Die Legende von der »Neuen Welt«: Montaigne und die >littérature géographique< im Frankreich des 16. Jahrhunderts 9783110913842, 9783484550216


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German Pages 297 [300] Year 1993

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Table of contents :
Einleitung
1. Die Renaissance und die «littéature géographique»
2. Gang der Untersuchung
3. Forschungsbericht
Erstes Kapitel Das Amerikabild in der Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit
1. Die «littérature géographique» im Frankreich des 16. Jahrhunderts
2. Homogenität und Differenz: Die Beschreibung Amerikas als theoretisches Problem
3. Neue Welt und neuzeitliches Denken
4. Chauveton und seine Quellen
5. Kolonisation, Mission, Zivilisation als Legitimationsstrategien in den Geschichtswerken
6. Abwertende Indianerdarstellung
7. Tendenzen zur sachlichen Indianerbeschreibung
8. Der Mythos des bon sauvage
9. Die Idealisierung der indianischen Kultur
Zweites Kapitel Die Neue Welt im französischen Reisebericht des 16. Jahrhunderts: André Thevet und Jean de Léry
1. Geschichtswerke und Reiseberichte
2. André Thevet und Jean de Léry als Autoren von Reiseberichten
3. Die Auseinandersetzungen um Villegagnons Kolonie im Spiegel von Lérys Histoire d’un voyage
4. Der Mythos vom bon sauvage
5. Lérys Indianerbild und die «légende du bon sauvage»
6. Die Sitten der Indianer im Urteil Lérys
7. Die Religion der Indianer
8. Kolonisation und Nationalismus
9. Ethnographie bei Léry
10. Thevets Bild der brasilianischen Indianer
11. Die Reduktion der eurozentrischen Perspektive durch die Kategorie der «singularité»
12. Naturdarstellung im Reisebericht
Drittes Kapitel Beschreibungsformen fremder Wirklichkeit
1. Die «theoretische Neugierde» und das Problem der Fremdwahrnehmung
2. Die Systematisierung der Wahrnehmung
3. Die Sprache als Ordnungsfaktor und die Universalität des «Vergleichs»
4. Kommunikationsprobleme und das «Colloque»
5. Formen der Darstellung fremder Kultur
6. Formen des wissenschaftlichen Diskurses
Viertes Kapitel Montaigne und die Neue Welt
1. Montaigne und die literarische Amerikarezeption in Frankreich
2. Quellen, gedankliche Voraussetzungen und Absichten von Montaignes Amerika-Darstellung
3. Die philosophischen Voraussetzungen von Montaignes Welterfahrung
4. Die Relativität kultureller Werte in der Ideengeschichte der Frühen Neuzeit
5. Das Ideal des Naturzustands
6. Techniken der Idealisierung
7. «Kunst» und Natur
8. Gesetz und Ordnung
9. Das Ideal des honnête homme
10. Der honnête homme und die Zivilisation
11. Die Gefährdung der «honnêteté» durch die «atrocitas»
12. Die Indianer als Gegenbild
Literaturverzeichnis
1. Texte und Quellen
2. Forschungsliteratur
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Die Legende von der »Neuen Welt«: Montaigne und die >littérature géographique< im Frankreich des 16. Jahrhunderts
 9783110913842, 9783484550216

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mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les litteratures romanes depuis la Renaissance

Herausgegeben von / Dirigees par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel

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Angela Enders

Die Legende von der «Neuen Welt» Montaigne und die ature geographique» und der Literatur des 16. Jahrhunderts geprägt wurde. Vernachlässigt wurde hingegen jene wichtige Gattung, die sich im 16. Jahrhundert etabliert hat, nämlich die historischgeographisch angelegten «Kosmographien», deren Amerikabild praktisch bis heute ununtersucht geblieben ist. Eine zusammenfassende Darstellung der Amerikarezeption vor allen Dingen im romanischen Sprachraum hat in neuerer Zeit Frauke Gewecke mit ihrer Studie Wie die neue Welt in die alte kam (1986) gegeben. Sie versucht, einen systematischen Überblick über die Rezeption der Neuen Welt zu geben, wobei sie den Gedanken der Stereotypenbildung in den Vordergrund stellt. Sie zielt darauf ab, herauszuarbeiten, wie sich in Europa zwar auch Idealvorstellungen, insbesondere aber Feindbilder herauskristallisierten, die sich mit den spezifischen Interessen der Europäer an dem neuen Kontinent verbunden haben.40 Gewecke verfolgt damit eine zentrale Frage, die auch in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen wird. Geweckes Untersuchungen bleiben jedoch recht oberflächlich, und an vielen Stellen läßt sich zeigen, daß sie philologisch und historisch nicht solide fundiert sind. Für die gesamte neuere Forschung bildet Montaigne den Kulminationspunkt, in den die Frühphase der europäischen Rezeption Amerikas, zumindest der französischen Rezeption Amerikas, einmündet.41 Während in den beiden zentralen Montaigne-Monographien von Friedrich42 und Starobinski43 das Thema «Amerika» in seinen Auswirkungen auf Montaignes Denken praktisch nicht behandelt wird, hat sich im Rahmen der «Exotismus»-Forschung im weitesten Sinne Montaigne als zentraler Untersuchungsgegenstand etabliert. Montaigne ist, so die allgemeine Auffassung der Forschung, jener Autor gewesen, der in seinen beiden Essais Des Cannibales und Des Caches als erster Konsequenzen aus der Entdeckung Amerikas gezogen hat. Die nach Europa vermittelten Erfahrungen mit der fremden Kultur seien für Montaigne eine empirische Bestätigung und Bekräftigung seiner These von der Relativität der Werte gewesen. Nach dieser Aufassung würde Montaigne ein Schlüssel- und Wendepunkt nicht nur bei der Rezeption der Neuen Welt sein, sondern sogleich auch ein Wendepunkt in der Entwicklung des europäischen 3

" Arens: The -Eating Myth ; Frank: «Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist...». 39 White: «The Noble Savage», pp. 121-135. 40 Zu Gewecke cf. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur, pp. 111-115. 41 Ein wertvolles Hilfsmittel für die Montaigne-Forschung, auch hinsichtlich der Amerikarezeption Montaignes, ist Bonnet: Bibliographie methodique et analytique des ouvrages et documents relatifs ä Montaigne. 42 Friedrich: Montaigne. 43 Starobinski: Montaigne. 10

Selbstverständnisses und seines Verhältnisses zu anderen Kulturen.44 Entsprechend umfangreich sind die Forschungen, die zu diesem Thema vorgelegt wurden. Bereits Chinard hat die Grundthesen formuliert, die dann immer wieder aufgegriffen wurden: A la curiositö craintive du moyen äge succodera un sentiment d'admiration et presque d'envie qui, apres wie Evolution de pres de deux siecles, deviendra l'exotisme moderne. Dans tout le cours du XVe siecle, nous assisterons ä la lütte de ces deux sentiments qui, parfois du reste, se rencontrent curieusement juxtaposes chez un m£me ecrivain, et nous verrons le demier triompher avec Montaigne.4^

In ihren Untersuchungen über die Quellen von Montaignes Essais haben dann Chinard und Villey gezeigt, auf welche Texte sich Montaigne ganz offensichtlich bezogen hat. Sie konnten nachweisen, daß Montaigne eine Reihe von Übernahmen, die von ihm in unterschiedlich starkem Umfang modifiziert wurden, aus Reise- und Geschichtswerken - insbesondere Lory, Thevet und Gomara - übernommen hat. Dieser positivistische Strang der Einflußforschung wurde später noch eine Zeitlang weiterverfolgt. Eine Reihe von kleineren Untersuchungen hat die Ergebnisse dieser beiden Autoren verfeinert und detailliert, ohne daß dabei grundsätzlich neue Resultate erzielt worden wären.46 In den nicht-positivistischen und quellenkritisch orientierten Untersuchungen zum Problem Amerika bei Montaigne hat man sich so gut wie ausschließlich auf die beiden einschlägigen Essais gestützt.47 Es wurde gezeigt, daß Montaigne das Ideal eines bon sauvage entworfen hat, das er als kritische Gegenüberstellung zur eigenen Gesellschaft verstanden wissen wollte. Auch hier hat die Kannibalismus-Problematik die Forschung besonders intensiv beschäftigt. Grundsätzlich ist sie sich darüber einig, daß Montaigne in diesen Amerika-Essais als ein Gesellschaftskritiker zu verstehen ist, dem der eigene europäische Werthorizont problematisch geworden ist: Diese Distanz zu der Gesellschaft, in der er [Montaigne - A. E.] lebt, gehört zu jener «erschließenden Skepsis», die auch die politische Wirklichkeit erschließt, und in der Skepsis und eisiger Grimm sich nicht ausschließen. So9wenig sich beide alternativ zueinander verhalten, sowenig ist darin der Gedanke an Veränderung ungedacht. Er ist eindeutig präsent, wie denn Überhaupt die Konfrontation von Kannibalen und uns, von Neuer und Alter Welt und die keineswegs undifferenzierte Idee von bon sauvage sinnlos wird, wenn sie nicht das Gegenbild zu kritisierter und letztlich abgelehnter Wirklichkeit liefert.48

Die beiden Essais erscheinen so als ein Zentrum, in dem sich die Intentionen Montaignes verdichten. Sie fügen sich ein in das Bild des Skeptikers Montaigne, der in seiner Zeit eine kulturkritische Position eingenommen hat. Gegen diese Auffassung sind kaum jemals Einwände erhoben worden, auch wenn sie in vielen Modifikationen vorgetragen wurde. Max Horkheimer als einer der schärfsten Montaigne-Kritiker hat zwar versucht, die Skepsis Montaignes aus ihrem zeitgeschichtlichen Kontext heraus zu verstehen und die gängige Einschätzung zurechtzurücken, indem er sie als 44

Cf. dazu auch Brenner: «Interkulturelle Hermeneutik», pp. 38-40. 5 Chinard: L'exotisme amuricain, p. XVI, cf. auch p. 217. 46 Cf. etwa die Untersuchungen zu dem Einfluß Lorys auf Montaigne: Clerc: «Le voyage de L^ry», pp. 323-328; zu Montaignes Quellen generell: Plattard: «L'Ameiique dans oeuvre de Montaigne», vor allem p. 13 und p. 19. 47 Auch die verdienstvolle Arbeit von Marcu, die ein Repertoire des idees de Montaigne erstellt hat, kann aufgrund der Vielzahl der Stichwörter weder den gesamten Kontext «Amerika» noch die unter den entsprechenden Stichwörtem subsumierten Textbelege vollständig erfassen. 48 Hoeges: «Skepsis und Entschiedenheit», p. 93. 4

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ein konservatives Moment ausweist; Horkheimer geht aber auf die Amerika-Erfahrung nicht ein.49 Einen Neuansatz der Forschung hat der Ethnologe Karl-Heinz Kohl50 (1981) versucht, der - allerdings nur auf wenig historisches Material gestützt - unter Zugrundelegung der Zivilisationstheorie von Norbert Elias die Wahrnehmung Amerikas bei Montaigne, vor allen Dingen seine Vorstellung vom «Edlen Wilden», unter einem anderen Gesichtspunkt sieht. Grundsätzlich hält auch Kohl an der These fest, daß Montaigne als Kritiker der eigenen Kultur zu verstehen und daß das Bild des hon sauvage ein Medium dieser Kritik sei. Aber Kohl versucht zumindest im Ansatz deutlich zu machen, daß dieser Mythos des bon sauvage eine Projektion ist, die aus den eigenkulturellen Voraussetzungen, insbesondere den Zivilisationszwängen des französischen Hofes, heraus entstanden sei. Kohls Auffassung bleibt zu pauschal und ist zu sehr in den theoretischen Rahmen, den Elias vorgegeben hat, eingezwängt, als daß sie wirklich überzeugen könnte. Zwar ist seine Grundthese plausibel, sie bedarf aber einer sehr viel präziseren Einbettung in die realhistorischen und biographischen Zusammenhänge. Zu den Kritikern der Auffassung, daß bei Montaigne ein kulturkritischer Wertrelativismus zu finden sei, gehört insbesondere Todorov, dessen Untersuchung von Des Cannibales zu folgendem Ergebnis führt: «What Montaigne praises is not the 'cannibals' but his own values.»51 Gegenüber diesen wenigen kritischen und differenziert argumentierenden Forschungspositionen hat sich jedoch in der französischen wie in der deutschen Montaigne-Forschung durchgehend die einheitliche Auffassung durchgesetzt, daß mit Montaigne eine neue Stufe in der Auseinandersetzung mit der Erfahrung Amerikas erreicht sei. Praktisch die gesamte Montaigne-Forschung, die sich dem Problem der Rezeption Amerikas widmet, ist werkimmanent orientiert. Sie geht von den Texten Montaignes aus und verzichtet in der Regel darauf, Montaignes Aussagen in ihren biographischen, politischen und sozialen Kontext zu stellen. Allenfalls unternimmt sie eine Konfrontation mit den Quellen, auf die Montaigne sich stützt. Schließlich ist auch zu konstatieren, daß diese Forschung kaum einmal auf das Gesamtwerk Montaignes eingeht, sondern sich meist auf allgemeine Bemerkungen zur Skepsis Montaignes stützt, die dann speziell auf die beiden Amerika-Essais angewandt werden. Es wird damit übersehen, daß sich auch in den anderen Essais eine große Anzahl von Anspielungen auf die Amerika-Erfahrung des 16. Jahrhunderts finden und daß diese Anspielungen in Kontexten stehen. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Forschung zur Amerika-Erfahrung in den verschiedenen Gattungen der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts inzwischen zwar eine große Anzahl von Einzelergebnissen erzielt hat, daß sie aber nur gelegentlich versucht hat, diese Ergebnisse in einen Zusammenhang zu bringen und sie in den Bezügen zu sehen, aus denen heraus sie entstanden sind.

Horkheimer: «Montaigne und die Funktion der Skepsis». Cf. Kohl: Entzauberter Blick; zu Kohl auch Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur, pp. 114 sq. Todorov: «L'Etre et l'Autre», p. 125. Cf. zu dem Problem der Wertrelativierung bei Montaigne Todorov: Nous et les autres, vor allem pp. 58-62.

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Erstes Kapitel Das Amerikabild in der Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit 1. Die «litterature geographique» im Frankreich des 16. Jahrhunderts Die Erfahrungen der Entdeckungs- und Eroberungsreisen wurden Europa durch eine große Zahl von Texten vermittelt, die nicht-literarischen Gattungen angehören. Dazu zählen neben den Reiseberichten im engeren Sinne auch universal- oder regionalgeschichtliche sowie geographische Darstellungen, in denen die verschiedensten und meist auf aktuelle Ereignisse bezogenen Aspekte der Entdeckungen thematisiert werden. Die Veröffentlichungen solcher Werke über den neu entdeckten Kontinent Amerika häuften sich im französischsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.1 Schon an den Titeln läßt sich ablesen, in welchem Maße sie durch die aktuellen Ereignisse veranlaßt worden waren und in welchem Umfang kolonisatorische Interessen Frankreichs bei diesen Publikationen im Vordergrund standen. Die Texte beziehen sich - wenn im Titel nicht das übergreifende Stichwort «Amerique» auftaucht - großenteils auf Florida, Brasilien und Kanada, also auf die Länder, die tatsächlich von den Franzosen bereist und zum Teil besiedelt wurden.2 Im Gegensatz jedoch zu dieser spezifischen Form des französischen Amerika-Interesses konzentrierte sich die allgemeine europäische Rezeption bis zum Ende des 16. Jahrhunderts

Dieser Befund wurde gewonnen durch eine Auswertung der Bibliographien von Cioranesco: Bibliographie de la litterature fran$aise du seizieme siede und Atkinson, La litterature geographique. Dabei finden sich bei Cioranesco unter dem Stichwort «Amdrique» (insgesamt 18 Titel) nur ein französischsprachiger Titel aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, hingegen 13 in der zweiten Jahrhunderthälfte (die restlichen vier Titel sind in lateinischer Sprache verfaßt). Ein ähnliches Übergewicht im Zeitraum von 1550-1600 liegt auch bei Atkinson vor (7 Titel bis 1550 gegenüber 44 von 1550 bis 1600), wenn dessen Bibliographie auch insgesamt wesentlich mehr Einträge unter dem Überbegriff «Amorique» aufweist als die Cioranescos. Der Grund dafür dürfte die von Atkinson zusätzlich vorgenommene Subsumierung einzelner Länder der Neuen Welt (die Cioranesco gesondert anführt) unter dem Stichwort «Ame"rique» sein. Bei der Auswertung berücksichtigt wurden nur die Erstausgaben. Sowohl in Cioranescos als auch in Atkinsons Bibliogaphie werden aufgrund der zahlreichen Texte Ober Florida, Brasilien und Kanada diese Länder explizit in den Indices aufgeführt. Auch Duviols «Bibliographie analytique et critique» der Reiseberichte bestätigt die Präferenz für die genannten Länder (cf. Duviols: Voyageurs franfais en Amerique [colonies espagnoles et portugaises], pp. 33-67). Über die «litte~rature geographique» hinaus ist diese Tendenz weiter in der Literatur des Späthumanismus ersichtlich: Die «Kenntnis der Neuen Welt deckt sich in der Literatur des französischen Späthumanismus weitestgehend mit der Kenntnis jener Gegenden Amerikas, die in irgendwelcher Absicht von eigenen Landsleuten betreten worden sind.» (Hassinger: «Die Rezeption der Neuen Welt durch den französischen Späthumanismus», p. 93). 13

vorwiegend auf Südamerika: «Le Nouveau Monde, teile que le connait l'Europe de 1590, c'est avant tout l'Ameiique Espagnole.»3 Von den Darstellungen über die Neue Welt beruhen nur wenige auf eigenen Erfahrungen der Autoren; zum großen Teil haben sie die Form von Geschichtswerken und stützen sich auf Berichte aus zweiter Hand. Die Gattung des «Reiseberichts» etablierte sich in Frankreich wie auch in den anderen europäischen Ländern nur langsam und erreichte ihre volle Entfaltung erst mit der Zunahme des Reisens im 17. und 18. Jahrhundert, auch wenn die französische Literatur des 16. Jahrhunderts schon eine Reihe von einschlägigen Texten aufweist.4 Unter den Americana der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts dominieren somit eindeutig historische Werke, die oft mit geographischen Fragestellungen verbunden werden, über die eigentlichen Reiseberichte.5 In dieser Tatsache spiegelt sich die Erneuerung des historischen Interesses, das eine charakteristische Erscheinung der europäischen Renaissance überhaupt gewesen ist6 und das seinen lebhaftesten Ausdruck in der Wiederentdeckung der Antike gefunden hat: «the humanists were the first in the post-classical world to conceive of historical writing as an important and independent literary genre.»7 Die geographischen Entdeckungen werden zunächst in dieses übergreifende historische Interesse, das schon seine eigenen literarischen Ausdrucksformen entwickelt hatte, eingebunden, und diese Verbindung bringt wieder neue literarische Darstellungsformen hervor. Die Geschichtsschreibung der Renaissance hatte sich fast ausschließlich einzelnen Regionen und Nationen zugewandt, später weitet sich das historische Interesse aus:

Dainville: La geographic des humanistes, p. 53. Für das dominierende Interesse der Spanier an SUd- und Mittelamerika und ihr gleichzeitiges Desinteresse an Nordamerika macht Diez del Corral soziale und historische Umstände verantwortlich: Nur fruchtbare und reiche Länder wie Mexiko und Peru, nicht jedoch die unwirtlichen des Nordens, entsprechen den Erwartungen der Spanier: «Seuls des räves bases sur la roalitö pouvaient donner un point d'arret ä cette bonne pietaille hispanique. Tant que cela ne serait pas, ils ne feraient que parcourir des terres, laissant derriere eux, trop frequemment, la ruine et la desolation» (Diez del Corral: «L'Europe face ä l'Ameiique», p. 329). Cf. Atkinson: Les nouveaux horizons de la Renaissance franyaise, p. 30. Eine Untersuchung der Amerika-relevanten Titel in der Bibliographie Cioranescos belegt eindeutig ein Übergewicht der Geschichtswerke vor den Reiseberichten. Bei seiner Abgrenzung der Renaissance vom Mittelalter betont auch Maravall das neu erwachende Geschichtsinteresse: «Lo que sucede al final de la Edad Media es [...] que la organization del saber se transforma, porque ni la enciclopedia medieval ni los centros en los que se estudia, son suficientes para responder a las apetencias de conocimiento y dominio de la naturaleza y de la historia humana que impulsan a los nuevos hombres.» (Maravall: Carlos V y el pensamiento politico del Renacimiento, pp. 32 sq.). Gilbert: Macchiavelli and Guicciardini, p. 203. Zum Geschichtsinteresse der Renaissance und ihrem Ursprung in der Überzeugung der Humanisten, «einer neuen Zeit anzugehören», cf. Bück: Das Geschichtsdenken der Renaissance, p. 8. Zum neuen Geschichtsbewußtsein des 16. Jahrhunderts, das in Abgrenzung von der Poesie für die Historiographie die Forderung nach Wahrhaftigkeit und zugleich nach einer Verwissenschaftlichung und Methodisierung erhebt, cf. Keßler: «Die Ausbildung der Theorie der Geschichtsschreibung im Humanismus und in der Renaissance unter dem Einfluss der wiederentdeckten Antike», pp. 44-49. Cf. auch Gilbert: «Renaissance Interest in History», p. 376.

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at the end of the Renaissance historical interest turned again toward a universal knowledge of history. This widening of the historical outlook was influenced by the discoveries which hat revealed the existence of new worlds*

Diese Universalisierung des geographischen Interesses führt bereits im 15. Jahrhundert zur «Kosmographie» als einer eigenen Darstellungsform,9 «in der selbst die verstreutesten und unsichersten Nachrichten» gesammelt werden10 und die sich gelegentlich auch zur freilich seltenen «Universalgeschichte» ausweiten kann. Das 16. Jahrhundert bringt auch ein neues geographisches Interesse hervor, wie überhaupt die «Grenzen zwischen 'Geographie' und 'Historiographie' [...] fließend» waren.11 Das Interesse an beiden Wissensbereichen beruht nicht nur auf unmittelbaren praktischen - merkantilen oder politischen - Bedürfnissen. Der Humanismus hat eine der Geographie günstige Atmosphäre geschaffen. Er trug - auch unabhängig von den Entdeckungen der Zeit, die zunächst kaum einen Einfluß auf die Entwicklung der Geographie haben konnten12 - dazu bei, allgemeine geographische Kenntnisse zu verbreiten, und zugleich gab er diesen Kenntnissen eine Orientierung, deren Spuren sich auch in den Reisewerken oft wiederfinden lassen: «Miomme n'est pas fait pour l'univers mais l'univers pour l'homme.»13 Zwischen der «Kosmographie», in der alle Zeiten und Völker umfassend behandelt werden sollen, und den Darstellungen einzelner Länder bildet sich eine schwer differenzierbare und einer eindeutigen Zuweisung widerstrebende Gattungsvielfalt in der historisch-geographischen Literatur heraus.14 Es entstehen zahlreiche «länderkundliche» Darstellungen, Entdeckungsberichte sowie Berichte, die nur einzelne, meist unmittelbar zeitgenössische Aspekte und Episoden der Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte thematisieren, schließlich auch die «Relationen» von Missionaren. Aber nicht nur diese «Textsorten» fuhren zu Schwierigkeiten bei der Gattungsbestimmung. Auch bei den oft in der Forschung klar unterschiedenen Gattungen «Reisebericht» und «Geschichtsschreibung» sind die Abgrenzungen eher idealtypisierender Natur und gestalten sich in der Praxis als fließende Übergänge. Das gilt ebenso für die zahlreichen französischen Übersetzungen der historisch-geographischen Literatur,15 die das außergewöhnliche Interesse des Publikums an Werken dieser Art belegen.16 Auch diese Texte gehören insofern zur französischen Literatur, da 8

Ibid., p. 386. Cf. Beck: Geographie, p. 89. 10 Bitterli: Die «Wilden» und die «Zivilisierten», pp. 261 sq. 1 l Funke: Studien zur Reiseutopie der Frühaufldärung, p. 97. 12 Cf. Beck: Geographie, p. 107. '' Dainville: La geographic des humanistes, p. 78. 14 Angesichts der im 16. Jahrhundert vorherrschenden Gattungsvielfalt differenziert Atkinson die «livres 'ge"ographiques'» in eine Reihe von Unterkategorien: «Voyages», «Livres d'information gaographique», «Histoires g£ne>ales», «Histoire de pays particuliers» und «Lettres de missions», wobei er allerdings keine Rubrik für die «Histoire universelle» aufstellt (cf. Atkinson: Les nouveaux horizons de la Renaissance franfaise, pp. 27-31). 15 Meist handelt es sich bei den französischen Übersetzungen um Texte aus dem Spanischen, Kastilischen und Portugiesischen, also aus den Ländern, die hauptsächlich an der Entdeckung der Neuen Welt beteiligt waren: «La conqu£te et ['exploitation des nouveaux mondes au XVIe siecle restent, ä 95%, l'affaire des Iböriques [...]. La France et PAngleterre prennent place et rang modestement.» (Chaunu: Conquefe et exploitation des nouveaux mondes, p. 16.) 16 So zeugen die sechs Auflagen (1568, 1577, 1580, 1584, 1587, 1606) der französischen Übersetzung der Historia General de las Indios des Spaniers Lopez de Gomara durch M. Fumoe unter 9

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sie sich kaum einmal als reine Übersetzungen verstehen, sondern meist - wie die Übersetzung von Benzonis La Historia del Mondo Nuovo (1565) durch den Franzosen Chauveton17 (1579) - mit Kommentaren, Kritiken oder eigenen, teilweise sehr ausführlichen Zusätzen versehen sind. Das französische Interesse an der Neuen Welt kam nicht von ungefähr. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts war der neu entdeckte Kontinent Amerika in das Blickfeld auch der französischen Kolonialpolitik gerückt. Während die spanisch-portugiesischen Ambitionen auf die Eroberung von Kolonialreichen bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hervortraten, besaß Frankreich - wie auch die meisten anderen europäischen Länder - zu dieser Zeit weder die Infrastruktur noch die technischen Einrichtungen, die für die Erschließung der neuen Kontinente nötig gewesen wären.18 Erst Jahrzehnte später zeichnete sich sowohl bei französischen Seeleuten und Privathändlern als auch bei der Krone Frankreichs ein reges kommerzielles Interesse für die überseeischen Gebiete ab. Die französische Kolonialpolitik nahm ihren Anfang mit der 1523 von Giovanni da Verazzano angeführten ersten großen Expedition; auch dabei dominierten zunächst materielle Interessen:19 Die französische Krone beauftragte Verazzano mit der Erkundung des direkten Seewegs nach Cathay (China) - Verazzano landete jedoch an der nordamerikanischen Küste im Gebiet des heutigen North Carolina -, um den Portugiesen das bislang unangefochtene Monopol des Gewürzhandels abzunehmen.20 Doch ist die Realisierung entsprechender Ideen von staatlicher Seite Frankreichs unvergleichbar schwächer und auch weniger erfolgreich als die Spaniens und Portugals: «ä la difference des exemples iberiques, l'Etat s'est tenu ä l'ecart, en France, de la mise en valeur des nouveaux mondes.»21

dem Titel L'Histoire generate des Indes Occidentals et Terres Neuves (1568) von der Beliebtheit dieser Autoren in Frankreich (cf. Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 26). Die Histoire nouvelle du Nouveau Monde Chauvetons stellt unter diesen Texten insofern eine Besonderheit dar, als sie einerseits zu einem wesentlichen Teil auf einer Übersetzung der Historia del Mondo Nuovo (1565) des Italieners Benzoni beruht, Chauveton aber andererseits -vor allem in den kommentierenden Anmerkungen -die Übersetzung nutzt, um eigene Auffassungen vorzubringen. Cf. Romano, Tenenti: Die Grundlegung der modernen Welt, p. 200. Thorien nennt - und dies soll für die frühen Reiseberichte generell gelten - den Reisebericht Verrazanos einen «re"cit de conquete» (Thorien: «Le spectacle sauvage», p. l, pp. 44-46). Zu Verrazzanos Expedition cf. Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements (XVs - XVF siecles), pp. 79-86 (Le voyage d'exploration de Verrazano), pp. 86-89 (Les rosultats de ('expedition de Verrazano). Die Bedeutung Verrazanos für die Entdeckungsgeschichte liegt insbesondere in den «cartes verrazaniennes», also den Karten der beiden Brüder Verrazano selbst wie auch der ihrer «deYivoes» (cf. Pastoureau: «Le Nouveau Monde dans la cartographic francaise du XVIe siecle», p. 12; Nebenzahl: Der Kolumbusatlas, pp. 88 sq.). Chaunu: Conquete et exploitation des nouveaux mondes, p. 348. La Ronciere (Histoire de la marine francaise, p. 2) spricht von einer «apathie officielle» hinsichtlich der französischen Eroberungspolitik der Krone in Übersee, die er vor allem auf das Fehlen einer schlagkräftigen Kriegsmarine zurückfuhrt. Der Verzicht der französischen Entdecker auf Gewaltanwendung kommt als weiterer Aspekt hinzu: «Si l'6chec francais a pour causes l'insuffisance des moyens mis en ceuvre et les troubles intirieurs du pays, il faut en ajouter au moins une autre, qui est ä son honneur: le refus de ('installation par la force.» (Stegmann: «L'Ame"rique de Du Bartas et de De Thou», p. 306). 16

Prinzipiell sind kommerzielle Interessen der eigentliche Grund für nahezu alle Expeditionen in die Neue Welt;22 in den zeitgenössischen Legitimationsbemühungen spielten sie indes gegenüber der religiösen Rechtfertigung nur eine untergeordnete Rolle. Die Hauptrechtfertigung der europäischen und somit auch der französischen Eroberer bestand in ihrem Anspruch auf Missionierung der heidnischen Völker. Zwar war der weltliche Herrschaftsanspruch des Papstes, der den christlichen Fürsten einen direkten Zugriff auf Besitz und Unterwerfung der eingeborenen Bewohner einräumte, im 16. Jahrhundert nicht mehr unumstritten.23 Im allgemeinen wurde jedoch die These vom Recht oder sogar der Pflicht der Christen zur - notfalls auch gewaltsamen - Verkündung des Evangeliums unter den Heiden vertreten.24 In diesem Sinne ist auch die «Auffassung, daß die Conquistadoren neuentdeckter Erdteile Kreuzfahrer gewesen und zur Verbreitung des christlichen Glaubens ausgezogen sind», zu verstehen.^ Die kolonialen Interessen Frankreichs entsprachen denen der beiden ersten Entdeckernationen Portugal und Spanien: Auch Frankreich machte seinen Anspruch auf den legendären Reichtum der Neuen Welt geltend; neben dem erwarteten finanziellen Gewinn lockte aber auch der weltliche und kirchliche machtpolitische Zuwachs Frankreichs, der durch den Anteil an dem überseeischen Kontinent garantiert schien.26 In der Entdeckungsgeschichte des 16. Jahrhunderts lassen sich beide Motive immer wieder, häufig miteinander verschränkt, erkennen. Und sie geben die Folie ab für die Berichte und Darstellungen über die Neue Welt, wie sie dann im Laufe des Jahrhunderts in Frankreich verbreitet wurden. Allerdings ist in diesen kommerziell und religiös motivierten Vorgang der Kolonisation Frankreich nur am Rande einbezogen. Das 1493 von Papst Alexander VI. ver22

Die immense Bedeutung des Handels mit Mittel- und Südamerika wird auch daraus ersichtlich, daß er überhaupt erst die finanziellen Voraussetzungen für den Handel mit Asien geschaffen hat: «Car sans l'argent du Nouveau Monde, epices, poivre, soie, pierreries plus tard porcelaines de Chine, tout ce luxe prtcieux n'aurait pu fitre acquis par l'Occident.» (Chaunu: Seville et l'Atlantique, p. 14.) Die spanische Vorherrschaft im Handel, insbesondere die Sevillas, dokumentierten die von Huguette et Pierre Chaunu errechneten Zahlen (cf. ibid., p. 12). 23 Insbesondere der Dominikaner Francisco de Vitoria lehnte die Donation fremder Lander durch den Papst ab. Cf. Hanke: La lucha por lajusticia en la conquista de Amarica, pp. 377-382; Konetzke: Süd- und Mittelamerika l, pp. 32 sq. Zu Vitoria cf. weiter Mann-Lot: Bartohme de Las Casas et le droit des Indiens, p. 113; Chaunu: Conquete et exploitation des noweaux mondes, pp. 390 sqq.; Femandez-Santamaria: The State, War and Peace, pp. 58-119. 24 Aus dem christlichen Herrschaftsanspruch über die gesamte Welt resultierte der «selbstverständliche Besitzanspruch, den die Europäer als Entdecker von Gebieten jenseits des Atlantiks erhoben» (Bitterli: «Entdecken, Erobern, Verstehen», p. 108). 2 ^ Konetzke: «Überseeische Entdeckungen und Eroberungen», p. 577. Cf. dazu auch Gomez-Ge"raud: «La belle infidele aux Ameriques», p. 5: «Les ideaux chevaleresques et Chretiens se transportent aux Amoriques, et ne s'etonne pas, dans ces conditions, de voir frere Geronimo de Mendieta insister sur le caractere ovidemment providentiel Cortes; si le vainqueur de Mexico est no le m6me jour que Luther, c'est pour compenser faction pernicieuse du moine de Wittenberg, celui-ci menant en Europe tant d' ämes a la perdition, celui-la amenant dans le giron de PEglise les peuples Indiens». Auch Gewecke verweist hinsichtlich der Conquista auf «den Charakter eines missionarischen Unternehmens», in dem die «conquista militant von Beginn an mit der « conquista espirituah vereint war (Gewecke: «Calafia und die Eroberung der Neuen Welt», P- 164). ^° Zur Rivalität um die überseeischen Besitzungen der verschiedenen europaischen Nationen cf. Kellenbenz: «Neue und Alte Welt», vor allem pp. 3-34.

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faßte Edikt und der 1494 abgeschlossene Staatsvertrag von Tordesillas hatten den Grundstein für den spanischen und portugiesischen Anteil an der Neuen Welt und den alleinigen Rechtsanspruch dieser Länder darauf festgelegt.27 Für die französischen Kolonialinteressen bedeutete dieser status quo eine Beschränkung auf die noch nicht von Spanien und Portugal eroberten oder auch nur symbolisch in Besitz genommenen Gebiete Brasiliens und den Küstenbereich des nordamerikanischen Kontinents, der sich von Florida bis Neufundland und Labrador erstreckte. Doch war man weit davon entfernt, eindeutige Gebietszuweisungen zwischen den Okkupationsmächten geschaffen zu haben. Streitigkeiten und Kämpfe zwischen Portugiesen und Spaniern, die in nichts den blutigen und grausamen Kämpfen der Eroberer gegen die Indianer nachstanden, kennzeichneten die Eroberungszüge. Diese Auseinandersetzungen sind der eigentliche Interessenschwerpunkt der «littorature geographique» auch in Frankreich. Das Amerika-Interesse richtet sich im 16. Jahrhundert überwiegend auf die europäischen Konflikte, die in Amerika ausgetragen werden, und weniger auf den neuen Kontinent selbst. Die später so deutlich in den Vordergrund tretenden Themen der indianischen Kultur oder der amerikanischen Natur spielen in der romanischen Amerika-Literatur des 16. Jahrhunderts nur eine Nebenrolle, auch wenn die Forschung sich lange auf diesen Aspekt konzentriert hat. Das französische Amerika-Interesse erhält seine entscheidenden Impulse nicht durch den komplexen und langwierigen Vorgang der Entdeckung und Eroberung eines neuen Kontinents. In Spanien stellt die Kolonisation einen das gesamte politische, ökonomische und geistige Leben prägenden Prozeß dar: Dans l'Espagne au Stiele d'Or, le Nouveau Monde est rapidement intogro ä la conscience nationale et devient non seulement un theme litteraire, mais un facteur essentiel de prosperito et de fierti patriotique.28

Alexander VI. legte 1493 fest, daß alle Entdeckungen jenseits einer Meridianlinie von hundert Meilen westlich der Azoren und der Kapverdischen Inseln zum spanischen Herrschaftsbereich, die Gebiete östlich davon den Portugiesen gehörten. Der ein Jahr spater abgeschlossene spanischportugiesische Staatsvertrag von Tordesillas verlegte die Demarkationslinie auf 317 Seemeilen in den westlichen Atlantik, so daß den Portugiesen große Teile Brasiliens zufielen. Cf. Konetzke: Süd- und Mittelamerika I, pp. 30 sq.; cf. auch die Skizze von den Besitzgrenzen der Jahre 1493 und 1494 bei Konetzke: «Überseeische Entdeckungen und Eroberungen», p. 623. Die Demarkationslinie ist auch in Karten des 16. Jahrhunderts eingezeichnet (cf. etwa die Karte von Alberto Cantino, 1 502 in: Nebenzahl: Der Kolumbusatlas, pp. 34 sq.) oder - durch Markierung des jeweiligen Einflußbereiches mittels der Flaggen Portugals und Spaniens - angedeutet (cf. etwa die Karte von Sebastian Münster, 1546; in: ibid., p. 98). Eine detaillierte Beschreibung der Rolle der Päpste bei der Zuteilung Überseeischer Gebiete gibt Chaunu in den Unterkapiteln «Le recours pontifical» (Conquete et exploitation des nouveaux mondes, pp. 251-253) und «La bulle et le trait£» (ibid., pp. 253 sq.); cf. auch Pietschmann: «Die Kirche in Hispanoamerika», pp. 7-93. Einen sehr ausführlichen Überblick über den Vertrag von Tordesillas liefert Cortesao: Bros U (capftulo II.- El tratado de Tordesillas y el descubrimiento del Brasil), pp. 61-168. Cortesao berücksichtigt vor allem diplomatische Akten und Dokumente, die dem Vertrag vorausgegangen waren, sowie die geschichtliche Entwicklung des Vertrags. Broc: «Reflets amoricains dans la poesie de la Renaissance», p. 157. Auch Morales-Padroi konstatiert, daß die Neue Welt sehr früh beginne, «ä s'infiltrer et ä penetrer la vie de l'Espagne, ä devenir quelque chose de normal, de commun, du domaine de la nie» («L'Amorique dans la littorature espagnole», p. 279). Der Grund für diese Entwicklung in Spanien dürfte auch in den bereits seit dem 13. Jahrhundert gewonnenen kolonistischen Erfahrungen liegen: «les experiences espagnoles otaient uniques en Europe au point de vue colonial.» (Ballesteros-Gaibrois: «Apport des traditions indigenes», p. 1 16.)

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In Frankreich hingegen ist die Neue Welt bei weitem nicht in diesem Umfang im öffentlichen Bewußtsein präsent; die Beschäftigung mit Amerika konzentriert sich vielmehr auf konkrete politische Ereignisse, deren Ursprung in Europa zu suchen ist. Zu diesen Ereignissen gehören vor allem die Vorgänge in Florida. An der Geschichte Floridas läßt sich exemplarisch der enge Zusammenhang zwischen der Kolonisationsgeschichte Frankreichs und ihrer unmittelbar darauf einsetzenden literarischen Darstellung durch die Franzosen aufzeigen. Das schon 1513 von dem Spanier Juan Ponce de Leon entdeckte Florida rückte mit den französischen Koloniegründungen durch Jean Ribault (1562) und Reno Goulaine de Laudonniere (1564) und den bis 1568 anhaltenden fortwährenden Streitigkeiten zwischen französischen und spanischen Kolonisatoren in den Mittelpunkt des Interesses französischer Autoren. Tatsächlich bedeutete der spanisch-französische Konflikt um diese Region - der in der europäischen und Kolonialgeschichte nur eine episodische Bedeutung hat - in den Augen der französischen Zeitgenossen einen Höhepunkt in den innereuropäischen Streitigkeiten um die Kolonisationspolitik.29 Die Ereignisse um Florida gehören zu den Episoden in der Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte Amerikas, die in der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts den stärksten Nachhall gefunden haben und auf großes Interesse beim Publikum stießen. Florida war zwar von den Spaniern entdeckt, nicht aber besetzt worden; deshalb lag, zumindest nach französischer Ansicht, mit der französischen Kolonisierung kein Verstoß gegen den Vertrag von Cateau-Cambrosis vor.30 Spanien jedoch fürchtete um seinen Anteil an der Neuen Welt: 1565 metzelte der spanische adelantado und Flottenkommandant Menondez de Aviles auf Befehl Philipps . die 1564 von Laudonniare gegründete französische Hugenottenkolonie grausam nieder.31 Laudonniere gelang die Flucht vor den Spaniern und die Rückkehr nach Frankreich, Ribault, der im Namen Colignys nach Florida aufgebrochen war,32 fiel dem Massaker unter

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Zur Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte Floridas cf. Guenin: Premiers essais de colonisation. Les Franqais au Bresil et en Floride, II: Comment les Francais alleren! en Floride pp. 43-74 und III: Massacre des Francais et revanche du capitaine de Gourgues, pp. 75-100. Eine sehr aufschlußreiche Arbeit, die den Stellenwert der franzosischen Florida-Koloniegründung in der internationalen Politik untersucht und sich vor allem den politischen Konstellationen zwischen Frankreich, Spanien und England widmet, ist Jacquemin: «La Colonisation Protestante en Floride et la Politique Europeenne au XVIe siecle», pp. 181-208. Cf. weiter die FloridaDarstellung von La Ronciere, die allerdings stark nationalistisch gefärbt ist (La Ronciere: Histoire de la marin^ranyaise, vor allem «La Floride francaise», pp. 46-70). In diesen Ansprüchen bekunden sich auch erstmals grundlegende Probleme des Volkerrechts: Im Streit um die «libertö des mers» zeigt sich die anachronistische mittelalterliche Haltung der katholischen Könige, die das Meer für sich allein beanspruchen, und die moderne Haltung der französischen Könige, die den Meerzugang für alle Nationen proklamieren (Jacquemin: «La colonisation protestante en Floride», pp. 200 sq.). Cf. auch Kellenbenz: «Neue und Alte Weh», p. 8. Cf. zu den spanischen Ansprüchen in Florida Baud: History of the Huguenot Emigration to America, p. 71. Über die Zielsetzung von Ribaults Reise herrschen in der Forschung unterschiedliche Meinungen. Wahrend Gafrarel den Akzent auf den schlechten Ruf legt, den Laudonniere als Führer der Kolonie La Caroline gehabt haben soll und der Ribault - auf Befehl Colignys - veranlaßte, Laudonniere nach Frankreich zurückzurufen (Gafrarel: Histoire de la Floride francaise, pp. 148 sq.), sieht Julien in der Ankunft Ribaults und seiner Leute in Florida eine «voritable tentative coloniale», folglich nur eine Verstärkung des franzosisch-protestantischen Unternehmens (Julien: «Introduction: Les Francais en Floride», p. VII). 19

Menendez zum Opfer.33 Da die vom französischen König Charles IX geforderte Wiedergutmachung für die Greueltaten nicht erfolgte, unternahm Dominique de Gourgues34 im Jahre 1567, ohne Unterstützung von königlicher Seite, einen Gegenangriff gegen die Spanier, der erneut zu einem Blutbad führte.35 Bei diesen Auseinandersetzungen spielten also machtpolitische Interessen der Spanier ebenso eine Rolle wie konfessionelle Probleme. So war die Reaktion Philipps II. auf die Nachricht der Zerstörung des Fort Caroline, die er als «gerechte Strafe» für die «lutherischen Korsaren» interpretierte,36 auch Ausdruck seines dogmatischen Katholizismus.37 Die Ereignisse in Florida führen zu einem deutlich erkennbaren Anstieg von französischer Amerika-Literatur; sie haben auch einen erheblichen Einfluß auf die Darstellung der amerikanischen Ereignisse in europäischen Geschichtswerken gehabt. Das Massaker wurde bald danach in zwei zeitgenössischen französischen Berichten aus den Jahren 1566 und 1569 thematisiert und auch kritisiert, wie die Titel dieser Texte erkennen lassen:38 33

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Cf. Baird: History of the Huguenot Emigration to America, pp. 66 sq. Selbst Gaffarels Histoire de la Floride franqaise von 1875 zeigt noch eine eindeutige Parteilichkeit für die Franzosen und gegen die Spanier, die er größter Grausamkeit beschuldigt: «IIs [diefranzösischenKolonisten A. E.] devaient perir victimes de la cruautö et du fanatisme espagnols»; Gaffarel: Histoire de la Floride francaise, p. 140; zu den Grausamkeiten der Spanier gegenüber den Franzosen cf. ibid., p. 200, pp. 223 sq. Zu Gaffarels nationalistisch-einseitiger Schilderung der Vorfälle in Florida cf. ibid., Proface iv-vij, pp. 138 sq., p. 197. Zur Biographie de Gourgues' cf. ibid., pp. 263 sqq. Eine detaillierte Zusammenfassung des Ablaufs der französischen Kolonisationsbestrebungen in Florida gibt Julien: «Introduction: Les Francais en Floride», pp. V-VIII. Cf. zu de Gourgues' Angriff auf die Spanier auch Guönin: Premiers essais de colonisation. Les Frangais au Brasil et en Floride, pp. 75-100 (cap. Ill: Massacre des Francais et revanche du capitaine de Gourgues). Cf. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 35. Dies hinderte Philipp II. nicht daran, an anderer Stelle den Staatsinteressen vor der katholischen Religion den Vorrang zu geben. So wurde die Verbreitung der katholischen Schrift des Baronius, in der er den Machtanspruch des Papstes auf Sizilien rechtfertigte, in Spanien verboten, da sie den Interessen des Königs entgegenstand. Cf. dazu Menke-Glückert: Die Geschichtsschreibung der Reformation und Gegenreformation, pp. 101 sq. Cf. dazu etwa die folgenden Titel über Florida: Nicolas Le Challeux.D/SCOKÄS ET HISTOIRE DE CE QVl ESTADVENV EN LA FLORIDE, EN L'AN MILLEcinq cents soixante cinq: Redige au vray par ceux qui s'en sont retirez. ENSEMBLE la Requeste presentee au Roy en forme de complainte, par lesfemmes vefues, & enfans orphelins, parens & amis de ses suiets, qui ont este tuez en ladite Floride (1566); Urbain Chauveton, BRIEF DISCOVRS ET HISTOIRE D'VN voyage de quelques Franqois en la Floride: & du massacre autant iniustement que barbaremet executo sur eux, par les Hespagnols, [...] (1579) oder von einem anonymen Verfasser HARANGVE D'VN CACIQVE INDIEN, ENVOYEE AÜX Francois pour se garder de la Tyrannie de L'Espaignol (1596). Eine Ausnahme stellt der sachliche Florida-Bericht Jean Ribaults dar, eines Hugenotten, der 1562 als erster Franzose in Florida die Kolonie Charlesfort errichtete. Da es zu diesem Zeitpunkt in Florida noch zu keinen Auseinandersetzungen mit den Spaniern gekommen war, kann sich Ribault in seinem Bericht The whole and true discoverye of Terra Florida-N erschien 1563 zunächst in England, wohin Ribault geflohen war, und wurde dann ins Französische Übersetzt - ausschließlich der Beschreibung des Landes und der Bevölkerung Floridas zuwenden, wie bereits der französische Titel programmatisch ankündigt: «Contenant la nature et mceurs merveilleusement Stranges de ce peuple et les merveilleux trosors et commoditls de ce pays aussi bien que les plaisants ports, havres et routes (de cette controe) jamais encore decouverte avant Tanne« passed 1562». Cf. ferner insbesondere die zu Beginn des Berichts erneut geäußerte Zielsetzung, Land und Leute Floridas darstellen zu wollen (Ribault: La complete et

Les rocits du massacre avaient excito une profonde . La relation de Le Challeux, celle de Laudonniere, avaient produit une grande impression. Un auteur anonyme avait redigo une plainte Eloquente, que la presse du temps ropandit ä plusieurs milliers d'exemplaires, et qui eut dans le pays un immense et ligitime retenlissement?^

1579 erschien als Anhang der Histoire Nouvelle Chauvetons Brief Discours über das Massaker in Florida. In den folgenden Jahren wurden mit Laudonnieres (1586) und Jacques Le Moyne de Morgues' (1591) Texten weitere Reiseberichte publiziert,40 die von diesen Ereignissen erzählten. Die Informationen über die blutigen Kämpfe mit den Spaniern führten dazu, daß man in Frankreich Florida weit weniger Enthusiasmus entgegenbrachte als Brasilien.41 Diesen Tatbestand spiegelt ein Achtzeiler von Le Challeux wider, den er nach seiner Rückkehr aus Florida «en la ville de Dieppe, ayant faim» verfaßt und seiner Ausgabe voranstellt: Qui veut aller a la Floride/ Qu'il y aille j*y ay esteV Et revenu sec et aride/ Et abbatu de povreteV Pour tous biens j'en ay rapporteV Un beau baston blanc en ma main/ Mais je suis sain, non degouste":/ Cä a manger je meurs de faim.42

Das zweite zentrale Ereignis, das die Herausbildung des französischen Amerika-Interesses entscheidend beeinflußt hat, geht auf innerfranzösische und zugleich konfessionelle Streitigkeiten zurück. Es handelt sich um die 1555 von Nicolas Durand de Villegagnon unternommene Koloniegründung in Brasilien. Villegagnon hatte mit einer Gruppe katholischer und calvinistischer Siedler die kleine Kolonie Fort Coligny in Brasilien errichtet.43 Ihm gelang es aber nicht, die heftigen, konfessionell motivierten inneren Streitigkeiten einzudämmen; vielmehr verschärften sich diese Probleme zusehends, da Villegagnon seine eigenen religiösen Auffassungen gewaltsam in der Kolonie durchsetzen wollte, statt sich auf die Rolle eines Administrators zu beschränken.44 Dir Ende fand die Kolonie - Villegagnon war schon 1559 mit einem Teil seiner Männer nach Frankreich zurückgekehrt - schließlich durch den Portugiesen Mem de Sä, einen Freund der jesuitischen Missionierung. Die Koloniegründung veridique dacouverte de la Terra Florida, p. 2). Bei dem von mir herangezogenen Text handelt es sich um die französische Übersetzung mit dem Titel La complete et veridique decouverte de la Terra Florida. In Anlehnung an Le Challeux' Text publizierte Chauveton 1569 separat seinen Brief discours, der zehn Jahre später als Anhang zu seiner Übersetzung Benzonis erneut veröffentlicht wurde. (Ob die separate Erstveröffentlichung und dieser Anhang identisch sind, konnte nicht überprüft werden; die Angaben zur Erstveröffentlichung als Separatdruck stützen sich auf Cioranesco: Bibliographie de la litteraturefrarqaise, p. 205.) 39 Gaffarel: Histoire de la Floride franfaise, p. 243. Der Titel des anonymen Werks lautet: Requeste presentee au roy Charles neufiesme, en forme de complaincfe, par lesfemmes vefves et enfans orphelins, parens et amis de ses subiects, quifurent tues audict pays de Floride (ibid., p. 243). 40 Die Florida-Bilder des Malers Jacques Le Moyne de Morgues kaufte de Bry nach dessen Tod 1588 auf, um sie in seine Grands voyages zu integrieren (cf. dazu Duchet: «Les 'Grands voyages' de Theodore de Bry et les planches de J. Le Moyne de Morgues», pp. 86 sq.). Der Titel des in lateinischer Sprache erschienenen Werkes von Le Moyne de Morgues findet sich zitiert bei Cioranesco: Bibliographie de la littaraturefranfaise, p. 431. 4 ' Cf. Broc: «Reflets amoricains dans la poesie de la Renaissance», p. 154. 42 Le Challeux: Discours de l'histoire de la Floride, p. 205. 43 Das Fort wurde nach Coligny benannt, da Villegagnon nur mit Unterstützung Colignys die Erlaubnis des Königs für diese Brasilienexpedition erwirken konnte. 44 Cf. Gaffarel: Histoire du Bresil franqais au seizieme siede, p. 177. Das Scheitern dieser Kolonie ging aber auch auf Villegagnon selbst zurück, der seinen Männern zu große Disziplin abverlangte und sich selbst auch schlecht integrieren konnte (cf. etwa ibid., pp. 206 sq.). 21

Villegagnons in Brasilien war in der zeitgenössischen Literatur heftig umstritten; sie fand großen Widerhall in der Literatur, da hier die konfessionellen Streitigkeiten ein besonders großes Ausmaß angenommen hatten und unmittelbar zurückbezogen werden konnten auf die gleichzeitig in Frankreich stattfindenden Religionskämpfe.45 Diese Vorgänge um die Koloniegründung haben eine ganze Anzahl von Streitschriften und Darstellungen zur Folge gehabt, zu denen auch Lorys berühmt gewordene Histoire d'un voyage gehört. Diese beiden — welthistorisch gesehen belanglos gebliebenen — Episoden sind die Kristallisationspunkte, auf die sich das französische Amerika-Interesse konzentriert, auch wenn natürlich daneben Texte entstanden sind, die sich nicht unmittelbar darauf bezogen haben. In ihnen konkretisieren sich die politischen und teilweise auch militärischen Kämpfe zwischen den kolonisierenden Nationen, ihre materiellen Interessen und schließlich die religiösen Rechtfertigungsversuche und Auseinandersetzungen. Diese Faktoren bilden gemeinsam das oft nicht klar zu unterscheidende Motivgeflecht, auf das sich die Texte der französischen Amerika-Literatur des 16. Jahrhunderts beziehen. Sie prägen die Vorstellungen über die Neue Welt und ihre Darstellung zumindest im ebenso starken Maße wie die unmittelbare Erfahrung der Autoren oder authentische Berichte anderer.

2. Homogenität und Differenz: Die Beschreibung Amerikas als theoretisches Problem Die «littörature geographique» in Frankreich und überhaupt in Westeuropa ist einerseits eine unmittelbare Reaktion auf die historischen Ereignisse bei der Kolonisation Amerikas; sie begreift Amerika insofern nur als eine Fortsetzung Europas und der europäischen Probleme. Andererseits sieht sie sich aber auch mit der Frage nach der Eigenständigkeit des neuen Kontinents konfrontiert. Auch wenn dieses Problem lange Zeit nicht im Zentrum der europäischen Diskussion über Amerika gestanden hat, so stellte sich den Geographen und Universalhistorikern doch die grundsätzliche Frage, in welchem Verhältnis der «Neue» Kontinent zur «Alten» Welt steht. Das Wissen von der Neuen Welt, das wegen der meist eurozentrisch orientierten Interessenlage der Autoren oft nur beiläufig in die Texte eingegangen ist, mußte in den KaWie umstritten Villegagnon selbst und seine Koloniegrtlndung bei den Autoren des 16. Jahrhunderts waren, verdeutlichen schon die bei Cioranesco unter der Oberschrift «Polömique sur le Bre"sil» aufgeführten Titel, wie etwa Pierre Richers La refutation des folles resveries, exacrables blasphemes, erreurs et mensonges de N. Durand, qui se nomme Villegaignon(l562) oder das anonym erschienene Werk mit dem Titel Le leurre de N. Durant dit Villegaignon (cf. Cioranesco: Bibliographie de la litferature franyaise, p. 686). Gaffarel listet ebenfalls die gegen Villegagnon gerichteten Pamphlete, von denen nur mehr die Titel bekannt sind, auf: «Toute une bibliotheque de pamphlets, plus satiriques, plus violents et plus orduriers les uns que les autres, fiit lancde centre lui» (Villegagnon - A. E.); dabei hat er folgendes Ziel im Auge: «Ils moritent d'ötre reproduits, car ils donnent une ide"e de la vivacite" de la polomique engagde» (Gaffarel: Histoire du Brasil fran^ais au seizieme siede, p. 325). Cf. femer Atkinson: Les nouveaux horizons, pp. 120 sq. Neben der Kritik an Villegagnons Koloniegründungsversuch verweist Atkinson auch auf dessen problematischen Charakter: «une personnaliti instable et fougueuse» (ibid., p. 121). Gaffarel charakterisiert Villegagnon gar als «tyran impörieux, cruel et injuste de la colonie» (Gaffarel: Histoire du Brlsil franyais au seizieme siede, p. 282). Zur Biographie Villegagnons cf. femer Maimbourg: Histoire du CaMnisme, vol. l, pp. 151 sq.

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non des tradierten Wissens integriert werden. Der in Frankreich wirkende italienische Jesuit Antonio Possevino hat als einer der wichtigsten Geographen des 16. Jahrhunderts dieses Problem konstatiert, als er die Notwendigkeit hervorhob, die Vorstellungen der klassischen Welt mit den neuen geographischen Erfahrungen in Einklang zu bringen.46 Insbesondere die Autoren von universalhistorischen Darstellungen sahen sich vor dem Problem, die Erfahrungen der «Alten» mit denen der «Neuen» Welt zu verbinden; damit stehen sie vor einer Aufgabe, die sich den Autoren von Reiseberichten, denen in der Regel die universalhistorische und -geographische Perspektive fehlte, nicht in dieser Weise gestellt hat. Die verschiedenen universalhistorischen Darstellungen des 16. Jahrhunderts in Frankreich haben dafür noch keine einheitliche Antwort gefunden. Die Frage, welche Phänomene der neu entdeckten Welt in den Geschichtswerken überhaupt einen Platz finden konnten, wird ebenso unterschiedlich gelöst wie das Problem, welche qualitative und quantitative Rolle die Darstellung der Neuen Welt mit ihrer Entdeckungsund Eroberungsgeschichte im Kontext der Universalgeschichte zugestanden wird. Die unterschiedlichen Antworten auf diese grundlegenden Probleme des Geographie- und Geschichtsverständnisses, wie sie mit der Entdeckung und langsamen Erschließung der Neuen Welt aufgeworfen wurden, lassen sich den wichtigsten historisch-geographischen Darstellungen aus dem Frankreich des späten 16. Jahrhunderts entnehmen. Es handelt sich um Belleforests Histoire universelle du monde (1572), Benzonis Historia del Mondo Nuovo (1565) in der überarbeiteten Übersetzung von Chauvetons Histoire nouvelle du Nouveau Monde (1579) und Gomaras Histoire generale (1587). Diese Texte ragen unter der «litterature geographique» der Zeit durch ihren universalen Anspruch heraus. Während der weitaus größte Teil der Amerika-Literatur des 16. Jahrhunderts nur partielle und oft auch aktuelle Interessen verfolgt, sehen diese vier Autoren den amerikanischen Kontinent unter einer kosmographischen Perspektive. Am konsequentesten wird diese Perspektive von Belieferest mit seinem Versuch einer Universalgeschichte durchgeführt. Sein ehrgeiziges Programm bringt entsprechend große Herausforderungen mit sich. Es stellt ihn nicht nur vor die pragmatischen Probleme der Materialbeschaffung und -Verarbeitung, sondern er muß auch die theoretische Frage diskutieren, in welchem Verhältnis die neue «vierte» Welt zu den drei bereits seit langem bekannten Welten steht. Diese Problematik veranlaßt ihn zu grundsätzlichen Reflexionen, die für das gesamte Amerika-Verständnis der Zeit nicht ohne Bedeutung sind. Belieferest geht von einer einheitlichen Welt aus, die rund und allgemein bewohnbar sei.47 Seine Universalgeschichte enthält gemäß der Titelei - dies ist für die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts nicht selbstverständlich - «L'entiere Description & situation des quatres parties de la terre, la diuisiö & estendue d'vne chacune Region & Prouince d'icelles.»48 Bereits mit diesem programmatischen Titel 46

Cf. Dainville: Lageographie des humanistes, p. S3. Cf. Belieferest: Histoire universelle du monde, p. 253. 4 * Die Berücksichtigung des vierten Erdteils «Amerika» nimmt erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu. Während Boemus in seiner Geschichtssammlung (1539) und Signot in seiner geographischen Darstellung der Welt (1539) sich auf die drei längst bekannten Kontinente Europa, Afrika und Asien beschränken, beziehen Autoren wie Du Pinet in seiner Länderbeschreibung (1564) oder Apian in seiner Kosmographie (1581) den neu entdeckten Kontinent «Amerika» in 47

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verweist Belieferest auf die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer Integration des neu entdeckten Kontinents in das bisher vorherrschende traditionelle Weltbild. Im Titel seines Werkes läßt Belieferest noch kein besonderes Interesse an dem neuen Kontinent erkennen, sondern stellt die universalen Aspekte in den Vordergrund. Er schenkt gleichermaßen seine Aufmerksamkeit allen vier Kontinenten, wobei er jedem Kontinent ein Buch seiner Histoire widmet. Dabei verfolgt er eine klare Konzeption: «Ensemble origine & particulieres mceurs, loix, coustumes, religion, & ceremonies de toutes les nations, & peuples par qui elles sont habitees.» (Titel) Die besondere Bedeutung, die Belieferest dem Amerika-Teil zumißt, wird bereits deutlich durch die größere Seitenzahl dieses vierten Buches, das auf die Darstellungen Afrikas, Asiens und Europas folgt und durch ein der «Qvatriesme Partie dv Monde» vorangestelltes eigenes Vorwort herausgehoben wird. Belieferest verfolgt in seinem Text ein doppeltes Programm: Einerseits will er die grundsätzliche Einheit der Welt, zu der auch der vierte Erdteil gehört, hervorheben; zum anderen geht es ihm aber auch darum, die Besonderheiten eines jeden Erdteils deutlich werden zu lassen. Er löst den in seiner «Preface» erneut formulierten Anspruch auf eine differenzierte Darstellung von «moeurs, facons, loix, coustumes, & relligion de presque toutes les nations qui sont sur la terre» in seinem Text auch ein.49 Nach Belieferest unterscheiden sich die Menschen sowohl von Kontinent zu Kontinent50 als auch innerhalb eines einzelnen Kontinents beträchtlich: «que les peuples aussi y sont d'vne facon de vie toute diuerse au reste des hommes qui habitent ez autres parties de la terre.»51 Die Verschiedenheit der Menschen beschränkt sich dabei nicht nur auf Sitten oder Äußerlichkeiten, sondern umfaßt selbst Stimmungen und Neigungen: «que aussi les hommes ont des humeurs & inclinations en vne terre, qu'ils n'auröt point en vne autre.»52 Belieferest steigert - zumindest theoretisch - diesen Differenzierungsprozeß von Buch zu Buch. Die generell gehaltene Überschrift des ersten Buches «Description de l'Afirique, Livre Premier. De l'Origine & creation de seien la vraye opinion des Theologiens» erfaßt den Menschen allgemein, der Titel des zweiten Buches weist hingegen auf eine größere

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ihre Beschreibungen mit ein. Zu den Titeln dieser Werke cf. Atkinson: La littarature g ographique, Nr. 55 (p. 57), 56 (p. 58), 141 (p. 123) und 283 (pp. 225 sq.). Cf. dazu auch Febvre:Le Probleme de l'incroyance au 16e siede, p. 356. Zur Integration des vierten Erdteils in Kosmographien und allegorischen Darstellungen des 16. Jahrhunderts cf. auch: L'Amerique vne par {'Europe, pp. 89-98 (cap. 6: La quatrieme partie du monde). Die Auffassung, die Neue Welt sei nur «un prolongement de 1'ancien» (Broc: «Reflets amoricains dans la poe~sie de la Renaissance», p. 151) herrschte vor allem in der Kartographie lange Zeit vor. Dazu Die Neuen Welten in alten Büchern, p. 39. Bis weit ins 16. Jahrhundert hinein wurde Amerika nicht als vierter und eigenständiger Kontinent, sondern als Teil Asiens dargestellt. So betont Nebenzahl bei der Beschreibung der Karte Sebastian Münsters von 1546: «Eine wesentliche Verbesserung gegenüber älteren veröffentlichten Karten stellt die Tatsache dar, daß Nord- und Südamerika als eigene, von der Alten Welt getrennte Kontinente wiedergegeben sind. Immerhin verbanden so hervorragende Kartographen wie Giacomo Gastaldi und die italienische Schule noch 25 Jahre lang Amerika mit Asien.» (Nebenzahl: Der Kolumbusatlas, p. 98.) Jedoch gibt es eine erste Darstellung Amerikas «sous la forme d'un veritable continent entoure par des oceans», die bereits in Dokumenten von 1507 erscheint (cf. Ronsin: «Naissance et baptßme d'un continent. La representation et la dinomination du continent americain dans les documents imprimis ä Saint-Dio en 1507», p. 16). Belieferest: Histoire universelle, *iij v.

