus ex machina“ auf die Bühne herniederschweben lässt. Wir können aber dieses philosophische Bedenken, dass eine Maschine dem Wortsinn nach von Menschen hergestellt wird, beiseitelassen. Für das Körper-Geist-Problem dürfen wir das Hirn als Körper und damit prinzipiell als gleich ansehen wie kognitive Maschinen, etwa Rechenmaschinen. Denn es gibt ja nichts einzuwenden dagegen, dass die Hirnforschung technische Modelle oder Simulationen für das Hirn und seine Teile sucht, um funktionale Erklärungen für Kausalwirkungen zu geben. Sie alle, meine Damen und Herren, kennen, ja besitzen wahrscheinlich sogar kognitive Maschinen, etwa in Form eines Taschen- oder Tischrechners. Unsere Kernfrage dafür lautet dann: wie kommt es, dass das materielle System Rechenmaschine rechnen kann, also richtige Rechenergebnisse erbringt? Denn niemand ist an einem Rechner interessiert, der beliebige, also richtige und falsche Ergebnisse in beliebiger Mischung produziert. Populär gefragt: woher weiß die Rechenmaschine, welche Ergebnisse wahr sind? Wieder in die methodologische Sprache übersetzt: kann die Wahrheit der Rechenergebnisse eine kausale Wirkung aus den Ursachen der Rechner-Physik sein? Denn dass die Physik die zuständige Wissenschaft für das materielle System Rechenmaschine ist, sollte ja nicht strittig sein. Meine ganz persönliche philosophische Zutat zu dieser Problemstellung liegt darin, dass es bei kognitiven Maschinen, die uns das Denken, hier spezieller das Rechnen abnehmen sollen, entscheidend auf diese wahr-falschUnterscheidung ankommt. Dazu ein kleines Gedankenexperiment: wir tippen eine einfache Rechenaufgabe in den Rechner ein, nämlich: 8 × 111 = ? Um zu verstehen, was genau das Ergebnis 888 als Leistung unserer Maschine auszeichnet, unterstelle ich jetzt, dass ein Defekt auftritt und die Funktion

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der Rechenmaschine „stört“. Die „Funktion“, wörtlich aus dem Lateinischen, der „Beruf“ der Rechenmaschine ist dadurch zu definieren, dass sie uns richtige Ergebnisse liefert – sofern sie nur „ungestört funktioniert“. Angenommen, im Display unseres Rechners sei an der Zehnerstelle, also an der zweiten Stelle von rechts, der waagerechte Mittelstrich ausgefallen. Wir sind ja den ganzen Tag von Ziffern umgeben, die aus waagerechten und senkrechten Strichen zusammengesetzt sind, bei Uhren, Thermometern, an der Tanksäule oder eben an Rechenmaschinen. Fällt der mittlere Querstrich bei der Ziffer 8 aus, so lesen wir 0. Ich nehme also an, unser defekter Rechner zeige für unsere Aufgabe 8 × 111 das falsche Ergebnis 808. Ist mit diesem Rechenfehler die Kausalität der Rechnerphysik verletzt? Die naturwissenschaftliche Hypothese, die analog auch von Hirnforschern angenommen wird, lautet: Aufgrund der geltenden physikalischen Gesetze, nach denen die Rechenmaschine gebaut ist, gelten auch die Rechenresultate. Die Wahrheit des Rechenergebnisses sei eine kausale Wirkung der physikalischen Gesetze, die in der Maschine angewandt sind. Analog verursache in der Hirnforschung die Geltung der physiologischen Gesetze für das neuronale Geschehen die Erkenntnisleistungen des Menschen. Kurz, aus der Geltung von Naturgesetzen kognitiver Maschinen soll die Geltung (oder Wahrheit) der Kognitionsergebnisse folgen. Im Umkehrschluss muss aus unserem falschen Rechenresultat folgen, dass auch die unterstellten physikalischen Gesetze falsch sind. Glücklicherweise schließt sich diesem – logisch korrekten – Umkehrschluss niemand an. Vielmehr wird jeder halbwegs vernünftige Mensch sagen, der Rechner habe eben einen Defekt, was sich gerade am falschen Rechenergebnis erkennen ließe. Und mehr noch: gerade der Defekt lasse sich selbst mit Naturgesetzen kausal erklären und deshalb auch technisch beheben. Defekte an Maschinen und Irrtümer in ihren Ergebnissen sind also kein Widerspruch zur Geltung von Naturgesetzen. Sie verletzen vielmehr die Zwecksetzungen von Menschen, welche Rechenmaschinen konstruieren, herstellen und verwenden. Also haben wir es bei unseren kognitiven Maschinen nicht nur mit Ursache und Wirkung der Rechnerphysik zu tun, sondern auch mit Mittel und Zweck – also mit der Zielstrebigkeit von Menschen, welche die kognitiven Maschinen erzeugen und benützen. Der Zweck der richtigen Rechenergebnisse verlangt nach den richtigen physikalischen Mitteln der Rechnertechnik. Das hat Folgen für die Hirnforschung. Wie wir alle wissen, kann der Mensch nicht nur erkennen, sondern auch irren. Wir haben aber keine zwei Hirne, eines für Erkenntnisse und eines für Irrtümer, sondern wir erkennen und irren mit demselben Hirn. Deshalb kann das spezifisch Kognitive am Erkennen, nämlich die Geltung des Erkannten, keine Kausalwirkung der Komponenten eines Rechners oder eines Hirns sein. Die Natur, auch die unseres Hirns, schert sich nicht um wahr oder falsch. Natürliche Pro-

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zesse laufen ab, wie sie eben von Natur aus ablaufen, unabhängig, ob dies zu Erkennen oder Irren führt. Das hätten die Hirnforscher auch aus 2000 Jahren Philosophie lernen können. Wahr und falsch hängt immer von intersubjektiven, normativen Kriterien ab. Für bestimmte Kriterien (wie hier exemplarisch diejenigen für unsere mathematischen der Geltung von Rechenergebnissen) gibt es kaum Kontroversen. Aber sobald man Logik und Mathematik verlässt und sich auf die Vielfalt der Welt einlässt, der natürlichen wie der kultürlichen, werden Geltungskriterien historisch wandelbar. Sie sind Teil einer Kulturgeschichte, wie sie uns etwa in der Geschichte der Standards von Astronomie, Physik und Biologie begegnen. Aber auch ein moderner Alltagsverstand unterscheidet sich wesentlich von einem mittelalterlichen oder antiken. Zwar ist völlig unstrittig, dass die menschlichen Kognitionsleistungen des Wahrnehmens, Denkens und Rechnens nicht ohne Beteiligung des Hirns erbracht werden können. Gezeigt habe ich aber doch, dass diese Trägerschaft des Hirns nicht zur Erklärung geistiger Leistungen ausreicht. Es bedarf zusätzlich einer menschgemachten, an Sprache gebundenen Unterscheidungspraxis von gültig und ungültig, von wahr und falsch, um überhaupt Ergebnisse eines Geschehens in Rechenmaschinen und Hirnen als kognitive Leistungen bezeichnen zu können. Deshalb wende ich mich einem zweiten, bis jetzt noch übergangenen Aspekt des Kognitiven zu: es geht nicht nur um Geltung, sondern auch um Bedeutung im sprachlichen Sinne. Stimmt man nämlich der Prämisse zu, dass nur wahr sein kann, was auch falsch sein kann, so muss jedes kognitive Ergebnis sprachlich formuliert sein und als solches stets auch erst einmal verstanden werden, um sich auf wahr und falsch hin beurteilen zu lassen. Das gilt sogar für nicht-sprachliche Inhalte etwa der Wahrnehmung. Ein Jogger, der durch den Wald läuft, sich irrt und gegen einen Baum rennt, muss die Feststellung, er habe sich geirrt, aussprechen, sonst können die Wörter wahr und falsch nicht angewendet werden. Die Unterscheidung von Erkenntnis und Irrtum und damit von wahr und falsch ist an die Beurteilung von Behauptungen gebunden, von Aussagen, wie die Logiker sagen. In der Tat gilt es als eine der großen Herausforderungen der Hirnforschung, das Sprachverstehen und die Sprachproduktion als Hirnleistung kausal zu erklären. Können wir auch für dieses Problem Einsichten gewinnen, wenn wir nach der ungestörten Funktion nun von Bedeutungsmaschinen fragen, analog zur ungestörten Funktion von Geltungsmaschinen wie dem Taschenrechner? In der Tat nämlich ist unser tägliches, technisch-zivilisiertes Leben nicht nur durchsetzt, sondern geradezu abhängig von Bedeutungsmaschinen, die uns Informationen in Sprachform transportieren, transformieren und speichern. Ich spreche von Alltagsgegenständen wie dem Telefon, dem Grammofon und dem Mikrofon (besonders etwa dem Mikrofon, das unsere gespro-

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chenen Worte per Diktiersystem in die Schrift auf dem Bildschirm unseres Computers übersetzt oder als Befehle befolgt, die wir an ein Smartphone oder an das Navigations-Gerät in unserem Auto geben). Wieder zum Zweck der Klarheit besonders zugespitzt: verstehen uns unsere Telefone oder Mikrofone? Und wollen unsere Speicher für sprachliche Mitteilungen, etwa unsere Anrufbeantworter, von uns verstanden werden? Kurz, sind unsere technisch effizienten, sehr gut funktionierenden Bedeutungsmaschinen ein Beleg dafür, dass die in ihnen wirkenden physikalischen Gesetze die kognitive Leistung des Verstehens kausal erklären? Was dann auf die menschliche Hirnmaschine zu übertragen wäre? Hilfsweise greife ich zu demselben Trick wie beim Taschenrechner: ich fingiere eine Störung bei einem sonst ungestörten, gut funktionierenden Gerät. Sie alle benützen oder kennen doch zumindest Kopiergeräte. Wenn Sie damit einen Brief kopieren, haben Wörter und Sätze der Kopie dieselbe Bedeutung wie im Original. Zwar würde niemand behaupten, dass dafür der Kopierer die Bedeutung des Briefes verstehen muss. Es genügt, wenn Original und Kopie deckungsgleich sind. Dennoch müssen wir als Kriterium für das gewünschte störungsfreie Funktionieren gerade die Bedeutungsgleichheit beim Kopieren ansehen, auch wenn die Kopie schlechter ist als das Original, also gewisse Störungen aufweist. Das soll folgendes kleine Gedankenexperiment zeigen: Lassen Sie uns künstlich ein paar Störungen unseres Kopierers verursachen. Wenn Sie an Ihrem Schreibtisch einen Locher benützen, produzieren sie nebenbei weißes Konfetti. Davon streuen wir einige Schnipsel auf die Glasplatte unseres Kopierers. Wenn wir ein Muster ohne sprachliche Bedeutung kopieren, etwa das Profil eines neu designten Winterreifens in Form eines schwarzen Reifenabdrucks auf einem weißen Blatt Papier, dann können ja wohl auch Störungen kaum eine Bedeutung verändern. Die Störstellen durch unser Konfetti werden als weiße Punkte im schwarzen Reifenprofil sichtbar. Da die Vorlage aber selbst keine sprachliche Bedeutung hat, können auch die Störungen des Kopierprozesses keine Wirkung auf irgendeine Bedeutung entfalten. Anders liegen die Verhältnisse, wenn das Original ein Schriftstück mit Bedeutung ist, etwa ein handschriftlicher Brief, gar ein handschriftliches Testament. Dann stellt sich die Frage, ob Störungen die Bedeutung verändern oder nicht. Angenommen, ein reicher Mann ohne Kinder habe eine Nichte und einen Neffen. Nun schreibt er per Hand an seinen Notar einen Brief mit seinem letzten Willen, in dem er Nichte und Neffen namentlich nennt und dann den Satz hinzufügt: „Ich vermache ihm mein ganzes Vermögen“. Nun möge ein Konfettistückchen gerade so liegen, dass ein Teil des Buchstabens „m“ im Wort „ihm“ teilweise abgedeckt wird, so dass daraus in der Kopie ein „r“ geworden ist. In der Kopie heißt es nun wörtlich: „Ich vermache ihr mein ganzes Vermögen“ – eine wahrhaft bedeutungsvolle Störung der Funktion des Kopierers!

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Vielleicht denken Sie jetzt, welch sonderbare Gedankenexperimente doch der Philosoph da erfindet. Weit gefehlt! In Wahrheit haben wir es hier, wie etwa Theologen, Historiker und Philologen sofort sehen, mit einem großen historischen Problem zu tun. Vor Erfindung des Buchdrucks mussten wichtige Texte per Hand abgeschrieben, „kopiert“ werden. In mittelalterlichen Klöstern gab es dafür eigene Kopisten-Mönche. Sie schrieben vornehmlich Urkunden und heilige Texte, etwa aus der Bibel, in Latein oder Griechisch ab – zwei verschiedene Schriften, zwei verschiedene Sprachen – häufig ohne des Lateins oder Griechischen mächtig zu sein. Sie kannten nur die Buchstaben und konnten sie nachmalen. Dabei kam es zu Fehlern, zu Auslassungen oder Verdopplungen von Buchstaben, Wörtern oder gar ganzen Zeilen. Historiker und Theologen wissen ein Lied davon zu singen. Die entscheidende Frage dabei ist natürlich, ob solche Kopierfehler die Bedeutung des Textes verändern oder nicht. Einen technischen Fehler wie bei unserem experimentell gestörten Kopierer, wie er den weißen Punkten in unserem Reifenprofil entspricht, kann auch bei Texten jeder feststellen, der Original und Abschrift Buchstabe für Buchstabe vergleicht. Dazu muss man die Sprache und den betreffenden Text nicht verstehen. Ob aber Kopierfehler die Bedeutung der Wörter und Sätze des Originals verändern oder nicht, kann nur der kompetente Sprecher und Leser der jeweiligen Sprache beurteilen. Ich sagte es schon: Wir sind in unserem technischen Alltag nicht nur von Geltungs-, sondern auch von Bedeutungsmaschinen umgeben, von Telefonen, Grammofonen, Mikrofonen, kurz, von allen Geräten, die dem Transport, der Speicherung oder Verarbeitung von sprachlichen Nachrichten dienen. Dafür lässt sich, was ich hier aus Zeitgründen abkürze, ein streng analoges Argument vortragen: das Verstehen einer sprachlichen Mitteilung kann keine kausale Wirkung von Physik und Technik unserer Geräte sein. Denn niemand schließt von einer Störung bei Transport, Speicherung und Verarbeitung von Bedeutungen auf die Falschheit der physikalischen Gesetze, nach denen die jeweilige Maschine gebaut ist. Es liegt vielmehr auch hier nur ein Verfehlen von menschlichen Zwecken vor. Und analog auch beim Hirn – auch wenn es „ohne Hirn“ nicht geht. Das gesunde Hirn ist für beides zuständig, für Verstehen und Missverstehen, so dass der Unterschied zwischen beiden keine Kausalwirkung sein kann. Bei der Geltungsmaschine, dem Rechner, musste der Konstrukteur schon rechnen können. Auch Sie, meine Damen und Herren, mussten, um mein Beispiel 8 × 111 = 808 für einen gestörten Rechner zu verstehen, schon wissen, dass das richtige Ergebnis 888 lautet. Kurz, die Ungestörtheit unserer Geltungs- wie unserer Bedeutungsmaschinen, die menschliche Kognitionsleistungen leistungsgleich ersetzen sollen – das ist ja ihr Zweck –, nimmt Bezug auf das erlernte menschliche Vermögen, wahr und falsch bzw. verstehen und missverstehen zu unterscheiden.

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Wir verstehen und missverstehen mit demselben Hirn, selbstverständlich ganz sicher nicht ohne Hirn, aber eben auch nicht erklärbar allein aus der Funktion des Hirns. Denn das Verstehen und Missverstehen ist eine zwischenmenschliche Angelegenheit, das die Kausalwirkung eines einzelnen Organs bei weitem übersteigt. Die Grenzen der kognitiven Maschinen einschließlich unseres Hirns liegen also genau dort, wo etwas nur in die Welt kommt dadurch, dass Menschen kooperieren und kommunizieren. Auch das hätte die Hirnforschung schon längst aus philosophischen Handlungstheorien lernen können, wie ich nun kurz erläutere. In der Terminologie meiner eigenen handlungstheoretischen Arbeiten3 unterscheide ich Beteiligungshandlungen, Gemeinschaftshandlungen und Individualhandlungen. Die ersten sind solche, die nur bei Beteiligung eines anderen Menschen überhaupt vollzogen werden und gelingen können, vom Erfolg noch gar nicht zu sprechen. Denken Sie etwa an einen Wettlauf. Laufen Sie einmal alleine wett! Gleichgültig, wer von den beiden Läufern den Wettlauf gewinnt und in diesem Sinne Erfolg hat, der Wettlauf findet nur statt, wenn zwei Personen jeweils eine auf den Anderen gerichtete Absicht verfolgen. Beteiligungshandlungen können also nur vollzogen werden, wenn sich eine andere Person daran beteiligt. Gemeinschaftshandlungen dagegen sind solche, die nur bei Beteiligung anderer Personen Erfolg haben, das heißt, ihren Zweck erreichen können. Ein Sieg in einem Fußballspiel ist ein klassisches Beispiel für eine erfolgreiche Gemeinschaftshandlung. Und nur wenige Handlungen können uns gelingen und erfolgreich sein, ohne dass andere Menschen mitwirken. Sie mögen Individualhandlungen heißen. Doch ich fürchte, nicht einmal sie lassen sich als isolierte Hirnleistung eines einzelnen Individuums erklären, nämlich wegen der dafür erforderlichen Lerngeschichte jedes Menschen. Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich am Ablauf eines menschlichen Lebens mit seinen gewaltigen Lerngeschichten klarzumachen, dass wir Menschen nur unter Menschen zu Menschen werden. Wir sind in unserer Biografie unvermeidlich auf Beteiligungs- und Gemeinschaftshandlungen angewiesen, in allen Altersstufen unseres Lebens. Deshalb hat ja Aristoteles treffend den Menschen nicht nur dadurch bestimmt, dass der Mensch das Lebewesen sei, das logos hat, das heißt, das sprechen, schreiben und lesen, denken und rechnen kann. Er hat gleichberechtigt daneben die Bestimmung gesetzt, dass der Mensch das zoon politikon, ein Gemeinschaftswesen sei. Wenn er in seiner Naturvorlesung hinzufügt, „der Mensch zeugt den Menschen“, wollte er uns keine biologische Trivialität mitteilen. Vielmehr heißt der Satz: der   Janich (2001); Janich (2014)

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Mensch wird zum Menschen nur durch den Menschen, durch eine Lerngeschichte in der menschlichen Gemeinschaft mit Anderen, die Sprache und Vernunft haben. Und diese gemeinschaftliche Praxis, die den menschlichen im Unterschied zum tierischen Hirnträger ausmacht, besteht zum allergrößten Teil aus Beteiligungs- und Gemeinschaftshandlungen. Sprachliche Kommunikation und die mit ihr organisierte Kooperation bestehen aus nichts Anderem. Diese Gemeinschaftsleistungen sind, wie an den kognitiven Leistungen von Bedeutung und Geltung gezeigt, nicht als Kausalwirkungen eines einzelnen, individuellen Organismus oder gar Organs zu fassen. Sie entstehen, wenn auch sicher nicht ohne Beteiligung von Hirnen, nur in und aus der Kooperation handelnder Menschen. Wie sieht aber die Lösung des Körper-Geist-Problems für die Hirnforschung aus, wenn der Geist keine Kausalwirkung der physikalischen oder physiologischen Funktion von Maschinen oder Hirnen ist? Eine Lösung zeigt sich uns durchaus wieder an den kognitiven Maschinen, sowohl den Geltungs- wie den Bedeutungsmaschinen (und der entsprechenden Beschreibungen des Hirns). Ihre Konstruktion, ihr Aufbau aus Komponenten ist ein treffliches Mittel, ihre Zwecke und Ziele, also ihre „Funktion“ zu erreichen. Unsere Taschenrechner, Kopiergeräte, Telefone und Anrufbeantworter sind von Menschen genau so konstruiert, dass sie ihren Zweck erfüllen, sofern sie ungestört sind. Man könnte auch sagen, ihre Funktion ist durch die Freiheit von spezifischen Störungen bestimmt – nämlich relativ zu den Zwecken, für die sie geschaffen sind. Also muss die kognitive Hirnforschung ebenfalls Abschied nehmen vom Programm, mit experimentell kontrollierten Kausalhypothesen kognitive Leistungen in den Aspekten von Bedeutung und Geltung erklären zu wollen. Ursache-Wirkungs-Verhältnisse taugen nur zur Erklärung von Störungen, von Ausfällen und Krankheiten. Aber die Definition der Störungen und damit der Ungestörtheit bleibt immer von zwischenmenschlich etablierten Zielen und Zwecken abhängig – die ihrerseits eine kulturgeschichtliche Hervorbringung menschlicher Individuen in der Gemeinschaft sind. Wo sie „naturalisiert“ werden sollen, also zum Gegenstand ausschließlich naturwissenschaftlicher Methoden gemacht werden, kommt es zu Missverständnissen und Misserfolgen der Forschung.

2.  Das Leib-Seele-Problem in der Hirnforschung Als wichtigste seelische Leistungen des Menschen hatte ich eingangs die emotiven genannt, wörtlich, die „herausbewegenden“ oder „hervorbringenden“. Es geht dabei letztlich immer um unsere Entscheidungen, etwas zu tun oder nicht zu tun.

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Hier möchte ich nun ganz anders vorgehen als bei den Körper-Geist-Problemen und setze bei Äußerungen von Hirnforschern selbst an. Doch hier teilen sich deren Wege auf eine geradezu dramatische Weise. Beim KörperGeist-Problem habe ich mich wohl keiner unzulässigen Verallgemeinerung schuldig gemacht, wenn ich einfach von „der“ Hirnforschung gesprochen habe. Doch beim Leib-Seele-Problem ist dies unzulässig. Ich nenne (in grober Einteilung) die zwei verschiedenen Wege der Neurowissenschaften den medizinischen und den weltanschaulichen. Viele Forscher orientieren sich am medizinischen Pragmatismus. Sie suchen nach genauen Beschreibungen und Ursachen für Krankheiten des Leibes, des Geistes und der Seele. Man könnte – ganz unüblich unter Medizinern – mit dieser einfachen Einteilung sagen, es geht bei neuronalen Krankheiten des Leibes etwa um Parkinson, des Geistes etwa um Alzheimer und der Seele etwa um Schizophrenie. Gerade die Mannheimer medizinische Fakultät, deren Jubiläum wir heute feiern, ist besonders forschungsstark auf diesem Gebiet. Ihr kann man nur, wie der gesamten medizinisch dominierten Hirnforschung, große und baldige Fortschritte für Prophylaxe und Therapie von Krankheiten des Nervensystems und des Hirns wünschen. Über diesen Weg der Hirnforschung spreche ich im Folgenden nicht. Andere Hirnforscher beschreiten den Weg eines weltanschaulichen Programms, genauer eines Naturalismus, der die Geistes- und Kulturwissenschaften ebenso wie die Philosophie durch Naturwissenschaft ersetzen will. Sie sind es, welche die Lösung von Welträtseln versprechen, das Leib-SeeleProblem zum Scheinproblem der Geisteswissenschaften erklären und die öffentliche Diskussion bestimmen. Die bekanntesten deutschen Protagonisten sind wohl Gerhard Roth und Wolf Singer. Sie haben vielleicht in einer Artikelserie in der FAZ, in Wissenschaftsjournalen im Fernsehen oder wo auch immer die Debatte um die Willensfreiheit verfolgt. Aber ich möchte nicht den Begriffssumpf betreten, der mit der Rede von Willensfreiheit zusammenhängt, nicht nur aus Zeitgründen. Denn eine Diskussion der Willensfreiheit ist nicht erforderlich, um hier zu Klärung und Aufklärung zu kommen. Der renommierte Hirnforscher Wolf Singer, früher Direktor des MaxPlanck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, wird seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht müde, das gespannte, ja problematische Verhältnis zwischen Selbsterfahrung und naturwissenschaftlicher Fremdbeschreibung zu betonen.4 Während wir, so Singer, uns selbst so beschreiben, dass wir die Urheber unserer eigenen Handlungen sind, müssen experimentelle Resultate der Beobachtung neuronalen Geschehens, vor allem mit bildgebenden Verfahren, anders interpretiert werden. Bevor wir sichtbar handeln, und sei es nur, im Labor der Hirnforscher einen Knopf drücken, ist im Hirn bereits ein   Singer (2006) 129–150

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so genanntes „Bereitschaftspotenzial“ nachweisbar, das dieser Körperbewegung vorausgeht und sie steuert. Dies sei nur ein prototypisches Beispiel für alle unsere Entscheidungen. Deshalb sei unsere Selbsterfahrung eine Illusion. Unsere Selbstbeschreibung sei jedenfalls unverträglich mit der Fremdbeschreibung, die der Neurowissenschaftler vom selben Geschehen gibt. Ich kann hier aus Zeitgründen nicht näher darauf eingehen, dass der renommierte Neurobiologe Hans Helmut Kornhuber, der das Bereitschaftspotenzial allererst entdeckt und nachgewiesen hat, vehement bestreitet, es sei experimentell gezeigt, dass ein Bereitschaftspotenzial für eine Körperbewegung dem Beschluss oder Willen einer Person vorausgehe, diese Bewegung auszuführen5. Ich konnte – Kornhuber, Jahrgang 1928, ist inzwischen leider verstorben – noch ausführlich mit ihm darüber sprechen, stimme seiner innerfachlichen Kritik zu und schätze seinem beachtlichen Ansatz zum Willensbegriff, den er zusammen mit dem Wiener Neurologen Lüder Deeke unter dem Titel „Wille und Gehirn“ als Taschenbuch publiziert hat. Sie sollten nur wissen, dass die naturwissenschaftlichen Grundlagen für die Thesen von Singer und Roth unter Fachleuten selbst heftig umstritten sind. Doch zurück zu Wolf Singer, einem der Protagonisten des neurowissenschaftlichen Umsturzes in unserem Menschenbild. Singer greift dabei eine Einsicht aus der analytischen Sprachphilosophie auf und charakterisiert die beiden konfligierenden Beschreibungen als die Perspektiven der ersten und der dritten Person. Die Selbstbeschreibungen von Menschen erfolge in der ersten, die Fremdbeschreibung durch Neurobiologen in der dritten Person. Und da nur letztere nach den Kriterien naturwissenschaftlicher Experimentalforschung arbeite und damit den Bedingungen der Wissenschaftlichkeit genüge, müsse die Selbstbeschreibung als falsch, als Ausdruck einer bloßen Illusion betrachtet werden. Da ist dann auch ein Zitat des genialen Selbstvermarktungseinfalls von Sigmund Freud nicht fern. Der Mensch erfahre Kränkungen durch die Wissenschaft. Kopernikus habe, die erste große Kränkung der Neuzeit, den Menschen aus der Mitte des Weltalls verbannt, Darwin habe zweitens den Menschen die Illusion geraubt, die Krone der Schöpfung zu sein, und Freud selbst habe drittens gezeigt, dass der Mensch nicht Herr im Hause seiner Triebe und Gefühle sei. Und nun kommen die Hirnforscher und würden uns, nun zum vierten Mal, kränken, nicht nur, weil das Neuron eines Menschen im Wesentlichen gleich dem Neuron einer Nacktschnecke sei, sondern weil unsere großen geistigen und seelischen Leistungen in Wahrheit nur einer irrigen Selbstwahrnehmung geschuldet seien. Naturwissenschaftlich gesehen entscheide nämlich unser Hirn für uns. Hier haben sich in die Hirnforschung wenigstens bei den Experten, die dem Menschen ihre Handlungsurheberschaft streitig machen, große Missver  Kornhuber 2007

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ständnisse eingeschlichen, nämlich ein Kategorienfehler und ein anthropologischer Fehler. Nun ist die These von Kategorienfehlern im Versuch, geistige und seelische Leistungen des Menschen aus der Funktion seines Nervensystems und seines Hirns kausal erklären zu wollen, ist nicht neu. Ein prominenter, klassischer Text, nämlich das Buch „The concept of mind“ von Gilbert Ryle (1949) (in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Begriff des Geistes“ 1969 erschienen) spricht ebenso davon wie Aufsätze von Jürgen Habermas und von dem kürzlich verstorbenen, ehemaligen Bundesrichter Winfried Hassemer, beide in der FAZ6. Leider versäumen alle drei Autoren, den Begriff des Kategorienfehlers zu erklären oder gar so zu bestimmen, dass daraus ersichtlich wird, worin denn genau ein Kategorienfehler bestehe, oder wenigstens, warum er denn unbedingt vermieden werden müsse. Was also ist schlimm an Kategorienfehlern? Das, meine Damen und Herren, möchte ich jetzt zu dieser Debatte nachtragen. Soviel dürfte schon von Anfang an unstrittig sein: jede Rede von Selbstbewusstsein, Selbsterfahrung oder auch von der Perspektive der ersten Person wäre ohne jeden Sinn, wenn Menschen nicht in der Lage wären, „ich“ zu sagen und das Wörtchen „selbst“ richtig zu verwenden. Wir Erwachsenen sind natürlich perfekte Sprecher, wo es um die Personalpronomina der ersten, zweiten und dritten Person in Singular und Plural, und das noch in den vier grammatischen Fällen, geht. Aber sicher ist uns diese Fähigkeit nicht angeboren. Wir mussten sie erlernen. Ich setze deshalb bei der Frage an, wie Menschen das Ich-Sagen und das Selbst-Sagen erlernen, wozu sie es benötigen, und wie ihnen diese uns allen bestens bekannten, selbst-bezüglichen Sprechweisen jeweils von anderen, von Dritten, beigebracht werden können. Denn diese meinen ja, wenn sie selber „ich“ sagen, sich selbst, und nicht den Anderen, dem sie das ich-Sagen gerade beibringen wollen. Hier nehme ich mir den Entwicklungspsychologen Jean Piaget zum Vorbild, der primär durch Beobachtung der eigenen Kinder herausfinden wollte, wie diese zum Beispiel den Begriff des Volumens oder der Zeit bildeten. Deshalb habe ich mich, sozusagen im innerfamiliären Forschungsverbund, an unsere älteste Tochter gewandt, Nina Janich, die Professorin für Sprachwissenschaft an der Universität Darmstadt ist und drei kleine Töchter hat. Ich habe sie gebeten, mit ihrer sprachwissenschaftlichen Kompetenz so genau wie möglich darauf zu achten, wann, wie und wozu ihre Töchter die Wörter „ich“ und „selbst“ erlernen. Allgemeiner geht es um die Frage, wie die Personalpronomina der ersten, zweiten und dritten Person mit allen grammatischen Variationen erlernt werden.

  Hassemer (2010), Habermas (2004)

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Die älteste Enkeltochter war schon zu weit. Sie beherrschte schon all diese Pronomina perfekt. Die beiden anderen Mädchen haben zunächst Hypothesen ihres Großvaters empirisch falsifiziert. Ich hatte angenommen, dass im gemeinsamen Spielzimmer die Kinder selbst diese von den Erwachsenen gehörten Wörter benötigen und einüben. Der Gegensatz „meine Puppe“ – „deine Puppe“, Besitzansprüche also könnten, so vermutete ich, der Anlass für den Gebrauch der Personalpronomina zusammen mit den Possessivpronomina sein. Oder die betonte Äußerung von Bedürfnissen und Wünschen – was die Kinder durchaus können, aber ohne Verwendung von „ich“ oder gar „selbst“. Die Wahrheit ist aber anders, und glücklicher Weise, für unser Leib-SeeleProblem produktiver: kleine Kinder durchlaufen Lerngeschichten in atemberaubendem Tempo. Innerhalb weniger Jahre lernen sie nicht nur ihre Muttersprache, sondern auch die wichtigsten Fertigkeiten im alltäglichen Handeln, ihre Bewegungen wie Gehen, Laufen, Springen, dann Tanzen, Schwimmen und Radfahren; sie erwerben ihre Herstellungskünste wie Zeichnen, Malen oder Ausschneiden, ihre Gefühlsäußerungen, soziale Verhaltensweisen usw. Die innerfamiliären und dann aushäusigen Prozeduren des Lehrens und Lernens durch Vor- und Nachmachen, verknüpft mit Lob und Korrektur, und die Erfolgserlebnisse der Lernbemühungen sind die Grundlage ihrer Rede von „ich“ und „selbst“. Hat nämlich ein Kind gelernt, etwas selbst auszuführen, etwa eine Jacke selbst anzuziehen, sich die Schuhe selbst auszuziehen oder selbst einen Kakao anzurühren, so will es dies auch tun. Greift der Erwachsene helfend ein, hört er ein entschiedenes „das kann ich selber“! Kurz, die eigene Handlungsurheberschaft und das Beanspruchen ihrer Anerkennung durch Mitmenschen ist der Ort, wo die Wörter „ich“ und „selbst“ für das Kind emotional dringend benötigt und dann allezeit verwendet werden. Ich gehe so weit zu behaupten, dass ein Mensch, zunächst einmal in unserer mitteleuropäischen Kultur, überhaupt nicht in eine menschliche Handlungs- und Redegemeinschaft hineinwachsen, überhaupt nicht eine hinreichende Handlungs- und Sprachkompetenz entwickeln kann, wenn er diese Phase der Bildung des Selbstbewusstseins nicht ausdrücklich und emotional durchläuft. Hat er sie durchlaufen, müssten wir folglich aus Sicht der Hirnforscher fragen, ob damit schon die Illusion der falschen Selbstbeschreibung gestiftet wurde. Damit begebe ich mich nun auf meinen eigenen Lösungsweg des Leib-Seele-Problems. Es ist ja jeder halbwegs sorgfältigen Überlegung sofort zugänglich, dass ein Kind, das engagiert darauf besteht „das kann ich selber“, keine Selbstbeschreibung liefert. Es nimmt keinen distanzierten Beobachterstandpunkt gegenüber sich selbst ein, um von dort aus die Wahrheit zu konstatieren, dass dieses Kind da nun selbst seine Schuhe zubinden kann.

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Wir erinnern uns, die These der Hirnforscher und übrigens auch von vielen Vertretern der Analytischen Philosophie des Geistes war, dass sich Beschreibungen in der Perspektive der ersten und der dritten Person gegenseitig ausschließen. Doch der Protest des selbstbewussten Kindes ist eben keine Beschreibung, sondern eine Selbstzuschreibung. Beschreiben und Zuschreiben sind zwei kategorial grundverschiedene menschliche Sprechhandlungen. Damit habe ich nun zu erklären, warum ihre Verwechslung durch einige Hirnforscher ein folgenschwerer Kategorienfehler ist. Vielleicht ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass die Wörter zuschreiben und zusprechen derzeit Konjunktur haben, vor allem unter Naturwissenschaftlern. Da wird Tieren der Werkzeuggebrauch oder die Fähigkeit zugeschrieben, Artgenossen zu täuschen. Da werden Nervenzellen Fähigkeiten des Kommunizierens und Kooperierens ebenso zugesprochen wie den Organen eines Organismus. Ja selbst Molekülen bleibt nicht die Zuschreibung erspart, dass sie ihre Reaktions-Partner „erkennen“, um mit ihnen eine chemische Verbindung einzugehen – „molecular recognition“ lautet dafür der Fachterminus. Und auch den Hirnen wird ohne Ende zugeschrieben, was sie angeblich tun und leisten, dass sie handeln, erkennen, einander erforschen oder miteinander kommunizieren usw. Deshalb zunächst zur Erinnerung an die vertrauten Sprechweisen des Alltags: In der Alltagssprache kennen wir die Redeweise, dass ein Gemälde einem bestimmten Maler zugeschrieben wird. Außerdem gibt es die Fachsprache der Juristen, wonach ein Richter einen Angeklagten für zurechnungsfähig hält und ihm deshalb bei nachgewiesener Handlungs-Urheberschaft eine Untat auch zurechnet, um ihn dafür zu verurteilen. Schließlich kennen wir die Situation, dass bei unklaren Besitz- und Eigentumsverhältnissen eine Klärung dazu führt, einer Person Besitz oder Eigentum an einer Sache zuzusprechen. Das einigende Band dieser auf den ersten Blick so verschiedenen Verwendungen der weitgehend bedeutungsgleichen Wörter zusprechen, zuschreiben und zurechnen – nicht zufällig sind alle drei an sprachliche Verstandestätigkeiten des Menschen gebunden – ist der Bezug auf Handlungen oder Handlungsergebnisse ihrer menschlichen Urheber. Wenn Sie mir gestatten, entführe ich Sie kurz für drei kleine Beispiele in ein Café, um den Unterschied von Beschreiben und Zuschreiben zu erklären. Wir wissen alle, was es heißt, eine Kaffeetasse zu beschreiben. Beschreibungen sind wahr oder falsch, was einerseits von der Kaffeetasse, andererseits von der passenden Wortwahl abhängt. Man kann solche Beschreibungen wissenschaftlich auf die Spitze treiben, indem wir die Tasse wägen, vermessen oder ihr Material chemisch analysieren. Doch auch wenn wir alles Erdenkliche über die Tasse wissen, werden wir doch durch die Beschreibungen niemals erkennen, wem die Tasse gehört, also wem sie als Besitz zuzuschreiben ist.

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Warum? Weil Besitz und Eigentum, altmodisch gesagt, keine „Eigenschaft“ des besessenen Gegenstandes ist, sondern eine Sache zwischenmenschlicher Beziehungen. Angenommen, nun mein zweites Beispiel, Sie haben sich einen Cappuccino bestellt, und die Bedienung übergibt ihn mit einer Bemerkung wie „Ihr Cappuccino!“. Dadurch ist Ihr Besitz an Tasse und Inhalt auf Zeit etabliert. Das bemerken Sie sofort, wenn versehentlich Ihr Tischnachbar nach Ihrer Tasse greift. „Entschuldigen Sie, das ist meine Tasse!“. So reagieren Sie aber nicht, wenn Sie einen zweiten Cappuccino bestellt haben, und die Bedienung nimmt Ihnen die leere Tasse des ersten ab. Offensichtlich gibt es soziale Spielregeln und zwischenmenschliche Praxen, nach denen im Café der Besitz an einer Tasse Menschen zugesprochen oder abgesprochen wird. Das gilt übrigens auch für das Eigentum an der Tasse, die der Cafehauschef wohl gekauft oder geleast hat – ebenfalls also wegen einer zwischenmenschlichen Aktion, einer Beziehungshandlung. Daraus lässt sich eine Pointe des Zuschreibens im Unterschied zum Beschreiben ersehen: während die Beschreibung einer Tasse inhaltlich eine Beziehung zwischen dem Beschreiber und einem Objekt seiner Außenwelt herstellt, etabliert die Zuschreibung eine Beziehung zwischen zwei Personen. Zuschreibungen stiften ein zwischenmenschliches Verhältnis. Die kurze Bemerkung „Ihr Cappuccino!“ durch die Bedienung genügt dafür vollständig im Rahmen der in Cafés geltenden Spielregeln. Man hätte es schon an Grammatik und Logik der beiden Wörter beschreiben und zuschreiben bemerken können: Die Aussageform „eine Person P beschreibt einen Sachverhalt S“ wird zu einer Aussage, also einem inhaltlich bestimmten Satz, wenn man zwei Variable, P und S, ersetzt, einmal durch einen Personennamen und einmal durch die Bezeichnung des Sachverhalts. Dagegen ist die Form einer Zuschreibung: „Eine Person P schreibt einer Person Q eine Handlung h (oder die Folgen seiner Handlung h) zu“ anders. Hier muss man drei Variable ersetzen, durch zwei Personennamen und die Bezeichnung für eine Handlung, ihr Ergebnis oder ihre Folgen. Man vergleiche damit die Aussage, dass der Kunsthistoriker Max MüllerExpert dem Maler Rembrandt das Bildnis „Mann mit Goldhelm“ zuschreibt. Grammatiker und Logiker sagen dafür, dass das Verbum „beschreiben“ zweistellig und das Verbum „zuschreiben“ dreistellig ist. Daran kann man ersehen, dass man schon formal aus einer Beschreibung nicht einfach eine Zuschreibung gewinnen kann, weil in der Beschreibung die zweite Person fehlt – von den Inhalten her gesehen geht es zum einen um ein Subjekt-WeltVerhältnis, zum andern um ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis. Deshalb mein drittes Kaffeehaus-Beispiel: Sie sitzen im Straßencafé und beobachten eine Person P, die mit einem sichtlich neuen Fahrrad ankommt, dieses vor ihren Augen abstellt und weggeht. Kurz darauf kommt eine andere Person Q, betrachtet ausführlich das

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Fahrrad, nimmt es und fährt damit weg. Sie glauben, sie seien soeben Zeuge eines Fahrraddiebstahls geworden. Sollten Sie gefragt werden, was Sie beobachtet haben, so würden sie dem herbeigerufenen Polizisten als Zeuge eine Beschreibung des Diebstahls und des Diebes geben. Dafür ist aber unerlässlich, dass Sie der ersten Person P ganz naheliegend das Fahrrad als Eigentum zugeschrieben haben. Sollte aber in Wahrheit die Person P ein Dieb sein, der mit einem gestohlenen Rad gekommen ist, und die zweite Person Q der rechtmäßige Eigentümer, der per Zufall sein Fahrrad entdeckt und an einem untrügliche Merkmal erkannt hat, um es wieder an sich zu nehmen, dann wäre ihre Beschreibung des Diebstahls falsch – weil Ihre ursprüngliche Zuschreibung ein Fehlurteil war. Analog kann bei der Zuschreibung eines Gemäldes zu einem Künstler die Beschreibung etwa durch einen sachverständigen Chemiker, der die Farbe des Gemäldes analysiert hat, Gründe für die Zuschreibung liefern. Wir sehen, Beschreibungen, die wahr oder falsch sind, können zu Zuschreibungen führen, die richtig oder verfehlt sind – wie ich analog zum gerechten oder zum Fehlurteil im Falle des Richters sagen möchte, der sich ja auch auf Beschreibungen von Augenzeugen stützt. Sie waren mir gerade ins Proseminar für Sprachphilosophie gefolgt – danke! –, und ich komme zurück auf meine Enkelkinder, die sich im „ich-“ und „selbst-“ Sagen eine Fähigkeit zusprechen, aber dabei nicht die Absicht verfolgen, sich selbst als neutraler, außenstehender Beobachter zu beschreiben. Selbsterfahrung und Selbstbewusstsein sind seelische Leistungen des Menschen, die sich erst im Wechselspiel des gegenseitigen Zuschreibens von Handlungen einstellen. Dabei sind nicht nur Sprechweisen der ersten und dritten Person im Spiel, sondern vor allem der ersten und zweiten Person, des „ich“ und „du“. Die klassischen Formeln in kleinen und großen Streitigkeiten wie „ich war es nicht!“, „Du hast es getan“, „er (oder sie) hat es getan“, „ich bin daran schuld (nicht schuld)“, „es ist mein Verdienst“ oder „es ist dein Verdienst“ und anderes alltägliches Zurechnen, synonym Zusprechen oder Zuschreiben, sind unabwendbar an menschliche, genauer zwischenmenschliche Kooperation und Kommunikation gebunden. Im Beschreiben dagegen steht gleichsam der beschreibende Mensch allein dem beschriebenen Gegenstand oder Sachverhalt, einem Teil seiner besonderen Außenwelt, gegenüber. Das genau macht den kategorialen Unterschied von Beschreiben und Zuschreiben aus. Zuschreibungen betreffen nicht nur menschliche Handlungen, sondern auch Widerfahrnisse – um dem singerschen Ausdruck Selbsterfahrung Rechnung zu tragen. Naturwissenschaftlich ist eben nicht nur Handlungsurheberschaft, sondern auch Betroffenheit nicht in Beschreibungen zu fassen. Wer gerade wegen des Verlustes einer lieben Person in Schmerz und Trauer ist, für den ist es unerheblich, dass sich dies vermutlich im Hirn-scan, wahrscheinlich sogar im Stoffwechsel des Trauernden nachweisen lässt. Aber Schmerz

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und Trauer sind erst einmal mein Schmerz und meine Trauer, also eine Sache des Betroffenen, und lassen sich nicht angemessen von außen beschreiben. Genau in der Abhängigkeit des Zuschreibens von zwischenmenschlichen Praxis im Vollzug liegt der Grund dafür, dass Selbsterfahrung und Selbstbewusstsein keine Leistungen eines isolierten Hirns, sondern nur eine gemeinsame Sache sein können – ich erinnere an mein obiges Beispiel des Wettlaufs. So wenig, wie man ohne die geneigte Beteiligung einer anderen Person um die Wette laufen kann, so wenig kann man einsam sinnvoll Sätze an eine andere Person richten, in denen die Wörter „ich“ und „selbst“ vorkommen, und so wenig gibt es das Selbstbewusstsein einer isolierten Person. Die von Hirnforschern wie Wolf Singer behauptete Unverträglichkeit zwischen Selbsterfahrung und Fremdbeschreibung besteht also definitiv nicht. Sie sind kategorial verschieden. Aber die Weltbild- und Naturalismus-Hirnforscher liegen nicht nur kognitiv falsch, weil sie Beschreiben und Zuschreiben verwechseln, sie liegen auch emotiv falsch, weil sie den Zusammenhang von Kognition und Emotion übersehen. Das führt mich auf meine Schlussbemerkung:

3. Schluss Wir alle wissen, dass Kognitionen und Emotionen nicht voneinander unabhängig sind. Das Körper-Geist- und das Leib-Seele-Verhältnis sind durchaus miteinander verwoben, nicht nur, weil ja auch alle kognitiven oder Erkenntnisbemühungen Handlungen sind, deren Urheberschaft der Erkennende emotiv sich selbst zuschreibt. Sie sind auch mehr oder weniger erfolgreich, wodurch sie mehr oder weniger Freude bereiten. Wenn kognitive Neurowissenschaftler auf das limbische System verweisen, das ihnen die emotionalen Vorgänge repräsentiert oder gar erklärt, vergessen sie ihr eigenes limbisches System: sie freuen sich, weil sie eine großen Entdeckung gemacht zu haben meinen, wenn ihre Dritte-Person-Beschreibung „experimentell bewiesen“ sei – wie sie gern betonen. Aber, und auch das haben wir am Beispiel des verkannten Fahrraddiebes gesehen, fehlgehende Zuschreibungen sind nur ein Grund für Irrtümer bei den kognitiven Beschreibungen. Diesen Hirnforschern ist nur anzuraten, sie mögen mit Verstand und Vernunft über ihre eigenen Forschungshandlungen in der ich- und du-Form sprechen. Beiläufig wurde der anthropologische Fehler der naturalisierenden Hirnforschung bereits benannt: Was das Kind, was jeder Mensch unserer Kultur an Handlungen zu erlernen hat und faktisch ja auch erlernt, sind Handlungen, die oben in Beteiligungs-, Gemeinschafts- und Individualhandlungen unterschieden wurden. Diese drei Aspekte, wonach Handlungen nur bei Beteiligung anderer Menschen überhaupt ausgeführt werden können bzw.

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erfolgreich sein können und nur im sonstigen Falle allein, individuell ausgeführt werden, erweisen sich als wesentlich für den Lebenslauf und die Bewältigung des Lebens. Es scheint mir nicht die Frage, ob sie wichtig sind, sondern nur, ob es überhaupt andere Handlungen gibt, die für unser Leben wesentlich sind. Damit ist das „spezifisch Menschliche“ genannt, das uns vom Tier unterscheidet, nämlich die Gemeinschaftlichkeit unseres Handelns und Redens in der Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Die Betrachtungsweise der Biologie, die vornehmlich den individuellen Organismus mit seinem Zentralorgan Hirn erforscht, kann dieser Wechselseitigkeit des gegenseitig sich Verantwortlich-Machens für Reden und Handeln nicht entsprechen. Das Menschenbild der Biologie ist insofern zu restriktiv, zu reduktionistisch. Wo es kein Symmetrieprinzip nach dem Gesichtspunkt „gleiche Rechte, gleiche Pflichten“ gibt, gibt es auch keine menschliche Kultur – und übrigens auch keine Naturwissenschaft vom Menschen. Meine Damen und Herren, auch mein heutiger Festvortrag kann die enge Verbindung von kognitiven und emotiven Inhalten nicht verbergen. Mir ging es nicht nur darum, aus philosophischer Reflexion ein Stück kognitiver Aufklärung zu leisten, sondern mir ging es auch darum, neben Ihrem Geist, Ihrem Verstand, auch Ihre Seele, Ihre Vernunft zu adressieren. Dass Sie mir nicht nur kognitiv so schön aufmerksam zugehört, sondern – meinem Eindruck nach – auch emotiv den Bezug zu Ihrer eigenen Haltung in der ichForm mit vollzogen haben, dafür schulde ich Ihnen Dank!

Was sind Bioelemente und wie geht man mit ihnen um?1 Arbogast Schmitt Wenn Geisteswissenschaftler – Philosophen, Theologen, Soziologen, Politologen, Pädagogen, Historiker – Stellung nehmen zu Problemen, die sich aus den neuesten naturwissenschaftlichen Forschungen zu Elementen der Biologie ergeben, dann geht es meistens 1.) um eine ganz kleine Auswahl, v.a. allem um die Elemente der Vererbung, die Gene, und um die Elemente des Gehirns, die Neuronen, 2.) um ethische Folgerungen aus den naturwissenschaftlichen Befunden und um die praktisch-technische Einflussnahme, die die Kenntnis dieser Elemente möglich macht. Dass ein Geisteswissenschaftler auch etwas zur Sache selbst, also dazu, was denn diese Elemente der Biologie sind und wie der wissenschaftliche Umgang mit ihnen zu gestalten ist, zu sagen hätte, würden die Naturwissenschaftler dem Geisteswissenschaftler kaum zugestehen, und die Geisteswissenschaftler erheben diesen Anspruch auch gar nicht. Nach Aristoteles beginnt die Philosophie, und das heißt bei ihm noch: das wissenschaftliche Denken überhaupt, mit dem Staunen. Vielleicht sollte auch diese Aufgabenverteilung zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften ein Anlass zum Staunen sein. Denn es ist uns zwar inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden, den Naturwissenschaften die Erforschung der äußeren, empirisch beobachtbaren und messbaren Natur zuzuordnen, den Geisteswissenschaften dagegen die Erforschung der inneren, jedem Bewusstsein ganz privat eigenen Zustände, seiner Gefühle, Erlebnisse usw. (und ihrer rationalen Rekonstruktion). Anlass zur Verwunderung ist diese Aufteilung aber ohne Frage. Benutzt der Naturwissenschaftler, wenn er die Natur beobachtet, analysiert und synthetisiert, keinen Geist, sondern stützt sich allein auf Gefühle, Intuitionen, auf seinen ‚Bauch‘ usw.? Wer zwar nicht bestreitet, dass es manchmal nützlich oder sogar sehr nützlich sein kann, sich auf Gefühle oder Intuitionen zu stützen, die Wissenschaftlichkeit des Vorgehens aber nicht von der Beliebigkeit und Täuschbarkeit solcher rein subjektiver Erfahrungsweisen abhängig wissen will, sondern von der rationalen Kontrolliertheit der Methode, der wird auch nicht bestreiten, dass der, der in diesem

1   Vortrag, gehalten auf Einladung des Max Planck-Instituts für terrestrische Mikrobiologie, Marburg, am 23. Januar 2003. Er wird hier in unveränderter Form wiedergegeben.

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Sinn rational kontrolliert vorgehen will, nicht einfach irgendwelche Beobachtungen machen und irgendwie auswerten kann, sondern etwas über die Bedingungen der Rationalität wissenschaftlichen Vorgehens im allgemeinen wissen muss. Schon diese einfache, kurze Überlegung zeigt also, dass auch ein Naturwissenschaftler nicht nur von seinen geistigen Fähigkeiten Gebrauch machen muss, er muss auch etwas über diese geistigen Fähigkeiten als solche und die Regeln ihres richtigen Gebrauchs wissen, mit einem Wort: auch er muss bis zu einem gewissen Grad ein Geisteswissenschaftler sein. Wenn wir heute in der Teilung von Natur- und Geisteswissenschaften an diese Gemeinsamkeit von Natur- und Geisteswissenschaften nicht mehr denken, so sagt das etwas darüber aus, dass uns der Begriff des Geistes zum Begriff eines bloßen Bewusstseinszustands (state of mind) geworden ist, während wir Rationalität und Wissenschaftlichkeit allein in der Vorgehensweise der Naturwissenschaften suchen. Nur ihren Ergebnissen räumen wir noch ein, etwas ‚wissenschaftlich‘ bewiesen zu haben. Fragt man nach den Gründen, warum es zu einer so breiten Übereinstimmung darüber gekommen ist, dass es Wissenschaftlichkeit vor allem oder gar allein im Bereich der exakten Naturbeobachtung gibt, muss man in der Geschichte weit zurückgehen, und zwar bis in die Zeit der sog. Spätscholastik im 14. Jahrhundert. Damals gab es einen Streit unter den Aristoteles-Auslegern darüber, ob die Wahrnehmung abstrakt oder konkret sei. Aristoteles selbst hatte die Lehre vertreten, mit der Wahrnehmung allein könne man nur abstrakte Gemeinsamkeiten an den Einzeldingen erkennen, erst wenn man zu den Wahrnehmungen hinzu seinen Verstand zu Hilfe nehme, könne man auch die konkreten Besonderheiten eines einzelnen Dinges erfassen. Diese Auffassung leuchtete den damals modernen Aristoteles-Interpreten nicht ein. Sie kritisierten daher die Autoritätsgläubigkeit ihrer antiquierten Kollegen und setzten die Lehre wieder in ihr Recht ein, dass man mit den Sinnen die konkreten Dinge der Empirie wahrnehme. Erst mit dem Verstand bildeten wir abstrakte Begriffe. Zuerst müssten uns die Gegenstände der Sinne gegeben sein, dann könnten wir von ihnen gemeinsame Eigenschaften abstrahieren und in allgemeinen Begriffen zusammenfassen. Diese damals neue, ‚moderne‘ Lehre bildet auch heute noch die Basis der meisten philosophischen und wissenschaftstheoretischen Ansätze. Die lange Gewohnheit, in ihren Bahnen zu denken, hat aber dazu geführt, dass wir wichtige Konsequenzen gar nicht mehr beachten, die diese damals modernen Scholastiker des späten Mittelalters noch genau gesehen hatten. Wenn man nämlich sagt, dass unsere Begriffe immer von den konkreten Dingen, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, abgeleitet sind, dann heißt das nicht nur, dass – wie ja viele beklagen – unsere Begriffe immer ärmer als die konkrete Wirklichkeit sind, immer eine Reduktion auf wenige abstrakte, oft nur noch quantitative Merkmale, es sagt auch etwas über diese konkreten Dinge selbst

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aus, genauer: etwas darüber, was wir von ihnen erwarten. Denn wenn alle Begriffe, soweit sie richtig sind (und) auf die Wirklichkeit zutreffen sollen, korrekte Ableitungen aus den Einzeldingen selbst sein und an ihnen auch wieder überprüfbar sein müssen, dann bedeutet das in einem streng analytischen Sinn, dass alles, was man von einem Einzelding in Begriffen wissen kann, in diesem Ding schon enthalten sein muss, und zwar vollständig und korrekt enthalten sein muss, während unser Wissen von diesen Dingen immer nur auf einzelne Hinsichten beschränkt und vermutlich auch noch irgendwie von unserem Erkenntnisapparat überformt ist. Das genau ist der Sinn der Überzeugung, dass man das, was eine Katze oder ein Pferd ist, nur durch Beobachtung der Katzen und Pferde selbst erlernen könne und nicht etwa aus einer Idee der Katzheit oder der Pferdheit. So plausibel diese Überzeugung erscheinen mag – woher sonst als durch Beobachtung wirklicher Katzen, wirklicher Gehirne, wirklicher Proteine usw. soll man denn wissen, was eine Katze, ein Gehirn, ein Protein usw. ist? – sie enthält eine ganze Reihe (erkenntnistheoretischer) Naivitäten und vor allem eine massive Überforderung der (sogenannten) empirischen Wirklichkeit. Denn sie erwartet ja von den wirklichen Dingen, dass sie die tatsächlichen Verkörperungen aller der Begriffe sind, die wir korrekt auf sie anwenden und durch sie bestätigt sehen können. Von dieser hohen Anforderung an die Wirklichkeit, die ein empirisches Denken notwendig stellen muss, hatten die Wissenschaftler und auch die Künstler des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ein erheblich klareres Bewusstsein, als es heute feststellbar ist. Ich möchte Ihnen das zunächst am Beispiel der Kunst zeigen, in der sich in der Renaissance ein zur Entwicklung der modernen Naturwissenschaften paralleler Vorgang abspielte. Die mittelalterlichen Künste gelten auch heute noch als Künste, die mehr dem Jenseits als dem Diesseits zugewandt gewesen seien. Die konkreten, ganz genau auf eine Einzelperson zutreffenden Züge eines individuellen Portraits, die konkrete Anschaulichkeit einer Landschaft mit allen ihren sinnlich wahrnehmbaren Details usw., alles das soll die Künstler des Mittelalters überhaupt nicht interessiert haben. Dieses Interesse, so sagen uns die Kunstgeschichtler, entwickelt erst die Renaissance. Die Künstler der Renaissance haben aber noch mehr behauptet – und dieses Mehr ist es, das uns vor allem interessiert – , sie behaupteten nämlich, durch diese Hinwendung der Kunst zur sinnlich konkreten Wirklichkeit der einzelnen Menschen, der einzelnen Landschaft usw. sei die Kunst überhaupt erst zur Kunst geworden. Anders als wir heute urteilen, hatte die Renaissance ja keine gute Meinung über die Kunst des Mittelalters. ‚Gotisch‘ war für sie gleichbedeutend mit ‚chaotisch‘, das Mittelalter insgesamt galt als eine Zeit der Finsternis, nach der das Licht der Kunst und der Vernunft erst wiedergeboren werden musste. Diese Wiedergeburt der Künste war im Urteil der Renaissance die Folge einer Wendung zum Diesseits, die Dinge selbst sollten in ihrem eigenen Recht wahrge-

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nommen, gefühlt und dargestellt werden. Wenn aber das die Bedingung von Kunst ist, dass man die Welt so darstellt, wie sie wirklich ist, dann heißt das, dass die Welt der wirklichen Dinge eine Welt der Schönheit sein muss, sie muss, so haben das die damaligen Kunsttheoretiker formuliert, in sich selbst ganz und gar von Proportion, Harmonie, Symmetrie durchdrungen sein, jedes Ding muss in allen seinen Teilen die Regel und das Gesetz des Ganzen enthalten. Analog ist die neue ‚moderne‘ Vorstellung, was Wissenschaft zur Wissenschaft macht, konzipiert: Wissen soll nun nicht mehr aus irgendwelchen allgemeinen Ideen und Begriffen abgleitet, ‚deduziert‘ werden, und schon gar nicht aus bloßen Lehrmeinungen irgendwelcher Autoritäten, sondern es soll durch die direkte Hinwendung zu den sinnlich wahrnehmbaren Dingen aus diesen selbst erst ermittelt, durch Induktion gewonnen werden. Wenn aber das, was man direkt beobachten kann, Wissen garantieren soll, dann müssen die beobachtbaren Dinge von ihnen selbst her den Bedingungen des Wissens genügen, sie müssen Ausdruck von Gesetz und Regel sein, in ihnen müssen die Mechanismen rein verkörpert sein, die der Wissenschaftler beobachten und – in methodischer Beschreibung oder technischer Praxis – nachkonstruieren kann. Diese Auffassung enthält, wie man sieht, eine massive Überforderung der empirisch geschichtlichen Welt mit ihren vielen Abweichungen, Veränderungen, Zufällen. Es gibt keine Welt, die nur aus Harmonie und Symmetrie, nur aus Regel und Gesetz besteht. Das Wirklichkeitsverständnis der Renaissance wurde daher schon bald und im Lauf der geschichtlichen Entwicklung immer stärker als eine metaphysische Überfrachtung der Wirklichkeit empfunden. Interessanterweise haben aber schon die Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts nicht mehr beachtet, dass diese metaphysische Überlastung der empirischen Welt eine strikte Folge davon war, dass man Kunst und Wissenschaft auf die direkte Beobachtung oder das unmittelbare Erlebnis der Dinge selbst gründen wollte, und haben die Idealisierung der Welt durch die Künstler und Wissenschaftler der frühen Neuzeit daher als ein Relikt aus einem antik-mittelalterlichen Denken bezeichnet. Den Ansatzpunkt zur ‚Befreiung‘ aus diesen angeblich mittelalterlichen Überresten der Metaphysik bot aber schon das Wissenschaftsverständnis der Renaissance selbst. Denn natürlich war auch den Denkern der frühen Neuzeit nicht unbekannt, dass es in der Wirklichkeit viele Abweichungen von der Norm, viele Deformitäten, Mischformen, Zufälligkeiten, ja Katastrophen usw. gibt. Deshalb versuchte man, den Befund, dass es in der Welt viele Veränderungen und Kontingenzen gibt, mit dem Postulat, dass alles in der Welt einer strengen Gesetzmäßigkeit folge, zu vereinbaren. Dafür brauchte man in der Renaissance keine neue Erklärung zu suchen, das konnte man aus einer empirischen Schule der damals hoch bewunderten Antike übernehmen, aus der sog. Stoa, einer empirisch-materialistischen Philosophenschule aus der

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Zeit des Hellenismus (von Alexander dem Großen bis etwa zur Entstehung des Christentums). Die Stoiker hatten zwei Lösungsstrategien entwickelt, die man vom 15. bis ins 18. Jahrhundert, also etwa bis zu Leibniz, Locke, Hume, Kant, beinahe unverändert akzeptierte, die aber in leicht modifizierter, weniger metaphysisch ausgelegter Form bis heute weiterwirken. Die erste Strategie lautet: Alles in der Welt hat einen Grund, also ist letztlich alles notwendig. Wo wir den Eindruck von Zufall oder Beliebigkeit haben, liegt das nur an unserem begrenzten Wissen. Könnten wir alle Ursachen und Wirkungen verfolgen, würde sich alles Geschehen auf der Welt in seiner Notwendigkeit erweisen. Die zweite Strategie, die die erste ergänzt, ist: Träger der Gesetzmäßigkeit der Welt sind in den Phänomenen verborgene Elemente, die sogenannten Spermata. In ihnen ist die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der Phänomene – der in deutliche Erscheinung tretenden Körper und Organismen – im Keim enthalten, in moderner Formulierung: ‚vorprogrammiert‘. Nicht an den sich ständig verändernden und viele Beliebigkeiten aufweisenden Phänomenen, sondern an den ihnen konstant zugrunde liegenden Elementen (Genen, etc.) also erkennt man die Gesetzmäßigkeit der Dinge. Innerhalb dieser zweiten Strategie, die uns, wie sie sehen, schon an das Problem der Elemente auch der Biologie heranführt, gib es eine schwache und eine starke Behauptung. Und es ist vor allem die stärkere der beiden Behauptungen, die bis heute weiter wirkt und erst in der neuesten Forschung gewissen Zweifeln ausgesetzt ist. Die schwächere Behauptung ergibt sich aus einem Erkenntnisaxiom: Erkennen kann man nur, was irgendwie mit sich identisch und stabil bleibt. Was sich ständig und vielleicht sogar in jeder Hinsicht ändert, ist nur unpräzise oder überhaupt nicht erkennbar. Da die Gegenstände der Sinne sich aber ständig ändern und immer wieder andere Eigenschaften zeigen, von denen nicht klar ist, ob sie notwendig zu einem bestimmten Gegenstand gehören oder nur zufällig oder akzidentell an ihm anzutreffen sind, kann sich die Wissenschaft nicht einfach mit den sinnlichen Erscheinungsformen der Dinge befassen, sondern muss auf das zurückgehen, muss ihre Vielfältigkeit auf das reduzieren, was an ihnen konstant bleibt, und das sind eben die unveränderlichen oder weitgehend unveränderlichen letzten Bausteine oder Elemente, aus denen die Körper und Organismen zusammengesetzt sind. Diese schwächere Behauptung wurde aber von den antiken Stoikern und wird von ihren modernen Nachfolgern mit einer zweiten komplettiert, die erst ihre Brisanz ausmacht: Diese aller Veränderung zugrundeliegenden Elemente sollen nämlich nicht nur etwas Konstantes, Stabiles sein, sie sollen in noch unentwickelter Form bereits alles in sich enthalten, was aus ihnen durch immer wieder neue Synthesen entstehen kann. Das Modell der Spermata, des Samens, wird dabei als ein gesetzmäßig ablaufendes Programm ausgelegt. Während uns die neueste Forschung immer mehr die Plastizität auch der

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Genome demonstriert, die eben kein mechanistisch immer gleich ablaufendes Programm enthalten, sondern lediglich die Anlagen – zum Sehen, zum Laufen, zum Sprechen usw. – die erst sachgemäß ausgebildet werden müssen, da sie sonst verkümmern oder ganz und gar unbrauchbar werden, – im Unterschied zu diesen erst wieder neu gewonnenen Einsichten, glaubten die Naturwissenschaftler der Neuzeit, ein Same sei so etwas wie eine Uhr (Beispiel sehr beliebt!), in der ein Rädchen nach dem anderen angeschaltet werde und dann seine entsprechende Wirkung tue. Nur unter dieser Voraussetzung war und ist allerdings die Meinung richtig und zutreffend, aus einer Kenntnis der Elemente, hier eben der Gene, könne man bereits bestimmen, wie der spätere Organismus sein werde. Auf die erheblichen logischen Probleme, die diese starke Behauptung mit sich bringt, werde ich gleich zurückkommen. Zunächst möchte ich nur die weitere Entwicklung skizzieren: Mit der Annahme, die letzten Bauteile, aus denen die Phänomene bestehen, trügen in sich schon die Potenz, aus der sich alle möglichen Veränderungen dieser Phänomene bilden können, liegt bereits ein Ansatz zu einer entwicklungsgeschichtlichen oder evolutionären Erklärung vor, – es braucht ja nur z.B. ein Rädchen aus diesen Genuhren durch irgendeinen Zufall herausgebrochen zu werden oder ein anderes aufgrund eines momentanen Bedürfnisses anders ersetzt zu werden, und schon entsteht (emergiert), so schien es vielen, ein ganz neuer Organismus – und es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Ansatz, der vor allem in der Zeit der Aufklärung von vielen erprobt wurde, so weit vorangetrieben wurde, dass man versuchte, mit ihm nicht nur die Veränderungen innerhalb eines Phänotyps zu erklären, sondern auch zu erklären, dass es möglich ist, dass sich ein Phänotyp, etwa eines Lebewesens im Wasser, in einen anderen Phänotyp, etwa ein Landtier verändert. Wenn man sich ein wirklich kritisches Urteil über die Leistungsfähigkeit dieser Elemententheorie bilden will, muss man also vor allem nach dem Erklärungspotential dieser Bausteine, bei Organismen: der Gene, fragen. Was weiß man eigentlich, wenn man die Gene und ihre innere Struktur und die Mechanismen, nach denen sie sich aktivieren lassen, kennt? Hält man sich an das, was in neuesten Publikationen von Evolutionsbiologen und Wissenschaftstheoretikern der Biologie zu lesen ist, dann ist die Antwort: ‚ziemlich wenig‘. So stellt etwa Richard Morris – neuere Forschungsergebnisse zusammenfassend – fest: „Alle Zellen haben ‚genetische Make-up‘. ..die durch die Aktivitäten einzelner Gene...Eine Hautzelle unterscheidet sich von einer Leberzelle nicht durch das genetische Make-up, sondern weil einige Gengruppen daran gehindert werden, an den Aktivitäten der Zelle teilzunehmen. Man kann also selten ein Gen identifizieren, das Träger einer bestimmten Eigenschaft ist. Die meisten Eigenschaften entstehen durch vernetzte Gene, dabei können einzelne Gene

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auch in mehreren Netzen aktiv sein.“2 Bekanntlich unterscheiden sich nicht nur die Gene der Haut- und Leberzellen kaum voneinander, wir haben die meisten unserer Gene sogar mit ganz primitiven Lebewesen gemeinsam, mit unserem nächsten Verwandten, dem Schimpansen sogar mehr als 98 Prozent. Deshalb ziehen Martin Mahner und Mario Bunge in ihrem Buch über die ‚Philosophischen Grundlagen der Biologie‘ ausdrücklich den Schluss, dass die Gene nicht der Hauptmotor, nicht das, wie sie sagen, ‚primum movens‘ der Evolution sein können. Man braucht die Gene, sie sind notwendige Bedingungen dafür, dass Organismen entstehen und sich verändern können, sie sind aber nicht die Ursache für die je besondere Art der Veränderung, die die Evolution vorantreibt.3 Dieses Ergebnis, das inzwischen als, wenn auch noch nicht unumstrittene communis opinio der Forschung gelten kann, ist keineswegs erfreulich. Denn die Erforschung der Gene hatte ja wie die Erforschung aller elementaren, stabilen Bausteine der Phänomene das Ziel, die sich immer wieder ändernden Phänomene aus ihren stabilen Grundlagen wissenschaftlich zu erklären. Wenn diese Erklärung nicht oder nur zu einem ganz kleinen Teil aufgrund des Wissens, das wir über die Gene gewinnen können, gelingt, heißt das nicht weniger, als dass wir diese Phänomene überhaupt nicht wissenschaftlich erklären können. Der Ausweg, den Mahner und Bunge mit vielen anderen aus diesem Dilemma vorschlagen, bräuchte auch seinerseits eine lange geistesgeschichtliche Erläuterung, denn er gehört in die Geschichte der Auseinandersetzung der Moderne mit dem analytischen Reduktionismus der Naturwissenschaften. Dass die Naturwissenschaften die bunte Vielfalt, in der die Dinge den Sinnen erscheinen, auf die elementaren, in aller Vielfalt immer gleichen Grundlagen reduzieren, hat ja von Anfang an Gegner auf den Plan gerufen, die diesem wissenschaftlichen Vorgehen Formen der Erfahrung entgegengesetzt haben, in denen uns die Gegenstände noch in ihrer Ganzheit, in ihrem ganzen Reichtum, ihrer ganzen Vielfalt und ihrer Einbettung in eine bestimmte Situation gegenwärtig sind. Für ein solches ganzheitliches, ‚holistisches‘ Erkennen plädieren auch Mahner und Bunge, auch wenn sie ihren Vorschlag scheinbar in der traditionellen Sprache der Naturwissenschaften machen: „Alle Entwicklungsprozesse von Biosystemen werden durch die systemische und gesetzmäßige Interaktion der Elemente seines (sc. des Organismus) Genoms, seiner extragenomischen Zusammensetzung und seiner Umgebung reguliert und kontrolliert.“ Wenn wir uns der Kürze wegen nicht mit der sprachlichen Formulierung aufhalten, 2   S. Richard Morris, Darwins Erbe. Der Kampf um die Evolution, Hamburg 2002, 136 (= The Evolutionists: The Struggle for Darwin’s Soul, 2001). 3  S. Martin Mahner und Mario Bunge, Philosophische Grundlagen der Biologie, Berlin u.a. 2000, 281f.

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dann sagen uns Mahner und Bunge also: wenn man die Gesetze und Mechanismen der Gene, die Bedingungen ihrer Zusammensetzung und die äußeren Einflüsse, denen Gene und Gensynthesen unterliegen können, kennen, dann wissen wir, was ein bestimmter Organismus ist. Begrifflich zu Ende gedacht kann das, was Mahner und Bunge hier vorschlagen, kaum sein, auch wenn sich viele und selbst renommierte Kollegen (wie etwa Wolf Singer) ähnlich äußern. Denn wenn ein Organismus nur unter den von Mahner und Bunge genannten Bedingungen erkennbar wäre, wäre jedes Wissen von einem Organismus etwas absolut Einmaliges. Diese besonderen inneren und äußeren Bedingungen in genau dieser besonderen Umweltsituation gibt es eben nur einmal. Das Wissen, das wir von ihm gewonnen haben, ist auf nichts anderes ohne substantielle Verluste übertragbar. Man kann aus diesem Wissen nicht nur keine Prognosen ableiten, sondern man hat auch über diesen Gegenstand selbst kein Sachwissen, kann ihn von seinen Umweltbedingungen usw. gedanklich nicht streng trennen, und hat mit anderen Worten keine wissenschaftlichen, rational begründeten Erkenntnisse von ihm. Im Unterschied zu den je konkreten Einzelforschungen, die oft ganz präzise Resultate erbringen (über deren Qualität ein Geisteswissenschaftler in der Regel nichts sagen kann), führt die begrifflich allgemeine Erklärung der Evolution also vor ein Dilemma: entweder man beschränkt sich auf die wissenschaftlich weitgehend exakt beschreibbaren Elemente, etwa die Gene, dann erhält man ein Wissen über etwas, was bei nahezu allen Lebewesen (‚Biosystemen‘) gleich ist und erfährt wenig über die Besonderheiten, die nötig sind, damit aus den Vernetzungen und Synthesen dieser Elemente ein ganz bestimmter Organismus entsteht (z.B. hat der Mensch mit dem Schimpansen zwar ca. 98,5% seiner Gene gemeinsam, untersucht man aber die Genaktivitäten, etwa die Proteinsynthesen im Gehirn des Menschen und beim Schimpansen, so ist der Unterschied etwa 1:5. Obwohl die Mechanismen der Gene selbst beinahe identisch sind, unterscheiden sich ihre Aktivitäten um das Fünffache, d.h., man erfährt, wenn man wissen will, was das menschliche Gehirn kann und leistet, nur wenig aus dem Vergleich mit dem Affen und auf keinen Fall das, was gerade das Menschliche an der menschlichen Gehirnaktivität ausmacht), oder man wendet sich dem Gesamtorganismus in seiner Umwelt zu, dann müsste man alle Bedingungen kennen, die ihn in gerade diesen Zustand gebracht haben, ein solches Wissen ist aber erstens unmöglich – bestenfalls könnten man es Gott zuschreiben, falls man an ihn glaubt – zweitens trifft es nur auf genau diesen einzelnen Fall zu, enthält also überhaupt keine wissenschaftlich verwertbare Allgemeinheit. Auch wenn die Feststellung dieser Ausweglosigkeit ein Resultat einer noch ganz neuen Entwicklung ist, das vielfach noch gar nicht ins allgemeine Bewusstsein getreten ist, und auch wenn die beschriebene Ausweglosigkeit mehr die theoretischen Grundlagen und das begriffliche Instrumentarium

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der Forschung als die jeweils konkrete Einzelforschung betrifft, für die Wissenschaftlichkeit einer Wissenschaft kann es nicht gleichgültig sein, wenn bei ihr Theoriebasis und konkretes forscherliches Handeln auseinanderfallen, außerdem dürfte es eine Illusion sein zu meinen, ein solches Dilemma in den theoretischen Grundlagen bliebe ohne Einfluss auf die Einzelergebnisse. Auf den Grund, warum dieses Dilemma von vielen gar nicht wahrgenommen wird und daher gar nicht zu existieren scheint, kann ich im Rahmen dieses Vortrags leider nicht eingehen. Zurückkommen möchte ich aber auf das, was ich zu Beginn über die Geschichte der naturwissenschaftlichen Methode und den Wandel im Spätmittelalter gesagt habe: Die Wende, die man im 14. Jh. vollzog, war, wie gesagt, eine Wende auf die konkrete Erfahrung durch das unmittelbare Beobachten: das Problem, das sich dabei stellte, war, dass die Beobachtungen und Wahrnehmungen eine bunte Vielfalt der Erscheinungsweisen der Dinge (deshalb spricht man ja auch von ‚Phänomenen‘ (= Erscheinendes)) zeigen, die eine rational gesicherte Zuordnung einer bestimmten Erscheinung zu einem bestimmten Ding oft nicht möglich machen. Selbst wenn alle Schwäne, die man gesehen hat, weiß sind, kann es dennoch schwarze Schwäne geben. Nicht einmal die ganz zuverlässig und von vielen beobachtete Farbe muss also eine Eigenschaft sein, die man dem Schwan gesichert zuordnen kann. Daher kam man auf den Gedanken, nur diejenigen Eigenschaften einem Gegenstand sicher zuzuordnen, von denen man zeigen konnte, dass sie in jedem Prozess der Beobachtung gleich bleiben. Der bevorzugte Kandidat der Naturwissenschaften für dieses Gleichbleibende waren die einfachsten Bauelemente, aus denen und deren Mechanismen sich die komplexeren Körper oder Organismen zusammensetzten. Insbesondere der große Aufschwung der Chemie seit Lavoisier begünstigte die Vorstellung sehr, man könne durch Analyse der komplexen Phänomene in ihre einfachsten Elemente und durch die Ermittlung der Verbindungsregeln, denen diese Elemente folgten, die ganze bunte Erscheinungswelt aus ihren sicher identifizierbaren Bestandteilen wissenschaftlich wieder rekonstruieren. Auch an diesem Glauben rüttelte (neben der Quantenphysik, auf die wir hier nicht eingehen können) die Evolutionstheorie. Jedenfalls im Bereich des Lebens schienen auch die einfachsten Bioelemente keineswegs von unveränderlicher Robustheit, auch sie waren vielen Mutationen ausgesetzt, vor allem aber hat die jüngste Entwicklung der biologischen Forschung immer deutlicher gemacht, wie wenig man weiß, wenn man das kennt, was in aller evolutionären Entwicklung und Veränderung relativ stabil bleibt. Es ist im Grunde nicht anders, als wenn man von einer Stadt weiß, dass ihre Häuser alle aus bestimmten Arten von Backsteinen gebaut sind. Das ist sicher ein wichtiges Wissen und etwa für die Frage, wie beständig diese Häuser sind und was man zu ihrer Reparatur braucht, von großer Bedeutung. Für die Frage aber, welche Konstruktionsbedingungen nötig sind, damit aus diesen Backsteinen

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Kirchen, Schlösser, Rathäuser, Altenheime, Geschäfte usw. werden, ist das Wissen um die inneren Strukturen und Mechanismen der Backsteine wenig hilfreich. Es gibt auch kein Architekturstudium, in dem die Studenten angehalten würden, aus dem Materialwissen die Prinzipien der Statik und der Konstruktion von Gebäuden abzuleiten. Dass man auch aus den Genen erheblich weniger an Wissen über den Bau komplexer Biosysteme ableiten kann, als viele Forscher lange Zeit glaubten, wird den, der mit der Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit vertraut ist, daher weniger wundern als diejenigen, die ganz in ihren eigenen Forschungsbereich eingebunden waren und die entstehenden Probleme nicht in ihren erkenntnistheoretischen Gründen betrachteten. Wenn man sich den Lösungshorizont nicht einfach von dem Stand, in dem sich eine wissenschaftliche Entwicklung gerade befindet, vorgeben lassen will, macht es also durchaus guten Sinn, sich einmal mit den längeren Traditionslinien zu befassen, aus denen sich der gegenwärtige Wissensstand entwickelt hat. Einer der älteren, aber bis heute wirkungsmächtigen Ursprünge liegt, wie wir gesehen haben, im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit mit ihrer Wende zur Erfahrung der sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Durch den Glauben, diese Wende sei nötig gewesen, um der Herrschaft bloßer, durch keine Erfahrung beglaubigter Begriffe ein Ende zu bereiten, ist aber außer Acht geraten, dass diese Herrschaft der Begriffe des Verstandes in einer langen, von Aristoteles begründeten Tradition keineswegs eine Beschäftigung mit leeren Gedankendingen war. Aristoteles war vielmehr der Meinung, dass man bei der Beurteilung der konkreten Gegenstände der Sinne selbst nicht nur seine Sinne, sondern auch seinen Verstand richtig gebrauchen müsse, und dass bei diesem Urteilsprozess der Verstand das letzte Wort habe und nicht die Sinne. Diese Aristotelische Lehre ist nicht auf die Schau irgendeiner jenseitigen Verstandeswelt gegründet, sondern Aristoteles versucht zunächst einmal abzugrenzen, was eigentlich unsere Sinneswahrnehmungen von sich selbst her können, und was sie nicht können, um erst dann zu bestimmen, wo man bei der Erkenntnis der Wirklichkeit den Verstand zu Hilfe nehmen muss. Dieser Ausgangspunkt ist auch einem modernen Menschen leicht begreiflich. Es ist wohl auch kaum bestreitbar, wenn er darauf hinweist, dass man nicht Menschen oder Bäume, sondern Farben und Formen sieht, und nicht Lauten und Flöten hört, sondern Töne, usw. Die Sinne, das ist seine Lehre, zeigen uns, was ihnen jeweils zugänglich ist, sie zeigen uns aber keine Gegenstände oder Dinge. Der Geisteswissenschaftler, der mit gesunden Sinnen das Labor eines Mikrobiologen besucht, weiß, wovon Aristoteles redet, wenn er statt Enzymen, Proteinen usw. nur eine irgendwie gefärbte Masse sieht. Der Naturwissenschaftler, dem ein Frühgeschichtler im Museum einen Gegenstand zeigt, dessen Gebrauch er nicht kennt, macht dieselbe Erfahrung: Er

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sieht alles, was man sehen kann, aber er weiß überhaupt nicht, mit welchem Gegenstand er es zu tun hat. Offenbar ist es etwas anderes, die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstands mit den Sinnen zu erfassen und zu begreifen, um was für einen Gegenstand es sich handelt, dem diese Eigenschaften zukommen. Dieser Unterschied ist für Aristoteles (der in diesem Punkt Platon folgt) der Unterschied von Wahrnehmung und Begriff. Auch bei dieser Unterscheidung folgen auch wir heute noch – wenn auch nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis – weitgehend Aristoteles. Denn wir richten uns, wenn wir einen Gegenstand identifizieren, keineswegs nach der Summe seiner wahrnehmbaren Eigenschaften – niemand braucht alle Gräser einer Wiese, alle Ziegel eines Daches gesehen zu haben, um zu erkennen, dass er eine Wiese oder ein Dach vor sich hat – wir, und das heißt in der Regel auch die Naturforscher, richten uns aber auch nicht nach den Elementen, aus denen ein Gegenstand aufgebaut ist. Man braucht nicht die Steine und schon gar nicht die Moleküle der Steine einer Kirche zu kennen, um ein Gebäude sicher und zuverlässig als Kirche zu identifizieren, und man braucht nicht das Genom Goethes zu kennen, um etwas von der Art von Mensch und Dichter zu verstehen, der Goethe gewesen ist. Für diese Erkenntnis richtet man sich auf etwas anderes: Man prüft, ob ein Gebäude als Gebetshaus dient, oder man prüft, wie Goethe seine menschlichen und dichterischen Fähigkeiten entwickelt und verwirklicht hat. Allgemein formuliert: Man prüft, was etwas oder jemand kann oder leistet, etwas moderner, aber leider missverständlich kann man auch sagen, man prüft, welche Funktion etwas verrichtet. Dass für die Erkenntnis solcher Funktionen die Wahrnehmung nicht ausreicht, sondern dass man dazu etwas begreifen muss, was außerhalb der Wahrnehmung liegt, kann man an einfachen Beispielen leicht nachvollziehen. Für die Erkenntnis vieler Gegenstände spielen die Wahrnehmungen, die wir von ihnen gemacht haben, gar keine Rolle, z.B. identifizieren wir leicht auch ein Iglu als Haus, auch wenn wir zuvor nur mitteleuropäische Häuser und deren Formen gesehen haben, und wir tun dies, wenn wir die Funktion eines Iglus, etwa dass es Schutz gegen Witterung und Raum für Aufenthalt bietet, erkennen. Bei der Erkenntnis von Funktionen regiert tatsächlich der Begriff über die Wahrnehmungen. Denn natürlich brauchen wir unsere Wahrnehmungen, um festzustellen, dass etwas ein Iglu ist. Wir richten uns dabei aber nicht nach allem und jedem, was wir wahrnehmen, sondern wir wählen aus, und zwar geleitet von unserem Wissen um das, was die Funktion eines Hauses ist. Diejenigen wahrnehmbaren Eigenschaften, die diese Funktion erfüllen, z.B. die Dichte und Stabilität des Schnees, benutzen wir, um festzustellen, dass dieses besondere Gebilde tatsächlich ein Haus ist. Die interessante und wichtige Frage, was Funktionen sind und wie man sie erkennt, bräuchte zu ihrer Beantwortung leider einen eigenen Vortrag. Dennoch möchte ich wenigstens darauf hinweisen, dass man erst von einem rich-

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tigen Begriff von Funktion her unterscheiden kann, was überhaupt ein Element ist, und welche Leistung man von einem Element erwarten kann. Ein Element ist nämlich keineswegs einfach das, was irgendwie erhalten bleibt, wenn man ein komplexes Phänomen in seine einfachen Bestandteile zerlegt oder analysiert. Z.B. kann man Wörter in Bestandteile zerlegen, die bei allen Bildungen von Wörtern gleich bleiben, also in die Buchstaben. Buchstabe heißt ja auf Lateinisch ‚elementum‘. Das Verhältnis von Wörtern und Buchstaben ist auch das eigentliche Beispiel, von dem her man das Verhältnis von Gegenstand und Element auf alle Gegenstände übertragen hat. Fährt man aber bei diesem Prozess des Zerlegens noch weiter fort, um auch noch die Bestandteile der Buchstaben, etwa die geraden und runden Striche zu ermitteln, oder gar noch weiter und weiter, bis man schließlich vielleicht bei den Kohlenstoffatomen des Graphits angekommen ist, mit dem die Buchstaben geschrieben wurden, dann hat man es nicht mehr mit Elementen der Sprache zu tun, sondern mit Bestandteilen von allen möglichen Gegenständen, z.B. auch von Diamanten. Auch ein Gen, das etwa in der Haut- und Leberzelle identisch ist, ist kein Element der Haut oder der Leber. Element der Leber kann vielmehr nur ein Bestandteil sein, der der spezifischen Funktion der Leber dient. Die Frage, ob etwas Element von etwas ist, ist also eine komplizierte Frage, deren Beantwortung immer von der vorausgehenden Kenntnis der Systemstelle, die etwas innerhalb einer Funktion hat, abhängt. Von der Nichtbeachtung der Bedingungen, die etwas zu einem Element von etwas machen, hängt ein nicht geringer Teil der Probleme ab, die man unter dem Begriff der Genmanipulation zusammenfasst. Genauso wie man aus Kohlenstoffatomen nur dann Diamanten herstellen kann, wenn man die würfelförmige Verbindungsmöglichkeit kennt, in die Kohlenstoffatome auf Grund ihrer pyramidalen Struktur gebracht werden können, denn aus den Kohlenstoffatomen für sich könnte man in anderer Verbindung auch etwas ganz anderes, z.B. Graphit herstellen, so muss es auch sein, wenn man Gene in ein Organ oder Organteile einsetzt, sonst ist das, was man tut, ein nicht zu verantwortendes Herumprobieren. Nun könnte man natürlich denken – und nicht wenige haben sich von diesem Gedanken beeinflussen lassen, – dass die Leistungsfähigkeit von Elementen in der Biologie sich grundsätzlich von dem unterscheiden müsse, was Elemente lebloser Körper können. Dass aus einem Haufen von Backsteinen nicht von selbst Schlösser und Villen werden, braucht man niemandem zu beweisen, und vielleicht auch nicht, dass sich Kohlenstoffatome nicht von sich aus einfach zu Diamanten verbinden. Da muss eine äußere Ursache dazukommen, auch wenn diese Ursache vielleicht nur der Zufall ist. Wenn aber etwas lebt, wie die Gene oder jedenfalls das Genom eines Organismus, dann haben doch, so scheint es, diese Elemente alles schon in sich und bringen aus sich durch eigene Aktivität hervor, was sich aus ihnen entwickelt.