Cf. ibid., ij v. Ibid., xxj v. Ibid.,ijv.

Spezifizierung hin: «Livre second. De l'Asie, et Pevples Plus reNommez contenuz icelle». Ein noch detaillierteres Vorgehen bei seiner Beschreibung beabsichtigt Belieferest bei der Darstellung Europas und der Europäer: «Description d'Europe troisieme partie dv monde, et des nations, pevples et provinces plus memorables d'icelle Livre troisiesme.»53 Die größte Differenzierung aller entdeckten Länder und Provinzen nach Sitten und Lebensweise kündigt Belieferest für seine Darstellung des vierten Kontinents, nämlich Amerika, an: «Description de la Quatriesme Partie dv Monde, contenant les pays & Prouinces descouuertes en Occident, & Septetrion de nostre temps, auec les moeurs, & facons de vivre des peuples, selö la diversite de leurs superstitions & coustumes.»54 Tatsächlich wird dieser Anspruch Belleforests, Völker und Stämme Amerikas differenziert zu behandeln, vordergründig eingelöst. Belieferest unterscheidet etwa die Indianer Perus von denen Mexikos, dennoch gelangt er zu stark einseitigen Darstellungen und Schlußfolgerungen, mit denen er den Vorurteilen seiner Zeit folgt. Die Absicht Belleforests, bei der Beschreibung Amerikas und seiner Bevölkerung «selö la diversite de leurs superstitions & coustumes»55 vorzugehen, wird durch die Verwendung des negativ besetzten Begriffs «superstitions» in Frage gestellt und verrät seine von eurozentrischen Vorstellungen voreingenommene Betrachtungsweise. Trotz dieser zeittypischen Eigenarten in der Beurteilung der fremden Kulturen des vierten Erdteils ist Belleforests Text insofern von zentraler Bedeutung, als er das grundlegende Problem der Einheit der Welt aufgreift, das schon einmal im unmittelbaren Gefolge von Columbus' Entdeckungsfahrten diskutiert worden war. Was aber zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine eher theoretische und manchmal theologische Fragestellung gewesen war, gewinnt jetzt unmittelbar praktische Bedeutung: denn jetzt stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die indianischen Kulturen zu den europäischen stehen, und ob es sich hier um eine grundsätzliche Andersartigkeit handelt oder nur um Variationen innerhalb eines einheitlichen Menschengeschlechts. Belieferest scheint der letzteren Auffassung zuzuneigen, da er Vergleiche über Unterschiede und Gemeinsamkeiten aller Regionen und Völker der Welt anstellt; diese Auffassung hindert ihn aber nicht, zu einer insgesamt abschätzigen Beurteilung der indianischen Kultur zu kommen. Zwar verweist Belieferest mit dem Titel seiner Histoire universelle du monde auf seine Absicht, die in verschiedenen Ländern und Kontinenten lebenden Völker nach ihren Bräuchen und Sitten zu unterscheiden. Seine Ausführungen zeigen jedoch immer wieder - wenn auch wahrscheinlich unbewußte und ungewollte - Vereinheitlichungstendenzen bei der Darstellung der Indianerstämme, die er seinem theoretischen Postulat zufolge eigentlich differenzieren wollte. Erst vor dem Hintergrund dieser Homogenisierung im Sinne einer überwiegend abwertenden Darstellung der Indianer kommt Belieferest zu der Verwendung asymmetrischer Strukturen, wie er sie im «Quatriesme Livre» seiner Histoire universelle bei der Beschreibung der In53

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Ibid., p. 77. Tatsächlich beschreibt Belieferest nahezu alle Länder und Bewohner Europas: Griechen inklusiv Athener, Skandinavier, Lappland, Rußland, Preußen, Ungarn, Böhmen, Deutschland. Diese Kapitelüberschrift findet sich bei Belieferest: Histoire universelle, p. 253. Ibid. 25

dianerkulturen verwendet. Der pejorative Begriff «barbare» dient stets der Abgrenzung, gleichgültig ob er ohne positiven Gegenbegriff- «les moeurs des Barbares les plus farroches»56 - bleibt oder mit einem antithetischen Begriff, etwa dem der «chrestiens» verknüpft ist.57 In beiden Fällen existiert ein indirektes oder direktes fremdes Gegenüber, das die Abgrenzung ermöglicht. Der Begriff des «Barbaren» entsteht nicht erst mit der Entdeckung Amerikas und seiner «Wilden», sondern er hat seine Ursprünge bereits in der Antike. Das Weltbild von der Antike bis ins späte Mittelalter war von einem strengen Dualismus geprägt, der auf gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Oppositionen beruhte und starr an der Trennung «Eigenes» - «Fremdes» festhielt. Koselleck zeigt in seiner Untersuchung über die «historisch-politische Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe», wie sich diese dualistische Wirklichkeitsauffassung auch begriffsgeschichtlich widerspiegelt, da die geschichtliche Welt von jeher in asymmetrischen Gegenbegriffen, etwa «Hellenen» - «Barbaren» oder «Christen» - «Heiden» gefaßt wurde.58 Diese Gegensatzpaare sind jedoch abhängig von der grundlegenden Voraussetzung einer «Gesamtheit aller Menschen»: «Insofern war die Menschheit, das genus humaman, eine Voraussetzung für alle Dualismen, die die Menschheit physisch, räumlich, geistig, theologisch oder temporal gegliedert hatten.»59 Das antithetische Begriffspaar «Hellenen» und «Barbaren» bezeichnet zunächst räumlich getrennte Gruppen, nämlich «Griechen» und «Nichtgriechen». Doch «der Territorialisierung der Begriffe folgte ihre Spiritualisierung»,60 so daß die Kategorien «Hellene» - «Barbar» nunmehr mit den Gegensätzen «gebildet» - «ungebildet» ausgetauscht werden können. Die christliche Antike führt schließlich zu einer Radikalisierung und Temporalisierung und ersetzt so weitgehend das alte Gegensatzpaar «Hellene» - «Barbar» durch das neue antithetische Paar «Christ» - «Heide», wenn auch der alte Begriff «Barbar», jetzt an der «Christianitas» gemessen, für «Nichtchrist» stehen kann. Dieses neu entstandene asymmetrische Begriffspaar «Christ» - «Barbar» findet sich vor allem in Reiseberichten und Geschichtswerken über die Neue Welt, so etwa bei Belieferest, da der Begriff «barbare» besser als der Begriff «Heide» die Realität des ungetauften und zugleich kulturlosen Indianers verkörpert. Diese bis ins ausgehende Mittelalter praktizierte Ausrichtung an der «christianitas», die vor allem ein Großteil der Missionare noch bis mindestens ins 16. Jahrhundert hinein beibehielt, verwandelte schließlich die bislang nur religiösen Kategorien «gläubig» - «ungläubig» in die allgemein moralische «gut»- «böse».61 Von der asymmetrischen Struktur löst sich das Denken auch dann nicht, wenn es die Wertungen umkehrt, wie es im Mythos vom bon sauvage geschieht. Eine Um56

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Ibid., p. **i. Auch die kanadischen Indianer versieht Belieferest mit dem Begriff «barbares», ohne sie direkt den «Zivilisierten» entgegenzustellen (ibid., p. 261 v). Cf. ibid., p. *iij. Cf. Koselleck: «Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe», p. 213. Zum Gegensatzpaar Christ - Heide und seinem Wandel cf. Naumann: «Der wilde und der edle Heide», pp. 80-101. Koselleck: «Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe», p. 244. Ibid., p. 217. Cf. dazu Crouzet, der den Wandel des Begriffs «barbare» - der zunächst als Synonym zu «infidele» steht - bis hin zu einer «primautd du moral dans la conceptualisation de la barbaric» nach 1560 an zahlreichen Textbelegen aufzeigt (Crouzet: «Sur le concept de barbarie auXVIe siecle», p. 108).

wertung der Gegensatzpaare, nämlich der «Barbar» «als positive Gegenfigur zur kultivierten Bildung und ihren Folgen»,62 behält die asymmetrischen Strukturen nicht nur begrifflich, sondern auch im Weltbild bei. Die antithetische Struktur wird schließlich auch dann beibehalten, wenn nur der Begriff des «barbare» auftritt, ohne daß der Gegenbegriff ausdrücklich benannt würde: En effet, affirmer que les barbares sont cruels et inhumains, c'est considorer implicitement que les chrotiens sont humains [...]. Egalement dire que les barbares sont incivils, qu'ils ne savent pas distinguer le vice du bien, c'est marquer que l'on est soi-meme civil et que fait la distinction entre le vice et le bien."'

Begriffliche Asymmetrien dieser Art stellen den Autoren des 16. Jahrhunderts ein terminologisches und gedankliches Instrument zur Abgrenzung der Neuen Welt und ihrer Bewohner zur Verfügung. Sie erlauben die Herausstellung und Ausgrenzung des «Fremden», gleichgültig ob es positiv oder negativ charakterisiert wird, als des Anderen. Daß die Bezeichnung «barbare» nicht unbedingt eindeutig abwertend gemeint sein muß, zeigt Chauvetons Begriffszusammensetzung «pouures Barbares».64 Chauveton spricht auch den als «barbarisch» bezeichneten Indianern unter Rückgriff auf Columbus ausdrücklich positive Eigenschaften wie «innocence & la simplicitoe» zu.65 Bei Belieferest allerdings ist der Begriff des «barbare» nicht eindeutig in diesem Sinne gebraucht. Denn er verwendet ihn nicht nur im «Quatriesme livre» für die Abgrenzung der Zivilisierten von den «wilden» Indianern, sondern auch in seinem Buch über Europa. Hier dient ihm die Umwertung des pejorativen Begriffs dazu, die Bewohner der Hauptstadt Frankreichs von der französischen Provinz abzusetzen. Indem Belieferest die Pariser zum Maßstab erklärt, grenzt er sie von dem restlichen Frankreich ab: le ne scay ce que d'autres trouuent de Barbare en ce Peuple, mais quäd ä moy ie le peux confesser le plus courtois, affable, bening, & prest ä faire plaisir £j ie veis onques.66

Die Verwendung des «Barbaren»-Begriffs auch für innereuropäische Differenzierung ist einerseits untypisch, sie zeigt aber andererseits, daß für Belieferest die Eindeutigkeit eines dualistischen Weltbildes verlorengegangen ist. Er unterscheidet nicht nur einfach zwischen eigener «alten> und fremder «neuer» Welt, sondern er sieht, daß die Wirklichkeit insgesamt eine differenzierte Beschreibung erfordert. Auch wenn er diese Einsicht in der Durchführung seines Werks nicht immer einzulösen vermag und sich noch häufig die tradierten asymmetrischen Schemata finden, so ist es ihm doch gelungen, den vierten, neu entdeckten Erdteil in sein Werk zu integrieren, indem er ihn gleichberechtigt neben die «alten» Kontinente Afrika, Asien und Europa stellt. Seine Absicht, die Welt in vier, und nicht länger in drei Kontinente zu untergliedern,67 drückt Belieferest in dem ausdrücklichen Verweis auf die methodische Un62

Koselleck: «Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe», p. 225. ^ Crouzet: «Sur le concept de barbarie au XVr3 siecle», p. 103. 64 Chauveton: Histoire nouvelle («discours»), p. 256. " Ibid. («discours»), p. 65. 66 Belleforest: Histoire universelle, p. 187. 67 Die Annahme des vierten Erdteils war auch nach der Entdeckung Amerikas keineswegs selbstverständlich, sondern erforderte eine theoretische Leistung. Columbus etwa hatte Amerika als den vierten Erdteil immer negiert, andere Reisende und Autoren glaubten an die Wanderungstheorie, die besagte, daß auf dem neu entdeckten Kontinent sich die alten bekannten Völker niedergelassen hätten. Auch in der Kartographie war die Darstellung des vierten Kontinents keine Selbstver6

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zulänglichkeit einer Dreiteilung der Welt aus.68 Damit trag Belieferest zu der die Neuzeit konstituierenden Entwicklung bei, «in der sich die Kategorien der Wirklichkeitsauffassung von solchen der dualistischen Dichotomisierung des Weltbildes zu solchen der Homogenisierung der Wirklichkeit wandern.»69 Während Belleforests Histoire universelle du monde als Universalgeschichte angelegt ist und Amerika entsprechend nur als einen Kontinent unter anderen behandelt, beschränkt Chauveton in seiner Histoire nouvelle seine Darstellung wie Benzoni auf die «Indes Occidentals» und einen anschließenden «discours» über die Kanarischen Inseln. Ähnlich widmet auch Gomara seine Histoire generate den «Indes Occidental es». Jedoch verweisen die vollständigen Titel der Histoires Chauvetons und Gomaras schon auf eine Spezialisierung ihrer Darstellungen, die den globalen Blick auf die Neue Welt differenziert und deren Besonderheiten immer detaillierter berücksichtigt. Bei Gomara folgt von der fünften Edition an «une description de la nouvelle Espagne, & de la grande ville de Mexique, autrement nommee, Tenuctilan».70 Chauveton läßt seiner Übersetzung Benzonis einen Bericht über die Ereignisse in Florida folgen und bekundet damit eine Konzentration seines Interesses auf diesen Teil der Neuen Welt.71 Bewußt stellt er sich aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse gegen die Vorstellung einer Vielzahl von Welten, wie sie die Antike noch glaubte und wie sie bei der europäischen Rezeption der Amerika-Entdeckung noch einmal in modifizierter Gestalt aufgegriffen wurde, wenn über die Dualität der «Alten» und der «Neuen» Welt diskutiert wurde.72 Gomara geht noch einen Schritt weiter, wenn er die Welt nicht nur als Einheit begreift, sondern auch darüber reflektiert, wie eine solche Auffassung möglich ist.73 Denn die Einheit der Welt mußte nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch methodisch-praktisch umgesetzt werden können; diese Prämisse führt zum «Zwang, die Gegenstände der fremden Welt als Teil der eigenen Welt zu begreifen und sie ihr einzuordnen.»74 Gomara verweist hierzu auf ein Hilfsmittel, das in den nächsten Jahrständlichkeit; cf. Ronsin: «Naissance et bapteme d'un continent), p. 16; Dreyer-Eimbcke: «Mythisches, Irrtümliches und Merkwürdiges im Kartenbild», pp. 121-123; Schmid: «Der weiße Fleck auf der Landkarte», vor allem pp. 264-267. 68 Cf. Belieferest: Histoire universelle, p. 253. Bei dieser offensichtlich recht problemlosen Integration des «vierten Erdteils» in das Weltbild hat vielleicht auch ein zeittypisches, auf die Vierzahl bezogenes Symmetriebedürfhis eine unterstutzende Rolle gespielt (cf. Alewyn:Das große Welttheater, pp. 23 sq.). 69 Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», p. 19. 7 ^ Erst die 1584 von Martin Fumie verfaßte französische Übersetzung der Histoire generale enthält erstmals den Anhang über Mexiko. 71 Während Atkinson hinsichtlich des Brief Discours ganz selbstverständlich von der Autorschaft Chauvetons ausgeht, (Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 208, p. 210) zieht Chinard diese in Zweifel. Zwar soll der erste Teil ausschließlich von Chauveton selbst stammen, den zweiten Teil charakterisiert Chinard jedoch als eine «reproduction de la narration de Le Challeux» (Chinard: L'exotisme americain dans la litteraturefranyaise auXVP siede, p. 164). 7 ^ O'Gormann hat die langsame Herausbildung der Einsicht, daß es sich bei Amerika tatsächlich um eine «neue» Welt handelt, detailliert dokumentiert und auf ihre geographischen und philosophischen Voraussetzungen bezogen; danach ist Amerika eine «Erfindung» des westlichen Denkens und nicht so sehr ein Resultat der physischen Entdeckung (cf. O'Gormann: The Invention of America, p. 4). 73 Cf. Gomara: Histoire generate, p. l v, p. 2. 74 Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», p. 30. 28

Hunderten eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der neuzeitlichen Weltauffassung erhalten sollte: auf die Zahl, mit deren Hilfe eine vereinheitlichende Quantifizierung der Wirklichkeit erreicht wird. Der Wunsch nach einer Vereinheitlichung der Welt wird in Gomaras Bemühungen deutlich, die Wirklichkeit messend und wägend, also mit den Verfahren der Mathematik zu erfassen. Auch wenn er noch weit entfernt ist von der Anwendung statistischer Methoden, spielt die Reflexion über die quantifizierende Erfassung der Wirklichkeit eine gewisse Rolle. Er reflektiert über die Größe der Erde oder sieht eine seiner primären Pflichten in der Einführung der den Indianern fehlenden «choses necessaires», nämlich «conte», «pois» und «mesures».75 Die angestrebte Quantifizierung der Wirklichkeit ist der Weg, den die Neuzeit weiterhin gehen wird. Sie entzieht sich dem «Erfahrungsdruck» nicht nur durch die Entwicklung immer detaillierterer Systematiken zur Verarbeitung des Wissens;76 noch wichtiger ist das Verfahren, das es erlaubt, die Wirklichkeit nicht mehr in ihrer materiellen Vielfalt, sondern nur noch in ihrer Zunickführung auf einige abstrakte Prinzipien wahrzunehmen.77 Diese Konzeption deutet sich in Gomaras Forderungen nach einer Quantifizierung vage an; sie bleibt aber bei ihm nur programmatisch. In seiner eigenen Darstellung gelingt es ihm nicht, das von ihm geforderte Prinzip der Quantifizierung wirklich zu realisieren, wozu ihm freilich auch alle Voraussetzungen gefehlt hätten.78 Tatsächlich folgt seine Darstellung keinem erkennbaren Prinzip, sie zersplittert sich in einer Fülle von Details aus Quellen und Reiseberichten. Seine Schilderung der Sitten, Bräuche oder landschaftlichen Besonderheiten läßt keine ordnende Darstellung oder Katalogisierung erkennen. Die Eindrücke sind willkürlich aneinandergereiht. Das wird besonders deutlich in der seinem Werk eingefügten Liste mit wahllos kumulierten Angaben über 28 in Peru vorhandene oder 14 nicht vorhandene Dinge.79

3. Neue Welt und neuzeitliches Denken Gomara gehört zu den wenigen Autoren der Zeit, die sich nicht nur auf eine Verteidigung der kolonialpolitischen Interessen beschränkten - auch wenn dieser Aspekt in seinem Werk deutlich dominiert -, sondern die auch gelegentlich über die Bedingungen reflektiert haben, denen die Wahrnehmung einer fremden Kultur ebenso wie ihre Darstellung in historisch-geographischen Werken unterliegt. Aus Gomaras entsprechenden Reflexionen läßt sich so, noch vor jeder Erörterung des sachlichen Gehalts seiner Darstellung, deutlich machen, in welchem Umfang bereits die Innovationen des neuzeitlichen Denkens auf die europäische Erfahrung Amerikas eingewirkt haben. 7

^ Gomara: Histoire generate, p. 188 v. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, pp. 16 sq.; Stagl: «Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert», pp. 146 sq. 77 Cf. Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», pp. 30-35. 78 Alexander von Humboldt ist einer der ersten, der sich systematisch um eine quantitative Erfassung der Wirklichkeit bemühen wird (cf. Brenner: «Gefühl und Sachlichkeit», vor allem pp. 141145). Zum Problem der Statistik und überhaupt der Zahlenangaben im Reisebericht auch Brenner: Reisen in die Neue Welt, pp. 291 sq. 79 Cf. Gomara: Histoire generate, p. 438 v., p. 443a. 76

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In seinem «Prologue de l'auteur» der Histoire generate des Indes greift Gomara ein Grundmotiv dieses Denkens auf, wenn er über die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Neugierde reflektiert. Seine Ausführungen lesen sich zunächst wie ein Plädoyer für die menschliche Wißbegierde und die intellektuelle Gleichheit der Menschen: «Car le dosir S9auoir est vne chose naturelle ä vn chacun.»80 Doch schon auf der nächsten Seite deutet sich an, daß Gott die Erkenntnisfähigkeit ungleich verteilt hat: Ceux qui habitent la terre peuuent cognoistre ce qui est en icelle. Puis done que Dieu a mis le monde entre nous pour en pouuoir disputer & nous a faits capables de pouuoir le comprendre, & nous a donne* vne inclination volontaire, & naturelle pour S9avoir, ne perdonc point noz priuilegues, & les graces qu'il nous a faictes.8'

Mit diesen Überlegungen zur Erkenntnisfähigkeit des Menschen spricht Gomara ein Thema an, das im Prozeß der Herausbildung des neuzeitlichen Selbstverständnisses eine zentrale Rolle gespielt hat. Bei Gomara kündigt sich eine Neugierde an, die nicht im positiven Resultat, sondern im Erforschen des Unbekannten ihr Ziel sieht, allerdings wird ihre Verselbständigung noch verhindert: Gomara verweist auf Gott als den Urheber der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Diese Berufung auf die Transzendenz hat einen ambivalenten Charakter. Zum einen beschränkt sie die Erkenntnis des Menschen auf das, was Gott ihm zuzugestehen bereit ist; zum anderen kann sie aber auch geradezu als Aufforderung zur Neugierde betrachtet werden: Die von Gott verliehene Erkenntnisfähigkeit ist ein Privileg, das den Menschen geradezu zur Erkenntnis verpflichtet. Gomara macht von diesem Privileg durchaus auch in einem neuzeitlichen Sinne Gebrauch, wenn er über die Voraussetzungen reflektiert, denen die Entdeckungsfahrten und damit auch die aus ihnen gewonnenen Informationen unterliegen. Das führt ihn zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit den kosmologischen Vorstellungen seiner Zeit. Mit der Aussage «Que le monde est rond, & non plat»,82 greift er auf die von Kopernikus neu belebte antike Idee zurück, daß die Welt Kugelform habe. Diese Vorstellung hatte Kopernikus zwar bereits 1543 in De Revolutionibus orbitim coelestium entwickelt und zu begründen versucht; sie war aber auch zu Gomaras Zeit noch längst nicht zum Gemeingut geworden. Die Überlegungen Gomaras dürften gerade bei der Rezeption seines Werkes in Frankreich nicht ohne weiteres akzeptiert worden sein. Denn insbesondere hier brauchte die kopernikanische Theorie fast ein halbes Jahrhundert, um in das Bewußtsein der Wissenschaftler und Schriftsteller einzudringen und allgemein anerkannt zu werden. Nach der wahrscheinlich ersten Erwähnung des kopernikanischen Systems durch Pierre de Mesme im Jahre 1567,83 dauert es noch lange, bis Kopernikus im größeren Umfang in Frankreich wahrgenommen wird. Bis zum Ende des Jahrhunderts gibt es nur wenige Denker und Poeten, die ihn überhaupt erwähnen, und nur Montaigne scheint sich ausführlicher mit Kopernikus auseinandergesetzt zu haben.84 Demonet-Launay sieht die Ursachen für das verspätete Vordringen der Theorie des heliozentrischen Planetensystems in den in Frankreich anhaltenden Kriegen und in der insbesondere in den Naturwissen8

^ Ibid., Preface [p. 1] (fingierte Paginierung). Ibid., Preface [p. 2]. 82 Ibid., p. 3. 8 ^ Cf. Plattard: «Le Systeme de Copemic dans la litteYature francaise auXVIe siecle», p. 231. 84 Cf. ibid., p. 235. 81

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schalten mangelhaften Ausbildung am College Royal*5 Ausschlaggebend für die großen Widerstände gegen das neue Weltmodell waren - nicht nur in Frankreich vor allem religiöse Vorbehalte: Les resistances sont aussi metaphysiques, dans les pays non protestants; pour admettre la notion d'infini, il y a incompatibilito avec l'enseignement theologique classique ainsi qu'avec la nouvelle esthftique baroque: l'infini ne peut concenter que Dieu.8>188 Mit noch größerem Interesse betrachtet Gomara die sexuellen Gewohnheiten der Indianer. Da vor allem Nacktheit, Sodomie und freie Sexualität zu den Bereichen gehörten, die von den christlichen Missionaren und Geistlichen mit strengen Verdikten belegt waren, riefen gerade die hierauf bezogenen Praktiken der Indianer Ablehnung in Reiseberichten und Geschichtswerken über die Neue Welt hervor.189 In seiner 184

Gomara: Histoire genfrale, pp. 170/170 v. Cf. ibid., p. 169 v. 186 Ibid., p. 36. 187 Gomara verwendet etwa den Ausdruck «ces barbares» statt «les Indiens» (ibid., p. 61). 188 Ibid., p. 441. 18 ? Die Feststellung der Nacktheit und mangelnden Schamhaftigkeit findet sich bei nahezu allen Reisenden und Geschichtsschreibern, selbst bei Autoren, die die Neue Welt nur am Rande erwähnen wie etwa Pasquier: «les hommes vont tout nuds, sans cacher leurs parties honteuses, & 185

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Schilderung der einschlägigen Sachverhalte beschränkt sich Gomara nicht auf eine bloße Beurteilung der indianischen Nacktheit, die im europäischen Verständnis eine ambivalente Bewertung erfahren hat, da sie gleichermaßen als Zeichen der Sündhaftigkeit wie als das der Unschuld aufgefaßt werden konnte. Gomaras Kritik setzt vielmehr bei den sexuellen Praktiken an, die nicht nur unter religiösen, sondern auch unter allgemeinen zivilisatorischen Gesichtspunkten als verwerflich erscheinen mußten; charakteristisch ist vor allem der Vorwurf, daß sie der «paillardise» verfallen seien: «tant enuers qu'enuers l'autre sexe sans aucune honte».190 Die Feststellung Gomaras, «le mal des bubes, ou mal Fra^ois, est venu des Indes»,191 bestätigt ihm noch einmal seine These nicht nur von der Verworfenheit, sondern auch der zivilisatorischen Unterlegenheit der Indianer. Immer wieder werden die Indianer an europäischen Maßstäben und Wertvorstellungen gemessen, denen gegenüber ihre Lebensformen als eine in vielerlei Hinsicht unterlegene Kultur erscheinen müssen;192 das gilt ebenso für ihre mangelnde Arbeitsauffassung193 wie auch für ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken. Gomara greift mit diesen negativen Urteilen auf eine Tradition zurück, die sich im 16. Jahrhundert schon seit längerem etabliert hatte. Ganz ähnliche diffamierende Charakterisierungen finden sich ebenso bei Belieferest, dessen Urteile trotz seines äußerlichen Bemühens um Differenzierung als eher generalisierend denn als die Vielfalt respektierend charakterisiert werden. Denn letzten Endes gelangt er doch fast ausschließlich zu einer überwiegend einseitig negativen Darstellung der Indianer. Da Belieferest, ebenso wie Chauveton und Gomara, die Indianer an den Christen mißt,19'* finden sich in seiner Histoire universelle die auch später wiederholten Vorurteile gegenüber den Indianern: Quand done le chrestien lit les abominations des peuples estranges, le degast du meilleur qui soit en eux, la paillardise de leurs ames, la souillure de leurs corps, leur cruautö, vilemnie, injustice, sottise, ignorance, & faulte de raison: ne fait-il pas le mercier, & s'humilier sous sa main puissante, & recognossance des biens et faueurs qu'ils en a receu, d'estre contraire autant en coeur & affectation ä ces barbares, comme il y a de ressemblance en leurs corps, & figure exterieure, & comme ilz sont guidez trestous d'vn sens commun, & respirent vn air pareil & vivent sous la loy d'une semblable vie?195

Selbst wenn Ähnlichkeiten im äußeren Erscheinungsbild der Christen und Indianer bestehen sollten, so sind jene doch an inneren Werten diesen überlegen. Diese verallque ceux qui veulent faire les plus braves, y portent quelques petites feuilles d'arbres.» (Pasquier: Les CEuvres d'Estienne Pasquier II, p. 56 [«Lettre III: A Monsieur de Querquisinen, Seigneur d'Ardivilliers»]). 190 Gomara: Histoire generate, pp. 170/170 v. Cf. auch Gomaras Charakterisierung der Indianer als «sodomites» und «sans honte» (ibid., p. 441 v.). Auch Belieferest kritisiert die Moral der Indianer, da sie der «paillardise» verfallen sind. (Belieferest: Histoire universelle, *iij.) 191 Gomara: Histoire generate, p, 39 r. 192 An der unterlegenen Position der Indianer im Vergleich mit den Spaniern vermögen auch die positiven Eigenschaften wie «bon esprit» oder «habiles» nichts zu ändern. Die Spanier sind die «maistres», die den Maßstab für die Indianer vorgeben und so als Vorbild gelten wollen (ibid., pp. 170/170 v.). 193 Die Indianer gelten Gomara als «homes perdus», (ibid., p. 170) auch weil sich ihr Lebens- und Arbeitsrhythmus nicht mit dem europäischen Begriff von Arbeit in Verbindung bringen läßt. 19< * Allerdings ist Belleforests Haltung den Christen gegenüber nicht so eindeutig positiv, da er auch Kritik an ihnen übt. Cf. Belieferest: Histoire universelle, p. 185. 195 Ibid., «iij sq. 52

gemeinemde und einseitige Darstellung gibt Belieferest in seiner «Preface au lecteur», in der er die Christen den Indianern schematisch gegenüberstellt. Im weiteren Verlauf des Textes bemüht er sich zwar um eine Differenzierung, indem er in seinem «livre» über die Neue Welt nach Ländern, Provinzen wie etwa Kanada, Mexiko, Kuba oder Florida oder sogar nach Stämmen unterscheidet. Doch kommt er bei allen Stämmen zu ähnlichen negativen Resultaten hinsichtlich der indianischen Eigenschaften,196 wie er sie etwa bei der Beschreibung des Stammes der Malhadiens formuliert: «Ce peuple Insulaire est Anthropophage, & mangeant les homes lamm grand menteur».197 Gomara, Belieferest, Benzoni und Chauveton sind sich in vielerlei Hinsicht über die Beurteilung der indianischen Kultur einig, auch wenn sie teilweise in erbitterten ideologischen, konfessionellen und nationalistischen Streitigkeiten befangen sind. Aber trotz der grundlegenden Einheit im Urteil läßt sich bei Gomara eine gewisse Akzentverschiebung feststellen: die einen folgen eher moralisch-religiösen Imperativen, Gomara läßt sich eher von einem zivilisatorischen Kolonismus leiten. In den Urteilen über die Indianer wird deutlich, daß der Blick weniger vom Interesse am kulturell Fremden als vielmehr von den eurozentrischen Vorgaben der Autoren geprägt ist. Aber dennoch finden sich deutliche Anzeichen dafür, daß sich die indianische Kultur als ein Gegenstand zu emanzipieren beginnt, der das Interesse des europäischen Beobachters auf sich zu ziehen vermag. Denn häufig löst sich die Darstellung von den innereuropäischen Problemen und wendet sich den Indianern selbst, ihren Sitten und Bräuchen zu; dabei tritt allerdings meist die für die Europäer zentrale Frage nach ihrer moralischen Bewertung in den Vordergrund und führt zu einer Verzerrung der Darstellung.

7. Tendenzen zur sachlichen Indianerbeschreibung Eine neutrale Darstellung indianischer Kultur fiel den Autoren umso leichter, je weniger die entsprechenden Sitten mit europäischen Vorstellungen kollidierten. Eine deutliche Ausnahme bildet dabei die merkwürdige Tatsache, daß ausgerechnet der Kannibalismus, der von europäischen Illustratoren in den großen Sammelwerken wie etwa bei de Bry198 - geradezu als Charakteristikum der indianischen Kultur be19

° Die einzigen positiven Eigenschaften der Indianer für Belieferest sind, wie schon bei Gomara, ihre Tapferkeit, Ausdauer und Abhärtung in der KriegsfUhrung: «En somme c'est la nation la plus diligente en fait de guerre qui soit en tout 1'OccidEt, entät que s'ilz se doubtent de lew adversaire, ils n'ot garde de dortnir, ains ferot tout de log de la nuit en sentinelle. [...] conune aussi ilz sont accoustumez ä souffrir la faim, & soif, & froid plus que tous les autres, & par ainsi ne fault s'estonner s'ils sont si bon guerriers, & si sages que ie voay descrit.» (ibid., p. 274 v.) Während Gomara Mut und Tapferkeit im Kampf nicht nur den mexikanischen Indianern zuschrieb, schränkt Belieferest diese positiven Kriterien auf die Mexikaner ein, vielleicht, weil diese für ihn das den Zivilisierten am nächsten stehende Volk sind. Da nur Spanier, nicht aber Franzosen gegen die Mexikaner kämpften, kann diese positive Darstellung der Indianer tatsächlich als Lob des mexikanischen Kriegsbrauchs oder aber als indirekter Hieb auf die weniger mutigen Spanier verstanden werden, gibt es doch keine wachsamere Nation als die Mexikos «en tout l'Occide't». 197 Ibid., p. 272. '98 Dem Kannibalismus in de Brys Grands voyages widmen sich die Arbeiten von Bucher (La sauvage aux seins pendants) oder Lestringant («L'automne des cannibales ou les outils de la conquete»).

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trachtet wurde und jede Argumentation über deren Verwerflichkeit überflüssig machte, bei Gomara wie bei anderen Autoren der Zeit keine besondere Rolle spielt. Diese Beobachtung an Gomaras Text bestätigt die Auffassung der neueren ethnographischen Forschung, daß der «Kannibalismus» als historisches Phänomen mit größter Zurückhaltung zu bewerten ist. Wichtige Indizien sprechen dafür, daß die immer wieder behaupteten kannibalischen Praktiken der indianischen - wie auch anderer indigener - Völker tatsächlich in der unterstellten exzessiven Form nicht existiert haben. Die Berichte darüber sind höchstwahrscheinlich starke Übertreibungen, die teilweise auf unreflektierter Legendenbildung, teilweise aber auch auf konkreten Interessen der europäischen Eroberer beruhen.199 Jedenfalls ergibt eine Sichtung der einschlägigen Zeugnisse aus der Zeit der Eroberung einen erstaunlichen Befund: Nur eine verschwindend geringe Zahl von Reisenden will tatsächlich Augenzeuge kannibalischer Praktiken gewesen sein: Menschenfresser waren und sind ein «Jenseits - der - Grenze» - Phänomen. Sie existieren immer nur dort, wo und nur solange wie es eine Grenze gibt zwischen der Welt der Berichterstatter und jener ganz anderen Welt, deren Unkenntnis die Hypothese von der möglichen Existenz des ganz und gar anderen, selbst des Undenkbaren permanent bestärkt.200

Die auf guten Gründen beruhende Annahme, daß von den Reisenden kaum jemand Augenzeuge kannibalischer Praktiken gewesen sein dürfte, würde die zunächst erstaunliche Tatsache erklären, daß der Kannibalismus nicht generell Ablehnung hervorruft, sondern gezielt für bestimmte Zwecke runktionalisiert und in den Dienst der Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Kolonisatoren gestellt werden kann. Er erscheint als ein beliebiges kulturhistorisches Faktum neben anderen. So sind bei Gomara der neutrale Ton und die Kürze der Schilderung erstaunlich, mit denen er über Kannibalismus spricht; dies umso mehr, als auch Spanier ihm zum Opfer gefallen sein sollen.201 Wie Gomara, so erwähnt auch Belieferest die Antropophagie202 an mehreren Stellen seines Werks; doch bleibt der Ton neutral und die Feststellung wirkt eher beiläufig.203 Sein Hauptaugenmerk gilt der Religion, und seine Kritik richtet sich eher gegen den Götzendienst und die «superstitions»:204 «& s'adonnät a deuination & sorcelerie, come ceux que pour auoir songe chose malheu199

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Den Kannibalismus als einen Mythos der europäischen Märchen, Sagen, Kunst und Literatur mit nur schwachen faktographischen Grundlagen hat Thomsen dokumentiert; cf. vor allem seinen Überblick «Definitionen» (Thomsen: Menschenfresser in der Kunst und Literatur, in fernen Ländern, Mythen, Märchen und Satiren, in Dramen, Liedern, Epen und Romanen, pp. 18-23). Frank: «'Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist...'», p. 200. Gomara: Histoire genirale, p. 304. Zwei Leute aus Pizarros Gesellschaft werden zurückgelassen und von den Indianern schließlich getötet und gegessen. Weiter spricht Gomara von Menschenopfern (ibid., p. 323 v.); p. 161 v. beschreibt er die Sitte, Menschenfleisch bei Festen zu verspeisen. Zumindest im Ansatz erkennt Gomara also durchaus den rituellen Charakter der kannibalischen Praktiken. Auch die Verwendung des wissenschaftlichen Terminus «Anthropophage» und nicht des emotionalen Begriffs «cannibales» zeigt seine emotionale Distanz gegenüber diesem Brauch. Belieferest stellt die Anthropophagie allgemein für Amerika fest, (Belieferest: Histoire universelle, xxj v.) daneben auch bei einzelnen Völkern wie den Mexikanern; (ibid., p. 279) die in vielen Reiseberichten vorgenommene Gleichsetzung von Kariben und Kannibalen findet sich ebenfalls bei Belieferest: «Des caribes, & canibales, leur cruauto guerres, & facons de vie». (Ibid., p. 300 v.) Cf. Belleforests Verweis auf die «diversite" de leurs [Indianer - A. E.] superstitions». (Ibid., p. 253.)

reuse en dormät, ne font coscience d'occir les hommes, voire leurs propres enfans.»205 Die sachliche Darstellung des Kannibalismus fügt sich bruchlos ein in die Beschreibungen anderer ethnographischer Phänomene, die insgesamt durchaus Ansatzpunkte zu einer sachgerechten Würdigung der indianischen Kultur erkennen lassen. Das wird bei Gomara besonders deutlich dort, wo er sich um eine spezifizierte Darstellung der verschiedenen indianischen Kulturen bemüht. Hier läßt er eine Absicht auf Differenzierung erkennen, die in den historisch-geographischen Werken der Zeit nicht selbstverständlich ist. In der Gliederung seines Werkes folgt er den indianischen Gegebenheiten, indem er die verschiedenen Indianerstämme (Chicorans, Boriquen, Dänen, Inkas u.a.) zum Prinzip der Strukturierung macht. Auch ist er bemüht, den Charaktereigenschaften der einzelnen Stämme durch die Anführung von positiven wie auch von negativen Attributen gerecht zu werden. Gomaras Äußerungen über das Aussehen und die Sitten der Indianer bezeugen, wie schon die Kapitelüberschrift «Des moeurs & facons de faire des Mexicquains» andeutet,206 die Bereitschaft zu einer relativ unvoreingenommenen Beobachtung von Phänomenen, die den Europäern zumindest fremdartig erscheinen mußten. Ohne eine Wertung abzugeben, beschreibt Gomara die Gepflogenheit der Mexikanerinnen, sich überall, außer beim Kopfhaar und den Augenbrauen, die Haare auszuzupfen; er schildert die langen Brüste der Frauen, ohne sich darüber befremdet zu zeigen oder er stellt das häufige Baden der Indianerinnen als ein Faktum fest.207 Auch die Reflexionen Gomaras über die Hautfarbe der Indianer und über deren auffallend geringe Anzahl an kahlköpfigen und rothaarigen Menschen208 bleiben unkommentiert und erhalten fast wissenschaftlichen Charakter durch den Versuch einer Klärung ihrer Ursachen. Mit aller Vorsicht läßt sich deshalb feststellen, daß Gomara sich auf dem Weg zu einem ethnographischen Realismus befindet, der alle positiven wie negativen Extreme der Darstellung zu vermeiden sucht, auch wenn ihm dies nicht immer gelingen kann: Per il Gomara gli indigent non vanno giudicati in senso cattivo. Non sono oggetti da collezione. Ne oggetti di devozione. Non sono angeli. Sono uomini. Sieche [...] nessuno ha saputo soddisfare cosl bene come lui Pinteresse etnografico ed insieme la necessita di una composizione artistica.2°9

Daß sich auch bei Chauveton bei aller eurozentrischen Voreingenommenheit eine Tendenz zur sachlichen Beschreibung der Indianer konstatieren läßt, macht schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der Histoire nouvelle deutlich. Es gibt neben einer Gliederung nach europäischen Eroberern und den von ihnen entdeckten und kolonisierten Ländern auch Hinweise auf die Indianer, ihre Kultur und die von ihnen besiedelte Landschaft, der Text ist also ähnlich strukturiert wie der Gomaras. Ein großer Teil der Beschreibungen umfaßt zwar das Verhältnis der Indianer zu den Eroberern womit vor allem Spanier gemeint sind -, daneben gibt es aber auch selbständige Darstellungen der verschiedenen Landschaften mit der jeweils spezifischen Vegetation. Bei der Auswahl der zahlreichen ethnographischen Angaben zeigt Chauveton Inter205 206 207 208

Ibid., p. 272. Der Götzendienst wird insbesondere in Kapitel neun des vierten Buchs thematisiert und problematisiert. Cf. Gomara: Histoire generate, pp. 168 sqq. Cf. ibid., p. 170 v. und p. 171. Cf. ibid., p. 473 und p. 474. Cocchiara:Ilmitodelbitonselvaggio,p. 10. 55

esse an jenen Phänomenen, die in Europa besondere Aufmerksamkeit durch ihre auffallige Andersartigkeit hervorrufen mußten. Das gilt vor allem für die indianische Religion, deren Schilderung bei Chauveton - wie schon bei Benzoni - breiten Raum einnimmt. Dabei interessieren Benzoni und Chauveton in erster Linie jene religiösen Sitten und Bräuche, die in der christlichen Religion mit Geboten und Verboten belegt sind. Im Katalog der für die «litterature geographique» interessanten kulturellen Phänomene stehen deshalb aus der christlichen Religion vertraute Themenkomplexe wie Polytheismus, Polygamie, Schamhaftigkeit, durch die Spanier verursachte Geschlechtskrankheiten, Nächstenliebe, Freigebigkeit, Selbstmord oder Jenseitsvorstellungen. Daneben gilt das Augenmerk dem indianischen Wirtschaftsleben. Doch auch hier bleibt Chauveton - in der Nachfolge Benzonis - nicht lange bei dem einfachen, am wechselseitigen Nutzen orientierten Handel der Indianer stehen. Das besondere Augenmerk gilt vielmehr den aus europäischer Sicht ergiebigeren Tätigkeiten wie der Perlenfischerei, der Herstellung von Waffen, der Metallverarbeitung oder der Goldgewinnung. Das Interesse am indianischen Alltag wird aber darüber nicht gänzlich vernachlässigt. Benzoni und Chauveton beschreiben recht ausführlich die Sitten und Bräuche, die das alltägliche Leben der Indianer - auch nach der Eroberung - bestimmen. Hier zeigen sie sich wiederum besonders angezogen von jenen kulturellen Phänomenen, die der europäischen Erfahrung fremd sein mußten. Ausführlich widmen sie sich der Beschreibung der indianischen Emährungsgewohnheiten mit ihren besonderen Arten des Brotbackens, dem Genuß des Kakaos oder dem Verzehr exotischer Früchte; wohl erstmals findet sich auch bei Benzoni die Beobachtung des in Europa noch unbekannten Tabakrauchens.210 Benzoni und Chauveton gehen auch auf die Wohngepflogenheiten der Indianer ein, wobei die besonderen Arten des Schlafens oder das Leben in Baumhäusern hervorgehoben wird; schließlich widmen sie sich dem indianischen Tanz und der Festkultur. Dabei handelt es sich stets um nicht durch den europäischen Vergleich kommentierte und vorab geprägte und verzerrte Darstellungen. Auch der Kannibalismus wird, ähnlich wie bei Gomara, in diesen neutralen Darstellungsmodus miteinbezogen: Benzoni und Chauveton schildern die Anthropophagie mehrmals mit erstaunlicher Neutralität, ja fast Unbetroffenheit, obwohl sie den eigenen kulturellen Wertvorstellungen zuwiderlaufen mußte. Hinter dieser Neutralität muß sich nicht unbedingt schon eine Vorform wissenschaftlichen Beobachtens verbergen; sie kann auch gedeutet werden als eine Abwehrhaltung, mit der die Europäer auf Phänomene der Fremdheit reagieren, um Änderungen im eigenen Denken und Handeln nicht vornehmen zu müssen: La polygamie ou les hermaphrodites esclavisds, les hommes-mödecine ou les rites du mariage ou de la mort, sans ßtre, de la part des observateurs, objets de decision, tomoignent des differences de mentalite", objet de curiositö ou de rtflexion, non de transformation mentale radicale.211

Wenn sich Chauveton negativ über die Indianer äußert, dann beruht das vor allem auf seinen religiösen Überzeugungen.212 Die Verurteilung der Indianer als «poures Cf. Benzoni: Hisloria del Mondo Nuovo, pp. 54 v./55. Zur Geschichte des Tabaks in Frankreich cf. Fonelon: «Les apports du continent amoricain dans le domaine vogotal et animal de l'ancien continent», pp. 263 sq. 21 ' Stegmann: «L'Amorique», p. 307. 212 Chinards Kommentar zu den Indianerdarstellungen bei Chauveton und Benzoni «Benzoni et Chauveton s'otaient nettement doclarös en faveur des Indiens» (L'exotisme americain dans la 56

aueugles, tout-nuds, idolatres, despourueus de tout bien, & remplis de tout vice» in der «Preface» verliert an Schärfe durch die vorangestellte Bemerkung: «Car que sommes-nous de nousmesmes, sinon ce que ceux-la [die Indianer - A. E.] sont?»213 Chauveton betont damit die Gleichheit aller Menschen, die mit Gottes Hilfe sich über den Zustand der «poure Nature»214 erheben können. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist Chauvetons Versuch einer Widerlegung von Gomaras Behauptung, daß die spanische Missionierung den indianischen Aberglauben beseitigt hätte: Chauveton bestreitet eine spanische Missionierung in diesen Gegenden und führt die Gutwilligkeit der «Wilden» bei ihrer Bekehrung allein auf die Gnade Gottes zurück.215 Auch dies ist ein wichtiger Baustein zu dem Bild, das sich später zur Legende vom bon sauvage zusammenfügen wird. Als Hugenotte schlägt sich Chauveton besonders dann auf die Seite der Indianer, wenn diese gewaltsam von den Spaniern bekehrt werden sollen. Er zeigt Verständnis, wenn die Indianer, angesichts des schlechten Vorbilds der spanischen Christen, sich nicht bekehren wollen, ja er stimmt sogar den Indianern in ihrer ablehnenden Haltung zu: Mais cependant quand ie vien ä considerer de pres la doctrine de nostre Sauueur lesus Christ, ie treuue qu'il y ha bie ä dire entre s'Appeller chrestien, & l'estre par effect. Et de cela ie m'en rapporte mesme ä ces poures Barbares. Car quoy que les Hespagnols ayent sceu faire & dire au Royaume du Peru & autres lieux ou ils sont esti, Qu'ils estoyent Chrestiens, enfans de Dieu du ciel: si est-ce qu'il n'ha iamais est6 possible de faire que ceux du Peru ayent voulu auouer ce titre-la, ny l'attribuer aux Hespagnols, depuis qu'ils ont tasto leur dominatiö, & senty les cruautez desesperees que ces g8s ont exerce"es sur eux. 21 ^

In diesem Zusammenhang gelangt Chauveton zu einer Einschränkung des Begriffs «barbares» und damit zu einer Versachlichung der Darstellung. Er bezieht ihn zwar nach wie vor auf die Indianer, aber er stellt ihm jetzt den Begriff der «monstres» entgegen, den er nicht mehr nur für den politischen und konfessionellen Gegner Spanien, sondern allgemein für die sittenlosen Europäer bereithält: Ie vous prie maintenant, si ces pouures Barbares, par un seul instinct de la nature, recognoissent que Dieu est iustement courrouco contre eux acause de tels pechez: que dirons-nous de nostre Europe, laquelle se deshonore auiourdhuy en diuers lieux par ses infames & furieuses amours: sinon qu'il faut attendre quelque estrange feu du ciel sur ces monstres qui s'echaufen en si prodigieuses cupiditez en despit de Nature, & les pays qui les soffrent quand & quand: comme iadis sur Sodome & sur Gomorrhae?21^

Die zufriedene, selbstlose und am Nützlichen orientierte Lebensführung der Indianer gewinnt schließlich für Chauveton sogar Vorbildfunktion. Seine Randbemerkung «Que ne viuons nous ainsi?»218 geht noch einen Schritt über Benzoni hinaus, der schon beifällig hervorgehoben hatte, daß der indianische Handel sich nur auf das Notwendigste beschränkte: litterature fraru;aise au XVf siede, p. 216) ist, abgesehen davon, daß Chinard damit selbst früheren Aussagen widerspricht, aufgrund der zahlreichen Negativdarstellungen der Indianer bei beiden Autoren nicht haltbar. Chauveton: Histoire nouvelle, ** iiij. 214 Ibid., **iiij. 215 Cf. ibid., p. 678. 216 Ibid., p. 522. 21 ^ Ibid., («discours») pp. 256 sq. 218 Ibid., p. 423. 57

Le lor principal mercantie sono sale, pesce, pepe; [...], pigliando ciascuno solamente quello ehe haueua bisogno, senz'altra coditia, ne auaritia alcuna, dicendo, pigliate questo, & datemi questo altro[...].219

Damit ist Chauveton im Rahmen seiner ausfuhrlichen Beschäftigung mit der Problematik der Kolonisierung bereits bei der Position angelangt, die später auch Montaigne einnehmen wird, die allerdings erst diesem von der Rezeptionsgeschichte als fundamental neue Einsicht zugeschrieben worden ist. Benzoni und Chauveton beweisen eine erstaunliche Fähigkeit, die fremde Kultur der Indianer darzustellen, ohne sie vollständig durch die Rückbeziehung auf europäische Verhältnisse in ihrer Eigenständigkeit zu vereinnahmen. Überhaupt überrascht die Darstellung der indianischen Kultur in den Geschichtswerken insgesamt durch ihre Sachlichkeit und ihr Bemühen um Neutralität, auch wenn sie nicht darauf angelegt sind, die eigene Kultur in Frage zu stellen oder gar die indianische als überlegen anzuerkennen, was entsprechende Bemerkungen im Einzelfall nicht ausschließt: Mais le mode de vie des «sauvages» — v&ements, logis, nourriture, agriculture et chasse -ne pouvaient guere soulever qu'un ftonnement sans envie chez le lecteur franfais. L'apport continental du cheval, de la serpe et de la poudre donne encore a le sentiment de son avance de civiliso [...122(J

Die Ausführungen über die Eingeborenen lassen erkennen, daß sich bis zu einem gewissen Grad ein eigenständiges Interesse an der indianischen Kultur immer wieder durchsetzen kann und auch eine positive Einschätzung der Indianer in Einzelfällen möglich ist, daß aber dennoch die Schilderungen eingeordnet bleiben in einen europäischen Interessenhorizont. Die Darstellung der Indianer und ihrer Kultur ist in diesen Texten isoliert und episodisch;221 der Versuch einer systematischen und durchgängigen Schilderung der indianischen Kultur ohne Rückbezüge auf die europäische Interessenlage scheint zu dieser Zeit noch nicht möglich zu sein.

8. Der Mythos des bon sauvage Die sachliche Darstellung der Indianer in den Geschichtswerken ist allerdings nicht eindeutig und nicht durchgängig. Sie ist eine wichtige Tendenz, die spätere ethnographische Entwicklungen vorbereitet, sie ist aber nicht die entscheidende Perspektive, unter der die Indianer dargestellt und vor allem nicht die, unter der sie in Europa rezipiert werden. Sie steht in Konkurrenz zu den abwertenden Urteilen, die in der Regel aus deutlich erkennbaren materiellen und religiös-ideologischen Interessen gefällt wurden. Sie steht aber auch in Konkurrenz zu Idealisierungstendenzen, die sich schon früh in der europäischen Amerika-Rezeption feststellen lassen. Benzoni und Chauveton gehen in der Darstellung der Indianer noch einen Schritt weiter und über eine bloß sachliche Darstellung hinaus. Bei Benzoni und Chauveton schlägt manchmal die eurozentrische und oft pejorativ gefärbte Darstellung der Indianer in ihr Gegenteil um. Beide Autoren erstellen auch einen Kanon an positiven Eigenschaften der Indianer, wie er sich in der späteren Literatur fest etablieren wird.

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Benzoni: Historia del Mondo Nuovo, p. 74. Stegmann: «L'Amerique», p. 306. Cf. dazu etwa das Zitat pp. 170 sq., (Gomara: Histoire generate) wo abrupt auf die negative eine positive Beschreibung folgt.

Nachdem bereits Columbus erste Ansätze zur Entwicklung der Legende vom bon sauvage beigetragen hatte,222 wird dieses Denkmodell jetzt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den europäischen Beobachtern aufgegriffen und weitergeführt. Zu den indianischen Eigenschaften gehören nach dieser Auffassung insbesondere Einfachheit, Unschuld, Mut, Tapferkeit und Zufriedenheit.223 Allerdings kontrastiert Chauveton die Hervorhebung dieser Charaktermerkmale bei den Indianern meist mit Negativeigenschaften der Spanier und bleibt so doch dem Schema der asymmetrischen Darstellung verhaftet: «Les Indies combatent pour le pays, & pour la liberti, & les Hespagnols pour l'Auarice».224 Das häufigste und auffälligste Stereotyp, auf das Gomara wie auch viele andere Geschichtsschreiber und Reisende des 16. Jahrhunderts und später zurückgreifen, ist die indianische Tapferkeit: «La conqueste de ceste Isle [= Boriquen - A. E.] a couste la mort des plusieurs Espagnols, parce que les habitans estoient courageux».225 In die gleiche Richtung zielen die Bemerkungen, mit denen Gomara den Indianern Ausdauer und Stärke als positive Eigenschaften zuordnet: «Les hommes sont dispostes, & forts, & si legers qu'ils aconsuiuent un cerf, & courent tout un iour sans reposer.»226 Die positive Charakterisierung der Indianer fügt sich allerdings insofern in Gomaras apologetische Intentionen, als sie indirekt der Glorifizierung der Spanier dient: Nur der Kampf mit tapferen und starken Männern kann einen Sieg wirklich ruhmreich machen. Die Tatsache, daß die Tapferkeit der Indianer von Gomara fast ausschließlich bei Kämpfen mit Spaniern, äußerst selten aber mit anderen indianischen Stämmen betont wird, verweist auf diesen Hintergrund. Die positive Würdigung der indianischen Hochkulturen führt Gomara zwangsläufig dazu, daß er die Verhaltensweisen der spanischen Conquistadoren allen seinen eigenen Rechtfertigungsbemühungen zum Trotz zumindest dort angreifen muß, wo sie auf eine Zerstörung der feudalen Verhältnisse zielten. Gomara prangert insbesondere die grenzenlose Gier der Spanier nach Reichtum an. Dabei bedient er sich eines von der Amerika-Literatur dieses und der folgenden Jahrhunderte häufig benutzten Mittels: der Anklagerede des Indianers gegen die Europäer. Der Indianer Panquiaco richtet eine Rede an die sich um Gold streitenden Conquistadoren: O Chrestiens, si i'eusse sceu que vous deussiez quereller sur mö or, ie ne le vous eusse pas : car i'ayme paix & concorde, & m'esmerueille bien comme vous estes si aueuglez & despourueuz de sens d'auoir rompu les ioyaux, qui estoient si dextrement elabourez, pour en faire ie ne scay quelles pieces qui ressemblet a petits coppeaux de bois: & encor plus ie m'estonne comme vous, qui estes tant amis ensemble, querellez pour vne chose si vile, & de si peu de valeur. II vous feroit meilleur ne bouger de vostre pays qui est si loing d'icy, si les hommes y sont si sages, si honnestes & si prudents comme vous vous en vantez, que venir faire -des querelies en ce pays estrange, ou nous autres viuons contens, encor que vous nous appellez grossiers £ barbares. Mais si 1'auarice & conuoitise d'auoir de l'or vous commande tant, que pour iceluy acquerir vous vous trauaillez si

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Cf. Fairchild: The Noble Savage, p. 10. Chauveton bringt etwa in seinem Brief Discours Beispiele für die «simplicito» der Indianer, (pp. 120 sqq.) er charakterisiert die «forme des habitants» Floridas als «bonne & assez humaine», (p. 65) ferner betont er insbesondere die Tapferkeit der Indianer (p. 428). 224 Chauveton: Histoire nouvelle, p. 228 (Marginalie Chauvetons). 22 ^ Gomara: Histoire g n rale, p. 55 v. 226 Ibid., p. 59. 223

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fort, & mesmes tuez ceux qui en ont, ie vous monsteray vn pays saoullerez.22^

possible vous vous en

In dieser gegen die Spanier gerichteten Rede treten einige Merkmale des bon sauvage auf, die auch später in der europäischen Literatur erhalten bleiben werden. Die Rede Panquiacos belegt eindeutig die intellektuelle, kulturelle und moralische Überlegenheit der Indianer über die Spanier.228 So wird der Indianer Panquiaco von Gomara im Vergleich zu den vor Gier blind gewordenen Spaniern als «sehend» charakterisiert, da er schnell und gezielt Ursachen und Beweggründe der spanischen Conquistadoren bloßlegt, deren Goldgier selbst wertvollste Kunstwerke durch sinnloses Einschmelzen vernichtet.229 Mit diesem Hinweis wird nicht zuletzt auch das kulturelle Niveau der Spanier in Frage gestellt. Scharfsichtig entlarvt Gomara in der Rede Panquiacos weiter die unberechtigten christlichen Ansprüche, die von den Spaniern erhoben werden. Während sich diese selbst als «sages», «honnestes» und «prudents» bezeichnen, schildert er sie als in solchem Maße habgierig und streitsüchtig, daß sie nicht einmal vor Mord zurückschrecken. Der Gegensatz der «querelies» liebenden Spanier und der friedlich lebenden Indianer gipfelt schließlich in der Relativierung der Begriffe «grossiers & barbares». Gomara ordnet diese Begriffe zwar nicht direkt den Spaniern zu - wie Montaigne dies später tun wird -, aber durch die Rede Panquiacos offenbart er eindeutig, wer der eigentliche Träger dieser negativen Eigenschaften ist. Mit der - echten oderfiktiven- Rede Panquiacos deutet Gomara eine Konstellation an, die viel später von Todorov theoretisch aufgearbeitet wird, wenn er auf die Spätfolgen der Unfähigkeit, sich in die Welt zu integrieren, hinweist, mit denen die Europäer seit ihrer ausschließlichen Beschränkung auf die zwischenmenschliche Interaktion zu kämpfen haben: Was der Europäer auf der einen Seite gewann, verlor er auf der anderen; indem er sich mit dem, worin er überlegen war, auf der ganzen Erde durchsetzte, erstickte er in sich selbst die Fähigkeit, sich in die Welt zu integrieren. Während der folgenden Jahrhunderte träumte er vom guten Wilden; doch der Wilde war tot oder assimiliert, und dieser Traum sollte niemals Früchte tragen.2·^

Eine besondere Bedeutung kommt in Gomaras Histoire generate der Darstellung der indianischen Könige zu. Seine Darlegungen über diesen Komplex sind nicht durch seine Rechtfertigung der Conquista - der sie auf den ersten Blick sogar zuwiderlaufen - bestimmt, sondern sie folgen einer eigenen Logik. So gibt der Spanier eine sehr positive Charakterisierung des mexikanischen Königs Moctezuma, dessen schil-

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Ibid., p. 215. Zur Reaktion der Mexikaner auf die Goldgier der Europäer cf. die Quelle in: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion II, p. 323 und den Kommentar p. 322. Chinards Resümee über Gomara und seine Histoire generale verliert durch die ausschließliche negative Charakterisierung Gomaras an Glaubwürdigkeit (Chinard:L'exotisme americain dans la litterature au XVf siede, p. 211). Außerdem widerspricht er seiner eigenen Interpretation, die beständig Gomaras feindselige Haltung den Indianern gegenüber betont, indem er zum Beispiel auf die von Montaigne bei Gomara entlehnte Indianerrede verweist, die er Montaigne als fortschrittlich anrechnet, bei Gomara aber unterschlägt (ibid., p. 213). Zu der «soif effronoe de l'or», mit der im 16. Jahrhundert die Mentalität der Conquistadoren charakterisiert wurde, cf. Mahn-Lot, «Voyages d'exploration en Amörique espagnole: le mythe de 'El Dorado'», pp. 409 sqq. Todorov: Die Eroberung Amerikas, p. 120.

lernde Gestalt in der Forschungsliteratur heftig diskutiert wurde.231 In Gomaras Darstellung erscheint er als vn homme sage, belliqueux, religieux, & non si subiect aux vices, comme sont commun&nement les Indiens. estoit tousiours porte" aimablemSt enuers les Espagnols [...].232

Mit der Beschreibung dieser positiven Eigenschaften lehnt sich Gomara zwar auch an seinen üblichen Beschreibungsstil der Indianer an, aber er weicht dennoch deutlich davon ab. An Moctezuma hebt er einerseits Tapferkeit und Mut als herausstechende Eigenschaften hervor, aber andererseits gesteht er dem mexikanischen König sowohl intellektuelle («sage») als auch religiöse («religieux») Qualitäten zu,233 ohne die ansonsten üblichen Kommentare über die Inferiorität der indianischen Sitten und Bräuche folgen zu lassen. Zudem verweist er auf die freundliche Haltung des Mexikaners gegenüber den Spaniern, wobei diese Aussage zumindest eine leise Kritik an der spanischen Eroberungspraxis implizieren könnte. Zu dem Verhältnis Moctezumas gegenüber den Spaniern, vor allem Cortes, gestaltet Gomara fast parallel das Verhältnis des peruanischen Königs Atabalipa - oder Atahualpa - gegenüber dem Eroberer Pizarro. Gomaras freundliche Einschätzung des peruanischen Königs Atabalipa zeigt sich schon daran, daß er Atabalipas Sterben als «courageusement» bezeichnet.234 Atabalipa, der sich mit guten Gründen bei Pizarro beklagt, erscheint gegenüber dem Spanier als die eindeutig positivere Figur: lequel [Pizarro — A. E.] le [Atabalipa — A. E.] faisoit mourir nonobstant qu'il luy eust promis de le deliurer pour sä rancon, & le pria de le vouloir enuoyer en Espagne, & ne point soüller ses mains, & sä renommöe du sang de celuy, qui iamais ne l'auoit offenso, & qui au contraire I'auoit faict riche.235

Diese nahezu ausschließlich positive Wertung der Könige in der Neuen Welt, der in der Regel eine abschätzige Beurteilung ihrer Untertanen gegenübersteht, läßt sich mit dem Blick auf die legitimatorischen Bedürfnisse der Eroberungszüge allein nicht mehr erklären. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß sich in Gomaras Wertungen die im Spanien des 16. Jahrhunderts herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln. Mit seiner Wertschätzung für die Könige gibt Gomara zugleich eine Apologie der absolutistischen Herrschaftsverhältnisse. Tatsächlich lagen die Analogien zwischen dem spanischen und dem aztekischen Hofstaat auf der Hand; sie werden unmittelbar in den Ähnlichkeiten der Etikette-Regeln, mit denen etwa Cortes in Mexiko konfrontiert wird.23^ Dieser zunächst merkwürdige Befund gewinnt seinen Sinn vor dem Hintergrund der Verhältnisse im spanischen Mutterland wie auch in den Kolonien. Denn die 23

1 Cf. dazu insbesondere Todorov: Die Eroberung Amerikas, pp. 72-79, Konetzke: Süd- und Mittelamerika I, p. 19oderKottenkamp: Geschichte der Colonisation America's, pp. 189 sqq. 232 Gomara: Histoire generate, p. 114 v. 233 Ibid. 234 Ibid., p. 320 v.: «Attabalipa mourut courageusement, & commands que son corps fast portö ä la ville de Quito.» Ibid. Zur Gefangennahme Atabalipas -der in den Quellen auch den Namen Atahualpa trägt -am 16. November 1532 cf. den spanischen Bericht von Miguel de Estete, in: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion II, pp. 396-402. Der Inka wird hier als «sehr weise, klug, verständig und voller Wissensdurst» charakterisiert; p. 397. Cf. den Bericht von Peter Martyr von Anghiera; Auszug in: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion II, pp. 323-327. 61

Rechtfertigung der absolutistischen Herrschaftsstrukturen in den indianischen Hochkulturen entspricht einem Bedürfnis, das bei der spanischen Kolonisierung Südamerikas eine zentrale Rolle gespielt hat.237 Jenen Spaniern, die häufig aufgrund ihrer Zweitgeburt die Heimat verlassen hatten, um sich in Amerika eine Zukunft aufzubauen,238 mußte an einer Bewahrung der absolutistischen Verhältnisse gelegen sein, da sie als ein sozialer und politischer Ordnungsfaktor aufgefaßt werden konnten.239 Das Respektieren einer Autorität, auch wenn es sich um einen mexikanischen oder peruanischen Herrscher handelt, kann als Ausdruck eines den absolutistischen Strukturen verhafteten politischen Denkens der Spanier gedeutet werden, die in der Rechtfertigung der indianischen Herrschaftsverhältnisse eine Legitimierung ihrer eigenen politischen Verhältnisse sehen mochten. Die Vermutung, daß solche Zusammenhänge bei Gomaras positiver Würdigung der indianischen Könige im Hintergrund gestanden haben, liegt umso näher, als von einer direkten Verbindung zwischen den spanischen Kolonialunternehmen und der eigenen feudalen Gesellschaftsstruktur ausgegangen werden kann. Denn nicht zuletzt trug die Conquista auch zur Erhaltung des in Spanien vom Zusammenbruch bedrohten Feudalsystems bei: sie «diente unter anderem dazu, in Spanien die feudalen Verhältnisse zu bewahren und das Aufkommen des Bürgertums zu verhindern.»240

9. Die Idealisierung der indianischen Kultur Aus diesem Zusammenhang heraus läßt sich auch erklären, daß Gomara einzelne Aspekte der mexikanischen und peruanischen Gesellschaft als kulturelle Hochleistungen rühmt. Dies steht in einem offenbaren Widerspruch zu seiner Kritik an der mangelnden Zivilisation und sogar der gering entwickelten Intelligenz, die er den indianischen Völkern allgemein und diesen beiden im besonderen bescheinigt. Erklärbar wird dieser Widerspruch nur unter der Voraussetzung, daß Gomara großen Wert auf die Rechtfertigung der in Spanien wie bei den Indianern bestehenden analogen Herrschaftsverhältnisse gelegt hat. Daß es ihm gerade auf diese Analogie ankommt, zeigt sich in vielen Details seiner Darstellung, in der er an der indianischen Kultur immer das hervorhebt, was auch in 237

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Zum Feudalismus in Sudamerika und Spanien cf. Romani, Tenenti:£>/e Grundlegung der modernen Welt, pp. 207-216. Die «secundones» - also die Einwanderer der zweiten Besiedlungswelle -, die allen Schichten des Adels entstammten, waren «mit dem Lebensstil, dem Mythos, den Vorstellungen und den Methoden des Feudalismus vertraut» (ibid., p. 208). Auch Kottenkamp führt einen Beleg von Bemal Diaz del Castillo an, aus dem deutlich wird, daß die spanischen Eroberer in Sudamerika Überwiegend aus adligen Familien stammten (Kottenkamp: Geschichte der Colonisation Amerika'*, p. 183, Anm. ***). Kottenkamp etwa betont für die mexikanische Gesellschaft die «scharfe Sonderung von Adel und Volk»; (ibid., p. 197) das Volk Mexikos hatte nicht nur druckende Abgaben an den König zu leisten, (ibid., p. 190) auch für kleinste Vergehen wurden ihm härteste Strafen auferlegt (ibid., pp. 202 sq.). Dasselbe gilt auch für die peruanische Gesellschaft (ibid., pp. 349 sqq.). Daß trotz der von Kottenkamp an Beispielen dargelegten «Rohheit» «Ordnung in der Verwaltung und in dem Verkehre» (ibid., p. 203) existieren, dürfte wohl gerade Ausdruck der strengen Hierarchie sein, die bereits in den Hochkulturen Mexikos und Perus vorherrschte und die von den Spaniern auf eigene Weise beibehalten wurde. Erdheim: «Anthropologische Modelle des 16. Jahrhunderts», p. 36.

Spanien als Ausdruck absolutistischer Macht verstanden werden konnte. Gomara ist von diesen kulturellen Leistungen stark beeindruckt: «c'est vne des belies choses, qui se puisse voir au monde».241 Bei seiner Würdigung der mexikanischen Stadt Ciololla wird dies besonders deutlich, wie überhaupt die Geographen, Kartographen und Illustratoren des 16. Jahrhunderts einen besonderen Sinn für die Schönheit von Stadtansichten hatten.242 Enthusiastisch lobt er die Weite und Größe der Stadtarchitektur, die auch in Europa als symbolische Repräsentation absoluter Herrschaft gelten konnte: Geste ville [Ciololla — A. E.] est gouuemee en forme de Republique comme Tlaxcallan, & y a vn chef, qui est esleu par tous les habitans. Elle contient au dedans du circuit de ses murailles vingt mille feus, & en a bien autant en l'estenduü de ses fauxbourgs. A la voir par dehors c'est vne des belies choses, qui se puisse voir au monde.24·'

Gomaras Begeisterung kennt kaum Grenzen. Er findet bei den Bewohnern dieser Stadt ein angenehmes äußeres Erscheinungsbild, und selbst ihre Kleidung fügt sich in das harmonische Gesamtbild der Stadt ein, die ihrerseits wiederum in einer äußerst fruchtbaren Gegend liegt: Les habitans de ceste ville homines, & femmes sont de belle proportion, de beau visage, & fort ingenieux. Les femmes trauuaillent dextrement en or, &. argent, tant ä fondre, tailler, & faire autres choses dependantes de l'estat d'vn orfeure. Les hommes sont gaillards, belliqueux, & spirituels. Ils sliabillent mieux qu'aucun autre peuple qu'ils eussent rencontre" au parauant en ces Indes. Le terroir, qui est enuiron ceste ville, est gras, & propre pour toutes semences, & se peut arrouser par plusieurs canaux, lesquels embelissent merueilleusement la campagne: aussi ce pays est si plein de peuple qu'il n'y a pas vn pied de terre, qui ne soit occupo.244

In mancherlei Hinsicht verleiht Gomara seiner Darstellung der Stadt Ciololla und ihrer Bewohner jene Züge, die aus der antiken Vorstellung des «Goldenen Zeitalters» überliefert sind. Es handelt sich um ein weitgehend idealisiertes Gemeinwesen, in dem ein harmonisches Zusammenleben der Bewohner untereinander gewährleistet ist. Allerdings weicht Gomara von dieser Tradition insofern ab, als sich das Zusammenleben im Rahmen städtischer Strukturen vollzieht, die aber wiederum im Einklang mit der natürlichen Umgebung stehen. Gomaras Schilderung der mexikanischen Stadt ist ein Beleg für die Umdeutung einer alten Tradition, die neuen Zwekken nutzbar gemacht wird. Sein Rückgriff auf gewisse Anklänge des «Goldenen Zeitalters» dient dazu, die absolutistischen Herrschafts- und Repräsentationsformen zu verklären.245

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1 Gomara: Histoire generate, p. 84. Cf. Dainville: La gaographie des humanistes, p. 160. 24 ^ Gomara: Histoire genorale, p. 84. 244 Ibid., p. 84 v. 245 Die verschiedenen in der Renaissance wiederauflebenden Vorstellungen, die sich um den Komplex «Arkadien» konzentrieren, sind sachlich und begrifflich nicht klar voneinander zu trennen, da sie sich in dieser Zeit meist miteinander vermischen und oft eher als Anspielungen und Metaphern statt als präzise Antike-Rezeption zu begreifen sind; einen Überblick Über den Gesamtkomplex gibt das ansonsten wenig ergiebige Buch von Bomer: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, pp. 1S-42. Eine Darstellung nostalgischer Vorstellungen idealer Landschaften im Europa der Neuzeit findet sich jetzt bei Delumeau, Une histoire du paradis, bes. pp. 153158. 242

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Jedoch macht seine Tendenz zur Idealisierung Gomara nicht blind für die Kehrseite des Ideals: er verweist ausdrücklich auf die in der Stadt auch anzutreffende Armut, die durch die Überbevölkerung dieser Gegend hervorgerufen wird: [...] & pour ceste cause on y void grand nombre de pauures, qui vont demander l'aumosne par les portes. Ce que les Espagnols n'auoient point encor apperceu en tout ce pays.24**

Die Spanier zeigen sich angesichts dieser Armut zwar überrascht, ohne jedoch daraus Konsequenzen für ihre Kolonisierungspläne zu ziehen. Die beobachtete Armut widerspricht der Idee einer republique sauvage,2^ wie sie bei Gomara angedeutet wird und nimmt die Anklänge an das Goldene Zeitalter weitgehend zurück. Mit dieser Einschränkung stellt Gomara die zunächst von ihm selbst implizit unterstellten Werte der «liberte», «egalite» und «fratemite» in Frage, die Atkinson als mit-determinierend für die Entstehung des Mythos vom bon sauvage betrachtet.248 Daran wird noch einmal deutlich, daß Gomaras positive Darstellung der indianischen Kultur ihren Grund nicht darin hat, daß er den Mythos vom «Goldenen Zeitalter« wiederbeleben will, sondern er in ihr vielmehr eine Spiegelung der europäischen Verhältnisse sieht. Denn auch im Europa des 16. Jahrhunderts gehörte die Armut zu den selbstverständlich akzeptierten Kehrseiten des Feudalsystems;249 und wenn Gomara auf ähnliche Verhältnisse in Südamerika hinweist, dann läßt das seine Absicht erkennen, die analogen gesellschaftlichen Strukturen hier wie dort hervorzuheben. Auch die Darstellung der Leistungen der indianischen Hochkulturen durch Gomara belegt also noch einmal die starke Abhängigkeit von den europäischen Verhältnissen. Von einer von eurozentrischen Bezügen losgelösten Darstellung der Indianergesellschaften kann also in einem strengen Sinne ebensowenig die Rede sein wie von einem Plädoyer für die Indianer, das deren Eigenart insgesamt zu würdigen wüßte. Der spanische Geschichtsschreiber bleibt, gerade weil er so häufig seinen Blick auf den Reichtum, die Größe und die repräsentativ zur Schau gestellte Macht der indianischen Hochkulturen richtet,250 europäischen Interessen verhaftet. Nicht nur die spanischen Conquistadoren waren ausgezogen, den Reichtum Amerikas real zu erobern, auch die Leser von Reiseberichten und Geschichtswerken wollten sich den sagenumwobenen Reichtum geistig aneignen. Zwar läßt Gomara die der Rede Panquiacos lauschenden Spanier «grandement le iugement, & les paroles de ce ieune Indien» bewundern, «& encor plus la liberte auec laquelle il les proferoit»,251 womit 24i

> Gomara: Histoire generate, p. 84 v. ^ Der Begriff der «Ropubliques 'sauvages'» wird hier im Sinne von Atkinson verwendet (cf. Atkinson: Les relations de voyages du XVIf siede et revolution des idees, cap. HI, pp. 47 sqq.). 24 8 Atkinson exemplifiziert die Begriffe «liberto», «igalite"», und «fratemitö» zunächst an Beispielen aus der Reiseliteratur überwiegend des 17. Jahrhunderts (ibid., pp. 24-45) und integriert sie schließlich indirekt und direkt in seine Definition des bon sauvage: «Cette idoe, grace aux dötails foumis par les Voyages' a dfl Stre assez nette et claire. Les sauvages otaient bons, sains, heureux. Ils se portaient toujours bien. Ils ötaient exempts, non seulement des maladies des Europeans, mais aussi de tous les vices engendris par 'le mien et le tien'. Us ne prisaient pas les choses matorielles de ce monde, et n'attachaient d'importance qu'a la liberte", ä la fratemite~, et au bienetre de leurs enfants» (ibid., p. 80). 249 Cf. Braudel: Civilisation materielle, economie et capitalisme, XVe-XVIIf siede I, pp. 55-59, pp. 245-247. 250 Cf. etwa Histoire generate, p. 321, wo Gomara die Macht und den Reichtum der Inkas in Peru betont. 251 Ibid., p. 215. 24

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er indirekt die von Panquiaco getadelte Habgier verurteilt. Aufschlußreich aber für Gomaras eigene Auffassung ist der Rat des Indianers Panquiaco, der die raffgierigen Spanier nicht aus der Neuen Welt jagt, sondern nur in eine andere Gegend Amerikas verweist, wo sie ihr Unwesen fortsetzen können: «ie vous monsteray vn pays ou possible vous vous en saoullerez.»252 In den Geschichtswerken des 16. Jahrhunderts sind die Probleme erkennbar, welche die Europäer mit der Darstellung und Bewertung fremder Kulturen hatten. Den Europäern gelingt es nur sehr langsam und erst dann, als die Eroberung des neuen Kontinents praktisch abgeschlossen war, ein neues Verhältnis zu ihnen zu entwikkeln, das sich nicht mehr auf das Bedürfnis nach Abgrenzung gründete. Das neuzeitliche Weltbild führt zu einer Wirklichkeitsauffassung, in der das Fremde nicht länger das Abzugrenzende repräsentiert; es wird «jetzt möglich und notwendig, das Fremde in jeder Form als Teil einer einheitlichen und potentiell unendlichen Welt zu begreifen.»253 Die Erschließung neuer Räume in der Neuzeit, die zu einem großen Teil von den Entdeckungsfahrten vorangetrieben wurde, geht einher mit der Herausbildung dieses neuen Weltbildes. Es stellte die von Gott hierarchisch geordnete Welt in Frage und begriff die Wirklichkeit als einen Raum, den sich nun der Mensch neu erobern mußte.

252

Ibid.

Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», p. 21.

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Zweites Kapitel Die Neue Welt im französischen Reisebericht des 16. Jahrhunderts: Andre Thevet und Jean de Lery l. Geschichtswerke und Reiseberichte In den großen historischen Darstellungen Chauvetons, Gomaras und Belleforests lassen sich grundlegende Unterschiede in der Bewertung der kulturellen und ethnographischen Gegebenheiten der Neuen Welt feststellen. Aber bei allen Divergenzen teilen die historiographischen Texte doch die eine Eigenart, daß sie sich ihre Maßstäbe nicht nur für ihre Urteile, sondern auch schon für die Selektion der Problemstellungen im wesentlichen von der europäischen Situation vorgeben lassen. Die Einbindung in den aktuellen, meist politischen oder politisch-konfessionellen Kontext der zeitgenössischen Diskussionen ist ein charakteristisches Merkmal für die Werke jener Historiographen, deren Interesse weniger der Neuen als der Alten Welt galt und die Amerika nicht mit eigenen Augen gesehen hatten. Bei ihrer Darstellung Amerikas waren sie vielmehr auf die Berichte jener Reisenden angewiesen, von denen Europa seine Informationen über den amerikanischen Kontinent bezogen hat. Diese authentische Reiseliteratur hat sich im 16. Jahrhundert in den westeuropäischen Ländern zu einer eigenen Gattung herausgebildet; auch in Frankreich finden sich einige wichtige Autoren, die in ihren Berichten auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnten.1 Der «Reisebericht» als eine eigenständige Gattung im literarischen Gattungsgefüge des 16. Jahrhunderts ist theoretisch deutlich von den historiographischen Werken der Zeitgenossen zu unterscheiden. Eine klare Kontur hat die Gattung des Reiseberichts zwar nicht, sie ist als eine «anziehende und bequeme Form erkannt worden, die man mit Erfahrungen und Gedanken aller Art füllen mag.»2 Das entscheidende Differenzierungskriterium ist die «Autopsie» des Autors: Während der Historiograph nur Informationen aus zweiter Hand weitergibt und kommentiert, kann sich der Autor des Reiseberichts auf die eigene Anschauung stützen. So gravierend dieser Unterschied auf den ersten Blick erscheint, so oft verwischen sich die Konturen der beiden Gattungen in der literarhistorischen Praxis. Denn auch das Geschichtswerk kann durch Übernahme aus anderen Autoren authentische Kenntnisse in sich aufnehmen oder sie zumindest fingieren. Umgekehrt gehört es geradezu zu den Charakteristika der älteren authentischen Reiseberichte, daß sie sich nicht nur auf die Autopsie des Autors verlassen, sondern auch «Schilderungen aus früher erschienenen Büchern» aufnehmen, «um die Erzählungen eines Reisenden dort zu vervollständigen, wo er selbst nicht hingekommen ist».3 So werden auch in authentischen ReiseDie große Zahl der Publikationen von Reiseberichten in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhundert in Frankreich zeigt das besondere Interesse, das dieser Gattung entgegengebracht wurde (cf. die Zahlen zur Gattungsentwicklung bei Funke: Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung, pp. 70 sq.). Ratzel: «Reisebeschreibungen», p. 189. Cf. weiter Le Huenen, («Le discours du decouvreur», pp. 27 sq.) der den Reisebericht als «genre extremement souple» charakterisiert. Ratzel: «Reisebeschreibungen», p. 199. 67

berichten Informationen aus zweiter Hand weitergegeben oder aber - aus Unkenntnis oder politischen Interessen - das tatsächlich Gesehene in der Darstellung verfälscht und verzerrt.4 Die Verläßlichkeit des Informationsgehalts in einem Reisebericht muß so nicht unbedingt größer sein als in einem Geschichtswerk: Tout aussi varie"s se dofinissent les modes du voyage, les curiositis et les intorets recherchis toujours reVelateurs d'une expedience et d'une personnaliti-, et voit se dessiner, a travers les textes, des rapports complexes entre {'information prdalablement recueillie et le fruit de l'observation directe et personnelle.^

Auch in ihren Urteilen und Kommentaren unterliegen die Autoren von Reiseberichten also oft den gleichen Voraussetzungen wie die zu Hause gebliebenen Geschichtsschreiber.

2. Andre Thevet und Jean de Lery als Autoren von Reiseberichten Zwei der wichtigsten Verfasser französischer Reiseberichte über Amerika sind Andre Thevet und Jean de Lery. Beide Autoren sind im Rahmen der Koloniegründung Villegagnons nach Brasilien gekommen und haben ihre dortigen Erfahrungen in Reisewerken beschrieben. Trotz dieser ähnlichen Voraussetzungen kommen sie in vielerlei Hinsicht zu einer diametral unterschiedlichen Auffassung des neuen Kontinents. Ihre persönliche Beziehung ist durch eine über Jahrzehnte anhaltende Feindschaft bestimmt. Sie führt zu Auseinandersetzungen, die unmittelbar in die Werke eingehen. Andre Thevet, der wahrscheinlich um 1504 in Angouleme in bescheidenen Verhältnissen geboren wurde, trat 1530 als Novize bei den Franziskanern ein.6 In den folgenden Jahren eignete er sich eine umfassende, vor allem sprachliche, Bildung an. So soll er nicht nur Latein und Griechisch beherrscht, sondern auch Hebräischkenntnisse besessen haben, die nach Febvre eine unverzichtbare Voraussetzung für die

Cf. zur Vermischung von Wahrem und Falschem in der Reiseliteratur Schmid: «Der weiße Fleck auf der Landkarte», p. 266: «In ihr [der Reiseliteratur -A. E.] beweisen die traditionellen Vorstellungen ein erstaunlich zähes Leben, sie lassen sich von keiner 'realen' Entdeckung korrigieren oder gar vertreiben.» Granderoute: (Rez.) « Voyager a la Renaissance », p. 110. Die Forschung hat bisher kein klares Bild von der Biographie Thevets rekonstruieren können. Sowohl die Angaben zu seiner Geburt als auch die zu seinen Reisen divergieren erheblich. Nach Gaffarel («Notice biographique», p. VI) wurde Thevet 1502 geboren, nach Baudry («Un dossier Thevet», p. 11) um 1504; Lestringant läßt das Geburtsdatum Thevets offen: «Thevet natt ä Angouleme en 1504, si en croit son ipitaphe, vers 1517 au plus tard, si s'en tient ä son propre t£moignage».(Lestringant, «Introduction [Singularites]», p. 12) Aufgrund dieser Unsicherheiten ist es kaum möglich, Schlüsse von seiner Herkunft auf sein soziales Verhalten zu ziehen: «Somit erweist sich unser Autor als ein Emporkömmling, der nach erheblichen MUhen und gegen mancherlei Widerstände sowohl in der Wissenschaft als auch bei Hof reüssierte und dem es kaum gelingen konnte, sich aus dem literarischen und sozialen Umfeld, das diesen Aufstieg ermöglicht und sanktioniert hatte, herauszulösen.» (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 171.)

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«connaissance scientifique» darstellten.7 Als seine herausragenden Merkmale werden in der Forschung übereinstimmend Reiselust und Neugierde genannt,8 die ihn zu zahlreichen Reisen veranlassen. Resultat seiner ersten großen Reise, die ihn in den Orient führte (1549-1552), ist die 1554 publizierte Cosmographie de Levant.9 Größere Berühmtheit erlangte Thevet allerdings durch die beiden Amerika-Berichte Les singularites de la France Antarctique (1558)10 und La Cosmographie universelle (1575). Daneben gibt es zu Amerika zwei Manuskripte Thevets, die allerdings erst postum publiziert wurden. Über das Entstehungsdatum des ersten Manuskripts, der Histoire d'Andre Thevet Angoumoisin, cosmographe du Roy, de deux voyages par lui faits aux Indes australes et occidentales herrscht keine Gewißheit; nach Lussagnet soll es 1585 verfaßt worden sein.11 Bei dem zweiten Manuskript handelt es sich um Le Grand Insulaire et pilotage, einen Text, den Thevet 1587 verfaßte.12 Inwieweit die in beiden Texten als authentisch beschriebenen Erfahrungen einen realen Hintergrund haben oder nur der Phantasie Thevets entsprungen sind, darüber können wohl immer nur Mutmaßungen angestellt werden. Tatsache jedenfalls ist, daß die Forschung nicht nur der Authentizitätsgehalt dieser umstrittenen Manuskripte beschäftigt, sondern daß bei Thevet generell - weitaus mehr als dies bei einem Lery oder Montaigne der Fall ist - Authentizitätsbeteuerungen angezweifelt werden.13 Thevets Teilnahme als Kosmograph von Henri II an der Brasilien-Expedition Villegagnons im Jahre 1555 ist in der Forschung unumstritten, über die Authentizität einer ersten Amerika-Reise Thevets gibt es jedoch stark divergierende Meinungen: Nach Baudry wird der Realitätsgehalt einer ersten Reise von der Forschung vorschnell «avec une legerete surprenante» abgetan;14 Lussagnet hingegen hält die Wahrscheinlichkeit einer solchen Reise für sehr gering. ^ Thevet will bereits um 1550 an einer Expedition von Guillaume Le Testu nach Brasilien teilgenommen Febvre: Le problems de l'incroyance au 16e siede, p. 354. Zu den Sprachkenntnissen Thevets cf. Baudry: «Un dossier Thevet», pp. 30 sq. Gaffarel spricht hingegen von einer «Education fort superficielle» (Gaffarel: «Notice biographique», p. VI). Cf. etwa Pochat: Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance, p. 192; Gaffarel: «Notice biographique», p. VII. Cf. Lestringant: «Introduction Angular ties]», p. 12. Dieser Text war unter den Americana des Jahrhunderts vielbeachtet, seine Authentizität ist aber nicht unumstritten; cf. etwa Moureau: (Rez.) « Thevet, Les Singularites de la France Antarctique», pp. 87 sq.; Lestringant: «Introduction [Singularifes]», pp. 18-23. Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Manuskripts Histoire de deux voyages cf. Les Franqais en Amerique [...], Le Bresil et les Bresiliens, pp. 241 sq., Anm. l sq. Zu Le Grand Insulaire cf. ibid., p. 313, Anm. l und 2. Cf. etwa Raymond: «Montaigne devant les sauvages d'Amirique», p. 21. Baudry: «Un dossier Thevet», p. 19. Baudrys Untersuchung ist - entgegen der Kritik Hassingers («Die Rezeption der Neuen Welt durch den französischen Späthumanismus», p. 100, Anm. 39) zugutezuhalten, daß er sich ausführlich mit den Argumenten Lussagnets auseinandersetzt und nicht einfach undiskutiert Forschungsmeinungen übernimmt, während Hassinger selbst Geweckes - mit schwachen Argumenten geführten - Nachweis der Autorschaft der Histoire des chases memorables unkritisch übernimmt und als «überzeugend» charakterisiert (ibid., p. 102, Anm. 45). Cf. Les Francais en Amerique [...], Le Bresil et les Bresiliens, pp. 241 sq., Anm. 2. Zur Auseinandersetzung Baudrys mit den Argumenten Lussagnets hinsichtlich einer möglichen ersten Reise Thevets cf. Baudry: «Un dossier Thevet», pp. 18-26. Für La Ronciere stellt die Amerikareise Thevets mit Le Testu - die Abfahrt soll am 14. Juni 1551 von Dieppe erfolgt sein -ein selbstverständliches Faktum dar. (La Ronciere: Histoire de la marine francaise, p. 11.) 69

haben;16 Zeugnis davon geben verschiedene, zum Teil unveröffentlichte Manuskripte, die Cosmographie universelle und die Portraits des hommes illustres.11 Von der Entscheidung der Frage, ob eine solche Reise Thevets tatsächlich stattgefunden hat, hängt der Authentizitätsgehalt und Glaubwürdigkeitsgrad seiner Amerika-Aussagen ab, der von Zeitgenossen, aber auch von der Forschung bis heute angezweifelt wird. Eine erste Reise Thevets würde für die Diskussion der Frage der Authentizität seiner Reiseberichte eine entscheidende Bedeutung haben: Bei der Villegagnon-Expedition hatte Thevet aufgrund einer Krankheit bereits nach zehn Wochen nach Frankreich zurückkehren müssen; Le Testu dagegen hatte zehn Monate in Brasilien verbracht. Falls Thevet ihn tatsächlich begleitet haben sollte, hätte er also über eine wesentlich größere Erfahrungsbasis verfügt. Tatsache jedenfalls ist, daß Thevet eine Fülle von Information über den neuentdeckten Kontinent Amerika mitgebracht und in seinen Berichten verarbeitet hat, deren Wert allerdings bis heute umstritten geblieben ist: Kaum ein Forscher außer Lestringant charakterisiert Thevets Singularites als «un des premiers monuments ethnographiques du genre»,18 sonst wird Thevet in der Regel als rückständig und naiv abqualifiziert. Nahezu ausschließlich positiv wurde hingegen die erstmals 1578 publizierte Histoire d'un voyage fait en la terre du Bresil des Calvinisten Jean de Lory rezipiert.19 Den Erfolg der Histoire belegen die bereits zu Lebzeiten des Autors erzielten sechs Auflagen. Jean de Löry, der 1534 in La Margelle in der Bourgogne geboren wurde und wahrscheinlich niederem Adel entstammte,20 war bereits ISjährig nach Genf, in die «ville du refuge», aufgebrochen. Als Schüler Calvins reist er 1555 nach Brasilien, um die bereits von Villegagnon gegründete Kolonie zu unterstützen. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich beendet er zunächst sein Theologiestudium in Genf; 1559 heiratet er die Genferin Rachel Jannaz und wird 1560 zum «bourgeois de Geneve» ernannt. 1564 ist er als Pastor in Nevers, 1569 in La Charite-sur-Loire tätig. Lery, der den Massakern der Bartholomäusnacht entkommen kann, flüchtet sich in die von Hugenotten besetzte Stadt Sancerre. Nach siebenmonatiger Belagerung, die von den Betroffenen größte Entbehrungen verlangte, muß die Stadt kapitulieren. Lery beschreibt dieses Ereignis in der Histoire memorable de la ville de Sancerre, die er 1574 publiziert. Nach dem Fall der Stadt begibt sich Lery zunächst nach Biet, dann nach Bourges, Genfund schließlich Bern, wo er 1613 stirbt. 16

Cf. etwa die folgende Aussage Thevets: «Je confesse en quelque endroit que j'arrivay en l'Ameiique en l'an mil cinq cens cinquante qui flit mon premier voyage sous la conduite de ce valeureux pilote et capitaine Testu ... Depuis, 1'an mil cinq cens cinquante cinq je feit un autre voyage et accompagnay le seigneur de Villegagnon» (zit. nach Baudry: «Un dossier Thevet», p. 22 [Auslassung in der Vorlage]). Von einer ersten Amerika-Reise spricht Thevet auch in Les deux voyages, p. 283. '7 Eine Aufstellung der unveröffentlichten Manuskripte - von denen zwei durch ihren Titel auf eine erste Amerikareise verweisen- gibt Gaffarel: «Notice biographique», p. XXVI. !8 Lestringant: «Introduction [Singularity, p. 8. 19 Immer wieder wird auf die «modernite» des Textes verwiesen (cf. etwa Delpech: «Introduction», 15 ,20 rt P- >Cf. Morisot: «Introduction», p. VIII. Eine detaillierte Beschreibung von Person und Werk Lirys findet sich ibid., pp. VIII-XIV; Delpech: «Introduction», pp. 10-14, pp. 19-20. Generell gilt für Lery, der anders als Thevet nach seiner Rückkehr nach Frankreich kerne besonders exponierte Stellung im öffentlichen Leben eingenommen hat, daß über seine Biographie nur wenig bekannt ist; die meisten Angaben sind aus seinem Reisebericht entnommen. Die bekannten Fakten werden zusammengetragen von Morisot: «Introduction», pp. VIII-X.

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Die Histoire d'un voyage fait en la terre du Bresil hat bis heute große Beachtung gefunden. Dieser Bericht erschien in einer ersten Fassung 1578, also erst etwa 20 Jahre nach der Reise. Es wurde gelegentlich vermutet,21 daß neben Lerys bekanntem Reisebericht auch ein bereits 156l22 anonym erschienener Bericht ihm zuzuschreiben ist, der später unter dem Titel Histoire des chases memorables aduenues en la terre du Bresil, partie de l'Amerique australe, sous le gouvernemenf de N. de Villegaignon, depuis Van 1555 jusqu'a Van 1558 in Jean Crespins Histoire des martyrs erschien. Die verspätete Publikation von Lerys Histoire d'un voyage hat wohl ihren Grund darin, daß er mit ihr auf die Veröffentlichung von Thevets Cosmographie universelle reagierte, gegen die Lory in seinem Text entschieden Stellung bezog.23 Lery, der sich selbst als «Fräcois naturel [...], ialoux de ITionneur de mon prince» versteht, fürchtet angesichts der Unfähigkeit Thevets als Hofkosmograph eine Minderung der königlichen Autorität.24 Daneben dürfte für die abwehrende Haltung Lerys gegenüber dem Franziskaner Thevet auch die unterschiedliche Konfessionszugehörigkeit verantwortlich gewesen sein. Mit seiner Kritik an Thevet stand Lery nicht allein. Der zu seiner Zeit beruflich wie publizistisch überaus erfolgreiche Hofkosmograph hatte bereits unter den Zeitgenossen zahlreiche, teilweise auch seriöse, Kritiker und Neider gefunden, zu denen neben Lery auch Belieferest, Fumee und vor allem Auguste de Thou gehören, die alle selbst eine bedeutende Rolle im wissenschaftlichen Leben Frankreichs gespielt haben.25 Lory hat sich in seinem Reisebericht ziemlich ausführlich über die Absichten geäußert, die er mit seiner Reise und der Publikation des Berichts verband. Über die 21

Der Beweis für diese Vermutung ist nicht schlüssig zu führen. Die neuere Forschung nimmt diesen Text fast durchgangig nicht zur Kenntnis. Ob die von Geweckt angeführten Argumente für die Zuschreibung der Verfasserschaft wirklich stichhaltig sind, wäre noch eingehend- etwa unter Zuhilfenahme genauer Stilanalysen - zu erörtern. Die Zuschreibung des Textes zu Lery findet sich schon bei Gaffarel, (Histoire du Bresil fran^ais au setzieme siecle, p. 432, Anm. 1) dessen «preuve que la relation a röellement composed par L£ry» allerdings wenig zufriedenstellend ist. Detaillierter setzt sich Lelievre mit dem Text auseinander, indem er auch Pierre Richer als möglichen Verfasser in seme Überlegungen einbezieht; aufgrund der «forme de ce rfcit et la maniere» kommt er zu dem Ergebnis, den Text L£ry, und nicht Richer, zuzuschreiben. (Lelievre: «Notes», p. 448, Anm. 1.) Es ist also keineswegs -wie Hassinger behauptet, der im übrigen die bibliographische Lage durch Mißverständnisse noch zusätzlich verwirrt -das Verdienst Geweckes, die Autorschaft Llrys bewiesen zu haben; diese Autorschaft ist vielmehr nach wie vor nicht eindeutig bewiesen, wenn auch recht wahrscheinlich. Die gewichtigeren Argumente, die dafür sprechen, wurden von Lelitvre vorgetragen, den Gewecke nicht zu kennen scheint. - Da die Argumente für die Verfasserschaft LeYys insgesamt recht plausibel sind, wird im folgenden davon ausgegangen, daß auch dieser erste, anonyme Text von ihm stammt. 22 Das Datum nach Geweckes etwas unklarer Darstellung; cf. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 191. 2 3 Cf. zur Polemik zwischen Le~ry und Thevet Morisot: «'Lüistoire d'un voyage fah en la terre du Brasil' de Jean de Lery», pp. 28 sq. 24 Le~ry: Histoire d'un voyage, Preface [p. 17] (fingierte Paginierung). Lirys Erklärung mutet etwas eigenartig an, da er Mitglied des Genfer Bürgertums gewesen ist; ein Status, den er sich erkauft hatte, wie es bei Personen üblich war, die keinen besonderen Nutzen für den Genfer Stadtstaat hatten. (Cf. Kingdon: Geneva and the Consolidation of the French Protestant Movement 15641572, p. 34.) ·" Cf. Touzaud: «Andre* Thevet d'Angoul€me», p. 8, pp. 28-30. Cf. auch Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, pp. 379-381 («Les adversaires de Thevet»). Zu den «ennemis achamds» Thevets cf. auch Gaffarel: «Notice biographique», pp. XXIX-XXXII.

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äußeren Umstände, die für den Entschluß, die gefährliche Reise zu unternehmen und auch darüber zu berichten, entscheidend waren, informieren vor allem die «Preface» und das Widmungsschreiben an Fran9ois de Coligny. Lery war als Vertreter des calvinistischen Glaubens nach Brasilien gegangen; die Verbreitung seiner Religion spielte für ihn also eine zentrale Rolle. Das wird besonders deutlich in seiner Polemik vor allem gegen Thevet, aber auch gegen Villegagnon - der sich von calvinistischen Vorstellungen entfernt hatte -, mit der Lery von vornherein seine auf die Ausgangskultur bezogene Interessenlage bekundet.26 Auch die in Chronikform angelegten Kapitel der einleitenden und abschließenden Passagen der Histoire sowie das der brasilianischen Kolonie Villegagnons gewidmete Kapitel VI verweisen eher zurück auf Europa und seine Probleme als auf die Erfahrungen in der Neuen Welt. Andererseits aber läßt der Untertitel der Histoire neben der Absicht einer Darstellung der «navigation & choses remarquables, veues sur mer par I'aucteur» und einer Auseinandersetzung mit Villegagnon zugleich das Ziel einer auf die amerikanische Welt gerichteten Beschreibung erkennen: Les mceurs & facons de viure estranges des Sauuages Ameriquains: auec vn colloque de leur langage. Ensemble la description de plusieurs Animaux, Arbres, Herbes, & autres choses singulieres, & du tout inc

Die Frage, welche der beiden Komponenten, das auf die Ausgangskultur bezogene Interesse oder die Absicht einer Beschreibung des neuen Kontinents, bei Lory im Vordergrund stehen, ist schwer zu beantworten. Von ihr hängt auch ab, ob und inwieweit sich Lerys Darstellung der Neuen Welt von europäischen Vorgaben, insbesondere den politischen und konfessionellen innereuropäischen Konflikten zu lösen vermag. Zur Klärung dieser grundlegenden Probleme müssen zunächst seine mit der Reise wie auch die mit der Niederschrift des Berichts verbundenen Intentionen genauer untersucht werden. Die ausführliche Einleitung, in der Lery sich mit den Umständen der Reise auseinandersetzt, wurde in späteren Ausgaben seines Werkes meist gekürzt oder ganz gestrichen; auch in der Forschungsliteratur fand sie nur wenig Beachtung. Tatsächlich liefert aber erst sie den Schlüssel zum Verständnis seines Werkes. Lerys Vorrede zu seiner Histoire d'un voyage wie auch das der Histoire vorangestellte Widmungsschreiben an Franfois de Coligny lassen keinen Zweifel daran, daß die Beschäftigung mit der Neuen Welt für ihn zunächst nur von sekundärem Interesse war. Vielmehr steht seine Reise eindeutig mit konfessionellen Bestrebungen in Zusammenhang: Sowohl Lerys Aufbruch in die von Villegagnon in Brasilien neugegründete Kolonie im Auftrag der Genfer Kirche als auch zahlreiche persönliche Stellungnahmen, in denen Lery seinen Wunsch nach Verbreitung der reformierten Religion bekundete, 26 Heulhard, nahezu der einzige Autor, der den Versuch einer Rechtfertigung Villegagnons unternimmt, kritisiert dessen einseitige Verurteilung durch die Calvinisten, wobei er auch Le~ry anfuhrt .(Heulhard: Villegagnon, iij.) Villegagnon muß schon zu seinen Lebzeiten eine ziemlich umstrittene Person gewesen sein; so gibt es offensichtlich eine ausgedehnte calvinistische Satireliteratur über ihn; cf. Parkman: Pioneers of France in the New World I, p. 25 (Anm. 1). Hier auch weitere Hinweise zur Biographie Villegagnons und zu seiner Koloniegründung, cf. ibid., pp. 24-32; cf. weiter zur Biographie Villegagnons und seiner Koloniegründung Clerc: «Introduction», pp. 1 840. Cf. dazu den fast identischen Aufsatz von Clerc (ebenfalls 1927 publiziert) mit dem Titel: «Le voyage de Le~ry et la de~couverte du "bon sauvage'», pp. 3 12-323. Zur Person Villegagnons und der Kolonie cf. auch Thelemann, Lachenmann: «Villegaignon», pp. 646-649. 27 Lory: Histoire d'un voyage (Titelblatt). 72

bestätigen dies. Lery, der sich in Genf bei Calvin aufhielt, kam - neben weiteren 13 Personen - 155628 der brieflichen Aufforderung Villegagnons nach, die in jeder Hinsicht geschwächte Kolonie29 durch seine missionarische Arbeit zu unterstützen, obwohl er erst nach seiner Rückkehr 1558 in Genf sein Theologiestudium beendete.30 Villegagnon erbat sich nicht nur Geistliche, sondern auch Laien: pour tant mieux reformer luy & ses gens, & mesme pour attirer les sauuages ä la cognoissance de leur salut, que quelques nombres d'autres personnages bien instruits en la Religion Chrestienne accompagnassent lesdits Ministres pour Taller trouuer.3'

Inwieweit sich der spätere protestantische Pastor auch «en qualite d'artisan»32 nach Brasilien begab, scheint umstritten zu sein. Lery selbst sah zu diesem Zeitpunkt seine primäre Aufgabe eindeutig in der calvinistischen Glaubensverbreitung in der Kolonie selbst sowie in seiner missionarischen Unterstützung der bereits in Brasilien lebenden reformierten Franzosen bei der Bekehrung der Indianer: Comme doncques mon intention est de perpetuer icy la souuenance d'vn voyage fait expresse~ment en l'Amerique pour establir le pur seniice de Dieu, tant entre les Francois qui s'y estoyent retirez, que parmi les Sauuages habitans en ce pays-la [...].33

Damit steht er nicht nur in einer langen christlichen, sondern auch in einer spezifisch calvinistischen Tradition, da die «Berufung der Heiden» von Calvin als eines der charakteristischen und wichtigsten Momente interpretiert wurde, in denen sich das Neue vom Alten Testament unterschied.34 In Lerys Überlegungen überwiegt, abweichend von der tatsächlichen Durchführung der Histoire, die Missionierungsabsicht. Sie ist das Motiv, dem sich zunächst alle anderen unterzuordnen haben.

2

* Le"ry (ibid., p. 8) gibt das Datum seiner Abreise in Honfleur mit dem 19. November 1556 an. Zu den zeitlichen Abläufen cf. Gue~nin: Premiers essais de colonisation. Les Francais au Bresil et en Floride, pp. 32 sq. Nach Parkman: Pioneers of France in the New World I, p. 26 sind die Kolo-niegründer im Juli 1555 in Le Havre aufgebrochen, und im November angekommen; die zweite Gruppe mit Le"ry ist am 9. März 1557, nach viermonatiger Reise angekommen (cf. p. 28). 29 Cf. Lory: Histoire d'vn voyage, pp. 5 sq. Sowohl der in der «Prtface» [pp. 7 sq.] der Histoire d'un voyage abgedruckte Brief Villegagnons an Calvin vom März 1557 als auch insbesondere das erste Kapitel der Histoire d'un voyage zeugen von den zahlreichen Schwierigkeiten, die Villegagnon bei der Koloniegründung hatte. Gründung und Fortbestehen von Fort Coligny waren nicht nur von den brasilianischen Indianern, den feindlichen Portugiesen und den widrigen Lebensumständen bedroht, sondern die größte Gefahr stellten die internen Konflikte unter den Bewohnern des Forts selbst dar. Religiöse Differenzen bis hin zu Aufruhr und offener Rebellion, die vor allem aufgrund von Villegagnons strengem Regiment entfacht wurden, führten zu Abwanderungen seiner Leute. Cf. zu den Streitigkeiten in Fort Coligny auch Llvi-Strauss: Tristes tropiques, pp. 91 sqq. und Guinin: Premiers essais de colonisation. Les Francois cu Bresil et en Floride, pp. 35 sqq. Zu den Schwierigkeiten der Koloniegründung cf. auch: Dokumente zur europäischen Expansion III, pp. 181-183. 30 Zur Biographie Le"rys cf. Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 400, Anm. 2. 3 1 Lory: Histoire d'un voyage, pp. 4 sq. 32 Clerc: «Introduction», p. 14. Cf. dazu weiter Delpech: «Introduction», p. 13. An der missionarischen Zielsetzung Le*rys jedenfalls kann nicht gezweifelt werden: «II est d'ailleurs parfaitement exact que dans les expeditions de Thevet, et surtout de Villegagnon et de Lory, cette finalitd religieuse ou missionaire ötait constamment präsente.» (Margolin: «Voyager a la Renaissance», p. 11.) 33 Le"ry: Histoire d'un voyage, A.ij. (Widmungsbrief an Francois de Coligny vom Dezember 1577.) 34 Calvin: Unterricht in der christlichen Religion, p. 282 (II/l 1,12).

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Weiteren Aufschluß über die überwiegend religiösen Beweggründe, die Lory zu der Überfahrt nach Brasilien veranlaßten, geben der im Vorwort der Histoire abgedruckte Brief Villegagnons an Coligny und vor allem Kapitel I und VI der Histoire. Auch Villegagnons Befürchtung, daß wegen der mangelnden missionarischen Betreuung in Fort Coligny die Religionsausübung nicht mehr gewährleistet sei,35 lassen die konfessionelle Motivation dieser aus Genf gesandten Reformierten erkennen. Im ersten Kapitel seiner Histoire berichtet Lery explizit von Villegagnons Bitte um Hilfe in dieser «saincte entreprise».36 In Kapitel VI unterstreicht Lery im Namen aller Mitreisenden nochmals die konfessionellen Beweggründe der Reise: «que c'estoit pour dresser vne Eglise reformee selon la parole de Dieu en ce pays-la».37 Ob jedoch Villegagnon - wie dies Lory in seiner Histoire vorgab - tatsächlich nur die Verbreitung des reformierten Glaubens betrieben hatte und nicht etwa ganz allgemein einen Zufluchtsort für alle in Frankreich religiös Verfolgten schaffen wollte, wird in der Forschung diskutiert.38 Lory selbst schien das missionarische Selbstverständnis Villegagnons ausschließlich mit dem reformierten Glauben zu verbinden;39 nur so wird auch seine Enttäuschung angesichts von Villegagnons Abfall von der calvinistischen Religion verständlich.

3. Die Auseinandersetzungen um Villegagnons Kolonie im Spiegel von Lerys Histoire d'un voyage Mit diesen ausführlichen Erläuterungen in der «Preface« und anderen Stellen des Textes gehört Lerys Histoire d'un voyage zu den nicht sehr häufigen Fällen in der Reiseliteratur, in der der Autor eines Reiseberichts sich deutlich Rechenschaft ablegt über die Gründe, die ihn zur Abfassung seines Reiseberichts bewogen haben. Der Reisebericht erscheint nicht nur einfach als konsequente Fortsetzung und Auswertung der Reise, sondern mit seiner Publikation werden eigene Absichten verfolgt tatsächlich bedarf es ja der Erklärung, daß Lory erst 20 Jahre nach der Reise den Bericht unter seinem Namen veröffentlichte.

35 36 37 38 39

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Cf. Lory: Histoire d'un voyage, Preface [p. 8]. Ibid., p. 4. Ibid., p. 54. Cf. Vaucheret: «Jean Nicot et l'entreprise de Villegagnon», pp. 97 sq. Daß Lery in Villegagnon ausschließlich einen Vertreter des calvinistischen Glaubens gesehen hatte, belegen mehrere Stellen seiner Histoire d'un voyage (p. 2, p. 3, p. 62, p. 66). So legt er Villegagnon folgende Worte in den Mund: «ie veux que nostre Eglise ait le renom d'estre la mieux reformee par dessus toutes les autres» (ibid., p. 55). Zwar finde sich bei Villegagnon auch die Idee einer Kolonie als Zufluchtsort für alle religiös Verfolgten: «Villegagnon [...] fit entendre en diuers endroits du Royaume de Fräce ä plusieurs notables personnages de toutes qualitez, que das long t£ps il auoit non seulement vne extreme enuie de se retirer en quelque pays lointain, oü il peust libremit & puremSt seruir ä Dieu selon la reformation de l'Euangile: mais qu'aussi il desiroit d'y preparer lieu a tous ceux qui s'y voudroye't retirer pour euiter les persecutiös»; (ibid., p. 2) doch waren die religiös Verfolgten im Frankreich des 16. Jahrhunderts de facto zum größten Teil Calvinisten. Auch bei der Beschreibung von Villegagnons Werbekampagne für die Kolonie betont Lory, daß Villegagnon vor allem bei Reformierten um Unterstützung warb (ibid., p. 3). Ebenso mußte Villegagnons Brief an Coligny mit der Bitte um neue Mitglieder für seine Kolonie von Lory als calvinistisches Glaubensbekenntnis interpretiert werden.