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Auch bei der Beantwortung dieser Frage hat sich aber leider – und noch dazu in langer Tradition – eine erhebliche begriffliche Ungenauigkeit eingebürgert. Um wenigstens einen groben Einblick in die Probleme, um die es hier geht, zu vermitteln, muss ich erst noch einmal bei den Elementen der Physik und der Chemie einsetzen. Der Prozess, aus dem aus Kohlenstoffatomen mit ihrer pyramidenförmigen Binnenstruktur eine Verbindung entsteht, die den sog. Phänotyp eines Diamanten bildet, kann ein bloßer Zufall aus Druck und Stoßverhältnissen sein, der in einer anderen Welt vielleicht niemals ablaufen würde. In diesem Sinn sind Diamanten ein Produkt aus atomaren Elementen und ganz besonderen, vielleicht zufälligen Einwirkungen einer bestimmten Umwelt. Diese uns geläufige Erklärung ist aber ganz offenkundig nur die halbe Wahrheit. Denn wenn der Zufall dieser Druck- und Stoßverhältnisse irgendwo anders aufgehört hätte als bei genau einem Würfel, und zwar einem Würfel ganz bestimmter Art, der seinerseits aus genau acht Würfeln besteht, in deren Mitte je ein Kohlenstoffatom sitzt, das durch eine sog. kovalente Bindung mit allen Ecken des Würfels verbunden ist, dann wäre aus eben denselben Kohlenstoffatomen mit denselben Eigenschaften etwas anderes und vielleicht sogar etwas völlig Unbestimmtes, Beliebiges entstanden. Zur Verdeutlichung des begrifflichen Problems, das hier vorliegt, nehme ich noch ein einfacheres Beispiel. Wenn irgendein Material, Holz, Kreide oder Wasser, in die Form eines Kreises gebracht wird, kann es für diesen Vorgang viele Ursachen geben: Naturgesetze, technische Methode oder Zufall. Alle diese Ursachen erreichen aber nur dann ihr Ziel, wenn sie der Bedingung genügen, ein Ganzes herzustellen, bei dem alle Teile der Peripherie genau den gleichen Abstand von einem Zentrum einhalten. Diese Bedingung entsteht offenbar nicht durch diese Ursachen, also auch nicht durch irgendeinen Prozess der Evolution, sondern diese Bedingungen sind genauso wie die Formen der Pyramide oder des Würfels nichts als Möglichkeiten, allerdings exakt und d.h. rational erkennbare Möglichkeiten, die natürliche oder technische Prozesse verwirklichen, zum Teil verwirklichen oder gar nicht verwirklichen können. Es sind in diesem Sinn unbedingt nötige, aber nicht zwingend wirkende Vorgaben jeder Entwicklung (Evolution). Wenn die Unterscheidung, die wir uns hier sehr grob erarbeitet haben, die Unterscheidung also zwischen den Materien, aus denen etwas besteht, Holz, Kreide oder auch Atome, Moleküle, den Prozessen, in denen diese Materien verändert werden: Naturgesetze, Technik, Zufall, und den allgemeinen, rational erkennbaren Möglichkeiten, nach denen sich diese Prozesse richten können, bei den Bioelementen nicht gültig sein sollte, dann müssten bei ihnen alle diese Unterschiede in den Elementen selbst vereinigt sein. Von einer begrifflichen Analyse her muss das aber als ausgeschlossen gelten. Damit etwas mehr ist als ein Element der Physik oder Chemie müssen im Bereich des Lebendigen bestimmte Eigenschaften dazukommen, die

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immer gegeben sein müssen, wenn etwas ein Element von Lebendigem sein soll, z.B. die Fähigkeit zur Reduplikation, zur Mutation und zum Metabolismus (Stoffwechsel). Diese Fähigkeiten hat nun ein Biomolekül mehr als ein chemisches Molekül. Diese eigenen vitalen Fähigkeiten sind aber auch bei Biomolekülen nur notwendige Bedingungen, d.h., Bedingungen, die immer gegeben sein müssen, wenn etwas überhaupt lebt, sie sind keine zureichenden Bedingungen, d.h., keine solchen Bedingungen, die bewirken, damit etwas in verschiedener Weise lebt. Diese zureichenden Bedingungen müssen auch bei den Biomolekülen von außen dazukommen, und zwar in einer systematischen, sachgerechten Weise. Ein Myosinmolekül z.B. stellt über die Grundeigenschaften der Biomoleküle hinaus bereits eine komplexere Verbindung dar. Dennoch müssen bei dem Weg, auf dem aus Myosinmolekülen ein Organismus, z.B. eine Qualle wird, viele zusätzliche Eigenschaften erworben werden, die sich keineswegs einfach aus dem, was ein Myosinmolekül kann, ergeben. Eine bloße Gruppe von Myosinmolekülen ist noch kein Filament, ein bloßer Haufen von Filamenten noch keine Fibrille, eine Nebeneinanderstellung von Fibrillen bildet noch lange keine Muskelfaser, usw. Alle diese neuen Formen des Lebens bauen nicht nur aufeinander auf, sie benötigen auch jedes Mal eine bestimmte Formung ihrer Organisation, die nicht beliebig ist, sondern die ähnlich wie die Bildemöglichkeiten des Kreises, mehr oder weniger verwirklicht werden muss, wenn überhaupt eine neue Form des Lebens und nicht irgendein chaotisches Zwischenprodukt erreicht werden soll. Was hier zusätzlich nötig ist, erkennt man bei höheren Lebensformen, die dem Geisteswissenschaftler auch näher liegen, noch deutlicher. Von den Elementen des Gehirns, den Neuronen, wissen wir inzwischen, dass sie plastisch, d.h., bildbar sind. Man kann sie nicht zu allem und jedem bilden, sondern nur zu dem, wozu sie die Grundfähigkeiten in sich haben, diese Fähigkeiten und Anlagen aber müssen ausgebildet werden, sonst realisiert sich kein irgendwie geartetes ‚Genprogramm‘. Diese Ausbildung aber kann man nicht der Beliebigkeit irgendeiner Art von Anpassung an die Umwelt überlassen, sondern dabei muss man den jeweiligen Sachforderungen gerecht werden: Ein Neuronenmuster, das zur Steuerung von Bewegungen geeignet sein soll, muss im Erlernen der Bedingungen der Bewegung geübt werden, es muss die Unterschiede etwa von gerade und gebogen, vorne und hinten, langsam und schnell usw. erlernen, und im Sinn dieser geometrischen Bedingungen von Bewegung organisieren ja auch Gymnastiklehrer oder Therapeuten ihre Übungen. Noch mehr werden die rationalen Bedingungen der Organisation der Neuronenmuster sichtbar, wenn man an die Ausbildung höherer Anlagen, z.B. zum Hören denkt. Wer nicht nur Geräusche wahrnehmen, sondern bestimmte Töne unterscheiden, sie wiedererkennen will, wer zur Aufnahme von Melodien, Harmonien fähig werden soll, muss sein Hörvermögen an Bedingungen schulen oder schulen lassen, die in keiner Evolution entstanden

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und in keinem ‚Genprogramm‘ enthalten sind, die aber mit dem Verstand erkannt und als Grundmöglichkeiten, wie Töne durch zahlenhafte Gleichmäßigkeiten bestimmt sein können, wissenschaftlich exakt bestimmt werden können. Übt der Einzelne diese Bedingungen nicht ein, und kennt eine ganze Gesellschaft diese Bedingungen überhaupt nicht oder kultiviert sie nicht mehr, dann ist alles Genmaterial umsonst vorhanden und es hilft auch keine Manipulation an den Genen. Und selbst wenn es so wäre, wie uns etwa Edward O. Wilson oder Wolf Singer versichern, dass die kindlichen Gehirnprogramme schon über alles verfügten, was sie von selbst befähigt, das für das Überleben ihres Organismus Wichtige auszuwählen und sich anzueignen, so dass die richtige Erziehung der Eltern vor allem darin bestünde, in das Selbsttun ihrer Kinder möglichst wenig einzugreifen, selbst dann würden diese programmierten Gehirne eben nur das Programm zum Überleben enthalten. Von einem guten, schönen, kultivierten, glücklich machenden und geistig erfüllenden Leben ist bei diesen Wissenschaftlern überhaupt nicht mehr die Rede. Dafür, dass die Sache des Geistes nicht so einfach aufgegeben werden kann und dass es sich auch im Bereich naturwissenschaftlicher Forschung lohnt, zu differenzieren, was durch die jeweiligen Forschungsmethoden überhaupt erreicht werden kann, wollte dieser Vortrag wenigstens mit einigen wenigen grundsätzlichen Argumenten werben. Es ist ja ohne Frage wichtig und heilsam, über ein möglichst umfassendes Wissen z.B. über die neuronalen Anlagen des Gehirns und die biochemischen Bedingungen ihrer Optimierung oder Heilung zu verfügen, dieses wichtige und bedeutende Wissen muss aber nicht dadurch zu einem Scheinwissen aufgewertet werden, dass man mit seiner Hilfe auch die Entstehung von Kultur, von Sittlichkeit, Kunst, Wissenschaft erklären will. Und umgekehrt ist es vielleicht auch im Bereich der naturwissenschaftlichen Forschung trotz der Tatsache, dass sie andere Forschungsziele als die Geisteswissenschaft hat, sinnvoll, die Bedeutung des Geistigen, v.a. des Begrifflichen und Rationalen weniger außer Acht zu lassen, weil man meint, diese Rationalität ergebe sich aus den konkret angewandten Beobachtungs- und Beschreibungsmethoden gleichsam von selbst.

Da wegen der Vortragsform in diesem Beitrag auf genauere Quellen- und Literaturangaben verzichtet wurde, sei zur Ergänzung auf zwei weiterführende Arbeiten des Verfassers verwiesen: Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, Stuttgart/ Weimar 20082, v.a. S. 460–523; Wie aufgeklärt ist die Vernunft? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht, Heidelberg 2016, v.a. 1–126.

Das Asperger-Syndrom

Das Asperger-Syndrom. Von der klinischen Beobachtung zur Hirnfunktion und zum Verständnis exzentrischen Verhaltens Helmut Remschmidt 1.  Einleitung und historischer Rückblick „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“. Dieser Satz von Wilhelm Dilthey (1833–1911) im Jahr 1910 war lange Zeit programmatisch für die Entwicklung und das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften zueinander. Als Psychologen und Psychiater beschäftigen wir uns mit dem Verstehen und Erklären, unser Seelenleben betrachten wir als einen Teil der menschlichen Natur. Wir möchten das Seelenleben verstehen, aber auch erklären, und wir tun dies, indem wir sowohl das Erleben studieren (das nur der Introspektion zugänglich ist) als auch das Verhalten, das wir von außen beobachten, messen oder mit speziellen Hilfsmitteln oder Experimenten auch verändern können. Nach heutigem Wissenschaftsverständnis können wir Diltheys Satz modifizieren und sagen: „wir versuchen das Seelenleben zu verstehen, um es zu erklären, und wir erklären es, um es zu verstehen“. Wir wollen im Gespräch von unseren Patienten erfahren, was sie denken und was sie erleben, müssen gleichzeitig ihr Verhalten zur Kenntnis nehmen, und wir interessieren uns in ganz besonderer Weise dafür, was in ihrem Gehirn vorgeht, wenn sie denken, fühlen, mit anderen Menschen kommunizieren oder auch bestimmte Aufgaben lösen. Dies soll im Folgenden am Beispiel des Asperger-Syndroms veranschaulicht werden. Es handelt sich um Kinder und junge Menschen, die in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich sind: Sie stammen aus Familien, in denen häufig ein Elternteil (meist der Vater) Kontaktprobleme hat, zu sozialem Rückzug neigt und sich gerne allein besonderen Interessen und Hobbys widmet. Sie lernen früh und sehr elaboriert sprechen, wirken motorisch hölzern und ungeschickt (Note fünf im Turnen), sind besessen von speziellen Interessen (in der Fachsprache nennt man sie „ausgestanzte Sonderinteressen“), die sie vehement verfolgen und über die sie anderen Menschen ungebremst berichten, auch wenn der Gesprächskontext und die Situation hierfür gänzlich ungeeignet sind. Sie haben große Schwierigkeiten, zu anderen Kindern Kontakt aufzunehmen, und wenn sie dies tun, ist ihre Form der Annäherung unangemessen.

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Sie haben allergrößte Schwierigkeiten, Gesichtsausdruck, Gestik und Emotionen anderer Menschen zu verstehen, sind nicht oder nur unzureichend in der Lage, die metaphorische Bedeutung in der Sprache (zum Beispiel Witze oder Gleichnisse) zu erfassen (verfügen also nicht über das was, wir „Empathie“ nennen) und verhalten sich deshalb häufig der Situation unangemessen, was regelmäßig zu nicht unerheblichen Konflikten mit anderen Menschen führt. Ihre Stimme ist häufig wenig moduliert und in der Intonation ungewöhnlich – sie klingt oft blechern und höher als diejenige anderer Kinder. Obwohl sie meist sehr intelligent sind, versagen sie häufig in der Schule oder werden wegen ihres untragbaren und inadäquaten Sozialverhaltens der Schule verwiesen. Jene, die das Abitur erreichen und studieren, wenden sich Fächern wie Informatik, Mathematik, Computerwissenschaften oder Philosophie zu, und einige entwickeln sich auch zu hochkarätigen Spezialisten, die leitende Positionen in der Wissenschaft oder Industrie erlangen, die sie fachlich ausfüllen können, denen sie aber in der Organisation und Menschenführung nicht gewachsen sind. Diese Kinder wurden 1944 von Hans Asperger (1906–1980), Professor der Pädiatrie in Innsbruck und später in Wien, unter der Bezeichnung „Autistische Psychopathen“ beschrieben. Heute werden sie nach dem Erstbeschreiber als Menschen mit „Asperger-Syndrom“ bezeichnet. Im deutschen Sprachraum war die Bezeichnung autistische Psychopathie in Fachkreisen seit der Veröffentlichung Aspergers wohl bekannt. Sie blieb aber, trotz Veröffentlichungen in englischer Sprache von van Krevelen (1963, 1971) und Bosch (1970) im angelsächsischen Sprachraum so gut wie unbekannt, bis Lorna Wing (1981) 34 Fälle mit der Überschrift „AspergerSyndrom“ publizierte. Diese Arbeit machte die Störung erst international bekannt und förderte das klinische und wissenschaftliche Interesse an dieser faszinierenden Variante des Menschseins in ungeahnter Weise. Historisch gesehen gebührt der russischen Kinderpsychiaterin Ssuchareva (1891–1981) das Verdienst, unter der Bezeichnung „die schizoiden Psychopathen des Kindesalters“ wohl als erste auf ein Störungsbild hingewiesen zu haben, das viele, wenn nicht alle Merkmale des Asperger-Syndroms umfasst. Bereits 1943 hatte Leo Kanner (1896–1981) das Syndrom des frühkindlichen Autismus beschrieben. Die Arbeit trug den Titel (in deutscher Übersetzung) „Autistische Störung des affektiven Kontakts“. Leo Kanner gilt als der Vater der amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sein Lehrbuch „Child Psychiatry“ hat mehrere Auflagen erlebt und Generationen von Kinder-und Jugendpsychiatern nachhaltig beeinflusst. Leo Kanner studierte in Berlin Medizin und wanderte 1924 in die USA aus, wo er am Johns Hopkins – Hospital in Baltimore eine kinde- und jugendpsychiatrische Klinik aufbaute. Heute zählen wir das Asperger-Syndrom (Übersicht bei Remschmidt und Kamp-Becker, 2006) zu den Autismus-Spektrum-Störungen, die wiederum

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zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gehören und durch drei Kardinalmerkmale gekennzeichnet sind (ICD –10): (1)  einen Beginn, der ausnahmslos im Kleinkindalter liegt, (2)  eine Einschränkung oder Verzögerung von Funktionen, die eng mit der biologischen Reifung des zentralen Nervensystems verknüpft sind, und (3) einen stetigen Verlauf, der nicht die für viele psychische Störungen typischen charakteristischen Remissionen und Rezidive zeigt.

2.  Diagnostik und Abgrenzungen Die Diagnose wird gestellt aufgrund der Vorgeschichte und der Beobachtung des Kindes in verschiedenen Situationen. Hierzu ist eine differenzierte kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig. Daher erscheint es sinnvoll, Kinder mit Verdacht auf das Vorliegen eines Asperger-Syndroms an einen niedergelassenen Kinder und Jugendpsychiater oder an eine zuständige Fachklinik zu verweisen. Neben der psychiatrischen Diagnosestellung nach ICD –10 sollten folgende weitere Bereiche diagnostisch abgeklärt werden: komorbide Psychopathologie, Einschätzung des allgemeinen Entwicklungsstandes, der kognitiven Fähigkeiten, des affektiven Verhaltens und der neuropsychologischen Funktionen. Ferner ist in jedem Fall eine körperliche/neurologische Untersuchung durchzuführen. Anamnestisch sollte die gesamte Symptomatik sowohl für das aktuelle Verhalten, als auch für vergangenes Verhalten, insbesondere das frühkindliche Alter, erfragt werden, um einschätzen zu können, ob die Symptomatik als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung anzusehen ist. Dies bedeutet, dass das auffällige Verhalten ein situationsübergreifendes und grundlegendes Funktionsmerkmal der gesamten Entwicklung darstellt und nicht gebunden ist an bestimmte Situationen (zum Beispiel nur außerhalb der Familie auftritt) oder ausgelöst wurde durch kritische Lebensereignisse (zum Beispiel Trennung der Eltern). In Tab. 1 ist die Symptomatik des Asperger-Syndroms wiedergegeben. Aus ihr geht hervor, dass sich diese auf drei große Symptombereiche konzentriert: qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation und begrenztes repetitives, stereotypes Verhalten.

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Tab. 1  Symptombereiche des Asperger-Syndroms Qualitative Beeinträchtigung: Soziale Interaktion

–  Nonverbales Verhalten (Blickkontakt, Mimik, Gestik) –  Kontaktverhalten, soziale Motivation –  Theory of Mind/Empathie –  Mangel an geteilter Freude/sozioemotionaler Gegenseitigkeit

Qualitative Beeinträchtigung: Kommunikation

–  Verzögerung oder Störung der Sprachentwicklung –  Sprachauffälligkeiten (stereotype Sprache, Echolalien, pronominale Umkehr...) –  Intonation, Sprechweise –  Wechselseitige Kommunikation – Sprachverständnis –  Verständnis sozialer Regeln der Kommunikation – Spielverhalten

Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten

– Veränderungsängste/Zwänge/Rituale – Motorik – Manierismen –  sensorische Interessen –  Sonderinteressen, ungewöhnliche Beschäftigungen

Zur Einschätzung der aktuellen Beeinträchtigung sollte eine ausführliche Exploration sowie eine Verhaltensbeobachtung des Kindes oder Jugendlichen durchgeführt werden. Hierzu sind auch private Videoaufzeichnungen der Familie hilfreich. Die Beobachtung sollte in verschiedenen Situationen erfolgen. Dabei sollte das Augenmerk auf die Fähigkeit zur Konversation, zur nonverbalen oder verbalen Kommunikation (pragmatische Aspekte, Sprachverständnis, sprachliche Auffälligkeiten usw.), das Spielverhalten und das sozio-emotionale Verständnis gerichtet sein. Zur Objektivierung der Symptomatik sind auch standardisierte Verfahren hilfreich, z.B. die Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (MBAS)(Kamp-Becker et al. 2005; Kamp-Becker und Remschmidt, 2006) als Screening-Instrument, das Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R)(Bölte et al. 2006) oder die Autism Diagnostic Observation Schedule-Generic (ADOS-G)(Rühl et al. 2004). Abgrenzungen Zunächst gilt es das Asperger-Syndrom von anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen abzugrenzen. Kinder mit frühkindlichem Autismus sind in der Regel von Geburt an auffällig, weisen häufig multiple Entwicklungsstörungen auf und sind auch in ihren kognitiven Funktionen meist deutlich eingeschränkt. Liegt eine eindeutige allgemeine Verzögerung der gesprochenen oder rezeptiven Sprache, eine Einschränkung der kognitiven Entwick-

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lung vor, so spricht dies für das Vorliegen eines frühkindlichen Autismus. Bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung fehlen die charakteristischen Symptome des Asperger- Syndroms, vor allem die ausgestanzten Sonderinteressen, die sprachlichen Besonderheiten und die zwanghaft- stereotypen Verhaltensweisen. Bei der Schizophrenie kommt es zu einer andersartigen Symptomatik (Denkstörungen, Wahn, Halluzinationen) und auch zu einem anderen Verlauf: schizophrenen Erkrankungen geht meist eine Phase einer weitgehend normalen Entwicklung voraus, auch die prodromalen Stadien lassen Kinder mit einer Schizophrenie nicht so auffällig erscheinen wie Kinder mit einer autistischen Symptomatik. Bei der reaktiven Bindungsstörung findet sich ebenfalls ein andersartiger Verlauf als beim Asperger-Syndrom, außerdem werden andere Ursachen für diese Störung angenommen. Die Abgrenzung zu den Zwangsstörungen ist manchmal schwierig, da Zwangssymptome beim Asperger-Syndrom ebenfalls häufig vorkommen. Sie stellen aber nicht den“ Kern“ der Störung dar. Gleiches gilt für die Abgrenzung zur zwanghaften Persönlichkeitsstörung. Eine häufige Fehldiagnose ist das AufmerksamkeitsHyperaktivitäts-Syndrom (ADHS), da bei dieser Störung ebenfalls deutliche, jedoch sekundäre Kontaktschwierigkeiten vorliegen können. Die Kardinalsymptome der hyperkinetischen Störung sind aber eine beeinträchtigte Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.

3.  Ursachen und Hintergründe Aufgrund vielfältiger Forschungsergebnisse gibt es heute keinen Zweifel mehr an einer biologischen Genese der Autismus-Spektrum-Störungen. Die noch bis in die 1960 er Jahre vertretene These, Autismus entstehe aufgrund einer emotionalen Kälte der Mutter (sogenannte „Kühlschrankmutter“), gilt heute als widerlegt. Schon in seiner Erstbeschreibung 1944 wies Hans Asperger darauf hin, dass die von ihm beschriebene „autistische Psychopathie“ einen genetischen Hintergrund hat. Soziale und psychologische Faktoren haben zwar einen Einfluss auf den Verlauf der Störung, sind jedoch nicht als ursächlich anzusehen. Obwohl eine Vielzahl von Daten für eine biologische Pathogenese spricht, fehlt bislang ein schlüssiges pathogenetisches Modell zur Ätiologie und Genese der autistischen Störungen. Die bislang vorliegenden Ergebnisse sprechen jedoch für eine Beteiligung folgender Faktoren an der Genese der Autismus-Spektrum-Störungen: genetische Faktoren, Hirnschädigungen bzw. Hirnfunktionsstörungen, biochemische Anomalien, assoziierte körperliche Erkrankungen, neuropsychologische Defizite sowie die Wechselwirkung dieser Faktoren. Während zum frühkindlichen Autismus inzwischen eine ganze Reihe von Familien- und Zwillingsstudien vorliegen, ist dies beim Asperger-Syndrom

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nicht der Fall. Auch im Hinblick auf molekulargenetische Studien ist die Datenlage unterschiedlich: mit Probanden, die an frühkindlichen Autismus leiden wurden bislang zahlreiche Genomscans durchgeführt, mit AspergerProbanden erst einer. Es wird mittlerweile angenommen, dass bis zu 20 Gene an der Verursachung von Autismus-Spektrum-Störungen beteiligt sind. Für die strukturellen Besonderheiten der Gehirne von Menschen mit Asperger-Syndrom konnten Abweichungen in verschiedenen Hirnregionen nachgewiesen werden (zum Beispiel im Großhirn, im limbischen System, im Kleinhirn und in der unteren Olive). Zurzeit wird ein Modell unzureichender neuronaler Vernetzung diverser zerebraler Areale von vielen Forschern diskutiert. Damit werden autistische Störungen als Hirnfunktionsstörungen angesehen. Im Bereich der neuropsychologischen Defizite wurden bislang folgende Korrelate autistischer Störungen identifiziert (Remschmidt und Schulte-Körne, 2004; Remschmidt und Kamp-Becker, 2005): abweichende Intelligenzstruktur, Störungen der exekutiven Funktionen (Funktionen, die für Planung und Vorausschau verantwortlich sind), Einschränkungen in der Theory-of-Mind (Fähigkeit, eigene und fremde psychologische Zustände im eigenen kognitiven System zu repräsentieren) und schwache zentrale Kohärenz. Damit ist gemeint, dass die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auf einzelne oder isolierte Details ausgerichtet ist, wodurch der Kontext und die Zusammenhänge von Gegenständen, Objekten oder Situationen in den Hintergrund treten und oft gar nicht erfasst werden. In Abbildung 1 ist ein vorläufiger Erklärungsansatz für diese Zusammenhänge dargestellt.

Abb. 1  Modellvorstellungen zur Ätiopathogenese der Autismus-Spektrum-Störungen

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4.  Intervention und Verlauf 4.1  Bewährte Therapieansätze bei Autismus-Spektrum-Störungen Die Therapie des Asperger-Syndroms basiert auf einem vertieften Verständnis der Ätiologie, der Symptomatik und der empirischen Evidenz bereits erprobter Behandlungsmethoden. Der ätiologische Hintergrund hat einen wesentlichen Einfluss auf die Behandlungsmöglichkeiten und -ziele. Es existieren eine Reihe von verhaltenstherapeutischen Programmen bei Autismus-Spektrum-Störungen (Lovaas, TEACCH 1987: Sprachaufbau, alternative Kommunikationssysteme; Schultz et al 2000) für die auch erste vergleichende Studien einen positiven Effekt belegen konnten (Howlin, 2005). Untersuchungen zur tiefenpsychologischen Behandlung, die den methodischen Anforderungen kontrollierter Studien entsprechen, liegen nicht vor. Für andere alternative therapeutische Ansätze liegen hingegen nur subjektive Erfahrungsberichte vor. Therapieerfolge konnten durch wissenschaftliche Studien nicht nachgewiesen werden. Leider mangelt es noch an überprüften Standards in der Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen. Weiterhin bleibt es Eltern überlassen, aus der Vielzahl sehr unterschiedlicher Autismustherapien, diejenige für ihr Kind auszuwählen, welche hinsichtlich Anforderungen, Wirksamkeit, Effizienz und ethischer Unbedenklichkeit die geeignete Methode zu sein scheint. In Tabelle 2 sind die gängigen Interventionstechniken hinsichtlich ihrer empirisch ermittelten Effektivität aufgelistet (Poustka et al. 2004; Weiß, 2002: Koegel et al. 2001). Tab. 2  Einschätzung der Effektivität von Interventionstechniken in der Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen 1.  Empirisch gut abgesicherte und allgemein anerkannte Verfahren: generell verhaltenstherapeutische Verfahren und Therapieprogramme (z.B. ABA-Ansatz, Lovaas, 1987; TEACCH, Mesibov, 1997) 2.  Empirisch mäßig abgesicherte, aber potentiell wirksame Verfahren: Trainings sozialer und kommunikativer Fähigkeiten: Theory of Mind-Trainings, Social Stories 3.  Empirisch nicht abgesicherte, aber in bestimmten Fällen hilfreiche Verfahren: Ergotherapie, Physiotherapie, sensorische Integration 4.  Zweifelhafte Methoden: Gestützte Kommunikation, Festhaltetherapie, Diäten, Vitamin- und Mineralstofftherapien, Sekretin, Therapie der visuellen bzw. auditiven Wahrnehmung, wie z.B. Auricula-Training, Tomatis-Therapie, Irlen-Therapie, Auditives Integrations-Training 5.  Weitere nach Elternberichten förderliche Verfahren: Reittherapie, aktive (ggf. unterstützte) Freizeitgestaltung (z.B. Sport, Musik, Schachverein usw.)

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4.2  Besondere Vorgehensweisen beim Asperger-Syndrom Aufgrund der vielfältigen Symptomatik beim Asperger-Syndrom sind umfassende Behandlungsansätze sinnvoll, die auf verhaltenstherapeutischen Prinzipien beruhen und sich stets auf die Förderung mehrerer Funktionsbereiche beziehen (s. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie). Die Therapie der Wahl ist Verhaltenstherapie im Entwicklungskontext, d.h. sie orientiert sich an dem aktuellen Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen und stimmt die Maßnahmen darauf ab. Einen besonderen Stellenwert haben in dem ganzheitlichen Ansatz, neben den zu modifizierenden Verhaltensweisen, die kognitiven und affektiven Erlebnisweisen der Menschen mit Asperger-Syndrom, die es zu erweitern gilt. Die Fähigkeiten in diesem Bereich sollten entwicklungsorientiert gefördert und die vorhandenen Defizite durch Kompensation überbrückt werden. Ziele der Interventionen können nur die Abschwächung der Symptome und der Auf- und Ausbau von Fähigkeiten sein, um dem Patienten zu einem weitgehend eigenständigen Leben zu verhelfen. Dazu werden verschiedene Interventionsmethoden in einem multimodalen Therapieplan zu einem ganzheitlichen Behandlungsansatz individuell miteinander kombiniert. Die „gewünschten“ Verhaltensweisen werden dabei zunächst in kleine Lernschritte unterteilt und Hilfestellungen („Prompts“) werden gegeben die dann allmählich zurückgenommen werden (Fading). Die verwendeten Verstärker können sehr „ungewöhnlich“ sein, wie z.B. die Erlaubnis, kurzzeitig Stereotypien oder Sonderinteressen nachzugehen. Das Repertoire umfasst, neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, auch pädagogische Programme, Frühförderung, medikamentöse Therapie sowie körperbezogene Verfahren (z.B. Ergotherapie). Um die neu erlernten Fertigkeiten und Fähigkeiten kontinuierlich einzuüben und vor allem, um einen Transfer auf reale Situationen zu ermöglichen, sind die Eltern als CoTherapeuten für eine erfolgreiche Therapie unverzichtbar. Selbsthilfeorganisationen und Elternvereinigungen unterstützen die Eltern bei dieser aufwändigen und beanspruchenden Aufgabe. Eine Therapie beim Asperger-Syndrom wie auch bei anderen Autismus-Spektrum-Störungen ist immer eine Langzeittherapie, da der Aufbau von Basis-Fähigkeiten wie z.B. der Theory-of-Mind, – die sich bei gesunden Kindern eher intuitiv und „nebenbei“ entwickelt – bei Menschen mit Asperger-Syndrom langer und geduldiger expliziter Anleitung bedarf. Ein grundlegendes Kontakt- und Verhaltenstraining steht dabei im Mittelpunkt der Therapie. Aufgrund der mangelnden Fähigkeit zur Generalisierung müssen diese Fähigkeiten in vielen verschiedenen realen Situationen eingeübt werden. Ein weiterer wichtiger Punkt in der Behandlung ist die schrittweise Erweiterung der Interessenbereiche in Richtung auf realitätsnähere Tätigkei-

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ten oder Aufgaben. Ein möglichst früher Beginn der therapeutischen Schritte ist von allergrößter Bedeutung für deren Erfolgsaussichten (Howlin, 1998). Die Interventionen sollten grundsätzlich hoch strukturiert sowie direktiv und konkret sein. Die Behandlung der komorbiden Störungen, zum Beispiel hyperaktiver sowie depressiver Störungen, Angst- und Zwangsstörungen, sollte nicht vernachlässigt werden. Dies kann gegebenenfalls auch eine pharmakologische Behandlung notwendig machen (Volkmar, 2001). Des Weiteren ist eine pharmakologische Behandlung bei äußerst rigiden und zwanghaft wirkenden Verhaltensweisen, beim Auftreten von aggressiven Reaktionen, die nicht anders behandelt werden können (z.B. mit Risperidon), sinnvoll. 4.3  Verlauf und Prognose des Asperger-Syndroms zeigen eine entwicklungspsychologische Variabilität, bleiben aber bis ins Erwachsenenalter als persistierende und tiefgreifende Symptomatik erhalten (Howlin et al, 2004). Zwar verbessert sich bei der Mehrzahl der Betroffenen graduell das Kontakt- und Sozialverhalten, wenn man es mit der diesbezüglichen Symptomatik im Kindes- und Jugendalter vergleicht. Auch werden gewisse Routinen im Alltag besser bewältigt, jedoch bleiben die basale Kommunikationsstörung, vielfach auch Stereotypien, die eingeschränkten Interessen und auch die eingeschränkte Fähigkeit zur Kontaktaufnahme mit anderen Menschen erhalten. Der Verlauf ist insgesamt sehr variabel. Zwar ist die Prognose beim Asperger-Syndrom besser als beim frühkindlichen Autismus, dennoch hängt der Verlauf nicht nur von guten kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten ab. Das Auftreten von komorbiden Erkrankungen beeinträchtigt deutlich die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten und die Prognose. Dennoch gibt es eine nicht geringe Anzahl von Menschen mit Asperger-Syndrom, die in hochspezialisierten Feldern Höchstleistungen vollbringen.

5.  Krankheit oder besondere Variante des Menschseins? Nach all den vielfältigen therapeutischen Bemühungen stellt sich die Frage warum es für Menschen mit Asperger-Syndrom so schwer ist, die Defizite, die sie haben durch Übung zu kompensieren. Hierzu gibt es mindestens zwei Erklärungen: – die erste bezieht sich darauf, dass es offenbar schwierig ist, Empathie, situationsgerechtes Verhalten und Spontanität einzuüben. Dies liegt vermutlich daran, dass es für willkürlich (z.B. durch Übung herbeigeführtes) Verhalten und für spontanes bzw. intuitives Verhalten im Gehirn unter-

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schiedliche Schaltkreise gibt, zwischen denen sich bislang durch Üben keine Verbindungen herstellen lassen. – die zweite hängt mit einer Entdeckung zusammen, die unter Hirnforschern, aber auch inzwischen in der Öffentlichkeit viel Aufsehen erregt hat: es handelt sich um die Funktion der Spiegelneuronen. Spiegelneuronen sind Nervenzellen im Gehirn, die während der Betrachtung eines Vorgangs oder einer Handlung bei der betreffenden Person die gleiche Aktivierung auslösen, als ob der Vorgang oder die Handlung von ihnen selbst ausgeführt würde. Aktives Ausführen und passives Betrachten führen also zu gleichen (oder zumindest annähernd gleichen) elektrischen Potenzialen. Spiegelneuronen wurden Anfang der Neunzigerjahre von einer italienischen Arbeitsgruppe in Parma in Tierversuchen entdeckt und sind inzwischen auch beim Menschen nachgewiesen (vgl. Rizzolatti und Sinigaglia, 2008). Sie sind verantwortlich für eine „innere Simulation“ oder ein „inneres Nachvollziehen“ von Vorgängen oder Handlungen, die man selbst nicht ausführt, aber beobachtet bzw. wahrnimmt. Dabei kann sich die Wahrnehmung sowohl auf das optische als auf das akustische System beziehen. Mit Hilfe der Spiegelneuronen können wir Absichten (Intentionen) anderer Menschen blitzschnell erschließen. Dies könnte im Rahmen der Evolution – den Sinn gehabt haben, drohende Gefahren durch Artgenossen bereits im Absichts- oder Planungsstadium zu erkennen (Gefahrenabwehr) – oder auch im Sinne der Arterhaltung dazu gedient haben, die zur Fortpflanzung bereiten Geschlechtspartner zum geeigneten Zeitpunkt zu finden. Mit der Entdeckung der Spiegelneuronen ist zum ersten Mal eine neuronale Grundlage aufgefunden worden für das, was wir „Empathie, emotionales Mitschwingen“ oder auch „Intuition“ nennen. Unter Intuition verstehen wir die Fähigkeit, Sachverhalte rasch, spontan und ganzheitlich zu erfassen und gemäß dieser Einsicht ebenso spontan (d.h. ohne zwischengeschaltete systematische Analyse) zu handeln. Dies umfasst mindestens zwei Elemente: – die Fähigkeit zur Einsicht in einen Sachverhalt und – die Fähigkeit zur Ausführung einer Handlung. In der Philosophie wurde lange Zeit zwischen intuitiv und diskursiv gewonnenen Erkenntnissen unterschieden. In der Alltagssprache steht intuitiv für Erkennen oder Entscheiden „aus dem „Bauch“ und diskursiv für solche, die über den Kopf erfolgen. Über intuitives Erkennen haben die Philosophen Spinoza, Fichte, Schelling und Husserl viel geschrieben. Unter anderem wurde Intuition als „geistige Anschauung“ oder als „transzendentale Funktion“ verstanden. Nach Husserl ist Intuition mit einer „Wesensschau“ gleich-

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zusetzen, während Kant die rationale Komponente des Erkenntnisprozesses in den Vordergrund stellt, wenn er schreibt: „das menschliche Denken ist nicht intuitiv, sondern diskursiv“. Heute wissen wir, dass intuitiv getroffene Entscheidungen und diskursiv getroffene keine Gegensätze sind – sie ergänzen einander oder werden von derselben Person je nach Situation, Erfahrungshintergrund Problemkreis abwechselnd angewandt. Intuition dient der Informationsverarbeitung bei großen und komplexen Datenmengen; diese sind prototypisch für soziale Situationen, womit wir wiederum beim Asperger-Syndrom bzw. bei den Autismus-Spektrum-Störungen wären. Intuition ist aber keine übernatürliche Fähigkeit, die uns in komplexen Situationen (ohne Nachdenken) den richtigen Weg weist. Intuition ist eine ganzheitliche und unbewusste Form der Informationsverarbeitung und Bewertung von Situationen und Sachverhalten. Sie kann erlernt werden, wenn die Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Und diese Voraussetzungen scheinen beim Asperger-Syndrom und beim hochfunktionalen Autismus (HFA, einer Variante des frühkindlichen Autismus mit weitgehend normaler Intelligenz) nicht oder zumindest nur sehr rudimentär ausgebildet zu sein. Von der fehlenden Intuition, dem eingeschränkten Verständnis für soziale Situationen, der reduzierten Empathiefähigkeit von Menschen mit AspergerSyndrom lässt sich wiederum der Bogen schlagen zu den Spiegelneuronen. So hat eine, inzwischen bestätigte Studie gezeigt (Dapretto, 2006), dass Jugendliche mit Autismus-Spektrum Störungen (AS und HFA) während der Betrachtung von Gesichtern mit verschiedenen Gesichtsausdrücken eine deutlich geringere Aktivierung der zuständigen Spiegelneuronenpopulationen aufweisen als Probanden einer Kontrollgruppe, die nach Alter Geschlecht und Intelligenz parallelisiert waren. Die Probanden mit Autismus-Spektrum-Störungen waren zwar in der Lage, die Aufgaben zu lösen, zeigten jedoch eine erheblich geringere Aktivierung der Spiegelneuronen als diejenigen der Kontrollgruppe, wobei die Aktivierung umso geringer war, je stärker die Probanden mit Autismus-Spektrum-Störungen sozial beeinträchtigt waren. Bei den involvierten anatomischen Strukturen handelt sich um die untere Stirnwendung und um Bereiche der Insel und der Amygdala. Die besonderen Eigenarten und Verhaltensweisen von Menschen mit Asperger Syndrom, als einer besonderen Variante der Autismus-SpektrumStörungen, haben die Frage aufgeworfen, ob nicht weitaus mehr Menschen davon betroffen sind als die Forschung bisher angenommen hat und ob nicht Menschen, die besondere Leistungen hervorgebracht haben, mitunter das Vollbild des Syndroms oder zumindest einen Teil der Symptomatik aufweisen. Damit stellt sich die Frage nach dem Krankheitsbegriff bzw. nach der Norm im Hinblick auf unterschiedliche Formen des Erlebens und Verhaltens, also auch nach der Persönlichkeit. Keinesfalls muss jeder Mensch,

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der das Vollbild oder einen Teil der Symptome oder Verhaltensweisen des Asperger-Syndroms aufweist, behandelt werden. Entscheidend ist, wie er in seiner jeweiligen Umgebung damit zurechtkommt. Zweifellos gibt und gab es manche Persönlichkeiten, die auf verschiedenen Gebieten Höchstleistungen vollbracht haben, aber in ihrem Verhalten und ihrer Persönlichkeit höchst ungewöhnlich waren und all das verkörperten, was wir heute Asperger-Syndrom nennen. Darüber gibt es inzwischen eine Reihe von Publikationen. So wurde diskutiert, ob nicht Michelangelo, Albert Einstein, Isaac Newton oder auch der Pianist Glenn Gould und manch andere in ihrem Verhalten teilweise oder überwiegend diesem Symptombild entsprachen. Dass dies auf Einstein nicht zutrifft, hat Kamp-Becker (2013) in einer sorgfältigen biografischen Analyse nachgewiesen. Recht genau untersucht wurde diese Hypothese im Hinblick auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein (Fitzgerald 2000; 2003; Gillberg, 2003). Es gibt hierzu mehrere sorgfältige Analysen seiner Biografie unter dieser Perspektive, die überwiegend zu dem Ergebnis kommen, dass er unter einer Störung litt, die man entweder dem Typus der schizoiden Persönlichkeitsstörung oder dem Typus des Asperger-Syndroms zuordnen kann. Ich habe diese Publikationen eingehend studiert und mit biografischen Angaben, die ich über Ludwig Wittgenstein finden konnte, verglichen. Er war in der Tat eine sehr auffällige Persönlichkeit mit vielen absonderlichen Verhaltensweisen. Er war das jüngste von acht Kindern einer sehr wohlhabenden Wiener Familie. Drei seiner sieben Geschwister (Hans, Rudolf und Kurt) begingen Selbstmord. Er selbst war immer wieder depressiv und hatte Selbstmordgedanken. Er war egozentrisch und rechthaberisch, zugleich aber auch sehr unsicher. Er wuchs ohne Freunde auf, befasste sich als Kind bereits intensiv mit technischen Fragen, er sprach in Wien und später in Linz mit seinen Mitschülern korrektes Hochdeutsch (was in diesem Rahmen ungewöhnlich war) und verlangte, dass seine Schulkameraden ihn siezten. Diese betrachteten ihn, wie es in einer Biografie heißt (Wuchterl und Hübner, 2006) wie „aus einer fremden Welt herabgeschneit“. Er begann ein Ingenieurstudium an der Technischen Hochschule in Berlin, wandte sich dann in England der Philosophie zu, verrichtet Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg, war danach als Volksschullehrer in Österreich tätig, musste den Schuldienst aber quittieren, weil er einen Schüler geschlagen hatte, ging wieder nach England und wurde dort schließlich Professor für Philosophie. Als solcher zog er sich monatelang in die Einsamkeit zurück und schrieb nur wenig, aber Bedeutendes. Er hatte weder zu Frauen noch zu Männern engere emotionale Beziehungen. Seine Kontakte, von denen er etliche mit bekannten Philosophen und Psychologen (z.B. Bertrand Russel und Francis Skinner) pflegte, beschränkten sich alle auf das Denken und auf philosophische Interessen. Die einzige Person, zu der eine engere Beziehung hatte, war seine Schwester Margarete.

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Zweifellos litt Wittgenstein, neben einem Asperger-Syndrom, auch immer wieder an depressiven Verstimmungen, was bei dieser Störung gar nicht selten ist. Er starb 1951 in Cambridge im Alter von 62 Jahren an einem Krebsleiden. Im Hinblick auf Wittgenstein muss man als Psychiater natürlich die Frage stellen, warum er nicht behandelt wurde. Vielleicht konnte der so extrem kognitiv ausgerichtete Mensch seine emotionalen Befindlichkeiten nicht näher beschreiben und diesbezüglich auch keinen Leidensdruck wahrnehmen. Vielleicht hätte aber eine Behandlung auch mit seiner Kreativität interferiert. Aber diese Fragen sind müßig, wir können sie nicht beantworten. Jedenfalls konnte sich Wittgenstein nicht auf das Emotionale, das Atmosphärische, einlassen, es ging ihm immer um das, was man konkret benennen und ausdrücken kann. Als Kommentar zu derartigen Fragen können wir Wittgenstein selbst zu Wort kommen lassen, wenn er in seinem Tractatus logicophilosophicus ausführt: „was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen, und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“. Recht klar lässt sich aber sagen, dass das Asperger-Syndrom keineswegs immer als behandlungsbedürftige Störung angesehen werden muss, sondern auch als eine faszinierende Variante des Menschseins, bei der Höchstleistungen und ausgeprägte Defizite disparat nebeneinanderliegen und deren Verständnis uns Erkenntnisse nicht nur über das menschliche Gehirn (das „soziale Gehirn“ oder wie es im Englischen heißt das „social brain“), sondern auch über das menschliche Zusammenleben vermitteln kann.