Lorys Absichten, eine Histoire d'un voyage fait en la terre du Bresil zu verfassen, sind ebenso vielfältig und diffus wie die Entstehungsgeschichte der Histoire selbst. Wie die meisten Reisenden, so verfaßt auch Leiy seinen Reisebericht zunächst deshalb, um die Gründe für den Aufbruch zu benennen,40 und um den Reiseverlauf,41 die Beschreibung des bereisten Landes42 und das Verfolgen seiner Ziele schriftlich zu fixieren und dadurch der Nachwelt zu überliefern. Zugleich geht Lery aber in seinem Text weit darüber hinaus. In die Niederschrift seiner Reiseerfahrungen arbeitet er im großen Umfang auch jene Konflikte mit ein, die ihre publizistische Wirkung erst nach dem Scheitern des Kolonisierungsversuchs, also lange nach dem Abschluß seiner Reise, entfaltet haben. So ist etwa das dem Reisebericht vorangestellte Widmungsschreiben nicht nur allgemeiner Ausdruck des Dankes an die Person, die ein Kolonisierungsvorhaben unterstützt; das Widmungsschreiben an Francois de Coligny dient vielmehr der Propagierung des calvinistischen Glaubens. Fra^ois de Coligny sowie sein Vater, Gaspard de Coligny, die sich beide um die reformierte Kirche verdient gemacht hatten,43 dienten Lory als positive Gegenmodelle zu Villegagnon und Thevet, die den Calvinismus in Mißkredit gebracht hatten oder ihn bekämpften.44 Lery fühlte sich verpflichtet, der Nachwelt den Namen Coligny zu überliefern, der «la cause & le motif» der «si saincte & vrayement heroique entreprinse» war.45 Zwar gilt das Lob bei diesem unvergleichlichen Unternehmen nicht dem «Calvinisten», sondern dem «Christen»: Et de fait, osant asseurer, que par toute Fantiquito il ne se trouuera, qu'il y ait iamais eu Capitaine Fran9ois & Chrestien, qui tout a vne fois ait estendu le regne de lesus Christ Roy des Roys, & Seigneur des Seigneurs, & les limites de son Prince Souuerain en pays si lointain4^

Aus dem Kontext geht jedoch klar hervor, daß sich Lery nach wie vor ausschließlich als Apologet des calvinistischen Glaubens versteht. Hieraus bezieht er auch seine Motivation für die Niederschrift der Histoire: Sie sollte die Erinnerung an die Reise nach Brasilien, die aus missionarischen Gründen unternommen wurde, wachhalten.47 Die Widmung an Coligny verfolgte zudem sicherlich auch ein konfessionspolitisches Ziel, nämlich den Wunsch nach Unterstützung von Adligen für die Sache des Calvinismus. Mit der Publikation des Textes begibt sich Lery in das unmittelbare Umfeld von konfessionspolitischen Streitigkeiten, wie sie einige Jahre zuvor wieder entflammt 40 41 42 43 44

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Cf. ibid., Priface [p. 24]. Cf. die Anfangskapitel I-V und die Schlußkapitel XXI-XXII der Histoire d'un voyage. Cf. ibid., cap. V-XX. Cf. ibid., Aiij. Leiy kritisiert Villegagnon insbesondere, weil er ihn für das Scheitern der brasilianischen Kolonie verantwortlich macht: «il faut attribuer la faute & la discontinuation, tant a Villegagnon, qu'ä ceux qui auec luy, au lieu (ainsi qu'ils en auoyent le commencement, & auoyent faict promesse) d'auancer ceuure, ont quitto la forteresse que nous auions bastie» (ibid., A.ij.v.). Leiys weitaus schärferer Ton gegen Thevet geht nur zum Teil auf dessen vorzeitiges Verlassen von Fort Coligny zurück. Leiy fühlt sich als Calvinist so stark von Thevet angegriffen, daß er sein Werk unter Colignys Schutz stellt: «i'ay publio ce mien petit labeur sous vostre auctorite*. loint que par ce moyen ce sera vous auquel Theuet aura non seulement a respondre, de ce qu'en general, & autant qu'il a peu, il a condamnö &. calomnio la cause pour laquelle nous fismes ce voyage en l'Amerique» (ibid., A.iij.). Ibid.,A.ij. Ibid.,A.ij. Cf. ibid., A.ij. 75

waren. Dabei spielte auch Thevet eine besondere Rolle, so daß sich hieraus die Polemik Lerys gegen ihn erklären läßt. Für Lery nahm die Notwendigkeit, den reformierten Glauben zu verteidigen, mit dem «renouveau du debat, confessionnel et politique, autour de l'affaire du Bresil»48 zu, den Thevet 1575 mit der Veröffentlichung seiner Cosmographie universelle auslöste. Man mag die gelegentlich geäußerte Auffassung, die Lerys Histoire als unmittelbaren polemischen Gegenentwurf zur Cosmographie versteht und somit die Geschichte der verschwundenen Manuskripte als Märchen abtut, teilen oder nicht;49 unübersehbar ist jedenfalls Lerys intensive Auseinandersetzung mit seinem Antagonisten Thevet, die sich durch die gesamte Histoire zieht.50 Das Bedürfnis, sich mit Thevet kritisch zu beschäftigen sowie dessen Unwahrheiten über die Kolonie, aber auch über die amerikanischen Sitten und Bräuche aufzudecken, ist nach Lerys eigener Darstellung auch einer der wesentlichen Gründe für die Veröffentlichung seiner Histoire gewesen: ie prieray les lecteurs, qu'en se resouuenant de ce que i'ay dit ci dessus, que les impostures de Theuet centre nous ont este" cause en partie de me faire mettre ceste histoire de nostre voyage en lumiere.51

Lerys Angriffe gegen den Franziskaner Thevet gehen, wenn auch nicht ausschließlich, so doch in erster Linie auf religiöse Differenzen zurück: Car, comme i'ay dit ailleurs, n'ayant iamais veu Theuet, que ie sache, ny receu desplaisir de luy pour mon particulier, ce que ie I'ay contredit en ceste histoire est seulement pour oster Ie blasme qu'il auoit voulu mettre sus a l'Euangile, & ä ceux qui de nostre temps l'ont premierement annoncee en la terre du Bresil.5^

Lery betont zwar, daß seine Kritik an Thevet nicht persönlich motiviert sei. Dennoch finden sich in der Histoire auch polemische Beschimpfungen der Person Thevets.53 Der Kernpunkt seiner Argumentation ist jedoch der Versuch, unter Rückgriff auf wörtliche Zitate und detaillierte Stellenverweise aus der Cosmographie universelle

4% Morisot: «Introduction», p. XI. 49 Nach Le"rys eigenen Aussagen will er schon während seines Aufenthaltes in Brasilien Aufzeichnungen über die Neue Welt gemacht haben. Die erste schriftliche Abfassung, die er 1563 auf Rat von Freunden angefertigt habe mit dem Titel Persecution des fideles en la terre de l'Amerique geht angeblich verloren. Lory will ein zweites Exemplar mit Hilfe seiner Aufzeichnungen vorbereitet haben, das erneut, diesmal bei der Flucht nach Sancerre, verlorengeht. Erst 1576 gelingt es ihm schließlich, das erste Manuskript wiederzubekommen, das er dann 1578 unter dem Titel Histoire d'un voyage fait en la terre du Bresil veröffentlichen kann. Vor allem von katholischer Seite soll Lorys Reisebericht als direkte Gegenschrift zu Thevet aufgefaßt worden sein. Cf. Clerc: «Introduction», p. 16. 50 Die Polemik zwischen Le"ry und Thevet tritt zwar in den Kapiteln über die Neue Welt zurück, verschwindet jedoch nie ganz. Morisot unterstreicht die Zunahme der Polemik in der Ausgabe von 1580. (Morisot: «Introduction», p. XI). Auch die von Morisot im Anhang seiner kritischen Ausgabe angeführten Ergänzungen Lorys in seiner Ausgabe von 1611 belegen ein Fortbestehen der Polemik gegen Thevet und Villegagnon. (Morisot: «Notes et variantes», pp. 413 sqq.) 1 l Lory: Histoire d'un voyage, Prtface [pp. 22 sq.]. Umgekehrt richtet auch Thevet gegen L6ry den Vorwurf, Dinge zu beschreiben, die er nicht aus eigener Erfahrung kenne: «Ie ne daigneroye Ie [Lory - A. E.] battre par l'experience, puis que ie S9ay bien qu'il n'a point veu celuy, duquel nous parlons, & que portant il ne voudra s'humilier ä raison sans l'experie~ce, qui seule fait sages les fols.» (Thevet: Les vrais portraits et vies des hommes illustres, p. 662.) 52 Lory: Histoire d'un voyage, Preface [p. 23]. 53 Cf. etwa ibid., Priface [p. 6, p. 21]. 76

und den Singularites, Thevets Aussagen als falsch zu entlarven, indem er insbesondere dessen Mitteilungen über die Indianer als übertrieben und unwahr abweist.54 Auch die Diskussionen um das Scheitern der Koloniegründung spielen in dieser Konfrontation eine Rolle: Lery bestreitet Thevets Vorwürfe, daß innere Streitigkeiten und mangelndes religiöses Engagement das Ende der Kolonie Villegagnons und damit auch der Bekehrung der Indianer herbeigeführt hätten.55 Diese Konlikte zwischen Lery und Thevet verdichteten sich bald zu der Frage, welcher von den beiden Reisenden über genauere Kenntnisse der Neuen Welt verfugte.56 Das wichtigste Motiv für Lerys Niederschrift der Histoire ist zweifellos konfessionspolitischer Natur gewesen. Die Histoire ist durchzogen von konfessioneller Polemik, die sich vor allem gegen Villegagnon, gegen Thevet, aber auch direkt gegen den Papst richtet.57 Im Zentrum dieses Komplexes stehen die konfessionellen Streitigkeiten, die es bei der Koloniegründung gegeben hatte.58 Sie sind eines der Themen in Lerys Reisebericht. Die Erläuterung dieser Vorgänge und ihre nachträgliche Erklärung dürften das eigentliche Ziel der Histoire d'un voyage gewesen sein. Lery geht es dabei darum, noch einmal die Position der Calvinisten in den konfessionspolitischen Streitigkeiten deutlich zu machen und sich der französischen Öffentlichkeit als zu Unrecht Verfolgte vorzustellen - eine Absicht, die angesichts der permanenten Konflikte zwischen Katholiken und Hugenotten in Frankreich direkte innenpolitische Konnotationen hatte.59 Bei dieser nachträglichen Aufarbeitung der zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse steht die Auseinandersetzung mit dem Koloniegründer Villegagnon im Zentrum. Lerys positives oder negatives Urteil über dessen Person und sein Verhalten ist dabei in erster Linie von Villegagnons etwas unklarer und wohl auch wechselnder Haltung zum Calvinismus abhängig. Als «zelateur» des calvinistischen Glaubens erfahrt Villegagnon von Seiten Lerys Zustimmung, ja sogar Bewunderung;60 selbst 54

Lory argumentiert mit dem kurzen Aufenthalt Thevets von 10. November 1555 bis zum 31. Januar 1556 in Brasilien, der seiner Meinung nach kaum ausreichend sein konnte, die Vielfalt der indianischen Welt zu erfahren (cf. ibid., PreTace [p. 19]). Auch habe Thevet die Sprache der Indianer nicht hinreichend genug beherrscht, um über deren Sitten Aussagen machen zu können (ibid., PreTace [p. 20]). Cf. das Widmungsschreiben an Coligny; ibid., A.iij. 55 Cf. ibid., Pröface [pp. 3 sqq.]. 56 Lussagnets detaillierter und umfangreicher Kommentar zu Thevets Brasilienberichten sind ein Versuch - unter Einbeziehung entsprechender Textstellen bei Lory- Aufschluß darüber zu gewinnen, welcher der beiden Autoren bei seiner Beschreibung näher an der ethnographischen Wirklichkeit bleibt. (Cf. Les Franqais en Amerique [...], Le Bresil et les Brasiliens.) 57 Cf. etwa Lory: Histoire d'un voyage, Preface [p. 16, p. 21, p. 22]. Von einer sachlichen Auseinandersetzung Le"rys mit der katholischen Religion kann hier nicht mehr die Rede sein. Wenn er etwa einem gewissen Matthieu de Launay vorwirft, an die «cystemes puantes du Pape» zurückgekehrt zu sein, so zeigt sich darin deutlich der polemische Gehalt seiner Argumentation (ibid., PreTace [p. 24]). Das Überlegenheitsgefühl, das Lory aufgrund seiner calvinistischen Konfession hat, findet seinen Ausdruck auch darin, daß er sich Über die an «S. Nicolas» gerichteten Versprechungen und Gebete der «matelots papistes» mokiert (ibid., p. 362). Zu Lerys Angriff gegen die «papistes» cf. auch L£ry: Histoire memorable de la ville de Sancerre, pp. 14 sq. 58 Zu den Streitigkeiten in der Kolonie cf. auch Parkman: Pioneers of France in the New World I, pp. 29 sq. 59 Zur französischen Religionspolitik im 16. Jahrhundert cf. Lutz: «Der politische und religiöse Aufbruch Europas im 16. Jahrhundert», pp. 104-108. 6 " Liry: Histoire d'un voyage, p. 59. L6ry bewundert Villegagnons vorbildhafte Haltung beim Gebet oder akzeptiert die von ihm erstellten Regeln (ibid., p. 56). Auch die von Lery mit Ironie be-

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die von Villegagnon über die Franzosen für den Verkehr mit Indianerinnen verhängte Todesstrafe findet seine Zustimmung, da sie im Interesse der reformierten Kirche lag.61 Auf der anderen Seite ändert sich sein Urteil über Villegagnon sofort, wenn religiöse Meinungsdifferenzen ins Spiel kommen. Religiöse Konflikte um rituelle Details, wie sie beispielsweise aus unterschiedlichen Interpretationen des Abendmahls an Pfingsten resultierten, rufen bei Lory eine Verschiebung in seinem Urteil über Villegagnon hervor, den er jetzt als «un esprit de contradiction» bezeichnet.6^ Dabei geht er sogar so weit, Villegagnon und seine Anhänger mit Kannibalen zu vergleichen und damit ein Thema anzuschlagen, das direkt oder unterschwellig eine wichtige Rolle in den konfessionellen Konflikten in Frankreich spielt: ils vouloySt neantmoins non seulement grossieremSt, plustost que spirituellement, manger la chair de lesus Christ, mais qui pis estoit, ä la maniere des sauuages nommez Ou-etacos, dont i'ay parle" ci deuant, ils la vouloyent mascher & aualer toute crue6^

Villegagnons anti-calvinistische Haltung, die schließlich im endgültigen Bruch mit den in Fort Coligny lebenden Calvinisten gipfelt,64 führt zu einer zunehmend schärfer werdenden Kritik:65 Lery beschreibt Villegagnon jetzt als Despot, der allen «fort mauuais visage» zeigt.66 Die gleichermaßen grausame Behandlung seiner eigenen Leute wie der Indianer läßt diese den Tod durch die Feinde einem Leben in Fort Coligny vorziehen: Si nous eussions pense" que Paycolas [...] nous eust traitö de ceste fa9on, nous nous fussions plustost faits manger ä nos ennemis que de venir vers luy.6^

Angesichts dieser Situation erscheint Lery und seinen Mitstreitern der Rückzug aus dem Fort unvermeidbar, um die «reformation de l'Euangile»68 aufrechtzuerhalten. Die Histoire zeichnet diese Vorgänge in weiten Passagen detailliert nach. Es ist offensichtlich L&ys Hauptanliegen, die eigene Haltung, insbesondere sein Verlassen der Kolonie, zu rechtfertigen und das Verhalten Villegagnons an die Öffentlichkeit zu bringen. Das Bedürfnis nach einer solchen Klärung war auch lange nach der Aufschriebenen rigorosen Arbeitsanforderungen werden von ihm undiskutiert befolgt (ibid., pp. S6 Sq )

' -ibid., pp. 71 sq. Cf. 2 Ibid., p. 73. Cf. zu Villegagnons widerspruchlicher Haltung anläßlich des Abendmahls auch Guonin: «puis, brusquement, il (Villegagnon -A. E.) doclara que Calvin, dont il avait fait jusqu'alors l'apologie, n'otait qu'un hor&ique deVoye" de la foi, renia les doctrines de l'oglise formoe» (Guenin: Premiers essais de colonisation. Les Franqais au Bresil et en Floride, p. 36). 6 ^ Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 68. Die Transsubstantiationslehre war den Protestanten Anlaß, die Katholiken mit Kannibalen gleichzusetzen (cf. dazu Lestringant: «Catholiques et cannibales», pp. 239-243). 64 Cf. L6ry: Histoire d'un voyage, pp. 83 sq. 65 Lory und seine Mitreisenden durchschauen Villegagnons Verhalten: «Conclusion, la dissimulation de Villegagnon nous tut si bien descouuerte, qu'ainsi qu'on dit communomet, nous cognusmes lors de quel bois il se chauffoit» (ibid., p. 76). Als Anhänger des Calvinismus ist Lory Villegagnons Hang zu Überfluß, wie er sich in seiner aufwendigen Kleidung äußert, verhaßt (ibid., pp. 78 sq.). 66 Ibid., p. 76. Bei der Ankunft in Brasilien hingegen hatten Liry und die Übrigen Genfer noch eine freundliche Begrüßung durch Villegagnon erfahren, der sie «auec vn visage ouuert» empfing (ibid., p. 54). 6 ^ Ibid., p. 78. «Paycolas» ist die indianische Bezeichnung für Villegagnon. 68 Ibid., p. 84. 61 61 6

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Die Histoire zeichnet diese Vorgänge in weiten Passagen detailliert nach. Es ist offensichtlich Lerys Hauptanliegen, die eigene Haltung, insbesondere sein Verlassen der Kolonie, zu rechtfertigen und das Verhalten Villegagnons an die Öffentlichkeit zu bringen. Das Bedürfnis nach einer solchen Klärung war auch lange nach der Auflösung der Kolonie für Lory nicht schwächer, sondern stärker geworden, denn Villegagnon war nach seiner Rückkehr nach Frankreich wiederum direkt in die konfessionellen Meinungsverschiedenheiten involviert: QVE si quelqu'vn dit maintenant qu'il n*y a point d'ordre que i'aye recercho ces choses de si pres [...] ie repon ä cela, puis que Villegagnon a tant fait le Roland le furieux contra ceux de la Religion reformee, nommement depuis son retour en France: leur ayant, di-ie touml le dos de ceste facon, il me semble qu'il meritoit que chacun sceust comme it s'est porti en toutes les religions qu'il a suyuies: ioint que pour la raison que i'ay ia touchee en la preface, il s'en faut beaucoup que ie dise tout ce que i'en

Die Auseinandersetzung mit Villegagnon, die immer zugleich auch eine Diskussion um den richtigen Glauben und in eins damit der Versuch ist, das französische Publikum für die eigene Auffassung zu gewinnen, erreicht ihren Höhepunkt in der Untersuchung des Mordes, den Villegagnon an drei der zurückgebliebenen Calvinisten begangen hat.70 Dabei weist Lory seinen bei der Koloniegründung umgekommenen Glaubensgenossen deutlich die Rolle zu, welche die frühen Christen in der Antike gehabt haben: In seiner Darstellung erscheinen sie als Märtyrer. Daß vor allem unter diesem Aspekt bereits der erste ihm zugeschriebene und anonym erschienene Text rezipiert wurde, belegt seine Aufnahme in die Histoire des martyrs von Jean Crespin, dessen «Livre septieme» den Titel Persecution desfideles en Amerique trägt71 Lery, der selbst nur zufällig den Nachstellungen Villegagnons entkommt, fühlt sich für die postume Rehabilitierung der «fideles seruiteurs de lesus Christ» verantwortlich, die von Villegagnon gefoltert und getötet wurden: comme i'eu mauere de rendre graces A Dieu de ceste mienne paiticuliere deliurance, aussi me sentfit sur tous autres oblig£ d'auoir soin que la confession de foy de ces trois bons personnages fust enregistree au catalogue de ceux qui de nostre temps ont constamment endurt la mort pour le tesmoignage de l'Euangüe, des ceste mesme annee 1558.72

Mit der Stilisierung der in Brasilien umgekommenen Calvinisten zu Märtyrern analog zu denen der frühen Christenheit stellt Lory die Ereignisse in weit- und heilsgeschichtliche Dimensionen;73 seine abschließende Charakterisierung Villegagnons als

69 Ibid., pp. 79 sq. Cf. Guenin: Premiers essais de colonisation. Les Franqais au Brasil et en Floride, p. 40. 70 Cf. Lery: Histoire d'un voyage, pp. 379 sqq. 71 Crespins Sammlung war universal angelegt; sie gibt in personenbezogenen Einzeldarstellungen einen Oberblick Ober die außer- und innerkirchlichen Christen- und Ketzerverfolgungen von den ersten Anfangen des Christentums bis ins 16. Jahrhundert, in dem die Verfolgung der Reformatoren durch die Katholiken dokumentiert wird. Die Sammlung erschien erstmals 1554 und wurde bis 1619 in jeweils erweiterten Fassungen vorgelegt; der Lery zugeschriebene Text wurde erstmals 1564 aufgenommen. Zu den Erscheinungsdaten cf. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 191. Zur Person Crespins cf. die kurze biographische Notiz bei Rachum: Enzyklopädie der Renaissance, p. 11S 72 Lery: Histoire d'un voyage, p. 380. 7 3 Zur Deutung der «agonie du martyr», die vor allem in protestantischen Darstellungen thematisiert wird, als «repetition de l'agonie du Christ» cf. Blum: «Le corps ä l'agonie», p. 153. 79

ersten - anonym erschienenen, aber wahrscheinlich von ihm verfaßten - zum zweiten Bericht keinem so entscheidenden Wandel, wie dies gelegentlich behauptet wurde: Denn der Vergleich beider Texte verdeutlicht, in welchem Umfang die Perspektive eines Autors und damit das von ihm gezeichnete Amerikabild durch seine Motive bedingt waren, in welchem Umfang schließlich auch die zeitliche und erfahrungsmäßige Distanz vor dem Hintergrund der erlebten europäischen Wirklichkeit einen Wandel in der Darstellung bewirken konnte/^

Wenn es auch durchaus richtig ist, daß im ersten Bericht - entsprechend der Intention des anonymen Verfassers - den Vorgängen um die Kolonie und den religiösen Problemen weitaus mehr Raum als im zweiten gewidmet wird, so bleiben doch die Art der Darstellung, insbesondere aber die Beurteilung der Begebenheiten sowie die Argumentationsmuster in beiden Berichten exakt die gleichen. Beiden Texten ist es ein zentrales Anliegen, das Verhalten der Calvinisten im Streit mit Villegagnon zu rechtfertigen sowie das an ihnen begangene Unrecht der französischen Öffentlichkeit vor Augen zu fuhren. Allerdings ist die Beurteilung Villegagnons in beiden Berichten nicht ganz eindeutig. Bereits im ersten Bericht wird er widersprüchlich geschildert. So finden sich zu Beginn des Textes, der Villegagnons Expedition zum Thema hat, durchaus noch Stellungnahmen Lerys, die Villegagnons Verhalten positiv würdigen,76 entschuldigen77 oder nur leicht polemisch angreifen.78 Auch nach der Ankunft der Genfer rühmt Lery Villegagnon, weil er ihnen in ihrem religiösen Unternehmen Unterstützung zusichert.79 Als sich erste Streitigkeiten in Fort Coligny einstellen, schiebt Lery die Schuld nicht etwa Villegagnon, sondern Jean Cointac zu, der fanatischer Anhänger des Episkopats ist.80 Weiter beschreibt der erste Bericht ebenfalls sachlich Villegagnons Wunsch, in der Neuen Welt eine Zufluchtsstätte für die in Frankreich religiös Verfolgten zu schaffen. Dieses Bedürfnis war umso dringlicher, als Villegagnon sich in Frankreich in Streitigkeiten mit der Krone verwickelt hatte.81 Die neutrale Darstellung der Person Villegagnons tritt jedoch im Laufe des Bericht zusehends, parallel zu seinem Abfall vom Calvinismus, zugunsten einer negativen Charakterisierung zurück, die die ungerechten Verhaltensweisen des Koloniegründers gegenüber den Calvinisten in den Vordergrund stellt. In diesem Sinne ist auch die sehr ausführliche, Punkt für Punkt auflistende Stellungnahme zu zehn Artikeln über bestimmte Glaubensfragen zu verstehen, die Villegagnon von den fünf in Fort Coligny zurückgekehrten Calvinisten als Glaubensbekenntnis verlangt. Die in diesem Fall lebensbedrohende Problematik, die in der Beantwortung der Artikel liegt, ist den Calvinisten wohl bekannt. Die fünf Calvinisten sind jedoch bereit, trotz Warnungen auch unter Todesgefahr ein Bekenntnis ihres calvinistischen Glaubens abzulegen.82 Daß die Wiedergabe der Artikel für Lery von entscheidender Bedeutung

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^ Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 176. Cf. Liry [?]: Histoire des choses memorables, p. 453. 77 Cf. ibid., pp. 451 sq. 78 Cf. ibid., p. 450. 79 Cf. ibid., p. 456. 80 Cf. ibid., pp. 456 sq. 8 ' Cf. L£ry: Histoire d'un voyage, p. 433. 8 ^ Cf. Lory [?]: Histoire des choses memorables, p. 509. 76

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war, geht nicht nur aus dem Seitenumfang dieses Kapitels hervor,83 sondern auch aus der - ansonsten nur selten verwendeten - Leseranrede: Laquelle aussi [la confession catholique — A. E.] (ami Lecteur) ie t'ai voulu communiquer en ce Recueil, selon qu'elle a este" transcrite de mot ä mot sur l'original de leurs [Calvinisten — A. E.] propres escrits.84

So spiegelt hier nicht nur die quantitative Gewichtung, sondern auch die inhaltliche Darstellung Lerys zentrales Interesse wider, auch den ersten Bericht in den Dienst der Propagierung und Rechtfertigung des calvinistischen Glaubens zu stellen. Daß sich im zweiten Bericht ebenfalls generelle Erörterungen religiöser und besonders calvinistischer Probleme wie ein roter Faden durch den Text ziehen, ohne sich auf die der Kolonie gewidmeten Kapitel zu beschränken, ist unübersehbar.85 Die Absichten, die Lery mit seiner Histoire d'un voyage verfolgt hat, gehen also aus dem Text ziemlich klar hervor. Es wird dabei deutlich, daß die Histoire d'un voyage weit mehr ist als ein bloßer Reisebericht. Sie ist vielmehr, ganz ähnlich wie die historisch-geographischen Darstellungen, auch als das direkte Eingreifen in politische Diskussionen zu verstehen. Die kritischen Äußerungen über Thevet oder Villegagnon charakterisieren sie in weiten Teilen als ein konfessionspolitisches Traktat. Diese Absicht konkurriert durchgehend mit der anderen Zielsetzung der Histoire d'un voyage, die Franzosen über die natürliche und kulturelle Wirklichkeit des indianischen Brasilien informieren zu wollen. Lerys Reisebericht ist in bezug auf seine Aussageintention ein komplexer Text. Er läßt sich weder - mit Gewecke86 - auf die schwerpunktmäßige Darstellung des Landes und seiner Bewohner noch - mit Delpech -, auf die konfessionelle Komponente festlegen: Für Delpech ist die Amerika-Beschreibung Lerys nur ein «pretexte»; das eigentliche Ziel der Histoire sieht sie in der Darstellung der «Verite reformee».87 Tatsächlich verschränken sich diese Problemstellungen bei Lery immer wieder miteinander; insbesondere bei seiner Darstellung der Indianer vermischen sich konfessionelle, nationale und ethnologische Prinzipien der Darstellung und Wertung oft untrennbar. Die Besonderheit - und auch die Schwierigkeit einer Wertung Lerys - liegt darin, «daß sein Wissen seinem Fanatismus immer wieder Einhalt bietet. Man spürt förmlich, wie er [Lery - A. E.] zwischen seinen religiösen Voreingenommenheiten und der unwiderstehlichen Anziehungskraft, die die Indianer auf ihn ausüben, hin und hergerissen wird.»88 83

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86 87 88

So nimmt die Aufzählung und Beschreibung der 17 Artikel in der Histoire des choses memorables großen Raum ein (pp. 510-513). Lory [?]: Histoire des choses memorables, p. 510. Wenn die Calvinisten das von ihrem Glaubensbruder Bordel ausgearbeitete Glaubensbekenntnis als «catholique» befinden, so ist damit nicht die Übereinstimmung mit päpstlichen Doktrinen gemeint, sondern die «Rechtgläubigkeit» dieser Auffassungen. (Cf. zu dem Begriff im 16. Jahrhundert Loewenich: [Art.] «Katholizismus l», col. 1206 sq.) Während diese Passage Gaffarel als Beleg für die Autorschaft Lorys gilt, (cf. Lelievre: «Notes», p. 510, Anm. 1) äußert sich Lelievre vorsichtiger: «il n'est pas douteux que Le"ry a foumi, sinon le texte me"me de la notice de Crespin, au moins les renseignements sur lesquels il a travailleV» (Ibid., p. 510, Anm. 1.) Cf. Landucci, der auf die zentrale Rolle der Religion in Lorys Histoire d'un voyage verweist (Landucci: Ifilosqfi e i selvaggi, pp. 219 sq.). Cf. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 179. Delpech: «Introduction», p. 21. Le"vi-Strauss: «Eine Idylle bei den Indianern», p. 69. 81

4. Der Mythos vom bon sauvage Auch wenn die Darstellung der amerikanischen Verhältnisse in Lerys Text und vor allem in seiner eigenen Absicht nicht jene zentrale Rolle spielt, die ihr die Rezeptions- und die neuere Forschungsgeschichte zugeschrieben haben, so finden sich doch vielfältige Informationen über die Neue Welt in der Histoire. Von herausragender Bedeutung ist dabei die Darstellung der Indianer, da sie einen wichtigen Einfluß gehabt hat auf die Entwicklung des europäischen Stereotyps vom bon sauvage. Leiys Indianerbild ist in der Forschungsliteratur viel diskutiert worden. Das Urteil war bislang weitgehend einhellig: Lory erscheint als einer der frühesten Verfechter, wenn nicht gar als der Begründer des Mythos vom bon sauvage, der in der Folgezeit einen so großen Einfluß auf die europäische Literatur ausüben sollte.89 Der Mythos des bon sauvage ist eine jener zentralen Vorstellungen, mit denen sich die Europäer die fremde Welt der Ureinwohner Amerikas - und später auch der Südsee - geistig erschlossen haben.90 Dabei hat sicherlich auch die Tatsache eine Rolle gespielt, daß dieses Stereotyp an einen zentralen europäischen Mythos anknüpfen konnte: der Mythos vom bon sauvage läßt sich als die «amerikanische Variante» der menschlichen Unschuld vor dem Sündenfall deuten.91 In der «literature göographique» nimmt er einen zentralen Platz ein bei der - allerdings verzerrten Deutung des neuen Kontinents: Les öcrivains francais et les Strangers qu'on pouvait lire en traduction avaient, maintes fois, constatö la nuditd des Indiens, l'absence de lois et la communauto des biens, reconnu leur beauto, leur bravoure et mSme leur gonorosito mais nul ne les avait donnis en exemple ni n'avait pris pr&exte de leurs mceurs pour morigoner leurs compatriotes. Rapporter un trait, meme avec bienveillance et approuver une civilisation sont deux attitudes qu'on ne peut confondre sans abus.9^

Trotz der umfangreichen Forschung zu diesem Komplex sind die Konturen dieser Vorstellung bis heute unscharf geblieben, obwohl ihr vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine intensive geistes-, literatur- und kulturgeschichtliche Forschung gewidmet wurde.93 Sie hat sich aber nicht definitiv darauf einigen können, welche Charakteristika, die den Indianern in der «litterature geographique» seit dem Ent89

Cf. etwa Cocchiara: // mito del buon selvaggio, pp. 7 sq. Cf. Clerc: «Introduction», p. 38 und p. 47; Monegal nennt Lorys Histoire und Montaignes Essai Des Cannibales als Texte, in denen erstmals «Themen der von freundschaftlichen Gefühlen getragenen Sicht» angesprochen werden. (Monegal: «Die Neue Welt», p. 37) Gonnard: La legende du bon sauvage, p. 32, Anm. 2: «Dans l'ensemble des re~cits de voyages qui, au XVIe sifccle, ont pu constituer la mattere premifcre avec laquelle la logende s'est e"difiee, un des principaux que puisse citer est V Histoire d'un voyage au Bresil, de Jean DE LERY.» Landucci: / fllosofi e i selvaggi, p. 16, Anm. 13. Cf. femer Gewecke, die sich dem Urteil über Jean de Le"ry als «Förderer, wenn nicht gar als Erfinder des Topos vom amerikanischen 'guten Wilden'» ebenfalls anschließt. (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 175.) 90 Zur Entstehung und Geschichte des Begriffs des bon sauvage cf. Atkinson: Les relations de voyage du XVlf siede et Revolution des idees, p. 63, pp. 65 sq., pp. 77 sq. 91 So Rangel: The Latin Americans, p. 12. In diesem Sinne interpretiert auch Eliade den Mythos vom bon sauvage: «Mais cette 'invention du sauvage' [...] n'ftait que la revalorisation, radicalement socularisde, d'un mythe beaucoup plus ancien: le mythe du Paradis terrestre et de ses habitants aux temps fabuleux qui proclderent l'Histoire.» (Eliade: «Le mythe du bon sauvage», p. 229.) 9 ^ Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 394. 93 Cf. Burner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, pp. 33-35 und pp. 99 sq. 82

deckungszeitalter zugeschrieben wurden, den ban sauvage ausmachen. Atkinson nennt als die für den bon sauvage konstitutiven Merkmale vor allem «bontö», «chariteX «douceun>, «intelligence» und «miseiicorde» der Indianer.94 Auch die im Vergleich mit den Lastern der Europäer hervorgehobenen indianischen Tugenden gelten ihm als wichtige Kriterien, vom Mythos des bon sauvage zu sprechen.95 Während sich diese Bestimmungen überwiegend an individuellen Charaktereigenschaften orientieren und sie zudem deutlich europäischen Humanitätsidealen angelehnt sind, wie sie die christliche und die antike Tradition hervorgebracht haben, gibt es andere Definitionsversuche, die weniger individuelle Eigenschaften in den Vordergrund stellen als vielmehr auf die sozialen Formen des Zusammenlebens zielen. So nennt Gonnard als zentrales Kriterium für die Herausbildung der «lägende du bon sauvage» das Vorhandensein sozialistischer Ideen, nämlich das Fehlen von «propri&o privoe» und die Gewährleistung der «ogalite des conditions».96 In diesem Zusammenhang stellen sich wieder Abgrenzungsprobleme, die bislang noch nicht gelöst sind. Denn die von Gonnard genannten Merkmale überschneiden sich mit anderen Vorstellungen. Problematisch ist die Abgrenzung von einander ähnlichen Begriffen wie bon sauvage, «republique sauvage»97 oder »äge d'or».98 Schließlich ergeben sich auch Probleme bei der Zuweisung der Begriffe zu den realen historischen Erscheinungen: Üblicherweise wird der Begriff des bon sauvage nur für die Mitglieder einer Naturgesellschaft und gerade als positive Entgegensetzung zur zivilisierten Gesellschaft verwendet; aber auch hier sind die Abgrenzungen unscharf. Auch Garcüasso della Vega wird gelegentlich als ein «weiterer Begründer des Mythos vom edlen Wilden» aufgefaßt, obwohl Garcüasso in seinem Text eine Hochkultur, nämlich «das Inkareich als einen Idealstaat [...] mit edlen und glücklichen Bewohnern» darstellt.99 Die Vorstellung vom bon sauvage als dem Vertreter eines Naturvolks ist schließlich unter grundsätzlichen Perspektiven problematisch, da die «culture 'primitive' sogenannter Naturvölker» generell in Frage gestellt werden kann: Ils [ces «sauvages» des deux Amfriques ou de l'oce~an Indien — A. E.] etaient mfime hautement «civilises», au sens obvie du terme d'abord (on sait maintenant que toute socioti constitue une civilisation), mais surtout en regard d'autres «primitifs», tels les Australiens, les Pygmaes, les Fuigiens.100

Zu diesen sachlichen Abgrenzungsproblemen tritt noch die Frage der Darstellung durch jene Autoren, die sich des Mythos bedienen. Auch hier können die Verfahrensweisen beträchtlich voneinander abweichen. Sie reichen von einer bloßen sachli94

Cf. Atkinson: Les nouveaux horizons de la Renaissance franfaise, pp. 14S sqq. Cf. ibid., pp. 154 sqq. 96 Gonnard: La lagende du bon sauvage, pp. 9 sq. 97 Dieser Begriff wird rekonstruiert und diskutiert bei Funke, «'La Rlpublique sauvage'», vor allem p. 39, pp. 42 sqq. 9 ° Cf. Atkinson, (Les nouveaux horizons, p. 145) der auf die Schwierigkeit der Begriffstrennung von «L1Age d'or» und der «conception de l'individu sauvage», d.h. dem bon sauvage verweist. Gonnard (La lagende du bon sauvage, p. 14) stellt zwar die theoretisch mögliche Abgrenzung von der «logende du bon sauvage» und der «legende de l'äge d'or» fest, sieht aber auch deren sehr engen Zusammenhang in der Praxis. 99 Loiskandl: Edle Wilde, Heiden und Barbaren, p. 112. 100 Eliade: «Le mythe du bon sauvage», p. 230. Cf. auch Raymond: «Montaigne devant les sauvages d'AmeYique», p. 18. 95

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chen Beschreibung der tatsächlichen oder vermeintlichen Tugenden bis hin zur euphorischen Idealisierung, bei der die Legende vom bon sauvage nicht nur der Sache nach formuliert, sondern auch stilistisch umgesetzt wird.101 Bei der Herausbildung des Mythos haben schließlich auch die Illustrationen in Reisewerken des 16. und 17. Jahrhunderts eine zentrale Rolle gespielt.102 Da sie in der Regel reine Phantasieprodukte und auf den zeitgenössischen Publikumsgeschmack ausgerichtet waren, haben sie wohl eine sehr viel stärkere Wirkung erzielt als die Berichte der Reisenden selbst. Aber wenn auch die verschiedenen inhaltlichen Bestimmungsversuche des Mythos vom bon sauvage sehr unscharf geblieben sind, so besteht doch weitgehende Übereinstimmung darüber, welche Funktion dieser Mythos in den europäischen Gesellschaften und Literaturen wahrgenommen hat. Es handelt sich hier nicht um eine Erscheinung, die sich nur im Entdeckungszeitalter findet. Tatsächlich zeigt die gesamte abendländische Tradition immer wieder Belege dafür, daß der Mythos vom bon sauvage eine lange Reihe von Vorläufern hat. Bereits in der Antike finden sich Texte, die Gonnard als der «legende du bon sauvage oder dem «äge d'or» zugehörig charakterisiert: La logende du bon sauvage peut etre signaled dejä, parallelement ä la tegende-sceur, celle de l'äge d'or, chez les Grecs, et dejä en connexion avec les ide"es socialistes.^

Im Mittelalter wurde das Entstehen und Fortbestehen der «legende du bon sauvage» durch das Christentum weitgehend verhindert,104 der Mythos erfährt seine «veritable naissance» erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Als Gründe für diesen Aufschwung nennt Gonnard nicht nur die geographische Ausweitung durch die zahlreichen Entdeckungsreisen, sondern auch die immense Bedeutung, die im Renaissancedenken der «notion de Nature» zukommt. Durch das Studium der Antike begreift der Renaissancemensch nature nicht länger als Gegenbegriff zu surnaturel, «mais ä ce qui est de pure convention humaine.»105 Der Begriff des bon sauvage und die mit ihm verwandten Vorstellungen sind aber in ihrer langen Geschichte nicht nur ein Medium der Idealisierung, sondern immer auch eins der Kritik gewesen. Von der Antike bis zur Renaissance und darüber hinaus bis zur europäischen Romantik artikuliert sich im idealisierten Bild des natürlichen Menschen und der natürlichen Gesellschaft ein kulturelles Krisenbewußtsein: Die Vorkämpfer des Mythos vom Goldenen Zeitalter oder vom Edlen Wilden standen in einer Krisensituation, in der ihre Wertorientierung mit der faktischen Wertorientierung ihrer Bezugsgruppen nicht übereinstimmte. Die Unsicherheitssituation wurde dadurch überwunden, daß die Wirkungsmächtigkeit des Wertsystems an Beispielen vordemonstriert wurde. Beispiele aber suchen gern den

101

Wenn Atkinson auch nicht explizit eine Idealisierung verlangt, so ist im Zusammenhang mit den Begriffen bon sauvage oder «äge d'or» doch seine häufige Verwendung von Beiwörtern wie «iddalise"» oder «enthousiaste» signifikant (Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 146, p. 147, p. 148, p. 149). 102 Cf. Jantz: «Images of America in the German Renaissance», p. 101. Zu den zeitgenössischen Illustrationen cf. Honour: The New Golden Land, pp. 53-83. '°3 Gonnard: La legende du bon sauvage, p. 15. 104 Cf. ibid., pp. 22 sqq. 105 Ibid., p. 25. 84

Raum des Mythos, sie spielen «in jener Zeit» oder «in jenem Lande», sie sind durch die Dimension der Ferne gekennzeichnet.'""

Die Funktion des Mythos vom bon sauvage ist es also auch, «als Mittel der Kulturkritik und als Möglichkeit, die eigene Sicherheit zu gewinnen» zu fungieren.107 Daß die Legende eine kritische Komponente hat, die aber wiederum zur Stabilisierung und Neuorientierung der eigenen kulturellen Wertvorstellungen führt, ist im Zeitalter der Entdeckungen unübersehbar. Allerdings verweist diese Feststellung darauf, daß es sich bei dem Mythos um ein Konstrukt handelt, das die europäischen Gesellschaften aufgrund spezifischer kultureller Bedürfhisse hervorgebracht haben. Es handelt sich also um nachträgliche Stilisierungen und Idealisierungen, die weniger auf die Berichte der Reisenden oder gar die indianische Realität zurückgehen, als vielmehr ihren Ursprung in bestimmten europäischen Interessenlagen haben: II cosiddetto selvaggio, prima di essere scoperto, e stato inventato. L'ha inventato, in buona parte, la stessa etnografia. Ma indubbiamente, con piü successo e con apporto piü fecondo, l"ha inventato la filosofia del sec. XVIII.108

Der Mythos vom bon sauvage ist also eine Konstruktion, die sich zusammensetzt aus langen europäischen Traditionen und aus konkreten kulturellen Bedürfnissen. Der Bedarf nach einem solchen Kontrastbild zur eigenen europäischen Zivilisation muß sehr ausgeprägt gewesen sein. Denn es ist nicht nur außerordentlich erstaunlich, daß der Mythos eine so langanhaltende Nachwirkung hat erzielen können; es ist fast noch überraschender, daß er sich gerade im 16. Jahrhundert überhaupt hat etablieren können. Denn die zeitgenössische Diskussion um die Entdeckung und Eroberung des amerikanischen Kontinents wurde zunächst - von vereinzelten Ausnahmen abgesehen - von ganz anderen Interessen als dem Bedürfnis nach einer Idealisierung der Indianer beherrscht. Vor allem in Spanien hatte sich eine Diskussion entwickelt, die gerade darauf hinauslief, die Ausbeutung und Unterdrückung der Indianer mit juristischen, philosophischen, theologischen und anthropologischen Argumenten zu rechtfertigen. Dieses Vorgehen war durchaus nicht selbstverständlich und hat sich erst im Laufe der Kolonisation, praktischen Notwendigkeiten gehorchend, durchsetzen können. Von Columbus109 bis - zumindest - zu Las Casas hat sich aber stets die Gegenposition artikulieren und zeitweise auch behaupten können, die auch die Indianer als Menschen begriff. Auf lange Sicht aber haben sich die wirtschaftlichen und 1°6 Loiskandl: Edle Wilde, Heiden und Barbaren, p. 113. Cf. ferner Gonnard: La legende du bon sauvage, p. 10: «Aussi bien est-ce ä des opoques d'effervescence des esprits et de mise en doute (ou de mise en accusation des institutions otablies et des doctrines traditionnelles, que voit surtout la logende du bon sauvage reverdir, et les ouvrages qui la diffusent se multiplier.» Atkinson interpretiert die Entstehung des Mythos vom bon sauvage allerdings psychologisch oder auch theologisch als «nostalgic d'une innocence perdue» (Atkinson: Les nouveaux horizons, pp. 166 sq.). 107 Loiskandl: Edle Wilde, Heiden und Barbaren, pp. 113 sq. Eine «kritische Funktion einer Gegenwelt zur christlichen Ständegesellschaft des Ancien Rogime in Europa» weist Funke auch der «Ropublique sauvage» zu. (Funke: «'La Rdpublique sauvage'», p. 39) Diese Funktion des Mythos vom bon sauvage als eines kritischen Gegenbildes zur eigenen Gesellschaft ist auch noch im 18. Jahrhundert eine der zentralen Kategorien des Mythos. (Cf. Deltel: «Lecture d'un mythe», p. 80.) 108 cf Cocchiara: // mito del buon selvaggio, p. 7. 109 Allerdings findet sich bei Columbus auch gleichzeitig ein anderes Thema, dem seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit gehört und die auch sein Amerikabild beeinflußte, nämlich die fast obsessive Suche nach Gold (cf. Vasoli: «Colomb et le voyage 'prophatique'», pp. 37 sqq.). 85

kolonialen Interessen den humanitären Absichten als überlegen erwiesen; die «expansion spirituelle» ist untrennbar verbunden mit der «conquete materielle».110 Seit Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich in der europäischen Wissenschaft die Auffassung etabliert, daß die von Aristoteles entwickelte Vorstellung von zur Sklaverei geborenen Menschen sich auch auf die Indianer übertragen ließe.1!' Im Anschluß daran hat vor allem Sepulveda eine Argumentation ausgearbeitet, die im Rückgriff auf Thomas von Aquin zu einer Rechtfertigung des «gerechten Krieges» gegen die Indianer führte: Sepulveda declaraba que, siendo los indios personas rudas de entendimientos limitados, debfan servir a los espafloles, y aplicaba a los indigenas americanos la teoria de Aristoteles de que, puesto que algunos seres son inferiores por naturaleza, es justo y natural que hombres prudentes y sabios tengan dominio sobre ellos para su propio bienestar tanto como para el servicio de sus superiores. Si los Indios no reconocian esta relacion y resistfan a los espafloles, podia hacerse guerra justa contra ellos, pasando sus personas y bienes a poder de los conquistadores.1 '^

Diese Idee hat im weiteren Verlauf des Jahrhunderts großen Anklang gefunden, da sie ein ideales Legitimationsinstrument für die den Kolonisten unverzichtbare Ausbeutung der indianischen Arbeitskraft darstellte.113 Sepulveda greift auf sie zurück, wenn er den gerechten Krieg gegen die Indianer als notwendige Voraussetzung ihrer Christianisierung darstellt. Nach der Debatte von Valladolid zwischen Las Casas als dem Verteidiger der Indianer und Sepulveda114 scheint sich aber diese Legitimationsstrategie zunächst nicht mehr weiter durchgesetzt zu haben. Der spanische Hof jedenfalls hat sich eher der Auffassung von Las Casas angeschlossen, da die «Krone allein schon aus langfristigen politischen und wirtschaftlichen Erwägungen an der Erhaltung (und somit am Schutz) der indianischen Bevölkerung interessiert» war.115 Las Casas' Position hat sich zwar im 16. Jahrhundert keinesfalls als die alleinherrschende durchgesetzt, aber sie hat dazu beigetragen, daß sich in Zukunft die Idee einer Einheit der Welt und einer humanen Gleichrangigkeit der Völker etablieren konnte.116 Las Casas gelingt damit «eine der bemerkenswertesten intellektuellen Leistungen [...], daß er die Fronten gleichsam verkehrte und mit Aristoteles für die Indios argumentierte.»11^ Gerade die Abwertung der Indios als «Barbaren» war eines der vier

Riesz: «Zur Dynamik der europäisch-überseeischen Literaturbeziehungen», p. 146. Die diversen theologischen, philosophischen und juristischen Bemühungen zur Rechtfertigung der Unterdrückung der Eingeborenen setzen sich mindestens bis ins 19. Jahrhundert fort und erleben eine neue Blüte bei der Kolonisation des nordamerikanischen Halbkontinents (cf. Brenner: Reisen in die Neue Welt, pp. 212-216). 111 Cf. Hanke: Aristotle and the American Indians, p. 14. 112 Hanke: La luchapor lajusficia en la conquista de America, p. 334; cf. auch Hanke: Aristotle and the American Indians, p. 27. 113 Cf. Becker: «Indianermission und Entwicklungsgedanke», p. 49. 114 Cf. Hanke: Aristotle and the American Indians, pp. 67-73. 115 Becker: «Indianermission und Entwicklungsgedanke», p. 50; cf. auch Hanke: Aristotle and the American Indians, p. 86. Zur offiziellen spanischen Eroberungs- und Indianerpolitik, die durchaus im Gegensatz zu den wirtschaftlichen Interessen der «spanischen Landbesitzer und der Krone stehen konnte» (cf. auch Heine: Geschichte Spaniens, p. 82). 116 Cf. Hanke: La luchapor lajusticia en la conquista de Am rica, p. 354. 1 ^ Rech: «Bartolomi de Las Casas und die Antike», p. 171. 86

Argumente von Sepulveda gewesen, die er zur Rechtfertigung eines Krieges gegen die Indianer anführte.'' *

5. Lerys Indianerbild und die «legende du bon sattvage» In den französischen Reiseberichten der zweiten Jahrhunderthälfte finden sich kaum Spuren dieser Diskussion, wie sie in Spanien geführt wurde. Weder bei Thevet und L&y noch überhaupt bei den Reiseautoren der zweiten Jahrhunderthälfte spielt die traditionelle Legitimation für die Ausbeutung der Indianer eine nennenswerte Rolle. Andererseits aber liefern die Reisenden auch keinen besonderen Beitrag zur Herausbildung des Mythos vom bon sauvage. Zwar greift die Mythenbildung in Europa immer wieder auf Reiseberichte zurück, um ihnen den Rohstoff für ihre eigenen Idealbilder zu entnehmen. In den Berichten selbst hingegen finden sich allenfalls vereinzelte Elemente, die in das Bild vom bon sauvage aufgenommen werden können und in die auch andere Komponenten eingehen: «The Noble Savage idea results from the fusion of three elements: the observation of explorers; various classical and medieval conventions; the deductions of philosophers and men of letters.»119 Der bon sauvage entsteht also erst in der Rezeption der Reiseberichte in Europa; in den Reiseberichten selbst tritt er kaum auf. Sie liefern vielmehr meist nur das Material für die Legende. Auch wenn sich in ihnen durchaus schon gewisse idealisierende Akzentsetzungen erkennen lassen, so gilt doch in der Regel, daß sich in der Indianerdarstellung immer positive und negative Charakterisierungen mischen, so daß von einer einfachen Idealisierung oder gar «Mythisierung» der Indianer keine Rede sein kann. Keiner der Reisebericht-Autoren der Frühen Neuzeit entwirft das ungetrübte Bild eines bon sauvage; diese ethnographische Konzeption entsteht erst später und unter anderen kulturgeschichtlichen Voraussetzungen. Bei der Untersuchung des Indianerbildes in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts ist zunächst zu beachten, daß es immer von kulturellen Vorgaben mitgeformt ist und nicht etwa an den Standards der späteren wissenschaftlichen Ethnologie gemessen werden darf.120 Duchet hat auf den zentralen Unterschied hingewiesen, der die frühen Beobachter fremder Kulturen von den späteren trennt:

118 Sepulveda rechtfertigt den Krieg gegen die Indianer mit dem Argument, daß sie barbarisch seien, daß sie sich gegen das Gesetz der Natur richten, daß sie unschuldige Personen unterdrücken und ermorden; als viertes Argument führt er die Notwendigkeit an, Krieg gegen Ungläubige zu führen, um die Verbreitung des Glaubens vorzubereiten (cf. Hanke: All Mankind is One, insbesondere pp. 82-98). 119 Fairchild: The Noble Savage, p. 2. '20 So Staza Majer, die einen unmittelbaren Vergleich der Sprache Lays und Llvi-Strauss1 vornimmt (cf. vor allem Staza Majer: The Notion of Singularity, pp. 129-149): Wahrend Lery noch versuche, mit der herkömmlichen Sprache die neuen Gegebenheiten, das «singulier» auszudrücken, habe LeVi-Strauss die ursprüngliche Nomenklatur bewahrt, «because he realizes (after Saussure) that equivalent signs do not relate to the same conceptual plane in different languages» (ibid.). Mit dieser Qualifizierung der Leryschen Sprache als rückständigem Beschreibungsmodus urteilt Staza Majer anachronistisch; sie verkennt, daß Lirys Rückgriff auf das Darstellungsmittel des Vergleichs im 16. Jahrhundert durchaus eine angemessene Form der Weltaneignung darstellte. 87

Ni les anciens historiens ni les premiers explorateurs de l'intirieur de l'Afrique ou du continent ame*ricain ne se donnerent pour but d'observer et de döcrire les sociotos avec lesquelles ils entrerent en contact en faisant abstraction de leur propre , de leurs habitudes ou de leurs prejugos. Loin d'etre objet de connaissance, le monde sauvage n'existe pour eux qu'ä travers d'une certaine pratique, qui leur interdit de renoncer ä leur Statut de civilise* pour n'etre que des observateurs-participants, ä la maniere des ethnographes modernes.121

Die Interessenlage der frühen Beobachter der Indianerkultur war normalerweise nicht wissenschaftlich orientiert. Die Reisenden verfolgten bestimmte pragmatische Ziele. Sie reisten als Missionare, als Eroberer oder als Kaufleute nach Südamerika, und ihr Bild des Indianers ist immer auch durch die dadurch gebenen Interessen bestimmt.122 Daneben spielen auch die großen weit- und kulturpolitischen Konstellationen eine Rolle, in die sich Europa im 16. Jahrhundert gestellt sah. Diese Konstellationen sind nicht nur durch die religiösen Konflikte im Gefolge der Reformation festgelegt; gerade im Zusammenhang mit der Eroberung Amerikas treten auch nationale Konflikte schärfer hervor. Diese Komponenten wirken, unmittelbar oder direkt, auf die Zeichnung der Indianer in Reiseberichten dieser Zeit ein. Deshalb ist in diesem Zusammenhang oft weniger das Problem zu erörtern, ob die Darstellung der indianischen Kultur und Lebensverhältnisse zutreffend ist oder nicht. Von sehr viel größerer Bedeutung ist meist die Frage, wie ein bestimmtes Bild der fremden Kultur für die europäischen Auseinandersetzungen funktionalisiert werden kann. Die fremden Kulturen und ihre Beschreibungen durch die Europäer werden in diesem Rahmen manchmal beliebig austauschbar, da es nicht um sachliche Inhalte, sondern um Bilder und Gegen-Bilder der eigenen Kultur geht:123 Absorbe* par le spectacle de sä propre histoire, ITiomme europöen se dotoume de tout ce qui n'est pas eile, et ne parvient ä s'inte"resser au monde sauvage que dans la mesure oü celui-ci lui offre l'image de son passd, ou d'un prosent encore entonobre*. Ainsi le mythe et ses avatars nous renvoyaient sans cesse de 1'homme sauvage ä I'homme civilise*, ä la fois sujet et objet du discours mythique.12"*

Die Zurückhaltung gegenüber einer idealisierenden Darstellung der Indianer läßt sich schon bei Lery feststellen, obwohl gerade er von der Forschung immer gerne als einer der Mitbegründer des Bildes vom hon sauvage bezeichnet wurde. An dieser Auffassung sind jedoch erhebliche Zweifel angebracht. Dagegen sprechen schon äußerliche Gründe: Der Begriff des bon sauvage beruht formal auf der Unterstellung eines

121

Duchet: Anthropologie et Histoire au siede des lumieres, pp. 13 sq. So ist auch nach Chinard (L'exotisme americain dans la I literature franfaise au XVf siede, p. 129) das Indianerbild Lirys und Thevets in hohem Maße von religiösen und moralischen Vorstellungenbestimmt: «s'ils different sur Villegagnon, leurs opinions sur les sauvages concordent assez bien, car tous les deux, tout en reconnaissant aux indigenes quelques quality's, n'ont plus pour eux que möpris et dodaigneuse pitie" quand ils se laissent empörter par leur zele religieux.» 122 Cf. dazu auch Bitterli: «Entdecken, Erobern, Verstehen», p. 111. 123 Daß die fremden Kulturen im europäischen Diskurs oft nur diese funktionale Bedeutung hatten, wird in der Homologie deutlich, welche sich im europäischen Indianerbild einerseits und dem Türkenbild andererseits feststellen läßt, das hier wie dort gleichermaßen ambivalent ist. Wenn auch Rouillard für das Frankreich von 1520 bis 1660 eine offizielle, allerdings sehr oberflächliche Türkenfreundlichkeit konstatiert, so überwiegt in der Öffentlichkeit doch ein «considerable anti-Turkish feeling» (Rouillard: The Turk in French History Thought and Literature, p. 358). 12 4 Duchet: Anthropologie et Histoire au siede des lumieres, p. 12. 88

einheitlichen und in sich geschlossenen Bildes vom Indianer.125 Schon vor jeder inhaltlichen Untersuchung läßt sich feststellen, daß gerade diese Voraussetzung bei Lery fehlt. Sein Bild des Indianers und der indianischen Kultur ist außerordentlich differenziert und komplex. Es ist nicht etwa bloß ein «realistischer» Gegenentwurf zum Bild des bon sauvage; in ihm sind auch in rudimentärer Form einige Elemente enthalten, wie sie den Mythos des bon sauvage konstituieren. Tatsächlich findet sich bei ihm eine ganze Reihe von Charakterisierungen, die zum Kembestand des Mythos gehören. So sind die Tupinamba im Vergleich zu den Europäern «plus forts, plus robustes & replets, plus disposts, moins suiets ä maladie: & mesme il n'y a presque point de boiteux, de borgnes, contrefaits, ny maleficiez entre eux.»126 Dire lange Lebenserwartung verdanken sie neben dem gesunden Klima dem Freisein von Neid, Geiz, Mißtrauen und anderen Leidenschaften, denen die Europäer unterworfen sind.127 Auch die Sorglosigkeit in der Lebensführung der Tupinamba trägt zu ihrer Zufriedenheit bei.128 Angesichts dieser Merkmale erscheint es zunächst plausibel, daß Atkinson Lerys Bericht als eine der ersten und besten Indianer-Darstellungen vor Montaigne gekennzeichnet und ihm einen zentralen Platz als Vertreter des Mythos vom bon sauvage zugewiesen hatte, wobei er ihn in eine schon ältere Tradition einreiht: Mais il y en a encore beaucoup d'autres qui contribuerent a la longue tradition du Bon Sauvage Brasilien avant la publication du Voyage au Bresil de Lery.12^

Atkinson steht nicht allein mit dieser Wertung. Zu einem ähnlichen Urteil gelangte Clerc: Les vertus des Barbares [...] d'autres les ont pressendes avant l'auteur du prosent Voyage [Lory — A. E.], auquel rien n' ochappa non plus de leurs miseres et de leur abandon. Mais nul d'entre eux ne fit du bon Sauvage le theme de son rocit et le meilleur de ses souvenirs. ^0

Auch die von Reverdin genannten Kriterien, die Lery als Begründer des «theme du bon sauvage» ausweisen, bleiben ähnlich ungenau: Malgrt leur barbaric [Sauvages — A. E.], il [Leiy — A.E.] a aime" ces hommes primitifs, qui lui ont accorde* une gonoreuse hospitalito, au point qu'on a pu soutenir qu'il avait introduit dans la littoraturefrancaisele theme du bon sauvage. ^

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127 128 12

^ 130 131

Duchet gehört zu den wenigen Autoren, die betonen, daß Indianerlob und Europalob in sehr vielen Texten nicht als «reine» Diskurse auftreten: «II arrive pourtant que ces deux discours interferent: les apologistes du bonheur de ITiomme sauvage ne peuvent ignorer qu'il mene une vie hasardeuse et penible, qu'il peut 6tre mdchant et cruel; les esprits les plus convaincus des bienfaits de la civilisation ne peuvent nier que les civilisos ne soient parfois 'de vrais anthropophages'. De la misere de llionune civil ä la barbaric des civilises, de ('incertitude de la vie sauvage au bonheur de Miomme nature!, toute une thematique de l'etat sauvage temoigne d'une vision ambigue, oü affleure la perception d'une röalito contradictoire» (Duchet, ibid., p. 11). Allerdings zieht Duchet aus dieser Erkenntnis nicht den Schluß, auf die Kategorie des bon sauvage zu verzichten. Lory: Histoire d'un voyage, p. 95. Cf. ibid., p. 95. Cf. ibid., p. 169. Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 151. Clerc: «Introduction», p. 12. Reverdin: Quatorze calvinisles chez les Topinambous, p. 76. Cf. ferner Cocchiara (// mito del buon selvaggio, pp. 7 sq.): «Egli [Le"ry - A. E.] difende i selvaggi con calore; li scagiona dalle accuse assurde e ridicole; li mostra coi pregi e coi difetti ehe abbiamo noi stessi; osserva, con 89

Trotz dieser fast einhelligen Auffassung zumindest der älteren Forschung zeigt eine genauere Betrachtung, daß die Zuordnung des Konzepts vom bon sauvage zu Leiys Bericht einer Konfrontation mit dem Text nicht standhält. Es entspricht auch nicht Leiys eigenen Intentionen: Lory selbst hat sein Indianerbild nicht als Idealisierung oder gar Mythisierung begriffen, sondern unter das Postulat gestellt: «ä fin que ie dise le pro & le contra, de ce que i'ay cognu estant parmi les Ameriquains».132 In der Tat zeigen sowohl die Histoire d'un voyage als auch die bereits früher anonym veröffentlichte Histoire des choses memorables eine sehr viel differenziertere - allerdings nicht unbedingt auch «realistischere» - Darstellung der Indianer, als es das Konzept des bon sauvage mit seinem Zwang zu idealisierender Geschlossenheit zulassen würde. Frauke Gewecke hat versucht, Lerys Darstellung der Indianer unter dem Gesichtspunkt des bon sauvage zu interpretieren und dabei detailliert auf die Voraussetzungen einzugehen, die bei dieser Darstellung wirksam geworden sind. Dabei geht sie von einem Vergleich des ersten, anonymen Textes und der späteren Histoire d'un voyage aus. In ihrem Vergleich kommt sie zu dem Ergebnis, daß sich hinsichtlich der Darstellungsabsichten eine Akzentverschiebung vom ersten zum zweiten Reisebericht feststellen läßt. Während der erste Bericht die Absicht einer «Schilderung jene[r] Ereignisse, die das Scheitern der brasilianischen Kolonie heraufbeschworen»133 haben, erkennen lasse, komme die eigentliche Darstellung des indianischen Lebens erst im späteren Reisebericht, der Histoire d'un voyage fait en la terre du Bresil von 1578, wirklich zur Geltung. Für Gewecke ergibt sich aus dem Vergleich der beiden Berichte eine grundlegende Perspektiwerschiebung in der Darstellung des Amerikabildes, die zum einen durch die unterschiedliche Motivation des Autors bei der Abfassung der Texte, zum anderen aber vor allem durch biographische und zeitgeschichtliche Hintergründe bedingt ist: danach haben das «Bewußtsein der trostlosen Gegenwart» und die «verklärende Kraft der Erinnerung»134 eine deutlich verschiedene Darstellung der Indianer hervorgerufen. Der erste Bericht erschien «auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Villegagnon und den Kalvinisten»135 und räume deshalb der Erinnerung an die von Villegagnon getöten Calvinisten breiten Raum ein; im zweiten Bericht hingegen spiele diese Thematik nur mehr eine untergeordnete Rolle. Aus dieser unterschiedlichen Akzentuierung folgt für Gewecke die andere Gewichtung in der Verarbeitung der amerikanischen Wirklichkeit, die im ersten Bericht nur ein Randphänomen darstellt, im zweiten Bericht jedoch im Zentrum steht.136 Neben diesen quantitativen Diskrepanzen in den beiden Berichten konstatiert Gewecke qualitative. So sieht sie in Lerys Haltung gegenüber den Brasilianern eine Entwicklung angelegt. Die Indianer würden im ersten Bericht über Bra-

compiacimento, ehe le madri selvagge educano i loro figli quanto noi i nostri; non si scandalizza ne della poligamia [...] ne della nudita». 13 ^ Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 294. 133 Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 177. 134 Ibid., p. 184. Diese intuitiv-psychologische Erklärung ist anfechtbar und in sich wenig schlussig: Wenn man von der «verklärenden Kraft der Erinnerung» ausgeht, müßte diese die Gesamtheit aller Erfahrungen in Brasilien erfassen, also nicht nur die Indianer und ihre Welt, sondern auch Lorys Haltung gegenüber der Kolonie und Villegagnon, was sich aber keinesfalls so verhält. 135 Ibid., p. 176. 136 Cf. ibid., p. 179. 90

silien aus dem Jahre 1561 negativ charakterisiert;137 der zweite Bericht hingegen ergebe ein gänzlich anderes Bild: Gewecke sieht - wie andere vor ihr auch schon - in Lery aufgrund seiner Histoire von 1578 den «Förderer, wenn nicht gar den Erfinder des Topos vom amerikanischen 'guten Wilden'».138 Die Ursache für diesen Auffassungswandel liegt nach Gewecke in den biographischen und zeitgeschichtlichen Ereignissen. So hatten sich in den zwei Jahrzehnten, die zwischen Le"rys Rückkehr aus Brasilien und der Veröffentlichung der Histoire lagen, grundlegende politisch-konfessionelle Veränderungen in Frankreich ergeben. Die Greueltaten der Bartholomäusnacht, die einen traumatischen Effekt auf die gesamte protestantische Bewegung in Frankreich hatte,139 bewirkte eine «pessimistische Grundhaltung des Autors gegenüber dem sittlichen Bewußtsein.»140 In der Biographie Lerys nimmt die Belagerung des hugenottischen Sancerre durch die Katholiken eine besondere Rolle ein, von der er selbst betroffen war. Lery hat diesem Vorgang eine eigene Schrift gewidmet und darin die Aspekte der auch in Frankreich zu beobachtenden «Verwilderung» hervorgehoben.141 Im Einleitungssonett zu dieser Schrift hat er sein Erschrecken über diese Vorgänge thematisiert: SONET. Qui voudra voir vne histoire tragique, Ne Use point tant de liures diuers Grecs & Latins, semez par l'vniuers, Monstrans lliorreur d'Amerique & d'Afrique. Qu'il iette oeuil sur Sancerre l'antique, II y vena des ennemis peruers Canons, assaux, coups a tors, a trauers. Et tous efforts de la guerriere pique. Combat terrible, & plus cruelle faim, Ou de l'enfant la chair seruit de pain: O ciel! 6 terre! grand Dieu! quel outrage! Qu'en moins d'vn an vn seul lieu face voir Plus de pitiez, que ce que peut auoir Tant l'vniuers de hideux en partage.142

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Cf. ibid., p. 177. Ibid., p. 175. Kingdon: Geneva and the Consolidation of the French Protestant Movement 1564-1572, p. I l l ; zur Bartholomäusnacht und den Auswirkungen auf das Selbstverständnis und die Organisationsformen des französischen Protestantismus cf. auch den Kontext, pp. 111-122. Eine Darstellung der Bartholomäusnacht im Zusammenhang mit der Neigung zur religiös motivierten Gewalt im Frankreich des 16. Jahrhunderts gibt auch Davis: «Die Riten der Gewalt», pp. 171-209, pp. 297308. Zur Bartholomäusnacht als «le point d'intensitö de la barbaric» cf. Crouzet: Sur le concept de barbaric au XVf siede, p. 110. Eine im wesentlichen aus Crespins//isfo/re des Martyrs gewonnene Statistik der Opfer in den verschiedenen französischen Städten findet sich bei Davis: «Die Riten der Gewalt», p. 197. Zu den Gründen der «extraordinaire expression violente du Catholicisme, qui ddpasse de loin, qualitativement et quantitativement, ('expression protestante» cf. Crouzet: «Imaginaire du corps et violence», p. 116. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 179. Zur Teilnahme LeYys an dem «Siege de Sancerre» und seiner Histoire mimorable de la ville de Sancerre cf. Nakam: «Une source des Tragiques: L'Histoire memorable de la ville de Sancerre de Jean de Le"ry», pp. 177-182. L6ry: Histoire mimorable de la ville de Sancerre (Rückseite des Titelblatts).

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Es ist offenkundig, daß die allgemeinen Erfahrungen in den französischen Religionskriegen und dieses spezielle Ereignis von Sancerre einen tiefen Eindruck hinterlassen haben; allerdings lassen sich daraus nicht pauschal, ohne genaue Interpretation und ohne Herausarbeitung benennbarer Zusammenhänge, die weitreichenden Schlüsse ziehen, die Gewecke daraus folgert.143 Jedenfalls sind die Ergebnisse Geweckes, die sie aus dem Vergleich beider Berichte gewonnen hat - unbeschadet der Frage nach der Verfasserschaft des anonymen Textes - in vielen Punkten korrekturbedürftig. Denn tatsächlich unterscheiden sich der erste und zweite Bericht in der Zielsetzung nicht fundamental, wie Gewecke interpretiert, sondern nur partiell. Der erste Bericht dient zwar - so viel ist richtig ausschließlich dem Ziel, das Andenken an die calvinistischen Märtyrer wachzuhalten: Povr paruenir ä rhistoire qui sera ci apres mise en son ordre, de quelques fideles Martyrs, qui franchement se sont exposez ä la mort & ont arrouso de leur sang la secheresse de la terre du Bresil, pour maintenir la doctrine du Fils de Dieu, il est expedient d'entendre le commencement & le motif, d'auoir eu en ce temps Eglise reformee, selon la parole du Seigneur, en terre si eslongnee des royaumes & lieux, esquels le suiet de nostre histoire iusques ici s'est arresto. 144

Dementsprechend steht im ersten Bericht in viel größerem Ausmaß als in der Histoire d'un voyage die Person Villegagnons im Zentrum. Lery beschreibt hier wesentlich detaillierter die Motive für Villegagnons Aufbruch in die Neue Welt, seine Anwerbungsversuche, die Schwierigkeiten bei der Koloniegründung und die zunehmenden Meinungsverschiedenheiten mit den Calvinisten. Trotz des verhältnismäßig großen Umfangs, den die Streitigkeiten um die Kolonie Villegagnons und die Rolle der Calvinisten in ihr im ersten Bericht beanspruchen, kommt diesen auch im zweiten Bericht ein vergleichbarer Rang zu. Die Histoire d'un voyage richtet ihr Hauptaugenmerk keinesfalls, wie Gewecke vereinfacht darstellt, nur «auf das Land und seine Bewohnen).145 Wenn auch nur wenige Kapitel sich direkt und ausschließlich mit der Kolonie und Villegagnon befassen, so werden die Person Villegagnons und die durch ihn hervorgerufenen Probleme analog zum ersten Bericht gestaltet und charakterisiert. Die Zielsetzung der ersten Histoire zieht konsequenterweise eine überwiegend auf die religiöse Problematik eingeschränkte Darstellung nach sich. Sobald sich Lery jedoch von seiner konfessionellen Blickrichtung löst, um die amerikanische Wirklichkeit zu beschreiben, ist sein Bild weitaus uneinheitlicher, als Geweckes Interpretation wahrhaben will. Seine Amerika-Darstellung läßt sich auch im zweiten Bericht keinesfalls als Ausdruck des Bemühens interpretieren, ein Bild des bon sauvage zu zeichnen. 143

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Aus der unterschiedlichen Akzentuierung in der Darstellung beider Berichte schließt Gewecke nebenbei auch auf eine andere Leserschaft. Während der erste Bericht «überwiegend im Kreis der Kalvinisten rezipiert wurde», hatte die Histoire d'un voyage «ein breites, nicht konfessionell gebundenes Publikum» im Auge. (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, pp. 184 sq.) Daß auch die Histoire d'un voyage als calvinistische Propaganda empfunden wurde, zeigt die Aufnahme einer deutschen Übersetzung dieses Reiseberichts in de Brys Reisesammlung, die nahezu ausschließlich protestantische Werke vereinte. Cf. dazu auch Bucher: La sauvage aux seins pendants, p. 8 und Honour: The New Golden Land, p. 77. Lery [?], Histoire des choses memorables, p. 448. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 179.

Die Vielzahl der den Indianern von Lery zugeschriebenen individuellen wie sozialen und kulturellen Charakteristika ergibt ein komplexes und uneinheitliches Bild. Zwar dominieren vordergründig positiv gemeinte Kennzeichnungen wie Menschlichkeit, (84) Gastfreundschaft, (249; 251) Mut, (197; 215) Tapferkeit, (212f.) Wachsamkeit, (203) Freigebigkeit, (172) Fröhlichkeit und Offenheit, (172) gesunder Menschenverstand, (259) Hilfsbereitschaft, (289) Mitleid, (290) Aufmerksamkeit, (258) gutes Gedächtnis, (280) Disziplin und Schönheit in der Kampfführung, (202; 208) natürliche Schamhaftigkeit, (276) Bedürfnislosigkeit, (172sq.) Gleichheit, (196; 274) Glück (194) und soziale Harmonie. (272)146 Viele dieser Merkmale werden aber durch den Kontext, in den Lery sie stellt, entidealisiert. Lery fügt nicht nur eigene Kommentare an, die in diese Richtung weisen, sondern er zeigt auch, daß die vermeintlich idealen Tugenden oft in krassem Widerspruch zu den realen Handlungsweisen der Indianer stehen. So geht er an vielen Stellen auf zwei Momente ein, welche für das Ideal des bon sauvage zentrale Bedeutung haben: auf die Gastfreundschaft und das Fehlen des Handels. Gerade bei diesen Komplexen läßt sich zeigen, daß sein Urteil nicht ungetrübt positiv ist, sondern daß es abhängig ist von den Interessen, welche die Europäer in ihrem Umgang mit den Indianern verfolgen. Nach Lery zeichnen sich die Tupinamba durch größte Gastfreundschaft aus: «nous [Franzosen - A. E.] monstrans tous les signes d'amitie qu'il leur estoit possible»; (252) zugleich fuhrt Lery aber, wenn auch nur beiläufig, an, daß diese Gastfreundschaft großen Einschränkungen unterliegt. Dem traditionellen Ideal der Gastfreundschaft147 widerspricht deren Beschränkung auf Freunde.148 Auch der unverkennbare Wunsch der Indianer, Geschenke zu erhalten, läßt sich mit dem Ideal kaum vereinbaren.149 Gerade die «Gastfreundschaft», die bei den Indianern nach bestimmter Etikette und Regeln bei der Begrüßung von Fremden ausgeübt wurde,150 gibt hinreichend Anlaß zu Mißdeutungen und Fehlinterpretationen, zumal es sich hier um einen Komplex handelt, der das Zusammenleben von Indianern und Franzosen unmittelbar betrifft. Lery thematisiert in diesem Zusammenhang das «Weinen» der Indianerfrauen bei der Begrüßung von Fremden und vergleicht es mit französischen Sitten: Während er das Weinen und die Schmeicheleien der Indianerinnen als Zeichen überschwenglicher Gastfreundschaft anfuhrt,151 charakterisiert er andererseits die «re14

" Alle Seitenangaben im Text beziehen sich hier aafLiry.ffistoire d'un voyage. Cf. de Vries: «(Art.) Gastfreundschaft», col. 1205. 148 Cf. Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 278. Cf. zu der nur Freunden gegenüber an den Tag gelegten Gastfreundschaft auch ibid., p. 283. 149 Cf. ibid., p. 285 und p. 286. 150 Unter dem Stichwort «etiquette» beschreibt Mitraux den nach starren Regeln ablaufenden Empfang von Gästen bei den Tupinamba, zu denen auch das Weinen der Indianerinnen gehört (Mötraux: «The Tupinamba», pp. 114 sq.). Dabei werden jedoch nicht nur fremde Gäste, sondern auch die eigenen Leute mit Tränen begrüßt: «Any member of the community who had been absent, even for a short time, was received with weeping when he returned. Chiefs were greeted with tears even if they had only walked to their nearby fields.» (Ibid., p. 115). 151 Cf. Lory: Histoire d'un voyage, pp. 283-286. Besonders gegenüber den Franzosen, die häufig Geschenke mitbringen, vermehren die Indianerinnen ihre Schmeicheleien, in der Hoffnung, erneut Geschenke zu erhalten (ibid., p. 285). Die Erfüllung dieser Erwartungen der Indianerinnen durch die Franzosen und die indianische Gastfreundschaft bedingen sich gegenseitig, ohne daß dieses Verhalten bei L£ry jedoch Kritik hervorruft: «Semblableme't apres que les femmes ont pleura aupres du passant, a fin d'auoir de luy des peignes, mirouers, ou petites patenostres de 147

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ceptions hypocritiques de ceux de par-de9ä», also der Europäer, als wenig dem Ideal der Gastfreundschaft, ja sogar der Menschlichkeit entsprechend, und kritisiert, daß die Indianer in diesem Zusammenhang zu Unrecht als «barbares» bezeichnet würden.152 Lery erwähnt in zahlreichen Beispielen das überwiegend auf Grund des Prinzips von Leistung und Gegenleistung funktionierende Verhältnis zwischen Indianer und Franzosen. Damit macht er deutlich - ohne allerdings Schlüsse daraus zu ziehen -, daß die Gastfreundschaft in erster Linie auf materiellen Interessen basiert. Das Verhältnis von Leistung und erwarteter Gegenleistung wird sinnfällig demonstriert durch die Erwartung der alten Indianer: Surquoy pour conclusion de ce poinct, i'adiousteray, que sur tout les vieillards, qui par le passe" ont eu faute de coignees, serpes, & cousteaux (qu'ils trouuent maintenant tant propres pour couper leurs bois, & faire leurs arcs & leurs flesches) non seulemet trairtent fort bien les Francois qui les visitent, mais aussi exhortent les ieunes gens d'entr'eux, de faire le semblable l'aduenir.153

Auch die Bemerkung Lerys «Tyre comremoich-meiende-mae recoussaue. Ne traittons point mal ceux qui nous apportet de leurs biens»154 muß als Hinweis auf die interessegeleitete Hilfsbereitschaft der Tupi verstanden werden, selbst wenn der Geschenketausch sicher nicht nur eine materielle Bedeutung hat. Entsprechend ist die Stelle zu verstehen, in der Lery von der Hilfsbereitschaft erzählt, die ihm die Indianer bei einem gefährlichen Ausflug entgegenbrachten: die «charite naturelle» (290) der Tupinamba wird emeut belohnt, (292) so daß die Uneigennützigkeit der Tupinamba fragwürdig erscheinen muß. Auch in anderer Hinsicht entwirft Lory ebenso wie Thevet ein unklares Bild der Indianer und der indianischen Gesellschaft. Beide Autoren würden gern am Ideal der Besitzlosigkeit festhalten, wie sie zu den klassischen Topoi des «Goldenen Zeitalters» gehört und wie es schließlich in der Formel «ni tien, ni mien» als konstituierendes Element des Mythos vom bon sauvage vor allem im 18. Jahrhundert wieder erscheint; dieses Ideal findet sich bereits in der ersten umfassenden Darstellung der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt von Pietro Martyr d'Anghiera. Die französischen Frühaufklärer wie der Baron de Lahontan greifen diesen Mythos wieder auf und bilden ihn weiter.155 Bei Lory ist ebenso wie bei Thevet der Mythos vom bon sauvage jedoch nur mit Einschränkungen zu finden: Beide Autoren erkennen, daß die Indianer Besitz und Reichtümern zwar keine große Aufmerksamkeit schenken, ihnen der Besitz jedoch auch nicht völlig unbekannt ist.156 So zeichnen verre qu'on leur porte pour mettre a l'e"tour de leur bras, elles luy apporteront des fruicts, ou autre petit present des choses de leur pays.» (Ibid., p. 286.) 152 Ibid., p. 291. 153 Ibid., pp. 297 sq. 154 Ibid., p. 320. Die Tupi sind so begierig auf Messer und andere Waren, daß sie Le"ry, der eine große Anzahl davon besitzt, in den Rang eines «grid seigneur» erheben (ibid., p. 292). 155 Zu Lahontan cf. Funke: «'La röpublique sauvage'», p. 51. 156 wie subtil bisweilen die Grenzen zwischen Privateigentum und Gemeinbesitz sind, zeigt Nippold für die Pygmäen, die Buschmänner und die Negritovölker auf. Seine Bemerkungen über scheinbar besitzlose Völker, die - etwa bei Pfeil und Bogen - auf Eigentumsmarken verzichten, könnten auch für die Tupinamba zutreffen: «Bei der Geringheit des Besitzes ist es sowieso klar, was dem einzelnen gehört, sodass kein dringendes Bedürfnis nach besonderer Kennzeichnung eines jeden Stückes besteht.» (Nippold: Die Anfänge des Eigentums bei den Naturvölkern und die Entstehung des Privateigentums, p. 10.) 94

sich die Indianer bei Lery durch «le peu de soin & de souci qu'ils ont des choses de ce monde» (95) aus; Lory157 wie auch Thevet erkennen, daß die Indianer etwas Land als Privatbesitz haben: «Or quoy que ce peuple aye loges et jardins particuliers, si est-ce qu'il est si charitable, que ce que Tun a, il le communique aux autres qui en ont affaire, et esgallement a l'estranger.»158 Thevet charakterisiert darüber hinaus Pfeil und Bogen der Indianer als deren «bien».159 Aus den Texten beider Autoren geht zwar hervor, daß es auch andere Formen von «Besitz» gibt - etwa die Tatsache, daß ein feindlicher Gefangener einem bestimmten Indianer gehört160 bzw. daß die Anzahl der Gefangenen das Prestige des Indianers steigert;161 jedoch machen sich diese Art von Eigentum weder Lery noch Thevet klar. Mit der Legende von der Besitzlosigkeit im unmittelbaren Zusammenhang steht die Behauptung von der gesellschaftlichen Gleichheit. Auch diese Auffassung findet sich bei Lory, und auch hier widerspricht ihr seine eigene Darstellung in vielen Details. Die von Lery betonte Gleichheit im Tupi-Stamm, die weder «roys ny princes» kennt, (196) wird durch Gegenbeispiele stark eingeschränkt. Sowohl Alter als insbesondere Geschlecht der Tupi-Gesellschaft stehen der Gleichheit entgegen: So kommt den Alten aufgrund der größeren Erfahrung im Kampf eine Führungsposition zu. (196) Erst recht gibt es keine Gleichheit unter den Geschlechtern. Die harte Bestrafung bei Ehebruch, zum Teil sogar mit Tod, gilt nur für die Frauen, (264) den Männern ist Polygamie erlaubt. (262) Ebenso widerspricht dem Prinzip der Gleichheit die für die Mädchen nötige Einwilligung des Vaters bei ihrer Eheschließung, (262) insbesondere aber die Prostitution der Töchter durch deren Väter an Gefangene oder Fremde. (264)162 Daß Lery diese von ihm selbst beschriebenen Erscheinungsformen von Ungleichheit nicht als Widerspruch zu seiner Auffassung von der indianischen Gesellschaft erkennt, hängt sicherlich auch damit zusammen, daß im zeitgenössischen Bewußtsein der Europäer soziale Unterschiede dieser Art meist als naturgegeben begriffen wurden. Dennoch ist Lerys Bild der Tupinamba keineswegs eindeutig. Es finden sich zahlreiche Widersprüche in der Darstellung und erst recht in der Bewertung ihrer Sitten. Das gilt, im Gegensatz zur Interpretation Geweckes, für beide Texte. So weist Lerys erster Bericht keineswegs nur eine negative Indianerdarstellung auf, ebensowenig wie der zweite Bericht sich in einem positiven Indianerbild erschöpft. Vielmehr läßt sich auch schon im ersten Bericht ein uneinheitliches Indianerbild konstatieren. Bereits beim ersten Kontakt der Franzosen mit den Indianern werden diese als freundschaftlich und freigebig charakterisiert.163 Auch der unter der Kapitelüber-

'^7 Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 274. '^8 Thevet: Cosmographie universelle, p. 114. 159 Ibid., p. 194. 160 Ibid., p. 195. 161 Cf. Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 221. 16 ^ Alle Seitenangaben im Text beziehen sich hier auf Le"ry: Histoire d'un voyage. - Dem Gleichheitsideal widerspricht auch das Überlegenheitsgefühl der Tupi-Indianer, die sich deutlich von ihren Frauen abgrenzen und ihre eigene Starke herausstellen (ibid., p. 289). Auch die ausschließlich durch Frauen erfolgte Bedienung der Fremden, die von den Mannern befohlen wird, (ibid., p. 291) oder die von Le"ry festgestellte Mehrarbeit der Frauen stellt die Gleichheit in Frage (ibid., p. 124, p. 125). 163 Cf. Le"ry [?]: Histoire des choses memorables, p. 451. 95

schrift «Humanite des sauvages» stehende Text berichtet von indianischer Gastfreundschaft und Freigebigkeit. Analog zur späteren Histoire d'un voyage werden solche Aussagen jedoch zum Teil wieder eingeschränkt durch den Hinweis auf die von den Indianern erwarteten Gegenleistungen.164 Zwar nimmt Lery diese Aufwertung der Indianer vor, um die «inhumanit6> Villegagnons nur umso deutlicher hervorzuheben. Er setzt zu diesem Zweck die «humanito» der «sauvages» diametral der «inhumanite» des «vrai sauvage» - nämlich Villegagnon - entgegen.165 Ebenso sind spätere freundliche Bemerkungen über die Indianer in der Histoire d'un voyage nicht zweckfrei, sondern dienen der Kritik an Villegagnon, den Katholiken oder den Europäern. Die Umdeutung eines Begriffs wie «sauvage» oder «barbare», der üblicherweise den Indianern zugeordnet wird, ist in diesem Sinne zu verstehen: Les pauures sauuages ont eu pour maistres des barbares extremement sauuages ä S9auoir Villegagnon, les Espagnols & telles autres pestes du monde.166

Lory geht sogar so weit, den von ihm unterstellten Kannibalismus gegenüber den Portugiesen implizit zu entschuldigen; dabei führt er die äußerst schlechte Behandlung der Indianer durch die Portugiesen als Rechtfertigung an.167 Daß in der Histoire des choses memorables im besonderen Maße religiöse Probleme eine Rolle spielen, ist angesichts der Thematik dieser Streitschrift verständlich. Religiöse Erörterungen betreffen dabei nicht nur das Verhältnis der Europäer zueinander, sondern sie gehen auch in die Urteile ein, die über die Indianer gefällt werden. Vor dem Hintergrund religiöser Vorurteile erscheinen die Eingeborenen als «poures personnes de ce pays, qui viuent sans aucune conoissance de Dieu, ne mesme d'aucune ciuilite & honnestete»;168 ein Kommentar, der sich ähnlich auch in der Histoire d'un voyage finden läßt. Im lebenspraktischen Kontext der Kolonisten haben diese Aussagen eine besondere Bedeutung: Die religiöse Haltung der Indianer nahm den Franzosen die Möglichkeit, sich zu ihnen zu flüchten.169 Überhaupt sind derartige praktische Erwägungen und Erfahrungen oft der konkrete Anlaß für ein Urteil, das Lery über die Indianer fallt. Die Erzählung über einen vor Villegagnon aufs Festland geflüchteten Protestanten zeichnet auf den ersten Blick ebenfalls ein negatives Indianerbild. Der Protestant findet so lange bei den «Wilden» freundliche Aufnahme, bis er keine Tauschware mehr besitzt und schließlich - trotz mehrfacher Bitten bei Villegagnon um Aufnahme - eines Hungertodes stirbt. Bei der Schilderung dieser Episode, welche die Behauptung von der Gastfreundschaft der Indianer in ein fragwürdiges Licht rückt, dürfte jedoch nicht die Absicht einer Indianerkritik im Vordergund gestanden haben. Lery geht es hier wohl weniger um die Indianer als um Villegagnon, dessen Grausamkeit gegenüber den eigenen Landsleuten ins rechte Licht gerückt werden soll. Allerdings gerät Lery gerade bei der Frage der Gastfreundschaft der Indianer häufig in Argumentationsnot, und oft kommt er doch nicht umhin, die Existenz dieser 164 165 166

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Cf. ibid., p. 462; cf. ferner p. 507. Ibid., p. 462. (Marginalie), p. 515. Cf. auch zur Rolle des Kannibalismus-Vorwurfs in den religiösen Auseinandersetzungen Crouzet: Sur le concept de barbarie auXVf siede, p. 113. Cf. Le"ry [?]: Histoire des choses memorables, p. 455. Cf. ibid., p. 453. Cf. ibid., p. 461.

von den Europäern so hoch bewerteten Sitte in Frage zu stellen. In einer Episode des Berichts wird das besonders deutlich:. Nachdem er zunächst geschildert hatte, daß die Calvinisten ihren Rückzug vom Festland mit der Gottlosigkeit der Indianer begründeten,170 führt er später auch andere Ursachen für diesen Rückzug an: Ayant seioumö lä quatre iours pour se rafraischir, il suruint quelque nombre des habitans naturels, qui monstroyent assez bonne caresse aux poures affligez Fran9ois; toutesfois les voyans en necessitö de viures, leur vendoyent bien eher quelques racines & farines, pource qu'ils sont curieux des habillements des Francois. Au reste ils conuenoyent si bien auec les nostres, qu'ils eussent grandement desiro qu'iceux eussent lä fait long seiour, ce que les nostres ne pouuoyent faire, tant pour l'importunito desdits habitants, que pour le regret qu'ils auoyent d'estre priuez de la compagnie des Francois. Partant delibererent se retirer auec les Chrestiens, & gens de mesme langage.171

Der Vergleich der Indianerdarstellung in der Histoire des choses memorables und der Histoire d'un voyage zeigt, daß die von Gewecke durchgeführte Unterscheidung zwischen den beiden Berichten nicht stichhaltig ist: Weder läßt sich dem ersten Bericht ein überwiegend negatives, noch dem zweiten ein überwiegend positives Indianerbild zuweisen. Wenn auch im Vergleich zu der späteren Histoire d'un voyage der erste Bericht aus einleuchtenden thematischen Gründen der Indianerdarstellung deutlich weniger Raum zugesteht, so gibt es in diesem doch genügend Passagen, welche - anders als Gewecke unterstellt - Züge eines positiven Indianerbildes enthalten.172 Umgekehrt weist der zweite Bericht - wie Gewecke selbst sieht, ohne aber Konsequenzen daraus zu ziehen173 - abwertende Charakterisierungen des Indianers auf. So läßt sich feststellen, daß für Lerys Sicht des Indianers nicht der Mythos vom bon sativage die entscheidende Leitlinie darstellt, sondern daß Lerys Indianerbild von ganz anderen, von der Forschung bisher kaum herausgearbeiteten Kriterien der Beobachtung und der Bewertung bestimmt ist. Lerys Indianerbild ist geprägt von größtenteils konkret benennbaren religiösen, nationalen und allgemein kulturellen Vorgaben, wie sich auch schon bei Chauveton, Gomara und Belieferest feststellen ließ.

6. Die Sitten der Indianer im Urteil Lerys Das Indianerbild Lerys ist zunächst deutlich von der Missionierungsabsicht gekennzeichnet, die Lery nach Brasilien geführt hatte: ä peine de~barqu6s, les Genevois se prtoccuperent de l'apostolat aupres des Sauvages, qui ötait un des buts de leur entreprise; mats I'autre but, la creation d'une Eglise rtformöe parmi les Francais, accapara bientöt le plus clair de leurs forces, surtout ä partir du moment oclata leur quereile avec Villegagnon. Us n'en saisirent pas moins les occasions qui se pre"sentaient de prßcher le christianisme aux Topinambous.^^

Diese Dominanz des Missionierungsgedankens hat Konsequenzen für Lerys Indianerbild. Seine religiösen und die damit verbundenen moralischen Vorurteile be170

Cf. ibid., p. 461. Ibid., p. 507. 172 Cf. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, pp. 177 sq. 173 So findet sich auch in Lirys Histoire d'un voyage «eine verächtliche, allenfalls durch das gebotene christliche Mitleid leicht gemilderte Herablassung.» (Ibid., p. 180.) 17 ^ Reverdin: Quatorze calvinistes chez les Topinambous, p. 54. 171

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stimmen den Umgang mit den Indianern und sein Urteil über sie auch dann, wenn er um eine sachliche Würdigung der indianischen Kultur bemüht ist. In welchem Maße die religiöse Fundierung von Lorys Auffassung in sein Bild vom Indianer hineinwirkt, wird dort besonders deutlich, wo christliche Vorstellungen und die idealisierende Deutung der indianischen Kultur miteinander in Konflikt geraten. Das ist bei dem Problem der Nacktheit der Indianer der Fall. Diese Erscheinung wird von Lery generell negativ gewertet. Aber dennoch lassen sich auffällige Unsicherheiten in der Bewertung erkennen, aus denen deutlich wird, daß in seinem Urteil zwei verschiedene Wertsysteme zusammentreffen: Während auf der einen Seite in der christlichen Tradition die Nacktheit als Ausdruck der Sündhaftigkeit oder der Häresie begriffen wurde,175 gehört sie auf der anderen Seite zu den Bestimmungsstücken der «republique sauvage» oder des bon sauvage.^ Auf die Verunsicherung Lerys bei der Bewertung der indianischen Nacktheit hat schon Atkinson hingewiesen: la Nudite des Brasiliens causa chez Le~ry un vrai trouble. Trop bon observateur pour passer sous silence, ou pour amoindrir l'importance d'un fait capital, il 6tait noanmoins trop bon Protestant pour pardonner aux Sauvages leur impudeur.177

Angesichts dieses Dilemmas ist es auch verständlich, wenn Atkinson Lerys Verhalten den nackten Brasilianern gegenüber zunächst als «apologia de la nudito» oder dessen Art der Beschreibung als «maniere tres sympathique» charakterisiert.178 Aber in dieser Pauschalität ist eine solche Auffassung nicht haltbar, da Lerys Bewertung der Nacktheit in seiner Histoire d'un voyage sehr stark kontextabhängig und entsprechend differenziert ist. So zeugt seine Bemerkung «tant les hommes que la femme estoyent aussi entierement nuds, que quand ils sortirent du ventre de leurs meres» eher von dem Erstaunen des Beobachters als von einer Apologie der Nacktheit.179 Die Bemerkung ist wohl eher zu interpretieren als die eines vielleicht überraschten, sich aber nach wie vor überlegen fühlenden Europäers.180 Zu einer «apologie de la nudite» gelangt Lery bestenfalls angesichts der nackten Indianeddnder.181 175

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Die Ambivalenz, die sich bei den Reisenden in ihrem Urteil über die Nacktheit zeigt, ist nach Pellegrin Resultat einer «obsession cohabitent Pide"e d'une nudite" honteuse due ä Pimpudeur ou ä l'indigence, et la pense"e, ravivöe par la redöcouverte des antiquitis gröco-latines, d'une nudito glorieuse, Symbole d'innocence ou dliumilito consentie.» (Pellegrin: «Vetements de peaufx] et de plumes», p. 511.) In der Geschichte des Christentums wurde der Vorwurf der Nacktheit immer wieder von seilen der orthodoxen Verteidiger des katholischen Glaubens gegenüber Häretikern erhoben; von der frühen Christenheit bis ins 17. Jahrhundert finden sich solche Kennzeichnungen, die sich - in der Regel wahrheitswidrig - gegen die verschiedensten Gruppierungen richteten, cf. Grundmann, «(Art.) Adamiten, Adamianer», col. 91 sq. Zu den «ideologischen» Komponenten der Nacktheit in der Frühen Neuzeit cf. Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, pp. 310 sq., pp. 455 sq. Zur Nacktheit in der späteren Reise- und utopischen Literatur cf. auch Funke: Studien zur Reiseutopie der Frühaujklärung, pp. 107 sq. Cf. Funke: «'La Ripublique sauvage1», p. 42. Atkinson: Les nouveaux horizons, pp. 154 sq. Cf. weiter Chinard (L'exotisme americain dans la literature franyaise au XVF siede, p. 134), der ebenfalls L6rys Unschlüssigkeit hinsichtlich seines Urteils über die indianischen Sitten betont. Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 72 und p. 68. L6ry: Histoire d'un voyage, p. 42. Le"rys Überlegenheitsgefllhl äußert sich ebenfalls in seiner Belustigung über die Indianer, die versuchen, die von den Franzosen geschenkte Kleidung anzulegen ibid., pp. 104 sq., p. 106. Cf. ibid., pp. 112 sq. Auch Lorys Vorschlag, bei europäischen Kindern ebenso wie bei den Indianerkindern auf das Wickeln möglichst zu verzichten, ist unter dem Aspekt zu verstehen, diesen möglichst große Bewegungsfreiheit zu verschaffen (ibid., pp. 267 sq.). Im übrigen findet Lory

Das Plädoyer für die Nacktheit bei Kindern fällt Lery indes nicht schwer, da es seinen religiösen Überzeugungen nicht gefährlich wird. Das ändert sich jedoch, wo die indianischen Verhaltensformen in unmittelbaren Widerspruch treten zum religiösen Kodex. Wie stark Lery seinen Vorbehalten verhaftet bleibt, wird deutlich in der von ihm undiskutiert akzeptierten Züchtigung gefangener Indianerinnen, die sich weigern, Kleidung anzulegen.182 Wenn er die nackten Indianerinnen als «pauvres miserables» charakterisiert, ist dies nicht nur kennzeichnend für das Übergelegenheitsgefühl des Europäers, sondern deutet auch wieder auf den christlichen Hintergrund, nach dem Nacktheit als Ausdruck der Verworfenheit erscheint. Der christliche Hintergrund seiner Einschätzung der Nacktheit wird von Lery selbst hervorgehoben: Ce n'est pas cependant que centre ce que dit la saincte Escriture d'Adam & d'Eue, lesquels apres le peche*, recognoissans qu'ils estoyent nuds fiirent honteux, ie vueille en fapon que ce soit approuuer ceste nudite*: plustost detesteray-ie les heretiques qui centre la Loy de nature (laquelle toutesfois quant ä ce poinct n'est nullement obseruee entre nos pauures Ameriquains) l'ont autresfois voulu introduire pardeca. MAIS ce que i'ay dit de ces sauuages est, pour monstrer qu'en les condamnans si austerement, de ce que sans nulle vergongne ils vont ainsi le corps entierement descouuert, nous excedans en l'autre extremito, c'est ä dire en nos boubances, superfluitez & exces en habits, ne sommes gueres plus louables.'83

Es wird deutlich, daß das Problem der Nacktheit in weitläufigen kulturellen und religiösen Kontexten steht. Vor diesem Hintergrund konstruiert Lory einen Zusammenhang zwischen der indianischen Nacktheit, der Nacktheit bestimmter häretischer Gruppen im Christentum der Frühen Neuzeit und dem europäischen Kleiderluxus. Alle diese Formen werden von Lory als Abweichung von religiösen Normen kritisiert, wobei die natürliche Nacktheit der Indianer für ihn weniger anstößig ist.184 Zur nüchternen Einschätzung der indianischen Nacktheit findet Lery insbesondere bei der Beschreibung von ethnologischen Phänomenen, die nicht die Religion berühren. So neigt er dazu, die Nacktheit Erwachsener unter dem Nützlichkeitsaspekt wenn auch nicht zu befürworten, so doch wenigstens zu akzeptieren. Lery ist zwar nicht von der vorgeschobenen Ausrede der indianischen Frauen überzeugt, aufgrund des häufigen Badens keine Kleidung anlegen zu können, doch er nimmt diese Gewohnheit hin: in der gesamten Histoire d'un voyage nur angesichts der Indianerkinder zu einem zärtlichen Tonfall. Cf. dazu etwa ibid., p. 167, pp. 171 sq. Chinard (L'exotisme americain dans la litterature fran$aise au XVF siede, p. 140) stellt ebenfalls Lirys wohlwollende Haltung den Kindern gegenüber fest, ohne allerdings auf die Ursachen dafür einzugehen. 182 Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 112. Die Tatsache, daß Le"ry die nackten Indianerinnen als Tiere bezeichnet «cest animal se delecte si fort en ceste nuditö», (ibid., p. 112) bekundet ebenfalls seine vorurteilsbehaftete Einstellung. 183 Ibid., p. 115. Ein ähnliches Plädoyer für bescheidene Kleidung (ibid., p. 115) hält Le"ry auch bezüglich der Modesucht Villegagnons, über die er gerne spottet (ibid., pp. 78 sq.). 184 Cf. ibid., p. 114: «Et partant, ie maintien que les attifets, fards, fausses perruques, cheueux tortillez, grids collets fraisez, vertugales, robbes sur robbes, & autres infinies bagatelles dont les femmes & filles de par-deca se contrefont & n'ont iamais assez, sont sans comparaison, cause de plus de maux que n'est la nudito ordinaire des femmes sauuages: lesquelles cependant, quant au naturel, ne doiuent rien aux autres en beauto.» Dazu auch Honour: The New Golden Land, p. 64. Über den engen Zusammenhang der Geschichte der Kleidung mit der der Scham, vor allem bei der Frauenmode, cf. Lazard: «Le corps vltu», pp. 91-93. 99

Ne voila pas vne belle et bi8 pertinente raison? mais teile quelle est, si la faut-il receuoir, car d'en contester dauantage centre elles, ce seroit en vain & n'en auriez autre chose. 18^

Lerys calvinistisches Ethos läßt so zwar eine im Einzelfall neutrale Beschreibung der Nacktheit zu, ihre uneingeschränkte Apologie, wie sie der Topos des bon sauvage verlangen würde, findet sich bei ihm jedoch nicht. Allerdings ist die Feststellung Atkinsons nicht unzutreffend, daß Lery bestimmte Momente der indianischen Kultur in kulturkritischer Absicht herausgreift und positiv akzentuiert, auch wenn sie mit seinen eigenen Überzeugungen nicht unmittelbar übereinstimmen. Er zeigt hierbei oft eine gespaltene Haltung: «II [Lery - A. E.] finit, done, par critiquer les Europeens qui exagoraient, eux aussi, en faisant trop attention aux vetements et aux parures.»18^ Lerys positive Bewertungen von Einzelmomenten der indianischen Kultur sind in solchen Zusammenhängen nur funktional zu verstehen. Sie dienen dann der Kritik an den europäischen Zuständen und nicht etwa der Idealisierung der Indianer. Lerys negative Beurteilung des europäischen Kleiderluxus hat nicht notwendig eine positive Einschätzung der Indianer und ihrer Nacktheit zur Folge.187 Der Vergleich mit den Indianern dient Lory wie auch anderen Reisenden seiner Zeit häufig allein als Mittel zu dem Zweck, religiöse und moralische Mißstände der eigenen Kultur zu kritisieren.188 Um dieses Ziel zu erreichen, verwickelt er sich gelegentlich auch in Widersprüche. Insbesondere bezüglich der «paillardise» findet er zu keiner abschließenden Bewertung. Da er sich selbst nicht klar ist, inwieweit die «paillardise» den Indianerinnen anzurechnen ist oder inwieweit sie durch die europäischen truchements provoziert wurde, schwankt sein Urteil. Er verschont die Indianerinnen mit seiner Kritik angesichts der «paillardise», wenn von den truchements die Rede ist, um ausschließlich diese zu kritisieren: Sur quoy, a mon grand regret, ie suis contraint de reciter icy, que quelques Truchemens de Normädie, qui auoy£t demeurö huict ou neuf ans en ce pays-la, pour s'acccomoder eux, menans vne vie d'Atheistes, ne se polluoyent pas seulement en toutes sortes de paillardises & vilenies parmi les femmes & les filles [...], mais aussi, surpassans les sauuages en inhumaniti, i'6 ay ouy q se vantoyent d'auoir tui & mägo des prisonniers [...].18^

Wenn sich aber Lery auf die Darstellung der Indianerinnen konzentriert und sie nicht als Kontrastfolie für die truchements funktionalisiert, dann fallt sein Urteil anders aus. Die «paillardise» erscheint ihm zwar weniger schlimm als erwartet, widerspricht aber dennoch seinen christlichen Moralvorstellungen und wird deshalb kritisiert: 18

^ Lory: Histoire d'un voyage, pp. I l l sq.; ähnlich hinderlich empfinden die Indianer Kleidung im Kampf (ibid., p. 200). 18 ^ Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 155. 187 Wenn Gewecke auch das der Histoire d'un voyage entnommene Textbeispiel über die herausgeputzten Europäerinnen (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, pp. 181 sq.) nicht unmittelbar mit dem Bild des bon sauvage in Zusammenhang bringt, so dienen ihr dieser und andere Textstellen doch als Hinweis auf Lorys idealisiertes Indianerbild: «So enthüllt sich uns die in seiner Histoire entworfene Figur des 'guten Wilden', auch als Nachfahre des 'tugendhaften Barbaren1 der abendländischen Tradition, der gleichermaßen über die Projektion unerfüllter Wünsche und Idealvorstellungen als Spiegelbild der eigenen Gesellschaft fungierte». (Ibid., p. 184.) 188 Cf. dazu Glassner Gordon: «Lory, Laudonniere, et les Indiens d'Amerique», pp. 399 sq. 18 ^ L6ry: Histoire d'un voyage, pp. 223 sq. Cf. auch ibid., p. 71. In diesem Sinne ist auch Leiys Billigung der von Villegagnon erlassenen Todesstrafe für den Verkehr der Franzosen mit ungetauften Indianerinnen zu verstehen (ibid., p. 71). 100

toutesfois, ä fin de ne les [Indianerinnen — A. E.] faire pas aussi plus gens de bie qu'ils ne sont, parce que quelques fois en se despitans contre l'autre, ils s'appellent Tyvire, c'est ä dire bougre, on peut de la coniecturer (car ie n'en afferme rien) que cest abominable pecho se conunet entr'eux.190

Aus diesen und anderen Charakterisierungen in der Histoire d'un voyage wird noch einmal der funktionale Charakter deutlich, welchen das Bild des hon sauvage für Löry hat: Wenn er europäische und indianische Verhaltensweisen miteinander vergleicht und in diesem Zusammenhang die Indianer mit positiven Attributen ausstattet, dann geht es ihm weniger darum, das Bild eines hon saitvage, als vielmehr das Bild eines «mauvais europeen» zu zeichnen. Diese Absicht Lerys, den schlechten Europäer bzw. Franzosen zu kritisieren, läßt sich auch an seiner Vergleichstechnik ablesen: Die Indianer werden nur mit den schlechten, nie jedoch mit den guten Europäern verglichen.

7. Die Religion der Indianer Noch problematischer wird das Verhältnis Lorys zur indianischen Kultur in jenen Bereichen, in denen die Religion nicht nur indirekt, wie bei der Nacktheit und der «paillardise», sondern direkt betroffen ist. Sein Urteil über die indianische Religion ist gekennzeichnet durch die Vorgaben des calvinistischen Ethos, das er vertritt. Gerade im Zusammenhang mit dem Thema Religion ist auffällig, wie häufig die Indianer negativ charakterisiert werden. In diesem Bereich liegt Lery nichts ferner als die Absicht, das Bild eines bon sauvage zu zeichnen. Dabei reicht die Palette der Bezeichnungen von «pauures gens» (233,234) über «barbares» (239) bis hin zu «poures idiots» (250) oder «bestes brutes». (233) Die Indianer werden also in religiösen Belangen nur negativ bezeichnet; als «poures Brasiliens» verharren sie in ihrer Blindheit. (238) sie verfügen über eine falsche Religion (239) und bleiben selbst dann, wenn sie als potentielle Lehrer der Atheisten aufgefaßt werden, «barbares». (23 9)191 Die geringen Zugeständnisse Lerys an die Religion der Indianer, wie die Zuerkennung eines religiösen Gefühls, (230 sq., 240) die Anlage einer «bonne raison» (259) oder ihre Fähigkeit, aufmerksam zuzuhören (252, 258) und gelehrig zu sein, (257) ergeben sich aus der Missionierungsabsicht der Kolonisten: nur wenn sie eine grundsätzliche Glaubensbereitschaft der Indianer unterstellen, ist ihre Tätigkeit überhaupt sinnvoll.192 Doch trotz dieser Zugeständnisse gibt Lery seine eigentlichen Absichten nie preis. Sein Ziel bleibt die Bekehrung der Indianer und nicht etwa die Anerkennung ihrer eigenen religiösen

190 Ibid., p. 264. Widerspruchlich angesichts der letztlich doch festgestellten «paillardise» und der mehrfach betonten Nacktheit ohne Scham mutet Lerys Aussage Ober die Schamhaftigkeit beim Geschlechtsverkehr unter den Indianern an (ibid., p. 270). Doch auch diese positive Feststellung ist relativ zu sehen, da sie Le*ry im Vergleich zu der Sittenlosigkeit der «boucs puans qu'on voit de nostre temps par-de9a» trifft (ibid.). 191 Weitere Stellungnahmen gegen die Atheisten: ibid., p. 351, p. 261. Zu diesem Problem des indianischen Atheismus, der den ((Geltungsanspruch der christlichen Religion und Moral» gefährden konnte (cf. Funke: Studien zur Reiseutopie der Frühaußdärung, p. 104). 192 Cf. dazu auch Bitterli: Die «Wilden» und die «Zivilisierten», p. 122. - Alle Seitenzahlen im Text beziehen sich auf Liry: Histoire d'un voyage. 101

Gepflogenheiten.193 Die eindeutige Zuordnung der «vraye Religion» (252) zu der eigenen, die der «fausse religon» (239) zu der indianischen Kultur wird nie in Frage gestellt. Auch Textstellen, die den Indianer im Sinne der Legende des bon sauvage als zufriedenen (172) oder fröhlichen (172) Menschen zeigen, relativiert Lery in seinem Missionierungseifer: «AINSI done, heureux les peuples qui y habitent, s'ils cognoissoyent l'auteur & le Createur de toutes ces choses». (194)194 Daß bei Lorys Betrachtung der fremden Religion immer wieder dieser Missionierungsaspekt im Vordergrund steht, verdeutlicht seine Interpretation, mit der er die Aufmerksamkeit und Begeisterung der Indianer gegenüber seinem Psalm-Gesang erklären will. Obwohl Lery selbst bereits mehrfach die musikalische Begabung der Indianer bestaunt hatte,195 zieht er als Ursache für die Bewunderung seines Gesangs nicht etwa die indianische ästhetische Sensibilität in Erwägung, sondern greift wiederum auf religiöse Begründungen zurück: die Begeisterung der «Wilden» interpretiert er als deren Disposition zu religiösen Gefühlen, und diese bestätigt ihn in seinen Missionierungsabsichten.196 Eine Revision seiner vorgefaßten Meinung über die Aufgeschlossenheit der Indianer für die christliche Religion findet auch später nicht statt, als die «bekehrten» Indianer erneut ihren Kannibalismus-Gesang anstimmen. Lory beschränkt sich auf die Feststellung ihrer «inconstance».197 Die Dominanz des Missionierungsaspekts bei der Beurteilung zumindest der religiösen Komponenten in der indianischen Kultur führt auch dazu, daß viele Urteile Lerys nach dem Schema von «Lohn» und «Strafe» gefällt werden. Ganz in diesem Sinne ist die von Lory kommentarlos übernommene Aussage Villegagnons zu verstehen, der eine unter den Indianern herrschende Seuche als gerechte Strafe Gottes für die Ungläubigen sieht.198 Ebenso intransigent verfährt Lery in seinem Urteil angesichts der gelegentlich aufgestellten Behauptung, daß bei den Indianern bereits einige Jahrhunderte früher Missionierungsversuche durch Apostel unternommen worden sein sollen. Dieser Hinweis Lerys ist ausschließlich als Kritik an den Indianern zu verstehen, da diese selbst ihren gottlosen Zustand zu verantworten hätten.199 Gerade dieses spezielle Detail ist aufschlußreich für die negative Einstellung, die L6ry den Indianern in Religionsangelegenheiten entgegenbringt. Denn in der Regel 193

Löry beobachtet bei den Indianern die gleichen Gegebenheiten, welche Gomara als Voraussetzungen und Rechtfertigung für eine mögliche und nötige Missionierung genannt hatte: die Indianer besitzen mehr fruchtbares Land, als sie brauchen, (Liry.Histoire d'un voyage, p. 273) so daß mehr Menschen als bislang ernährt werden können, (p. 123) und sie besiedeln nach Art von Nomaden kein festes Land (p. 273). 194 Alle Seitanangaben im Text beziehen sich hier aufL6ry:Histoire d'un voyage. 19 ^ Gerade die eigene Erfährung mit dem von ihm ebenfalls einst begeistert aufgenommenen Gesang der «Wilden» hätte Lory hier zu einer vorsichtigeren Bewertung veranlassen mUssen: denn auch ihn durfte damals mehr die ästhetische Qualität der Musik als der Wortlaut erfreut haben, da die Indianer neben dem Tod der Vorfahren, der Auferstehung nach dem Tod auch Rache und Kannibalismus besungen hatten (Leiy: Histoire d'un voyage, pp. 247 sq.). Doch wird gerade an diesen beiden Musikerlebnisse deutlich, daß LeYy, wenn es ihm um eine Rechtfertigung der Missionierung geht, auf frühere, unter Umständen seiner Religion nachteilige Fremd-Erfahrungen nicht mehr reflektiert. 196 Cf. ibid., pp. 258 sq. 197 Ibid., p. 255. 198 Cf. ibid., p. 61. 199 Cf. ibid., pp. 254-256. Cf. weiter Reverdin: Quatorze calvinistes chez les Topinambous, pp. 10 sq.

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wurde die «leyenda de los Apostolos en America» in der Literatur des 16. Jahrhunderts anders bewertet: En primer lugar las palabras de San Marcos y del Apostol de las gentes habian afinnado que la doctrina cristiana habfa sido predicada por todo el mundo y a todas las criaturas que viven bajo el cielo. Ello indujo a que se buscaran o inventaran las pruebas confirmativas. Luego la coincidencia de hallar en Amörica indicios sospechosos de predication evangolica, elevaron las primeras dudas a la categoria de verdad absoluta; y, por ultimo, habia en la demonstration de la predication hecha por Santo Tomas o por San Bartolome*, una conveniencia politica: Habiendo llegado los Apostoles a America antes que los primeros conquistadores, el Papa podia alegar sobre las tierras descubiertas mis derechos que los Reyes de Espafla. 20°

Allerdings gesteht sich Lery trotz seines «zele theologique»201 die beträchtlichen Divergenzen zwischen seiner Missionierungsabsicht und dem tatsächlichen Missionierungserfolg ein. Das führt dazu, daß er bald seine Hoffnung auf Erfolg schildert, bald Enttäuschung über den Mißerfolg zeigt, bald auch anderen unreflektiert die Schuld am Scheitern der Missionierung zuweist.202 Bitteriis allgemeine Feststellung über den inneren Konflikt der Missionare ist für Lory nur bedingt gültig: Die Spannung, die sich hier zwischen dem hohen ideellen Anspruch und den realen Wirkungsmöglichkeiten ergab, machte den Missionar im Gegensatz zum Händler von Anfang an ungemein hellhörig für die Schwierigkeiten der kulturellen Kommunikation und die Problematik des Kulturkontakts überhaupt.203

Diese Hellhörigkeit besitzt Lery zweifellos, wenn es sich um allgemeine Kulturphänomene handelt, kaum aber hinsichtlich der Religion. Zu stark fühlt er sich an die Verpflichtungen zur Missionierung gebunden. Lery stellt bezüglich der Religion der «Wilden» nur fest, was in seinem christlichen Vorstellungskreis liegt. Hingegen werden alle religiösen Praktiken, die er nicht kennt oder die sich nicht mit seinen Vorstellungen decken, als Aberglaube qualifiziert und bekämpft.204 Seine Beobachtung anderer religiöser Sitten und Bräuche bei den Indianern fuhrt nicht zur Problematisierung oder gar Relativierung eigener religiöser Wertvorstellungen und Praktiken. Die Überzeugung von der europäischen Überlegenheit geht mit einem naiven Dogmatismus in bezug auf den eigenen Glauben Hand in Hand; so bleibt kein Raum für die Befragung der eigenen Auffassungen, auch wenn dies durch die geschilderte Situation nahegelegt wird.205 Die europäische Überlegenheit erscheint Lery im 200

Gandia: Historia critica de los mitos de la conquista americana, p. 228. °1 Chinard: L'exotisme americain dans la litterature franfaise au XVF siede, p. 140. Cf. ibid., pp. 128 sq. 202 Dabei wechselt Le"rys Hoffnung auf einen möglichen positiven Ausgang der Missionierung (Le"ry: Hisloire d'un voyage, pp. 253 sq., p. 255, p. 257, p. 259) ständig mit resignierenden Überlegungen ab (p. 236, p. 254, p. 255, p. 256). In Villegagnon glaubt er den Schuldigen für das Scheitern der Bekehrungsversuche gefunden zu haben, da dieser sich von der calvinistischen Religion lossagt und so den Untergang von Fort Coligny provoziert (p. 255, p. 123). Daneben macht Liry indirekt auch Thevet für die mißlungene Missionierung verantwortlich (pp. 75 sq.). 203 Bitterli: Die «Wilden» und die «Zivilisierten», p. 109. 204 So ist LeYy bestrebt, die «resuerie» und «folie» der «pauures sauuages», nämlich daß durch den Vogelgesang Nachrichten von Verstorbenen vermittelt würden, zu widerlegen (Le"ry: Histoire d'un voyage, pp. 156 sq.). Weitere Beispiele religiöser Überzeugungen der Indianer, die von Leiy als «superstition» abgeurteilt werden: pp. 249 sq., pp. 250 sq., p. 304. Als Lory von Indianern mit der Frage konfrontiert wird, wie denn ein Gott gütig sein könne, der den Menschen Angst mache, führt er diese Frage als Zeugnis indianischer Ignoranz an (ibid., p. 233); für ihn selbst stellt sie keine Beunruhigung dar, da das Problem in Europa erst eineinhalb 2

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Wortsinne für «gottgegeben». Darauf verweisen seine Hinweise gegenüber den Indianern, daß das Schreiben eine von Gott gegebene Fähigkeit oder der Donner ein von Gott gesandtes Zeichen seien.206 Bitterli hat Lorys Beschreibung der fremden Kultur und sein Verhalten ihr gegenüber positiv gewürdigt: Zuweilen, wenn auch nicht sehr oft, gelang es aufgeschlossenen europäischen Reisenden, sich dieses günstige Klima der Kulturberührung zunutze zu machen und tiefen Einblick in die Eingeborenengesellschaft zu gewinnen.20?