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Religion

Kirche und Nation im orientalischen Christentum Wolfgang Hage Eine durch gemeinsame Religionszugehörigkeit definierte Gemeinschaft (etwa eine wie auch immer organisierte christliche Kirche) existiert zugleich auch in einem größeren Rahmen, fügt sich ein in einen Staat, in ein Volk, in eine Nation. Auch wenn diese drei Begriffe „Staat“ – „Volk“ – „Nation“, wie wir aus unserer eigenen deutschen Geschichte wissen, durchaus nicht synonym zu verstehen sind, so sind es doch unterschiedliche Aspekte derselben anderen Größe, der sich eine Religionsgemeinschaft gegenüber sieht. Das Verhältnis beider zueinander kann, wie wir ebenfalls aus unserer eigenen Geschichte wissen, ganz unterschiedlich geprägt sein. Es kann in weitgehender Identifizierung des Religiösen mit dem Politischen staatskirchlichen Charakter haben. Es kann aber auch im genauen Gegensatz dazu die Form einer selbstgewählten Isolierung von der „Welt“ außerhalb der eigenen Gruppe annehmen in bewusster Abgrenzung von allem, „was des Kaisers ist“1. Und von der anderen Seite her gesehen, kann dieses Verhältnis durch staatliche Förderung des religiösen Lebens oder doch durch Toleranz geprägt sein – oder aber andererseits durch Intoleranz bis zur Verfolgung aller oder einzelner Religionsgemeinschaften. Dieses wie auch immer gestaltete Gegenüber einer religiös definierten Gruppe zu ihrem politischen Umfeld meint das thematische Paar „Kirche und Nation“; und vor dem Hintergrund des zu beiden Größen zunächst allgemein Gesagten richtet sich der Blick hier nun auf das „orientalische Christentum“: auf die Kirchen in ihrer langen Geschichte unter islamischer Herrschaft, die mit der arabischen Eroberung des bis dahin byzantinischen Orients in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts begann2. Die ganz neue Lage, in die sich die von diesem Machtwechsel betroffene Christenheit versetzt sah, war durch diesen doppelten Grundsatz geprägt: Die Christen im islamischen Staat genossen religiöse Duldung – aber sie genossen diese Duldung als Untertanen minderen Rechts. Das betraf unterschiedslos die Anhänger aller christlichen Kirchen und Konfessionen und   Evangelium nach Matthäus, Kap. 22,21, und Parallelen.   Vgl. dazu und zum Folgenden allgemein Hage (2007) 45–52. Unter der dort genannten weiterführenden Literatur seien besonders genannt: Kallfelz (1995) und (zum Vertragssystem) Fattal (1958). Zur osmanischen Zeit vgl. Baum (2005) 23–37; Merten (2014) 47–52. 1 2

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galt in gleicher Weise auch für die Juden. Im Rahmen dieser eingeschränkten staatlichen Duldung waren die Christen in ihrem kirchlich-religiösen Leben geschützt, hatten aber gewisse Einschränkungen hinzunehmen, waren etwa zur Zahlung einer Sondersteuer verpflichtet und mussten im täglichen Leben als Nichtmuslime erkennbar sein. Das alles wurde im Rahmen eines Vertragssystems schriftlich fixiert, das mit der islamischen Herrschaft begann und prinzipiell – wenn auch mit gelegentlichen Modifikationen im einzelnen – über die Jahrhunderte hin in Kraft blieb, um schließlich in das Millet-System des Osmanischen Reiches einzumünden, das bis zu dessen Untergang nach dem Ersten Weltkrieg galt. Zu den Konsequenzen dieses Vertragssystems gehörte es nun auch, dass es das Bewusstsein der Gruppenidentität schärfte. Denn war die jeweilige Kirche schon durch ihre besondere Konfession oder bei Konfessionsgleichheit durch ihre eigene Hierarchie und ihre traditionelle Kirchensprache als feste Größe erkennbar, so wurde diese eigene Identität nun zugleich durch die staatliche Rechtsordnung gestärkt. Auf der Grundlage dieser Ordnung gab es nämlich nicht nur die Bestimmungen für die einzelnen Christen, sondern auch für das Gegenüber der islamischen Staatsmacht zur jeweiligen Kirche als ganzer, repräsentiert durch ihr Oberhaupt, den Patriarchen, in dessen Person seine Gläubigen in ihrer Gesamtheit vor dem Herrscher standen. Der Patriarch als Oberhirte seines Kirchen-Volkes war also zugleich der Repräsentant seines „Volkes“, seiner „Nation“, im staatlich-rechtlichen Sinne. Damit aber ergab sich vor dem Hintergrund des einleitend zum Verhältnis „Kirche und Nation“ Gesagten ein bemerkenswertes weiteres Modell. Denn hier deckten sich nun die Begriffe „Volk“ und „Nation“ mit der Religionsgemeinschaft; „Nation“ war nicht der Staat, sondern der islamische Staat verstand sich als der politische Rahmen einer Vielzahl von „Völkern“, bzw. „Nationen“. Für den einzelnen Gläubigen führte diese Konstruktion zu der Konsequenz, dass er nicht unmittelbar Glied des Gesamtstaates (mit diesem oder jenem privaten religiösen Bekenntnis) war, sondern dass er primär einer bestimmten „Nation“ angehörte und in ihrem Rahmen seinen Platz in der Gesamtbevölkerung des islamischen Reiches hatte. Das eindrücklichste und noch aktuelle Beispiel für dieses System von „Nationen“ in einem gemeinsamen Staat bietet der Libanon mit seinen christlichen Kirchen, seinen muslimischen Sunniten und Schiiten, seinen Drusen und Juden, die durch ein ausgeklügeltes Proporz-System an der Regierung und Verwaltung des Landes beteiligt sind3. Man ist nicht vor allem „Libanese“, sondern ein zum Staat Libanon gehörender Maronit oder orthodoxer Christ oder Schiit, und auch der Atheist kann nicht bloß „Libanese“ sein, sondern hat einer der offiziellen Religionen und Konfessionen zumindest äußerlich anzugehören.

  Vgl. dazu insgesamt Kewenig (1965).

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Im Blick auf den islamischen Staat im Mittelalter seien zum Thema „Kirche und Nation“ exemplarisch hier nun zwei Kirchen herausgegriffen, an denen man ganz unterschiedliche Beobachtungen machen kann: die RumOrthodoxe Kirche des Patriarchats Antiochia mit ihrem Patriarchen (seit dem 14. Jahrhundert) in Damaskus und die Syrisch-Orthodoxe Kirche mit ihrem Patriarchen (seit 1959) ebendort. Die Syrisch-Orthodoxe Kirche4 ging, was ihren Namen erklärt, aus der syrisch-aramäischsprachigen Bevölkerung des Vorderen Orients hervor, die sich schon sehr früh in ihrer großen Mehrheit dem Christentum zuwandte. Kirchlich selbständig unter einem eigenen Oberhaupt wurde diese syrischaramäische Christenheit in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts nach heftigen theologischen Auseinandersetzungen um die rechte Definition des Christus-Bekenntnisses, die im Orient zur Kirchenspaltung führten5. So entstand jetzt die Syrisch-Orthodoxe Kirche – wie zur gleichen Zeit auch die Koptisch-Orthodoxe Kirche Ägyptens – als Gegenkirche zur offiziellen byzantinischen Reichskirche und damit in Opposition zum Kaiser. Das machte ihre Lage brisant; denn die mannigfachen Versuche einzelner Kaiser, die Kirchentrennung durch Religionsgespräche zu beheben, schlugen sämtlich fehl, so dass der Staat schließlich zur blutigen Verfolgung schritt und die Syrisch-Orthodoxe Kirche in den Untergrund abdrängte. Das war die Situation, als die muslimischen Araber den Vorderen Orient überrannten und mit ihrer ganz anderen Religionspolitik dieser Kirche zum Besseren verhalfen. Denn auch für diese eben noch staatlich verfolgten syrisch-orthodoxen Christen galt nun im neuen Staat das den nichtmuslimischen Untertanen gewährte prinzipielle Existenzrecht. Wie alle anderen waren die SyrischOrthodoxen unter ihrem Patriarchen fortan „Kirche als Nation“ im Gesamtrahmen des islamischen Reiches. Diese so vom Staat verordnete Gleichsetzung von „Kirche“ und „Nation“ prägt dann auch die Sicht eines der großen Patriarchen der Syrisch-Orthodoxen Kirche: Michaels des Syrers, der gegen Ende des 12. Jahrhunderts eine Weltchronik verfasste, in deren letztem Teil er seine eigene Zeit behandelt6. Da nennt er die Kirchen, die ihm in seiner Umwelt also zugleich als Nationen begegnen, ganz selbstverständlich „Völker“. Die byzantinischen Christen der ehemaligen Reichskirche sind für ihn das „Volk der Griechen“ (mit seinen orientalischen Patriarchaten Alexandria, Antiochia und Jerusalem); die inzwischen als Kreuzfahrer im Lande anwesenden römischen Katholiken bezeichnet er als das „Volk der Franken“ (mit den lateinischen Patriarchen   Zu ihrer Geschichte vgl. Hage (2007) 130–167.  Zu diesem christologischen Streit vgl. (mit weiterführenden Literatur-Hinweisen) ebd. 31–36. 6   Zu diesem Werk (mit dem Titel „Die Beschreibung der Zeiten“) vgl. Weltecke (2003) und zum Folgenden ausführlicher Hage (2002). 4 5

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in Antiochia und Jerusalem); die Kopten sind das „Volk der Ägypter“ (mit ihrem Patriarchen), und er selbst weiß sich als den „Patriarchen unseres Volkes“, nämlich des syrisch-orthodoxen. Dass diese von ihm also durchweg so genannten „Völker“ Kirchen sind, die sich in ihrem Konfessionsstand mit seinem eigenen christologischen Bekenntnis treffen (wie die Kopten), oder aber seinem Bekenntnis widersprechen (Griechen und Franken), ist dem gebildeten Theologen, als den Michael sich durchaus zu erkennen gibt, natürlich bewusst. Aber dass er die Seinen nicht vordergründig als „Kirche“ in ihrer besonderen konfessionellen Prägung versteht, sondern theologisch neutraler als „Volk der Syrer“, gibt seinem Verkehr mit den anderen eine ganz andere Basis. Denn nicht das Gegenüber der kontroversen theologischen Positionen bestimmt nun Michaels Sicht, sondern man begegnet sich von „Volk“ zu „Volk“. Und das führt in der Praxis dann zu diesem Ergebnis: Die byzantinischen Christen und die römischen Katholiken mit ihrem gemeinsamen christologischen Bekenntnis stehen zwar beide für Michael auf der theologischen Gegenseite, aber von „Volk“ zu „Volk“ lassen sich die Grenzen der Sympathie anders ziehen. Denn da gibt es die traditionelle Feindschaft zum – wie der syrisch-orthodoxe Patriarch mit Vorliebe sagt – „Volk der bösen Griechen“, andererseits aber das gute Einvernehmen mit dem „Volk der Franken“. Michaels Weltchronik ist deswegen für uns so interessant, weil das, was unter dem Islam staatsrechtlich längst galt und praktiziert wurde, hier nun auch im Selbstverständnis eines Syrisch-Orthodoxen des 12. Jahrhunderts greifbar wird. Und diese Stimme aus dem Mittelalter mit ihrer so selbstverständlichen Identifizierung von „Kirche“ und „Volk“ („Nation“) hört man mit geschärftem Ohr, wenn man auf die Kirche jenes Patriarchen in der Gegenwart blickt, hier nun genauer auf die syrisch-orthodoxen Christen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft7. Denn inzwischen ist ein Großteil dieser Orientalen aus der angestammten Heimat in die Diaspora abgewandert und bildet inzwischen auch in Deutschland stattliche Gemeinden. Längst sind diese Christen aus dem Orient unter uns eingebürgert, und es wächst die Zahl derer, die schon hier geboren sind. Es sind deutsche Staatsbürger wie die Deutschen sonst; es sind Deutsche mit dem besonderen christlichen Bekenntnis, auf dem ihre Kirche steht, und damit bereichern sie in unserem Land das konfessionelle Bild. Aber so verstehen sie sich nicht selbst. Sie gründen ihre Identität primär nicht darauf, „Kirche“ mit ihrer eigenen Konfession, sondern „Volk“ zu sein8: „Volk der Aramäer“ mit der traditionellen syrisch-aramäischen Sprache im Gottesdienst, die sich hier allem Eindringen der Landessprache widersetzt. Denn es ist letztlich, wenn man 7   Ich wiederhole hier das schon an früherem Ort zum Selbstverständnis der SyrischOrthodoxen Zusammengestellte: Hage (2003) 116–121. 8   Vgl. dazu (mit weiterführender Literatur) Hage (2007) 166.

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nach dem Kern des Selbstverständnisses dieses „Volkes der Aramäer“ sucht, die althergebrachte und ehrwürdige Sprache, an der man alles hängen sieht. Es ist die „Sprache des Herrn“, wie man sie ehrfurchtsvoll und nicht ohne Stolz nennt, die zwar in ihrer ost-aramäischen Prägung nicht mit Jesu galiläischem Dialekt des West-Aramäischen identisch ist, die aber unter allen Liturgiesprachen auf Erden der Sprache Jesu und seiner ersten Nachfolger tatsächlich am nächsten kommt. Es ist die eigene traditionelle Sprache, die man über die Liturgie hinaus lebendig halten, bzw. gerade in der Diaspora zu neuem Leben erwecken will, und deren Pflege als ein Hauptziel des Religionsunterrichts gesehen wird. Im Geiste dieses ethnisch-sprachlichen Identitäts-Bewusstseins entstand in den 1980er Jahren aus den syrisch-orthodoxen Gemeinden heraus die Föderation „Syrisch-Aramäische Vereine in der Bundesrepublik Deutschland“ als Dachverband einer größeren Zahl aramäischer Sport- und Kulturvereine. Und damit war dann auch der organisatorische Rahmen geschaffen für das erklärte Ziel, „die Sprache, Geschichte, Kultur und Tradition des syrisch-aramäischen Volkes in Europa zu pflegen und über lange Jahre hinaus zu erhalten, sowie die Betreuung des Volkes auf Vereins- und Kirchenebene zu stabilisieren“9. „Lerne Deine aramäische Muttersprache“, lesen wir über einer Seite der Zeitschrift dieser Föderation, die sich auch an Jugendliche richtet, und auf einer anderen Seite derselben Ausgabe wirbt eine Anzeige für „aramäische Fahnen“ in drei verschiedenen Größen10. Mit ihren derartigen Bemühungen, die Identität der Kirche als eigene Nation zu sichern, bleibt die aramäische Föderation indessen – was ausdrücklich zu betonen ist – im Rahmen der Syrischen-Orthodoxen Kirche und ihrer Gemeinden, hält sich also innerhalb der Grenze, die anderenorts überschritten wird. Denn wo dieses Bewusstsein, eigenes „Volk“, eigene „Nation“, mit der eigenen Sprache und Kultur zu sein, zur letzten Konsequenz getrieben wird, da tritt die herkömmliche konfessionelle Besonderheit ganz in den Hintergrund. Da können die kirchlichen Grenzen übersprungen werden zugunsten eines umfassenderen, als Einheitsbewegung verstandenen „Assyrertums“, dem man, durch die syrisch-aramäische Sprache verbunden, gemeinsam angehört: als Gläubige in syrisch-orthodoxer Tradition – wie als Gläubige mit dem diametral entgegengesetzten Bekenntnis der ost-syrischen Apostolischen Kirche des Ostens11. Damit aber hat der Weg im Verständnis von „Kirche“ und „Nation“ dann zu einem Ergebnis geführt, das zwar im   Demir (1991) 50. Vgl. zu dieser aramäischen Föderation auch Merten (1997) 196–198.   Mardutho d-Suryoye, Zeitschrift der Föderation der Aramäer (Suryoye) in Deutschland, Nr. 35 (13. Jg., Oktober–Dezember 2001) 40. 17. 11  Zum Selbstverständnis und zu den Zielen der „Assyrischen Einheitsbewegung“ vgl. Šimšek (1991), und zur Geschichte des überkonfessionellen Nationalgedankens unter den syrisch-sprachigen Christen (nebst der Herkunft der Selbstbezeichnung „Assyrer“) und den damit verbundenen Auseinandersetzungen ausführlich Merten (1997) 32–34. 193–196, sowie BarAbrahem (2004). – Zur Geschichte der Apostolischen Kirche des 9

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Rahmen eines sich in der Gegenwart vielfach zeigenden Bewusstseins nationaler Minderheiten erklärlich, aber geschichtlich paradox ist. Denn wenn der Patriarch Michael einst von seiner Kirche als von einem „Volk“ reden konnte, so doch nur deshalb, weil es die besondere Konfession war, die diese abgrenzbare Größe geschaffen hatte. Ein in der Gegenwart daraus abgeleitetes „National“-Bewusstsein, das diese Grundbedingung ignoriert, beraubt sich damit also seiner geschichtlichen Wurzel. Unter dem Primat der Sprache aber, an der nun alles hängt, sieht man das Verhältnis von „Kirche“ und „Nation“ so, wie man es im Sinne dieses „Assyrertums“ knapp auf den Punkt bringt: „Die assyrische Einheitsbewegung glaubt, daß unsere Zugehörigkeit zu verschiedenen christlichen Konfessionen, die wir als eine Realität anerkennen, die Denkweise und Kultur unseres Volkes bereichert“12. Es bedürfte kaum der besonderen Erwähnung, dass die offizielle Syrisch-Orthodoxe Kirche diese Auffassung nicht teilt, sondern gegen ein derartig weiter gefasstes „Assyrertum“ auf ihrem exklusiven „Aramäertum“ beharrt. Dem syrisch-orthodoxen Verständnis der Kirche als Nation lässt sich indessen ein ganz anderes Wort aus christlich-orientalischem Munde gegenüberstellen: „... es (gibt) kein Problem, wenn Ihr Deutsch sprecht. Wir alle lesen die Bibel in verschiedenen Sprachen, weil uns die Sprache nicht interessiert, sondern die Bibel selbst“. Das sagte der rum-orthodoxe Patriarch Ignatius IV. (1979–2012) seinen Gläubigen in Kassel, als er im September 1997 Deutschland besuchte13. Dieser ganz andere Ton in der Ansprache an eine Gemeinde in der Diaspora lenkt also den Blick auf die andere orientalische Kirche, die hier im Mittelpunkt steht: die Kirche der „Rum-Orthodoxen“, wie sich die Griechisch-Orthodoxen (mit dem arabischen Wort für „griechisch“ /„byzantinisch“) nennen14. Es ist die Kirche des alten Patriarchats Antiochia der oströmischen/byzantinischen Reichskirche, von der sich im 6. Jahrhundert die Syrisch-Orthodoxen unter ihrem nun eigenen Patriarchen abwandten. Unter islamischer Herrschaft hatte das ehedem byzantinische Patriarchat Antiochia natürlich seinen staatskirchlichen Charakter verloren, und sein Status war nun ebenfalls der einer mit eingeschränkten Rechten geduldeten Kirche als „Nation“. Die Sprache ihrer Liturgie wie des überwiegenden Teils der Gläubigen war herkömmlich das Griechische, daneben hier und da auch das Syrisch-Aramäische. Aber die Kirche öffnete sich bald der Sprache der neuen Herren, die sich nicht nur im täglichen Leben des Kirchenvolkes als neue Umgangssprache durchsetzte. Vielmehr arabisierte sich auch die offizielle Kirche so weit, dass sie die Chrysostomos-Liturgie, die sie Ostens, die im Perserreich entstand, vgl. Hage (2007) 269–313, und zu ihrer theologischen Position ebd. 275 f. 12   Šimšek (1991) 64. 13   Abgedruckt in: Antiochia, Zeitschrift der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland (Rum-Orthodox), Nr. 3 (Dezember 1997) 25. 14   Zur Geschichte dieser Kirche vgl. Hage (2007) 78–95.

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mit ihren griechisch- und slawisch-orthodoxen Schwesterkirchen gemeinsam hat, in das Arabische übertrug und nun auch ihren Gottesdienst in der neuen Volkssprache feierte. Damit wurde die Rum-Orthodoxe Kirche in ihrer arabischen Umwelt zur „arabisch-orthodoxen Kirche“. Darüber aber kam es im 18. Jahrhundert zum Streit mit dem Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel, das im Rahmen des osmanischen MilletSystems die Verantwortung für alle (im byzantinischen Sinne) Orthodoxen im Reich trug. Denn es nutzte diese Machtposition nun dazu, allen diesen Orthodoxen unter osmanischer Herrschaft das Griechentum aufzuzwingen: den Slawen auf dem Balkan ebenso wie den Patriarchaten im Orient15. So wurden der inzwischen längst arabisierten Rum-Orthodoxen Kirche des Patriarchats Antiochia von 1724 bis 1899 griechische Patriarchen aufgenötigt, und erst danach konnten wieder in bis heute ununterbrochener Folge Oberhirten den Thron einnehmen, die sich mit ihrem Kirchenvolk als „Araber“ unter den Arabern verstanden. Ja, man darf wohl vermuten, dass dieses Bewusstsein, über die eigene Kirche hinaus einem die Religionen und Konfessionen überspannenden „Arabertum“ zuzugehören, aus dem Streit mit den Griechen Konstantinopels gestärkt hervorging. Jedenfalls zeigt sich diese rum-orthodoxe Christenheit nun sehr deutlich als eine Gemeinschaft, deren Interesse sich nicht auf den Erhalt des eigenen Bestandes beschränkt, sondern die sich für die Gesellschaft jenseits der eigenen kirchlichen Grenzen öffnet. Denn man weiß sich dem Arabertum, das diese Gesellschaft prägt, uneingeschränkt zugehörig: einem Arabertum also, das nicht ausschließlich von Muslimen repräsentiert wird, einem Arabertum vielmehr, in dem Alla¯h nicht nur im islamischen Koran das Wort für „Gott“ ist, sondern auch in den Texten und Gebeten des christlichen Gottesdienstes16. So waren es gerade rum-orthodoxe Christen, die im 19. Jahrhundert nicht nur zur Entstehung der „Arabischen Renaissance“ beitrugen, sondern in ihr auch führende Rollen übernahmen und sich damit tatkräftig für ein Arabertum einsetzten, das sich gegen die Vorherrschaft der Osmanen auflehnte17. Auch als man dann in Syrien etliche Jahrzehnte später, im Jahre 1943, zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einheit und Erneuerung die für die jüngere Geschichte des Orients so einflussreiche Baath-Partei bildete, stand an ihrer Wiege ein rum-orthodoxer Christ. Es war Michel Aflaq, der damit maßgeblich im Sinne eines „arabischen Sozialismus“ wirkte, auch   Vgl. dazu allgemein Runciman (1970) 174 f., und zum Folgenden Hage (2007) 89.   Zum Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Arabertum (curu¯ba), bzw. zum angestammten (arabischen) Heimatland (wat. an als „territoriumsbezogene arabische Identifikationsgröße“) vgl. insgesamt Panzer (1998a), bes. 119. 169. 172. 17  Vgl. dazu allgemein Harb (1995) 389–396, und zu den Rum-Orthodoxen speziell Wessels (1995) 70 f. Die von diesem hier (Anm. 23) genannten Brüder Salim und Bishara Taqla gehörten freilich der aus der Rum-Orthodoxen Kirche hervorgegangenen, mit Rom unierten Melkitisch-Katholischen Kirche an: Graf (1951) 331 f. 15 16

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wenn ihm durchaus die enge Verknüpfung von arabischem Nationalismus und Islam bewusst war. Mitverantwortung für die Gesellschaft jenseits der eigenen Konfessionsgrenze bestimmte indessen nicht nur das Handeln einzelner, sondern erwuchs auch aus dem Inneren der Rum-Orthodoxen Kirche selbst. Dafür steht ihre „Orthodoxe Jugendbewegung“18, die im Jahre 1942 gegründet wurde und eine die ganze Kirche prägende Kraft entfaltete. Diese Bewegung zielte auf die geistliche Erneuerung des kirchlichen Lebens, wirkte dahin, dass in den Gemeinden das spirituelle Leben neu erwachte und auch wieder Männer- und Frauenklöster entstanden. Die „Orthodoxe Jugendbewegung“ griff also weit aus, zumal aus ihr auch ein Großteil des höheren Klerus bis zum Patriarchenamt hervorging, und sie verhalf den Rum-Orthodoxen auch zu einem bemerkenswerten und bis heute lebendigen sozialen Impuls: mit karitativen Einrichtungen aller Art, die von der Kirche getragen werden und für Muslime wie für Christen unterschiedslos offen stehen. In eben diesem Geist entstand dann auch in Balamand (bei Tripoli im Nordlibanon) eine aus kirchlichen Mitteln unterhaltene Universität, die muslimische wie christliche Dozenten und Studenten vereint und im Kreise ihrer Fakultäten auch ein besonderes Zentrum für den christlich-islamischen Dialog besitzt19. Schon diese wenigen Beispiele machen das verständlich, was man zur allgemeinen Charakterisierung der Rum-Orthodoxen Kirche und ihrer Gläubigen lesen kann: „Sie arbeiteten an den gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und nationalen Problemen enger mit ihren muslimischen Volksgenossen zusammen als irgendeine andere christliche Gruppe“20; und: die „Arabische Renaissance“ unter osmanischer Herrschaft sei ohne den Beitrag der Orthodoxen geradezu undenkbar21; und (dieses alles zusammenfassend): die Rum-Orthodoxen seien unter den Kirchen des Vorderen Orients „the most Arab“22. So sieht diese Kirche also ihre Rolle im Orient als bewusst „arabische Kirche“, zeigt sich zugleich jedoch offen für die neuen Herausforderungen ihrer Gemeinden in einer ganz anders geprägten außerorientalischen Diaspora. Dass da nun nicht unverändert das Arabische den Ton trägt, sondern das jeweilige gesellschaftliche, nationale Umfeld, ließ bereits jenes Wort des Patriarchen Ignatius an seine Gemeinde in Kassel erkennen, dass „uns die Sprache nicht interessiert, sondern die Bibel selbst“. Und so konnte er mit   Zu dieser und zum Folgenden vgl. Tamer (2003) 97–99.   Vgl. zu Balamand auch Panzer (1998b) 241, und zur gegenwärtigen politischen Rolle der Rum-Orthodoxen im Libanon und in Syrien ebd. 241–244. 20   So C. Malik (The Orthodox Church, 1969, 305) bei Wessels (1995) 62 (als Motto über Kap. III). 21   Wessels (1995) 70. 22   Ebd. 62 (in der Überschrift zu Kap. III). „Wenn irgendeine christliche Gruppe im Mittleren Osten als arabisch (Arabic) bezeichnet werden kann, so ist das die Rum-Orthodoxe Kirche“: ebd. 67. 18 19

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seinen Erfahrungen aus dem arabischen Orient in derselben Ansprache auch seine Gläubigen in Deutschland zur Verantwortung über die eigene kirchliche Grenze hinaus aufrufen: „Gott gestattete, daß Ihr hierher kommt, damit Ihr die Menschen mit der Orthodoxie bekannt macht. Ihr seid Missionare, ebenso unsere Kinder in Amerika, Australien und Europa insgesamt“23. Wie sich das Verhältnis von „Kirche“ und „Nation“ verstehen lässt, zeigt sich uns also in der unterschiedlichen Sicht und damit in der unterschiedlichen Praxis zweier Kirchen des Orients mit ihren jeweiligen Konsequenzen für das Selbstverständnis der einen wie der anderen in der Diaspora. Für die Syrisch-Orthodoxen ist es „Kirche als Nation“, Kirche also, die ihre Identität als völkische Minderheit mit der ihr eigenen Sprache zu schützen trachtet – die Rum-Orthodoxen dagegen verstehen „Kirche“ in der Mitverantwortung für die „Nation“, in der man lebt. Zur Erklärung dieses unterschiedlichen Selbstverständnisses beider Kirchen bietet sich natürlich der Blick auf ihre jeweiligen geschichtlichen Erfahrungen an; und das muss, da ja unter der Herrschaft des Islam die Existenzbedingungen die gleichen waren, der Blick weiter zurück in die vorislamische Zeit sein. Die Syrisch-Orthodoxe Kirche war ja aus dem theologischen Streit des 5. und 6. Jahrhunderts in Opposition zur byzantinischen Reichskirche, zur Kirche des Kaisers, hervorgegangen, hatte also von ihren Anfängen an unter dem Druck einer sie verfolgenden Staatsmacht um ihre Existenz zu fürchten. Kirche zu sein, die in einer feindlichen Umwelt ihren Bestand zu sichern hatte, gehörte somit zur Grunderfahrung, die man in die deutlich günstigere Situation unter islamischer Herrschaft einbrachte, und die sich in der Neuzeit zumindest partiell sogar wieder bestätigt sah. Denn die syrisch-orthodoxen Christen in unserem Land stammen in ihrer großen Mehrheit aus dem Tur Abdin (im Südosten der heutigen Türkei), wo sie über die Jahrhunderte hin als geschlossene, dörflich geprägte Volksgruppe lebten und zum Teil auch noch leben: als „Volk“ („Nation“) also, bis in die Gegenwart angefeindet und drangsaliert von den ihnen benachbarten Kurden wie auch vom nationalen Türkentum der modernen Türkei24. Das sind die Erfahrungen der SyrischOrthodoxen, die sich als Glieder ihrer Kirche zugleich als „Volk“ verstehen und ihre in ihrer Heimat verteidigte nationale „aramäische“ Identität, die sich also mehr auf die Sprache als auf die Konfession stützt, nun auch gegen eine zu weit gehende Integration in der Diaspora zu schützen haben. So lässt sich das ihnen seit mittelalterlichen Zeiten so vertraute Verständnis ihrer „Kirche als Nation“ erklären. Die Rum-Orthodoxe Kirche des Patriarchats Antiochia dagegen bildete in vorislamischer Zeit neben den anderen Reichspatriarchaten (Rom, Kon  Wie Anm. 13.  Zur Situation in der heutigen Türkei vgl. Merten (1997) 49–58 (allgemein). 58–68 (Tur Abdin); Baum (2005) passim. 23 24

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stantinopel, Alexandria und Jerusalem) ein Teilgebiet der byzantinischen Kirche, der Volkskirche also, in die der Kaiser alle zwang, die er zwingen konnte. In die dann islamisch geprägte Gesellschaft, in der auch die byzantinische Orthodoxie als eigenes „Volk“ nur noch geduldet war, brachte sie ihre Erinnerung an jene ältere Zeit ein, in der ihr Kirchenvolk mit dem Staatsvolk identisch war. So blieb über den politischen Wechsel hinweg offenbar – wie die genannten Beispiele zeigten – das Bewusstsein dafür lebendig, für die Gesellschaft insgesamt mitverantwortlich zu sein als „Kirche für die Nation“. Für diese zum Verständnis von „Kirche und Nation“ prinzipiell unterschiedlichen Modelle stehen also zwei Kirchen, die im Orient einander eng benachbart sind und hier über die Jahrhunderte hin unter den gleichen Bedingungen lebten, die sich in ihrem Selbstverständnis indessen unterscheiden, weil in ihnen ganz unterschiedliche und jeweils in früheste Zeiten zurückreichende Erfahrungen lebendig blieben. Dass diese den Charakter beider Kirchen des Orients nun auch in der Diaspora prägen, lassen die genannten Beispiele deutlich erkennen. Welche Konsequenzen das aber für den weiteren Weg hat, auf dem die orientalischen Kirchen mit einem beständig wachsenden Prozentsatz ihrer Gläubigen den Herausforderungen ihrer neuen Umwelt zu begegnen haben, wird erst die Zukunft zeigen. Ob diese Zukunft in Europa und in der Neuen Welt eher einer Kirche gehören wird, die sich als zugleich nationale Minderheit abgrenzt, oder aber der anderen, die sich auf der Basis ihrer Konfession für die Gesellschaft allgemein mitverantwortlich weiß, muss wohl vorerst eine offene Frage bleiben. „Alla¯hu aʿlam“, sagt man in der gemeinsamen Heimat der syrisch-orthodoxen und der rum-orthodoxen Christen: „Gott weiß es besser“.

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„Jesus mit Mutter und Großmutter“ Familienbande als religionsgeschichtliches Phänomen Martin Kraatz In den frühen siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gestaltete das Historische Museum in Frankfurt am Main seine Ausstellungsräume neu, in der Aufstellung der Exponate und in deren Interpretation. Unter der Darstellung einer älteren und einer jüngeren Frau mit einem Säugling las man: „Jesus mit Mutter und Großmutter“. Kunsthistoriker, Theologen und kunsterfahrene fromme Christen protestierten vergeblich. Es waren die Jahre, in denen das, was in den seit 1968 sich entwickelnden Unruhen losgetreten worden war, nach und nach in den Institutionen festge­treten wurde. In die Museen kamen jetzt nicht in Massen, aber doch in etwas größerer Zahl Besucher, die zwar interessiert waren, denen aber zum Verständnis vieler Dinge, die sie dort zu sehen bekamen, das Vorwissen fehlte. „Anna Selbdritt“ wäre für sie, wie für jeden, der das Sujet nicht kennt und dem auch die Vielfalt der Möglichkeiten, Komposita zu bilden, nicht geläufig ist, wie ein Fremdwort gewesen. So war „Jesus mit Mutter und Großmutter“ die praktische Verständnishilfe, die man mit diesem Bildtitel geben wollte. Zudem entsprach eine solche Bilderläuterung dem Konzept, das man mit der Neugestaltung des Museums generell realisieren wollte. Es ging darum, im Rahmen eines modernen Bildungssystems „historische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln“ und den demokratischen Bildungsauftrag ernst zu nehmen (nach Museen in Hessen4 1994, S. 266). Für mich, an „Anna Selbdritt“ gewöhnt, war die verfremdende Formulierung ein Anlaß, den familiären Aspekten in den Religionen allgemein mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Systematisch ging ich dem nicht nach, registrierte es nur, wenn mir wieder einmal solche Familienbindungen auffielen. Und ich merkte, wie häufig sie eine Rolle spielen, von „oben“, von den Dynastien der Götter­an, über deren irdische Statthalter als Stifter und Bewahrer religiöser Traditionen, bis nach unten zu den Pfarrerskindern, die, wenn sie (um das Sprichwort von Pfarrers Kindern und Müllers Vieh zu bemühen) „gedeihen“, oft in die elterlichen Fußstapfen treten. Damit verband sich bald ein besonderes Interesse an der „Heiligen Sippe“, angeregt auch durch den „Sippenaltar“ in der Marburger Elisabethkirche von

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1511, der Mittelteil geschnitzt von Ludwig Juppe, die Flügel innen und außen gemalt von Johann von der Leyten. Auf dieses Motiv werde ich unten noch näher eingehen. Verwandtschaftsverhältnisse sind in den Religionen, wie das bei einer so großen Spanne wie der von mir genannten, von Göttern bis Pfarrerskindern, auch nicht anders sein kann, von großer Vielfalt und ganz unterschiedlicher Gewichtung und Bedeutung. Darüber will ich anhand von ausgewählten Beispielen berichten und ein paar allgemeine Bemerkungen anschließen. Die Frage, ob prinzipiell und gegebenenfalls in welchem Maße religiöse und verwandtschaftliche Bindungen einander bedingen, zulassen oder ausschließen, stelle ich nur. Sie wäre wohl nicht generell zu beantworten, nur von Fall zu Fall. Mir geht es hier nur darum, darauf hinzuweisen, daß in der Wirklichkeit der Geschichte von Religionen vielfältige verwandtschaftliche Beziehungen vorhanden sind und nicht selten sogar eine gewichtige Rolle spielen. Wenn ich von der „Wirklichkeit der Geschichte von Religionen“ spreche, dann muß ich dazu ein paar Erläuterungen geben, und zwar zum methodischen Vorgehen in der Disziplin der Religionsgeschichte. Ihr Gegenstand stellt sich auf zwei Ebenen dar. Die eine Ebene ist die der historischen Daten, die sich mit mehr oder weniger großer Plausibilität erschließen und belegen lassen. Solche Daten sind auch die Aussagen von Angehörigen von Religionen, in denen diese von dem reden, was oder woran sie glauben, wobei es gleichgültig ist, ob das in Form eines schlichten Bekenntnisses geschieht oder als eine durchreflektierte theolo­gische Sentenz. Das aber, was den Inhalt solcher Aussagen darstellt, das liegt nicht auf der gleichen, der historischen Ebene, auf der die Aussage geschieht und auf der diese historisch faßbar ist. Die Ebene der Inhalte von Glaubensaussagen ist eine andere. Mit aller Vorsicht nenne ich sie die Ebene der subjektiven oder individuellen Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die subjektiv und individuell auch dann ist, wenn sie sich aus Glaubensaussagen herleitet, die eine lange Traditionskette aufweisen. Verdeutlichen will ich das an einem Beispiel aus dem Christentum: Der Mensch Jesus, auch unter dem Namen Christus, steht prinzipiell auf der Ebene des historisch Nachweisbaren, ungeachtet der Tatsache, daß die außerchristlichen Belege für seine Existenz karg sind. Daß dieser Mensch aber der von den Juden erwartete Maschiach, der Christós, der Gesalbte gewesen und als solcher in gewisser Weise noch immer präsent sei, das liegt auf der Ebene der subjektiven Wirklichkeit, ist Inhalt christlichen Glaubens, aber als historische Realität nicht faßbar. Von „Wirklichkeit“ spreche ich dennoch, um deutlich zu machen, wie diese Glaubensinhalte, die aus historischer Perspektive als Vorstellungen, Überzeugungen, Spekulation, Phantasie, Einbildung und ähnliches einzuordnen sind, von den Gläubigen der Religion empfunden werden. Für sie ist das, was sie glauben, nicht weniger wirklich als das historisch Faßbare, entweder als eine Wirklichkeit neben der historischen, oder sogar als eine Wirklichkeit, die der historischen überlegen ist. Die Distanz

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des Religionshistorikers bringe ich, obwohl ich von „Wirklichkeit“ spreche, damit zum Ausdruck, daß ich diese Wirklichkeit als „subjektiv“ und „individuell“ qualifiziere, wobei „individuell“ sich auch auf den Einzelnen als Teil einer großen Glaubensgemeinschaft beziehen kann. Und „wirklich“ in dem Sinne, daß durch solche Glaubensinhalte etwas be„wirkt“ werden kann, oft be„wirkt“ worden ist, können ja, wie wir aus der Geschichte wissen, sogar realitätsfernste Phantasien sein, und zwar in allen Bereichen menschlichen Lebens, oft in der Politik, aber eben auch in Religionen. Die „Familienbande“ in Religionen begegnen uns auf beiden Ebenen, ich werde mich also mal auf der einen, mal auf der anderen bewegen, bisweilen auch im Grenzbereich zwischen den beiden Ebenen. Im Grenzbereich liegen zum Beispiel familiäre Bindungen, die als Metaphern erkennbar werden und für die Gläubigen doch einen Bezug zu ihrer subjektiven Wirklichkeit haben, also als eine dritte, die „metaphorische“ Wirklichkeit bezeichnet werden können. Was aber ist unter „Familienbande“ zu verstehen? Ich habe diesen Begriff im Untertitel dem der Verwandtschaft vorgezogen, weil Verwandtschaft in unserem Gesellschafts- und Rechtssystem mehr oder weniger klar definiert ist, die „Bande“ aber, die in den Religionen Götter mit Göttern, Menschen mit Menschen, auch Götter mit Menschen verbinden, nicht selten die mit solchen Definitionen gesetzten Grenzen überschreiten. Andererseits verdankt sich die eine oder andere verwandtschaftliche Beziehung in den Religionen, zum Beispiel zwischen den vielen Gestalten eines Pantheons, wahrscheinlich dem Wunsch der Menschen, das allzu offen Fließende einer göttlichen Lebensweise nach den Normen der menschlichen Gesellschaft in eine gewisse Ordnung zu bringen. Doch ich gehe über die Normen der Verwandtschaft durch Abstammung von einem gemeinsamen Stammvater, also die Blutsverwandtschaft, und die Verwandtschaft durch Erheiratung von Verwandten, also die Schwägerschaft hinaus und greife zurück auf die mittelhochdeutsche Bedeutung von verwant, einem partizipialen Adjektiv zu verwenden in der Bedeutung von „sich einander zuwenden, gegenseitig miteinander verkehren“. Das ist so offen für verschiedenste Formen „familiärer“ Beziehungen, daß wohl alles, was ich hier heranziehen werde, davon gedeckt ist, auch das, was nach den Regeln überkommener (wenn heute auch längst überholter) gesellschaftlicher Normen im Schweigen über das Skandalon des Illegitimen versinken müßte. Dieser letzte Schwenk führt dann schon zu dem ersten zu besprechenden religionsgeschichtlichen Bereich, zu den alten Griechen. Ich beschränke mich auf Zeus mit seinen Frauen, Töchtern und Söhnen, zuletzt seiner Schwester, der anerkannt wohl einzigen legitimen Ehefrau Hera, sowie seinen Liebschaften mit, wie es „späte Mythographen“ (W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart u.a. 1977, 204) einmal gezählt haben, 115 Geliebten und den diesen Liebschaften entspros-

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senen Kindern. Familiäres beginnt schon Generationen früher: Zeus ist der jüngste Sohn des Kronos und der Rheia. Die Eltern des Kronos sind Uranos und Gaia, Vater Himmel und Mutter Erde, von denen, so Hesiod, „das heilige Geschlecht der Unsterblichen, Ewigen“ stammt (Hesiod, Theogonie, 105f.). Dahinter stehen gewiß auch kosmogonische Vorstellungen, deren Diskussion in diesem Zusammenhang zu weit führte. Zu bedenken ist aber, daß die vorgetragenen methodisch-grundsätzlichen Überlegungen zu den zwei oder drei Wirklichkeiten im Blick auf die Griechen vielleicht zu hoch greifen. Zeus und seine genealogisch gegliederte Götterschar in ihrem teils recht munteren, teils auch brutalen Treiben sind nicht durch Heilige Schriften autorisiert. Das alles ist in der uns vorliegenden Form, geprägt vor allem in der Ilias und in Hesiods Theogonie, dichterisch inspirierte mythische Historiographie. Allerdings sind diese Erzählungen über die Götter einbezogen gewesen in den Vollzug von Riten und Festen, haben also für die Menschen durchaus eine gewisse religiöse Verbindlichkeit gehabt. Und Siegfried Morenz schreibt im Vorwort seiner Monographie „Ägyptische Religion“ (Stuttgart 1960, IX): „Man hat von Walter F. Otto gesagt, er habe an die Götter Griechenlands geglaubt. Ich weiß nicht, ob das zutrifft; aber sicher scheint mir, Otto habe gewußt, daß die Griechen an ihre Götter glaubten, und eben darum konnte er sie als Wirklichkeiten darstellen.“ Gerade durch Zeus und seine so zahlreichen Kinder, Schwieger- und Kindeskinder erscheint die griechische Götterwelt wie ein vielfach verzweigtes familiäres Netzwerk, mit allem, was an Freundlichem und Unfreundlichem in einem großen Familienverband so vor sich geht. Ein Beispiel für das, nach meinem Eindruck, im Ganzen überwiegende Unfreundliche bietet die Geschichte der Zeusenkelin Niobe. Sie prahlt vor Leto, einer der Geliebten ihres Großvaters, die nur zweifache Mutter ist, nämlich der Zwillinge Apollon und Artemis, mit ihrer eigenen großen Kinderschar. Nach der Ilias (24,602 ff.) sind es zwölf, je sechs Töchter und Söhne, bei Ovid dann je sieben, also vierzehn und dazu die zu erwartenden Schwiegerkinder (Metamorphosen 6,182). Leto ist schwer gekränkt, und Apollon und Artemis rächen die Kränkung ihrer Mutter und löschen die ganze Familie der Niobe aus. Sie selbst wird in einen Felsen verwandelt, der dauernd Tränen vergießt. Aus den Liebesverbindungen des Zeus mit Frauen aus der Menschenwelt gehen auch Wesen hervor, die zwischen Göttern und Menschen stehen, Heroen (he¯´ ro¯s) auch Halbgötter (he¯ mítheos) genannt. Sie sind mit besonderen Kräften ausgestattet, doch anders als die Götter, die athánatoi, sind die Heroen sterblich. Man verehrte sie an ihren Gräbern und erwartete, daß sie in jugendlicher Vollkraft für die Menschen wirkten. Doch die Grenzen zwischen sterblich und unsterblich, zwischen Halbgott und Gott sind fließend. Das zeigt recht deutlich die mythische Biographie des Herakles. Als Sohn des Zeus und der Menschenfrau Alkmene ist er ein Heros, der im irdischen Ambiente Gewaltiges vollbringt, der sich aber auch mit Göttern, wie Apol-

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lon oder dem Flußgott Acheloos, in Kämpfe einläßt, und dem am Ende, als er stirbt, dann der Weg zu den Göttern offensteht. Von ihm kennt man kein Grab. So greift das familiäre Netzwerk der griechischen Götterwelt in die Menschenwelt ein, und es entsteht eine intensive Nähe zwischen den beiden Lebenswelten, die das Besondere der „griechischen Religion“ ausmacht. Diese Nähe zeigt sich auch darin, daß die Götter, wenn sie unter sich sind, ein Verhalten zeigen, wie es die Menschen im Umgang miteinander durchaus auch praktizieren. Allerdings halten sich die Götter, noch mehr als die Menschen, nicht allzu streng an Konventionen. Inzest und Geschwisterehen sowie der Seitensprung sind fast die Regel, werden aber auch nicht unkritisch gesehen. Zum Beispiel ist die Verzögerung der Geburt außerehelich gezeugter Kinder durch die von Zeus betrogene Hera ein mehrfach wiederkehrendes Thema. Einen nur kurzen Blick werfe ich auf das alte Ägypten in seinen jüngeren mythischen Vorstellungen, vom Mittleren Reich an, also ab etwa 2000 v.B.u.Z. In familiären Kategorien stellt sich auch hier die reich bestückte Götterwelt der Ägypter dar. Viele der Göttinnen und Götter treten als Ehepaar auf und sind Großeltern und Eltern eines Kindes oder mehrerer Kinder. Ein Paar ragt heraus und steht im allgemeinen Bewußtsein noch heute, dank Mozart und Sarastro, nahezu sprichwörtlich für das alte Ägypten: Isis und Osiris. Sie sind beide Kinder der Herrin (f.!) des Himmels Nut und des Herrn(m.!) der Erde Geb. Sie sind also Geschwister und Ehepartner zugleich, wie wir es schon bei Zeus und Hera kennengelernt haben, nur haben ihre Eltern die Rollen vertauscht. Ihr Sohn ist Horus. Das Schicksal dieser Familie – die Ermordung des Osiris durch seinen Bruderschwager Seth, seine Wiederbelebung dank der Treue seiner Schwesterfrau Isis und die Osiris neu erstehen lassende postume Zeugung des Sohnes Horus – läßt Osiris als sterbenden und wieder auferstehenden Gott zum Herrscher über die Totenwelt werden, der auch die Verstorbenen an seinem Schicksal Anteil nehmen läßt, indem er sie in eine neue nachirdische Existenz hineinführt. Isis verselbständigt sich und wird im ganzen kleinasiatischen Raum unter verschiedenen Namen als Universalgöttin verehrt. Das für diese Entwicklung grundlegende mythische Element bleibt aber die Geschichte dieser besonderen göttlichen Familie. Etwas anders strukturiert als bei Griechen und Ägyptern sind die „Familienbande“ bei den Indern, im Bereich des sogenannten Hinduismus. Hinter diesem Singular steckt in Wirklichkeit eine in zeitlicher und regionaler Hinsicht nach- und nebeneinander praktizierte Pluralität recht unterschiedlicher Religionen, jedenfalls Religionsformen. Das läßt sich, wie schon bei Griechen und Ägyptern, die auch keine geschlossene Einheit darstellen, in einem exemplarisch-phänomenologischen Überblick nur grob berücksichtigen. Hinweisen muß ich bei Indien aber auf Entwicklungen, die sich von