Grundsätzlich ist dieser Feststellung zuzustimmen; in bezug auf religiöse Themen ist jedoch die Charakterisierung der Histoire d'un voyage als eines Reiseberichts, in dem «immer wieder die Lust am neugierigen Umgang mit Vertretern der Fremdkultur sichtbar»208 wird, kaum zutreffend. Auch Clastres betont das geringe Interesse von Missionaren - unter anderem von Lery - an indianischen Vorstellungen, die christliche Überzeugungen in Frage stellen könnten. Auch die indianische Vorstellung einer «Terre sans mal», eines im Diesseits angesiedelten Ortes des Überflusses und der Unsterblichkeit, die von christlichen wie antiken Ideen nicht so sehr weit entfernt ist, kann die europäischen Betrachter nicht zu einem günstigeren Urteil über die indianische Religion bewegen: A y [Terre sans mal — A. E.] accorder leur attention, les chr&iens n'eussent pas manquö d'apercevoir que la terre de «par-delä les montagnes», sejour des ämes, et cet autre lieu oü la terre produit sans etre ensemencee et oü on ne meurt pas, que les prophetes promettaient aux Indiens, etaient une seule et meme chose. Ils eussent & confrontös alors ä ce qui n'eüt pu leur apparaitre que comme un scandale ou une incomprehensible folie: une religion les hommes eux-memes 20 s'efforcent de devenir pareils aux dieux, immortels comme eux. "

Allerdings ist Lerys Auffassung der indianischen Religion nicht durch vollständige Ablehnung gekennzeichnet. Sie wird dadurch kompliziert, daß den entsprechenden Darstellungen eine doppelte Blickrichtung zugrundeliegt: Lery geht es nicht nur darum, die indianischen Gepflogenheiten darzustellen oder zu kritisieren, sondern immer auch darum, in diesem Spiegel die europäische Situation wiederzuerkennen und zu beurteilen. Wenn die Schilderung der indianischen Religion in diesem Sinne funktionalisiert wird, können Lerys Urteile auch wieder unscharf werden. Es kann dann vorkommen, daß vor dem Hintergrund der europäischen konfessionellen Verhältnisse die Indianer besser abschneiden, auch wenn Lery an seiner Grundüberzeugung festhält: Die Indianer haben «nulle cognoissance du seul & vray Dieu».210 Diese Feststellung gilt aber auch für die europäischen Häretiker und Atheisten, die in der Histoire immer wieder angegriffen werden. Dabei dient Lery der Vergleich Jahrhunderte später unter dem Stichwort der «Theodizee» diskutiert wird. Bereits im ersten Bericht wird Lerys religiöser Dogmatismus deutlich, wenn er den nach Fort Coligny zurückkehrenden Franzosen folgende Worte in den Mund legt, die alle Nichtchristen bezichtigen, einer falschen Religion anzuhängen: «Et outre ce que dessus, remonstrent & adioustent qu'ils n'estoyent Espagnols, ne Flamens ou Portugals; encores moins Turcs infideles, Atheistes, Libertins, ou Epicuriens; mais Chrestiens baptizez au Nom de nostre Seigneur lesus Christ» (Lory [?]: Histoire des choses memorables, p. 508. 206 Cf. L6ry: Histoire d'un voyage, pp. 232 sq. 207 Bitterli: Alte Welt-neue Welt, p. 27. 208 Ibid., p. 27. 2 °9 Clastres: La terre sans mal, p. 39. 210 Lory: Histoire d'un voyage, p. 231. 104

zwischen den unchristlichen Indianern und den gottlosen Atheisten als ein Mittel zur Kritik der europäischen Kultur: Ce que i'ay bie" voulu expressomet narrer en cest endroit, a fin que chacun entende, que si les plus qu'ediablez Atheistes, dot la terre est maintenät couuerte par-deca, ont cela de cömu auec les Toüoupinäbaoults de se vouloir faire acroire, voire d'vne facon encore plus estrange & bestiale qu'eux, qu'il n'y a point de Dieu.211

In diesem Vergleich müssen die Indianer besser abschneiden. Da sie zumindest an die «resurrection des corps», die «immortalite de l'ame»212 und einen Teufel213 glauben, könnten sie den Atheisten sogar noch als Lehrer dienen.214 Die eigentliche Zielrichtung dieser Darstellung mit ihren schwachen positiven Akzenten verweist wiederum auf die Europäer und nicht auf die indianische Kultur. Beim Vergleich der Indianer mit den Atheisten geht es Lery erneut darum, innerhalb der konfessionspolitischen Machtkämpfe in Europa eine klare Position zu beziehen, in der die Indianer eine kontrastierende und vergleichende Funktion wahrnehmen. Lery fürchtet den immer größer werdenden Einfluß machiavellistischen Ideenguts in Frankreich, dessen Rechtfertigung barbarischer Grausamkeit er als eine Gefahr für den christlichen Glauben betrachtet: Surquoy on peut dire que Machiauel & ses disciples (desquels la France a son grand malheur est maintenant remplie) sont vrais imitateurs des cruautez barbaresques: car puis que, contre la doctrine Chrestienne, ces Atheistes enseignent, & pratiquent aussi, que les nouueaux seruices ne doiuent iamais faire oublier les vieilles iniures: c'est a dire, que les hommes tenant du naturel du diable, ne doiuent point pardonner les vns aux autres, ne monstrent-ils pas bien que leurs coeurs sont plus felons & malins que ceux des Tygres mesmes.21^

Hier wiederholt sich auf einer generellen Ebene die Kritik, die Lery an den vom christlichen Glauben abgefallenen normannischen truchements geübt hat. Seine insgesamt jedoch mildere Haltung gegenüber den truchements ist dadurch bedingt, daß diese durch ihr weitgehend zurückgezogenes Leben über keinen unmittelbaren Einfluß auf die Christen verfügen und insofern keine große Gefahr für den Glauben darstellen. In dieser Auseinandersetzung geht es Lery natürlich nicht um eine generelle Verteidigung des christlichen Glaubens, sondern ausschließlich um den Calvinismus, dessen Position in den Religionskriegen er stützen will, indem er seine katholischen Gegner anklagt. In der Verfolgung dieser Absicht spielen Vergleiche mit den Indianern eine wichtige argumentative oder zumindest rhetorische Rolle: Die von den europäischen Beobachtern der indianischen Kultur zwar nur selten ausführlich beschriebene, dann aber geächtete Praxis der Anthropophagie wird von Lery auf eine Ebene gestellt mit den Grausamkeiten, welche die Katholiken in der Bartholomäusnacht am 24. 8. 1572 an den Hugenotten verübt haben: Et sans aller plus loin, en la France quoy? (Ie suis Francois, & me fasche de le dire) durant la sanglante tragedie qui commence ä Paris le 24 d'Aoust 1572 dont ie n'accuse point ceux qui n'en font pas cause: entre autres actes horribles ä raconter, qui se perpetrerent lors par tout le Royaume, la graisse des corps humains (qui d'vne facon plus barbare & cruelle que celles des sauuages, furent 211 212 213 214 215

Ibid., pp. 237 sq. Ibid., p. 237. Ibid., p. 23 8. Ibid., p. 239. Ibid., p. 196. 105

massacrez dans Lyon, apres estre retirez de la riuiere de Saone) ne fiit-elle pas publiquement vendue au plus offrant & dernier encherisseur? 216

Vor diesem Hintergrund erscheinen selbst die Grausamkeiten der Indianer, über die Lory auffallend zurückhaltend berichtet,217 noch als legitim, da sie sich nur gegen die Feinde richten und nicht gegen «par6s, voisins & compatriotes».218 Daß die Indianer in diesen Argumentationszusammenhängen besser abschneiden als die Atheisten und besonders die katholischen Gegner der Reformierten, ist plausibel. Denn die Indianer stellen für den traditionell-christlichen wie für den reformierten Glauben keine unmittelbare Bedrohung dar; Lery betont vielmehr gerade die Stärkung und Vergewisserung seines Glaubens, die er durch sie erfahren hat: Mais quoy que e'en soit, tenant de ma part pour tout resolu, que ce sont pauures gens issus de la race corrompue d'Adam, tant s'en faut que les ayät ainsi considerez vul'des & despourueus de tous bons sentimens de Dieu, ma foy (laquelle Dieu merci est appuyee d'ailleurs) ait esto pour cela esbranlee: moins qu'auec les Atheistes & Epicuriens i'aye de lä conclud, ou qu'il n'y a point de Dieu, ou big qu'il ne se mesle point des hommes: qu'au contraire ayant fort clairement cogneu en leurs personnes la difference qu'il y a entre ceux qui sont illuminez par le sainct Esprit, & par l'Escriture saincte, & ceux qui sont abandonnez ä leur sens, & laissez en leur aueuglement, i'ay estö beaucoup plus confermo en l'asseurance de la verito de Dieu.21"

8. Kolonisation und Nationalismus Bei diesem Komplex der religiösen Sitten, Gebräuche und Glaubensvorstellungen der Indianer ist Lorys Urteil maßgeblich bestimmt durch seinen eigenen christlichen Glauben, seine Missionierungsabsicht und oft auch durch das Bemühen, den Calvinismus indirekt gegen den Katholizismus aufzuwerten oder zu behaupten. Daneben sind aber noch andere, weniger deutlich hervortretende Faktoren bei der Bildung seiner Urteile über die indianische Kultur wirksam. Während Lery seine Missionierungabsicht explizit nennt, äußert sich, wie schon bei den Geschichtsschreibern, etwas versteckter ein nationales und koloniales Interesse an der überseeischen Expedition. Schon Villegagnons Reise im Jahre 1555 hatte den Erwerb von «richesses, & autres cömoditez pour le profit du Royaume»220 zum Ziel. So führten auch die Neuankömmlinge aus Genf den Handel mit den Indianern für Frankreich fort, den schon lange vor Villegagnon französische Seefahrer begonnen hatten.221 Begehrte 216

Ibid., pp. 228 sq. So nennt L6ry in einem Atemzug als «mestier ordinaire [...] d'estre non seulement chasseurs & guerriers, mais aussi tueurs & mangeurs dTiommes.» (Ibid., p. 270.) Cf. weiter p. 136. Auch Chinard betont Lorys sachliche Beschreibung des Kannibalismus (L'exotisme americain dans la litteratwefran$aise auXVf siede, p. 136). Liry: Histoire d'un voyage, p. 230. Weitere Stellungnahmen L^rys gegen den Katholizismus, insbesondere gegen Villegagnon, zeichnen sich ab, wenn Lory die trotz Meinungsverschiedenheiten bestehende Einheit unter den in FortColigny lebenden Reformierten betont (ibid., p. 83). Auch der Glaube der Katholiken an den Papst, den Lory mit dem Glauben der Indianer an die «Caraibes», die «faux Prophetes», (ibid., p. 240) gleichsetzt, gehört zu dieser Polemik (ibid., p. 251). 219 Ibid., p. 261. 220 Ibid., p. 3. 22 ' Schon früh hatten Privatleute, überwiegend Fischer und Kaufleute, die Küsten Brasiliens angefahren, um Geschäfte mit Brasilholz zu machen. Cf. dazu Konetzke: «Überseeische Entdeckungen 217

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Handelsgüter waren insbesondere Gewürze und Brasilholz, aber auch Naturheilmittel sowie exotische Tiere und Pflanzen. Lery bleibt dabei ganz den Prinzipien verhaftet, von denen die europäische Kolonisation Amerikas beherrscht war. Zwar läßt er in einem fingierten Dialog einen Brasilianer am Reichtum zweifeln, den die Franzosen aus dem Handel mit Brasilholz erzielen wollen,222 doch ist er weit davon entfernt, die wirtschaftlichen Absichten Frankreichs in Brasilien in Frage zu stellen oder sogar als Ausbeutung zu begreifen. Thevet vertritt in dieser Hinsicht schon eine etwas modifizierte Position.223 Trotz häufiger Aussagen, die von seiner Wahrnehmung der fremden Kultur und Natur unter rein materiell-utilitaristischen Gesichtspunkten zeugen, zeigen sich bei ihm Tendenzen zur Verteidigung der Indianer gegen die europäische Ausbeutung.224 Dabei lehnt Thevet besonders das gewaltsame Vorgehen der Portugiesen ab. Um von den Brasilianern Arbeitsleistungen zu erzwingen, vor allem beim Abtransport von Brasilholz, griffen sie notfalls auch zu Zwang und Gewalt.225 Ferner zielt Thevets Vorund Eroberungen», p. 629. Gaffarel geht bereits für die ersten Jahre des 16. Jahrhunderts von «expeditions [...] frequentes et presque rogulieres» nach Brasilien aus, zu denen insbesondere Jean Cousin und Paulmier de Gonneville ihren Beitrag geleistet haben sollen (Gaffarel://irio/re du Bresil franqais au seizieme siede, p. 18); cf. Morison: The European Discovery of America, cap. 8: The French Maritime Background, vor allem pp. 270 sq. Zu den ersten Überseereisen, zu denen vor allem Seeleute aus der Normandie aufgebrochen waren, cf. auch Broc: «Autour des grandes decouvertes», pp. 128 sqq. 222 Cf. L&y: Histoire d'un voyage, pp. 176-178. 223 D^ ist im Widerspruch zur gängigen Forschungsmeinung festzuhalten, die Lory als Verteidiger der Indianer und Befürworter ihrer Kultur interpretiert und Thevet demgegenüber überwiegend als einen voreingenommenen Beobachter qualifizierte. Gonnard, der Thevet im Zusammenhang mit der Herausbildung der «logende du bon sauvage» wenigstens erwähnt, (cf. Gonnard: La logende du bon sauvage, p. 28, p. 32) wird von Julien deshalb kritisiert: «GONNARD [...] considere ä tort Thevet [...] comme un des promoteurs du bon sauvage.» (Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 393, Anm. S.) Hingegen wird allgemein mit Le"ry, wenn auch nicht unbedingt der Beginn, so doch zumindest ein Meilenstein auf dem Weg zur Entstehung des Mythos gesehen. Chinards Urteil lautet: «II ne faut pas demander ä un homme [Thevet - A. E.] qui a recu de telles faveurs de s'irriter contre la civilisation et de prendre contre eile le parti de la nature.» (Chinard: L'exotisme americain dans la litlerature franfaise au XVf siede, p. 98.) Er schließt damit Thevet als Vertreter des Mythos vom bon sauvage von vornherein aus. Auch Gewecke, die bei beiden Autoren zwar gleichermaßen positive Aussagen über die «Wilden» feststellt, kommt dennoch aufgrund quantitativer Kriterien zu einer Schlußfolgerung, die das Indianerbild Thevets gegenüber dem Le~rys abwertet: «Doch das bei Thevet nur vereinzelt angewandte Verfahren, Kritik an ungesitteten oder irregeleiteten Europäern durch den Vergleich mit den Barbaren zu untermauern, wurde nun bei Lory gewissermaßen zur Regel. Und die sich ihm erschließenden Ergebnisse waren nicht mehr, wie noch bei Thevet, auf Einzelerscheinungen gerichtet, sondern trafen die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit dort, wo die Normen einer auf christlichen Prinzipien gründenden Ethik weder im privaten noch im öffentlichen Bereich in der anzustrebenden Vollkomenheit erfüllt wurden.» (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 181.) 224 Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 221: «Lors que les marchands y arrivent, soyent ils Francoys, ou Espaignols, ou autres de l'Europe [...], ils trafiquent avec lesditz Sauvages pour la couppe et apport du bresil. Les navires seront quelquefois loing du lieu ou se fait la couppe, quatre ou cinq lieuös, et tout le proffit que ces pauvres gens ont de tant de peine, ce sera quelque meschante chemise, ou de la doubleure de quelque acoustrement de peu de valeur.» Cf. ibid., pp. 221 sq. Thevet verweist an anderer Stelle auf die Bereitwilligkeit der Indianer, Arbeit für die Europäer zu verrichten, jedoch unter der Voraussetzung, dabei nicht tyrannisiert zu werden (ibid., p. 37). Auch Lussagnet betont das schlechte Verhältnis zwischen Brasilianern und 107

wurf auf den Tauschhandel mit den Indianern, die man nur unzureichend entlohnt und somit nicht als gleichwertige Partner anerkennt.226 Diese Aussagen Thevets, mit denen er sich gegen die Ausbeutung der Indianer stellt, dürften allerdings zum Teil auch auf die Streitigkeiten zwischen Katholiken und Calvinisten zurückfuhrbar sein. So zielen einige seiner Vorwürfe bezüglich der Kolonisationspraxis nicht mehr allgemein auf Europäer oder Christen, sondern ausschließlich auf die Calvinisten, die er der Jagd nach Reichtümern beschuldigt.227 Mit seiner Kritik an den kolonisatorischen Praktiken steht Thevet tendenziell in der Tradition der Dominikaner Montesinos und Las Casas, die bereits ab 1511 als Verfechter der Interessen der amerikanischen Indianer nationale Interessen bekämpfen.22« Lery hingegen verzichtet selbst dann auf kritische Kommentare zur französischen Kolonisationspraxis, wenn er über eine spezifische Form des «Kulturexports» berichtet: nämlich über die Verschleppung von Indianern nach Europa, die dort höfischen Repräsentationszwecken dienen sollten. Die Verschiffung von zehn jungen Indianern nach Frankreich - es handelte sich ausschließlich um Indianer aus dem Stamme der Margaias, der Feinde der Tupinamba und somit auch der Franzosen -, deren Anwesenheit am Hof von Henri II wohl nur aus repräsentativen Zwecken gewünscht wurde und die man sogar an «gräds seigneurs» verschenkte, ruft bei Lery keinerlei Kommentar hervor.229 Sie scheint ihm ein selbstverständliches Faktum gewesen zu sein. Auch sein Entschluß, ein brasilianisches Kleinkind bei seiner Rückreise nach Frankreich mitzunehmen, wird nur beiläufig erwähnt.230 Diese Haltung steht in einem merkwürdigen Kontrast Portugiesen, das sie insbesondere auf die gewaltsame Kolonisierung zurückfuhrt (Les Franyais en Amerique [...], Le Bresil et les Bresiliens, p. 223, Anm. 1). 226 Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 77, pp. 161 sq., p. 221. 227 Cf.ibid.,p. 15, p. 95. 22 & Cf. Pietschmann: «Die Kirche in Hispanoamerika», pp. 13 sq. und pp. 19 sq.; Becker: «Indianermission und Entwicklungsgedanke», pp. 51-54; Friede: Bartohme de Las Casas, precursor del anticolonialismo, vor allem pp. 72-117, pp. 145-151, pp. 161-195. Vor allem Las Casas, der das encomienda-System abschaffen wollte, galt als «Padversaire le plus rösolu de l'institution [encomienda - A. E.] au nom de l'ogalito des hommes» (Truyol: «L'Etat Indien apres la conquete», p. 189). Mit seinem Ziel der Abschaffung der encomienda steht Las Casas Überwiegend allein, da nach Meinung der Missionare die encomiendas der Freiheit der Indianer nicht widersprachen (cf. Canedo: «Diffirentes attitudes face a l'Indien», pp. 203 sq.). Cf. auch Bataillon, Saint-Lu: Las Casas et la defense des Indiens, pp. 45 sq. Las Casas' Karl V. vorgelegte Historia de las Indias dient ihm als Mittel, um gegen die spanische Unterdrückung der Indianer vorzugehen: «L'objectif de notre dominicain, c'est de montrer que toutes les conquetes ont entreprises et poursuivies sans qu'il y eüt aucune provocation des indigenes, qu'elles ne sont accompagnoes des pires atrocite"s et qu'il en re~sulte un dopeuplement catastrophique de l'empire des Indes, une veritable 'destruction', au lieu d'une ovangölisation pacifique et d'une colonisation saine et profitable (ä la fois pour les populations autochtones et pour les nouveaux arrivants).» (Mahn-Lot: Bartolome de Las Casas, p. 116.) 229 Cf. Lory: Histoire d'un voyage, pp. 69 sq. und p. 211. Als Beispiel für die Verschleppung von Indianern nach Europa «qui furent exhibas comme 'curiositos' dans les nies de plusieurs villes d'Europe» verweist Bucher auch auf das 1550 in Rouen gefeierte brasilianische Fest, das zu Ehren Catharinas von Medici stattfand (Bucher: La sauvage aux seins pendants, p. 6). 230 Die Tupinamba verkauften Mutter und Kind des feindlichen Stammes der Margaias an Lory. Lory beabsichtigte, das noch nicht zweijährige Kind nach Frankreich zu schaffen. (Cf. Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 210.) 108

dazu, daß Lery sich andererseits Gedanken über die Überlebenschancen eines exotischen Tieres beim Schiffstransport macht.231 Wie stark Lerys Darstellung von nationalen Prämissen geprägt wird, tritt besonders deutlich hervor, wenn er sich mit den kolonialen Konflikten zwischen Portugiesen und Franzosen befaßt, die sich in denen der miteinander verfeindeten Indianerstämme Tupinamba - Margaias fortsetzen. Die französische Koloniegründung hatte, laut Villegagnon, bei den in Brasilien lebenden Portugiesen die ohnehin schon vorherrschende «haine mortelle» gegen die Franzosen noch gesteigert.232 Auch Le*rys Äußerungen des Bedauerns über die schließlich gescheiterte französische Kolonie sind nicht nur religiös motiviert, sondern lassen nationalistische Beweggründe erkennen, wenn er die nach dem Fall von Fort Coligny wieder hergestellte Vorherrschaft der Portugiesen in Brasilien bedauert: ie laisse ä penser, outre ce que Villegagnon [...] se reuolta de la Religion, combien encore en quittant ceste place aux Portugals, qui en sont maintenant possesseurs, il leur donna occasion de faire leurs trophees & du nom de Coligny & du nom de France Antarctique qu'on auoit impost a ce pays-la.233

In Lerys gesamter Histoire d'un voyage wird immer wieder deutlich, wie sehr nationalistische Erwägungen in sein Urteil über die Ereignisse während der Koloniegründung und in seine Bewertung der fremden Kultur hineinspielen. Es war überhaupt ein Charakteristikum des hugenottischen Selbstverständnisses, daß sie trotz der Bartholomäusnacht und der Verfolgungen, denen sie sich in Frankreich ausgesetzt sahen, bei ihren Aktivitäten den Ruhm Frankreichs und des Königs im Auge hatten.234 Das kommt auch bei ihren Koloniegründungen in der Neuen Welt zum Ausdruck, die oft schon in ihrer Namensgebung diese Komponente erkennen lassen.235 Allerdings wird Lery diese unausgesprochene Prämisse seiner Darstellung kaum bewußt; sie bildet die selbstverständliche Voraussetzung für seine Darstellung. Die an der Besiedlung Südamerikas beteiligten europäischen Nationen unterhielten zu den einzelnen Indianerstämmen freundliche oder feindliche Beziehungen, so 231

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Cf. ibid., p. 145: «il [Sagovin- A. E.] est si delicat qu'il ne peut endurer le branlement du nauire sur mer». Ibid., Proface [p. 9]. Dieses Urteil wird von Vaucheret in seiner Studie über Jean Nicot, den portugiesischen Botschafter, der als Vermittler zwischen Frankreich und Portugal fungieren sollte, uneingeschränkt bestätigt: «L'entreprise de Villegagnon avait envenimo davantage des rapports dejä tendus et rendus plus dolicate encore la mission de Pambassadeur.» (Vaucheret: «Jean Nicot et l'entreprise de Villegagnon», p. 103.) Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 88. Auch das Widmungsschreiben Lirys an Coligny zeugt von seinem Nationalitätsbewußtsein: «aussi est-il tres certain, que si ('affaire eust esto aussi bien poursuiuy, qu'il auoit esto heureusemet commencö, que l'vn & l'autre regne, spirituel & temporel, y auoyßt si bien prins pied de nostre tips, que plus de dix mille personnes de la nation Franpoise y seroyent maintenät en aussi pleine & seure possession pour nostre Roy, que les Espagnols & Portugais y sont au nom des leurs.» (Ibid., A.ij. v.) Weiter berichtet L&ry mit Stolz von der Flucht aller feindlichen Schiffe vor den französischen während ihrer Überfahrt nach Brasilien. (Ibid., p. 12, p. 21.) Le"ry nennt dem Leser auch den Grund der französischen Überlegenheit, die nicht nur militärisch, sondern insbesondere durch die normannische Besatzung begründet ist: «nation aussi vaillante et belliqueuse sur mer qu'autre qui se trouue auiourd'huy voyageant sur l'Ocean» (ibid., p. 21). Yardeni: La conscience nationale en France, p. 16. Cf. Chinard: Les refugies huguenots en Amerique, avec une Introduction sur le mirage americain, p. 5.

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daß sich auch im Verhältnis der Indianerstämme untereinander noch einmal die europäischen Konstellationen spiegelten. Auch diese Voraussetzungen beeinflußten grundlegend das Indianerbild der Europäer und drängten manchmal andere kulturelle oder religiöse Urteilskriterien in den Hintergrund. So erklärt sich auch die äußerst unterschiedliche Bewertung der Tupi-Indianer durch die Berichterstatter der verschiedenen europäischen Nationen: Dir [der Tupi — A. E.] Kannibalismus machte sie für Europäer zum Abscheu, ihr Bündnis mit den Franzosen gegen die Portugiesen aber führte andererseits im Land der Aufklärung zu positiver Bewertung.23"

Die tatsächliche oder auch nur unterstellte kannibalische Praxis ist offensichtlich nie ein Grund gewesen, kein Bündnis mit den Indianern im Kampf gegen andere europäische Nationen einzugehen. Solche Bündnisse wurden häufiger geschlossen; in der Regel dienten sie einem doppelten Zweck: zum einen dem Schutz und der Sicherung der eigenen Nation bei der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt gegenüber anderen feindlichen Indianerstämmen; zum anderen der Unterstützung im Kampf gegen die europäischen «Konkurrenten».237 Diese doppelte Absicherung stellte eine unverzichtbare Voraussetzung für die Kolonisierung und Missionierung dar. Die Bündnisse lagen durchaus im beiderseitigen Interesse der jeweiligen Partner. Auch die untereinander verfeindeten Indianerstämme fanden in den Europäern Verbündete, die ihnen ihrerseits wiederum Schutz und Hilfe gewährten. Zum Teil suchten die Indianer - vor allem die der Hochkulturen Perus und Mexikos - in der europäischen Überlegenheit auch Schutz vor der Unterjochung durch die Herrscher des eigenen Volkes.238 Daß die Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und Portugiesen von den Stämmen der Tupinamba auf der einen und der Margaias auf der anderen Seite unterstützt wurden, war französischen Reisenden wie Le"ry oder Thevet bereits bei der Ankunft in der Neuen Welt bekannt.239 Diese Form der Bündnispolitik, die bereits seit der ersten Kontaktaufhahrne der Franzosen mit den in Brasilien ansässigen Tupinamba-Indianern gegen die Portugiesen begonnen hatte, findet sowohl in Lörys Histoire d'un voyage als auch in Thevets Werken einen lebhaften Nachklang. Löry läßt keinen Zweifel daran, daß ihm die Präsenz der Portugiesen in Brasilien äußerst unerwünscht ist, vor allem als diese nach dem Untergang von Fort Coligny dort erneut die Alleinherrschaft antreten.240 In diesem Zusammenhang betont er 236 237

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MUnzel: Mittel- und Südamerika, p. 245. Auch Ratzel betont den «wetteifemde[n] Nationalgeist der fortgeschrittensten Völker Europa's», der sich vor allem in dem Stolz auf die Entdecker und Eroberer der eigenen Nation zeigte (Ratzel, «Reisebeschreibungen», p. 194). Cf. dazu Konetzke: Süd- und Mittelamerika I, pp. 20 sqq. Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 40: «Cependant [...] estoyent de la nation nomme Margaias, alliees des Portugals, & par consequent tellement ennemie des Francois, que s'ils nous eussent tenus ä leur aduantage, nous n'eussions paye" autre rancon, sinon qu'apres nous auoir assommez & mis en pieces, nous leur eussions serui de nourriture.» (Cf. Thevet: Cosmographie universelle,

P- 8·) Schon wahrend der Überfahrt nach Amerika treten die Feindseligkeiten der Franzosen mit den Portugiesen offen durch die Piraterei zutage. Zu erneuten -wenn auch unblutigen - Zusammenstößen kommt es, als die französischen Schiffe an dem portugiesischen Fort Spiritus Sanctus vorbeifahren (Le"ry: Histoire d'un voyage, pp. 44 sq.). In der Folge bedauert Le"ry mehrmals allgemein den Verlust von Fort Coligny (etwa ibid., p. 93) bzw. ihn stört es, daß die Portugiesen nach dem Fall des Forts wieder die Oberhand über Brasilien erhalten haben (ibid., p. 88, p. 123, 110

häufig die «alliance» mit den Tupinamba, den «alliez & confederez de nostre natiö», die den Franzosen Schutz vor den feindlichen Indianerstämmen sowie auch vor den Portugiesen bieten soll.241 Daß die Bedrohung durch indianische wie portugiesische Feinde das Verhalten und die Lebensführung der Franzosen in Brasilien bestimmte, ist unübersehbar und wird in den Texten der Reisenden mimer wieder hervorgehoben. Das ist auch der Grund dafür, daß Villegagnon sein Fort auf einer unbewohnten und unwirtlichen Insel errichtet «a fin qu'il y fust en plus grande seurte, tant contre les sauuages, que contre les Portugals».242 Bei dem ersten Zusammentreffen Lerys mit den Margaias auf dem französischem Schiff ist das Verhalten der gesamten Besatzung von Mißtrauen und Vorsicht geprägt, da es sich bei diesem Stamm um eine «alliee des Portugals, & par consequent tellement ennemie des Francois» handelt.243 Bei Thevet verhält es sich ganz ähnlich. Auch durch seine Werke ziehen sich wie bei Löry die entsprechenden Freund-Feind-Konstellationen, in denen die Franzosen und Tupinamba sowie andere indianische Verbündete als natürliche Gegner der Portugiesen, Margaias und deren Alliierten auftreten. Aber obwohl die Konstellation vergleichbar ist und bei beiden Autoren diese Voraussetzungen eine deutlich erkennbare Rolle für ihre Urteile über die jeweiligen Indianerstämme spielen, verfahren Lory und Thevet dennoch unterschiedlich in ihren Beschreibungen. Im Vergleich zu Lory bleibt Thevet bei der Schilderung der indianischen und europäischen Gegner im allgemeinen weitaus distanzierter und sachlicher. Gerade in bezug auf die Portugiesen kann er deren Leistungen in der Neuen Welt anerkennen. Lory konstatiert die Erfolge der Portugiesen in Brasilien nur mit Bedauern, wenn nicht Verdruß, bei Thevet ruft selbst die Besetzung und Errichtung eines Forts auf St. Vincent durch die Portugiesen keinerlei Kritik hervor. Vielmehr bemerkt er beeindruckt den schnellen Aufschwung der Insel nach der Kolonisation durch die Portugiesen.244 Die Bündniskonstellationen zwischen Europäern und Indianern haben einen erheblichen und unmittelbaren Einfluß auf Lörys Indianerbild. So beurteilt er feindliche Stämme, wie die Indianer aus dem Stamm der Margaias oder der Ouetacas indifferent bis abfällig, während sein Bild der verbündeten Tupinamba in der Tat überwiegend

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p. 341). Daneben gibt es durchaus sachliche Aussagen, etwa bezüglich der portugiesischen Importe bestimmter Produkte nach Brasilien, die bereits vor der französischen Niederlassung stattfanden (ibid., p. 148, pp. 174 sq., p. 185). Ibid., p. 52; cf. weiter zu der Charakterisierung der Tupinamba als «allio», ja sogar als «parfait allie» der Franzosen - häufig in Kontrast zu den europäischen und indianischen Feinden (ibid., p. 91, p. 113, p. 136, p. 195, p. 321). Im «Colloque» (ibid., p. 321) setzt sich L6ry schließlich mit der unterschiedlichen Bedeutung von «allio» und «alliance» auseinander. L6rys Identifizierung mit dem Stamm der Tupinamba zeigt sich darüber hinaus in der häufigen Verwendung des Possessivpronomens, das eine gewisse Vertrautheit mit diesen Indianern ausdruckt: «nos Toüouipinambaoults- (ibid., p. 140, p. 201, p. 241, p. 249, p. 251, p. 254, p. 265, p. 278, p. 304) seltener «nos Ameriquains» (ibid., p. 161) oder «nos sauuages», (ibid., p. 178) eine Bezeichnung, die sich ebenfalls nur auf die Tupinamba bezieht. Ibid., p. 4. Cf. auch Thevet: Cosmographie universelle, p. 11. Lory: Histoire d'un voyage, p. 40. In diesem Zusammenhang ist auch Le~rys Bedürfnis zu sehen, jeden noch unbekannten Indianerstamm in die Kategorien «Freund» oder «Feind» einzuordnen (cf. etwa ibid., p. 45, p. 248, p. 257, p. 318). Andererseits ist sich Lory seiner Verbündeten so sicher, daß er sich im Vertrauen auf ihre Unterstützung freiwillig und aus Neugierde in gefährliche Situationen begibt (cf. ibid., pp. 243 sq.). Cf. Thevet: Les deux voyages, p. 307.

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positiv ist. Die weitgehende Identifikation mit den verbündeten Indianern und ihre entsprechend positive Charakterisierung der Histoire d'un voyage hat die Forschung oft dazu verleitet, Lery generell ein freundliches Indianerbild zu unterstellen.245 Dabei hat sie die Voraussetzungen übersehen, von denen Lerys Urteile abhängen. Zwar lassen sich durchaus auch Äußerungen über die Tupi finden, welche die Legende vom bon sauvage zu unterstützen scheinen: QVANT ä la police de nos sauuages, c'est vne chose presque incroyable, & qui ne se peut dire sans faire honte ä ceux qui ont les loix diuines & humaines, comme estans seulement conduits par leur naturel, quelque corrompu qu'il soit, s'entretiennent & viuent si bien en paix les vns auec les autres.246

Aber auch solche Äußerungen sind stets kontextabhängig; sie ergeben sich aus der Interessenlage, welche die Franzosen mit diesem Indianerstamm verbindet, und sie betreffen keinesfalls die Indianer in ihrer Allgemeinheit. Lery war sich der Tatsache auch bewußt, daß die europäischen Mächtekonstellationen in seine Beziehung zu den Indianern hineinspielen: OR cependant, comme l'issuö monstra, les Toüoupinambaoults sachäs biS, qu'ayäs iä les Portugals pour ennemis, s'ils auoyent tue" vn Francois, la guerre irreconciliable seroit tellement declairee entr'eux, qu'ils seroyent ä iamais priuez d'auoir de la marchädise, tout ce que mon homme auoit fait, n'estoit qu'en se iouant. Et de fait [...] ce qu'il auoit fait en mon endroit estoit seulement pour esprouuer, & voir ä ma contenäce si ie ferois bien la guerre aux Portugals & auxMargaias nos communs ennemis247

Lerys pejorative Beurteilung der Indianer feindlicher Stämme ist umfassend. Sie erstreckt sich häufig sowohl auf das Äußere, auf charakterliche Eigenschaften wie auch auf das Benehmen. So ist für Lery schon das Aussehen der Männer aus dem Stamm der Margaias deformiert;248 und erst recht die charakterlichen Eigenschaften finden seine Mißbilligung: Mär parce que, comme nos ennemis que i'ay dit qu'ils estoygt, cela estoit nous appeller, & faire finement mettre pied en terre, pour puis apres, eux ayans l'auätage sur nous, nous mettre en pieces & nous manger, outre que nous rendions ailleurs, nous n'auions garde de nous arrester la.249

Noch abwertender schildert Lery den Stamm der Ouetacas, sauuages si farouches & estranges, que comme ils ne peuuent demeurer en paix l'vn auec l'autre, aussi ont-ils guerre ouuerte & continuelle, tant contre tous leurs voisins, que generalement contre tous les estrangers.25®

Lerys abschließendes Urteil über diesen Stamm bleibt uneingeschränkt negativ: 245

Cf. etwa Monegal: «Die Neue Welt», p. 37: «Interessanter als seine [Le"rys -A. E.] religiöse Polemik ist seine unmittelbare, freundliche Sicht der Menschen und des Landes Brasilien». Femer Gonnard: La legende du bon sauvage, p. 32, Anm. 2: «II fait, ä plusieurs ogards, l'ologe des Brasiliens; et quand il est forco de le tempirer sur certains points, ce n'est pas sans ajouter que les civilise~s ne font pas mieux, quoique plus e"claire"s, et ayant moins d'excuses.» Auch Gewecke beschränkt ihre Untersuchung auf «Brasilien und den Brasilianer, ohne weitere Differenzierung (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 179). Atkinson verzichtet ebenfalls auf eine Unterscheidung nach den einzelnen Stämmen und spricht von den «Brasilianern» schlechthin (etwa Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 436). 24 ^ Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 272. 247 Ibid., pp. 296 sq. 248 Cf. ibid., p. 42. 249 Ibid., p. 43. 250 Ibid., pp. 45 sq.

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Bref, ces diablotins d'Ouetacas demeunuis inuincibles en ceste petite contree, & au surplus conune chiens & loups, mangeäs la chair crue, mesme leur langage n'estant point entendu de leurs voisins, doyuent estre tenus & mis au rag des nations les plus barbares, cruelles & redoutees qui se puissent trouuer en toute PInde Occidentale & terre du Bresil. 251

Die gelegentliche Anfuhrung von körperlichen oder charakterlichen Eigenschaften, die entsprechend dem europäischen Weitekanon als positiv eingeschätzt werden, geschieht nur in funktionaler Hinsicht. Das Hervorheben etwa ihrer Schnelligkeit dient mehr der Demonstration der Gefährlichkeit im Kampf, als daß es eine Anerkennung dieser Eigenschaft ausdrückte.252 Die Ablehnung der feindlichen Indianer ist bei Lery kompromißlos, die verbündeten Indianer finden umgekehrt selbst dann noch Zustimmung, wenn ihr Verhalten offensichtlich den europäischen Wertvorstellungen widerspricht: Lory bemüht sich immer, seiner ihm von den Tupinamba zugewiesenen Rolle als «parfait allie» gerecht zu werden. Das fuhrt dazu, daß er zwar jene Verhaltensweisen benennt, die den europäischen Idealen widersprechen; daß er in seinem Urteil aber nicht immer die entsprechenden Folgerungen zieht. So stellt er zwar ausfuhrlich die der indianischen Gastfreundschaft zugrundeliegenden materiellen Interessen dar, zugleich findet er aber auch Argumente zu deren Rechtfertigung. Auch müssen indianische Hilfeleistungen von den Europäern entgolten werden, aber selbst diese Forderung läßt Lerys Urteil über die Hilfsbereitschaft der Indianer unbeeinflußt: si les passans estrangers se trouuent las, presentans vn cousteaux ou autres choses aux sauuages, prompts qu'ils sont ä faire plaisir ä leurs amis, ils s'offriront pour les porter.253

In solchen Fällen dominiert der Wille - oder vielleicht auch der Zwang - zur Identifikation mit den indianischen Verbündeten; demgegenüber müssen die eigenen kulturellen Wertvorstellungen zurücktreten. Selbst Verhaltensweisen, die Lery widerstreben müßten und die bei Europäern oder auch feindlichen Indianerstämmen seine Kritik herausgefordert hätten, werden bei den Tupinamba akzeptiert. Wie weit sich Lery mit den Feindbildern der Tupinamba identifiziert, deutet sein Verhältnis zu Menschenkauf und Sklavenhandel an. Mit größter Selbstverständlichkeit beteiligt sich Lery am Handel mit feindlichen Indianern: Neantmoins [...] enuiron quatre mois apres que nous fusmes arriuez en ce pays-la, d'entre quarante ou cinquante esclaues qui trauailloyent en nostre fort (que nous auions aussi achetez des sauuages nos alliez) nous choisismes dix ieunes garcons lesquels (dans les nauires qui reuindrent) nous enuoyasmes en France au Roy Henry second lors regnant.25*

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1 Ibid., p. 46. Auch beim Tausch von Waren-den die Ouetacas nur mit anderen Indianerstämmen betreiben, nicht aber mit Europäern- ist größte Vorsicht geboten (ibid., pp. 46 sq.). 252 Cf. ibid. p. 46. 253 Ibid., p. 289. Ibid., pp. 210 sq. Der Verkauf von und Handel mit feindlichen Indianern, meist aus dem Stamm der Margaias, wird von lAry wiederholt thematisiert: Versklavte Indianerjungen zwischen neun und zehn Jahren werden nach Frankreich geschickt, um dort bekehrt und an französische Adelige verschenkt zu werden (ibid., pp. 69 sq.). Andere Indianer werden von den Tupinamba als Sklaven an Villegagnon verkauft bzw. diese versklaven sich selbst, indem sie Zuflucht in Fort Coligny suchen, um den Tupinamba zu entkommen (ibid., pp. 224 sq.). Le"ry beteiligt sich auch direkt an dem Handel mit Sklaven (ibid., p. 210). 113

Die kritiklose Rechtfertigung indianischen Verhaltens in zweifelhaften Situationen findet sich immer wieder in der Histoire d'un voyage. Auch das Verhalten der TupiFrauen, die angesichts des Tötens der ihnen aus dem feindlichen Stamm zugewiesenen Männer Krokodilstränen vergießen, wird von Lory nicht kritisiert.255 Die Identifikation mit den indianischen Verbündeten ist also sehr weitgehend, auch wenn sich gelegentliche Abweichungen von ihr feststellen lassen. Deren Motivation ist aber immer klar erkennbar; in solchen Fällen wird meist deutlich, daß der hauptsächliche Anlaß für die Veröffentlichung der Histoire d'un voyage, nämlich eine späte und polemische Auseinandersetzung mit den Vorgängen in Fort Coligny, alle anderen Rücksichten in den Hintergrund drängt. So dient etwa Lerys Parteinahme für die feindlichen Margaias, die in Fort Coligny als Sklaven härteste Arbeit leisten müssen, ausschließlich zur Illustration der Grausamkeiten Villegagnons.256 Auch Lerys Mitleid mit einem gefangenen Margaias-Indianer und sein Wunsch, diesen vor dem Kannibalismus der Tupi zu retten, dürften ihre Ursache in erster Linie darin haben, daß es sich bei Antoni um einen getauften Indianer handelt.257 Allein in einem Punkt weicht Lery nicht von seinen europäisch-christlichen Überzeugungen ab, obwohl er damit den Verbündeten ein Zeichen seiner Loyalität verwehrt: Er weigert sich ganz entschieden, an kannibalischen Riten teilzunehmen: ils prennent vn singulier plaisir de voir que les esträgers, qui leur sont alliez, facent le semblabe [Teilnahme am Kannibalismus — A. E.]. TellemSt que quand ils nous presentoyent de ceste chair humaine de leurs prisonniers pour manger, si nous en faisions refus (comme moy & beaucoup d'autres des nostres ne nous estans point Dieu merci oubliez iusques-lä, auons tousiours fait) it leur sembloit par cela que nous ne leurs fussions pas assez loyaux.25°

Trotz der «alliance» zwischen Franzosen und den Tupinamba sind von beiden Seiten also Beweise der Loyalität zu erbringen. So legen die Indianer vor allem Wert darauf, daß die Franzosen mit ihnen in den Kampf ziehen.259 Umgekehrt erwarten die Franzosen Hilfeleistungen von den Tupi, so insbesondere die Versorgung mit Lebensmitteln. Von zweideutigem Charakter ist auch die Vertrauenserklärung Lerys gegenüber den verbündeten Tupinamba. So würde sich Lery aufgrund der eigenen Erfahrungen ihnen jederzeit blind anvertrauen; durch den im Anschluß folgenden Vergleich mit den «Fran9ois desloyaux & degenerez» schränkt er jedoch sein positives Urteil wieder ein.260 Insgesamt läßt sich feststellen, daß auch unter dieser Perspektive das Bild des selbstlosen, naiven und zufriedenen «Wilden», wie es der Legende vom bon sauvage entspricht, durch Lery keine Unterstützung findet. Wenn er eine idealisierende Darstellung des Indianers und seiner Kultur gibt, dann hängt das fast ausschließlich mit 255

Cf. ibid., p. 217: «ie di nommoment petit dueil, car suyuant vraymet ce qu'on dit que fait le Crocodile». 25 ** Cf. ibid., p. 78. Auch die den Tupinamba von Liry zugesprochene Menschlichkeit wird eingeschränkt, sind sie doch nur «plus humains que celuy [Villegagnon -A. E.] lequel sans luy auoir mesfait ne nous [Calvinisten - A. E.] peut souffhr auec luy», d.h. menschlicher als der grausame und ungerechte Villegagnon (ibid., p. 84). 257 Cf. ibid., p. 225. Auffällig ist, daß dieser getaufte Indianer auch der einzige ist, der mit einem Vornamen versehen ist. 258 Ibid., p. 223. 259 Cf. ibid., p. 209; cf. ebenfalls im «colloque», p. 320. 260 Cf. ibid., p. 294. 114

den nationalen Interessen zusammen, die den Franzosen mit seinen indianischen Alliierten verbindet.

9. Ethnographie bei Lery Lerys Bild des Indianers und seiner Kultur ist einerseits durch solche Interessenkonstellationen missionarischer und nationaler Herkunft bedingt; andererseits wirken allgemeinere europäische Wertvorstellungen in seine Darstellungen und Urteile hinein. Lery bleibt in seinem Selbstverständnis ein von seinen Wertvorstellungen überzeugter Europäer, der die fremde Kultur an eigenen Maßstäben mißt. Das zeigt sich auch in seinen Schilderungen, in denen er sich den ethnographischen Gegebenheiten der Neuen Welt widmet. Dabei wird zunächst deutlich, daß ihm das spätere ethnologische Ideal des neutral beobachtenden Wissenschaftlers natürlich noch völlig fremd ist. Lery ist stark involviert in den Gegenstand, den er beschreibt. So leistet er etwa der «corruption» der Indianer Vorschub, wenn er das eigene Belohnungs- und Bestrafungssystem - Waren für die Guten, keine Waren für die Schlechten - auf eine völlig fremde Kultur unreflektiert überträgt.261 Auch die von Lery mit Stolz berichtete Tatsache, durch den Import von Angelhaken in die Neue Welt zur Erleichterung des Fischfangs beigetragen zu haben, hat Auswirkungen, die er zwar konstatiert, deren negativer und kulturzersetzender Charakter ihm jedoch nicht bewußt wird. Die durch die Verteilung von Waren bereits bei den Kindern bewirkte Begierde nach Besitz, den sie notfalls mit Schmeicheleien und Drohungen einfordern, trägt unwiderruflich zur Zerstörung der im großen und ganzen noch bestehenden besitzlosen Gesellschaft bei.262 Lery ist sich seiner Eingriffe in die Kultur, die er beobachtet, nicht bewußt. In vielen Details ist er bemüht, eine weitgehend sachgerechte Beschreibung der indianischen Kultur zu geben, soweit ihm das seine Beobachtungs- und Darstellungsmittel erlauben. Zu einer sachlichen bis positiven Beschreibung der Indianer und ihrer Kultur findet Lery immer dort, wo es um Gegebenheiten geht, die nichts zu tun haben mit religiösen, moralischen oder nationalen Überzeugungen. Auf nahezu alle Kulturbereiche erstrecken sich Lorys sachliche und ausführliche Beschreibungen ethnographischen Charakters; die Histoire d'un voyage macht Angaben über Essens- und Ernährungsgewohnheiten26^ ebenso wie über die Verarbeitung bestimmter Materialien264 bis hin zu Bräuchen, die Geburt und Tod umfassen, letztere jedoch nur, sofern sie nicht metaphysische Probleme betreffen.265 Nur bei diesen marginalen Bräuchen, die insbesondere Le*rys religiöses Selbstverständnis nicht berühren, finden sich Äußerungen, die im Sinne der Legende vom bon sauvage die Indianer als den Europäern überlegen schildern. Diese Überlegenheit äußert sich insbesondere in De261

Cf. ibid., p. 297. Cf. ibid., pp. 171 sq. 26 3 Cf. ibid., pp. 116-133 (cap. IX),hier finden sich besonders ausführliche Beschreibungen Ober die Essens- und Trinkgewohnheiten u. a. 264 L6ry beschreibt die Verarbeitung von Baumwolle (ibid., p. 274) oder von Wachs (ibid., p. 159). 265 Die Schilderung von Schwangerschaft, Geburt, Namensgebung, Ernährung des Säuglings oder Säuglingspflege umfaßt mehrere Seiten; (ibid., pp. 264 sqq.) ein ganzes Kapitel (ibid., cap. XIX, pp. 298-306) ist der Beschreibung von Krankheit, Sterben und Tod gewidmet. 262

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tails, welche gesellschaftliche Konventionen betreffen. Die Indianer mokieren sich über das Geplapper der Franzosen bei Tisch, das vielleicht dem sittenstrengen Calvinisten selbst ein Dom im Auge gewesen ist;266 auch belustigen sich die Indianer über die Art des in Europa üblichen Grillens.267 Daneben äußert sich die Aufwertung der indianischen Kultur in der Übernahme von Bräuchen, die den Franzosen für ihre Zwecke nützlich und wirksamer als die eigenen erscheinen.268 Trotz dieser sachlichen Beschreibungen indianischer Kulturphänomene beschäftigt sich ein Großteil des Textes mit eigenen Problemen, das Fremde wird überwiegend ausgespart. Zwar finden sich bei Lery durchaus Passagen, die sein Interesse für die fremde Kultur erkennen lassen - vor allem nachdem er der Einflußsphäre von Fort Coligny entronnen ist und unter den Tupinamba auf dem Festland lebt -, doch bleibt Lery generell dem Problemhintergrund der eigenen Wahrnehmungsmuster, die wiederum durch seine unmittelbaren konfessionellen Erfahrungen und nationalen Interessen mitgeprägt sind, verhaftet. Vor diesem Hintergrund ist Lerys Bedauern zu verstehen, das die Abreise aus der Neuen Welt bei ihm ausgelöst hat.269 Es äußert sich in einer nostalgischen Sehnsucht nach dem Land und seinen Bewohnern, die den Verhältnissen in Frankreich entgegengesetzt werden: Tellement que pour dire ici Adieu ä l'Amerique, ie confesse en mon particulier, combien que i'aye tousiours aimd & aime encores ma patrie: neantmoins voyant non seulement le peu, & presques point du tout de fidelito qui y reste, mais, qui pis est, les desloyautez dont on y vse les vns enuers les autres, & brief que tout nostre cas estant maintenant Italianiso, ne consiste qu'en dissimulations & paroles sans effects, ie regrette souuent que ie ne suis parmi les sauuages, ausquels (ainsi que i'ay amplement monstro en ceste histoire) i'ay cogneu plus de rondeur qu'en plusieurs de par-deca, lesquels ä leur condamnation, portent titre de Chrestiens.27^

Lerys Klage über die schlechten Verhältnisse in Frankreich, die als positiven Gegenentwurf zur eigenen Gesellschaft die Tupi-Indianer setzt, ist Ausdruck der Verfallserscheinungen, wie sie insbesondere in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger deutlich in allen westeuropäischen Ländern Europas sichtbar werden.271 Wenn auch die Verderbtheit und Unsittlichkeit Italiens besser belegt ist, so dürfte auch Frankreich in seinem Verfall moralisch-sittlicher Werte Italien in nichts nachgestanden haben, wie insbesondere die rasche Verbreitung der Syphilis belegt.272 Zudem verstärkte sich Lerys negatives Bild von Frankreich, da er als Calvinist auch von den Religionskriegen betroffen war, die bei seiner Rückkehr im eige266 267

271 272

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Cf. ibid., p. 128. Cf. ibid., pp. 219 sq. Cf. ferner zur Relativierung von Eßgewohnheiten ibid., p. 127, pp. 132 sq., p. 148. So Übernehmen die Franzosen von den Indianern notgedrungen etwa Eß- und Schlafgewohnheiten, daneben greifen sie aber auch bei der Bekämpfung bestimmter Krankheiten auf indianische Heilmittel zurück (cf. etwa ibid., pp. 161 sqq.). Dieses Bedauern wird häufig in der Forschungsliteratur als Lerys größtes Verdienst genannt: «Son principal morite est de contenir, peut-etre pour la premiöre fois, ce sentiment de regret qui est une des formes constitutives de l'exotisme et qu'on retrouve , beaucoup plus tard, chez Chateaubriand et surtout chez Loti.» (Lebel: Histoire de la Litterature Coloniale en France, p. 13.) Lory: Histoire d'un voyage, p. 342. Cf. Raymond: «Montaigne devant les sauvages d'Amörique», p. 22. Cf. zum historischen Hintergrund des Zerfalls Italiens, aber auch der anderen westeuropäischen Staaten Durant: Kulturgeschichte der Menschheit, vol. VIII, pp. 334-373.

nen Land mit größter Heftigkeit geführt wurden und die er bei der Belagerung von Sancerre am eigenen Leibe erfahren hatte.273

10. Thevets Bild der brasilianischen Indianer Neben Lery gehört Thevet zu den Autoren, die sich ausführlich mit den brasilianischen Indianern befaßt haben. In der Rezeptionsgeschichte und in der Forschung besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß sein Indianerbild dem Lerys in mancherlei Hinsicht entgegengesetzt ist. Die Charakterisierung des Autors der Singularites und der Cosmographie universelle als «pere du bon sauvage» stellt in der Forschungsliteratur eine große Ausnahme dar.274 Weitaus häufiger werden in der Untersuchung von Thevets Werken jene Aspekte akzentuiert, welche auf ein negatives Indianerbild hindeuten, obwohl sich durchaus auch positive Bemerkungen über die Indianer finden lassen.275 Aber noch in neueren Arbeiten wird betont, daß bei Thevets Brasilienbild der Schluß naheliegt, es handele sich hier weniger um eine auf persönlicher Erfahrung beruhende Einschätzung als vielmehr um die Reproduktion des den Zeitgenossen geläufigen «klassischen» Fremdvölkerstereotyps vom gesetz- und kulturlosen Barbaren, dessen sich der Autor hier, ohne Ansehen der spezifischen amerikanischen Realität, bediente. 27*>

Tatsächlich jedoch ist Thevets Sicht des Indianers weitaus differenzierter und umfaßt, oft in unmittelbarer Nachbarschaft, Merkmale, die einen Mythos des «guten» wie des «schlechten Wilden» gleichermaßen formieren könnten.277 Das Ineinandergreifen positiver wie negativer Merkmale ist die Regel: 273

Cf. Lirys eigene Aussagen dazu: Histoire d'un voyage, pp. 367-369. Cf. Julien: «Introduction: Le cordelier Andre" Thevet», p. V. Juliens nicht weiter belegte These läßt sich durch zahlreiche Textstellen bei Thevet untermauern, die für die Herausbildung des Mythos vom bon sauvage entscheidend sind: «je ne veis jamais entre ce peuple sauvage ne boiteux, ne bossus, ne aveugle, ne borgne que celuy lä [Indianer, der auf einem Auge blind ist, da er von einem Pfeil getroffen wurde -A. E.]: Et ont hommes et femmes les corps (es mieux proportionnez, que j'estime, qu'il en y ait au monde.» (Thevet: Cosmographie universelle, p. 86). Auch Fehlen von Melancholie (Thevet: Les deux voyages, p. 268) sowie ein Leben im Einklang mit der Natur (Thevet: Cosmographie universelle, p. 114) bewahren die Indianer vor Krankheit und gewähren ihnen ein langes Leben (ibid., p. 121, p. 145). Daneben tragen Gütergemeinschaft (ibid., pp. 121 sq.) und Verzicht auf Geld (ibid., p. 118) zur Zufriedenheit dieses Volks bei. 275 Cf. Chinards Aussage Über das negative Indianerbild bei Thevet: L'exotisme americain dans la litteraturefranfaise au XVf siede, p. 91; als Beleg für seine These führt Chinard ein den Singularites entlehntes Zitat an, das die Indianer mit «bestes irraisonnables» gleichsetzt, das auch Gewecke als Indiz für Thevets negative Sicht der Indianer dient (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 167). Allerdings beschränken sich beide Autoren bei ihrer Untersuchung allein auf die Singularites, während erst die Untersuchung aller Brasilien betreffenden Werke Thevets ein vollständiges und angemessenes Bild seiner Indianersicht geben kann. 27 " Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 167. Geweckes Ansatz, der die indianische «bestialito» als Rahmen der Singularites setzt und damit sowohl Autorintention wie Lesererwartung auf Negatives festlegen will, ist verfehlt, da er positive Merkmale in der Indianerdarstellung, die auch Gewecke keineswegs leugnet, den negativen unterordet und so eine verfälschende Gewichtung vornimmt. Zudem mußte auch bei Aussagen, die den «Brasilianer) allgemein bewerten, das gesamte Werk Thevets berücksichtigt werden. 277 Funke betont gleichermaßen die «Tendenzen zu negativer oder positiver Bewertung der "Re"publique sauvage'», die in den Reiseberichten Thevets und Le~rys - wenn auch in unterschied274

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r«Ame>ique» de Thevet ne remplit la place d'aucun concept. II n'est que la somme de traits particuliers et circonstantiels, c'est-a-dire qu'il condense en lui-meme un catalogue de «singularite's» irroductibles et contradictoires. Cruel et d£bauche~, vertueux et hospitaller, homme dTionneur et «grand larron», les qualificatifs qui lui sont appliques tour tour ou simultanoment apparaissent rogle~s en fonction d'un code constairunent mobile, qui se modele de detail en dotail, sur la particularity ä chaque fois mise en relief.2^8

Auch in den übrigen Brasilientexten Thevets können die konträren Charakteristika häufig in unmittelbarer Nachbarschaft festgestellt werden. Das gilt für alle Ebenen des Textes: Die differenzierende Zuweisung von konträren Eigenschaften an die Indianer findet sich in großen Texteinheiten ebenso wie innerhalb einzelner Sätze oder Satzteile; entsprechend wendet Thevet sie generell auf die Indianer, auf einzelne Stämme oder auch auf bestimmte Individuen an. So stehen in einem Kapitel, dessen Überschrift «De la charite des Sauvages envers les Estrangers» auf eine positive Darstellung hinweist, gleichrangig negative neben positiven Merkmalen: Ce peuple barbare a le regard hideux et effroiable, ayant les yeux louches et noirs, l'aspect tout ainsi que les bestes les plus cruelles et furieuses du monde. Ils sont de haulte stature, disposts et allegres, bien formez et proportionnez de leurs membres, ayans la couleur exterieure rougeastre, tirant sur le poil du Lyon, non toutesfois si aduste que celle des noirs bazanez de l'Ethiopie?79

In ähnliche Nähe rückt Thevet die Feststellung über das der «paillardise» verfallene indianische Volk, sowie dessen ungewöhnliche Fähigkeit, von Krankheiten aufgrund seiner «sobriete" naturelle» sehr schnell zu genesen.280 Ebenso kann die Relativierung einer Aussage etwa über eine Charaktereigenschaft, Positives und Negatives vereinen und so ein endgültiges Urteil über den potentiell guten oder schlechten Indianer erschweren: «Ce peuple est assez fidelle en ses promesses, mais plus les vieillards quelesjeunes».281 Thevet beschreibt auch einen einzelnen Indianerstamm nur äußerst selten mit einseitigen Merkmalen. Die Toupinanquin, die als Verbündete der Franzosen einerseits oft wohlgefällig oder lobend erwähnt werden, bleiben trotzdem nicht von abwertenden Äußerungen über ihr Äußeres verschont: «Us ne sont point de belle forme comme les autres, mais sont gros courtaux, camus.»282 Sogar bei der Schilderung eines Individuums wie dem Häuptling Quoniambec treten positive Bezeichnungen wie «grand», «membru», «hardy», «plein de conseil» und pejorative Bewertungen wie «cruel», «redoute», «belliqueux» unmittelbar nebeneinander, was Thevet zusammenfassend in einer relativierenden Betrachtung resümiert: «Et quoy qu'il fust barbare, je croy toutefois, que s'il eust vescu longuement, il eust faict de grandes choses, estant secouru des nostres.»28^ licher Ausprägung - vorherrschen und die zur Formierung des Mythos der «Ropublique sauvage» beigetragen haben (Funke: «'La ropublique sauvage'», p. 43). Lestringant: «Introduction [Singularites]», p. 26. Thevet: Cosmographie universelle, p. 111. Cf. zur Gastfreundschaft weiter ibid., p. 112, pp. 114 „ s q - , P-123. 280 Ibid., p. 143. 281 Ibid., p. 112. 282 Thevet: Les deux voyages, p. 298. Thevet: La Cosmographie universelle, pp. 89 + 92. Auch in der Übrigen Beschreibung wird Quoniambec mit vielen herausragenden Eigenschaften versehen: Neben den bereits erwähnten kriegerischen Tugenden ist er auch außerhalb seines Volks beliebt, er ist großherzig, freigebig und an allem interessiert, so etwa an den Gebeten der Franzosen (ibid., p. 93). Cf. weiter die negative Charakterisierung Quoniambecs als «le plus redouto qui fust en tout cesdits pals.» (ibid., p. 118

Daß Thevet durchgängig auf allen Ebenen der Beschreibung eine differenzierte Abstufung der Bewertung realisiert, deutet darauf hin, daß er weniger von eigenkulturellen Bewertungsmaßstäben abhängig ist als Lory. Thevets Charakterisierung der Indianer verweist in weitaus geringerem Maße auf religiöse und nationale Vorgaben, weil er mit seinen Reisen andere Interessen verfolgte als Lery und seine Texte entsprechend anders angelegt sind. Thevet bereist die Neue Welt, wie zuvor den Orient, aus reiner Abenteuerlust. Zwar war er bereits in früher Jugend dem Franziskanerorden beigetreten, der «bei weitem die herausragendste Rolle in der Indianermission des 16. Jahrhunderts» gespielt hat,284 jedoch blieb das religiöse Engagement weit hinter dem von Neugierde inspirierten Unternehmungsgeist zurück: Cordelier sans grande vocation, sä robe de moine ne tarda pas a lui peser; il avait une äme aventureuse qui ne pouvait se rosigner a Itiorizon otroit des murailles du cloitre, et sollicita de ses supe"rieurs l'autorisation de courir le monde pour la plus grande gloire de 1'ordre, mais bien entendu a ses frais.28^

Seine «undogmatische» Haltung machte es Thevet leicht, bei seiner Teilnahme an der Amerika-Expedition im Jahre 1555 auf Missionierungsabsichten weitgehend zu verzichten, um allein seiner Neugierde nachzugeben. Thevet war sich dieser Disposition zu Neugierde und seiner Fähigkeit zum Erfassen des Neuen bewußt. Das geht aus seiner Thematisierung von Motivation und Ziel der Reise und des BrasilienAufenthalts hervor: «ne desirions que voir les choses singulieres du pai's».286 Folgerichtig stellt Thevet den bald nach seiner Rückkehr veröffentlichten Reisebericht, die Singularites, unter das Postulat des «Einzigartigen». Nicht nur betont er in dem Widmungsschreiben an den Kardinal von Sens als Grund der Veröffentlichung die «diuersite», die diesen vierten Kontinent bestimme; auch könne nur ein Adressat wie

9). Auch in Thevets Les vrais portraits et vies des hommes illustres (ibid., p. 662 v.) akzentuiert Thevet das Nebeneinander negativer wie positiver Eigenschaften. Quoniambec zeichnet sich bei Thevet durch ungeheure Starke, «prudence» und verschiedene «vertus» aus. In diesem Zusammenhang kritisiert Thevet Le"ry wegen der «inhabilitö de sä profession», die er in der Unwahrscheinlichkeit der Loryschen Quoniambec-Beschreibung verkörpert sieht (ibid., p. 662). 284 pjetschmann: «Die Kirche in Hispanoamerika», p. 30. Zur besonderen Rolle der Franziskaner bei der Missionierung cf. auch Konetzke: «Überseeische Entdeckungen und Eroberungen», pp. 585589; die Textsammlung Gott in Lateinamerika, die von Mariano Delgado herausgegeben wurde, vereinigt in Auszügen die wichtigsten Texte der in Neu-Spanien/Mexiko tätigen Franziskaner Toribio de Benavente, Bernardino de Sahagun, Jeronimo de Mendieta. Chinard: L'exotisme americain darts la lliterature franfaise au XVf siede, p. 85. Auch Adhömar betont Thevets Wissensdurst: «Une curiositi inlassable, une soif ardente de connaissances nouvelles recueillies aux lieux d'origine, une endurance et une tonaciti peu ordinaires le caracterisent.» (Adh£mar: Frere Andre Thevet, p. 6). Cf. weiter Julien: Les voyages de decouverte et les premiers atablissements, pp. 373 sq. Daß Thevet möglicherweise eine Zeitlang zwischen Katholizismus und Reformation geschwankt hat, ist seinem Missionierungseifer wohl abträglich gewesen; cf. Lestringant: «La Conference de Saint-Malo (1552-1553)», p. 44. 286 Thevet: Cosmographie universelle, p. 58. Beispiele für die Neugierde Thevets finden sich in allen seinen Schriften. Cf. die von Thevet und den übrigen Franzosen sofort nach der Ankunft im Land der Tapoüys an den Tag gelegte Neugierde, die sie sogar dazu fuhrt, der Exekution von vier gefangenen Indianern beizuwohnen oder auch die sofortige Kontaktaufiiahme mit den truchements, um «singularitds, commoditds et richesses» des Landes in Erfahrung zu bringen (Thevet: Les deux voyages, p. 254). Auch die Feststellung über nicht vorhandene «singularitös» (Thevet: Cosmographie universelle, p. 16) ist ein Beleg für Thevets vorrangiges Interesse am noch nicht Entdeckten und Beschriebenen. Cf. femer ibid., p. 46; Thevet: Cosmographie de Levant, p. 15. 119

der Kardinal, der sich durch ein «desir d'oui'r choses admirables» auszeichne,287 dem «Einmaligem», «que aucun n'en a fait iusques icy la recherche, cuidans tous Cosmographes (voire se persuadans) que le monde fat limite en ce que les Anciens nous auoient descrit» gerecht werden.288 Thevets Postulat, die «choses rares et inaudites» des nur von ihm selbst Gesehenen mitteilen zu wollen, verweist bereits auf seine Selbsteinschätzung, nach der er sich eher als Kosmograph und nicht als Missionar versteht. Auch von seinen Zeitgenossen wurde er ausschließlich als weitgereister Kosmograph gewürdigt: «Poetes novateurs de la Pleiade ou rhetoriqueurs attardes, professeurs, cosmograph.es, jurisconsultes et theologiens en renom»289 rühmen den Kosmographen Thevet in den verschiedensten Sprachen, sogar in Hebräisch. Dabei steht Thevet, der von den Pleiade-Dichtern Dorat, de Bai'f und du Bellay mit den grenzüberschreitenden antiken Leitfiguren Odysseus und Jason verglichen wird,290 im Zentrum der Betrachtung, da er den vierten Kontinent nicht nur beschrieben, sondern selbst bereist und gesehen hat: Qui a veu ce grand univers/Et de longueur et de travers,/Et la gent blanche et la gent noire?/Qui de pres a vu le soleil/Aux Indes faire son reveil/[...]/Qui a pratique" mille ,/Mille rivages, mille bordz/Tous sonnans un divers langage,/Et mille fleuves tous bniyans/De mille pars divers fuyans/Dans la mer, d'un tortu voyage./Qui a descrit mille fa9ons/D'oyseaux/de serpens, de poissons,/Nouveaux ä nostre cognoissance:/Puis en ayant sauvi son chefiDes dangers, a logo sa nefTDedans le beau port de la France.29'

Daß sich Thevet als Kosmograph nach Brasilien begibt und auch mit kosmographischem Anspruch seine Brasilien-Texte verfaßt, wird zudem in seinem Wunsch deutlich, alle Wissensgebiete möglichst vollständig zu beschreiben292 oder auch in seinem Bedauern, diesem Anspruch aufgrund der ungewöhnlichen Vielfalt der «singularites» nicht gerecht werden zu können: «Si je voulois icy particulariser les choses rares, que j'ay veues, je n'aurois jamais fait.»293 Auch das Sammeln von exotischen Kulturgegenständen oder von Pflanzen und Tieren Brasiliens nicht etwa für private Zwecke, sondern im Namen des Königs, zeugt von den kosmographischen Interessen Thevets: J'apportay en France un chappeau riche et fort beau, fait de ce plumage.lequel je presentay au feu Roy Henry second du nom, comme chose rare et singuliere, digne d'estre admiree, veu la gentilesse de l' ceuvre, oü ces Sauvages fönt le tissu du plumage si mignonnement avec leur filet d'escorce d'arbre, que a grand peine le scauroit on faire plus proprement par de9a ä tout fil de sove.294

287

Thevet: Singularites (Widmungsschreiben an den Kardinal de Sens), a ijv. Ibid., (Widmungsschreiben an den Kardinal de Sens), a ij sq. 289 Julien: Les voyages de aecouverte et les premiers dtablissements, pp. 374 sqq. 290 Cf. ibid., pp. 376-377; Ronsard hat Thevet sein bekanntes Gedicht XXI A Andre Thevet gewidmet. Jodelle würdigt den weitgereisten Thevet in seinen beiden Gedichten Ode sur les Singular itez de la France Antarctique d'Andre Thevet (p. 123) und Pour le tombeau de M. Thevet (p. 126). 291 Ronsard: XXIA Andre Thevet Angoumoisin, pp. 268 sq. (vers 52-56, 67-78). 292 Thevet besteht darauf, als erster eine vollständige Beschreibung des neuen Kontinents gegeben zu haben (Thevet: Les deux voyages, pp. 289 sq.). Cf. femer ibid., p. 264. Sein Selbstverständnis als Kosmograph betont Thevet darüber hinaus ibid., p. 300. 293 Ibid., p. 286. 294 Thevet: Cosmographie universelle, pp. 162 + 164. Cf. zu weiteren von Thevet nach Frankreich importierten exotischen Artikel, ibid., p. 125, p. 165; Les deux voyages, p. 283 oder über die Schwierigkeit beim Export exotischer Früchte Thevet: Cosmographie universelle, p. 150. 288