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den frühen Religionsformen des vierteiligen Veda bis zu deren späteren Ausdrucksformen, die noch phantasievoller und erzählfreudiger sind, ergeben haben. Für diese späteren Formen sind Haupttexte die Pura¯na, zu verstehen etwa als „Erzählungen aus alter Zeit“, vorwiegend umfangreiche Sammlungen von teils ziemlich abenteuerlichen Göttergeschichten. Einige dieser Texte werden von der einen oder anderen Glaubensrichtung der Hindu als so etwas wie ihre Heilige Schrift gewertet. Nicht weniger wichtig und ergiebig für die religiösen Vorstellungen dieser Zeit sind auch die beiden großen Epen der Inder, das Maha¯bha¯rata und das Ra¯ma¯yana. Und im Gegensatz zum Befund aus vedischer Zeit haben wir aus dieser späteren Phase, die bis in unsere Gegenwart hereinreicht, auch eine Fülle von bildlichen Dokumenten. Die Zahl der göttlichen Gestalten (der deva) im Rigveda, dem ältesten der vier Bücher des Veda, auf das ich mich hier beschränken werde, ist sehr groß. Ihre Beziehungen zueinander sind angesichts einer stark metaphorischen Sprache sowie einer recht willkürlich erscheinenden wechselvollen Namengebung nur begrenzt erkennbar. Vielfach wird Göttinnen und Göttern die Kindschaft gegenüber einem göttlichen Vater oder einer göttlichen Mutter zugeschrieben. Es kommt sogar vor, daß zwei Gottheiten sich gegenseitig hervorgebracht haben Am häufigsten aber werden als Eltern von Göttinnen und Göttern Himmel und Erde genannnt, auch als „die beiden Welten“ bezeichnet. Erwähnt werden mehrfach, überwiegend namenlos, Gattinnen von Göttern. Eine der prominenten unter diesen ist die namentlich genannte Frau des Indra, des Herrschers über die Götter, Indra¯nı¯ . Sie ist schön, kraftvoll und selbstbewußt, erfahren in der Liebeskunst, und sie hält mit, wenn ihr Mann sich mit Soma einen Rausch antrinkt. Eine Familie wird dieses göttliche Paar aber nicht. Obwohl selbst „geboren“, wie es in den Texten heißt, können sie keine Kinder haben. Göttliche Unsterblichkeit und Nachwuchs schließen sich, nach vedischer Auffassung, aus. Nachwuchs können nur die haben, die zum Sterben bestimmt sind, die Menschen. Deren Ahnherr ist aber, nach einem der verschiedenen indischen Traditionsstränge über die Anfänge der Menschheit, bei dem das Prinzip der Kinderlosigkeit von Göttern durchbrochen ist, dennoch göttlichen Ursprungs: Yama, der Sohn des Sonnengottes Vivasvat. Von ihm heißt es: „Den Göttern zuliebe zog (Yama) den Tod vor; der Nachkommenschaft zuliebe zog er nicht die Unsterblichkeit vor… Yama hat seinen lieben Leib fortgepflanzt.“ (RV 10,13, 4. Übers. Geldner) Yama verzichtet also auf die ihm als Gottessohn zustehende Unsterblichkeit und wird so zum ersten Sterblichen, also zur Wurzel des Stammbaums der Familie der Menschen. Und er wird zum Herrn des „dritten Himmels“, wie die Welt des Todes genannt wird. Die Menschen wandeln „auf Yamas Pfaden“, denn sie werden sterben. (RV 1,38,5) Das Verhältnis der Menschen zu den Göttern ist eine Art Wahlverwandtschaft, eine Versorgungsgemeinschaft sozusagen, denn die Menschen versorgen die Götter, indem sie ihnen Opfer darbringen. Das steht hinter der Aus-

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sage, die wir gehört haben, daß Yama auch „den Göttern zuliebe“ den Tod der Unsterblichkeit vorgezogen habe. So konnten die Menschen entstehen und den Göttern die von diesen gewünschten und sie erhaltenden Opfer darbringen. Mit Yama verbunden begegnet uns im Rigveda auch ein Problem früher und noch heute aktueller Verwandtschaftsethik und -rechtsprechung, der Inzest. In reizvoller Form stellt ein Lied aus dem 10. Buch (10,10) die Zeugung von Nachkommenschaft durch Yama in Frage und läßt die Frage offen, wie die Menschen wohl entstanden sind. Der Anlaß zu diesem Lied ist ein Dilemma – wenn Yama der „einzige Unsterbliche“ war (Vers 3), mit wem zeugte er dann Nachkommen? Das Lied führt eine primär nur hier belegte Zwillingsschwester des Yama ein, Yamı¯ , die ihren Bruder verführen will, damit der Wunsch der Unsterblichen, daß von dem einzigen Sterblichen ein „Leibeserbe“ gezeugt wird (Vers 3), erfüllt werde. Zugleich aber begehrt sie ihn auch, ist, wie Geldner übersetzt, „von Liebe“ zu ihm „toll“ (Vers 4: ka¯mamu¯ta¯). Yama weist sie schroff zurück: „Blutsverwandtes“ (so Geldner für salaks. ma¯) solle nicht wie „Fremdartiges“ (so Geldner für vis. uru¯ pa¯) werden. Und er verweist, ohne nähere Angaben, auf das Gesetz des Vertragsgottes Mitra und des Eidgottes Varuna. Zum Inzest kommt es nicht, und der Ursprung der Menschenfamilie bleibt im Dunkeln, das Dilemma wird nicht aufgelöst. In der späteren Phase des Hinduismus, wie sie uns in den Pura¯na und in den Epen begegnet, bleibt das Beziehungsgeflecht zwischen den vielen, an Zahl nun noch vermehrten göttlichen Gestalten einerseits so kompliziert wie schon in der Welt des Veda. Andererseits erkennt man jetzt gewisse breite Stränge, die den Überblick etwas erleichtern. Drei im Veda noch gar nicht oder nur in wenig bedeutender Funktion auftretende Götter rücken an die Spitze. Und zwei von ihnen, Vis. nu und S´iva, werden, im Verständnis von zwei großen, miteinander konkurrierenden Glaubensrichtungen, den Vais. nava und den S´aiva, jeder für sich zum nahezu monotheistisch empfundenen Weltenherrn. Der dritte, Brahma¯, bleibt mehr im Hintergrund. Ein neues Element dieser Phase hat direkt mit unserem Thema, mit den Familienbanden zu tun: Die S´akti, wie im Veda die den Göttern individuell zugeschriebene „Kraft“ genannt wird, tritt jetzt personifiziert auf, und zwar als die Gefährtin der Götter, ihre Geliebte und Ehefrau und gegebenenfalls die Mutter ihrer Kinder. Vis. nus Gefährtin, Laks. mı¯, war wohl zunächst eine eigenständige Fruchtbarkeits- und Glücksgöttin. Sie wurde dann verschiedenen Göttern beigesellt und schließlich als Ehefrau Vis. nu zugeordnet, muß ihn aber mit einer zweiten Ehefrau, der mit der Erde verbundenen Bhu¯mi teilen. Diese Ehe zu dritt ist in Indien ein beliebtes Bildmotiv, bevorzugt in Form eines bronzenen Altärchens. Aber auch allein mit Vis. nu wird Laks. mı¯ dargestellt, z.B. wie sie als treusorgende Ehefrau ihrem ruhenden Ehemann zart die Füße massiert. Mit Laks. mı¯ identifiziert werden, im Kontext der Vorstellung von einer Wiedergeburt, auch die Gefährtinnen, die den Avata¯ra des Vis. nu beigesellt

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werden. Avata¯ra heißt „Herabkunft“ und bezeichnet die mal tierischen, mal halb menschlich/halb tierischen, mal menschlichen Erscheinungsformen Vis. nus, in denen er sich aus seinem himmlischen Reich Vaikuntha zur Erde hinabbegibt, um hier in einer für Menschen und Götter gleichermaßen notvollen Situation Hilfe und Rettung zu bringen. Neunmal ist das schon geschehen, seine zehnte Herabkunft als Kalkin, in Gestalt oder als Reiter eines weißen Pferdes, steht noch aus. Kinder sind der Ehe von Vis. nu und Laks. mı¯ nicht entsprungen. Zwar werden manchmal Söhne des vorletzten Avata¯ra Krishna, der am Ende des dritten, dem unsrigen vorangehenden Zeitalter erscheint, Vis. nu zugeordnet. Doch daraus hat sich keine Vorstellung einer ganzen Familie ergeben. Vis. nu und Laks. mı¯ sind immer nur als Paar präsent. Das ist anders bei S´ iva und und seiner unter mehreren Namen erscheinenden Gefährtin. Die Zeugung eines Sohnes ist es, die sie zusammenbringt. Am bekanntesten ist S´ivas Gefährtin unter dem Namen Pa¯rvatı¯, „Tochter der Berge“, nämlich des „Schneegebirges“ Himavat, des Himalaya. Wie S´iva und Pa¯rvatı¯ zusammenkamen, ihre Hochzeit und ihre leidenschaftliche Liebe zu- und miteinander hat in hochpoetischer Sprache der große indische Dichter Ka¯lida¯sa (wohl um 400 n.B.u.Z.) beschrieben, in dem Kunstgedicht Kuma¯rasambhava, „die Entstehung des Kuma¯ra“. Er verarbeitet hier Geschichten aus einem Pura¯na, das dem Kuma¯ra unter einem seiner anderen Namen gewidmet ist, aus dem Skanda-Pura¯na. Da wird erzählt, daß ein ¯ ditya) namens Ta¯raka die Weltordnung durcheinDämon (ein Asura oder A andergebracht und die Herrschaft über Götter und Menschen an sich gerissen habe. Ihn überwinden könne nur der große S´iva, indem er mit der Pa¯rvatı¯ einen Heerführer zeuge. S´iva übt, nach einer großen Enttäuschung vereinsamt, gerade rigorose Askese und nimmt Pa¯rvatı¯ gar nicht wahr. Erst mit Hilfe des Liebesgottes Ka¯ma gelingt es, S´ iva aus seiner asketischen Einsamkeit herauszulocken und ihn für die Schönheit des Bergestochter zu entflammen. Sie heiraten – die Hochzeitszeremonie ist ausführlich, mit allen Details, geradezu exemplarisch beschrieben – und zeugen den gewünschten Sohn, der dann mit seinem Heer den Dämon Ta¯raka überwindet. Der Name Kuma¯ra „Knabe“ kennzeichnet den Sohn als immerwährend jugendlichen Helden. Als S. anmukha, der „Sechsgesichtige“ ist er der Schutzgott der Diebe. Unter dem Namen Skanda, vielleicht „Spritzer“ oder „Springer“, ist er in der Ikonographie des S´ iva vertreten, im Motiv der Soma¯skandamu¯rti, ein Kompositum sa-uma¯-skanda-mu¯rti in der Bedeutung „Eine Erscheinungsform (von S´iva, dessen Name im Kompositum nicht erscheint, auf den es sich aber bezieht) zusammen mit Uma¯ und Skanda“. Zu sehen sind unter dieser Bezeichnung S´iva, links neben ihm seine hier Uma¯ genannte Ehefrau, zwischen ihnen der kleine Skanda. Das ist ein Familienidyll, das sich verselbständigt hat und nichts mehr von dem kämpferischen Zweck erkennen läßt, dem Skanda seine Entstehung verdankt.

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Nach einer weit verbreiteten Tradition kommt zu der Familie ein weiterer Sohn hinzu, der elefantenköpfige Ganes´a, auch Vighnes´a, „Herr über die Hindernisse“ genannt. Wie er zu seinem Elefantenkopf gekommen ist, darüber gibt es unterschiedliche Anekdoten. Die bekannteste greift voll in eine familiäre Situation hinein. Mutter Pa¯rvatı¯ will baden und stellt ihren kleinen Sohn vor die Badezimmertür mit dem Auftrag, er solle niemanden hineinlassen. Vater S´iva erscheint, wird von seinem Sohn am Eintreten in das Badezimmer gehindert und schlägt wutentbrannt diesem den Kopf ab. Voller Reue über die unbedachte Tat verspricht er, ihn mit dem Kopf des ersten Wesens, das ihm begegnen werde, wieder ins Leben zurückzuholen. Und das ist dann ein Elefant. S´iva, Uma¯ und ihre beiden Söhne werden, in Miniaturen, gerne auch beim Mahl im romantischen Ambiente einer Waldwiese gezeigt, Familie S´iva beim Picknick! In Südindien steht die Hochzeit von S´iva und Pa¯rvatı¯ in einem Zusammenhang mit dem Gott Vis. nu als dem Bruder der Braut, ein interessanter Aspekt bei Überlegungen zu der Frage, wie man die so vielfältige Religionspraxis der Inder angemessen charakterisieren könne. Ist das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Glaubensformen der Inder als so etwas wie Rivalität anzusehen oder eher als Toleranz oder auch als gegenseitige Absorption? In diesem Hochzeitsmotiv sind S´iva und Vis. nu jedenfalls miteinander verschwägert, in der Kalya¯nasundaramu¯rti, „der Erscheinungsform (des S´ iva) bei der Heirat mit der bezaubernd Schönen“. Auch dieses Motiv wird in Bronze gegossen. Die Braut steht zwischen S´iva (zu ihrer Linken) und Vis. nu (rechts von ihr). Das Brautpaar legt die rechten Hände ineinander, und Vis. nu besiegelt, wie im alten Indien bei Verträgen aller Art üblich, den Eheschluß mit einem Wasserguß über die vereinten Hände (ein Beispiel: Schätze indischer Kunst. Berlin 1984, 122f.). Damit verlasse ich Indien. Es wäre noch mehr zu sagen. Doch dieser Teil ist ohnehin etwas zu lang geraten, was aber wohl verständlich und entschuldbar ist. Denn meine Heimatdisziplin ist eben die Indologie. Jetzt geht es nach Japan, zum Shinto. Shinto ist die Bezeichnung der in Japan von historisch nicht faßbaren Zeiten an gewachsenen religiösen Vorstellungen und Praktiken. Shinto heißt „Weg der Gottheiten“, ein Name, der erst analog und in Abgrenzung zu dem vom 6. Jh. n.B.u.Z. an in Japan heimisch gewordenen Butsu-do, dem „Weg des Buddha“ entstanden ist. Wahrscheinlich war auch die reiche Texttradition, die dem Butsu-do zugrundelag, der Anlaß dafür, daß die Japaner im frühen 8. Jh. n.B.u.Z. damit begannen, ihre mythologischen Grundlagen zu sammeln, teils auch erst zu entwickeln, sie zu systematisieren und aufzuschreiben. Es entstanden so das Kojiki („Geschichte der Begebenheiten im Altertum“, 712 n.B.u.Z.) und das Nihongi („Japanische Annalen“, 720 n.B.u.Z.). Diese theogonischen und kosmogonischen Erzählungen lesen sich streckenweise wie Familienstammbäume oder Geschlechtsregister. Beide Werke

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haben das Ziel, die göttliche Abkunft des japanischen Kaisers nachzuweisen, und sie greifen zu diesem Zweck auf die mythische Urzeit zurück. Da gab es sieben Generationen von Göttern, einige alleinstehend, andere als Paar. Nur eins der Paare wird schöpferisch aktiv, Izanagi und seine jüngere Schwester Izanami. Zunächst rühren sie mit einem Speer in der urtümlichen Salzflut, bis sie sämig wird, und lassen aus einem Tropfen dieses so entstandenen Salzbreis die erste der japanischen Inseln entstehen, Onogoro. Dann entdeckt Izanami an ihrem Körper „eine Stelle ... die nicht immerzu wächst“, und Izanagi an seinem Körper „eine Stelle ... die im Übermaß wächst“. Sie gleichen dieses unterschiedliche Wachstum aus, indem sie ganz formell einen Ehebund schließen, sich zueinander legen und zu zeugen beginnen. Zunächst werden zu der einen schon vorhandenen hinzu die japanischen Inseln geboren, erst acht, dann sechs. Es folgen fünfunddreißig Gottheiten, als letzter von diesen der Feuergott. „Des Feuers brennender ungestümer Mann“ ist einer seiner Namen. Durch ihn innerlich verbrannt, geht seine Mutter Izanami in die Totenwelt ein. Izanagi zeugt allein weitere Kinder, auf ungewöhnliche Weise. Drei von diesen sind hier zu erwähnen. Zum Beispiel wäscht er sich ¯ -mi-kami gebodas linke Auge, und es wird die Sonnengöttin Amaterasu O ren. Beim Waschen des rechten Auges zeugt er den Mondgott Tsuki-yomi no Mikoto und beim Waschen der Nase den Meeres- und Sturmgott Susa-noo no Mikoto. Diese drei sind also mutterlos entstandene Geschwister. Der Amaterasu wird von Izanagi die Herrschaft über den Himmel anvertraut, Tsuki-yomi wird der Herr der Erde, Susa-no-o der Herr des Meeres. Alle drei Kinder zeugen weitere Nachkommen. Amaterasu, die sich allmählich zu einer generell dominanten Gottheit entwickelt, schickt schließlich ihren Enkel Ninigi vom Götterhimmel hinab auf die Erde, mit folgendem Auftrag: „Dieses Land der eintausendfünfhundert herbstlichen frischen Ähren des Schilfgefildes ist die Region, welche meine Nachkommen als Herrscher beherrschen sollen. Gehe du, mein souveräner erlauchter Enkel, hin und regiere es! Möge das Blühen und Gedeihen der himmlischen Dynastie wie Himmel und Erde ohne Ende dauern!“ (Die historischen Quellen der Shinto-Religion. Aus dem Altjapanischen und Chinesischen übersetzt und erklärt von Karl Florenz. Göttingen 1919. 189) Ninigi gehorcht, begibt sich nach Takachiho (auf der Insel Kyushu), heiratet hier und gründet eine sich weiter fortsetzende Familie. Sein Urenkel KamuYamato Ihare-biko no Mikoto zieht in das Kernland Japans, nach Yamato, und wird dort, mit dem Namen Jimmu, als, nach dem Mythos, erster Himmelskaiser Japans zum Herrscher des Landes. Das Amt bleibt bei allen politischen Veränderungen, die sich über mehr als zwei Jahrtausende hin ergeben, mit dieser Familie verbunden. Und so gilt der Kaiser, der Tenno, den Japanern noch heute als ein direkter Nachkomme der Sonnengöttin Amaterasu. Die von Kaiser zu Kaiser weitergereichten Insignien der kaiserlichen Herrschaft, Spiegel, Schwert und Juwel besonderer Art, sind die, welche,

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nach dem Mythos, Amaterasu dem Ninigi zur Erfüllung seines Auftrags mitgegeben hat. Im zentralen Ritus der Thronbesteigung nimmt der neue Tenno gemeinsam mit seiner göttlichen Ahnherrin eine Reismahlzeit ein, was ¯ -mi-Kami man im Shinto als ein Einswerden des Kaisers mit Amaterasu O ansieht. Der Tenno ist nicht einfach ein Stellvertreter der Sonnengöttin, er ist sie in gewisser Weise selbst. Zu den wichtigsten Aufgaben des Kaisers gehört es, Jahr für Jahr das Wachstum und Fruchtbarkeit fördernde Wirken seiner Ahnherrin in einem Ritus zu vergegenwärtigen. Und das erfundene Datum, an dem der mythische Kaiser Jimmu seine Regierung angetreten haben soll, der (nach dem Mondkalender 1. Januar, auf den Sonnenkalender umgerechnet) 11. Februar im Jahre 660 v.B.u.Z. wird in Japan noch heute als nationaler Feiertag begangen, kenkoku-kinenbi „der Tag des Gedenkens an die Reichsgründung“. ¯ -miIm Tenno und seiner Abkunft von der Sonnengöttin Amaterasu O Kami liegt für die Japaner traditionell die Wurzel ihres völkischen Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins. In einer Broschüre (aus dem Jahre 1958) über die in Japan wichtigsten Shinto-Schreine heißt es zu dem für den Shinto zentralen Hauptschrein in Ise, zum Ise-Jingu-: „Dedicated to Amaterasu Ômikami, the ancestral deity of the Imperial Family, this most sacred shrine of all Shinto shrines is worshipped by all the Japanese people.“ (Shinto Shrines and Festivals. August 1958, S. 4) Das kann man auch so ausdrücken: Wie man, ohne darüber entscheiden zu können, in eine Familie hineingeboren wird, so wird ein Japaner in den Shinto und seine Bräuche hineingeboren. Und gewöhnlich bleibt das ein Leben lang prägend, auch wenn andere religiöse Überzeugungen und Praktiken, etwa buddhistische oder christliche, als eigene Entscheidung dazukommen sollten. Das ist wohl auch ein Aspekt der Erklärung dafür, daß die Summe der in Religionsstatistiken erfaßten Japaner (zuletzt aus dem Jahr 2010) 196 Millionen ergibt, in Japan insgesamt aber nur 128 Millionen Menschen leben. In den Shinto hineingeboren zu werden, hat auch eine familiäre praktischreligiöse Seite. Ein neugeborenes Kind wird am 7. Tag nach seiner Geburt in dem Schrein eines Ortes, zu dessen „Gemeinde“ die Familie gehört, dem dort (wie man das in der Literatur gerne nennt) „eingeschreinten“ Ujigami, dem für die Familie zuständigen Schutzgott vorgestellt. „Uji“ war ursprünglich eine Gemeinschaft von Blutsverwandten. Manche sprechen von einem Clan, der ja auch auf verwandtschaftlichen Bindungen, allerdings über die Blutsverwandtschaft weit hinausgehenden, beruht. Heute hat sich die „ujiko“, wie eine solche Gruppierung bezeichnet wird, mehr in eine Art Ortsgemeinde von Schutzbefohlenen des Ujigami verwandelt. Geblieben ist aber bei den meisten Japanern das Bewußtsein und das Bedürfnis, in die im Kern weiterhin als familiär empfundene Gemeinschaft des Uji eingebunden zu sein. Auch wenn sie im Laufe ihres Lebens, meistens beruflich bedingt, den Wohnsitz gewechselt haben und von ihrem Geburtsort weit entfernt leben,

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kehren sie zu den Festen, die zu Ehren ihres Ujigami alljährlich veranstaltet werden, selbstverständlich dorthin und zu ihren Uji-Verwandten zurück. Die Termine solcher Feste sind von Ort zu Ort und von Schrein zu Schrein verschieden und über das ganze Jahr verteilt. Doch zu einem grundsätzlich in ganz Japan gleichzeitig gültigen Termin, vom 13. bis zum 15. Juli (nur in Ausnahmefällen erst im August), wird das stark buddhistisch beeinflußte Toten- und Ahnengedenkfest, das Bon-Fest, begangen. Dann sind in Japan alle Eisenbahnzüge überfüllt, die Fluglinien ausgebucht, weil man am 13. Juli zu den Gräbern der Vorfahren gehen will, um sie, wenn sie an diesem Tag zu den Nachkommen zurückkehren, zu begrüßen, mit ihnen zu speisen und zu feiern, sie schließlich zu ihrer Rückkehr in die andere Welt wieder zu verabschieden. Mit dem Bon-Fest öffnet sich ein Fenster, das weit über Japan hinausblicken läßt auf die prinzipiell in allen Religionen der Menschheit geübte respektvolle Verehrung der Vorfahren und Ahnen, was allerdings in recht unterschiedlicher Weise geschieht. Das ist ein Thema, dem man mit einem Aufsatz wie diesem nicht gerecht werden kann. Hier deute ich nur an, daß für die sogenannten Stammesreligionen in den verschiedenen Kontinenten der in Furcht, Zuneigung und Erwartung respekt- und verehrungsvolle Umgang mit den Ahnen konstitutiv ist. In viel stärkerer Weise als irgendwelche Geister und Götter greifen die Ahnen in das nach ihrem Tode weitergehende Geschehen im Leben der Nachlebenden ein und erwarten von diesen ein Verhalten, das ihnen ihr Wirken ermöglicht. Die Verstorbenen in das aktuelle Leben einbeziehende Familienbande machen in Stammeskulturen ein wesentliches Moment ihrer Religion aus. Ein solches Moment findet sich (und damit blicken wir noch einmal auf den Shinto zurück) auch in der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Menschen und Göttern, den Kami. Menschen, die in ihrer Position, in ihrer Lebensart oder in ihrem Sterben als besonders eindrücklich empfunden worden sind, können im Shinto nach ihrem Tode zu einem Kami werden. Sie bekommen einen göttlichen Namen, und es wird ihnen ein ganzer Schrein oder ein Sitz in einem Schrein gewidmet, wo die Menschen sich ihnen nähern und zu ihnen beten können. Das Priesteramt an solchen Schreinen übernehmen oft Angehörige der vergöttlichten Verstorbenen, und es wird dann in dieser Familie weiter vererbt. Das Vererben des Amtes ist in Japan grundsätzlich üblich, bei Priestern an Shinto-Schreinen ebenso wie bei denen der buddhistischen Tempel. Zu dem Amt und seinen Pflichten und Rechten gehört natürlich auch das oft erhebliche mobile und immobile Eigentum eines Schreins oder Tempels, das der Erbe dann zu verwalten hat. Soweit ich sehe, sind Priester im Shinto und im Buddhismus in Japan bisher nur Männer, erbberechtigt im Blick auf das Priesteramt also nur die Söhne, gewöhnlich, aber nicht zwingend der älteste Sohn. Wenn ein Priester keinen Sohn, sondern nur eine Tochter hat, dann

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wird, sofern die Tochter sich einen dafür geeigneten Ehemann ausgesucht hat, der Schwiegersohn adoptiert. Das Amt bleibt also auch dann in der Familie. Einen Umgang mit den verstorbenen Verwandten, wie er beim BonFest der Japaner zu beobachten ist, praktiziert man übrigens auch in der russisch-orthodoxen Kirche. Der Brauch, zu Ostern an den Gräbern mit den verstorbenen Vorfahren zu picknicken, hat sogar die rigoros religionsfeindliche Zeit der Sowjetherrschaft überdauert. Ein letztes Beispiel zu Verwandtschaftsstrukturen in Religionen aus Japan. Gerade dort sind in den letzten etwa zwei Jahrhunderten viele sogenannte „Neureligionen“ entstanden, entstehen auch jetzt noch. Die einen kommen mehr aus buddhistischem Ambiente, andere aus einem stärker vom Shinto bestimmten Umfeld. Eine der älteren, die auf ein als Offenbarung gedeutetes Geschehen im Jahre 1838 zurückgeht, ist die Tenrikyo, zu verstehen etwa als „Religion der himmlischen Vernunft“. Die Stifterin, eine Bäuerin aus wohlhabender Familie, war in einem Miteinander von traditionellen Shintobräuchen und buddhistischen Ritualen aufgewachsen. Elemente aus beiden Glaubensformen hat sie, teils eigenwillig verändert, in ihre Lehre einfließen lassen, diese im Kern jedoch gegründet gesehen auf eine eigenständige neue und letztgültige Offenbarung „Gottes“, wie man artikellos formulieren muß, denn sie sah in dem Offenbarer nicht einen Gott neben anderen, sondern den universalen einzigen Gott. Der stellte sich nach und nach unter verschiedenen Namen vor. Für unseren Zusammenhang der Familienbande ist von diesen Namen der relevant, der den Charakter dieser Religion am stärksten bestimmt, der Name „Oyagami“. Das heißt der „Elterliche Gott“ (Oya „Eltern“). Es charakterisiert diesen Gott als einen, der Mutter und Vater zugleich ist, der die Welt und die Menschen geschaffen hat und dessen Kinder ausnahmslos alle Menschen dieser Welt sind. Die Tenrikyo legt in ihrer Lehre, auch in einer eigenen Schöpfungsgeschichte, den Akzent darauf, daß als Kinder Oyagamis alle Menschen einander Schwestern und Brüder sind. Dieses Konzept der Menschheit als einer großen Familie bestimmt auch alle global ausgerichteten ethischen Bemühungen der Tenrikyo, mit dem Ziel, dem Heilsziel eines Frohen Lebens auf dieser Erde, in geschwisterlichem Miteinander der Menschen aller Kontinente. Neben diesem global-familiären Aspekt praktiziert die Tenrikyo aber einen separierenden, man kann auch sagen: elitären Aspekt von Familienbindung. Im Heilsplan des Elterlichen Gottes, so lehren sie, gab es eine dreifache Vorherbestimmung seines Offenbarungshandelns, und zwar der Person, des Zeitpunkts und des Ortes. Alle drei sind mit einer bestimmten Familie Nakayama verbunden. Das Ereignis der Offenbarung geschah erst, als die Stifterin der Tenrikyo, Miki geb. Maegawa, schon mit dem Bauern und Ortsvorsteher Zembei Nakayama verheiratet war. Der Ort, an dem das Ereignis geschah, liegt in dem Areal, das bis heute zum Eigentum dieser Familie gehört. Und das geht noch weiter: Auf dem Areal der Familie Nakayama liegt auch die Stelle,

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an der, nach dem Glauben der Tenrikyo, die Menschen erschaffen wurden und um die herum die Tenrikyo ihr dreifaches Zentralheiligtum errichtet hat. In Konsequenz dieser Vorgaben muß schließlich das Amt des Oberhaupts der Religion, des Shimbashira („Zentralpfeiler“), immer von einer männlichen Person aus der Familie Nakayama wahrgenommen werden. Familienbande aufspüren lassen sich wohl in allen Religionen der Menschheit. In manchen sind sie grundlegend, in anderen ephemer, episodisch. Wir müssen uns hier in diesem Rahmen auf einige Beispiele beschränken, die aber schon die Vielfalt der verwandtschaftlichen Beziehungen in Religionen erahnen lassen. Nach der Besprechung von Familienbanden in Religionsformen bei Griechen, Ägyptern, Indern und Japanern runde ich die Skizze nun ab mit einigen Bemerkungen über familiäre Aspekte in Judentum und Christentum sowie mit ein paar Stichwörtern zu weiteren Religionen. Gemeinsam haben Judentum und Christentum, daß in der Beziehung zwischen Gott und den Menschen die auf Verwandtschaft bezogene Terminologie auch religionsintern dezidiert metaphorisch zu sehen ist, jedenfalls im wesentlichen. Der mächtige, erschaffende, herrschende, gesetzgebende, richtende und Gnade erweisende Gott kann, obwohl ein Vatergott, nach jüdischem wie christlichem Verständnis kein zeugender Gott sein, schon gar nicht einer mit Eskapaden, wie zum Beispiel die Griechen sie ihrem Zeus zugeschrieben haben. Im Judentum, wie ich hier vereinfachend die biblische und die nachbiblische Form dieser Religion nenne, ist zwar im Tenach, den heiligen Schriften der Juden, mehrmals von „Söhnen Gottes“ die Rede. Sie stellen zum Beispiel den schönen Töchtern der Menschen nach und zeugen mit diesen die Riesen (Gen 6,2ff). Die „Söhne Gottes“ versammeln sich auch „vor dem Herrn“ (Hiob 1,6), und sie jubeln über sein Schöpfungswerk (Hiob 38,7). Gemeint ist hier wahrscheinlich Gottes Gefolge, die „Menge der himmlischen Heerscharen“, wie es später im Neuen Testament (Lk 2,13) heißt. Und wenn die Menschen des Volkes Israel als „Söhne“ Gottes (hebr.: bene jisrael; Luther: Kinder Gottes) angesprochen werden, dann ist das in dem Sinne zu verstehen, daß Gott sich dieses Volk als sein Volk ausgesucht und angeeignet, die Angehörigen dieses Volkes sozusagen adoptiert hat (z.B. Deut 14,1: „Ihr seid Kinder -hebr.: bânim, Söhne!- des Herrn, eures Gottes. ... denn du bist ein dem Herrn, deinem Gott, geweihtes Volk, und dich hat der Herr aus allen Völkern, die auf Erden sind, für sich erwählt, daß du sein eigen seiest.“) Im Kontext des Themas dieses Aufsatzes könnte man hier wieder von einer Art Wahlverwandtschaft zwischen Gott und Menschen sprechen. Auf der rein menschlichen Ebene aber versteht sich das Judentum durchaus real als ein auf völkisches (nicht nationales) Niveau gewachsener großer Familienverband. Die Geschlechtsregister im Tenach setzen bei dem ersten Menschen Adam an und führen die Ahnenreihe mit ihren im Laufe der Zeit sich ergebenden Verzweigungen stetig weiter, bis hinüber zu der das Neue

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Testament einleitenden Ahnenreihe von Abraham über David zu (wie es in der von Luther übersetzten Lesart heißt) „Joseph, de(m) Mann Marias, von welcher ist geboren Jesus, der da heißt Christus“ (Mt 1,1–16). So steht es im ersten Kapitel des Evangeliums nach Matthäus, von dem man, nach Anlage und Sprache, annimmt, daß es vornehmlich für judenchristliche Gemeinden als Adressaten gedacht und darum an einer Anknüpfung der neuen Lehre an die jüdische Tradition besonders interessiert war. Das in den einzelnen jüdischen Menschen natürlich unterschiedlich starke Bewußtsein einer wurzelhaften Verwandtschaft aller Juden untereinander drückt sich in der im Tenach häufigen und oben schon erwähnten Formulierung „Kinder Israel“ aus (so Luther; im Hebräischen steht: „die Söhne Israels“; die Zürcher Bibel übersetzt „Israeliten“). Das bezieht sich auf den Mann, aus dessen Samen heraus das ganze Volk gewachsen ist, auf den Vater der zwölf Brüder, die zu den Stammvätern der zwölf Stämme des Volkes Israel wurden. Und es nennt ihn nicht mit seinem Geburtsnamen Jakob, sondern mit dem Namen Israel, den ihm nach Gen 35,10 Gott gab, als er ihm eine reiche Nachkommenschaft und dieser ein eigenes Land verhieß. Mit dieser Verheißung ist das Judentum als eine religiöse familiär-völkische Einheit göttlich autorisiert. Und damit verbunden ist eine biologische Komponente, die nationale und kulturelle Grenzen zwischen den in aller Welt zerstreut lebenden Juden in den Hintergrund treten läßt. Sie macht diese völkische Einheit für das Thema der „Familienbande“ in einer noch anderen Richtung bedeutsam: Jude ist nur der, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde, unabhängig davon, ob er überhaupt oder wieweit er in den Traditionen und Bräuchen des Judentums beheimatet ist. Im Christentum wird das alles teilweise anders gesehen. Es gibt einen zweiten Stammbaum Jesu im Neuen Testament, im Evangelium nach Lukas 3,23–38. Er läuft rückwärts, beginnt mit dem, der, „wie man annahm“, Sohn des Joseph war, und geht dann bis zu Adam, der nicht als erschaffen, sondern, wie alle seine Vorgänger im Stammbaum, seinem Vater, Gott, ausdrücklich als Sohn zugeordnet wird. Diesem zweiten Stammbaum direkt voraus geht hier der Bericht über die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, bei der „aus dem Himmel ... eine Stimme (erscholl): Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden!“ (Lk 3,22) In einer von den Editoren verworfenen, aber als varia lectio angebotenen Textvariante klingt das etwas anders und für unseren Zusammenhang interessanter. Es wird Ps 2,7 zitiert: „Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“ (huios mou ei su, ego¯ se¯ meron gegenne¯ ka se). Und im Neuen Testament findet sich für Jesus dann passim das Epitheton „Sohn Gottes“, „Sohn des lebendigen Gottes“, „Gottes Sohn“. Doch es wird nicht eindeutig erkennbar, wieweit, nach Meinung der Autoren der Texte des Neuen Testaments, Jesus selbst diesen Titel für sich beansprucht hat. Die Qualität der Person Jesus als des Christus ist besonders anhand seiner Sohnschaft gegenüber Gott von der Frühzeit des Christentums an heftig

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diskutiert worden. Am bekanntesten ist auch außerhalb theologischer Kreise der im 4.Jh. sich entzündende Streit um das Jota, ob Jesus homoiusios oder homousios sei, also mit Gott ähnlichen oder gleichen Wesens. Diese exegetisch-dogmatischen Auseinandersetzungen lasse ich hier ganz beiseite und beschränke mich auf einen neutral-religionsgeschichtlichen Befund. Danach ergibt sich das folgende Bild: Daß Jesus (der Christus) ein Sohn Gottes sei, und zwar der einzige (monogene¯´ s, was Luther, für uns heute so mißverständlich, mit „eingeboren“ übersetzt, die Zürcher Bibel aber mit „einzig“; s. Jh 1,14.18; 3,16.18.), das bewegt sich zwischen einem historisch-realen und einem metaphorischen Verständnis. Und beides läßt sich aus den Stammbäumen erschließen. Mt 1 setzt an bei einem Erdenbürger, bei Abraham, und endet mit Joseph und Maria als den Eltern Jesu. Bezeugt werden soll hier wohl vor allem, daß mit dieser Geburt die Verheißung von Jes 7 erfüllt werde, die Geburt eines Sohnes aus dem Hause des in die Ahnenreihe gehörenden David. Erst von der Ahnenfolge abgesetzt schließt sich die Information über Jesus an, „der der Christus genannt wird“. Der Stammbaum in Lk 3 dagegen geht über Abraham weiter zurück bis auf Seth, der dem von Kain getöteten Abel nachgeboren ist, und zu dessen Vater Adam, übersteigt dann die Grenze des Erschaffenen und setzt als den Vater des Adam Gott selbst ein – was dem Stammbaum im ganzen, bis hin zu seinem in der Zeugungsfolge letzten Glied Jesus einen metaphorischen Charakter gibt. Und der wird verstärkt, wenn man sich für die oben schon aufgeführte Textvariante aus der dem Stammbaum vorausgehenden Tauferzählung entschiede. Da erklärt „eine Stimme aus dem Himmel“, womit ja wohl die Stimme Gottes gemeint ist, dem erwachsenen Jesus: „Mein Sohn bist du, heute (an deinem Tauftag) habe ich dich gezeugt.“ (Lk 3,22) In gewisser Weise durchbrochen wird das metaphorische Verständnis in den Texten des Neuen Testaments, wenn das Verhältnis Gottes zu seinem Sohn mit Emotionen gefüllt ist, wie in der klassischen Stelle Joh 3,16, wo Gottes Liebe zur Welt mit der zu seinem einzigen Sohn verknüpft wird: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ Metaphorisch zu sehen ist es aber auch, wenn von den Menschen als den „Söhnen“ oder den „Kindern (des lebendigen) Gottes“ die Rede ist. Ausdrücklich und auch den Stammbaum einbeziehend wird auf die Metaphorik hingewiesen zum Beispiel im Brief des Paulus an die Galater: „Denn ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Jesus Christus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, habt Christus angezogen (enedýsasthe) … Wenn ihr aber Christus angehört, seid ihr ja Abrahams Nachkommenschaft, Erben gemäß der Verheißung.“ (Gal 3,26f.29) Macht man die Gegenprobe und sieht sich im Neuen Testament die vielen Stellen an, wo Gott von Jesus als Vater angesprochen oder in der dritten

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Person so bezeichnet wird, dann erkennt man auch hier einen metaphorischfunktionalen Gebrauch des Vaternamens. Allerdings gibt es ein paar Ausnahmen, die bei psychologischer Betrachtung ein durchaus persönliches, vertrauliches Verhältnis des Sohnes zum Vater nahelegen. Ich denke zum Beispiel an Jesu Worte in Gethsemane („Abba, Vater, alles ist dir möglich; laß diesen Kelch an mir vorübergehen!“ Mk 14,36) oder an Jesu Worte am Kreuz, wie sie im Evangelium nach Lukas gegeben werden: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) Und im Sterben: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ (Lk 23,46, nach Ps 31,6, wo aber zu Jahwe, Luther: zum „Herrn“, nicht zum „Vater“ gesprochen wird). Nach diesen nur als Anstoß zu weiteren Beobachtungen gedachten, für Theologen vielleicht auch ein wenig anstößigen Bemerkungen kehren wir nun ganz auf die Erde zurück, zu unserem einleitend schon angekündigten letzten Thema. Mehrfach werden im Neuen Testament offenbar leibliche Geschwister Jesu erwähnt, und zwar in einer Art, die ganz selbstverständlich klingt. Es erscheinen an Orten, wo Jesus lehrend auftritt, seine Mutter und seine Brüder. Und als er in der Synagoge seiner „Vaterstadt“ Nazareth, lehrt, erkennen ihn die Menschen dort als den, dessen Mutter Maria ist, dessen Brüder „Jakobus und Joseph/Joses und Simon und Judas“ sind und dessen „Schwestern alle“ unter ihnen leben (Mt 13,55f). Auf die Existenz jüngerer Brüder Jesu schließen könnte man nach Lk 2,7, wo von Jesus als Marias „erstgeborenem“ Sohn gesprochen wird, pro¯tótokos kann sich aber auch auf die erste Niederkunft Marias beziehen oder auch im Sinne von „einzig“ zu verstehen sein. Bei keiner der im Neuen Testament erzählten Begegnungen mit Mutter und Brüdern leugnet Jesus die Verwandtschaft, aber er weist jeden Anspruch, der sich aus der Verwandtschaft mit ihm ergeben könnte, ab, indem er erklärt: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Und dann geht es weiter: „... er streckte seine Hand über seine Jünger aus und sprach: Siehe, das sind meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ (Mt 12,50 u.ö.) Andererseits gehören nach einer Bemerkung im Evangelium nach Johannes (2,12) auf einem Weg nach Kapernaum neben den Jüngern auch seine Mutter und seine Brüder zu seinem Gefolge. Laut Jh 7,3 und 5 nehmen seine Brüder, die „nicht an ihn glaubten“, Einfluß auf Jesu Wanderroute und lenken ihn nach Jerusalem. Und in der Apg (1,14) wird berichtet, daß nach der Himmelfahrt die elf (hier namentlich aufgeführten)) Jünger betend zusammensaßen, und auch die „Frauen und Maria, (die) Mutter Jesu, und (...) seine (...) Brüder“ bei ihnen waren. Im Brief an die Galater (1,19) schließlich berichtet Paulus, daß er in Jerusalem „Jakobus, den Bruder des Herrn“ gesehen habe. Weitere Hinweise auf verwandtschaftliche Verbindungen betreffen Jesu Mutter Maria: Elisabeth, die Mutter Johannes des Täufers, wird als Marias

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sýngenis, ihre „Verwandte“ eingeführt, ohne genauere Bestimmung. (Lk 1,36) Und am Kreuz Jesu stehen nach Jh 19,25 (u.a. Stellen wie Mt 27,56 Mk 15,40) „seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria die (Frau? Tochter? Schwester?) des Klopas, und Maria aus Magdala“, allerdings eine Aufzählung, die nicht eindeutig erkennen läßt, ob es sich hier um drei oder vier Frauen handelt. Alle diese Angaben sind schon in sich nicht recht schlüssig, durch Namensgleichheiten, Namenszusätze, verschiedene Schreibweisen von Namen, auch durch unterschiedliche, sich manchmal widersprechende Zuordnungen von Personen. Und wenn die Autoren der Texte des Neuen Testaments bei solchen Angaben vielleicht meinten, sie gäben Realität wieder, so können wir das heute nur sehr begrenzt nachvollziehen. Für diese Daten gibt es so gut wie keine sicheren Belege. Auch unsere historisch-kritischen Kriterien heute können nur zu einer geringeren oder einer höheren Wahrscheinlichkeit führen. Die Verwandten Jesu haben schon die frühen christlichen Gemeinden und dann vom 4. Jh an die Konzile und die Kirchenväter beschäftigt, und zwar nicht aus theoretisch-historischem Interesse, wie es uns leitet, sondern im Blick auf reale Gegebenheiten. Da ist zuerst die Besetzung von Leitungspositionen in den Gemeinden, wie schon die oben zitierte Bemerkung des Paulus in Gal 1,19 von seiner Audienz bei Jakobus in Jerusalem erkennen läßt. Nach außerkanonischen Quellen war dieser der erste Bischof von Jerusalem, später, noch vor Petrus, Bischof von Rom. In einem Brief des Petrus und des Clemens an ihn wird Jakobus als „Herr und Bischof der hl. Kirche und Herr und Bischof der Bischöfe“ angeredet (nach Bauer in Apokr.314). Als despósynoi „Angehörige des Herrn“ besaßen die Verwandten Jesu allgemein unter den frühen Christen eine herausgehobene Stellung. Dabei spielte auch eine Rolle, daß sie (wie W. Bauer Apokr. 315 formuliert) als „irdische Vertreter des wahren Davidserben und messianischen Königs angesehen wurden“. Das machte sie übrigens den römischen Herrschern verdächtig. Diese fürchteten, die prominenten Nachfahren des jüdischen Königshauses könnten ihre Ansprüche wieder aufleben lassen und gewaltsam durchzusetzen versuchen. Ein spezielles Problem stellten zunehmend die Brüder Jesu dar im Blick auf die Jungfräulichkeit seiner Mutter Maria. Unbestritten war wohl, daß sie Jesus jungfräulich empfangen habe. Von der Mitte des 2. Jahrhunderts an entwickelte sich dann die Auffassung, Maria habe Jesus auch jungfräulich geboren und sei danach immer Jungfrau geblieben. (Cyrill von Alexandrien, gest. 444, gegen Nestorius: theotókos „Gottesgebärerin“, im Konzil von Ephesus 431 legitimiert. – Taufsymbola ab 3. Jh. und Konzil von Konstantinopel 553: aeiparthénos, lat. virginitas ante partum, in partu, post partem.) Das gab den Anstoß zu Überlegungen, welcher Art das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Jesus und seinen in den Evangelien genannten Brüdern gewesen sein könnte. Die am heftigsten diskutierten Lösungen waren

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drei. Erstens: Die Brüder Jesu seien Söhne des Joseph aus einer früheren Ehe, also Halbbrüder Jesu. Diese These verträgt sich mit einer Bemerkung im Protevangelium des Jakobus (aus dem 2. Jh.), wohl der einzigen dieser Art, Joseph habe, als er zur Volkszählung nach Bethlehem gereist sei, „seine Söhne“ bei der schwangeren Maria gelassen und sich auf die Suche nach einer hebräischen Hebamme begeben (vertreten v.a. von Epiphanius von Salamis, ca. 315–403). Zweitens: Die Brüder seien Vettern Jesu (v.a. Hieronymus, 340/50–420). Drittens: Die Brüder Jesu seien seine leiblichen Geschwister, also Kinder der damit nicht immerwährenden Jungfrau Maria, nach der Geburt Jesu mit Joseph gezeugt (v.a. Helvedius, um 385; Tertullian, um 160 – nach 220). Die drei Thesen sind seitdem von den Theologen der verschiedenen Konfessionen vielfach exegetisch untersucht und dogmatisch-systematisch reflektiert worden. Die Brüder als Söhne des Joseph aus einer früheren Ehe fanden wenig Unterstützung. Für leibliche Söhne von Joseph und Maria, also jüngere leibliche Brüder Jesu, stimmen heute mehrheitlich die streng am Text des Neuen Testaments orientierten und wenig an einer Verehrung der Gottesmutter interessierten protestantischen Theologen. Davon, daß die Brüder Vettern oder Halbbrüder Jesu waren, sind grundsätzlich die mehr am Dogma ausgerichteten katholischen Theologen überzeugt, müssen sie überzeugt sein, wenn sie das Dogma von der Maria als der aeiparthénos nicht aufgeben wollen. Hinzu kommen ja auch noch das Dogma von 1854, Maria selbst sei nicht von einem Mann gezeugt, sondern durch göttliches Wirken empfangen worden, und das Dogma von ihrer Aufnahme in den Himmel von 1950. Aus dieser Überzeugung heraus ist das entstanden, was schon mit dem Titel dieses Aufsatzes verbunden ist, der Gedanke, die Ausgestaltung und die Darstellung der Heiligen Sippe. Im Protevangelium des Jakobus aus dem 2. Jh. findet sich das in den kanonischen Texten nicht vorkommende Elternpaar Marias, Anna und Joachim, ein älteres und zum Kummer beider doch noch kinderloses Ehepaar. In gewisser Analogie zur Geschichte von Sarah und Abraham (Gen 18) und zu der von Hanna, der Mutter Samuels (1.Sam 1), wird ihnen die Geburt eines Kindes verheißen, und zwar einer ganz besonderen Tochter, der Maria, offenbar in Form einer nur vom göttlichen Geist bewirkten Empfängnis. Es entwickelt sich in der Kirche, gegen gewissen Widerstand (z.B. von Augustinus), ein eigener Anna-Kult. Und es bildet sich u.a. das Bildmotiv der „Anna Selbdritt“ heraus, also Großmutter Anna, Tochter Maria und Enkel Jesus. Daneben kennt man die in vielen verschiedenen Ausführungen bekannte Darstellung der „Heiligen Familie“, Maria und der Jesusknabe mit dem Vater bzw. Nährvater Joseph, der allerdings oft mehr im Hintergrund steht. Von Anna als der Großmutter Jesu zu sprechen, ist übrigens keine Neuerung der 70er Jahre des 20. Jh.s. Der Titel einer Wiedergabe der Anna-Legende durch Bartholomäus Kistler aus dem Jahre 1501 lautet: Dyss ist eyn seltzemme vnn

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guote legende von sant Annan vnd von jrem gantzen geslecht welche sant Anna geboren hatt die muotter Gottes die jungfrowe Mariam. Des halber sie auch billiche genant würt eyn gross muotter des soenes Gottes des vatters vnsseres lieben heren Jhesu Christi. Straßburg 1501 (nach: Werner Esser, Die Heilige Sippe. Studien zu einem spätmittelalterlichen Bildthema in Deutschland und den Niederlanden. Bonn 1984/86. 264, Qs 40) Vom 9. Jh. an erscheint dann die Legende von einem Trinubium der Anna. Joachim sei gestorben, und Anna habe wieder geheiratet, einen Kleophas. Auch der sei gestorben, und Anna habe eine dritte Ehe geschlossen, mit einem Salomas. Jeder dieser drei Ehen sei eine Tochter entsprossen, und jede der Töchter habe den Namen Maria erhalten. Mit den drei Marien als Töchtern der Anna löst die Legende die Schwierigkeit, die im Neuen Testament genannten verschiedenen Frauen dieses Namens familiär zu- und einzuordnen. Die drei Marien heiraten und bekommen Kinder. So entstehen neue Familien, die zu der in dieser Form und in einzelnen ihrer Gestalten rein legendären „Heiligen Sippe“ zusammenwachsen. Schließlich werden 29 Personen zu dieser Sippe gezählt. Allen drei Töchtern der Anna seien, so heißt es, Söhne geboren worden, ob auch Töchter, bleibt ungesagt. Die Tochter des Joachim heiratet Joseph und wird die Mutter Jesu. Der Tochter des Kleophas und ihrem Mann Alphaeus werden vier Söhne zugeschrieben, Jacobus Minor, Joseph Justus (oder Joses, nach Apg 4, 36 identisch mit Barnabas oder Barsabas), Judas Thaddaeus und Simon Zelotes. Nur zwei Söhne bekam die Tochter des Salomas in ihrer Ehe mit Zebedaeus, Jacobus Maior und Johannes Evangelista. Alle diese Söhne, und auch ihre Väter, sind im Neuen Testament erwähnt, einige herausgehoben, andere beiläufig. Und einige von ihnen sind ausdrücklich als Brüder Jesu vorgestellt. Wenn sie hier in der „Heiligen Sippe“ als Söhne von Halbschwestern der Mutter Jesu eingeführt werden, dann sind sie zwar mit ihm verwandt, aber als Halbbrüder (oder Vettern?), und die immerwährende Jungfräulichkeit der ersten Maria, der Gottes­ gebärerin, bleibt bewahrt. In die Verwandtschaft mit Jesus einbezogen wird auch Johannes der Täufer, indem für die Bemerkung im Neuen Testament, seine Mutter Elisabeth sei eine sýngenis der Maria (Lk 1,36), eine Erklärung geschaffen wird. Die nur durch eine legendäre Vision (eines Mönches auf dem Berg Karmel) bekannt gewordenen Eltern der Anna, Emerentia und Stollanus, hatten noch eine zweite Tochter, Esmeria. Deren Tochter aus einer Ehe mit einem Ephraim ist Elisabeth, die Mutter Johannes des Täufers. Jesus und Johannes der Täufer sind danach also Vettern. Elisabeth hat aber auch einen Bruder, Eliud, der mit einer Frau nicht überlieferten Namens einen Sohn zeugt, den Emin. Mit ihm springt die „Heilige Sippe“ in das 4. Jh., in die nach den Eltern der Anna und der Esmeria 5. Generation. Denn Emin heiratet Memelia, und sie bekommen einen Sohn, Servatius. Der ist nun nicht mehr eine legendäre, sondern eine

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historisch faßbare Gestalt. Er war der erste Bischof von Tongern/Belgien und lebte von vor 342 bis 384. Die Legende schreibt ihm allerdings noch einen direkten Kontakt mit Petrus zu, so daß er in seiner Bischofszeit ein Alter von etwa 300 Jahren gehabt haben müßte. Gregor von Tours hat ihn einmal einen „wahren Israeliten“ genannt (Esser, Die Heilige Sippe. Anm. 116). Das könnte der Grund dafür gewesen sein, ihn als jüngsten Sproß in den Stammbaum der „Heiligen Sippe“aufzunehmen. Ihm ist zwar auch ein weit verbreiteter eigenständiger Kult gewidmet worden, in der „Heiligen Sippe“ hatte er aber immer einen festen Platz. Das zur „Heiligen Sippe“ führende Trinubium der Maria-Mutter Anna ist frühestens, da aber eine schon längere Tradition voraussetzend, belegt im 9. Jahrhundert (Historiae Sacrae Epitome, herausgegeben unter dem Namen Haimo von Halberstadt, gest. 853, wahrscheinlich aber zuzuordnen seinem Zeitgenossen Haimo von Auxerre, gest. 855). Es war theologisch umstritten und blieb das auch über die Jahrhunderte hin, wurde andererseits im Laufe der Zeit aber mehr und mehr anerkannt und schließlich vom 11./12. Jh. an „wie ein Dogma“ angesehen. Eine Bestätigung des Glaubens an die „Heilige Sippe“ zog man aus einer Vision der Hl. Coletta von Corbie von 1406 (1408? Coletta 1381–1447). Die Verehrung der „Heiligen Sippe“ ging durch alle Gesellschaftsschichten des Mittelalters. Kritik vor allem von exegetischer Seite führte im 16. Jh. dazu, daß die Legende vom Trinubium der Anna nach und nach ihre Glaubwürdig­keit verlor. Im 1545 beginnenden Konzil von Trient, dem Tridentinum, wurde das Trinubium dann offiziell verworfen. Wie bedeutend seine Rolle im Glaubensleben der Christen über Jahrhunderte hin gewesen ist, bezeugen außer literarischen Dokumenten vor allem die vielen bildlichen Darstellungen, die in situ erhalten oder literarisch belegt sind. Das sind von ursprünglich in die Tausende gehenden Bildwerken heute immer noch etliche hundert (Esser 51). Eine dieser Darstellungen befindet sich, wie ich einleitend schon erwähnt habe, in Form eines Klappaltars in Marburg, in der Elisabethkirche. Was ich in diesem Aufsatz, dem ein älterer Vortrag in der GelehrtenGesellschaft zugrunde liegt, dargestellt habe, ist noch wenig zubereitete Frischware, ein Überblick in grober Auswahl, noch ohne Hintergründe. Jeder der skizzierten Bereiche müßte in mehrere Richtungen hin problematisiert und erschlossen werden, philologisch, ikonographisch und ikonologisch, sozialgeschichtlich und -psychologisch, theo- und mythologisch, um nur einige der möglichen und notwendigen Forschungszugänge zu nennen. Man könnte wohl ein DFG-Projekt damit füllen. Für das letzte Thema, die „Heilige Sippe“, ist vieles dieser Art aufgearbeitet in der oben schon erwähnten, im Kern allerdings nicht religionsgeschichtlich, sondern kunsthistorisch orientierten Bonner Dissertation von Werner Esser. Wenigstens mit ein paar Stichwörtern soll einiges von dem angedeutet sein, was auch noch in eine solche religionsgeschichtliche Verwandtschafts-

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skizze hineingehörte: Die Mütter von Religionsstiftern (Dughdowa und Zarathustra; Amina und Muhammad; Tris´ala¯ und Maha¯vı¯ra; Ma¯ya¯ und der Buddha). Dann die Tante und Stiefmutter des Buddha, der die Gründung des buddhistischen Nonnenordens zu verdanken ist, und sein Sohn Rahula, der einer seiner Schüler wurde. Die beiden Vettern des Buddha als Antagonisten. Die Rolle von Klasse, Kaste und Familienverband (varna, ja¯ti, kula) in der religiösen Hierarchie der Hindu. Moses und sein Priesterbruder Aaron. Muhammad und sein Vetter und Schwiegersohn Ali und dessen Rolle in der Geschichte des Islam. Gegenwärtig sind die von dem Gründer der jetzt weltweit vertretenen Vereinigungskirche e.V., dem Südkoreaner San Myung Mun, mit dem Anspruch geistlicher Autorität arrangierten Massenhochzeiten. Und so gibt es noch vieles mehr. Als wirklich letztes Beispiel erwähne ich einen Fund von meinen Wegen über den Marburger Friedhof. Ein Grabstein für eine Frau Luise Jahn geb. Flörke zeigt diese im Relief, eine etwas maskulin wirkende Dame. Sie starb 1930 mit 64 Jahren. Als „innigstgeliebte, unvergeßliche, treue Mutter“ wird sie darüberhinaus so gewürdigt: „Sie hat als Dulderin gelebt, gelitten u. ist als solche gestorben. Gehe ein zu Deines Herrn Freude!“ Und es wird an ihren ältesten Sohn erinnert, der 1918 „auf dem Felde der Ehre fiel“ und dem sie nun „12 Jahre später in die Ewigkeit nach(folgte)“. Eingeleitet wird die Würdigung mit dem Satz: „Sie war ein Nachkomme Dr. Martin Luthers.“ Das ist ein Zeugnis eines protestantischen geistlich-biologischen Familienbewußtseins, dem man auch einmal nachgehen könnte.



Wirtschaftswissenschaften

Sabine Föllinger und Evelyn Korn

Glück und Ökonomie – ein interdisziplinäres Projekt

Sabine Föllinger und Evelyn Korn Glück und Ökonomie – ein interdisziplinäres Projekt zur Bedeutung von Institutionen bei Platon Sabine Föllinger 1 und Evelyn Korn 2 Inhalt (1) Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 (2) Die Verortung des Projekts in der Forschungssituation. . . . . . . . . . . . . 340 2,1)  Forschung zu Platons ‚Ökonomie‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 2,2)  Institutionenökonomische Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 (3) Der interdisziplinäre Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 3,1)  Ökonomische Überlegungen in Platons Politeia und Nomoi. . . . . . . 343 3,2)  Platons Überlegungen und der Ansatz der   Neuen Institutionenökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3,3) Analyseschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 (4) Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 (5) Das Beispiel „Grenzverletzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 (6) Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

(1) Einleitung In seinen Idealstaatskonzeptionen Politeia und Nomoi versucht Platon das menschliche Verhalten durch verschiedene Maßnahmen so zu regulieren, dass Glück (Eudämonie) für den Einzelnen wie für die Gesellschaft möglich werden. Zentral sind dabei zwei Aspekte: Eudämonie für den Einzelnen ist nur in der Gemeinschaft zu erreichen, daher sind in allen Betrachtungen Gruppe und Individuum gleichzeitig zu denken, wobei das Individuum mit seinen Handlungen im Fokus des Interesses steht; darüber hinaus bedarf es vernünftig konzipierter und dann durchgesetzter Regeln, um das Zusammenleben in der Ausrichtung auf das Eudämonie-Ziel zu gestalten. Diese Grundstrukturen finden sich in ähnlicher Weise in den Wohlfahrtsüberlegungen der ‚Neuen Institutionenökonomik‘ wieder. Auch hier wird die Frage gestellt, 1   Institut für Klassische Sprachen und Literaturen, Klassische Philologie, Philipps-Universität Marburg, email: [email protected] 2  Marburg Center for Institutional Economics, Philipps-Universität Marburg, email: [email protected]

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wie Regeln gestaltet sein müssen, um dem Glück bzw. Wohlbefinden des Einzelnen sowie der Wohlfahrt der Gruppe zu dienen. Aus dieser Parallelität ergibt sich Raum für eine Zusammenarbeit von Gräzistik und Volkswirtschaftslehre. Mit einem interdisziplinären Ansatz sollen Platons ökonomische Überlegungen in einer Reihe von Arbeiten systematisch untersucht und vor dem Hintergrund aktueller volkswirtschaftlicher Theorie neu beleuchtet werden3. Um das in beiden Konzeptionen relevante regelbasierte Zusammenspiel zwischen Individuum und Gruppe zu beleuchten, ist eine Trennung in zwei Fragestellungen hilfreich: Zum einen ist zu untersuchen, inwiefern Platons Menschenbild und seine ökonomischen Vorstellungen zusammenhängen und inwieweit man diese zu dem modernen Menschenbild des homo oeconomicus und seinen Erweiterungen in Beziehung setzen kann4. Zum anderen ist eine systematische Analyse der Funktionsweise von Regeln in beiden Ansätzen vorzunehmen und zu überprüfen, inwieweit Ähnlichkeiten zwischen den zugrunde gelegten Strukturen bestehen. Hier ist der Zugang der Neuen Institutionenökonomik für die Erschließung von Platons ökonomischen Konzeptionen besonders hilfreich. Denn die Stärke dieses Ansatzes besteht darin, das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellem Verhalten ausleuchten zu können. Der vorliegende Beitrag zeigt, wie eine Übertragung institutionenökonomischer Ideen auf Platons Konzeption aussehen kann und wie sich diese Analyse an die Überlegungen der gräzistischen wie ökonomischen Literatur anschließt. Die Leistung des hier skizzierten Projekts liegt in der eng verzahnten Zusammenarbeit von Gräzistik und Wirtschaftswissenschaften. Diese stellt eine nicht selbstverständliche und ansonsten wohl kaum anzutreffende Form von Interdisziplinarität dar. Durch die Anwendung der institutionenökonomischen Methode wird es möglich, Platons Vorstellungen nicht nur durch eine genaue Textanalyse zu erhellen und systematisch darzustellen, sondern auch zu zeigen, dass seine Vorstellungen durchaus Berührungspunkte mit modernen Überlegungen haben. Der Ansatzpunkt für die gemeinsame Arbeit ist die Beobachtung, dass sowohl Platons ökonomische Überlegungen als auch die Theorie der Neuen Institutionenökonomik auf die Rahmenbedingungen des individuellen wirtschaft­lichen Handelns ausgerichtet sind. Platons Werk steht unter dem Eindruck des von innen wie von außen in seiner Existenz bedrohten athenischen Staates; die Neue Institutionenökonomik wiederum sieht sich der ständigen Herausforderung gegenüber, Krisen wie die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa zu verstehen und in der Modellierung individuellen und gesellschaftlichen Verhaltens zu berücksichtigen. Der Wunsch nach verlässlichen und tatsächlich durchgesetzten Regeln, die eine Entwicklung des Individuums 3   Eine breit angelegte Einführung in Platons Ökonomie, die auch auf die Fragestellung des hier vorgestellten Projekts abhebt, bietet Föllinger (2016a). 4   Diesen Aspekt behandeln ausführlicher Bösherz/Noack (2015).

Glück und Ökonomie – ein interdisziplinäres Projekt

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wie des Gemeinwohls fördern, kennzeichnet damit die Frage nach funktionierenden Rahmenbedingungen in der griechischen Antike wie in der Moderne5. Diese Bedingungen gilt es nicht nur zu beschreiben, sondern zu normieren. Erst auf dieser Basis ist auch eine zielgerichtete Korrektur möglich. Dabei ist Platons Vorgabe, im Einklang und zugleich in Auseinandersetzung mit der für griechische Moralvorstellungen typischen Ausrichtung auf die Eudämonie (Glück/gelungenes Leben)6, ein Ziel, das die Aufgabe von Individuum und Politik darstellt: Die individuelle Eudämonie ist nur durch eine Ausrichtung auf das Gute7, also durch moralisch gutes Verhalten möglich. Damit ist die Areté (Tugend) zentral. Da jedoch das moralische Verhalten sich in einer Gemeinschaft, pólis, verwirklicht, ist das Erreichen der Eudämonie für Platon letztendlich auch ein politisches Problem. Deshalb spricht Platon der Politik eine für die Erziehung der Bürger zentrale Funktion zu (Gorgias 503D–508C und Nomoi I 649D–650B). Da aber ein Grundzug des Menschen die Gefährdung durch das ‚Mehrhaben-wollen‘ (Pleonexie) ist, muss dafür Sorge getragen werden, dass auf vielfältige Weise der Einzelne und die Gemeinschaft vor der Besitzgier geschützt sind, damit Einheit und Harmonie unter den Bürgern gewährleistet sein können. Anthropologische Vorstellungen und Aussagen zur Ökonomik durchziehen Platons ganzes Werk. Konkrete und detaillierte Vorschläge zur Interaktion von Individuum und Gemeinschaft werden vor allem in den beiden dialogisch konzipierten8 Idealstaatskonzeptionen (paradeígmata) Politeia und Nomoi gemacht. Hier bietet die Politeia grundlegendere philosophische Überlegungen (zu Ontologie, Erkenntnistheorie, Psychologie), die Nomoi bestechen durch viele Detailregeln für das Alltagsleben. Dabei weist Platon sowohl der Erziehung und Bildung des Individuums als auch der Sanktionierung durch äußere Regeln eine wichtige Rolle zu. Die vorliegende Arbeit legt dar, wie die angesprochenen Fragen grundsätzlich adressiert werden können. Dazu stellt sie zunächst die Perspektiven der gräzistischen und der volkswirtschaftlichen Literatur auf Platons Staatskonzeption und zur Analyse heranzuziehende Modelle dar. Sie skizziert dann, wie die Beschreibung von Menschenbild und Gesellschaft einer interdisziplinären Analyse zugängig gemacht werden kann. Abschließend wird die Methode der interdisziplinären Analyse erläutert.   Dass auch der modernen Wirtschaftsordnung Normen unterliegen, hebt Höffe (1981) 111–123 hervor. 6   S. zum griechischen Eudaimonismus im Allgemeinen z.B. Horn (1998). S. zur Eudämonie bei Platon Erler (2007) 431–435. 7   Für Platon ist das Gute in zweifacher Weise gekennzeichnet: Zum einen ist es in metaphysischer Hinsicht Ursache der Erkenntnis, der Wahrheit und des Seins; zum anderen ist es aus moralisch-pragmatischer Perspektive das, was jede Seele anstrebt und um dessentwillen sie alles tut (vgl. Politeia VI 505E–509B). 8   Zur Diskussion der Dialogform vgl. Erler (2007) 60–98. 5

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(2)  Die Verortung des Projekts in der Forschungssituation 2,1)  Forschung zu Platons ‚Ökonomie‘ Bei der Beschäftigung der modernen Forschung mit antiken ökonomischen Theorien spielten die Überlegungen Platons zur Ökonomie lange Zeit eine, im Vergleich zu Aristoteles, untergeordnete Rolle9. Der Grund dafür liegt wohl nicht nur in den Problemen, die sich mit der Diskussion über die antike Wirtschaft im Allgemeinen10 und mit der Frage, ob es in der Antike überhaupt ‚ökonomische Theorien‘ gab11, verbinden. Vielmehr bietet die Beschäftigung mit Platons Ökonomie darüber hinaus noch die Schwierigkeit, dass er nicht nur kein ‚ökonomisches‘ Werk geschrieben hat, sondern auch – anders als Aristoteles – keine systematisch zusammenhängende ökonomische Betrachtung anstellt12. Vielmehr bietet er über Ökonomie in verschiedenen Werken unter unterschiedlicher Perspektive Reflexionen, und dies nicht in eigener Person in Form eines wissenschaftlichen Traktates wie Aristoteles, sondern stets in der literarischen Gestaltung eines Dialogs mehrerer Gesprächspartner. Erschwerend kommt hinzu, dass die für seine ökonomischen Reflexionen zentralen Idealstaatskonzeptionen nicht einem modernen egalitären Verständnis von Staat und Gesellschaft entsprechen, so dass auch dies ein Hindernis gewesen sein könnte13. Zudem galt das Hauptinteresse der Politeia, wohingegen sich die altertumswissenschaftliche Forschung erst in den letzten Jahren14 verstärkt auch den Nomoi zuwendet, wovon die Erschließung durch Übersetzungen und Kommentare15 und die Entstehung von Sammelbänden zeugt (Lisi (2001); Bobonich (2010)). Bei der Untersuchung der Nomoi mit ihren Einzelregelungen war für die altertums 9  Zur Marginalisierung Platons vgl. auch Rameil (1973) 2; Zoepffel (2006), 174 und 172 Anm. 267; Helmer (2010) 9–22. 10   Zu dem aktuellen Forschungsstand der modernen Diskussion über die antike Wirtschaft vgl. Peukert (2004) 179–192; Eich (2006) 7–104. Zur modernen Diskussion über antike Wirtschaftstheorien vgl. Schefold (1989) 19–22. Dass die moderne Erwartungshaltung an antikes ökonomisches Denken ahistorisch ist, hat die Forschung der jüngeren Zeit betont (Zoepffel (2006) 55–65; Audring/Brodersen (2008) 7–10; Wieland (2012) 8–10). Peukert (ebd.) schlägt vor, anstatt des Kriteriums, inwieweit man einen Markt gekannt habe, Wirtschaftsformen nach einem „System- und Stilkonzept“ einzuordnen. 11   Zu der in der früheren Forschung verbreiteten Ansicht, dass es in der Antike – zumindest bis Aristoteles – kein Bewusstsein von einem eigenen ökonomischen Bereich gegeben habe, vgl. Wieland (2012) 42, der diese Ansicht zu Recht zurückweist. 12   Vgl. Söllner (2012) 3: „In der Antike wurden wirtschaftliche Sachverhalte schon vor Aristoteles behandelt, z. B. von Hesiod, Xenophon oder Plato. Dies geschah aber in eher kursorischer und unsystematischer Form. Die erste ‚richtige‘ ökonomische Theorie stammt von Aristoteles.“ 13   Dies vermutet auch Rameil (1973) 2. 14   Zu dem mangelnden Interesse an den Nomoi und möglichen Gründen dafür vgl. Laks (2000) 258–292. 15   Schöpsdau (1994; 2003; 2011).

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wissenschaftliche Forschung vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Erfindung Platons von Interesse. Weniger im Blickpunkt stand die Frage, wie sich das detaillierte Regelsystem der Nomoi mit Platons in anderen Werken dargelegten ökonomischen Betrachtungen vereinbaren lässt. In den letzten Jahren lässt sich eine gewisse Trendwende feststellen. Denn das Interesse an der Frage, welcher Art Platons ‚ökonomische Theorie‘ ist, wächst. Im Einzelnen stellt sich die Forschungssituation wie folgt dar: Während frühere Arbeiten sich mit wirtschaftlichen Einzelbestimmungen der Nomoi und ihrem Bezug zur Realität beschäftigten (Bisinger (1925); Lauffer (1936); Borecky (1964); Piérart (1974)), wobei vor allem die grundlegende Arbeit von Morrow (1960) eine zentrale Rolle spielt, rückte die Erfassung der ‚ökonomischen Theorie‘ Platons erst allmählich ins Bewusstsein. Rameils Studie (1973) weist auf die Bedeutung hin, die das Ziel der Stabilität für Platons Nomoi hat. 1989 erschienen zwei Arbeiten, die sich mit Art und Weise von Platons ökonomischem Denken generell befassen: Schefold (1989) berücksichtigte in seinem Beitrag zu Platons und Aristoteles’ ökonomischem Denken Politeia und Nomoi und sah in den Nomoi die Verbindung von „Planelemente(n) und Markt“ (S. 32) gegeben. Josef Wieland schrieb in einer wegweisenden Arbeit, die 2012 in einer zweiten Auflage erschien, Platon für die Entstehung des ökonomischen Denkens eine wichtige Rolle zu, weil er die Ökonomik als theoretisches Wissen begründet habe (Wieland (2012), vor allem 351–414; s. auch Lowry (1979)). Auf das Kriterium der Marktkonzeption wiederum verweist Schofield (1999): Platon habe in der Beschreibung der Politeia die Entstehung der Polis aus der Ökonomie (Arbeitsteilung) begründet und damit eine Herleitung des Marktes herausgearbeitet16. Der moralischen Seite von Platons ökonomischen Vorstellungen widmet sich 2001 ein Beitrag von Danzig/Schaps. Sie arbeiten heraus, dass Platon zwar stets die mit dem Geld verbundene Gier nach Reichtum kritisiert, weil diese Gier nie gesättigt ist (im Unterschied zu anderen Begierden wie Essen, Trinken, Sexualtrieb), sondern zur Aufhäufung führen kann, dass er aber nie den Vorschlag macht, von der Geldwirtschaft zur Tauschwirtschaft zu wechseln. Helmer (2010) betont den Aspekt, dass für Platon der wirtschaftliche Bereich der moralischen Normierung bedürfe. Der Reichtumskritik Platons widmet sich ausführlich die jüngst erschienene Arbeit von Schriefl (2013), die nach Wielands Untersuchung einen weiteren wichtigen Schritt zu einer umfassenden Analyse von Platons ökonomischem Denken darstellt. Ihr Fokus liegt auf der Frage, auf welche Weise Platon das Verhältnis von Geld und Tugend (Areté) bestimmt. Sie vertritt die These, dass Platon nicht eine traditionelle aristokratische Reichtumskritik äußert, sondern dass er sich im Gegenteil mit seiner Reichtumskritik von einer konventionellen, auch aristokratischen positiven Sicht von Gelderwerb und Reichtum absetzt und für 16

  Schofield (1999) 76.

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ein neues Verständnis von Tugend (Areté) plädiert. Zentral für das hier vorgestellte Projekt ist Schriefls Plädoyer, dass man ethische und politische Elemente eng verzahnt sehen müsse. Denn der Staat in der Politeia sei nicht nur ein Analogon der menschlichen Seele, sondern vieles im Staat und so auch die Besitzregeln könnten nicht ohne Platons psychologische Anthropologie, derzufolge die Besitzgier ein alle – auch die sehr gut erzogenen – Menschen betreffendes Konstituens sei, verstanden werden. 2,2)  Institutionenökonomische Betrachtung In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung wurde Platons ökonomische Theorie kaum wahrgenommen. Zwar haben die Wirtschaftswissenschaften selbst in ihren Ursprüngen in der politischen Ökonomie des 17. und 18. Jahrhunderts, die Wirtschaften als Teil eines größeren gesellschaftlichen Prozesses betrachtete, klar Bezug auf die Autoren der Antike genommen17. Aber mit der Nutzung der Mathematik für wirtschaftswissenschaftliche Analysen erfolgte eine Zuwendung zu den reinen Marktprozessen. In dieser Zeit erfuhr die Antike keine Aufmerksamkeit18. Die mit der Neuen Institutionenökonomik wieder stärker in den Fokus volkswirtschaftlicher Fragestellungen gerückte Befassung mit den Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns hätte eine erneute Anknüpfung ermöglichen können. Die Spezialisierung innerhalb der Neuen Institutionenökonomik auf empirische oder theoretische Methoden hat die Aufnahme dieses Fadens jedoch verhindert, sodass der Bezug nur noch mittelbar durch die Verbindung zu den ökonomischen Klassikern wie Smith (1759, 1776) oder Bentham (1776) besteht. Lediglich im Bereich Law and Economics ist eine Kontinuität in der Würdigung der Ideen der Antike zu erkennen (Cairns (1942)). Zudem hat die Spezialisierung in den altertums- wie wirtschaftswissenschaftlichen Fächern verhindert, dass eine Brücke geschlagen wurde, die die Verbindung zwischen formalisierter Modellierung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und einer historischen Perspektive ermöglicht hätte. Perrotta (2011) bemängelt die fehlenden Perspektiven, wenn ein Vergleich zwischen Moderne und Antike nur die Marktkonzeption einbezieht; Schefold (2011) verweist auf die Möglichkeit, diese Lücke durch Nutzung ganzheitlicher Ansätze zu schließen. Der institutionenökonomische Ansatz ist ein solcher. 17   Einen Überblick über den Stand der dogmengeschichtlichen Forschung geben Meek/ Skinner (1973) und Lowry (1979), die den Bezug zu den platonischen Schriften herstellen, sich aber in der Analyse aus den bereits erwähnten Gründen stärker auf Xenophon und Aristoteles beziehen. 18   Lowry (1979) 80 fasst dies wie folgt zusammen: „The eighteenth century discovery of the apparently rational resource-allocating capacities of the self-regulating market system obscured the older administrative approach of the ancient Greek science of oikonomia from which the discipline of economics derives.“

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(3)  Der interdisziplinäre Ansatz 3,1) Ökonomische Überlegungen in Platons Politeia und Nomoi In der Politeia, die als Platons zentrales Werk gilt, nimmt die Diskussion der Gesprächspartner ihren Ausgang von der Frage, was Gerechtigkeit ist und auf welche Weise die Eudämonie des Individuums erreicht werden kann. Dass diese mit der Eudämonie des Staats zusammenhängt, zeigt das sokratische Prozedere. Denn Sokrates führt als Analogie zur Gerechtigkeit des Individuums die Gerechtigkeit des Staates (Polis) an19. Daraus folgend wird ein Modell eines hierarchisch gegliederten Staates entwickelt, der aus einem für die praktischen Arbeiten zuständigen untersten Stand – zu dem etwa die Bauern, Handwerker, Händler und Lohnarbeiter gehören –, einem für die Verteidigung zuständigen Wächterstand und einem aus Philosophen bestehenden Herrscherstand zusammengesetzt ist. Dieser Aufteilung liegt die Ansicht zugrunde, dass es unterschiedliche Typen von Menschen mit unterschiedlichen Befähigungen gibt (Politeia III 414B–415D). Die Dreiteilung wird in Analogie zur Dreiteilung der menschlichen Seele in Vernunft, muthaften Teil und begehrenden Teil gesetzt. Ethische und politische Perspektiven sind also in der Politeia miteinander verwoben, im Blick stehen „sowohl die politische als auch die personale Gerechtigkeit“20. Wie im Menschen die Vernunft die höchste Instanz ist und deswegen auch immer die Herrschaft innehaben muss – hier verbinden sich Deskription und Normierung –, ist es im Staat der Stand der Philosophenherrscher (Politeia IV 428B–429A. IX 586D–587B). Deren Herrschaft ist unabdingbar für das Gelingen des Staates, da nur sie eine umfassende Einsicht in das Gute haben. Für diese Qualität ist nicht nur eine gute natürliche Eignung, sondern auch eine lange Erziehung und Ausbildung nötig. Drei berühmte Gleichnisse – Sonnengleichnis, Liniengleichnis und Höhlengleichnis – illustrieren die unterschiedlichen Möglichkeiten der Erkenntnis, die Bedeutung der Vernunft für die Erkenntnis und die Verpflichtung derjenigen, die die Erkenntnis erlangt haben, anderen daran Anteil zu vermitteln. Um das Gute für den Staat – und damit die Eudämonie für Individuum und Gemeinschaft – zu erreichen, ist die Einheit zentral, die innenpolitisch Harmonie und außenpolitisch Sicherheit bedeutet und so für Stabilität sorgt (Politeia IV 422Eff;

19   Wie diese Analogie zu verstehen sei, ist umstritten. Verfechter einer eher ethischen Interpretation der Politeia neigen dazu, in der Analogie entweder ein rhetorisches Mittel des Sokrates zu sehen, um seine Position zur Gerechtigkeit im Individuum besser veranschaulichen zu können (z.B. Blößner 1997), oder sie als Vergleich zu deuten, so dass zwischen den zwei in der Analogie verglichenen Bereichen (Individuum und Staat) nur eine Parallele, aber keine Interdependenz besteht (so z.B. Ferrari (2003). Vgl. aber Höffe (1997)). 20   Höffe (1987) 230.

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V 462B)21. Die Gerechtigkeit ist ein Garant für die Einheit und damit für die Eudämonie. Denn Gerechtigkeit besteht darin, dass „jeder das Seine tut“ (ta heautou prattein, Politeia IV 433A–444D). Und dies ist der Punkt, an dem ökonomische Überlegungen wichtig werden. Denn die Entstehung des Staates wird damit erklärt (Politeia II 369E–374E), dass der Einzelne nicht autark ist, sondern dass die Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten einander bedürfen und dass es effektiver ist, wenn jeder das tut, wozu er von Natur aus geeignet ist. Diese ‚Arbeitsteilung‘ aber bedingt Austausch und damit Handel und die Verwendung von Geld22. Ambivalent ist die Sicht des ökonomischen Bereiches bei Platon insofern, als er einerseits die Notwendigkeit sieht, dass die Menschen einander brauchen und daher der Ökonomie bedürfen, aber gleichzeitig darin eine Gefährdung für die Moral des Einzelnen und das Gelingen der Gemeinschaft erkennt, weil ökonomisches Handeln die im Menschen von Natur aus angelegte Gier, mehr haben zu wollen, verstärkt. Daraus erwächst die Gefahr, dass der ökonomische Bereich sich verselbständigt. Er muss reguliert werden. Doch schlägt Platon in der Politeia nur eine Teilregulierung vor, da nur für die beiden oberen Stände, also Wächterstand und Philosophenherrscher, jegliches wirtschaftliche Handeln verboten ist – wie ihnen überhaupt Familie und Haushaltung und damit auch ökonomische Interessen nicht erlaubt sind. Für den untersten Stand, der für die wirtschaftliche Aufrechthaltung des Staates zuständig ist, werden keine Regulierungen getroffen, so dass dem Leser nicht ganz klar ist, inwiefern dieser ‚frei‘ erwerbstätig sein kann und damit der Gefahr der Pleonexie besonders unterliegt23. Dies erscheint aus folgendem Grund problematisch: Platon verbindet in der Politeia ein Menschenbild, demzufolge die Besitzgier ein Konstituens ist, mit einer Ständeordnung und gleichzeitig mit dem Gebot einer optimalen Erziehung für diejenigen, die herrschen sollen. Das heißt: Obwohl er wirtschaftliches Handeln als negativ bewertet, akzeptiert er es als Grundlage jeder Gemeinschaft. Andererseits zielt seine Staatskonzeption darauf ab, zu verhindern, dass dieser Bereich sich verselbständigt. Das scheint nur möglich, indem diejenigen, die wirtschaftlich aktiv sind, vom Eudämonie-Ziel ausgeschlossen werden. Und doch lässt die Tatsache, dass in der Politeia strenge Regeln nur für die beiden höchsten Stände festgelegt werden, während nichts ähnliches für die Angehörigen des untersten Standes formuliert wird, die Frage offen, ob Letztere die Chance haben, tugendhaft zu werden. Im Gegensatz dazu sind in den Nomoi alle Stände der Bürger strengsten Reglements unterworfen. Das 21   Dieser Faktor nimmt in Platons Idealstaatskonzeptionen wohl nicht zuletzt aufgrund der Instabilitäts­erfahrungen des 5. und 4. Jhdts. v. Chr. eine wichtige Rolle ein (vgl. Trampedach (1994) 153–283). 22   Vgl. hierzu Föllinger (2015). 23   In jüngster Zeit hat die Frage nach den Vorkehrungen, die in der Politeia den 3. Stand betreffen, z.B. Reeve ((2006), insb. 176–178 und 186–191) gestellt.

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Problem, dass wirtschaftliches Handeln die Tugendfähigkeit gefährdet, wird dadurch angegangen, dass es scharfen Restriktionen unterliegt und der Handel überhaupt nur von Metöken (ortsansässigen Fremden) und Fremden betrieben werden darf. In dem Dialog Nomoi24 sprechen ein namenloser Athener, der Spartaner Megillos und der Kreter Kleinias über die Frage, welche Gesetze ein optimaler neu zu gründender Staat haben müsse25. Auch in den Nomoi ist das Ziel für Individuum und Staat, Eudämonie zu erlangen (III 701D–702B). Aber anders als in der Politeia wird als beste Möglichkeit, diese zu verwirklichen, nicht die Qualität der Philosophenkönige angesetzt, sondern über allem sollen die Gesetze stehen, die von einem ausgeklügelten Beamtenwesen durchgesetzt und weiterentwickelt werden26. Und diese Gesetze müssen möglichst gut sein. Es ist daher vorgesehen, dass sie – etwa durch positive Anregungen aus Verfassungen anderer Staaten – stets optimiert werden. Die Gesetze sollen das Leben der Menschen regeln, wobei als Zielvorgabe der Regeln explizit die „Tugend“ (Areté) bestimmt wird (Nomoi IV 705D–706A). Dabei gehen die Gesprächspartner bis in Detailvorschriften, die auch das wirtschaftliche Handeln regulieren. Dies ist eine neue Sichtweise im Vergleich zur Politeia, in der eine Feinregelung der Ökonomie als unnötig empfunden wird, weil man dies den – durch die Erziehung ja optimalen – Herrschern überlassen könne (Politeia IV 425C–E). Um das Ziel der Eudämonie erlangen zu können, wird die innere Stabilität, die auf der „Freundschaft“ der Bürger beruht, als zentral erachtet (Nomoi V 743C). Deshalb ist das übergeordnete Ziel die Herstellung von auf Ausgleich bedachten, harmonischen Verhältnissen im Staat. Aus diesem Grunde muss dafür gesorgt werden, dass das Funktionieren der Gesetze durchgesetzt wird. Dafür baut Platon nun auf zwei Faktoren: Grundlegend ist die richtige Erziehung. Damit wird es, wie es an einer Stelle heißt, leichter sein, die Befolgung der neuen Gesetze bei der nächsten Generation, die bereits unter diesen Gesetzen erzogen sein wird, zu erreichen (Nomoi VI 752B–C). Hinter der Bedeutung der Erziehung verbirgt sich die Erkenntnis, dass es leichter ist, Gesetze, die die Menschen einsehen und denen sie zustimmen, durchzusetzen. Die Bedeutung der Erziehung

24  Die Nomoi sind ein Alterswerk Platons, an dem er aber wohl auch schon zeitgleich mit der Politeia gearbeitet haben dürfte. Zur Entstehung der Nomoi vgl. Erler (2007) 278–281. 25   Mit den Personen hat Platon Gesprächspartner aus Orten, die für ihre Gesetzgebung berühmt waren, gewählt. Das Gespräch der drei findet während einer Wanderung von Knossos zur Zeusgrotte auf Kreta statt. Diese ist als „Nachvollzug jener mythischen Wanderung des Minos“ zu sehen, die der mythische Herrscher Kretas regelmäßig auf sich nahm, um von Zeus über die richtige Gesetzgebung belehrt zu werden (Schöpsdau (1994), 102f.). 26   Allerdings bleibt auch in den Nomoi die Regelung durch Gesetze die „zweitbeste“ Lösung, vgl. IX 875C–D. Zur Frage, ob eine Verkörperung des logos in Gesetzen oder in einer Instanz wie den Philosophenkönigen besser ist, vgl. auch Politikos.