120

Dieser kosmographische Anspruch steht einerseits durchaus noch in der Tradition einer alten vorneuzeitlichen Wissenschaftsauffasung. Bei Thevet dominiert «le cosmogaphe sur l'enqueteur, le compilateur sur l'ethnologue».295 Allerdings läßt sich daraus nicht die Schlußfolgerung ziehen, Thevet untersuche die Indianer nur hinsichtlich bereits vorgegebener Schemata, wie gelegentlich behauptet wurde: Guido dans sä recherche par d'amples connaissances a priori, Thevet parcourt le monde pour y trouver confirmation du dejä connu et verifier la justesse des systemes traditionnels [...]. Au nom des valeurs europoennes et des lumieres de la foi, Thevet se pose en juge et, pour qualifier les Indiens, accumule les dpithates mlprisantes.29i>

Die Besonderheit von Thevets Beschreibung der indianischen Kultur läßt sich aber in einer präzisen Analyse jener Verfahren und Kategorien bestimmen, mit denen er die kulturellen Phänomene beschreibt. Dabei wird seine Eigenart schon in der Auswahl seiner thematischen Schwerpunkte deutlich. Daß Thevet aufgrund seiner vorrangigen Zielsetzung, nämlich in seiner Brasilien-Darstellung die «singularitos» zu betonen, neben allgemein religiös umstrittenen Themen auch christlich-dogmatische Überzeugungen sowie missionarische Absichten in den Hintergrund stellt, zeigt das an den Rand des Interesses gedrängte Thema der «Bekehrung». Charakteristisch für das Verhältnis des Franziskaners zur indianischen Missionierung ist dessen zwar vorhandene, wenn auch nur distanziert geäußerte Missionierungsabsicht,297 die bisweilen schnell von anderen, weltlicheren Interessen abgelöst wird. So artikuliert Thevet mit seiner Beschreibung des rnissionierungsfähigen Häuptlings Quoniambec seinen Missionierungseifer. Quoniambec, der sich in Glaubensdingen als «curieux de scavoir» zeigt,298 veranlaßt Thevet zur Übersetzung einiger zentraler christlicher Glaubenstexte «afin d'attirer ce grand Roy, et tous ses subjets, ä la cognoissance de leur salut, et admiration des faits de Dieu».299 Doch greift Thevet mit der Übersetzung, wie der unmittelbar folgende Zusatz offenbart, weit über missionarische Zielsetzungen hinaus: «ce que je vous ay bien voulu icy representer soubs les mesmes termes et langage du pai's, comme chose non encores veue, ny descrite par aucun des anciens ny modernes.»300 Dieser Anspruch auf die «Einmaligkeit» des Geleisteten stellt den Ernst von Thevets Missionierungsabsichten in Frage. Auch ein in der Folge erneut geäußerter Jeanneret: «Le"ry et Thevet: comment parier d'un monde nouveau?», p. 239. Auch Julien verweist mit Recht auf die oft fehlerhaften geographischen Kenntnisse Thevets bezüglich Amerika und auf seine Fehler hinsichtlich der historischen Chronologie, die aus seinem Bestreben resultieren, «d'accumuler des documents [...] que lui ont rapportos voyageurs, marins, colons ou indigenes»; doch ist Juliens Urteil nicht zutreffend, diese Kenntnisse seien von Thevet «sans les soumettre ä une critique qu'il est incapable d'exercen> übernommen worden (Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 381). 29< > Jeanneret: «Lory et Thevet: comment parier d'un monde nouveau?», p. 241. 297 Nur selten findet das Thema der Indianer-Missionierung Eingang in Thevets Brasilien-Schriften. Daß es sich bei dem Franziskaner um keinen dogmatischen Verfechter des christlich-katholischen Glaubens handelt, belegt seine sachlich-distanzierte Beschreibung eines von ihm nahezu bekehrten Indianers, der sich dann doch vom christlichen Glauben aufgrund des Kannibalismus-Verbots abwendet (Thevet: Cosmographie universelle, pp. 85 sq.). Ibid., p. 93. Die Indianer sind für Thevet durchaus missionierungsfMhig, da sie an christlichen Riten Interesse zeigen und dem Wort Gottes aufmerksam zuhören (ibid., p. 93, p. 225; Thevet: Les deux voyages, p. 265). 299 Thevet: Cosmographie universelle, p. 94. Ibid. 121

Wunsch nach Missionierung wird doppelt eingeschränkt: Thevet entschuldigt den mangelnden Missionierungseifer durch seinen nur kurzen Aufenthalt in Brasilien und die geringen Sprachkenntnisse: Au reste, si j'eusse demeurl plus long temps en ce pals la, j'eusse tasche* a gaigner les ames esgarees de ce pauvre peuple, plustost que de m'estudier ä fouiller en terre, pour y cercher les richesses que nature y a cachees. Mais d'autant que je n'estois encores bien verso en leur langue, et que les Ministres, que Calvin y avoit envoyez pour y planter sa nouvelle Eglise, entreprenoient ceste charge, envieux de ma deliberation, je delaissay ceste mienne entreprinse.3^1

Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß in Thevets Brasilien-Texten selbst bei vordergründig religiösen oder missionarischen Absichten das Außergewöhnliche im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Die Religion der Indianer interessiert Thevet - wie auch andere Bräuche - nur in dem Maße, wie sie mit dem «Außergewöhnlichen» zusammenfällt. In diesem Sinne sind Randbemerkungen wie etwa «Chose digne d'admiration» (61) oder «Chose admirable de ses barbares» (68) zu bestimmten Glaubensriten ebenso zu verstehen wie etwa die Anmerkung «Chose remarquable d'une femme sauvage», (107) die auf einen außerreligiösen Brauch abzielt. Auch die zahlreichen mythologischen Erzählungen über die indianische Religion, die er allerdings erst in die Cosmographie universelle aufnimmt, zeugen von seinem Interesse am Außergewöhnlichen.302 Diese nur am Singulären orientierte Ausrichtung der Beschreibung erlaubt eine unbefangenere Darstellung, als dies bei Lery festzustellen war. Lery bemühte sich immer darum, die Phänomene der Fremdkultur direkt oder vermittelt in die Zusammenhänge der eigenen Kultur einzuordnen und seine Bewertungen darauf zu beziehen. Bei Thevet hingegen treten eigene religiöse Überzeugungen in den Hintergrund. Er begnügt sich in der Regel mit der einfachen Wiedergabe disparater, zum Teil äußerst widersprüchlicher Informationen über die indianische Religion. Thevet stellt Hinweise zur Glaubensfähigkeit der Indianer (37) neben solche, die ihnen eben diese Eigenschaft aufgrund ihrer Unvernunft absprechen; (78, 111 sq.)303 diese Aussagen wiederum kollidieren mit dem Selbstverständnis der eigenen Religion: scachant (comme j'ay dit) qu'ils n'ont cognoissance autre que imaginaire de quel que ce soit de ce apelle divinite*, et moins recongnoissent Dieu par sacrifice ou priere, qui sont les marques de la vraye religion.304

Auch die von Thevet als Zwischenresümee eingeschobene Bemerkung widerspricht früheren Aussagen, die die Indianer als jeder Religion unzugänglich bezeichneten: Tout ce discours sert, ainsi que je l'ay propose" tant pour monstrer qu'ils croyent, que l'ame guide nostre corps, et qu'elle vit, le corps estant aneanty, et que au reste il y a Heu de repos pour les bons, et ceux qui ont defendu leur pai's, et que les couards vont loger avec Aignan, que aussi pour vous donner ä cognoistre la puissance de curiosito de ce grand Quoniambec. (96)

Ein weiterer Beleg für Thevets Uneindeutigkeit bei Aussagen über Glaubensdinge ist die scheinbare Relativierung der indianischen Glaubensunfähigkeit im Vergleich mit den noch schlimmer zu ertragenden «galans qui sont entre nous, lesquels revoquent 301

Ibid., p. 95. ^2 cfl dazu Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 389. 3 3 ^ Alle Seitenangaben im Text beziehen sich hier auf Thevet: Cosmographie universelle. 304 Thevet: Cosmographie universelle, p. 83. Seine Behauptung, daß Nicht-Praktizierung religiöser Riten auf Ungläubigkeit schließen lasse, thematisiert Thevet emeut in Les deux voyages, p. 264. 3

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toutes choses en doute». (84) Doch bleiben die Indianer fiir Thevet schließlich, trotz ihres Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele, ihrer «bestise et brutalite"» verhaftet. (84) Ahnlich zweideutig ist Thevets Urteil über die «Caraibes». Wenn auch diese das gutgläubige Volk täuschen und ihm abergläubische Riten vermitteln, (46 sqq.) so bewirken die Schamanen beim Volk auch Positives: sie klären über die verschiedensten Heilmittel auf, (48) warnen vor dem Verzehr bestimmter Tiere und Pflanzen (48) und schmähen die Indianer, die «quelque acte lasche et vilain» begangen haben. (49) Nach solchen sich einander häufig widersprechenden Reflexionsplittern über den indianischen Glauben kehrt Thevet immer wieder zum Gegenstand seines eigentlichen Interesses zurück: «Je vous deduiray chose que jamais homme du monde n'a mis par escrit, et ce suyvant le recit qu'ils m'en ont faict, conversant avec eux familierement».305 Thevets Vernachlässigung und Befreiung von religiösen Vorgaben wird auch durch sein Aufgreifen von Problemen deutlich, die von anderen Reisenden vermieden werden. Themen wie Menstruationsritus, (204 sqq.) die Herstellung von Aphrodisiaka, (216) Prostitution der Töchter durch die Väter, (137) Ehebruch, (136) Polygamie (135) oder Nacktheit werden von den meisten Reisenden aus religiöser Scheu vermieden, ausweichend behandelt oder kritisiert. Thevet gelingt es aber, diese Tabus überwiegend offen und in sachlicher Ausführlichkeit zu benennen. Bei den Themen Ehebruch und Polygamie frappiert Thevets Deutlichkeit, wenn er ungeschminkt und auch ironisch - die egoistischen Beweggründe der brasilianischen Männer aufdeckt:306 «Car pour autre chose ne les [Frauen - A. E.] prennent-ils [Männer] que pour leur faire des enfans, et servir comme si c'estoient des chambrieres»; (135) als dritten Grund für die Polygamie und den Ehebruch führt Thevet das sexuelle Verlangen der Männer an, das während der Schwangerschaft oder Menstruation der eigenen Frauen anderweitig befriedigt werden muß.307 Umgekehrt gilt der Ehebruch bei Frauen als «peche [...] si detestable», (137) daß Kinder aus einer solchen Verbindung Thevet: Cosmographie universelle, p. 38. Auch der Verzicht Thevets auf die ausführliche Wiedergabe abergläubischer Bräuche der Indianer, der mit dem Hinweis begründet wird, daß dies bereits von den alten Geschichtsschreibern beschrieben worden sei, verweist auf seine Orientierung am «Einmaligen» (ibid., p. 82). Daß der Originalitätsanspruch Thevets zumindest auf bestimmten Gebieten gerechtfertigt ist, betont Clastres: «En ddpit de ce parti pris ethnocentriste, il reste que c'est ä Thevet que doit de connaitre la mythologie tupinamba, et nous aurons constamment a nous röftrer ä cet auteur.» (Clastres: La terre sans mal, p. 21). Cf. dazu ferner Metraux: «The Tupinamba», p. 131; Jeanneret: «Leiy et Thevet: comment parier d'un monde nouveau?», p. 238. Lory betont bei seiner Betrachtung über die Polygamie die Einigkeit unter den Frauen, die ohne Eifersucht zusammenleben. Diese Feststellung rindet sich zwar auch bei Thevet, (Cosmographie universelle, p. 136) jedoch versäumt er nicht, auf die Zweckgemeinschaft der Frauen hinzuweisen: «eile [Ehefrau] cerche par tous moyens d'avoir des compagnes pour estre femmes de son mary, a fm qu'elle soit aydee d'elles a son mesnage, par ce qu'il est bien malaisi qu'une seule femme puisse faire tout en une maison selon la coustume du pays» (ibid., p. 135). In der Histoire d'un voyage sieht auch Gewecke «das Bild vom friedvollen Miteinander in einer Gemeinschaft, die keine Gesetze kannte und dennoch ohne Streit, ohne Gefahr für den einzelnen zum Wohle aller funktionierte» (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 181). Thevets kritische Bemerkungen Über die Unterdrückung der Frauen in der indianischen Gesellschaft sind auch insofern bemerkenswert, als die Vorstellung einer Gleichheit von Mann und Frau oder Oberhaupt der eigenen Rechte von Frauen der europäischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts noch völlig fremd war. Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 136 und p. 206. 123

getötet werden. Wirklich kritisch äußert sich Thevet allein in bezug auf die von den Vätern mit größter Willkür betriebene Prostitution der Töchter: Le pire que je trouve en ce peuple, c'est que sans esgard quelconque, le pere prostituera sä fille aux estrangers, pour quelque chose de vil pris: si que vous estant arrive" en ce pays, on vous donnera une fille pour vous servir le temps que vous y serez, ou tout ainsi que vous voudrez, vous estant permis la rendre, quand bon vous semblera [...]. Teile est la condition des filles. (137)

Aus der sachlichen Distanz, mit der sich Thevet allen religiösen Problemfeldem zuwendet ebenso wie aus seinem weitgehenden Verzicht auf kritische Kommentare läßt sich auf eine größere Toleranzbereitschaft schließen, als sie sich beim Calvinisten Lery feststellen ließ. Die Nacktheit der amerikanischen Indianer, die bei vielen christlichen Reisenden Erstaunen und meist auch Verunsicherung bewirkt hat,308 beunruhigt Thevets religiöses Selbstverständnis kaum. Nicht ganz frei von negativer Wertung ist hingegen die Wortwahl seines Kommentars zu der von den Indianern gegebenen Begründung, das Nacktsein sei der größeren Beweglichkeit und Kampffähigkeit förderlich: «Voila done la rudesse du peuple en son discours et raison, pour maintenir necessaire la nudito.» (110) Thevet gehört sogar zu den wenigen Reisenden, die in der Bemalung des nackten Körpers eine Parallele zu der Kleidung der Europäer sehen.309 Die religiöse Komponente der Nacktheit thematisiert Thevet nur am Rande aus christlicher Perspektive, so etwa in der Beobachtung, daß die indianische Nacktheit nicht mit Scham verbunden ist.310 Allerdings fehlt auch der Ketzer- und HäresieAspekt nicht gänzlich. Im Vergleich zwischen der Nacktheit der Indianer und der der Adamiten deutet sich eine Kritik an, die allerdings, wie der darauffolgende Vergleich mit den islamischen Türken zeigt, eher die nichtchristlichen europäischen Völker treffen soll als die Indianer: II eust fallu envoyer parmy ces sauvages des Adamites, qui imitoyent leur premier pere, allans nuds en Boesme, sortis toutefois de l'ecole de Vviclef et Jean Huz, le seul omement de l'antiquiti des heretiques de nostre temps. Aussi en Turquie j'ay veu certains imposteurs compaignons des Delvis, s?avoir hermites Mahometans, qui vont en tout temps ainsi nuds, comme je vous ay dit en mon livre de la description d'Asie. ( I l l )

Mit diesem Vergleich ist für Thevet das Thema «Nacktheit» abgehandelt, und mit dem Einschub «Mais passons outre» (111) geht er zur Beschreibung der indianischen Physiognomie über. In der Folge stellt er das Faktum «Nacktheit» nur noch beiläufig und lapidar fest.31' Ähnlich distanziert wie das Phänomen «Nacktheit» betrachtet Thevet den Kannibalismus.312 Wenn er diesen Brauch auch als «plus que bestiale»313 als «le plus horrible, et le plus cruel»314 charakterisiert, so haben ihm seine Beschreibungen zur

Cf. Atkinson: Les nouveaux horizons, pp. 62-73; Blanchard: Trois portraits de Montaigne, pp. 132-136. 309 cf Thevet: Cosmographie universelle, p. 100. 310 Cf. ibid., p. 109. 311 Cf. etwa ibid., p. 55, p. 92, p. 125; Les deux voyages, p. 250. 312 Cf. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 168; Lestringant: «Introduction [Singularites]», pp. 30 sq. 313 Thevet: Cosmographie universelle, p. 192. 314 Thevet: Les deux voyages, p. 281.

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Anthropophagie selbst das Lob eines Ethnologen eingebracht.315 Thevets Schilderungen beeindrucken in der Tat durch ihre Fähigkeit zur distanziert-sachlichen Beschreibung dieses Phänomens. Dabei muß allerdings offen bleiben, ob die Sachlichkeit und Distanziertheit der Beschreibung nicht auf andere Gründe als auf einen schon früh ausgeprägten ethnologischen Forscherblick zurückzuführen ist: Et ä fin d'avoir leur [Indianer -A. E.] plaisir, le [den Niedergeschlagenen —A. E.] redressent pour veoir s'il se tiendroit debout, ce qui ne fut son pouvoir de faire, le voyant bas, luy passe deux fois par dessus, puis luy casse la teste, le sang de laquelle, et ce qui tomba de la cervelle ne demeura long temps terre, qu'il ne fust aussy tost recueilly par une vieille, laquelle le cueilloit dedans une vieille courge, laquelle apres qu'elle en eut ostö le sable, le but tout cm.31(>

Es ist die These vertreten worden, daß die nüchterne Darstellung des Kannibalismus bei Thevet dadurch erklärbar sei, daß der Autor hier auf Informationen aus zweiter Hand zurückgegriffen habe.317 Ob sich das tatsächlich so verhält, ist schwer zu entscheiden; Tatsache ist, daß sich der Ritus der Anthropophagie häufig über Jahre hinweg abspielte und deshalb von einem einzelnen Reisenden in seiner gesamten Ausdehnung kaum einmal zu überschauen war.318 So kann davon ausgegangen werden, daß die meisten Reisenden - abgesehen von Staden, der sich neun Monate lang in Gefangenschaft der Tupinamba befand319 - sich bei der Darstellung des Kannibalismus auf Informationen der truchements stützen mußten. Allerdings behaupten sowohl Thevet wie Lery, dem anthropophagischen Ritus mehrmals beigewohnt zu haben. Die Glaubwürdigkeit solcher Aussagen ist jedoch zweifelhaft, da die Reisenden in jedem Falle vorgaben, ob dies der Wahrheit entsprach oder nicht, den indianischen Kannibalismus mit eigenen Augen gesehen zu haben.320 Auch Lestringant verweist auf den rein rhetorischen Charakter solcher Äußerungen;321 er geht sogar so Cf. Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 391. Mitraux' Beschreibung der «anthropophagie rituelle des Tupinamba» fußt in erster Linie auf einer Untersuchung der Texte Jean de LeYys, Andrt Thevets und der Kapuzinermönche Claude d1 Abbeville und Yves d'Evreux (cf. Mdtraux: Religions et magies indiennes, pp. 45-78 (cap. 2: L'anthropophagie rituelle des Tupinamba). 31 ^ Thevet: Les deux voyages, pp. 280 sq. Cf. weitere distanzierte Beschreibungen des Kannibalismus: zum Akt des Tötens; (Thevet: Cosmographie universelle, p. 199) Zubereitung des Fleisches und Art des Grillens;(Thevet: Les deux voyages, p. 281) Töten und Verzehr der aus einer Verbindung mit einem Gefangenen hervorgegangenen Kinder durch deren leibliche Mutter (ibid., pp. 281 sq.). 317 Cf. Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 170; Arens: The Man-Eating Myth, p. 29; Julien: «Introduction: Le cordelier Thevet», pp. VII sq. Auch Lussagnet laßt offen, ob Thevet den Kannibalismus aus eigener Erfahrung oder nur aus der Überlieferung durch die truchements gekannt hat (Lussagnet: Les Fra^ais en Amerique [...], Le Bresil et les Brasiliens, p. 284, Anm. I). 318 Cf. dazu Julien: «Introduction: Le cordelier Andre Thevet», p. VII. Auch Mätraux geht aufgrund seiner auf ethnographischen Untersuchungen beruhenden Kenntnisse von einer langandauernden Gefangenschaft aus, da sie entscheidend das Prestige eines Stammes stärkte (Mitraux: «The Tupinamba», p. 112). Fraglich ist auch Lerys Teilnahme an den indianischen Zeremonien mit den Caraibes, die, wie er Über einen truchement in Erfahrung gebracht hat, nur alle drei bis vier Jahre vorgenommen wurden (cf. L6ry:ffistoire d'un voyage, p. 249). Auch Stadens Schilderung kannibalischer Praktiken ist im übrigen äußerst sachlich gehalten (cf. Berg: «Wie ich in der tyrannischen Völcker gewalt kommen bin», p. 179). 320 Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 198, p. 201, p. 208; Les deux voyages, p. 275, p. 276, p. 281. Ltry: Histoire d'un voyage, p. 216, p. 219, p. 223. 321 Lestringant: «Introduction» zu der Cosmographie de Levant, p. L. 125

weit, Autopsie-Bekundungen gerade als Hinweis auf den Kompilationscharakter zu begreifen, eine These, die er mit dem Begriff «autopsie compilatrice» umreißt.322 Festhalten läßt sich auf jeden Fall, daß mit derartigen Autopsie-Bekundungen ein fundiertes Urteil über die Herkunft der Information noch zusätzlich erschwert wird.

11. Die Reduktion der eurozentrischen Perspektive durch die Kategorie der «singularite» Im Vergleich zu Lerys Histoire d'un voyage findet sich bei Thevet ein Abrücken von nationalen Vorurteilen und überhaupt eine geringere Eurozentriertheit. Die Orientierung am «Außergewöhnlichen» als Darstellungsprinzip erlaubt es ihm, auf jeden Raum und jede Zeit Bezug zu nehmen, wenn dabei nur ausreichend Stoff an «Besonderem» geboten wird. In dieser Hinsicht mußten das eigene Land und die eigene Zeit, also das Frankreich des 16. Jahrhunderts, wenig attraktiv erscheinen. Unter dieser Perspektive überrascht es also nicht, daß die eigene Kultur im Vergleich zu der Darstellung Lerys stark an Bedeutung verliert und nur mehr reine Referenzfunktion erhält.323 Das hat Auswirkungen, die insbesondere darin deutlich werden, daß Thevet sich weitgehend von dem bei Lory vorherrschendem starren Freund-FeindSchema befreien kann. Die verhärteten Gegensatzpaare, die Lery mit seiner Frontstellung «Portugiesen gegen Franzosen» mit ihren jeweiligen indianischen Verbündeten aufgestellt hatte, verlieren bei Thevet an Bedeutung. So unterliegt Thevets Indianerbild, wenn er sich auch prinzipiell als Alliierter der Tupinamba versteht,324 nicht in demselben Maße wie das Lerys jener einseitigen Freund-Feind-Darstellung, die sich mit den undifferenzierten dualistischen Wertungsattributen «gut» - «schlecht» umschreiben läßt. Da er generell eine größere Distanz als Lery zu den Indianern bewahrt,325 entgeht er auch leichter der Versuchung, die Alliierten als ausschließlich gut, die Feinde als ausschließlich schlecht zu

322

Ibid., p. LII.

323

So dient Thevet die eigene Kultur zwar noch überwiegend zur Betonung der Andersartigkeit gegenüber dem zu vergleichenden Unbekannten, (cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 220) jedoch kaum mehr dazu, wertende Stellungnahmen abzugeben: Europa bzw. Frankreich werden nur selten im Vergleich zu den außereuropäischen Kulturen als die bessere oder schlechtere Kultur bewertet. Cf. zum Bündnis der Franzosen mit den Tupinamba und zu der unversöhnlichen Feindschaft zwischen Tupinamba und Margaias (ibid., pp. 16 sqq.; Thevet: Les deux voyages, p. 300, p. 308, p. 322. Auch Gewecke erkennt in Thevet einen Autor, der «den berichteten Phänomenen mit einer affektiven Distanz oder gar Indifferenz gegenüberstand», (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 170) ohne allerdings die Ursachen einer solchen Haltung zu reflektieren. Der Grund für die distanzierte Haltung Thevets dürfte im Sammeln und Nebeneinanderstellen der äußerst disparaten und ungewöhnlichen Elemente zu suchen sein, die dazu führten, daß wertende Stellungnahmen über die indianische Kultur allenfalls zweitrangig wurden. Die sprachliche Umsetzung spiegelt die distanzierte Haltung Thevets wider: Bei Thevet finden sich nur äußerst selten Identifikationsbekundungen mit den indianischen Verbündeten wie «nos Toupinambous», Wertungen, die bei Lory vorherrschen; allenfalls spricht Thevet von «les sauvages» oder «les Toupinambaux» und fugt dieser sachlichen Bezeichnung das gleichfalls affektfreie Attribut «noz allioes» bei (cf. etwa Thevet: Les deux voyages, p. 263).

324

325

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charakterisieren.326 Thevets komplexes Bild des Tupi-Indianers wird besonders deutlich in seiner Stellungnahme zu den Loyalitätsforderungen der Verbündeten, die seine distanzierte Haltung offenbart. Im Vergleich zu Lory, der ein gewisses Vergnügen aus der - wenn auch nur geringen - Beteiligung am Kampfgeschehen zieht,327 stellt Thevet den Pflichtcharakter dieser Übung in den Vordergrund, ohne sich mit den Verbündeten zu identifizieren: Car il failloit, pour les tenir et garder en nostre amitte, que nous allassions avec eux en leurs expeditions, comme aussi faisoient les portugais en la compaignie des Margageaz, contre les Sauvages noz alliez, chacun defendant sä partie, et luy conservant son droit: dequoy les Baibares estoient plus contents, que de chose qu' on peust faire pour eux: car en ce point seul mesurent ils l'amitia que vous leur portez.32*

Die Skepsis Thevets gegenüber den alliierten Tupi wird auch deutlich in seinem nüchternen und vom Kalkül bestimmten Umgang mit den Verbündeten, bei dem häufig eigene französische Interessen im Vordergrund stehen. Zwar verurteilt Thevet die von den Europäern bisweilen betriebene rücksichtslose Ausbeutung der Indianer; andererseits bezeichnet er die Tupi-Indianer mit dem abwertenden Attribut «griffons Barbares»,329 als diese den unehrlichen französischen Pulverhandel mit minderwertiger Ware aufdecken. Auch der Abschied von den Tupi-Indianern belegt Thevets zwiespältige Haltung. Während Lory nur mit Wehmut die Tupi verläßt, da - wie er sehr ausführlich und emotional schildert - ihm dort «la bonte & fertilitd du pays»330 zuteil wurde, läßt Thevets äußerst knappe und sachliche Aussage auf einen gleichgültigen Abschied von den Verbündeten schließen: «rut question de nous embarquer, et dire ä Dieu a ces pauvres Barbares.»331 Die größere Distanz gegenüber den Verbündeten erlaubt Thevet auf der anderen Seite auch gegenüber den feindlichen Indianerstämmen eine weniger voreingenommene Haltung. So findet er bei feindlichen Stämmen wie den Guytacos neben negativen zu neutralen oder selbst positiven Charakterisierungen: «une nation fort sauvage, tant brutale que merveilles».332 Bisweilen werden die verbündeten Tupi-Indianer sogar von ihren Feinden an Tugenden übertroffen.333 Auch die von Thevet noch innerhalb eines feindlichen Stammes vorgenommene weitere Differenzierung nach Da sich die Forschung insbesondere auf die pejorative Indianerdarstellung bei Thevet konzentriert hat, kann hier auf weitere Belege verzichtet werden. Eine Negativcharakterisierung der Tupi findet sich etwa in Thevets Cosmographie universelle, (p. 19, pp. 87 sq.) als den Franzosen durch die Tupi-Indianer Lebensgefahr droht. Wegen einer Seuche, für welche die Indianer die Franzosen verantwortlich machen, kommt Feindschaft zwischen den Verbündeten auf, die nur durch eine List von Seiten der Franzosen beigelegt werden kann. Cf. weitere pejorative Bemerkungen Über die Tupi in den verschiedensten Bereichen, etwa über ihre Grausamkeit, (Thevet: Les deux voyages, p. 245) Faulheit, (ibid., p. 270) Kriegslist (Thevet: Cosmographie universelte.p.179). Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 209: «Partant encor que nous deux Francois n'eussions fait autre chose sinon (comme i'ay dit) qu'en tenans nos espees nues en la main, & tirans quelques coups de pistolles en Pair pour doner courage ä nos gens». 328 Tnevet: La Cosmographie universelle, p. 181. 329 Ibid., p. 182. 330 Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 342. 33 ' Thevet: Les deux voyages, p. 285. 332 Ibid., p. 287. Cf. weitere positive Merkmale bei feindlichen Indianern Thevet: Cosmographie universelle, p. 53. 333 Cf. Thevet: Les deux voyages, p. 272. 127

Teilstämmen führt zu größerer Sachlichkeit, als es die verallgemeinernden Äußerungen Lery s über die indianischen Feinde zugelassen hatten.334 Ähnlich komplex wie Thevets Indianerbild ist sein Bild der portugiesischen Nation. Wenn er auch als Franzose ebenso wie Lery die portugiesische Anwesenheit in Brasilien mißbilligt und verurteilt,335 so bleibt er dennoch nicht bei einer einseitigen Wertung stehen. Er ist durchaus bereit, außergewöhnliche Leistungen der Portugiesen anzuerkennen wie etwa den Aufbau ihres Forts oder die geschickte Auswahl ihres Standorts, der ihnen fruchtbar erscheint, da dort selbst importierte Bäume gedeihen.336 Neben derartigen sachlichen Anerkennungen finden sich rein positive Charakterisierungen der Portugiesen und von deren Leistungen. Zwar ist Thevets günstiges Urteil über die erfolgreiche Missionierung der Indianer durch die Portugiesen nicht besonders hoch zu veranschlagen, da zwischen Portugiesen und Franzosen im religiösen Bereich Übereinstimmungen aufgrund des gemeinsamen katholischen Glaubens vorliegen.337 Aber Thevet erkennt den Erfolg der Portugiesen auch außerhalb des religiösen Bereichs an. So bewundert er etwa ausgiebig die Schönheit und Größe einer von den Portugiesen auf St. Vincent errichteten Stadt, die seinem eigenen Ideal von Kolonisierung nahezukommen scheint: Ce lieu est habitö de Portugals, un an auparavant que nous fusmes en ce pal's lä, et que j'entrepris mon premier voyage de la terre Australe, lesquels y ont fait fortifier, et bastir maisons, et villages, et ont tellement cette petite controe, qu'aujourd'huy il y a une belle petite ville, ayant toutes commodites qui sont necessaires ä la vie de ITiomme. Ils ontboeufs, moutons, pourceaux, chievres, chevaux, et asnes en grand nombre. La terre y produit une infinite de racines, fruits et semences. D'avantage du cotton en quantity inestimable.33"

Die größere Komplexität in Thevets Charakterisierung der Indianer wie der Portugiesen sowie seine Loslösung von einem einseitigen Freund-Feind-Schema sind das Resultat von Thevets Wahrnehmungskonzeption und -interesse, das sich deutlich von Lery unterscheidet. Indem er die «singularites» in den Mittelpunkt der Betrachtung 334

Cf. Thevets Unterteilung des Stammes der Ouetacas und seine detaillierten Schilderungen über Kriegsbräuche, Sprache, Art der Ernährung, Wohnen, Sprache u.a. (Thevet: Les deux voyages, pp. 295 sqq.). •"3 Thevet verurteilt die Portugiesen insbesondere wegen ihres brutalen Vorgehens bei der Erstürmung von Fort Coligny (Thevet: Cosmographie universelle, pp. 22 sq.). Doch werden die Portugiesen bereits lange vorher als Gefahr (ibid., p. 224) und als Konkurrenten im Handel empfunden. Nur so erklärt sich Thevets heftige Kritik an Portugiesen wie Spaniern, die er der Raffgier bezichtigt (Thevet: Les deux voyages, p. 251) und an deren Handelsbestrebungen, die er mit Ausbeutung gleichsetzt (ibid., p. 262). Auch Thevets Vorwurf, die von den Franzosen geretteten Portugiesen härten sich als «desloyaux» erwiesen, muß mit den materiellen Interessen der Franzosen in Verbindung gebracht werden. Statt der erwarteten Aufklärung über mögliche Fundorte von Reichtümern hatten sich die Portugiesen mit einem französischen Schiff davongemacht (ibid., p. 301). Trotz dieser Auseinandersetzungen bleibt Thevet in jenen Fällen sachlich, wo Portugiesen von Indianern getötet werden (ibid., p. 249, p. 289, pp. 309 sq.). 336 Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 234 und Thevet: Les deux voyages, p. 246. 337 Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 234. Der Versuch der Rettung portugiesischer Gefangener durch die Franzosen ist nach eigener Aussage Thevets sowohl religiös als auch aus allgemein menschlichem Mitleid heraus motiviert (cf. ibid., p. 19, p. 190). Daß sich Thevet unter Lebensgefahr aus humanitärer Überzeugung gegen das Töten von Gefangenen einsetzt, zeigt sein generelles Eintreten für indianische Gefangene (ibid., p. 54). Nur in einem Fall handelt es sich darum, ein getauftes Indianerkind zu retten, so daß hier erneut religiöse Beweggründe angenommen werden können (ibid., p. 208). Thevet: Les deux voyages, p. 307. 128

stellt, erreicht er eine größere Distanz des Autors zum Dargestellten. Ein solcher Interessenschwerpunkt, der sich von moralischen, religiösen wie nationalen Vorurteilen zwar nicht befreit, aber doch von ihnen abrückt, legt die Vermutung nahe, daß auch europäische Vorgaben in den Hintergrund treten. In der Tat nimmt in Thevets Brasilientexten die europäische Gesellschaft und damit auch die Kritik an ihr einen weniger zentralen Platz ein als in Lerys Histoire d'un voyage. Gewiß finden sich auch bei Thevet kritische Äußerungen über die Europäer; so etwa eine scharfe Verurteilung der Ausbeutung der Indianer durch die europäischen Nationen, wobei er auch die eigene nicht ausspart.339 In der Regel jedoch verzichtet Thevet, anders als Lery, darauf, Indianer und Europäer in europakritischer Intention gegeneinander auszuspielen. Wenn die beiden Autoren über bestimmte Bräuche der Indianer, etwa die Kinderpflege und -erziehung, ausführlich berichten, dann dient das Lery in erster Linie dazu, die französische Gesellschaft anzuprangern; Thevet hingegen begnügt sich diesbezüglich mit dem bloßen Konstatieren indianischer Gewohnheiten.340 Umgekehrt finden sich bei ihm auch kaum Ansätze zu einer Idealisierung der Indianer. Trotz seiner Kritik am Vorgehen europäischer Kolonisatoren verzichtet er darauf, stereotyp die Indianer im Vergleich zum Europäer als die besseren Menschen aufzuwerten.341 Vielmehr zeichnet er trotz seines Vorwurfs europäischer Indianer-Ausbeutung das Bild von Menschen, die von den lebenserleichternden Errungenschaften der christlich-europäischen Zivilisation profitieren könnten.342 Die Ursache für den weitgehenden Verzicht auf die Kritik an der eigenen Gesellschaft bei Thevet dürfte auch biographisch bedingt sein. So erwartet den Protestanten Lery eine unerfreuliche Rückkehr nach Frankreich, oü les difficultez estoyent lors & sont encores ä present, sans comparaison beaucoup plus grandes, tant pour le faict de la Religion que pour les choses concemantes ceste vie [...].343

Thevet jedoch kann seine Brasilienreise als Erfolg verbuchen, obwohl die Koloniegründung gescheitert war: L'echec final de l'entreprise en 1560 et la ruine des espoirs d'une paix religieuse sur le Nouveau Continent n'allaient guere porter atteinte au prestige ni aux ambitions du franciscain, de retour en Europe [...].344

Insbesondere Thevets kurz nach der Veröffentlichung der Singularites erfolgte Ernennung zum königlichen Kosmographen und Leiter des «Cabinet des Curiosites»345 machten aufgrund der völligen Integration in die französische Gesellschaft eine KriThevet: Cosmographie universelle, p. 221. So hatte Lory die europäischen Frauen als «inhumaines» charakterisiert, da sie Neugeborene gleich nach der Geburt weggaben; (Lery: Histoire d'un voyage, p. 267) Thevet hingegen verzichtet bei allen Bemerkungen Über Kinderpflege und-erziehung auf Kritik an den europäischen Verhältnissen (Thevet: Cosmographie universelle, pp. 49-53). 34 ' Während Lory häufig indianische Gewohnheiten und Bräuche unmittelbar mit europäischen konfrontiert, um die eigene Kultur zu kritisieren, (cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 114, pp. 132 sq., p. 178, p. 228, p. 263, p. 270, p. 277, p. 291) finden sich solche Gegenüberstellungen bei Thevet nur selten (cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 149). 342 Cf. ibid., p. 221. 343 Lory: Histoire d'un voyage, p. 342. 344 Lestringant: «Introduction [Cosmographie de Levant]», p. XV. 345 Zu Thevets Tätigkeit als Leiter dieser Sammlungen cf. Adhomar: Frere Andre Thevet, pp. 51-58. 340

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tik an den europäischen Verhältnissen hinfällig. Lory gehörte einer gesellschaftlichen Außenseitergruppe und einer verfolgten Minderheit an. Dieser soziale Status hat sicherlich seinen Blick für die Unzulänglichkeiten der europäischen Verhältnisse geschärft, für den sozial erfolgreichen Thevet hingegen besteht kein Bedürfnis nach einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Zeit.

12. Naturdarstellung im Reisebericht Die Betrachtung der Natur in den Reiseberichten unterliegt teilweise anderen Voraussetzungen wie die der Indianer. Den Reisenden stellen sich bei der Beschreibung dieses Gegenstandes andere Probleme. Da es hier nicht um Fragen des Kulturkontaktes und auch nicht im gleichen Maße um europäische Konflikte und Interessen geht und da die Naturbeschreibung auch in anderen Traditionen steht als die ethnographische Betrachtung, müssen die Reisenden andere Kategorien der Beschreibung zugrundelegen. Zunächst ist festzustellen, daß die Natur überwiegend recht nüchtern beschrieben wird. Lerys Blick auf Brasilien und seine Natur ist von Vorab-Informationen über den neuen Kontinent bestimmt, die ihm von vornherein eine realistische Blickrichtung auferlegen.346 Im Gegensatz zu vielen anderen Reisenden347 gibt er sich von Beginn an keinen Illusionen über etwaige paradiesische Zustände in der Neuen Welt hin. Lörys Darstellung hat sich vom europäischen Beschreibungsmuster gelöst, das lange Zeit in Amerika eine paradiesische oder arkadische Landschaft sehen wollte. Er bleibt selbst dann sachlich, wenn er mit Erlebnissen konfrontiert wird, die seine ohnehin nicht allzu hohen Erwartungen enttäuschen. Bereits auf der Insel, auf der Fort Coligny errichtet wurde, macht er schlechte Erfahrungen: trotz der Schönheit der Landschaft348 mangelt es an Süßwasser und Lebensmitteln, und Lery leidet unter der unerträglichen Hitze.349 Er berichtet von Ungeziefer, schädlichen Tieren350 sowie von Krankheiten,351 die ein eher beschwerliches denn paradiesisches Leben verursachen. Auch Thevet zeichnet die Natur des neuen Kontinents nicht als Idylle oder Paradies; vielmehr müssen die Indianer für ihren Lebensunterhalt hart arbeiten: la necessite* les contraint de cultiver la terre pour vivre, aussi bien que nous faisons parde^a: aussi sont ils hommes, estant ä eux necessaire de travailler, s'ils veulent manger.35^

Die Situation der Indianer ist schlechter als die der Europäer, da jene weder über Zugtiere noch über Arbeitsgeräte verfügen. Auch verwüstet Ungeziefer bisweilen die 346

Cf. Lory: Histoire d'un voyage, pp. 6 sq. Zu den Illusionen der Amerika-Reisenden in der Frühen Neuzeit, die sich vom neuen Kontinent ein Paradies ohne Arbeit und Mühsal versprachen, cf. Chinard:Z,&? reßtgies huguenots en Amerique, avec wie Introduction sur le mirage americain, pp. XII sq.; Barrau: «La decouverte du Nouveau Monde et la perception europeenne de la nature amoricaine», p. 110. 34 ^ Cf. Le"ry: Histoire d'un voyage, pp. 85 sqq. 349 Cf. ibid., p. 56, pp. 57 sq. 350 Zur Beschreibung lastiger oder gefährlicher Fauna cf. ibid., pp. 157 sq., pp. 159 sq., pp. 160 sq., p. 162. 351 Cf. ibid., pp. 298 sq. 35 2 Thevet: Cosmographie universelle, p. 210. Eine Parallelstelle zu den schwierigen Anbaubedingungen: Thevet: Singularites, p. 112 v. Cf. weiter Thevet: Cosmographie universelle, p. 135. 347

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Ernte.353 Einem paradiesischen Zustand widersprechen schließlich auch die in Brasilien vorherrschenden Krankheiten, die Thevet so wenig wie Lery ignoriert.354 Thevets Schilderung der amerikanischen Natur ist entsprechend nüchtern; sie läßt kaum noch etwas von den Mythisierungen erkennen, welche die Betrachtung der amerikanischen Natur seit Columbus begleitet hatten. Aufgrund seiner großen Reiseerfahrung in andere exotische Länder des Orients und Afrikas ist dies auch nicht überraschend. Seine Orient-Reisen haben ihm mancherlei Exotisches vertraut gemacht: J'ay trouve" cinq sortes de Palmiers semblables en feuillages, et difflrents du tout en fruits, lesquels ne rapportent jamais dattes, comme ceux de l'Egypte, et des Arabics.355

Gelegentlich zeigt sich Thevet von der einzigartigen Flora und Fauna Amerikas beeindruckt; aber grundsätzlich erlauben ihm seine breiten Vergleichsmöglichkeiten eine nüchterne Betrachtung der amerikanischen Besonderheiten: La campagne abonde en bestes rousses, non de teile monstruosite, grandeur ou proportion, que celles que Ion voit en Afrique, ou par deca ,35**

Daß Thevet von der exotischen Natur weitgehend unbeeindruckt geblieben ist, belegt seine nur beiläufig erwähnte Aussage über die immergrünen Wälder Brasiliens: «Dauantage se voyent arbres sans nöbre, & arbrisseaux verdoyans toute l'annee».357 Vor allem aber wird die Sicht der Natur und der Landschaft Brasiliens bei beiden Reisenden auch bestimmt durch die Erfahrungsmöglichkeiten, die ihnen das heimische Frankreich geboten hatte. Die Kriterien, die Belieferest in der Cosmographie für die Beschreibung der französischen Landschaft erstellt hatte und die Neveux zusammengefaßt hat, lassen sich auch auf die Beschreibung der amerikanischen Natur anwenden: d'abord la beauto du paysage assimilöe d'ailleurs a un «caractere plaisanb), ensuite les «commodites» offertes ä l'implantation humaine, belles voies navigables et surtout «abondance» et «fertility» de la controe, enfin la salubritö de l'air capable de stimuler Pagilito de l'esprit et de porter au respect de la morale. Dans le premier cas, les qualificatifs les plus utilises sont: beau, plaisant, bien place, dormant plaisir a la vue; dans le deuxieme: riche, gras, fertile, plantureux, abondant, fecond, fructueux, auxquels s'ajoute une enumeration des principales productions; dans le troisieme: sain, bon, bien aere, serein, t/ .35**

Da bereits in Südfrankreich «exotische» Natur ansatzweise vorzufinden ist, zeigen sich Lory und Thevet mit dem brasilianischen Klima und bisweilen auch mit der exo353

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Cf. ibid., pp. 2l l sq. Auch die Konfrontation der Schönheit einer Insel mit einem angrenzenden Gebiet, das von Insekten heimgesucht wird, zeigt Thevets desillusionierenden Blick auf die Natur Amerikas (Thevet: Le Grand Insulaire, p. 315). Cf. Thevet: Cosmographie universelle, pp. 144 sq.; Thevet: Singularites, pp. 88 sqq.. Thevet: Cosmographie universelle, p. 187. Daß die Palmen Amerikas aufgrund der Erfahrungen Thevets im Orient (Thevet: Cosmographie de Levant, pp. 137 sq.) an exotischem Reiz verloren haben, wird deutlich durch den Vergleich der Palme mit einer unbekannten exotischen Pflanze. Damit Übernimmt die Palme eine Funktion, nämlich das Vertrautmachen von Fremdem, die sonst nur von den bekannten europäischen Pflanzen geleistet werden kann (Thevet: Cosmographie universelle, p. 152, p. 165, p. 284). Ibid., p. 249. Cf. weiter Thevet: Singularites, pp. 49 v. sq., p. 93, p. 103, p. 114 v., p. 115 v.; Thevet: Cosmographie universelle, p. 117, p. 215, p. 229, p. 231; Thevet: Les deux voyages, p. 249, p. 257; Thevet: Le Grand Insulaire, p. 314. Thevet: Singularites, p. 47 v. Neveux: «Le paysage campagnard fran9ais dans la Cosmographie de Belleforest», p. 36. 131

tischen Flora und Fauna vertraut. So zieht Lery Parallelen zur Natur seines eigenen Landes: Nous commencasmes aussi lors de voir premiereinet, voire en ce mois de Feburier (auquel ä cause du froid & de la gelee toutes choses sont si reserrees & cachees par de?a, & presque par toute l'Europe au ventre de la terre) les forests, bois, & herbes de ceste contree la-aussi verdoyantes que sont celles de nostre Fräce £s mois de May & de luin: ce qui se voit tout le long de l'annee, & en toutes saisons en ceste terre du Bresü.3^

Der Blick der Reisenden auf die amerikanische Natur ist durch heimische Erfahrungen auch im Detail vorgeprägt. Lery vergleicht die exotische Frucht Paco mit der bekannten Feige, die sich davon nur unwesentlich unterscheidet und nimmt der fremdartigen Frucht ihren exotischen Charakter: «vray est qu'ayans encores le goust plus doux & sauoureux que les meilleures figues de Marseille qui se puissent trouuer.»360 Diese vielfaltigen Vergleiche mit Erfahrungen aus dem heimatlichen Bereich lassen erkennen, in welchem Umfang die Beschreibung auch der fremden Natur an einen Erfahrungshorizont gebunden ist, den die Reisenden bereits mitgebracht haben.361 Der geographische Vergleich des Fremden mit dem Bekannten, insbesondere dem Heimischen, ist ein wichtiges Mittel zur geistigen Vereinnahmung der fremden Natur; allerdings betrifft er nur die Oberfläche des Problems der Naturwahrnehmung. Das Bild der Natur ist auch von tieferliegenden Prämissen bestimmt, die auf den ersten Blick oft nicht zu erkennen sind. Vor allem erweist sich neben dem Vergleich eine kolonisatorische Erwartungshaltung als zentrales Moment der Naturbeschreibung. Die Betrachtung der amerikanischen Natur unter dem Nützlichkeitspostulat kann nicht allein mit der schlechten Versorgungslage der Franzosen erklärt werden, da es den beiden Reisenden nicht nur um die Befriedigung aktueller elementarer Lebensbedürfnisse geht, bei der sie sich ohnehin völlig auf die Indianer verließen.362 Einzelne Bemerkungen Lerys über Anbau oder Ertrag der Landwirtschaft in Brasilien deuten, wie auch bei Thevet, auf kolonisatorische Tendenzen. Dazu gehört das Konstatieren der ungenügenden Kultivierung des reichen Bodens, der Mangel an Arbeitskräften363 oder die effektivere Erwirtschaftung des Brasilholzes durch Fällen der

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Liry: Histoire d'un voyage, p. 40. Cf. auch ibid., pp. 187 sq. Ibid., p. 184. Weitere Belege für dieses vergleichende Verfahren: ibid., pp. 181 sq.; Thevet: Cosmographie universelle, p. 100, p. 233. Pochat kommt bezuglich der «Exotismen» in der Bildkunst zu einem entsprechenden Ergebnis: «Offensichtlich muss die Bewertung des Fremdartigen, die von der geographischen Lage, der sozialen Ordnung, dem Handel und der Aufgeklärtheit des Publikums abhängig war, bestimmend auf das gewirkt haben, was als 'exotisch' empfunden wurde.» (Pochat: Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance, pp. 113 sq.) Als Beispiel geographischer Abhängigkeit des Blicks fuhrt Pochat die Palme an, die auf einen Sizilianer alltäglich, für einen Bewohner des Nordens jedoch exotisch wirken mußte (ibid. p. 114). Ein solches Verhalten ist charakteristisch für die französischen Kolonisten. Ähnliches wird über die Kolonie in Florida berichtet; (cf. Parkman: Pioneers of France in the New World I, pp. 82 sq.) cf. auch die Quelle in: Dokumente zur europäischen Expansion HI, pp. 186 sq. L6ry verweist auf den erfolgreichen und ergiebigen Anbau von Zuckerrohr, Orangen und Zitronen; letztere wurden allerdings erst durch die Portugiesen nach Brasilien importiert (Löry: Histoire d'un voyage, p. 185). Cf. zu dem fruchtbaren Land der Tupi weiter ibid., pp. 122 sq., p. 192, p. 342. Auch der Ertrag des Zuckerrohrs ist gut, doch fehlen hier, wie L6ry sachlich feststellt, für einen größeren Abbau Arbeitskräfte (ibid., pp. 185 sq.). Villegagnons Urteil hingegen über die Arbeitskraft des Indianers ist von Subjektivität gekennzeichnet: Ihm erscheinen die

Bäume statt durch Abbrennen, wie es zu den Gepflogenheiten der Indianer gehörte.364 Sowohl Lery wie Thevet nehmen die Natur meist unter einem solchen Aneignungs- oder zumindest einem Nützlichkeitsaspekt wahr. Lerys Bedauern über den zu kurzen Aufenthalt der Franzosen in Brasilien, der ihnen - anders als später den Portugiesen - keine hinreichende Bewirtschaftung des Landes ermöglichte, verrät eindeutig kolonisatorische Interessen: ET certes come le pays de nos Toüoupinambaoults est capable de nourrir dix fois plus de peuple qu'il n'y en a, tellement que moy y estant me pouuois vanter d'auoir ä mon commandement plus de mille arpens de terre, meilleurs qu'il n'y en ait en toute la Beausse: qui doute si les Francois y fussent demeurez (ce qu'ils eussent fait, & y en eut maintenant plus de dix mille si Villegagnon ne se fiist reuoltö de la Religion reformee) qu'ils n'en eussent receu & tire" le mesme proffit que fönt maintenant les Portugals qui y sont si bien accoinodez?36^

Daß Lörys Blick auf die fremde Wirklichkeit von Utilitätserwägungen bestimmt ist, zeigt sein Interesse an den kulturellen Verfahren und sozialen Strukturen, mit denen die Indianer die Natur beherrschen. Dazu gehören seine Erörterungen über Arbeitsverrichtungen und -ablaufe beim Spinnen von Baumwolle oder beim Töpfern366 ebenso wie über die Arbeitsteilung von Mann und Frau in der indianischen Gesellschaft.367 Sie bekunden die Aufmerksamkeit des Calvinisten für jene Elemente in der amerikanischen Kultur, die auf Ertrag und Leistung im Umgang mit der Natur abzielen. Auch bei Thevet läßt sich diese utilitaristische und im Endeffekt kolonisatorische Sicht von Natur konstatieren. Während sich in der Cosmographie universelle nur wenige Textstellen finden, die den Abbau von Gold oder anderen wertvollen Mineralien propagieren,36* läuft durch einzelne Teile der Deux voyages - etwa das Kapitel, das den Bergen im Nordosten Brasiliens gewidmet ist - die Suche nach Gold wie ein roter Faden, ganz entsprechend dem Erwartungshorizont, der von Columbus vorgeprägt worden war.36^ Daß die Expedition ins Landesinnere überwiegend unter diesem materiellen Gesichtspunkt gesehen wird, kündigt Thevet explizit an: Arrived que ftismes au lieu nous commencasmes par un de noz truchemens nous informer du plus aisne" sauvage d'entre eux des singularity commoditos et richesses qui estoient en son pals, pour les grandes richesses que Ion y celebroit.37^

Die Suche nach Gold liegt dem Text fast schon als eine Art Gliederungsprinzip zugrunde. In diesem Zusammenhang werden Mensch wie Natur nur mehr als Mittel Indianer nur als faul (cf. ibid., Proface [p. 9]). Zum Bild des sauvage-paresseux cf. Jacob: «L'heureuse indolence de l'äge d'or», p. 56. 364 cf Le~ry: Histoire d'un voyage, pp. 174 sq. 365 Ibid., p. 123. 366 Cf. ibid., pp. 274 sq., pp. 277 sq. 367 Cf. ibid., pp. 123 sq., pp. 264 sq. 368 Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 227, p. 228, p. 233. 36 ^ Cf. \: Die Eroberung Amerikas, pp. 16-19. Den deutlichsten Ausdruck kolonisatorischer Bestrebungen sieht Lestringant in Thevets Grand Insulaire: «Si la Cosmographie universelle de 1575 manifeste encore des reticences [...], le Grand Insulaire, manuscrit e'labore' entre 1584 et 1592 trace hardiment des plans de colonisation ä long terme, qui embrassent toute la re*gion cotiere qui va de la Nouvelle-Angleterre ä Terre-Neuve et au Labrador.» (Lestringant: «L'avenir des Terres Nouvelles», p. 45.) 370 Thevet, Les deux voyages, p. 254. 133

zum Zweck wahrgenommen. So dienen Verbündete und Gefangene als Informant und Wegweiser; die Darstellung der Natur erschöpft sich überwiegend in der Frage, ob Reichtümer vorhanden sind371 oder ob die Natur dem Vorhaben hinderlich ist.372 Parallel dazu werden die Aussagen etwa über den Anbau und Ertrag des Bodens seltener und kürzer. Aber auch diese Reflexionen können sowohl als Ausdruck der Sorge um die alltägliche Ernährung der Franzosen wie auch als kolonisatorischer Diskurs gedeutet werden.373 Jedenfalls sind Thevet trotz seiner Kritik an der Conquista kolonisatorische Überlegungen und Rechtfertigungsstrategien - die von der Cosmographie universelle hin zum Grand Insulaire zunehmen sollen374 - nicht fremd. Sie folgen einem bekannten und über lange Jahrhunderte hinweg erhalten gebliebenen Muster, wenn Thevet den Indianern ihre Faulheit und mangelnde Bereitschaft vorwirft, den Boden zu bewirtschaften.375 Lery und Thevet bleiben einer Sicht von Natur verhaftet, der es selbst bei der Wahrnehmung der Naturschönheiten nicht gelingt, sich von dem Aneignungsaspekt zu lösen. Thevets Beschreibung der Schönheit der amerikanischen Natur schließt einen kolonisatorischen Blick auf die Natur nicht aus, sie ist vielmehr unmittelbar mit ihm verbunden: Quant je me remets la beautö de ce pays, les commoditos des herbages, la grande abundance de poissons, le grand flot de quelques cinquante rivieres d'eau douce, qui fönt Hommage tous les jours ä ceste Isle, la saine et excellente temperature de l'air je suis contrainct de deplorer la misere de plusieurs milliers de personnes, qui en nostre France n'ont, comme dit, feu ny borde, languissent de froid et indigence, demeurent oisives et les bras croisos par faute d'avoir fonds, terres et possessions [...]. La terre regorgeroit plus de biens, qu'on n'en s^auroit souhaiter, si seulement eile avoit esto mise en valeur. 37°

Damit setzt sich eine Tradition fort, die bereits Columbus in seinem Brief an Santangel vom 15.2.1493 vorgegeben hatte: La spafiola es marauilla; las sierras y las montaflas y las uegas y las campiflas y las tierras tan fermosas y gruesas para plantar et senbrar, para criar ganados de todas suertes para hedificios de villas y lugares. Los puertos de la mar aqui no hauria creancia sin vista, et delos rios muchos y grandes y buenas aguas, los mas delos quales traen oro. En los arboles et frutos et yeruas ay grandes diferencias de aquellas de la Juana. En esta ay muchas specierias y grandes minas de oro y d'otros metales.377

Weniger eindeutig als diese kolonisatorischen Diskurse sind die bei beiden Reisenden zu findenden sachlichen Aussagen über die amerikanische Natur zu bewerten, in denen diese zwar unter dem Nützlichkeits-, jedoch nicht unter dem Aneignungsaspekt betrachtet wird. So ist nicht sicher zu entscheiden, ob Thevets Aussage über die Nicht-Bearbeitung des fruchtbaren Bodens schon genügt, um von kolonisatorischen Bestrebungen zu sprechen, oder ob es sich dabei um ethnographisches Inter-

371

Cf. ibid., p. 244, p. 245, p. 246, p. 255, p. 256, pp. 257 sqq. Cf. ibid., p. 254, p. 256, pp. 257 sqq. 373 Cf. ibid., p. 260, p. 261, p. 262. 374 Cf. Lestringant: «L'avenir des terres nouvelles», p. 45. 375 Cf. Thevet: Les deux voyages, p. 270. 37i > Thevet: Le Grand Insulaire, p. 318. 377 Columbus: Select letters, p. 5. Cf. auch Moebus: «Über die Bestimmung des Wilden und die Entwicklung des Verwertungsstandpunkts bei Kolumbus», pp. 49-67; Opftz: «Reiseliteratur», pp. 214-216. 372

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esse handelt.378 Dies ist umso schwieriger zu differenzieren, als beide Aspekte, der kolonisatorische wie der ethnographische, eng zusammenhängen: «le developpement de la visee colonialiste s'accompagne d'une meilleure connaissance des lieux et des realites ethno-goographiques.»379 Gerade bei der Naturdarstellung zeigen sich die vielfältigen Implikationen, die in die Beschreibung Amerikas durch die Reisenden eingehen. Es sind nicht immer nur konkret feststellbare nationale, koloniale oder religiöse Komponenten, die das Amerika-Bild bestimmen, sondern es gehen auch andere Faktoren in dieses ein. Dazu gehören insbesondere Beschreibungsformen und -gewohnheiten, die teilweise aus älteren Traditionen herrühren, die sich teilweise aber auch im Zusammenhang mit der Entstehung eines «neuzeitlichen» Weltbildes im 16. Jahrhundert herausbilden, wobei Früh- und Vorformen einer wissenschaftlichen Weltauffassung eine besondere Rolle spielen.

Cf. Thevet: Les deux voyages, p. 261. Eine andere Textstelle, die ebenfalls auf den ertragreichen Boden verweist, stellt Thevets kolonisatorische Bestrebungen noch deutlicher heraus (Thevet: Les deux voyages, p. 262). Lestringant: «L'avenir des terres nouvelles», p. 48. 135

Drittes Kapitel Beschreibungsformen fremder Wirklichkeit 1. Die «theoretische Neugierde» und das Problem der Fremdwahrnehmung Die Fähigkeit zur Beschreibung einer «fremden» Wirklichkeit ist nicht selbstverständlich gegeben. Die Geschichte der Reiseliteratur läßt erkennen, daß sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene, oft lange nachwirkende Traditionen herausgebildet haben, welche die Beschreibungsformen und -möglichkeiten bestimmen und häufig auch einengen. Mit dem Beginn der Neuzeit hat diese Entwicklung einen entscheidenden Wandel durchgemacht. Im Zusammenhang mit einem allgemeinen Wandel der Wirklichkeitsauffassung und mit der Herausbildung eines von naturwissenschaftlichen Denkhaltungen bestimmten Weltbildes hat auch der Reisebericht gravierende Veränderungen erfahren. Die Voraussetzungen für diesen Wandel waren nicht selbstverständlich gegeben, sondern haben sich in einem langwierigen historischen Prozeß durchgesetzt.1 In diesem Prozeß formiert sich die Neuzeit und grenzt sich vom Mittelalter ab. Die Art und Weise der Wirklichkeitsauffassung und der ihr entsprechenden Formen der Weltbeschreibung bestimmt die Herausbildung neuzeitlichen Denkens maßgeblich. Im Zentrum dieser Entwicklung steht der Vorgang, den Hans Blumenberg den «Prozeß der theoretischen Neugierde» genannt hat, in dem die neuzeitliche Wirklichkeitsauffassung ihre Gestalt erhalten und sich vom «Mittelalter» abgegrenzt hat. Im Mittelalter wurde unter dem Einfluß von Augustinus die Neugierde verurteilt,2 da die primäre Sorge des Menschen seiner Heilserlösung gelten sollte. Es akzeptierte zwar die «sapientia» als eine Form der Neugierde, die auf die Erkenntnis Gottes gerichtet war, lehnte aber jede Art «innerweltlicher» Neugierde ab.3 Die Auflösung dieser Auffassung hat ihren symbolischen Ausdruck in Petrarcas Beschreibung seiner tatsächlichen oder fingierten - Besteigung des Mont Ventoux im Jahre 1336 gefunden, die so, wie sie von Petrarca selbst geschildert wird, eine Epochenschwelle markiert: Sie ist gleichzeitig ein Akt der Emanzipation der Neugierde wie ein Rückgriff

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Cf. Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», pp. 29-33. Cf. Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, pp. 103 sqq. Allerdings verweist Oberman auf die eingeschränkte Gültigkeit der vana curiositas, wie sie für das Mittelalter gerne als charakteristisch angenommen wurde. Unter Hinweis auf eine curiositas, die sich im Bereich des Wissens als «Überschwengliche studiositas» verstehen läßt und die sich in die Grenzen der temperantia fügt (Thomas von Aquin), belegt Oberman auch die Existenz einer iusla curiositas für das Mittelalter (Oberman: Contra vanam curiositatem, p. 30). Daß Blumenberg disiusta curiositas in seiner Untersuchung vernachlässigt, ist insofern legitim, als «Thomas' Auffassungen [...] nur am Rande, d.h. nur in einigen Universitäten und dominikanischen Studien, Widerhall finden konnten» (ibid., p. 31). 3 Cf. zu den mittelalterlichen Auffassungen der Neugierde in ihrem Verhältnis zur «sapientia» Zacher: Curiosity and Pilgrimage, pp. 19-29. Einen begriffsgeschichtlichen Überblick über die curiositas von der Antike bis zu Augustinus gibt Labhardt: «Curiositas», pp. 206-224.