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schlägt sich auch in der besonderen Funktion, die der Aufseher über das gesamte Erziehungswesen hat (Nomoi VI 765D–766C), nieder. Da aber nicht allen Menschen dieselbe Fähigkeit zur Erkenntnis gegeben ist (vgl. Politeia VI 503A–B), müssen auch Sanktionen unterschiedlichster Art (vgl. Saunders (1991)) vorgesehen werden. Für diese wie überhaupt für die Implementierung der Gesetze ist in den Nomoi das Beamtenwesen gedacht, aber auch die gegenseitige Kontrolle der Einwohner ist durchaus erwünscht. Die Reglementierung betrifft nun auch den ökonomischen Bereich. Denn dieser stellt einen besonderen potentiellen Störfaktor für die Eintracht im Staat dar. Wie die Pleonexie eine ständige Gefährdung des Menschen bedeutet (Nomoi XI 918C–D) und dem Individuum ein moralisch gutes Leben erschwert (Politeia IV 421Cff.; Nomoi 919B–D), so zerstört das Gewinnstreben, das Platon besonders im Handel beheimatet sieht, die Einheit der Polis (vgl. Politeia IV 422D–423A). Dem sollen die vielen Einzelregelungen entgegenwirken, die das Auseinanderklaffen einer Schere zwischen Arm und Reich verhindern sollen. Dazu gehört das Verbot, einen Teil des einem jeden zugeteilten Landes zu verkaufen (Nomoi V 741A–E), ebenso wie die detaillierte Regelung, wie viel Besitz die Bürger darüber hinaus haben dürfen, wobei Rücksicht auf den sozialen Status der in vier Vermögensklassen eingeteilten Bürger genommen werden soll (Nomoi V 744A–745B). Während Platon in der Politeia den beiden obersten Ständen insgesamt ökonomisches Handeln und auch Eigentum verbietet, geht er in den Nomoi differenzierter vor: Die Bürger des Staates dürfen sich nur in der Landwirtschaft betätigen. Sie dürfen jedoch keinen Handel treiben. Dies ist nur den Metöken erlaubt (Nomoi XI 918A–920C). Die Preisbildung für den Handel wird unter Einbezug von Experten kontrolliert (Nomoi XI 920B–C); damit wird das Marktgeschehen reguliert. Kredite dürfen nur auf eigenes Risiko gegeben werden; es gibt keinen Schutz des Staates dafür (Nomoi V 741E–742C; XI 915D–922A). Zentral für Platons Menschenbild scheint zu sein, dass er einerseits davon ausgeht, dass die Menschen grundsätzlich auf das wahrhaft Gute angelegt und deshalb zur Areté erziehbar sind, dass er andererseits aber mit der Schwäche der menschlichen Natur rechnet und deshalb ein Grundmisstrauen in die Wirksamkeit der Erziehung hat, so dass stets auch für Regel­über­ tre­tungen Maßnahmen vorgesehen sind. Seine Normierung des Handelns unterliegt den beiden Prinzipien von ‚Überzeugung/Überredung‘ (peithó) und ‚Gewalt/Sanktionen‘ (bía), man kann auch sagen: innerer und äußerer Motivierung bzw. intrinsischer und extrinsischer Anreize. So lässt er in den Nomoi die Erkenntnis mitteilen, dass das beste Mittel für die Durchsetzung von Regeln die innere Überzeugung der Menschen von deren Richtigkeit ist (Nomoi IV 718A–726B27). Darum spielt in den Maßnahmen, wie man den 27

  Vgl. hierzu Schöpsdau (2003) 219–225.

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Bürgern des neu gegründeten Staates die Vorschriften schmackhaft machen kann, das Mittel der Überzeugung (peithó) eine wichtige Rolle. Diese soll dadurch bewerkstelligt werden, dass die Gesetze mit Proömien versehen sind, in denen die Bürger über die theo­re­tische Begründung des Gesetzes und seine Bedeutung unterrichtet werden28. Gleichzeitig geht aber Platons Menschenbild davon aus, dass die Menschen stets einer Kontrolle durch Sanktionen bedürfen. In der Politeia unterliegen in der Konsequenz die obersten Stände trotz ihrer guten Erziehung dem Verbot, Eigentum zu besitzen und öko­nomisch zu handeln. In den Nomoi sichern entsprechend äußere Sanktionen die Durch­setzung der Regeln. Um auch die Regeldurchsetzung abzusichern, unterliegen die Beamten, die die Kontrolle über die Einhaltung der Regeln haben, einer ausgefuchsten gegenseitigen Kontrolle29. Diese Ausführungen zeigen, dass es lohnend ist, Platons gesellschaftliche Vorstellungen aus ökonomischer Perspektive zu untersuchen. Darüber hinaus verspricht es großen Gewinn, seine Anschauungen mithilfe eines abstrakteren Analyse­instru­men­tariums zu erklären. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Aktualität der Frage, wie das Verhältnis von gesellschaftlichen Rahmen­ bedingungen und wirtschaftlichem Einzelhandeln zu erklären und zu normieren ist. Hierfür scheint die Neue Institutionenökonomik gut geeignet: 3,2)  Platons Überlegungen und der Ansatz der Neuen Institutionenökonomik Platons Staatsentwürfe betonen sowohl die Erziehung und damit die Internalisierung allgemein gültiger Regeln, die zu einem gesellschaftlichen Grundkonsens über das richtige Leben führen soll, als auch die externen Reglements, die demselben Ziel dienen. Hier ist ein guter Anknüpfungspunkt an die Neue Institutionenökonomik zu erkennen. Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) ist ein Zweig der Volkswirtschaftslehre, der sich vor allem in seiner formalen Theoriebildung in der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. entwickelte. Einen hilfreichen Überblick über die Entwicklung des Feldes geben Furubotn/Richter (2005) sowie Voigt (2009). Die NIÖ untersucht die Frage, welche außerindividuellen Faktoren (‚Institutionen‘) wie gesetzliche Regelungen, gesellschaftliche Normierungen und auch ethische Wertvorstellungen das Handeln des Einzelnen beeinflussen. Institutionen sind also ein „System miteinander verknüpfter, formgebundener (formaler) und form­ unge­bun­dener (informeller) Regeln (Normen) einschließlich der Vorkehrun28   Der Begriff peithó ist in der Forschung diskutiert, da er sowohl mit ‚Überzeugung‘ als auch mit ‚Überredung‘ im Deutschen wiedergegeben werden kann. Vgl. hierzu Laks (1991); Bobonich (1991; 2002); Brisson (2000). 29   Vgl. Schöpsdau (1994) 112–121.

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gen zu deren Durch­setzung“30. Der Begriff ‚Institution‘ in diesem terminologischen Sinn ist dabei als eine Übersetzung des englischen ‚institution‘ weiter zu fassen als der in der deutschen Umgangssprache verwendete Begriff der Institution31. Diese Theorie bietet eine geeignete Herangehensweise, um Platons ökonomische Konzeptionen besser zu erfassen und das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren, die Platon maßgeblich für das individuelle Handeln ansieht, zu verstehen. Diese Perspektive begegnet einem Desiderat der Forschung, indem sie von einem weiteren als einem auf ‚Marktkonzepte‘ orientierten Ansatz32 ausgeht, ein ‚ganzheitliches‘ Vorgehen versucht33 und eine neue Methode vorschlägt. Die in der NIÖ grundlegende Verbindung zwischen der Verfolgung individueller Interessen und ihrer Steuerung durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen ist in den untersuchten Texten zu erkennen; eine systematische Analyse mit Hilfe der ökonomischen Theorie wird so möglich. Denn Platon fasst in Politeia und Nomoi die Eudämonie, das Ziel menschlichen Lebens, auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene abstrakt und beschreibt dann, auf welche Weise sie in einer Gesellschaft verankert werden kann. Sowohl die konzeptionellen Aspekte als auch die zum Teil ganz konkreten34 Vorschläge für Regulierung von Alltagssituationen in den Nomoi erlauben eine Darstellung aus einem modernen ökonomischen Blickwinkel. Aus dieser Perspektive lässt sich das von Platon formulierte Programm als Suche nach Institutionen (in spieltheoretischer Formulierung: Mechanismen)35 verstehen, die Menschen zu Eudämonie-förderlichem Verhalten leiten. Dies geschieht auf zwei Ebenen: Zum einen sucht er nach einem Weg, die Verfassung seines Idealstaates so zu vermitteln, dass sie von den Bürgern, die ihn einrichten und erhalten sollen, auch angenommen werden kann. Dazu dienen, wie oben beschrieben, nicht nur Sanktionen, sondern auch Mittel der Überzeugung. Zum anderen diskutiert er, insbesondere in den Nomoi, wie ein Netzwerk von Regeln beschaffen sein muss, damit es eingehalten wird und dem Staatsziel tatsächlich dienlich ist. Basis dieser Diskussion sind eine bestimmte Vorstellung von den Triebfedern menschlichen Handelns einerseits und der Interaktion zwischen Individuum und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen andererseits.

  Furubotn/Richter (2005) 7.   S. dazu auch North (1991); Voigt (2009); Mantzavinos (2011). 32   So verweist z. B. Perrotta (2011) auf die fehlenden Perspektiven, wenn ein Vergleich zwischen Moderne und Antike nur die Marktkonzeption einbezieht. 33   Vgl. die Forderung Schefolds (2011) nach einem solchen umfassenden Vorgehen. 34   Diese sind vielfach durch historische Beispiele inspiriert. Vgl. dazu Morrow (1960); Lisi (2001); Németh (2009). 35   Vgl. unten, S. 350 f. 30 31

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3,3) Analyseschritte Die zuvor dargestellten Beobachtungen sind die Basis für ein Forschungsprogramm, das die Verbindung zweier Leitthemen verfolgt: (1) Menschenbild und (2) Gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Ebenso bildet es den Rahmen für eine zunächst parallele und dann gemeinsame Betrachtung der Leitthemen jeweils aus gräzistischer und volkswirtschaftlicher Perspektive. Die Ergebnisse führen so zu einer gemeinsamen Einsicht. Beide Leitthemen werden im Folgenden adressiert, wobei die Überlegungen zum Menschenbild nur in dem Umfang dargestellt werden, wie es für ein Verständnis der Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nötig ist. Den Vergleich des Platonischen Menschenbildes mit dem modernen Modell des homo oeconomicus entwickelt eine im Entstehen begriffene disziplinenübergreifende Arbeit von Philip Bösherz und Hans Lauritz Noack ausführlich. (1) Menschenbild Es stellt sich die Frage, welche Rolle die Gefährdung durch die Pleonexie im Rahmen von Platons Anthropologie einnimmt. Hierfür kann die Arbeit von Schriefl (2013) als Ausgangspunkt genommen werden. Möglicherweise reagiert Platon mit seiner Differenzierung von Regeln externer und interner Art, wie sie vor allem die Nomoi bieten, darauf, dass er von einer unterschiedlichen natürlichen Veranlagung ausgeht, wie er sie im Metallmythos der Politeia beschreibt. Diese Perspektive lässt sich durch ökonomische Terminologie fassen. Denn die unter­schied­lichen natürlichen Veranlagungen lassen sich als „Typen“ von Individuen interpretieren, die auf institutionelle Parameter unterschiedlich reagieren. Um eine institutionenökonomische Analyse der betrachteten Texte vornehmen zu können, ist daher zu klären, wie sich das Bild der verschiedenen „Typen“ von Menschen mithilfe des Modells des homo oeconomicus und seiner Erweiterungen darstellen lässt. Die dabei eingenommene Perspektive ist die des – in der Ökonomie allgemein zugrundegelegten – methodologischen Individualismus. Jede soziale Gruppe wird demnach als Summe der in ihr versammelten Individuen und der zwischen den Gruppenmitgliedern ablaufenden Prozesse gesehen. Auch die institutionenökonomische Analyse von Platons Idealstaatsmodell fußt damit auf der Beschreibung der Bürger als ökonomische und politische Akteure. Ihren Ausgang hat die in der heutigen Ökonomie verwendete Modellierung in den Arbeiten von Bentham (1776) und Smith (1759, 1776), deren Beschreibung der grundsätzlichen Verbindung zwischen den Interessen Einzelner und der gesellschaftlichen Aggregation die Entwicklung einer geschlossenen Konzeption auslöste und nachhaltig beeinflusste. Das noch heute in der Ökonomie verwendete Konzept des homo oeconomicus als ratio-

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nal agierendem, d.h. in der Verfolgung der eigenen Ziele alle Informationen korrekt auswertendem, Individuum geht auf Mill (1871) zurück. Zuvor hatte Gossen (1854) das Marginalprinzip formuliert, das besagt, dass für das Verhalten eines Individuums nicht sein durchschnittliches Wohlbefinden entscheidend ist, sondern der Zuwachs an Wohlbefinden, der aus der Veränderung seines Zustands (gemessen in infinitesimal kleinen Schritten) entsteht. Mithilfe dieser beiden Konzeptionen war die Analyse individuellen Verhaltens mithilfe mathematischer Modelle möglich. Das Entscheidungsproblem des Individuums konnte so als Maximierung einer Zielfunktion unter von außen beeinflussten Bedingungen beschrieben werden (Korn/Ziesecke (2013); Korn (2015); Korn (2016)). Dieses Gerüst prägt die ökonomische Forschung bis zum heutigen Tage, wobei sowohl die Charakterisierung der individuellen Zielfunktion als auch der Nebenbedingungen für individuelles Handeln eigene Forschungsstränge begründet haben. Die in den hier genutzten Modellen zugrundegelegte Annahme, dass Individuen tatsächlich optimieren (statt etwa danach zu streben, ein bestimmtes Befriedigungsniveau zu erreichen, oder Heuristiken anzuwenden), wird in der aktuellen ökonomischen Forschung intensiv diskutiert36. Diese Diskussion darzustellen würde hier aber zu weit führen; daher wird im Weiteren mit der Annahme der Maximierung einer Zielfunktion gearbeitet. (2)  Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und ökonomisches Handeln Es ist zu untersuchen, inwieweit die Rahmen­bedingungen und Regeln, die Politeia und Nomoi bieten, unterschieden sind – wobei die Zielvorstellung bei beiden identisch ist, nämlich die Eudämonie von Individuum und Staat. Wie hängen diese Rahmenbedingungen mit Platons Menschenbild zusammen? Anhand des oben erwähnten Zusammenspiels von peithó und bía in den Nomoi lässt sich der Anknüpfungspunkt für die institutionenökonomische Analyse nachvollziehen. Die von Platon detailliert dargestellte Interaktion von innerer und äußerer Motivierung findet sich im sogenannten Mechanismus-Design wieder. Dieses Feld der Neuen Institutionenökonomik befasst sich mit der Frage, wie Regeln gefunden werden können, die Individuen zu einem bestimmten Verhalten bewegen37. Eine theoriegeleitete Auseinandersetzung mit den platonischen Vorstellungen kann daher eine Basis für Vergleiche moderner und antiker Ideen bieten, die sich auch auf die Arbeiten anderer Autoren ausweiten lässt. Der Begriff des ‚Mechanismus‘ benennt hier eine Struktur, die eine interaktive Entscheidungssituation für eine noch 36   S. Sen (1977); Kirchgässner (2000); Akerlof/Kranton (2000); aktuelle Modelle alternativer Verhaltensansätze diskutieren Bowles/Gintis (2011). 37   Vgl. hierzu unten, S. 351.

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unbekannte Gruppe von Akteuren gestaltet38. Der Begriff ‚MechanismusDesign‘ bezeichnet die Methode, für eine bestimmte Situation den bestmöglichen Mechanismus zu finden. Viele der in Politeia und Nomoi getroffenen Regelungen lassen sich als Versuch, solche bestmöglichen Mechanismen zu finden, interpretieren und dann entsprechend auf ihre Wirksamkeit hin untersuchen. Insbesondere die Nomoi werfen konkrete Fragen auf, wie sie in der politischen Ökonomie als anwendungsorientiertem Zweig der Neuen Institutionenökonomik auch in moderner Perspektive gestellt werden. Hier ist ein Vergleich der Lösungsvorschläge interessant, weil er einen neuen Blick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede der – bei Platon normativ angelegten und in der heutigen ökonomischen Theorie teils deskriptiv, teils normativ verstandenen39 – skizzierten Gesellschaftskonzeptionen erlaubt. Auf der Grundlage dieses theoretischen Zuganges sollen die Wirkungszusammenhänge konkreter Regeln untersucht werden. Dazu gehören zum einen Regelungen, die der Akzeptanz der vorgeschlagenen Verfassung dienen wie die Konstruktion des Wahlbeamtentums, und zum anderen Regelungen innerhalb des Wirtschaftskontextes wie die zum Schutz des Eigentums (Nomoi IX 842Bff.). Die Analyse der Regelungen greift auf die Implementierungstheorie bzw. das Mechanismus-Design zurück. Mit dem Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften 2007 für Leonid Hurwicz, Eric Maskin und Roger Myerson hat das zugehörige Theoriegebäude eine umfassende Würdigung erfahren. Die Nobel Lectures der drei Geehrten (Hurwicz (2008), Maskin (2008) und Myerson (2008a)) geben einen guten Einblick in die zugrunde liegenden formalen Überlegungen. Die theoretischen Fragen zur Entwicklung optimaler Mechanismen sind relevant, um Formulierungen platonischer Ideen im ökonomischen Kontext sinnvoll vorzunehmen und die Implementierbarkeit seines Ideals aus moderner Perspektive zu überprüfen. Dabei wird genutzt, dass eine Regel bzw. eine gewünschte Kombination individuellen Verhaltens ‚implementierbar‘ ist, wenn sie das Ergebnis eines Verhaltensgleichgewichts (eines sogenannten Nash-Gleichgewichts) ist, das vom Regelgestalter durch die Wahl eines bestimmten Mechanismus induziert wurde.

  S. Myerson (2008b); Fudenberg/Tirole (1991).   Die von Friedman (1966) 3–16 u. 30–43 angeregte Debatte über deskriptive und normative Elemente ökonomischer Theorie wird in Weston (1994) aufgegriffen und aus neuerer Perspektive zusammengefasst. 38 39

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(4) Methoden Für die Beantwortung der Frage, auf welche Weise Platon generell das Verhältnis von individuellem ökonomischen Handeln und gesellschaftlichen Parametern analysiert und normiert, sind damit zwei Perspektiven hilfreich: Zum einen ist die Verortung der ökonomischen Vorstellungen in Platons Eudämonie- und Gerechtigkeitskonzeption zu diskutieren; es ist darüber hinaus auch ein Vergleich mit der politisch-ökonomischen Realität seiner Zeit einzubeziehen. Zum anderen sind die so hergestellten Bezüge mit Hilfe der oben genannten Theorieansätze zu formalisieren und zu analysieren. Für die Verbindung der beiden Schritte kann eine Arbeit von Voigt (2009) genutzt werden. Denn Voigt liefert eine abstrakte Beschreibung von Regeln, die auf Platons detailliertes Regelwerk vor allem in den Nomoi, aber auch schon in der Politeia angewendet werden kann40. Er unterscheidet als ‚Interne Institutionen‘ die durch Selbstüberwachung charakterisierte Konvention, die durch ‚Imperative Selbstbindung‘ kontrollierte ‚Ethische Regel‘, die Sitte, die der ‚Spontanen Überwachung durch andere Akteure‘ unterliegt, die ‚Formelle private Regel‘, deren Einhaltung durch die ‚Geplante Überwachung durch andere Akteure‘ gewährleistet werden soll, und positiv gesetzte Regeln als externe Institution, für die eine organisierte staatliche Überwachung vorgesehen ist. Zu prüfen wäre, inwieweit Platons Regelungen diesen Ebenen zugeordnet werden können bzw. wo signifikante Unterschiede sind. Diese Analyse kann dann in eine allgemeinere Betrachtung der Wirkung von Regeln und ihrer optimalen Gestaltung überführt werden, wie sie das Mechanismus-Design leistet. Damit können Platons Werkzeuge zur Steuerung menschlichen Verhaltens durch staatliche Regulierung (in allgemeiner Formulierung in Nomoi V 743C–744A, in spezieller Weise an verschiedenen Stellen, etwa Nomoi VIII 842Bff.) sowohl in ihrer abstrakten Ausrichtung auf das Eudämonie-Ziel als auch in den konkreten Formulierungen zum wirtschaftlichen Handeln untersucht werden. Myerson (2008a) beschreibt einen Mechanismus als ein soziales Koordinationsinstrument zwischen allen Akteuren. Eine (relativ) einfache Art, dieses Instrument zu charakterisieren, nutzt die Fiktion einer zentralen Instanz, welche die Informationen der Beteiligten über Ressourcen, Präferenzen und andere für die Situation relevante Umstände sammelt und daraus Regeln für die Interaktion der anderen Akteure formt. Diese zentrale Instanz wird häufig als Prinzipal bezeichnet, der eine der zu modellierenden Situation entsprechende Zielfunktion verfolgt. Die regulierten Akteure werden Agenten genannt. Der besondere Reiz der Methode liegt darin, dass sie berücksichtigt, dass der Gestalter des Mechanismus bei der Wahl seines Koordinationsinstruments nicht weiß, welche Agenten zu koordinieren sein werden. 40

  Vgl. Voigt (2009) 31.

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In der Politeia entsprechen die Gesprächspartner, die die Rahmenbedingungen entwerfen, dem Prinzipal, aber auch die Philosophenherrscher, die aufgrund ihrer Einsicht den Staat leiten. Deutlicher wird dieses Modell in den Nomoi. Auch bei diesen kann man die Gesprächspartner, die die neue Staatsverfassung entwerfen, als Prinzipal bezeichnen; gleichzeitig aber werden von ihnen auch die Beamten des neuen Staates als Prinzipale eingesetzt – vor allem diejenigen, die für die Gestaltung und Optimierung der Gesetze zuständig sind. Möglicherweise ist hier auch ein Grund für die unterschiedliche Beschaffenheit von Politeia und Nomoi zu finden. Gerade weil es nicht genau absehbar ist, wie beschaffen die Bürger eines Staates sind, setzt Platon an die Stelle der als ideal empfundenen Herrschaft von Philosophenkönigen den Vorrang der Gesetze als zweitbeste Lösung41. Ein Mechanismus-Design-Prozess hat grundsätzlich drei Stufen (s. Fudenberg/Tirole (1991) für eine formale Beschreibung): 1. Der Prinzipal gibt vor, welche Information er von den Agenten benötigt, und beschreibt, welche Regeln er auf Basis dieser Information installieren wird (d.h., er benennt einen Mechanismus). Im Falle der Platonischen Idealstaatskonzeptionen entspricht den Informationen der Agenten die Konstruktion der Grundlagen vonseiten der Gesprächspartner. 2. Die Agenten entscheiden dann, ob sie an dem so formulierten Spiel teilnehmen möchten. An diese Stelle tritt bei Platon die peithó, die es dem Prinzipal ermöglichen soll, für die von ihm als gut erkannten Gesetze und Regelungen Zustimmung zu erlangen. 3. Anschließend geben die Agenten die gewünschte Information bzw. die Eigenschaften der beteiligten Akteure werden offenbar. Für Platons Staatskonstruktionen umfassen diese offenbarten Informationen die natürlichen Anlagen der Bürger – die allerdings durch Erziehung modifiziert werden können und müssen. Schließlich spielen die Agenten das Spiel nach den Regeln des Prinzipals, verfolgen dabei aber als rational handelnde Individuen ihre persönlichen Interessen. nutz­ orientierung der Agenten Ein rationaler Prinzipal wird die Eigen­ berücksichtigen und die Regeln so formulieren, dass das Spiel der Agenten ein Ergebnis produziert, das seinen Zielen möglichst nahe kommt. Diese Regeln bilden dann den optimalen Mechanismus des Prinzipals. Eine Zielfunktion, die durch einen Mechanismus umgesetzt werden kann, heißt implementierbar. Auch Platon geht, obwohl er die Menschen für prinzipiell zur Areté erziehbar hält, davon aus, dass durch die Regulierung einer übersteigerten Eigennutzorientierung vorgebaut werden muss, um Streit zwischen den Bürgern zu vermeiden. Denn sein Ziel ist eine Eudämonie, die auf der Einheit der Bürger beruht. 41

  Vgl. hierzu Horn (2009) 175.

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Das Mechanismus-Design hat also den Vorzug, auf viele unterschiedliche Situationen anwendbar zu sein42. Es ermöglicht zudem eine Analyse der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Mechanismus eine Zielfunktion implementiert. An erster Stelle steht hier die Frage, welche Zielfunktionen überhaupt implementierbar sind. Es zeigt sich, dass das Vorliegen von Informationsasymmetrien die Implementierungsmöglichkeiten empfindlich einschränkt – es sind nur noch sogenannte zweitbeste Lösungen möglich43. Auch diese zweitbeste Lösung kann aber nur erreicht werden, wenn der Mechanismus über bestimmte Eigenschaften verfügt. Dazu gehört, dass zur Regelformulierung auch eine klar strukturierte Regeldurchsetzung erfolgt. Die Verbindung zu Platons Vorstellungen wird bereits in dieser allgemeinen Formulierung deutlich. Platon hat sich in der Politeia wie in den Nomoi einer intensiven Auseinandersetzung mit den Grundzügen von Menschen (den Charakteristika der Entscheider) gewidmet. Die ausführlichen Regeln der Nomoi weisen eine geradezu moderne Sicht auf die notwendigen Aspekte von Regeln auf. Sie benötigen Motivation, eine klare Formulierung des erwünschten Verhaltens und die Abgrenzung vom unerwünschten Verhalten sowie eine vorab deutliche Kommunikation der Sanktionen bei Regelübertretungen und die Verlässlichkeit, dass Sanktionen auch durchgesetzt werden. Alle diese Aspekte nennt Platon sowohl für den Prozess der Gestaltung der Verfassung und ihre Annahme durch die Bürger als auch für die Durchsetzung der in ihr enthaltenen konkreten Regulierungen. Die Anwendung des Mechanismus-Design auf die verschiedenen Ebenen des Gestaltungsprozesses unter Einbeziehung der oben44 skizzierten Konzepte und Methoden aus den verschiedenen Feldern der politischen Ökonomie bilden den roten Faden für die Analyse von volkswirtschaftlicher Seite aus. Wie diese Analyse konkret genutzt werden kann, zeigt das folgende Anwendungsbeispiel.

(5)  Das Beispiel „Grenzverletzung“ Auf den ersten Blick mag das folgende Beispiel aus den Nomoi dem modernen, mit sonstigen Platonischen Werken vertrauten Leser als marginal und banal erscheinen, bei näherem Hinsehen aber erweist sich, dass auch diese Detailregelung im Dienst des eigentlichen Ziels von Individuum und Staat, der Eudämonie, steht. Der Kontext sind die Ausführungen zur Wirtschaft des neuen Staates. In diesem Zusammenhang geht der Athener auf mögliche Grenzverletzungen ein und führt aus (Nomoi VIII 843B7–D7):

  S. Myerson (2008a).   Harris/Townsend (1981), Maskin (2008). 44   Vgl. oben, S. 352 f. 42 43

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„Τὸ δὲ μετὰ τοῦτο βλάβαι πολλαὶ καὶ σμικραὶ γειτόνων γιγνόμεναι, διὰ τὸ θαμίζειν ἔχθρας ὄγκον μέγαν ἐντίκτουσαι, χαλεπὴν καὶ σφόδρα πικρὰν γειτονίαν ἀπεργάζονται. διὸ χρὴ πάντως εὐλαβεῖσθαι γείτονα γείτονι μηδὲν ποιεῖν διάφορον, τῶν τε ἄλλων πέρι καὶ δὴ καὶ ἐπεργασίας συμπάσης σφόδρ’ ἀεὶ διευλαβούμενον· τὸ μὲν γὰρ βλάπτειν οὐδὲν χαλεπὸν ἀλλ’ ἀνθρώπου παντός, τὸ δ’ ἐπωφελεῖν οὐδαμῇ ἅπαντος. ὃς δ’ ἂν ἐπεργάζηται τὰ τοῦ γείτονος ὑπερβαίνων τοὺς ὅρους, τὸ μὲν βλάβος ἀποτινέτω, τῆς δὲ ἀναιδείας ἅμα καὶ ἀνελευθερίας ἕνεκα ἰατρευόμενος διπλάσιον τοῦ βλάβους ἄλλο ἐκτεισάτω τῷ βλαφθέντι· τούτων δὲ καὶ ἁπάντων τῶν τοιούτων ἐπιγνώμονές τε καὶ δικασταὶ καὶ τιμηταὶ γιγνέσθων ἀγρονόμοι, τῶν μὲν μειζόνων, καθάπερ ἐν τοῖς πρόσθεν εἴρηται, πᾶσα ἡ τοῦ δωδεκατημορίου τάξις, τῶν ἐλαττόνων δὲ οἱ φρούραρχοι τούτων. καὶ ἐάν τις βοσκήματα ἐπινέμῃ, τὰς βλάβας ὁρῶντες κρινόντων καὶ τιμώντων.“ „Sodann gibt es viele kleine Schädigungen der Nachbarn, die durch ihre Häufigkeit einen gewaltigen Berg von Feindschaft erzeugen und so die Nachbarschaft zu einer schwierigen und sehr bitteren Sache machen. Deshalb muss man sich unbedingt in acht nehmen, dass man als Nachbar nichts tut, das zu einem Streit mit dem Nachbarn führt, indem man sich unter anderem besonders vor jedem Übergreifen auf fremden Boden hütet. Denn Schaden anzurichten ist nicht schwer, sondern das kann jeder; aber etwas Nützliches zu tun ist keineswegs jedermanns Sache. Wer also den Boden des Nachbarn bearbeitet, indem er seine Grenzen überschreitet, der soll den Schaden ersetzen; und um von seiner Respektlosigkeit (Schöpsdau: „Unverschämtheit“45) und niedriger Gewinnsucht46 (Schöpsdau: „Niederträchtigkeit“) geheilt zu werden, soll er daneben noch den doppelten Betrag des Schadens an den Geschädigten zahlen. Sachverständige, Richter und Abschätzer in diesen und allen derartigen Fällen sollen die Landaufseher sein, und zwar bei schwereren Vergehen, wie bereits früher gesagt worden ist, die ganze Abteilung des betreffenden Landeszwölftels, bei geringfügigeren ihre Wachkommandanten. Und wenn jemand sein Vieh auf fremdem Land weidet, sollen diese die Schäden in Augenschein nehmen, das Urteil fällen und die Strafe abschätzen47.“ Der Grund, dass auch solche ‚kleinen‘, alltäglichen Fälle behandelt werden, liegt in der Erkenntnis, dass bereits geringfügige Streitigkeiten den Beginn für Uneinigkeit zwischen den Bürgern bilden und so ihren Zusammenhalt, die Einheit des Staates und damit letztendlich die Eudämonie gefährden. Darum gibt der fiktive Gesetzgeber an dieser Stelle ein Exempel, wie man solche Zwistigkeiten regeln könnte, auch wenn er im Anschluß (843E3–844A1) darauf hinweist, dass derartige Kleinigkeiten in die Kompetenz des Gesetzgebers des jeweiligen Staates fallen und nicht von dem „höheren Ordner des 45   Meine Übersetzung „Respektlosigkeit“ resultiert aus der Kommentierung bei Schöpsdau (2011) 219. 46   Diesen Begriff verwendet Schöpsdau (2011) 219. 47   Übersetzung nach Schöpsdau (2011) 27.

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Staates“ – dem Athener – vorgegeben sein müssen, zumal sich die künftigen Gesetzgeber, die die in den Nomoi gemachten Vorschläge umsetzen, an bereits bestehenden Gesetzen orientieren könnten48. Auch in anderen Fällen verweist der Athener darauf, dass man in dem gegebenen Rahmen nicht alle Fälle behandeln und der künftige Gesetzgeber durchaus an bereits existierende Gesetze anknüpfen könne. Daraus wird deutlich, dass Platon in den Nomoi exemplarisch Lösungen für Problemfälle vorschlägt und diese für verallgemeinerbar hält, also mit einem ‚Mechanismus‘ von Motivation und individuellem Verhalten rechnet. Aus institutionenökonomischer Sicht ist das Beispiel aus zwei Gründen interessant. Zum einen läßt sich zeigen, dass Platon die Regel sowohl als interne als auch als externe Institution verankert49. Denn der zitierten Passage geht eine religiöse Fundierung der Landwirtschaftsgesetze voraus (842E6–B6). Hier werden Grenzverletzungen in Form von Grenzsteinverrücken als Vergehen gegen Zeus, den „Hüter“ der „Grenze“, dargestellt, und mit einer doppelten Strafe belegt: einer göttlichen und einer gesetzlichen Strafe. Damit sind Vergehen gegen die Unantastbarkeit der Grenze und andere damit zusammenhängende Straftaten sakralisiert. In der zitierten Passage selbst soll das Übergreifen auf ein Nachbargrundstück nicht nur damit bestraft werden, dass der Täter den Schaden ausgleicht, sondern indem er zusätzlich den doppelten Betrag an den Nachbarn zahlt. Die dafür gegebene Begründung lautet, dass der Täter dadurch von Respektlosigkeit – gegenüber dem Nachbarn und gegenüber der Unantastbarkeit der Grenze – und einer „niedrigen Gewinnsucht“ geheilt werde50. Diese Maßnahme zielt also nicht auf die Entschädigung des Nachbarn, sondern auf die Person des Täters, dessen Handeln aus einer falschen Gesinnung herrührt. Diese aber ist eine Folge falscher Erziehung und Selbsterziehung und gehört, in der Terminologie Voigts, in den Bereich der ‚Ethischen Regel‘. Sie wird flankiert durch eine externe Institution, indem die Verletzung des Gesetzes zum Schutz der Grenze mit einer Geldstrafe belegt wird, deren Höhe den Täter pekuniär schmerzen wird. Diese Maßnahme ist eine Sanktion, die Platon zufolge eigentlich weniger nachhaltig als die Überzeugung ist, aber dennoch angesichts der ‚menschlichen Natur‘ von einem realistischen Gesetzgeber mit bedacht werden muß. Indem aber Respektlosigkeit und niedrige Gewinnsucht als Begründung für die Strafe mit in das Gesetz aufgenommen werden, werden die künftigen Akteure auch darüber informiert, dass das eigentliche Vergehen nicht der materielle Schaden des Nachbarn, sondern die eigene verkehrte Haltung ist.   Hiermit könnten die Solonischen Gesetze gemeint sein.  Zu anderen Beispielen, die demonstrieren, auf welche Weise Platon interne und externe Institutionen ineinandergreifen lässt, vgl. Föllinger (2016a und b). 50   Durch diese Maßnahme ist der Platonische Vorschlag strenger als das attische Recht, vgl. Schöpsdau (2011) 219. 48 49

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Zum anderen kann der Umstand, dass jemand bei der Feldbestellung die Grenze zum Nachbarn verletzt oder sein Vieh auf dessen Weiden treibt, auch als Beschreibung einer Externalität angesehen werden. Pigou (1929) und Coase (1960) haben sich mit sogenannten externen Effekten befasst. Der Begriff beschreibt Situationen, in denen das Verhalten eines Marktteilnehmers einen anderen beeinflusst, ohne dass der Preismechanismus die daraus entstehenden Knappheiten erfassen würde. Er nutzt dazu das zuvor skizzierte dreischrittige Verfahren. Dazu erläutert Platon zunächst die Ziele der Gesetzgeber (die freundschaftliche Beziehung zwischen den Nachbarn als Wohlfahrtsziel) und formuliert dann einen Vorschlag zur grundsätzlichen Umsetzung. Die freundschaftliche Nachbarschaftsbeziehung (als Aspekt des Eudämonieziels) ist leicht bereits durch kleine Auseinandersetzungen zu gefährden. Daher lohnt es, Kosten auf sich zu nehmen, um schon kleine Grenzüberschreitungen zu vermeiden – und der dann skizzierte Mechanismus verursacht erhebliche Kosten. An die Nennung des Ziels schließt sich an, dass der Gesetzgeber die Regeln des Spiels beschreibt. Dazu gehört, zunächst das gewünschte Verhalten zu nennen (in moderner Formulierung: das angestrebte Gleichgewichtsverhalten) und dann zu beschreiben, welche Strafe droht, wenn vom gewünschten Verhalten abgewichen wird. Die vorgeschlagene Regelung schafft nicht nur einen Schadenersatz für den Geschädigten, sondern darüber hinaus eine Strafe, die „von Respektlosigkeit und niedriger Gewinnsucht“ heilen soll. Diese Strafe zielt auf die oben erläuterte charakterliche Schulung des einzelnen, aber sie hat auch eine abschreckende Wirkung. Die – nur implizit formulierte – Erwartung ist, dass eine Strafe dieser Höhe das schädigende Verhalten im dann auf der dritten Stufe tatsächlich zu spielenden Spiel vermeiden wird. Damit ist aber bei einem seine Handlungen am Eigeninteresse ausrichtenden Individuum nur zu rechnen, wenn es glaubt, dass die Bestrafung tatsächlich erfolgen wird. In der modernen Formulierung wird dies durch die erwartete Strafe abgebildet, die sich aus der im Falle der Entdeckung tatsächlich zu zahlenden Strafe und der Entdeckungs- (und Durchset­ zungs)­Wahrscheinlichkeit zusammensetzt. Eine angedrohte Strafe ist damit nur wirksam, wenn sie von einem System der Erkennung und Verfolgung begleitet wird. Auch auf diesen Punkt geht der Text ein. Die Regelung, wer einen Schaden einzuschätzen und die Zahlung der Strafe durchzusetzen hat, ist entlang zweier Aspekte strukturiert. Einerseits argumentiert Platon mit der Schadenshöhe. Es sollen „in schwereren Fällen die ganze Abteilung der Landaufseher, in geringeren nur die Wachkommandeure“ sowohl überwachen als auch urteilen. Ferner gilt ein Regionalprinzip. Zuständig sind die Aufseher „des betreffenden Landzwölftels“. Diese beiden Details sorgen auf zweifache Weise für eine hohe Bestrafungswahrscheinlichkeit im Falle eines Vergehens. Zum einen sind diejenigen, die eine Schädigung feststellen sollen, vor Ort und verfügen damit über hinreichende Kenntnis des Kontexts – eine

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Idee, die sich im modernen Subsidiaritätsprinzip ebenso findet. Zum anderen schützt die Regelung die Bürger vor Korruption: Denn ein großer Schaden erhöht den Anreiz für den Schädiger, den zuständigen Wachkommandeur zu bestechen – aus dem Gewinn der vermiedenen Bestrafung kann er die Bestechung finanzieren und stellt sich immer noch besser als wenn er die Strafe hätte zahlen müssen. Mit der Zuständigkeit einer größeren Gruppe von Aufsehern für einen größeren Schaden wird dann auch die potentielle Bestechung teurer. Ein Individuum, das Erträge seiner Handlungen gegen Kosten abwägt, wird dann in einem ersten Schritt feststellen, dass es besser ist, die Strafe zu entrichten als zu bestechen. In einem zweiten Schritt folgt dann, dass es besser ist, auf die Schädigung zu verzichten als die Strafe zu zahlen. Mit dieser Kombination aus Strafhöhe und Strafdurchsetzung auf der ersten Stufe des Mechanismus erreicht Platon, dass alle Bürger auf der dritten Stufe – wenn also tatsächlich die vorgeschlagenen Gesetze gelten – normkonform handeln, indem sie sowohl die Regel, dass man seine eigene Einstellung schulen und auf das Wohl der Gemeinschaft achten muß, als auch die bei Verstoß eintretenden Sanktionen kennen. In dieser Beschreibung des vorgeschlagenen Mechanismus fehlt die zweite Stufe: Die Agenten, also hier die Bürger, müssen entscheiden, ob sie die vorgeschlagenen Regeln akzeptieren wollen. Da Platons Idealstaat aus einer Koloniegründung hervorgeht, wäre die Annahmeentscheidung durch die Entscheidung abzubilden, ob einzelne Menschen sich dieser so gestalteten Kolonie anschließen wollen. Für ein Individuum, das in ein Gemeinwesen hineingeboren wird, werden Maßnahmen überlegt, durch die es von dem Sinn der bestehenden Gesetze überzeugt werden soll, diese sind vor allem die Erziehung und die Überzeugung, der die Gesetzesproömien dienen. Die von Platon vorgeschlagene Regulierung von Grenzbeziehungen geht unausgesprochen davon aus, dass das Eigeninteresse der Bürger ein anderes als das erwünschte Verhalten hervorbringen würde: Ohne regulierendes Eingreifen von außen gibt es keinen Anreiz, Saat oder Vieh zu kontrollieren; die befürchteten „kleinen Schädigungen der Nachbarn“ sind damit vorpro­gram­miert. Denn wenn es keine Sanktionierung einer Grenzüberschreitung gibt, kann der Schädiger möglicherweise einen Vorteil aus seiner Grenzverletzung ziehen, er muss aber die Kosten dafür nicht tragen – er übt also einen externen Effekt auf den Nachbarn aus. Platons Regelungen zur Vermeidung dieses Effekts ähneln den Lösungsvorschlägen, die von Pigou und Coase für ähnliche Probleme gefunden wurden. Beide haben unterschiedliche Lösungsmechanismen für das Nachbarschaftsproblem entworfen und mit ihren Vorschlägen jeweils unterschiedliche Aspekte des Problems adressiert. Pigou hat vorgeschlagen, einen potentiellen Schaden dadurch zu vermeiden, dass bereits im Vorfeld ein Preis für die Schädigung festgelegt wird. Dieser Ansatz nutzt Marktmechanismen, die in der Theorietiefe des 20. Jahrhunderts nicht bei Platon zu finden sind. Der zitierte Textausschnitt macht aber deutlich, dass auch Platon

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davon ausging, dass eine Bewertung des Schadensausmaßes und eine Festlegung der zu entrichtenden Strafe bereits im Vorfeld ein wichtiger Aspekt einer erfolgreichen Schadensvermeidung ist. Implizit greift Platons Vorschlag auch auf die Idee von Coase vor. Dieser hat dargelegt, wie eine Lösung durch die Zuweisung sogenannter Verfügungsrechte (Property Rights) herbeigeführt werden kann. Platon weist durch seinen Text jedem Landbesitzer das Recht auf Unversehrtheit seines Grundes zu und regelt gleichzeitig, wie eine staatliche Instanz dieses Recht durchsetzt. Der coasesche Ansatz vertraut hingegen auf eine dezentrale Lösung: Wenn die Durchsetzung des Verfügungsrechts ohne Einschränkungen möglich ist, werden die zwei Nachbarn eine einvernehmliche Lösung herstellen. Im Unterschied zu Platons strikter Vorstellung, dass jede Grenzverletzung zu vermeiden ist, lässt der coasesche Ansatz die Möglichkeit einer „optimalen Schädigung“ zu, die dann durch Ausgleichszahlungen abgegolten wird. Neben vielen Gemeinsamkeiten der platonischen und der institutionenökonomischen Betrachtung zeigt das Beispiel der Grenzverletzung auch zwei Unterschiede auf. Der Unterschied zwischen der coaseschen und der platonischen Sicht auf nachbarschaftliche Beziehungen ist, dass Platon das zu erzielende Ergebnis vorgibt, während Coase Raum für Aushandlungsprozesse lässt. Hier weist der moderne Ansatz mehr Flexibilität auf. In einer anderen Hinsicht ist der platonische Zugang flexibler: Der Aufwand, mit dem Platon seine Ziele begründet, ist seiner an anderer Stelle (Nomoi IV 718A–726B, siehe dazu die Diskussion in Abschnitt 3,1) ausgeführten Überzeugung geschuldet, dass die Bürger Regeln, von denen sie überzeugt sind, eher einhalten werden. Diesen Entscheidungsspielraum kann der institutionenökonomische Ansatz mit den hier vorgestellten Modellen nicht abbilden. Um diese Erwägungen einzubeziehen, wäre eine Beschreibung des Individuums, wie sie die Verhaltensökonomik vorsieht, notwendig.

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Wissenswertes Wissen – Ein Versuch aus den Perspektiven von Varietätsgesetz, Effizienz und Effektivität sowie Hierarchie – Bernd Schiemenz A. Einführung In der Zeitschrift Forschung und Lehre (2/10, S. 77) wurde als „großartig“ hervorgehoben, dass das Deutschlandradio die Initiative ergriff, „… einen neuen dritten Sender dem Wissen in all seiner bunten Vielfalt zu widmen, … werbefrei rund um die Uhr, mit zum Teil hochrangigen Beiträgen, historischen Aufnahmen und einem bunten Allerlei aus der ganzen Wissenswelt“. Weiter gibt es Fernsehsendungen mit Titeln wie „W wie Wissen“ oder „Willi will’s Wissen“. Insbesondere aber will eine große Zahl von Institutionen wie Lehranstalten, Rundfunk, Fernsehen sowie Print- und digitale Medien Wissen vermitteln. Man denke etwa an die Fülle heute durch Suchmaschinen wie Google und Wissensportale wie Wikipedia sehr einfach abrufbaren Wissens. Dabei soll der Wissensbegriff hier nicht näher diskutiert werden1. Die folgenden Aussagen werden verschiedene Wissensbegriffe abdecken und dürften auch auf Fähigkeiten und Kenntnisse analog übertragbar sein. Angesichts obiger Fülle an Angeboten einerseits, der begrenzten Zeit und Aufnahmefähigkeit andererseits steht man vor der Frage, was von all dem man denn wissen sollte, welches Wissen wissenswert ist. Der Verfasser versucht eine Beantwortung dieser Frage aus mehr ökonomisch-systemtheoretischer Sicht unter Heranziehung des Varietätsgesetzes, der Aspekte Effizienz und Effektivität und der Hierarchie. Die einzelnen Elemente wurden in der Literatur bereits intensiv diskutiert. Der Beitrag dieser Arbeit liegt in deren Anwendung auf das Wissensmanagement. Dabei werden exemplarisch überwiegend betriebliche Probleme ins Auge gefasst. Doch ließen sich die Ausführungen auch auf andere Entscheidungssituationen übertragen.

1   Einen Überblick über verschiedene „Begriffe und Typologien des Wissens“ findet man z. B. bei Thiel (2007), insbes. 154–157.

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B. Haupttext Zunächst erfolgt eine Erläuterung der im Untertitel angesprochenen Begriffe. Anschließend wird wissenswertes Wissen aus der Perspektive des Varietätsgesetzes und danach der von Effizienz und Effektivität betrachtet. In beiden Zusammenhängen spielt Hierarchie eine Rolle. I.  Erläuterung zentraler Begriffe Auf Hierarchie und deren Kontext, die allein schon wissenswert erscheinen, soll etwas näher eingegangen werden. Hierarchie hat zwei unterschiedliche Begriffsinhalte Bei einer Intersystem-Hierarchie ist ein System2 dem anderen untergeordnet, bei einer Intrasystem-Hierarchie ist ein System Bestandteil eines umfassenderen Systems3. Im zweiten Falle liegt Rekursion vor i. S. von Systemen in Systemen in Systemen …4. Beispielsweise ist aus der ersten Sicht ein Abteilungsleiter nicht Mitglied der Abteilung, aus der zweiten Sicht ist er es. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Intrasystem-Hierarchie. Eine spezielle Form der Intrasystemhierarchie, bei der Selbstähnlichkeit der Systeme der verschiedenen Systemebenen besteht, ist z. B. der Ansatz „Unternehmung in der Unternehmung“. Jede Untereinheit einer Unternehmung soll wie eine Unternehmung geführt werden. Der Ansatz entspricht einem Konzept, das schon 1962 von H.A. Simon vorgestellt wurde: Stabile komplexe Systeme müssen aus stabilen Subsystemen hergestellt werden. „Hierarchy ... is one of the central structural schemes that the architect of complexity uses“5. Hierarchie schließt im Übrigen Vernetzung, die aktuell stark an Bedeutung gewinnt, nicht aus. Im Konzept Unternehmung in der Unternehmung gibt es neben der vertikalen (hierarchischen) Vernetzung

2   Unter einem System verstehen wir einen allgemeinen Modellrahmen, in den hinein die Real- und auch die Idealsphäre abgebildet werden können. Es besteht aus einer Menge von Elementen (Objekten, Systemen niedrigerer Ordnung, Subsystemen) mit Attributen und den zwischen diesen gegebenen Beziehungen und ist zugleich in ein übergeordnetes (Super)System eingeordnet. Dabei sind Subsysteme und Supersysteme ihrerseits Systeme im beschriebenen Sinne. Auch das so Abgebildete selbst wird dann als System bezeichnet. Der Nutzen des Ansatzes liegt aber nicht in dem dann möglichen Hinweis, dass etwas ein System „ist“, sondern in der spezifischen Sichtweise. 3   S. dataillierter Scholz (1981) 10 ff., unter Verweis auf E. Laszlo. Das soll nicht ausschließen, dass ein System (im Rahmen einer „Heterarchie“) Bestandteil mehrerer verschiedener „Supersysteme“ ist, ähnlich wie rote, eckige Klötzchen Elemente der Mengen der roten Klötzchen einerseits, der eckigen Klötzchen andererseits sind. Betriebliche Beispiele sind Matrixorganisation oder Komitees. 4   Schiemenz (2002). 5   Simon (1962) 468.

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auch eine horizontale innerhalb einer Unternehmung und zwischen Unternehmungen der selben Ebene. Effizienz6 wird hier im Sinne der Nicht-Dominiertheit verstanden. Bei einer Mehrheit von Zielen sind Handlungen oder Objekte dann effizient, wenn es keine anderen gibt, die bezüglich zumindest eines Ziels besser sind, ohne hinsichtlich auch nur eines anderen Ziels schlechter zu sein. Mit solchen Handlungen bzw. Objekten macht man die Dinge richtig. Der Effizienzbegriff ist nicht an bestimmte Ziele wie etwa Kostenminimierung, Gewinnmaximierung, Zeiteinsparung etc. gebunden. Er ist auf beliebige Ziele anwendbar, auch z. B. Reduktion der Umweltbelastung, Rettung von Schiffbrüchigen oder Wissensaneignung. Im Grunde beschreibt er rationales Handeln und sollte deshalb auch auf Wissen angewendet werden. Da man beim Streben nach Effizienz möglicherweise wenig akzeptablen Zielen folgt oder unerwünschte Wirkungen erreicht, wurde ergänzend der Effektivitätsbegriff eingeführt7. Effektivität fragt, ob man auch die richtigen Dinge macht. Im Vergleich zur Effizienz liegt sie auf einer übergeordneten Ebene. Beide Ebenen sind allerdings verzahnt. Die richtigen Dinge auf der übergeordneten Ebene zu machen setzt voraus, dass man es auf der untergeordneten Ebene richtig macht, und das bedeutet, auch dort die richtigen Dinge zu machen. Und das gilt nicht nur für zwei, sondern für beliebig viele Ebenen. Für die Produktion komplexer Produkte bedeutet das bspw., die jeweils richtige Faktorkombination für das richtige Zwischenprodukt und die richtige Zwischenprodukt-Kombination (die ihrerseits wieder als Faktorkombination angesehen werden kann) bezüglich der übergeordneten Produktebene zu wählen. Das Gesetz der erforderlichen Varietät (Varietätsgesetz) von Ashby8 geht aus von einer Transformation von Handlungsalternativen ai, i = 1, …, i, …, m, bei gegebenen Umfeldzuständen9 sj, j = 1, …, j, …n, in Ergebnisse eij10. Es 6  Der Effizienzbegriff spielt insbesondere in der Produktionstheorie eine Rolle. Für einen Produktionsprozess y mit m Einsatzfaktormengen r1, r2, ..., rm und n Ausbringungsmengen x1, x2, ..., xn gilt: „… y = (x1, x2, ..., xn, r1, r2, ..., rm) …wird effizient genannt, wenn keine andere (mögliche) Kombination y’ = (x1’, x2’, ..., xn’, r1’, r2’, ..., rm’) existiert derart, daß x1’ > – x1, ..., xn’ > – xn, r1’ < – r1, ..., rm’ < – rm, wobei mindestens einmal die strikte Ungleichung gilt.“ (Bohr (1993) Sp. 859 f.). Für unseren Fall können die Werte r1, r2, ..., rm als verschiedene eingesetzte Wissensbündel, die Werte x1, x2, ..., xn als Werte damit erreichter Ergebnisgrößen, z. B. verschiedener Ziele, interpretiert werden. 7   Drucker (1963) 54: „... the major problem ... is fundamentally the confusion between effective­ness and efficiency that stands between doing the right things and doing the things right. There is surely nothing quite so useless as doing with great efficiency what should not be done at all“. 8   Ashby (1956) 206 ff. 9   Ein Umfeldzustand sj beschreibt eine konkrete Situation. Wenn in dieser eine Entscheidung ai gefällt wird, entsteht das Ergebnis eij. Er wird hier anstelle des Begriffes „Umweltzustand“ verwendet, der stark mit Ökologie assoziiert wird. 10   Diese Matrixstruktur bildet ein „Entscheidungsfeld“ ab.

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setzt voraus, dass sich das Ergebnis für jede Handlungsalternative mit jedem Umfeldzustand ändert und ebenso für jeden Umfeldzustand mit jeder Handlungsalternative. Das Gesetz besagt dann, dass die Varietät der Ergebnisse eij der Handlungen nicht geringer sein kann als der Quotient aus der Varietät der Umfeldzustände und der Varietät der Handlungsalternativen. Varietät wird darin als Zahl verschiedener Elemente gemessen. In obiger allgemeiner Formulierung ist die Varietät der Umfeldzustände also n, die der Handlungen m und die minimale Varietät der Ergebnisse somit n/m. Das Gesetz hat große Beachtung erfahren. Gibt man in Google Scholar „Requisite Variety“ ein, erhält man über 10000 Verweise aus den unterschiedlichsten Disziplinen wie Ingenieurwissenschaften, Management, Ökonomik, Organisationstheorie, Biologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Neurologie und Pädagogik. II.  Wissenswertes Wissen aus der Perspektive des Varietätsgesetzes Ein einfaches Beispiel möge die Anwendung des Varietätsgesetzes verdeutlichen: Eine Person in einem kleinen Betrieb soll einerseits am Empfang die Kundenkontakte pflegen (s1) und daneben andererseits Buchhaltungsaufgaben übernehmen (s2). Soll sie in beiden Aufgabenfeldern sehr gute Ergebnisse erzielen, sind (für die Kundenkontakte) sehr gute verhaltenspsychologische Kenntnisse (a1) einerseits, und für die Buchhaltung sehr gute Buchhaltungskenntnisse (a2) andererseits erforderlich. Dann wird aufgrund dieser zwei Wissenskomplexe bei den zwei Aufgabenkomplexen (gleich „Umfeldzuständen“) immer das eine Ergebnis e11 = e22 = „sehr gut“ erzielt. Kommt nun als dritter Aufgabenkomplex (s3) die Erledigung des Schriftverkehrs hinzu, reichen die genannten Kenntnisse nicht aus, um auch dort ein sehr gutes Ergebnis zu erzielen. Vielmehr müssen als dritter Fähigkeitskomplex sehr gute (Recht-) Schreibkenntnisse hinzukommen. Bei drei Aufgabenkomplexen und drei Fähigkeitskomplexen ist dann jeweils wieder das nur eine Ergebnis „sehr gut“ möglich. Obige Beschreibung des Varietätsgesetzes bezieht sich auf nur eine Systemebene. Die Menge der Umfeldzustände und Handlungsalternativen können die einer bestimmten Stelle (im Kosiol’schen Sinne eines Aufgabengesamts11) am Fließband, in der technischen Entwicklung, im Vertrieb, aber auch im Vorstand sein. Verbunden mit diesen Stellen ist jeweils ein bestimmter Wissensstand über und für die Handlungsmöglichkeiten sowie über Umfeldzustände und die zugehörigen Ergebnisse erforderlich. Diese statische Sicht muss durch eine dynamische ergänzt werden. Auch müssen mehrere (hierarchische) Ebenen ins Auge gefasst werden. Soll eine Person nicht nur an einem Arbeitsplatz eingesetzt werden sondern – als 11

  Kosiol (1962) 89 ff.

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„Springer“ – an mehreren, benötigt sie auch Wissen über deren jeweiliges Entscheidungsfeld. Ist sie überall voll eingearbeitet und damit voll einsatzbereit, lässt sich das im Grunde auf einer Ebene modellieren. Die bisherige Menge der Handlungsmöglichkeiten wird um die der anderen Stellen ausgeweitet, ebenso die Menge der Umfeldzustände um die Zustände der anderen Stellen. Entsprechend wird die Menge der Ergebnisse erhöht. Anders ist die Situation, wenn bei Neueinstellung der genaue Einsatzbereich noch nicht entschieden ist. Das Entscheidungstableau würde dann ähnlich aussehen wie bei dem Springer. Doch würde man nur angenäherte Kenntnisse über die Handlungsalternativen, Zustände und Ergebnisse möglicher Einsatzbereiche erwarten und zusätzlich die Fähigkeit, sich in der ersten konkreten Einsatzstelle rasch Tiefenwissen anzueignen, um dort sehr gute Ergebnisse zu erzielen. Ähnlich ist das vom Verfasser an anderer Stelle vorgetragene „Zoom-Modell“, wenn auch mehr aus der Perspektive des Innehabens eines konkreten Arbeitsplatzes. Dort heißt es: „Ich möchte hier die Metapher eines auf die eigenen Aufgaben und Probleme fokussierten, aber auf die Gesamtorganisation gerichteten Zoomobjektivs vorstellen. Je näher ich die eigenen Aufgaben heranhole, umso genauer muss ich über diese Bescheid wissen und über das erforderliche Wissen verfügen“12. Das hilft auch bei Beantwortung der Frage, ob die betrachteten Mengen von Handlungsalternativen und Umfeldzuständen die richtigen sind oder ob, entsprechend dem noch anzusprechenden Effizienz-Effektivitäts-Aspekt, ein anderes Entscheidungsfeld im überblickten Bereich, evtl. nach Wissenserweiterung, sinnvoller wäre. Zu suchen wäre ein solches, in dem die Umfeldzustände den Kenntnisständen im Hinblick auf mögliche Aktionen und erreichbare Ergebnisse möglichst weitgehend entsprechen. Dem Zoom-Modell ähnlich ist das Modell robuster Elemente bzw. erster Schritte13. Auf unser Problem angewendet lässt es sich wie folgt erläutern: Unterschiedliche Umfeldzustände erfordern unterschiedliche Wissenskomplexe. Diese enthalten aber für unterschiedliche Umfeldzustände oft gleiche Elemente. Es ist sinnvoll, sich zunächst auf solche gemeinsamen Wissenselemente zu konzentrieren. Mit zunehmender Erfahrung der Eintrittswahrscheinlichkeiten der Umfeldzustände kann man dann das Wissen erweitern. Dabei wird man einerseits die Eintrittswahrscheinlichkeiten, andererseits – im Sinne robuster Schritte – die Überlappungen von Wissenselementen verschiedener Umfeldzustände berücksichtigen. Ähnlich sind auch Überlegungen, die denen zur Lösung des Knappsackproblems14 entsprechen. Das – hier sehr generalisiert formulierte – Problem ist, was man angesichts zukünftiger Herausforderungen in den hinsichtlich   Schiemenz (2004) 476   Hanssmann (1978) 64 f. 14   Müller-Merbach (1970) 341. 12 13

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des Aufnahmevermögens begrenzten „Rucksack“ packen soll, um diese Herausforderungen möglichst vollständig bzw. weitgehend zu bewältigen. Dynamisiert bzw. sich auf mehrere Ebenen erstreckend könnte man das Modell dahin gehend erweitern, dass die Aufnahmekapazität im Zeitablauf immer größer wird, so dass man – auch angesichts erweiterter Wahrnehmung der Umfeldzustände – weiteres Wissen hineinpacken könnte. Auch wäre die Pack-Reihenfolge zu berücksichtigen, da Wissen auf Wissen aufbauen kann. Ein ganz anderes Modell wird allerdings in besonders kreativen Bereichen erforderlich. Beispielsweise sollen bei Verwendung der Kreativitätstechnik Synektik15 die Teilnehmer das zu lösende Problem in ganz andere Bereiche verfremden. Durch die Frage, was diese denn mit dem ursprünglichen Problem zu tun haben, sollen neue Lösungsmöglichkeiten gefunden werden. Für diese Fähigkeit ist auch zum ursprünglichen Problem fern liegendes Wissen nützlich. Einem entscheidungsorientierten Ökonomen fehlen in dem Modell Ashby’s eine Kosten-Nutzen-Orientierung16 sowie die Berücksichtigung von Zufall. Doch könnte man das Modell um diese Aspekte erweitern. Zur Berücksichtigung von Zufall würden den Umfeldzuständen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Zur Berücksichtigung von Kosten und Nutzen würden den Wissenselementen Kosten (z. B. für deren Erwerb) und den Ergebnisse eij Nutzwerte zugeordnet. Das Modell liefe aber darauf hinaus, durch Erhöhung der Handlungsalternativen und des damit verbundenen Wissensstandes einen bestimmten Nutzwert zu erzielen. Ein Ökonom strebt aber an, den Gesamtnutzen unter Berücksichtigung der Kosten zu maximieren bzw., angesichts des Informations-Beschaffungsproblems, ein möglichst hohes Zufriedenheitsniveau zu erreichen. Man könnte daran denken, hierzu das gesamte betriebswirtschaftliche Investitionskalkül heranzuziehen. Das würde auch zu berücksichtigen erlauben, etwas weniger gute Ergebnisse in einem Umfeld durch besonders gute in einem anderen Umfeld zu kompensieren. Wegen der Komplexität des Entscheidungsproblems wird es sich oft erweisen, dass eine Konzentration auf Kernkompetenzen günstiger ist als der Vorhalt möglichst vieler Handlungsoptionen. Kernkompetenzen sind “... competencies that empower individual businesses to adapt quickly to changing opportunities”, “the root system that provides nourishment, sustenance, and stability ...”. Core competence first “...provides potential access to a wide variety of markets.” It second “... should make a significant contribution to the perceived customer benefits of the end product” and finally it should be “difficult for competitors to imitate them”17. Diese auf Unternehmungen

  Gordon (1961).   Schiemenz (2006). 17   Prahalad/Hamel (1990) 81 ff. 15 16

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bezogene Aussage lässt sich analog für sinnvolle Kompetenzen einzelner Personen verwenden und auch außerhalb konkreter Marktbeziehungen. III.  Wissenswertes Wissen aus der Perspektive von Effizienz und Effektivität Im vorhergehenden Abschnitt ging es um Wissen darüber, wie angesichts einer Zahl möglicher Umfeldzustände durch Wahl der Handlungsalternativen bzw. Wissenselemente eine möglichst geringe Zahl alternativer Ergebnisse sichergestellt werden kann. „Geringe Zahl alternativer Ergebnisse“ wurde im vorliegenden Zusammenhang gedeutet als möglichst geringe Abweichung vom Bestwert. Das sollte an obigem kleinen Bürobeispiel deutlich geworden sein. Effizienz und Effektivität führen zu einer anderen Sicht auf das Problem. Sie suchen, wie oben bereits angesprochen, nach nicht dominierten Lösungen, um dominierte Lösungen ausschließen zu können. Nehmen wir exemplarisch an, die Handlungsalternativen seien einerseits, Wissen über den Beschaffungsmarkt eines Zwischenproduktes zu erwerben, andererseits Wissen über dessen Eigenproduktion. Als (weitgehend gesicherte) Hypothese bestehe, dass beide Alternativen zu gleicher Produktqualität führen, aber Wissen über den Beschaffungsmarkt zu niedrigeren Kosten18 als Wissen über die Eigenproduktion. Dann wäre Wissen über Eigenproduktion dominiert und somit vernachlässigbar. Wissen über Fremdbezug des Produktes wäre effizient, es zu erwerben würde bedeuten, die Dinge richtig zu machen. Auf übergeordneter Ebene wäre zu fragen, ob das gerade ins Auge gefasste Zwischenprodukt überhaupt das richtige ist, ob es insofern effektiv ist. Möglicherweise sind andere Zwischenprodukte geeigneter. Wir haben ein neues Entscheidungsfeld mit mehreren Produktalternativen, die wir dann in einem übergeordneten Zielsystem bewerten müssen, das neben Kosten und Qualität die weiteren Wirkungen auf das Gesamtprodukt berücksichtigt. Sollte sich dann das Gesamtprodukt ändern, müssten wir dies evaluieren und bei negativem Resultat wieder eine Ebene zurückspringen. Das Problem wird also durch auf- und absteigende Suche auf den verschiedenen Produktebenen gelöst. Die Aufgabe wird weiter erschwert, wenn ein Zwischenprodukt in mehreren Produkten und dort auf verschiedenen Auflösungsebenen eingesetzt werden kann. Das gilt um so mehr wenn diese Modifikationen des Zwischenproduktes nahelegen. Hier wird nur ein iteratives Vorgehen helfen oder die Verwendung entwickelter Abstimmungstechniken in Gremien19. 18   Es könnte hier diskutiert werden, ob Kosten das alleinige richtige Kriterium sind. „Opportunitätskosten“ erlaubten z. B. die Einbeziehung des entgangenen Nutzens der Schaffung von Arbeitsplätzen bei Eigenproduktion. 19   S. verschiedene Beiträge in Schwaninger (1999).

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Unter Effizienzgesichtspunkten erscheint es auch sinnvoll, sich so weit wie möglich auf strukturelles statt akkumulatives Wissen zu konzentrieren. Die auf Müller20 zurückgehende Unterscheidung soll an folgendem kleinen Beispiel erläutert werden: Schüler und Schülerinnen lernen in der Grundschule das kleine Einmaleins. Wir können uns das so vorstellen, dass dabei der Inhalt einer Matrix aus den jeweils 10 verschiedenen Multiplikanden und Multiplikatoren 0, 1, …, 9 abgespeichert wird. Es wäre völlig unmöglich, sich auf diese Weise die Produkte 10-stelliger Zahlen zu merken. Die Matrix hätte 1020 bis zu 20-ziffrige Elemente und würde damit die neuronale Kapazität des menschlichen Gehirns bei weitem überfordern. Wir lösen das Problem, indem wir das akkumulierte Wissen über das kleine Einmaleins mit dem Wissen über die strukturellen Zusammenhänge beim Multiplizieren kombinieren. Ein anderes Beispiel lernte der Autor während seines Studiums21 kennen. Zur Vorbereitung auf Klausuren zu technisch-mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen im Umfange mehrerer Semester-Wochenstunden, in die oft keine Unterlagen mitgebracht werden durften, gab ein begnadeter Repetitor22 einige zentrale Formeln an, aus denen in Kenntnis z. B. von Umformungsregeln für Gleichungen und der Differential- und Integralrechnung die weiteren notwendigen Formeln abgeleitet werden konnten. Ein Beispiel ist die (einfache) Bewegungsgleichung Kraft gleich Masse mal Beschleunigung, aus der nach Umformung durch Integration die Geschwindigkeits- und Weggleichungen abgeleitet werden können, und das für sehr verschiedene Situationen. Ein drittes Beispiel finden wir in der Taxonomie. Sie ordnet Objekte hierarchisch bspw. in der Biologie in Klassen, Unterklassen, Ordnungen, Unterordnungen, Überfamilie, Familie, Gattung und Art. Ein untergeordnetes Objekt weist dabei alle Eigenschaften des übergeordneten Objektes auf23 und dazu noch mindestens ein anderes spezifisches. Die gesamten Eigenschaften eines untergeordneten Objektes erhält man, indem man zu dessen spezifischen Eigenschaften die Eigenschaften der übergeordneten Objekte über die gesamte Kette bis zum hierarchisch höchsten Objekt erfasst. Das erspart neuronalen und physikalischen Speicherplatz. Eine allgemeine Orientierung über die Zweckmäßigkeit, ein bestimmtes Wissen zu erwerben, bieten folgende Überlegungen. Sie gelten sowohl für das Zoomen ins Große als auch ins Kleine hinein: Je bedeutsamer das Wissen 20   Müller (1994). Die Begriffe überlappen sich mit den Begriffen deklaratives und prozedurales Wissen. 21   Des Wirtschaftsingenieurwesens an der TH Darmstadt. 22   Es handelt sich um den später (1963) als ordentlicher Professor der Mathematik an die Technische Universität Berlin berufenen Rudolf Zurmühl. Er wird auch in Wikipedia gewürdigt. 23   Es erhält diese „vererbt“.

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für anstehende Entscheidungen ist, je einfacher (oft auch kostengünstiger) man es erwerben kann und je länger oder häufiger man es nutzen kann, um so eher sollte man es erwerben. Es gibt aber auch Situationen, in denen nicht abgewogen werden kann. So gibt es in Banken Fälle des „Nicht-Wissen-Dürfens“. Deshalb wird der Research-Bereich des Investment Banking durch Brandmauern (firewalls) von anderen Geschäftsfeldern wie ‚Mergers & Acquisitions‘, aber auch Asset Management, abgeschirmt24. Andererseits gibt es den Fall des „Wissen-Müssens“. Der Kunde soll in arbeitsteiligen Organisationen nicht darunter leiden, dass er es nicht nur mit einer Person zu tun hat. „Eine arbeitsteilige Organisation ist danach als wissend anzusehen, wenn auch die natürliche Person wissen würde“25.

C.  Fazit und Ausblick Es wurde gezeigt, dass das Varietätsgesetz Ashby’s, das Effizienz-Effektivitätsstreben der Ökonomie sowie das Hierarchiekonzept der Systemtheorie eine Orientierung bei der Frage liefern können, welches aus der Fülle möglichen Wissens man sich aneignen sollte. Allerdings konnte hier nur der große Rahmen aufgezeigt werden. In einer konkreten Entscheidungssituation müssen die jeweiligen Handlungssituationen unter Einschluss der Zukunftserwartungen ins Auge gefasst werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es letztlich die einzelne Person ist, die für die Definition ihrer Ziele und Werte verantwortlich ist. Deshalb kann sie niemand hindern, ein ganz bestimmtes Wissen für sich für wissenswert zu halten. Allerdings muss sie auch die sich aus der Interaktion mit dem Umfeld ergebenden Konsequenzen tragen. Offen blieb die Frage, inwiefern das Wissen im Gedächtnis oder auf externen Medien erfasst werden sollte. Nicht berücksichtigt sind auch Aspekte wie Erkenntnis und Verstehen. Sie lassen sich möglicherweise aber ebenfalls in die aufgezeigten Strukturen einordnen. Anders ist es mit Bildung. Diese ist nur schwer zweckrational zu sehen, da sie oft intrinsische Werte verfolgt. Können diese Werte aber präzisiert werden oder wird Bildung zweckrational gesehen, etwa um die soziale oder auch ökonomische Position zu verbessern, gilt hier dasselbe. Nicht ohne Grund können deshalb sogar Pädagogen die genannten Konzepte nutzen, wenn sie die sich im Laufe des Lebens zunehmend konkretisierenden erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln. Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen sind z. B. im oben erläuterten Sinne robuste, früh zu vermittelnde Schritte in diese Richtung, auf denen fast jede weitere Wissensvermittlung bzw. Wissensaneignung aufbaut. Schließlich 24 25

  Vgl. Knaese (2004) 96 mit Verweis auf E. Wymeersch.   Drexl (2002) 100.

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Bernd Schiemenz

stellte die Analyse auf individuell wissenswertes Wissen ab. Auf einer übergeordneten organisatorischen Ebene taucht zusätzlich das Problem auf, wie Wissen darin erworben, verteilt, transferiert und honoriert wird. Im Unternehmenskontext wird dies bereits intensiv untersucht.26

Literaturverzeichnis Ashby (1956): W. R. Ashby, An Introduction to Cybernetics (New York 1956) Bohr (1993): K. Bohr, Effizienz und Effektivität, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 5. Aufl. (Berlin 1993), 855–869. Drexl (2002): J. Drexl, Wissenszurechnung im unabhängigen und Konzernunternehmen – Zivilgesellschafts- und bankrechtliche Überlegungen, in: Neues Schuldrecht und Bankgeschäfte – Wissenszurechnung bei Kreditinstituten (Bankrechtstag 2002), Band 20 der Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung, Berlin (2002), 85–119. Drucker (1963): P. F. Drucker, Managing for Business Effectiveness, in: Harvard Business Review, Vol. 41 Issue 3, 53–60. Grant (1996): R. M. Grant, Toward a knowledge-based theory of the firm, in: Strategic Management Journal, Vol. 17, Winter Special Issue, 109–122. Gordon (1961): , W.J.J Gordon, Synectics. The Development of Creative Capacity (New York u.a. 1961). Hanssmann (1978): F. Hanssmann, Einführung in die Systemforschung (München 1978). Knaese (2004): B. Knaese, Das Management von Know-how-Risiken – Eine Analyse von Wissensverlusten im Investmentbanking einer Großbank (Wiesbaden 2004). Kosiol (1962): E. Kosiol, Organisation der Unternehmung (Wiesbaden 1962). Müller (1994): K. H. Müller, Von den Einheits-Wissenschaften zu den Wissenschafts-Einheiten (Wien:IHS 1994). Müller-Merbach (1970): Operations Research (Berlin u.a. 1970). Prahalad/Hamel (1990): C. K. Prahalad/G. Hamel, The Core Competence of the Corporation, Harvard Business Review, Vol. 68 Issue 3, 79–91. Schiemenz (2002): B. Schiemenz, Rekursive Strukturen und Problemlösungen, in: Milling (Hrsg.), Entscheiden in komplexen Systemen (Berlin 2002), 175–193. Schiemenz (2004): B. Schiemenz, Wissenswertes Wissen in der Unternehmung, in: Fischer, Thomas (Hrsg.), Kybernetik und Wissensgesellschaft (Berlin 2004) 469–486. Schiemenz (2006): B. Schiemenz, Requisite Variety, Cost and Hierarchies, in: Trappl, (Ed.), Cybernetics And Systems 2006 (Wien 2006) 428–431. Scholz (1981): Ch. Scholz, Betriebskybernetische Hierarchiemethodik (Frankfurt u.a. 1981). Schwaninger (Hrsg.) (1999): Intelligente Organisationen (Berlin 1999). Simon (1962): H. A. Simon, The Architecture of Complexity, in: Proceedings of the American Philosophical Society, Vol. 106, 467–482. Thiel (2007), F. Thiel, Stichwort: Umgang mit Wissen, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 10. Jahrgang (Wiesbaden 2007) 153–169.

26

  z. B. Grant (1996).



Mathematik

Der Apfeldieb – ein Paradoxon des Unendlichen Volker Mammitzsch Mathematische Paradoxa sind seit alters her bekannt; man denke nur an das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte1, das Zenon von Eulea (490–430 v. Chr.) zugeschrieben wird. Bereits 1851 erschien posthum ein Buch von Bernhard Bolzano (1781–1848) mit dem Titel „Paradoxien des Unendlichen“. Die interessantesten dieser Paradoxa traten allerdings erst mit der Herausbildung der Mengenlehre durch Georg Cantor (1845–1918) und des Begriffes des „aktual Unendlichen“ auf, s. Cantor (1895) und vgl. Székely (1990). Berühmt ist heute ein Paradoxon, das auf David Hilbert (1862–1943) zurückgeht und unter dem Namen „Hilberts Hotel“2 den Weg in die Populärliteratur, z. B. Casiro (2002), gefunden hat und dem sogar ein 30-minütiger Kurzfilm von Jarowski und Gallen (1996) gewidmet ist. Doch nun zu unserem Problem: Ein Obstgärtner hat einen Vorrat von unendlich vielen Äpfeln, die beim Pflücken mit 1, 2, 3, ... durchnumeriert wurden. Diese Äpfel will er einlagern. Dazu trägt er, der Numerierung folgend, jeweils zwei Äpfel an ihren Bestimmungsort, also zunächst die Nummer 1 und 2, dann die Nummern 3 und 4, u.s.w. Aber jedes Mal, wenn er 1   Achilles und eine Schildkröte veranstalten einen Wettlauf; Achilles’ Geschwindigkeit betrage 10 m/sec, die der Schildkröte 1 m/sec. Die Schildkröte erhalte 100 m Vorsprung, und beide Wettkämpfer laufen zur gleichen Zeit los. (Der Einfachheit halber benutzen wir runde Zahlen und verwenden das metrische System, auch wenn Achilles dadurch zu einem Weltrekordler seines Zeitalters im 100-Meter-Lauf und das Tier zu einer ausgesprochenen Rennschildkröte gemacht werden.) Die paradoxe Behauptung besagt nun: Achilles kann die Schildkröte nicht einholen; denn wenn Achilles nach 10 sec am Startplatz der Schildkröte eintrifft, ist diese bereits 10 m weiter gelaufen, und wenn Achilles nach einer Sekunde an diesem Ort ankommt, ist ihm die Schildkröte um 1 m voraus, u. s. w. Das Paradoxon erklärt sich dadurch, dass die Zeit, die Achilles benötigt, um die Schildkröte einzuholen, wegen der Konvergenz der (unendlichen) geometrischen Reihe 10 + 1 + 0,1 + .... = 11,11... = 100/9 endlich ist. 2   Ein Hotel habe unendlich viele Zimmer mit den Nrn. 1, 2, 3, ..., die sämtlich belegt seien. Da kommt noch ein Gast und möchte übernachten. Was tut der Hotelier? Er bittet seine Gäste, jeweils in das Zimmer mit der nächsthöheren Nummer umzuziehen, so dass der Raum Nr. 1 für den späten Gast frei wird und alle anderen Gäste auch untergebracht sind. Ähnlich verfährt der Hotelier, wenn ein Bus mit unendlich vielen Reisenden ankommt, die alle übernachten wollen. Er bittet jeden der schon vorhandenen Gäste, in das Zimmer mit der doppelt so große Zahl umzuziehen, so dass alle Zimmer mit einer ungeraden Nummer frei werden, in denen die Busreisenden unterkommen können.

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sich abwendet, um die nächsten beiden Äpfel zu holen, erscheint ein Dieb und stiehlt einen der eingelagerten Äpfel. Damit dieses Verfahren in endlicher Zeit, sagen wir: in einer Stunde, zum Ende kommt, müssen die einzelnen Vorgänge von Einlagern und Stehlen in immer kürzerer Zeit erfolgen; so möge etwa der erste eine halbe Stunde dauern, und jeder weitere Vorgang halb so lange brauchen wie der unmittelbar zuvor stattgehabte. Unsere Frage ist nun: Wie viele Äpfel befinden sich nach einer Stunde im Lager? Die Antwort darauf lautet: Das hängt vom Dieb ab! Fall 1: Der naschhafte Dieb. Nehmen wir an, der Dieb möchte jeweils den frischesten Apfel, d. h. den mit der höchsten vorhandenen Nummer stehlen. Dann ist sofort klar, dass der Dieb die Nummern 2, 4, 6, ... auswählt und die Äpfel mit den ungeraden Nummern zurück bleiben. Es sind also unendlich viele Äpfel nach einer Stunde im Lager, was wohl nicht weiter verwunderlich ist. Anders verhält es sich im Fall 2: Der gründliche Dieb. Diesmal nehmen wir an, dass der Dieb jeweils den Apfel mit der niedrigsten vorhandenen Nummer stiehlt. Dann ist das Lager nach einer Stunde leer! In der Tat: Wäre mindestens ein Apfel im Lager, hätte dieser eine bestimmte Nummer n, doch würde dieser beim n-ten Einlagerungsvorgang gestohlen. Es kann also keinen Apfel im Lager geben, es ist leer! Dass dies keineswegs ein Spezialfall ist, lehrt uns der Fall 3: Der unordentliche Dieb. Wir gehen nun davon aus, dass der Dieb seinen Apfel jedes Mal vollkommen regellos stibitzt derart, dass jeder der im Zeitpunkt des Diebstahls vorhandenen Äpfel unabhängig von allen bisherigen Vorgängen mit derselben Wahrscheinlichkeit ausgewählt wird. Auch in diesem Fall bleibt das Lager mit Wahrscheinlichkeit Eins leer! In der Tat: Wir bestimmen zunächst die Wahrscheinlichkeit P(k) dafür, dass der Apfel mit der Nummer k schlussendlich im Lager vorhanden ist, und bezeichnen dieses Ereignis mit A(k). Des weiteren nennen wir das Ereignis, dass der Apfel Nr. k mindestens bis zum n-ten Einlagerungsvorgang nicht gestohlen wurde A(n, k) und seine Wahrscheinlichkeit P(n, k). Offensichtlich darf 2n nicht kleiner als k sein, weil andernfalls der k-te Apfel noch nicht eingelagert wurde. Bezeichnen wir die kleinste ganze Zahl, die nicht kleiner als k/2 ist, mit g, so muss also n größer als oder gleich g sein. Das Ereignis A(m, k) ist der Durchschnitt der Ereignisse A(n, k), n = g, g + 1, ..., m. Da sich beim n-ten Einlagerungsvorgang vor dem Diebstahl gerade n + 1 Äpfel im Lager befinden, von denen der Dieb alle außer dem Apfel Nr. k jeweils mit der Wahrscheinlichkeit 1/(n + 1) auswählen kann, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der Apfel Nr. k bei der n-ten Einlage-

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rung nicht gestohlen wird und beim (n − 1)-ten Einlagerungsvorgang im Lager vorhanden war, gerade n/(n + 1). Auf Grund der Unabhängigkeit der einzelnen Vorgänge findet man g g + 1 n g P(n, k) = -·-· ··· ·-=-, g + 1 g + 2 n + 1 n+1 weil sich in diesem „Ziehharmonika-Produkt“ jeweils die Nenner gegen die Zähler der unmittelbar folgenden Glieder wegkürzen. Nun ist A(k) der Durchschnitt aller A(n, k) mit n = g, g + 1, g + 2, ..., und die A(n, k) bilden eine absteigende Folge. Daher ist, etwa nach Bauer (1990) S. 13, Satz 3.2 (c), P(k) = lim P(n, k) = 0. n→∞ Schließlich ist das Ereignis A, dass nach einer Stunde sich mindestens ein Apfel im Lager befindet, die Vereinigung aller A(k), k = 1, 2, 3, ..., so dass sich die Wahrscheinlichkeit P(A), wiederum etwa nach Bauer (1990) S. 12, Formel (3.10’), zu P(A) = P(1) + P(2) + ... = 0 + 0 + ... = 0 ergibt. Bemerkung: Man kann zeigen, dass man in allen Fällen 1 bis 3 dieselben Resultate erhält, wenn man zulässt, dass der Obstbauer statt zwei jeweils eine feste Zahl z von Äpfeln ins Lager bringt, die größer als 2 ist. Beweis: Im Fall 1 stiehlt der Dieb die Äpfel mit den Nrn. z, 2z, 3z, u. s. w., während die Äpfel mit den Nrn. 1, ..., z − 1, z + 1, ..., 2z − 1, ... d. h. unendlich viele im Lager bleiben. Den Fall 2 beweist man wörtlich wie oben. Im Fall 3 verwenden wir mutatis mutandis dieselben Bezeichnungen wie oben. Diesmal darf für das Ereignis A(k, n), dass der k-te Apfel bis zum n-ten Einlagerungsvorgang nicht gestohlen wurde, nz nicht kleiner als k sein. Bezeichnen wir wieder mit g die kleinste natürliche Zahl, die nicht kleiner als k/z ist, so muss also n größer als oder gleich g sein. Da sich bei der n-ten Einlagerung, bevor der Dieb den Apfel stibitzt, zn − n + 1 Äpfel im Lager befinden, von denen der Dieb alle außer Apfel Nr. k jeweils mit der Wahrscheinlichkeit 1/(zn – n + 1) auswählen kann, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der Apfel Nr. k bei der n-ten Einlagerung nicht gestohlen wird, nunmehr zn – n 1 – =1– –. zn – n + 1 (z – 1) n + 1

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Volker Mammitzsch

Wiederum auf Grund der Unabhängigkeit der einzelnen Vorgänge erhalten wir für n größer als oder gleich g

(

)(

) (

)

1 1 1 P(n, k) = 1 – – · 1 – –– · ... · 1 – – (z − 1) g + 1 (z − 1) (g + 1) + 1 (z − 1) n + 1 sowie mit dem gleichen Argument wie oben

(

)(

)

1 1 P(k) = 1 – – · 1 – –– · ... · (z − 1) g + 1 (z − 1) (g + 1) + 1 Nach Knopp (1964) S. 227, Satz 4 konvergiert dieses unendliche Produkt genau dann gegen Null, wenn die unendliche Reihe 1 1 + –– + ... R=– (z − 1) g + 1 (z − 1) (g + 1) + 1 gegen unendlich strebt. Beachtet man noch, dass (z − 1) n + 1 nicht größer als zn ist, so erkennt man, dass die unendliche Reihe

(

)

1 1 1 1 1 1 1 S = – + – + – + ... = – – + – + – + ... zg z(g + 1) z(g + 2) z g g + 1 g + 2

nicht größer als R ist und das 1/z-fache der harmonischen Reihe darstellt, die bekanntlich, vgl. etwa Knopp (1964) S. 114, gegen unendlich divergiert und damit die Divergenz der unendlichen Reihe S und weiter auch die von R nach sich zieht. Der Rest des Beweises läuft wörtlich wie oben.

Literaturverzeichnis Bauer (1990). H. Bauer, Maß- und Integrationstheorie (Berlin, New York) Bolzano (1851). B. Bolzano, Paradoxien des Unendlichen (Berlin) Cantor (1895). G. Cantor, Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre, Math. Annalen 46, 481–512 (1895) Casiro (2005). F. Casiro, Das Hotel Hilbert in „Unendlich plus eins“. Spektrum der Wissenschaft, Spezial 2 Jarowski und Gallen (1996). J. Jarowski und A.-M. Gallen, Hotel Hilbert, Kurzfilm, Großbritannien Knopp (1964). K. Knopp, Theorie und Anwendung der unendlichen Reihen, 5. Aufl. (Berlin-Göttingen-Heidelberg-New York) Székely (1990). PARADOXA. Klassische und neue Überraschungen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematischer Statistik (Thun und Frankfurt am Main)

Mitglieder der Marburger Gelehrten-Gesellschaft

Mitglieder der Marburger Gelehrten-Gesellschaft seit 21. Mai 1969 Abel, Karlhans (Klassische Philologie) Adamietz, Joachim (Klassische Philologie) Andreae, Bernard (Klassische Archäologie) Avakumovic, Vojislav (Mathematik) Backhaus, Ralph (Römisches Recht) Beinhauer-Köhler, Bärbel (Religionsgeschichte/Theologie) Benz, Ernst (Kirchen- und Dogmengeschichte) Beuthien, Volker (Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht) Braasch-Schwersmann, Ursula (Geschichtliche Landeskunde) Brandt, Reinhard (Philosophie) Brunhölzl, Franz (Lateinische Philologie des Mittelalters) Bruns, Rudolf (Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht, Zivilprozessrecht, ausländisches Privatrecht) Buchholz, Rudolf (Geburtshilfe und Frauenheilkunde) Buck, August (Romanische Philologie) Dammann, Ernst (Religionsgeschichte) Dierkes, Stefan (Betriebswirtschaftslehre/Controlling) Drerup, Heinrich (Klassische Archäologie) Eckhardt, Bruno (Physik) Engenhart-Cabillic, Rita (Radiologie) Errington, Robert M. (Alte Geschichte) Fehl, Ulrich (Wirtschaftstheorie) Fielitz, Sonja (Anglistik und Amerikanistik) Föllinger, Sabine (Klassische Philologie) Forssman, Bernhard (Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaften) Freund, Georg (Kriminalwissenschaften) Frey, Otto-Herman (Vor- und Frühgeschichte) Froning, Heide (Klassische Archäologie) Gäbe, Lüder (Philosophie) Gornig, Gilbert (Öffentliches Recht mit Völkerrecht und Europarecht)

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Mitglieder der Marburger Gelehrten-Gesellschaft

Grass, Hans (Systematische Theologie und Sozialethik) Hage, Wolfgang (Ostkirchengeschichte) Hamelmann, Horst (Chirurgie) Hampe, Asta (Statistik) Hanneder, Jürgen (Indologie und Tibetologie) Held, Winfried (Klassische Archäologie) Hensel, Friedrich (Physikalische Chemie) Hess, Friedhelm (Röntgenologie und Strahlenheilkunde) Heuss, Ernst (Volkswirtschaftslehre) Hofer, Sigrid (Kunstgeschichte) Horn, Hans-Detlef (Öffentliches Recht) Jacob, Hans (Psychiatrie und Neurologie) Janich, Peter (Philosophie) Jeremias, Jörg (Altes Testament) Jungraithmayr, Herrmann (Afrikanistik) Kahmann, Regine (Terrestrische Mikrobiologie) Kating, Horst (Pharmakognosie) Kampmann, Christoph (Neuere Geschichte/Frühe Neuzeit) Kern, Horst Franz (Zytobiologie und Zytopathologie) Kling, Michael (Rechtswissenschaften) Korn, Evelyn (Volkswirtschaftslehre/Mikroökonomie) Kraatz, Martin (Religionswissenschaften) Kümmel, Hans Martin (Altorientalistik) Kümmel, Werner (Neutestamentliche Wissenschaft und Kunde des Judentums) Kullmann, Wolfgang (Klassische Philologie) Lendle, Otto (Klassische Philologie) Lill, Roland (Klinische Zytobiologie) Malettke, Klaus (Neuere Geschichte) Mammitzsch, Volker (Mathematik, Stochastik) Martini, Gustav Adolf (Innere Medizin) Meurer, Dieter (Strafrecht, Strafprozessrecht) Müller, Walter W. (Semitistik) Nultsch, Wilhelm (Botanik) Otten, Heinrich (Altorientalistik) Pfister, Max (Romanische Philologie) Poppe, Erich (Allgemeine Sprachwissenschaft und Keltologie) Rau, Wilhelm (Indische Philologie) Reich, Klaus (Philosophie) Reitböck, Heribert (Angewandte Physik, experimentelle Biophysik) Remschmidt, Helmut (Kinder- und Jugendpsychiatrie) Scheibert, Peter (Osteuropäische Geschichte) Schiemenz, Bernd (Betriebswirtschaftslehre)

Mitglieder der Marburger Gelehrten-Gesellschaft

Schmidt, Jürgen Erich (Deutscher Sprachatlas) Schmidt, Paul Gerhard (Lateinische Philologie des Mittelalters) Schmidt, Roderich (Mittelalterliche Geschichte) Schmidt, Stephan (Geburtshilfe und Perinatalmedizin) Schmidt-Wiegand, Ruth (Germanische und deutsche Philologie) Schmitt, Arbogast (Klassische Philologie) Schönhärl, Elmar (Phoniatrie und Pädioaudiologie) Schott, Carl (Geographie) Schröder, Werner (Germanische und deutsche Philologie) Schumacher, Georg (Mathematik, Geometrie/Topologie) Stillers, Rainer (Romanistik) von Stosch, Hans-Adolf (Botanik, Thallophytenkunde) Thauer, Rudolf (Mikrobiologie) Wesemann, Wolfgang (Physiologische Chemie) Wichtl, Max (Pharmazeutische Biologie) Wimmel, Walter (Klassische Philologie) Wolf, Ernst (Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Rechtsphilosophie) Zimmermann, Wolfgang (Experimentalphysik)

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