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auf das traditionelle Weltverständnis.4 Hier bekundet sich vielleicht erstmals das Interesse an der Überschreitung jener Wissens- und Erfahrungsgrenzen, in die der Mensch eingebunden war, «solange er ruhender Betrachter und müßig Genießender, durch Vorsehung Versorgter bleiben zu können geglaubt hatte.»5 Die Reiseberichte der frühen Neuzeit greifen diesen «Prozeß der theoretischen Neugierde» auf und führen ihn fort. Es läßt sich die langsame, aber kontinuierliche Emanzipation der Autoren von diesem traditionellen, von Augustinus herrührenden, Neugierde-Verbot feststellen. In der Frühen Neuzeit gewinnt die «theoretische Neugierde» positiven Charakter und erfaßt den ganzen zu entdeckenden Raum. Auch wenn die Entdeckung und Eroberung Amerikas überwiegend von kommerziellen und religiösen Motiven inspiriert wurde, so ist sie doch auch in diesem Rahmen zu verstehen. Die Neugierde, die auf die Überschreitung dieser Grenzen zielte, ist - noch vor religiösen Beweggründen - ein wichtiger Auslöser für die Entdeckung Amerikas und somit auch für die «litterature geographique» gewesen: «II faut admettre, done, que la curiosite intellectuelle a le mobile le plus important des auteurs et des traducteurs fran9ais dans ce domaine littöraire.»6 Die Neugierde richtet sich in den Reiseberichten nicht nur unspezifisch auf eine Erweiterung des Erfahrungshorizontes; sie steht vielmehr oft auch in mehr oder weniger enger Verbindung mit den wissenschaftlichen Entwicklungen der Frühen Neuzeit. Denn auch die naturkundlichen Interessen der Renaissance und des Humanismus führten zu einer Emanzipation von mittelalterlichen Hemmschwellen bei der Naturerforschung, wovon die Reisetätigkeit profitierte.7 Lerys und Thevets Reiseberichte entstehen zu einer Zeit, in der intensive Diskussionen darüber geführt werden, in welchem Umfang und mit welchen Mitteln die äußere Wirklichkeit überhaupt erfaßbar und beschreibbar ist. Mit der Auflösung mittelalterlicher orrfo-Vorstellungen und dem Niedergang der aristotelischen Philosophie als dem alleinigen Strukturprinzip für die Wirklichkeitsbeschreibung sieht sich das 16. und auch schon das 15. Jahrhundert vor die Aufgabe gestellt, das Problem der Erfahrungsmöglichkeiten neu zu reflektieren. Die Erfahrung der physischen Welt befreit sich von den systematischen Vorgaben der aristotelischen Philosophie und der scholastischen Theologie, und es entstehen neue Formen theoretischen Wissens über die Natur ebenso wie neue Strukturen in der Systematisierung dieses Wissens.8 Allerdings vollzieht sich der Übergang zu einem neuen wissenschaftlichen Weltbild nur sehr langsam, und die Entdeckungsreisenden nehmen für lange Zeit kaum Einfluß auf diese Entwicklung. Cf. Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, pp. 142-144; Hösle: «Mythisierung und Entmythisierung in den literarischen Selbstdarstellungen der Renaissance», pp. I l l sq. Zur Bedeutung der Reisemetaphorik für das Selbstverständnis der Frühen Neuzeit cf. auch Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», pp. 28 sq. Den Begriff der «theoretischen Neugierde» fuhrt Blumenberg in seinem zuerst 1973 erschienenen Werk Der Prozeß der theoretischen Neugierde ein. Blumenberg gewinnt diesen Begriff aus einer Abgrenzung von einer unreflektierten Neugierde, die sich erst zu Beginn der Neuzeit bewußt zu formieren und sich selbst zu bestätigen vermag (cf. Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, p. 13). Atkinson: Les nouveaux horizons, p. 136. Zur Neugierde als zentrale Motivation bei den Entdeckungs- und Eroberungsreisen cf. Dupront: «Espace et humanisme», vor allem pp. 25-33. Cf. zum humanistischen Interesse an den Naturwissenschaften den Forschungsbericht von Krafft: «Renaissance der Naturwissenschaften - Naturwissenschaften der Renaissance», bes. pp. 142 sq. Cf. Heidelberger, Thiessen: Natur und Erfahrung, pp. 52-83.

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Tatsächlich scheinen sich die Sphäre der frühneuzeitlichen Wissenschaft und die der Praxis der Entdeckungsreisenden fremd gegenübergestanden zu haben. Die ersten Entdecker verfolgten andere als wissenschaftliche Interessen: Rien ne serait en effet plus faux que de croire qu'ils apportaient ä l'observation des pays nouvellement d&ouverts des yeux tout neufs et un esprit scientifique?

So hat es lange gedauert, bis die Wissenschaft von den neuen Erfahrungen der Reisenden Kenntnis genommen hat: Die Scholastiker und die Naturphilosophen der Renaissance legten sich die neuen Erfahrungen und Feststellungen, die Fabeln und Gegenstände von der neuen Welt innerhalb ihrer dogmatischen und aprioristischen Konstruktionen zurecht. [...] Keine einzige der Naturbeobachtungen des Columbus und seiner Nacheiferer kam unter ein systematisch prüfendes Auge; nicht eine einzige wissenschaftlich brauchbare Grundhypothese folgte den Feststellungen der Seefahrer auf den Gebieten des Magnetismus oder der Meteorologie, der Botanik oder der Meereskunde, der Geologie, der Kosmographie, der Astronomie.'"

Auf der anderen Seite nehmen auch die Autoren der Reiseberichte an den Diskussionen der Wissenschaftler nur geringen Anteil. Obwohl sich bei ihnen die Probleme des Erfahrungsgewinns und der Erfahrungsverarbeitung eigentlich besonders intensiv stellen müßten, stehen sie in der Regel aufgrund ihres Bildungshintergrunds und ihrer Interessenlage solchen Fragen fremd gegenüber. Dennoch zeigen auch ihre Texte, daß das langsam anwachsende Problembewußtsein in bezug auf diese Fragestellungen gegen Ende des 16. Jahrhunderts doch so weit fortgeschritten ist, daß es sich auch dann artikuliert, wenn es nicht ausdrücklich thematisiert wird. Gelegentlich finden sich mehr oder wenig beiläufig eingeschobene Reflexionen in den Reiseberichten, die erkennen lassen, daß die Wahrnehmung der Wirklichkeit und die Möglichkeit ihrer Beschreibung zumindest intuitiv zu einem Problem geworden ist. Daß das Bewußtsein für die Problematik langsam geweckt wird, läßt sich an der Thematisierung der «Neugierde» in den Texten ablesen. Benzoni etwa gibt als Motiv für seinen Aufbruch in die Neue Welt die Neugierde als treibende Kraft an: ESSENDO io giouanetto di eta d'anni ventidue, & desideroso di vedere, come molti ahn, il mondo, & hauende notitia di quei paesi nuouamente ritrouati dell'India, cognominati cosi da tutti, il Mondo Nuouo [...].n

Selbst noch nach seinem vierzehnjährigen amerikanischen Aufenthalt steht für den Heimkehrer Benzoni die Befriedigung seiner Neugierde im Zentrum, für die er Gott dankt: «Sempre lodando la Maesta di Dio, & la potenza sua, & del nostro Saluatore, ehe mi ha fatto gratia di vedere tante nouita, e tanto Mondo, e tanti paesi strani».12 In den Selbstaussagen der Reisenden, in denen sie Auskunft über ihre Reisemotive geben, wird die Nennung der «Neugierde», wenn auch meist nicht an zentraler Stelle, fast schon zu einem Topos. Lory hat auf einer grundsätzlicheren Ebene diskutiert, warum er überhaupt die fremde Welt sehen will. Seine Thematisierung dieser Frage verweist einerseits noch auf die Rechtfertigungsforderung, die dem Reisenden aufgrund des traditionellen Neugierde-Verbotes auferlegt ist;13 sie gehört aber anderer9 Chinard: Les refugies huguenots en Amerique, avec une Introduction sur le mirage americain, p. XII. 10 Olschki: Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur, p. 127. 11 Benzoni: Historia del Mondo Nuovo, p. l. 12 Ibid., p. 175 v. 13 Cf. Lohmeier: «Von Nutzbarkeit der frembden Reysen», pp. 3-5. 139

seits auch schon in den Diskussionszusammenhang der entstehenden neuzeitlichen Wissenschaft. Dennoch läßt sich in Lerys Ausführungen über seine Reiseabsichten eine Verschiebung gegenüber der Tradition erkennen. Lery nennt als Reisemotiv neben religiösem Eifer die Neugierde auf die fremde Welt: & moy lean de Lery: qui tant pour la bonne que Dieu m'auoit donnee dos lors de seruir ä sä gloire, que curieux de voir ce monde nouueau, fus de la partie [...].^

Er äußert so als Beweggründe für seine Reise Motive, die bislang unvereinbar und scheinbar widersprüchlich nebeneinander gestanden hatten. Die anhaltende Neugierde Lerys ist umso höher zu bewerten, als er, anders als die anderen Teilnehmer an Villegagnons Expedition, sich völlig ohne Illusionen über die Reisebedingungen und die brasilianische Lebensweise nach Amerika begibt, also nicht von den überschwenglichen Erwartungen verlockt wird, die Villegagnon zu wecken versucht hatte.15 Daß bei Lery die Neugierde hinter die religiösen-missionarischen Reisegründe zurücktritt, obwohl sie im eigentlichen Bericht dann eine zentrale Stelle einnehmen wird, ist plausibel. Diese Gewichtsverteilung der explizit genannten Reisemotive hängt sicherlich mit den calvinistischen Prämissen zusammen, aufgrund derer Le"ry reist und schreibt. Denn während Calvin in seiner Institutio christianis ausdrücklich die Missionierung der Heiden gefordert hatte, bleibt er in bezug auf die Neugierde grundsätzlich, wenn auch mit einigen Auflockerungen, der alten christlichen Tradition verhaftet. In seiner Institutio wird das Neugierde-Verdikt in der klassischen Formulierung wiederholt, wenn Calvin dazu auffordert, «uns von allem Vorwitz, allem falschen Vertrauen auf uns selbst und jede andere Kreatur fernhalten und uns immerfort zur Anrufung Gottes getrieben sehen» sollen.16 Lery vertritt eine ganz ähnliche Position in bezug auf die Neugierde, die er einerseits bejaht, andererseits aber nicht ohne eindeutige Beschränkungen akzeptieren kann. Am Ende bleibt auch für ihn der Besitz der Wahrheit doch Gott allein vorbehalten: Conclusion, ie ne croy rien absolument en ce faict, sinon ce que les sainctes Escritures en disent: car pource qu'elles sont precedees de l'Esprit de celuy duquel depend toute verito, ie tie" l'auctorito d'icelles pour seule indubitable.1^

Lery verzichtet bewußt auf Versuche zur Welt- und Selbstdeutung, die er ganz konventionell Gott überläßt: que comme celuy qui a cre6 ceste grande machine ronde cöposee d'eau et de terre, & qui miraculeusement la soustient suspendue en l'air, peut luy seul comprendre tout ce qui en est: aussi suis-ie asseuro qu'il n'y a homme, tant $9auant soit-il, qui en puisse autremet parier qu'auec correction.1"

Theologische Rückversicherungen dieser Art prägen durchgehend Lerys Bemühen, zu einer fundierten Kenntnis der Wirklichkeit zu gelangen. Besonders vorsichtig argumentiert Lery bei Phänomenen der fremden wie auch der eigenen Kultur, wenn religiöse Fragen berührt werden. Er verzichtet auf das Weiterverfolgen von Erklärun" Lory: Histoire d'itn voyage, p. 7. 15 Cf. ibid., p. 3. 16 Calvin: Unterricht in der christlichen Religion, p. 120 (I/l 7, 9). 1 ' LeYy: Histoire d'un voyage, p. 351. 18 Ibid., p. 350.

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gen, die seinem moralischen Gefühl widersprechen;19 auch unterliegen seine Begründungsversuche dem Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft. So kann diesselbe Erscheinung bei Lory zunächst eine religiös motivierte Erklärung auslösen, die aber dann durch eine sachlich-rationale abgelöst wird: i'ay veu des vieillards [...] lesquels prenäs deux feuilles de ces herbes, les mettoyent & lioyet auec du fil de coton ä l'entour de leur membre viril [...]. En quoy, de prime face, il sembleroit qu'il restat encor en eux quelque scintile de böte naturelle: voire toutesfois s'ils foisoyent telles choses ayant esgard ä cela: car, combien que ie ne m'en sois point autrement enquis, i'ay plustost opinion que c'est pour cacher quelque infirmito qu'ils peuuvent auoir en leur vieillesse en ceste partie-la?^

Ahnlichen Schwankungen unterliegt Lerys Auffassung von jenen Verfahren, mit denen die Natur beherrscht und bewältigt werden kann. Praktische Probleme sind meist der unmittelbare Anlaß für solche Reflexionen. Zwar lobt Lery die Größe und Festigkeit des Schiffes, (10) die Stärke der Mannschaft (11) oder die Möglichkeiten der sicheren Navigation mit Hilfe von Meßgeräten, (10, 37) doch letzten Endes bleibt, vor allem bei Gefahren, Gott «Lenker» und «Beherrschen) der Natur.21 Die Vorstellung, daß sich der Mensch in der Gefahr der Führung Gottes überlassen solle, ist eine christlich-traditionelle, aber auch von Calvin wieder erneuerte Auffassung,22 in der sich der Konflikt zwischen theologischer und neuzeitlicher Auffassung der Natur bekundet. Der Konflikt, der zu «einer grundsätzlichen Prestigefrage zwischen Kirche und Naturwissenschaften» geführt hatte,2^ tritt bei Lery an vielen Stellen auf. Eine spezifische Wendung gewinnt er dort, wo die grundlegenden Differenzen zwischen Calvinisten und «Papisten» thematisiert werden, die in der Auseinandersetzung um die Bedeutung des Abendmahls münden.24 Hier geht es nicht nur um die Bedeutung von Ritualen, sondern letztlich auch um die Frage, ob die mystifizierende Naturauffassung der «Papisten» mit ihrem Wunderglauben oder die eher symbolisch auslegende Interpretation der Calvinisten zutreffend ist. Lery vertritt dabei die wunderfeindliche Auffassung, daß man die Bibel nicht wörtlich verstehen dürfe «que ces paroles & locutiös sont figurees».25 Grundsätzlich läßt sich bei Lery ein unentschiedenes Schwanken zwischen Erkenntnisstreben und Selbstbehauptungswillen auf der einen Seite sowie Unterwerfung unter den Willen Gottes und Anerkennung theologischer Schranken auf der anderen Seite erkennen. Auch diese Ambivalenz ist nicht nur charakteristisch für die frühneuzeitliche Wissenschaft überhaupt, sondern speziell für eine calvinistische 19

Moralische Überlegungen fuhren bei Lory zum Verzicht auf weitere Ausführungen bezüglich der «Nacktheit» der Indianerinnen (ibid., p. 115). 2 ^ Ibid., p. 97. Cf. dazu ahnlich auch Thevet: Cosmographie universelle, pp. 110 sq. 21 Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf Le"ry: Histoire d'un voyage. Daß letztlich nur Gott die Naturgewalten lenken kann, belegen folgende Aussagen Le~rys : «Dieu appaisa les flots & orages de la mer» (p. 10) oder auch «Dieu, ayant pitie" de nous, & nous enuoyant le vent de NordNord'est» (p. 36). Daneben sind auch die zahlreichen Anrufe an Gott um Hilfe wahrend der gefährlichen Überfahrt nach Amerika Beleg für Lorys Vertrauen auf Gott in der Gefahr (Hinreise: etwa p. 10, pp. 12 sq., p. 14, p. 36; Rückreise, etwa p. 349, p. 350, p. 352, p. 354, p. 364, p. 367, p. 369, p. 371, p. 373). Wahrend des Aufenthalts in Brasilien reduzieren sie sich drastisch und tauchen allenfalls bei Gefahren auf (p. 143). 22 Cf. Calvin: Unterricht in der christlichen Religion, p. 120 (1/17, 9). 2 ^ Heidelberger, Thiessen: Natur und Erfahrung, p. 203. 24 Cf. Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 68. 25 Ibid., p. 68. 141

Wissenschaftsauffassung. Denn in Calvins Insdtutio ist die Frage der Erkenntnisfähigkeit menschlicher Vernunft nicht eindeutig geklärt. Einerseits redet er noch deutlich dem Neugierde-Verdikt26 das Wort, andererseits steckt er die Grenzen, in denen sich die Vernunft betätigen darf, erstaunlich weit: Es würde nun nicht nur dem Worte Gottes, sondern auch der allgemeinen Erfahrung (sensus communis experientia) zuwiderlaufen, wenn man den Verstand in der Weise zu dauernder Blindheit verdammt sähe, daß ihm keinerlei Erkenntnis irgendwelcher Dinge verbliebe. Denn wir sehen, daß dem Menschengeist irgendein Verlangen eingepflanzt ist, nach der Wahrheit zu forschen, und solches Trachten nach der Wahrheit wäre unmöglich, wenn er nicht schon zuvor eine Ahnung von ihr hätte. [...] Freilich: wie dieses Begehren nach der Wahrheit auch beschaffen sein mag, es versagt doch schon, bevor es eigentlich zur Wirkung kommt; denn es verfällt alsbald in Eitelkeit. Der Menschengeist kann in seiner Schwachsichtigkeit den rechten Weg zum Suchen nach der Wahrheit nicht innehalten, sondern verliert sich in mancherlei Irrtümern [...].27

In Calvins Erörterungen wird die Unentschiedenheit deutlich, die sein Verhältnis zur neuzeitlichen Wissenschaft prägt. Sie lassen die Zwischenstellung erkennen, die er geistesgeschichtlich als ein Reformator einnimmt, der zugleich eine Modernisierung wie eine Restauration des Christentums auf der Grundlage der Bibel anstrebte. Auch in außertheologischer Hinsicht war der Calvinismus als eine religiöse Bewegung - vielleicht noch stärker als ihr Begründer selbst - den neuzeitlichen Entwicklungen zugewandt. Die calvinistische Ethik stand nicht nur einer modernen Wirtschafts-, sondern auch der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung näher als die traditionelle christliche Religion: zum Teil paßte sich die religiöse Bewegung dem wachsenden Ansehen der Wissenschaft an, zugleich aber mobilisierte sie auf einer elementaren Ebene Anschauungen, die ihre Anhänger zu einem tiefen, beharrlichen Interesse an wissenschaftlicher Arbeit anregte.2**

In Lerys Histoire d'un voyage finden sich in dieser Beziehung manche Anklänge an Calvin, dessen Auffassung von der Erkenntnisfähigkeit des Verstandes sicher dazu beigetragen hat, daß auch Lery sich mit einer gewissen Unbefangenheit, wenn auch mit deutlichen Einschränkungen, auf die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis der Wirklichkeit berufen konnte. Lery bewegt sich als Calvinist in einem geistigen Umfeld, das für die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen aufgeschlossen war. Der Calvinismus stellte insgesamt im Kontext seiner Zeit eine den neuzeitlichen Bewegungen entgegenkommende Geistesrichtung dar. Das gilt nicht nur für die von Max Weber konstatierte Beziehung des Calvinismus - nicht unbedingt Calvins selbst zum Geist des Kapitalismus; es gilt im gleichen Maße auch für die calvinistische Haltung gegenüber der Wissenschaft, die insgesamt wohl als positiv einzuschätzen ist. Denn während Calvin der Wissenschaft eher skeptisch gegenüber stand, beflügelte «die auf ihn zurückgehende religöse Ethik die Arbeit der Naturwissenschaft.»29 Lery beschränkt sich nicht nur auf eine bloße Benennung des Stichwortes «Neugierde»; ihm werden auch die damit verbundenen Fragen zum Thema. Das mit dem neuzeitlichen Neugierde-Motiv verbundene Bewußtsein, mit seiner Histoire d'un voyage etwas «Neues» und «Außerordentliches» eingeleitet zu haben, ist ihm durchaus nicht fremd: «voire diray des choses que nul n'a possible iamais remarquees 26

Cf. Calvin: Unterricht in der christlichen Religion, p. 120 (1/17, 9). Ibid., p. 152(11/2,12). 2 ^ Merton: «Puritanismus und Wissenschaft», p. 61. 29 Ibid., p. 77. 27

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si auant que i'ay faict, moins s'en trouue-il rien par escrit.»30 Neben solchen prinzipiellen Bemerkungen finden sich bei Lory auch häufig Überlegungen, die über die Voraussetzungen der Wahrnehmung reflektieren - so etwa bei der Untersuchung der indianischen Religion: AV surplus, pour parier maintenant de mon faict, parce premierement que la Religion est l'vn des principaux poincts qui se puisse & doiue remarquer entre les homines, nonobstant que bien au long ci-apres au seiziesme chapitre ie declare quelle est celle des Toüoupinambaoults sauuages Ameriquains, selon que ie I'ay peu comprendre [...]. '

Mit dieser Überlegung deutet Lery das grundlegende Problem an, das sich bei der Beschreibung des Fremden stellt: die Frage, ob und inwieweit überhaupt eine sich von eurozentrischen Mustern lösende Erfahrung möglich sei. Wenn in der Histoire d'un voyage die Probleme der Erfahrung und die Bedingungen der Möglichkeit von Fremdwahrnehmung auch nur verstreut und unsystematisch anklingen, so ragt Lery mit der Thematisierung dieses Fragenkomplexes doch weit über andere Autoren des 16. Jahrhunderts hinaus. Lerys Interesse richtet sich von Anfang an nicht nur auf die missionarische Komponente seiner Reise; er bezeugt auch eine große Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit, mit der er konfrontiert sein wird. Bereits vor der Abreise macht er sich kundig über die drohenden Gefahren und die schwierigen Lebensbedingungen: du Pont declairoit ie long & fascheux chemin qu'il cöuenoit faire: assauoir enuiron cent cinquäte HeuCs par terre, & plus de deux mille Heues par mer, il adioustoit, qu'estät paruenu en ceste terre d'Amerique, il se faudroit cötiter de mager au Heu de pain, d'vne certaine farine faite de racine, & quit au vin, nulles nouuelles, car il n'y en croist point[...].32

In diesem Drang nach genauem Wissen offenbart sich schon vor der Abreise Lerys zentrales, in diesem Falle allerdings weniger theoretisch als lebenspraktisch begründetes Bedürfnis nach eigenständiger Urteilsfmdung. Vor seiner Reise mußte sich Lery zwangsläufig auf Informationen aus zweiter Hand stützen; 20 Jahre später, nach seiner Rückkehr aus Brasilien, stellt er seine gesamte Histoire d'un voyage unter den Anspruch der Autopsie: mon intention et mon suiet sera en ceste histoire, de seulement declarer ce que i'ay pratiqud, veu, ouy & obseruo tant sur mer, allant & retoumant, que parmi les sauuages Ameriquains, entre lesquels i'ay frequentd & demeure~ enuiron vn an.33

Der Autospieanspruch zieht weitere Konsequenzen für die Darstellung seines Berichts nach sich. Er erfordert von Lery ständige Hinweise auf die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen, da der amerikanische Kontinent noch kaum im Bewußtsein der Europäer präsent war, so daß diese leicht Unwahrscheinliches mit Lügen gleichsetzten. Zur Gattungsbesonderheit des Reiseberichts in der Frühen Neuzeit gehören deshalb auch rhetorische Verfahren der «argumentierenden Glaubhaftmachung der Gegenstände, Beobachtungen und Erfahrungen sowie der stilistischen Mittel, die zu dieser Glaubhaftmachung beansprucht werden.»34 Das impliziert auch einfache formale Mittel wie eine chronologisch angelegte Erzählung sowie eine im wesentli3

^ Lory: Histoire d'un voyage, Preface [p. 30]. ! Ibid., Preface [pp. 24 sq.] (Hervorhebung - A. E.). 32 Ibid., p. 6. 33 Ibid., p. 2. 34 Neuber: «Zur Gattungspoetik des Reiseberichts», p. 52. 3

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chen affektfreie Sprache.35 Auch die Widmung der Histoire d'un voyage an den einflußreichen Coligny kann wahrheitsverbürgende Funktion haben.36 Im Zentrum dieser Verfahren stehen jedoch inhaltliche Aussagen, die der Authentizitätsverbürgung dienen sollen. Lery greift, wie er in der «Preface» selbst hervorhebt, quer durch seine Histoire d'un voyage, auf formelhafte Muster der Wahrheitsbeteuerung zurück: ie commets neantmoins moy-mesme telles fautes: si quelqu'vn di-ie trouue mauuais que quäd ci-apres ie parleray de la fa9on de faire des sauuages (comme si ie me voulois faire valoir) i'vse si souuent de ceste ftcon de parier, Ie vis, ie me trouuay, cela m'aduint, & choses semblables: ie respon, qu'outre (ainsi que i'ay touche* que ce sont matieres de mon propre suiet, qu'encores , come on dit, est-ce cela parle" de seifte, c'est ä dire de veue" & d'experience [...].3

Trotzdem weiß Lery um die Schwierigkeit, den zu Hause gebliebenen Leser von der Authentizität der fremdartigen Begebenheiten Amerikas zu überzeugen, da bereits die Aufrichtigkeit seiner Schilderung des Siege de Sancerre in Zweifel gezogen worden war, eines Vorfalls also, der sich im eigenen Land ereignete und den Hunderte von Mitbetroffenen bezeugen konnten.38 Die Wahrheitsbeteuerungen erweisen sich insbesondere bei der Beschreibung der «choses si esmerueillables & non iamais cognues» als erforderlich,39 häufig also bei der Schilderung außergewöhnlicher Flora und Fauna oder der den Europäern unbekannten Sitten der Indianer. Glaubte Löry vor seiner Reise selbst nicht den «fariboles» der Matrosen «qu'il y auoit certaines especes de poissons volans», so beweist ihm schließlich die eigene Erfahrung die Existenz fliegender Fische: «si est-ce neantmoins que l'experience me monstra lors qu'il estoit ainsi».40 Lory ist in allen Erfahrungsbereichen bemüht, den Leser von der Authentizität seiner Darstellung zu überzeugen, indem er nicht bei phantastischen und außergewöhnlichen Erscheinungen stehenbleibt, sondern mit kritischem Blick das Unwahrscheinliche durchleuchtet41 und neben «Wunderbares» «ethnographische» Schilderungen von Alltagsleben und Ritualen der Indianer stellt.42 Im Sinn der Autopsieforderung ist auch Lerys Praxispostulat zu sehen. Lory mokiert sich etwa über die Leute, qui aymans mieux la theorique que la pratique de ces choses, n'ayans pas volonte" de changer d'air, d'endurer les flots de la mer, la chaleur de la Zone Torride, ny de veoir Ie Pole Antarctique, ne voulurent point entrer en lice, ni s'enroller & embarquer en tel voyage.43 3

5 Bisweilen ist L6ry in der Auseinandersetzung mit Thevet allerdings auch stark polemisch: «qu'il n'y-a que Ie seul Theuet qui ait tout veu par Ie trou de son chaperon de Cordelier.» (Lory: Histoire d'un voyage, PreTace [p. 21]). 36 Cf. Neuber: «Die frühen deutschen Reiseberichte aus der Neuen Welt», pp. 56 sq. 3 ^ Lory: Histoire d'un voyage, Preface [p. 30]. 38 Cf. ibid., Preface [pp. 27 sq.]. 39 Ibid., PreTace [p. 28]. 40 Ibid., p. 22; cf. auch pp. 29 sq., pp. 126 sq., pp. 155 sq., p. 164. 4 ' Le"ry verweist angesichts der unwahrscheinlichen Erzählung eines Indianers von einem menschenähnlichen Fisch auf seine eigene Erfahrung, die ihn während seines neunmonatigen Aufenthaltes nichts dergleichen habe sehen lassen. Cf. ibid., pp. 169 sq. 42 Nach der Erzählung von dem menschenähnlichen Fisch geht Löry zur detaillierten Beschreibung des Fischfangs der Tupinamba über, wobei er auf mehreren Seiten über Art und Weise des Fangs sowie über die verwendete Ausrüstung spricht. Minutiöse Beschreibungen dieser Art gibt Le~ry auf fast allen Gebieten, was ihm auch heute noch die Hochachtung der Ethnographie einbringt. Cf. etwa L£vi-Strauss über Lory: Tristes tropiqves, p. 89. 43 Liry: Histoire d'un voyage, p. 6. 144

Zahlreiche weitere Beispiele aus der Histoire d'un voyage verdeutlichen Lerys Bevorzugung der Praxis vor der Theorie oder reinen Wissenschaft. Der Steuermann, der ohne jegliche Bildung das Schiff besser navigiert als «vn S9auant personnage», wird von ihm ausdrücklich hervorgehoben;44 und die Formulierung «on ne m'alleguast iamais raison contre I'experience d'vne chose» weist dem Buchwissen deutlich eine der Erfahrung und Praxis untergeordnete Rolle zu.45 Aus dem Zusammenhang dieses Autopsiepostulats, das nur der eigenen Erfahrung vertrauen will, ergeben sich auch die polemischen Angriffe, die Lery gegen Thevet vorbringt. Den Erfahrungsanspruch, den er an sich selbst stellt,46 verlangt er auch Thevet ab. Lery selbst hatte intensive Erfahrungen mit den Indianern sammeln können, an deren Leben er über längere Zeit teilnehmen konnte; er war also nicht nur außenstehender Beobachter ihrer Kultur.47 Das verleiht ihm einen «Authentizitätsvorsprung» gegenüber Thevet, dem er vorwirft, daß dieser wegen seines nur zehnwöchigen Aufenthalts keine detaillierten Kennmisse über die vielfältigen Erscheinungen der Indianerkultur haben könne.48 Inwieweit der Vorwurf gegen Thevet berechtigt ist, ist schwer zu entscheiden; sicher ist aber, daß Lery seinen eigenen Ansprüchen selbst nur bedingt gerecht wurde: in der Forschung herrscht Einstimmigkeit darüber, daß Lery bisweilen auf Thevets Singularites und Cosmographie universelle als Quelle für seine Histoire d'un voyage zurückgriff. Doch zielt Lery nicht nur kritisch auf das unzulängliche Fremdverständnis anderer.49 Bei der eigenen Wahrnehmung des Fremden konstatiert er ebenfalls - wenn auch nicht unbedingt auf einer analytischen Reflexionsebene - letzten Endes die Unfähigkeit, die Voraussetzungen der Fremdwahrnehmung zu erkennen. Dieses Problembewußtsein besitzt Lery nicht von Anfang an. Erst unter dem zunehmendem Erfahrungsdruck, dem sich Lery im Kontakt mit der Neuen Welt mehr und mehr ausgesetzt sieht, gelangt er zu einem angemessenen Problembewußtsein, das schließlich in der Erkenntnis gipfelt, daß Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit die Fremdwahmehmung behindern. Lerys Interesse für das Fremde steht während der Seereise und auch während der ersten Wochen seines Aufenthalts noch ganz in einer älteren Traditionslinie, die sich als naiver Eurozentrismus bezeichnen läßt: Auf sachliche, der fremden Wirklichkeit gerecht werdende Darstellung von anderen Kulturen kommt es den in naiver Selbstgewißheit befangenen Europäern dieser Epoche in ihrem Ausgriff um die Welt noch nicht an. Vielmehr war das Interesse der Berichterstatter wie auch der Leser44 45 46

47

48 49

Ibid., p. 35. Ibid. Von diesem Absolutheitsanspmch zeugen zum einen Lerys ausdrückliche Stellungnahmen gegen lUgende Reisende (ibid., Prtface, [p. 27]), zum anderen seine nachträgliche Einschränkung des generellen Begriffs «Amerika» auf den «endroit ou i'ay demeuro enuiron vn an», also auf Brasilien (ibid., [p. 30]). Lery ist an zahlreichen Bräuchen und Sitten der Indianer interessiert und erörtert sie auch ausführlich und vorurteilsfrei, falls sie nicht seinen moralischen oder ethischen Vorstellungen widersprechen. Er weiß aus eigener Erfahrung, daß Rauchen Hunger und Müdigkeit vertreibt, er wohnt einer Geburt bei oder zieht, wenn auch Überwiegend als Beobachter, mit den Tupinamba in den Krieg. Cf. ibid., Preface [p. 19]. Lery hat bereits die immens wichtige Rolle der Beobachtung bei der Fremdwahmehmung erkannt. Anders als die Neuankömmlinge, die das Federkleid der Indianer als Behaarung interpretieren, unterliegt er nicht mehr diesem Irrtum (cf. ibid., p. 100). 145

schaft noch stark wie im christlichen Mittelalter auf das in fernen Ländern zu entdeckende möglichst Kuriose, Absurde und Paradoxe, mithin auf das von der eigenen Kultur radikal Abweichende, gerichtet.50

L£rys Blick richtet sich vorwiegend auf das Neue und Außergewöhnliche, das Kuriose und Monstruöse. Das Fremde - so beispielsweise ein Tier namens Coati, das Indianer wenige Tage nach der Ankunft L6rys in Brasilien auf Fort Coligny bringen wird unspezifiziert als das «Neue» wahrgenommen und erregt allein deshalb Verwunderung: les sauuges nous apporterent vn de cesCoati, lequel a cause de la nouuelletö fiit autant admirö d'vn chacun de nous que vous pouuez penser.5'

Der sehr häufige Gebrauch von Attributen wie «merveilleux», «estranges» oder «monstrueux» vor allem für die exotische Flora und Fauna Amerikas, läßt erkennen, daß Lery noch weit entfernt ist von Wahrnehmungs- und Beschreibungskriterien, mit denen sich die Natur erfassen ließe. Lery gesteht zwar - wie die meisten Reisenden der amerikanischen Natur «une place non negligeable» in seinem Bericht zu; doch gehört auch er zu den Reisenden, die nur «des connaissances assez limitees en botanique et en Zoologie» haben.52 Seine Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes der Indianer konzentriert sich bei der Schilderung des ersten Zusammentreffens, das auf dem französischen Schiff stattfindet, zunächst auf exotische Details, wobei er sich allerdings eine genauere Darstellung vorbehält: Et parce que ce füret les premiers sauuages que je vis de pres, vous laissant a penser si ie les regarday & contemplay attentiuement, encore que ie reserue ä les descrire & depeindre au long en autre lieu plus propre: si en veux-ie dos maintenant icy dire quelque chose en passant.

Er beschreibt kaum mehr als die augenfälligen Erscheinungen wie Nacktheit, angemalte Körper, den ungewöhnlichen Haarschnitt der Männer, durch Lippen, Ohren oder Wangen gestochenen Schmuck bei Männer und Frauen.54 Obwohl Lery auf aufmerksame und damit implizit auch unvoreingenommene Wahrnehmung zielt, steht sein Urteil über das Andere in hohem Maße unter dem Eindruck des Fremdartigen. Als einer der «in naiver Selbstgewißheit befangenen» Europäer55 erfaßt Lery nur die ihm als Europäer gänzlich unvertrauten Exotika.

50

Berg: «'Wie ich in der tyrannischen Völcker Gewalt kommen bin'», p. 178. Die Beschränkung des europäischen Beobachters auf die «charactoristiques de la 'sauvagerie' et de l'etat de nature quasianimale» bei der Darstellung des neuentdeckten Kontinents Amerika kommt insbesondere in bildlichen Darstellungen, etwa in den Erdteilallegorien, zum Ausdruck (Margolin: «L'Europe dans Ie miroir du Nouveau Monde», p. 242). 5 1 Lory: Histoire d'vn voyage, p. 147. 52 Duviols: «Apercus de la faune et de la flore amoricaines dans les remits de voyages», p. 5. 5 3 L6ry: Histoire d'un voyage, pp. 41 sq. Wenn auch L6ry hier noch keine vollständige Beschreibung intendiert, so richtet er sein Augenmerk dennoch ausschließlich auf das Exotische und nicht etwa auf allgemeine körperliche Merkmale wie Größe oder Statur. 54 Besonders der für einen Europäer ungewohnte Schmuck, der Lippen und Ohren durchbohrt, ruft bei L£ry Mißbilligung hervor: «Or ils portent telles choses en pensant estre mieux parez» (ibid., p. 42). Während diese Art, Schmuck zu tragen, bei den feindlichen Margaias eindeutig ein negatives Urteil Leiys hervorruft- «cela les deffigure bien fort» (p. 42)-, veranlaßt ihn das gleiche Phänomen bei den Tupinamba zu einem weit vorsichtigeren Urteil: «ie vous laisse ä penser, s'il les fait bon voir de ceste fa9ö, & si cela les difforme ou non» (p. 98). 55 Berg: «'Wie ich in der tyrannischen Völcker Gewalt kommen bin'», p. 178. 146

Eurozentrische Wahrnehmungsmuster liefern Löry daneben auch den Rahmen für seine Interpretation der indianischen Verhaltensweisen. Lerys stark vereinfachte und einseitig negative Charakterisierung der Margaias-Indianer, die die französische Mannschaft an Bord des Schiffes besuchen, ist bedingt durch eine Perpetuierung tradierter französischer Vorbehalte. Indem Lery den Margaias List und Hinterhalt in ihrem Verhalten den Franzosen gegenüber unterstellt, bleibt er Vorurteilen verhaftet, die er von früheren Brasilien-Reisenden unreflektiert übernimmt. Mag dieser reduzierte eurozentrische Blick noch als Folge der Feindschaft zwischen Franzosen und den mit den Portugiesen verbündeten Margaias interpretiert werden, so verläßt Lery in seiner weiteren Beschreibung der Indianer die eigenkulturellen Normen und Wahrnehmungsstrukturen auch dort nicht, wo solche Vorgaben fehlen. Da er den Indianern die eigenen europäischen Bedürfhisse unterstellt, übersieht er das genuin Fremde. Diese Beschränkung des Blicks bestimmt nicht nur sein Denken, sondern auch sein Verhalten. Lery bleibt der europäischen Idee von Leistung und Gegenleistung verhaftet, wenn er feststellt: «il fut question de les payer & contenter des viures qu'ils nous auoyent apportez».56 Die «Bezahlung» erfolgt, da den Indianern der Gebrauch von Geld fremd ist, mit den nach europäischer Meinung geeigneten Gegenständen «chemises, cousteaux, haims ä pescher, miroirs, & autre marchandise & de mercerie propre ä trafiquer parmi ce peuple.»57 Die Notwendigkeit von Kleidung in Europa läßt Lery die anderen Bedürfhisse der Indianer übersehen. Trotz der sinnfälligen und von ihm durchaus registrierten und beschriebenen Demonstration, daß den Indianern Kleidung eher hinderlich als nützlich ist - die Indianer ziehen bei der Bootsfahrt die Hemden bis zur Hüfte hoch, daß diese nicht naß werden - stellt Lery nicht seine eigenen Vorstellungen von einer Kleiderordnung in Frage, sondern er mokiert sich aus europäischer Sicht über die Hilflosigkeit der Indianer im Umgang mit dem Ungewohnten.58 Lery bleibt ein freier Blick auf die unvertraute und andersartige Kultur versagt. Seine Eurozentriertheit wird durch das Eindringen einer fremden Welt in die eigene, wie sie die Begegnungen mit dem Fremden auf dem Schiff oder Fort Coligny darstellten, kaum ernsthaft gefährdet, da er hier das Andere nur vor dem Hintergrund und in der Sicherheit tradierter Denkmuster und einer gewohnten Umgebung erfahrt.

2. Die Systematisierung der Wahrnehmung Lerys Probleme beim Verstehen des Fremden sind auch in der Darstellungsform zu beobachten, mit der sich Lery ihm nähert. Der Versuch, das Fremde durch detaillierte Schilderungen zu erfassen und durch bildliche Darstellungen zu unterstützen, gelingt ihm nur zum Teil. Schilderungen des Fremden, die sich problemlos in seine Wahrnehmungen einzureihen scheinen, stehen neben solchen, die auf die Schwierigkeit, wenn nicht die Unmöglichkeit verweisen, dem Neuen gerecht zu werden. Das wird in Ltry:Histoired'unvoyage,p.43. Ibid. Im Gegensatz zu Le"ry stellt Thevet immerhin den minderwertigen Charakter der französischen bzw. europäischen Ware fest, die als Tauschgegenstand keinen adäquaten Wert im Vergleich zu der von den Indianern erbrachten Leistung besitzt (TheveliCosmographie universelle,

·Cf.221) · Le"ry: Histoire d'un voyage, pp. 43 sq.

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vielen Details des Berichts deutlich. Charakteristisch ist die Anleitung, die Lery dem Leser gibt, um ihm bei der Entwicklung einer Vorstellung für den «Wilden» behilflich zu sein: si maintenant en premier lieu, suyuant ceste description, vous vous voulez representer vn Sauuage, imaginez en vostre entendement vn homme nud, bien forma & proportionne", [...] vous le verrez comme il est ordinairement en son pays, & tel, quant au naturel, que vous le voyez pourtrait cy apres [...].^

Ergänzende Zeichnungen sollen den Authentizitätsgehalt zusätzlich erhöhen. Dennoch bleiben Lerys Schwierigkeiten sowohl bei der Wahrnehmung wie auch bei der schriftlichen oder bildlichen Wiedergabe der Indianer und ihrer Kultur unverkennbar: FINALEMENT combien que durant enuiron vn an, que i'ay demeuro en ce pays-la, ie aye esto si curieux de contempler les grands & les petits, que m'estät aduis que ie les voye tousiours deuant mes yeux, i'en auray ä iamais l'idee & l'image en mon entendement: si est-ce neätmoins, qu'ä cause de leurs gestes & contenances du tout dissemblables des nostres, ie confesse qu'il est mal-aise" de les bien representer, ni par escrit, ni mesme par peinture.^^

Die Ursachen für unvollständige oder mißlingende Fremdwahrnehmung sind einmal sachlicher Art und liegen in den gravierenden Unterschieden zwischen der alten und der neuen Welt begründet. Sie sind aber auch theoretischer Art, da es Lery nicht gelingt, die Vielfalt der Wirklichkeit mit den ihm zur Verfügung stehenden Wahrnehmungs- und Beschreibungstechniken in den Griff zu bekommen.61 Befürchtet Lery einerseits, seine immer nur partielle Beobachtung des Fremden könnte ihm als mangelnde Neugierde ausgelegt werden,^ so erahnt er andererseits, daß die Unvollständigkeit der Wahrnehmung auch Folge einer zu großen Öffnung gegenüber dem Fremden sein könnte. Denn die Histoire d'un voyage läßt eine weitgehende Öffnung gegenüber dem Neuen erkennen, die jedoch reflexiv kaum kontrolliert ist. Sie führt deshalb zu einer nur unspezifischen, oft auch willkürlich anmutenden Aufnahme der fremdkulturellen Wirklichkeit. Gleichzeitig aber zeugt der Text auch von einem gegenläufigen Ordnungsbestreben. Er läßt das Bemühen um Systematisierung und um die Herausarbeitung von Auswahlkriterien erkennen, die schon eine Distanzierung des Beobachters von der wahrgenommenen Wirklichkeit erfordern. Darin bekundet sich eine gewisse Nähe zu den Verfahren der neuzeitlichen Wissenschaft mit ihrer Fundierung in einer anschauungsfernen Theorie: Der Anschauungsverzicht ist eine Voraussetzung der neuzeitlichen Wissenschaft, der Anschauungsverlust muß eine Folge jeder Theorie sein, die sich systematisiert, die also ihre Resultate so

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Ibid., p. 105. Ibid., p. 113. 61 Große Unterschiede zu den europäischen Vogelarten sowie die «varieti» unter den amerikanischen erschweren Lory die Darstellung des Fremden: «AV surplus parce que ie ne pourrois pas specifier par Ie menu tous les oyseaux qu'on voit en ceste terre du Bresil, lesquels non seulement, different en especes ä ceux de nostre Europe, mais aussi sont d'autres varietez de couleurs, comme rouge, incarnat, violet, blanc, cendro, diapro de pourpre & autres» (ibid., p. 156). 62 Trotz seiner Neugierde gelingt L£ry kein angemessenes Erfassen des Fremden: «OR combien que ie confesse (nonobstant ma curiosito) n'auoir point si bien remarquo tous les animaux de ceste terre d'Amerique que ie desirerois», (ibid., p. 145) so daß er sich bei seiner Beschreibung auf zwei Beispiele beschränkt. Cf. auch p. 192. 60

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verdichtet und formiert, daß sie sich kraft ihrer heterogenen Ordnung vor den Zugang zu den genuinen Gegebenheiten stellen und schließlich diese ersetzen. 6^

Le"ry hat allerdings eine andere, stärker empirisch orientierte Wissenschaftsauffassung, die Wissenschaft mit Erfahrung gleichsetzt: «parlö de sciece, c'est a dire de veue & d'experience».64 Für ihn ist die Wahrnehmung und Niederschrift eigener und bislang unbekannter Erfahrungen die primäre Absicht und nicht etwa ihre theoretische Verarbeitung: «voire diray des choses que nul n'a possible iamais remarquees si auant que i'ay faict, moins s'en trouue-il rien par escrit.»65 Diese Empirieorientierung ist zwar auch ein signifikantes Kennzeichen der entstehenden neuzeitlichen Wissenschaft, mit der diese die spekulativen Tendenzen vomeuzeitlicher Systemkonstruktionen überwindet. Der Gewinn an Empirie allein jedoch bedeutet weder für die Wissenschaft noch für den Reisebericht schon die Zugehörigkeit zu den neuzeitlichen Entwicklungen.66 Das Bedürfnis nach einer wenn nicht theoretischen, so doch zumindest systematischen Verarbeitung der Erfahrung findet sich bereits in der Histoire d'un voyage, woran sich Lerys Unbehagen an einer rein empirieverhafteten Wahrnehmungsform erkennen läßt. Lery kann noch nicht als «Reisemethodiker»67 im Sinne der «Apodemiken» des 16. Jahrhunderts bezeichnet werden. Er bekundet aber doch aufgrund seiner Einsicht in die Unmöglichkeit, die Welt mit ihren unendlichen Details empirisch zu erfassen,68 die vage Einsicht, «daß diese Details in eine kategoriale Ordnung einzufügen sind; und als Teil dieser Ordnung werden sie zu einem Teil der einheitlichen Welt».69 Wenn sich auch noch nicht der für die Konstituierung neuzeitlicher Wissenschaft erforderliche Empirieverzicht in voller Ausprägung findet, so läßt die Histoire d'un voyage dennoch auf inhaltlicher und formaler Ebene bereits eine Tendenz zur Anschauungsreduktion erkennen: Bei Lery wie in vielen anderen zeitgenössischen und älteren Texten und Illustrationen bekundet sich die Unfähigkeit zur Verarbeitung der neuen Erfahrungen zunächst in einem Rückgriff auf ein altes Verfahren: in der Konzentration auf das Merkwürdige und Exotische. Die mittelalterliche Tradition, in Reiseberichten von «monstres, domons et merveilles» zu erzählen, lebt zwar im 16. Jahrhundert nicht ungebrochen fort, aber deutliche Spuren ihrer Nachwirkung lassen sich noch erkennen: Les monstres ne sont pas absents des «grands» textes littaraires mais ils y sont tres disseminös et relativement rares. Dans les recits de voyage, au contraire, ils apparaissent avec une frequence, une constance et un naturel qui leur confere une existence propre?^

Die lange Nachwirkung dieser mittelalterlichen Tradition läßt sich als ein Beleg dafür verstehen, daß das Erfahrungsmodell der Reisenden dem «Erfahrungsdruck» " Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, p. 61. **4 Löry: Histoire d'un voyage, Preface [p. 30]. 65 Ibid., Preface [p. 30]. 66 Cf. Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», p. 29. 67 Cf. dazu Stag), («Die Methodisiemng des Reisens im 16. Jahrhundert», pp. 149-151) der auf die von Petrus Ramus aufgestellten zehn «loci» verweist, die das Wissen der Zeit methodisieren sollten und in den Apodemiken meist befolgt wurden. 68 Cf. Liry: Histoire d'un voyage, p. 108, p. 145. 69 Brenner: «Die Erfahrung der Fremde», p. 31. 7® Kappler: Monstres, demons et merveilles ä la fin du Moyen Age, p. 12. Die Beständigkeit mittelalterlicher Fabelgestalten zeigt sich auch in der Legende des «Wilden Mannes», der im «fiktiven Bild des abgelehnten wie auch des bejahten 'Wilden'» fortlebt. (Sixel: Die deutsche Vorstellung vom Indianer, p. 210.) 149

nicht gewachsen ist.71 Der Fülle der Informationen aus dem neuen Erdteil steht keine Systematik gegenüber, mit der sie sich verarbeiten ließen; das führt in der Darstellung zu einer Partikularisierung der Wirklichkeit, die häufig in der Gestalt des «Exotismus» auftritt. Die unsystematisierte Vielfalt der Wirklichkeit und die Partikularisierung ihrer Darstellung stellt Lory vor Probleme, die er noch kaum zu lösen vermag. Allerdings ist unübersehbar, daß er sich um ihre Lösung bemüht, indem er eine ganze Anzahl verschiedener, traditioneller wie modemer, Techniken zur Wirklichkeitserfassung und -beschreibung verwendet. Für die Beschreibung bestimmter Wirklichkeitsbereiche bedient sich Lery bisweilen quantifizierender Methoden, wie sie in der Frühen Neuzeit auch schon vor Galilei entwickelt worden waren, denn während der ganzen Renaissance bestanden enge Beziehungen zwischen den eigentlichen «humanistischen» Bestrebungen mit ihrem Hauptziel einer Wiederbelebung der Antike, und dem Aufbau der modernen Naturwissenschaft, die teilweise auch von der Wiederentdeckung antiker naturwissenschaftlicher Schriften profitierte.72 Insbesondere navigaorische und schiffahrtstechnische Bedürfhisse hatten diese Form der Wirklichkeitsbeschreibung gefördert: Im 16. Jahrhundert hatte die Horizonterweiterung des Wißbaren, hatten die neuen Aufgabenstellungen in der Seefahrt wie in der rechnerischen und mechanischen Bewältigung der räumlichen Welt vor allem neue Methoden verlangt, die die formalen Standards geometrischer Präzision prinzipiell auf alles ausdehnten. Dadurch wurden Teilergebnisse erzielt, die den Kosmos insoweit rationalisierten, ihn aber mehr noch in seiner überlieferten Gestalt in Frage stellten.7^

Spuren dieses Denkens lassen sich auch in Le"rys Histoire d'un voyage feststellen. Sie werden immer dort vage sichtbar, wo Lery sich der Zahl als Darstellungsmedium bedient. Gewiß ist die Mathematisierung der Wirklichkeitsdarstellung bei Lery noch kein durchgehendes Prinzip, aber es finden sich doch in der Histoire d'un voyage durchaus Reflexionen über den Nutzen des Messens, wie Lerys Stellungnahme zu der Erfindung des Kompasses belegt: ie diray seulement ce mot en passant, qu'on ne sauroit assez priser, tant l'excellence de I'art de la nauigation en general, qu'en particulier I'inuetion de l'Eguille marine, auec laquelle on se conduit

[..-l74

In engem Zusammenhang mit dem Verlangen nach Meßbarkeit neuer Sachverhalte stehen die Ansätze eines experimentellen Verfahrens. Nicht nur Freude am Experimentieren, sondern auch die Notwendigkeit, das Überleben zu sichern, veranlassen Lery und die Schiffsbesatzung zu Versuchen mit quasi-experimentellem Charakter.75 71

Zu der filr die neuzeitliche Naturgeschichtsschreibung zentralen Kategorie des «Erfahrungsdrucks» cf. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte, p. 16. 72 Cf. Gadol: «Die Einheit der Renaissance», p. 412. Femer Heidelberger, Thiessen: Natur und Erfahrung, pp. 69-83. 7 ^ Hillach: «Barocker Universalismus und die Rücknahme der Willensfreiheit», p. 62. 7 ^ Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 10. Zur Entdeckung und Entwicklung des Kompasses cf. Freiesleben: Geschichte der Navigation, pp. 41-56. 75 Cf. das Experiment zur Positionsbestimmung des Äquators (Lory: Histoire d'un voyage, p. 37). Ein weiteres «experimentelles» Vorgehen bringt die Erkenntnis, daß salzig schmeckende Fische, in Salzwasser gelegt, den Salzgeschmack schneller als in Süßwasser verlieren (ibid., p. 33). Die Gültigkeit eines anderen Experiments - mit Hilfe einer «sonde» gewonnene Gesteinsproben sollen Rückschlüsse zulassen auf den jeweiligen Aufenthaltsort- beschränkt Lory auf bestimmte Gewässer (ibid., p. 358). Auch hier kann Lory an Traditionen anknüpfen, die sich zunächst

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Ein Experiment zur Positionsbestimmung des Äquators76 folgt dabei schon den wissenschaftlichen Kriterien, wie sie später von Galilei theoretisch gefordert werden:77 In der Histoire stellen Steuermann und Kapitän die These auf «que nous auions le soleil droit pour Zeni, & en la Zone si droite & directe sur la teste, qu'il estoit impossible de plus.»78 Diese These wird von Lery und der übrigen Mannschaft daraufhin experimentell überprüft: Et de fait, quoy que pour I'experimenter nous plätissions des dagues, cousteaux, poinssons & autres choses sur le Tillac, les rayons donnoyent tellemSt a plomb, que ce iour la principalcment a midi, nous ne vismes nul ombrage dans nostre vaisseau.7^

Allerdings dürfen die eher beiläufig erzählten Episoden nicht überbewertet werden. Sie sind nur kleine Hinweise darauf, daß sich in der Alltagspraxis des Reisens im 16. Jahrhundert schon Denkformen und Verfahren der Naturbeobachtung durchgesetzt haben, die erst deutlich später systematisch in das neuzeitliche Weltbild eingebaut wurden. In Lerys Histoire d'un voyage spielen die in der Neuzeit entstehenden Verfahren der modernen Wissenschaft eine untergeordnete Rolle, denn die Entwicklung der Grundlagen modernen naturwissenschaftlichen Denkens vollzog sich erst einige Jahrzehnte nach Lerys Reise; ihr Durchbruch erfolgte mit den theoretischen Überlegungen und den Experimenten Galileis, über die er erst 1638 berichtete. So ist es nicht überraschend, daß Lerys Beschreibung der Natur noch sehr weit entfernt ist von der Naturauffassung der neuzeitlichen Wissenschaft. Seine eigentliche Darstellung der Natur ist deshalb von den modernen quantifizierenden Verfahren kaum affiziert; konventionelle Verfahren der Wirklichkeitsbeschreibung spielen bei ihm eine größere Rolle, zu denen bestimmte Strukturierungsverfahren gehören. Bei der Beschreibung der Seereise folgt er dem «ordre de l'evonement»,80 wie dieser durch die strenge weniger in der neuzeitlichen Naturwissenschaft als vielmehr aufgrund praktischer Bedürfhisse der Schiffahrt entwickelt haben (cf. Waters: «Science and the Techniques of Navigation», pp. 198 sq.). Waters entfaltet in seinem Aufsatz detailliert die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Navigationstechnik seit dem 15. Jahrhundert und der Entstehung der Verfahrensweisen der neuzeitlichen Wissenschaft. Da die «procodos purement empiriques» (cf. Mollat: «Soleil et navigation au temps des döcouvertes», p. 102) bis weit ins 16. Jahrhundert hinein zur Positionsbestimmung dienten, setzte sich die wissenschaftliche Methode nur zögernd durch: «La diffusion de la methode scientifique de navigation astronomique fut lente. Les pilotes au courant de ses procodos otaient peu nombreux.» (Ibid., p. 104.) Bedauernd stellt Thevet fest, daß die Seefahrer zu lange an der Empirie festhielten, statt sich einer wissenschaftlich fundierten Seefahrt zuzuwenden (das entsprechende Zitat ist in der gekürzten Ausgabe nicht enthalten; hier nach Mollat, «Soleil et navigation au temps des döcouvertes», p. 105, der auf folgende Stelle bei Thevet verweist: Thevet: Cosmographie universelle (id. 1575, Livre I, p. 4). 76 Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 37. 77 «Für Galilei soll das Experiment, das er gezielt für ein erwartetes Ergebnis aufbaut [...], die Bestätigung von Vermutungen bringen, die er mathematisch- und damit durch Messungen Überprüfbar - formuliert hat» (Heidelberger, Thiessen:Afa/«r und Erfahrung, p. 16). 78 Lery: Histoire d'un voyage, p. 37. 7 ^ Ibid. Bei dem vom Kapitän und dem Steuermann verwendeten Astrolab handelt es sich allerdings um ein schon im Mittelalter bekanntes Instrument zur Positionsbestimmung (cf. Heidelberger, Thiessen: Natur und Erfahrung p. 37). Ein anderer Versuch zur Positionsbestimmung der «Isles Fortunees», der in Le"rys Gegenwart mit einem Astrolab vorgenoirmen wurde, brachte einen lange Zeit von Kosmographen verbreiteten Irrtum zutage (Löry: Histoire d'un voyage, p. 14). "0 Morisot: «Introduction», p. XIV. Die ersten fünf als «Bordbuch» konzipierten Kapitel legen die Chronologie der Ereignisse zugrunde. 151

Chronologie des Bordbuchs und zahlreiche Maßangaben festgelegt ist;81 die Beschreibung der Neuen Welt hingegen folgt der etwas flexibleren «progression naturelle du regard»,82 die sich von topographischen Gegebenheiten bis hin zur detaillierten Schilderung einzelner Phänomene der indianischen Kultur erstreckt. Derartige Strukturierungsverfahren sind nicht sehr elaboriert und bleiben ganz konventionell der Alltagspraxis verbunden. Einer wissenschaftlichen Weltauffassung kommt Lery einen Schritt näher mit seinem Bemühen, sich nicht länger mit dem Augenschein zufriedenzugeben, sondern Wirkungen auf ihre Ursachen hin zu befragen.83 Auch hier stehen aber unmittelbare praktische Interessen und Fragestellungen im Vordergrund, die sich aus dem Reiseverlauf ergeben. Bei der ersten Überquerung des Äquators beschränkt sich Lery vor allem auf die Beschreibung von nautisch relevanten Phänomenen (tourbillons, pluye, vehementes chaleurs),84 bei der Rückreise geht er über die bloße Feststellung der Navigationsschwierigkeiten hinaus und sucht nach den Gründen dafür: mais ayät veu par experience (ce que tous ceux qui ont passo la Zone torride $9auent bien aussi) qu'on n'est pas moins empeschi en reuenant du costo du Pole Antarctique en deca, i'adiousteray icy ce qui me semble naturellement pouuoir causer telles difficultez.8^

Solche Überlegungen bleiben aber oberflächlich und an den Anlaß gebunden. Insgesamt läßt sich kaum behaupten, daß bei Lery schon eine konsequente wissenschaftliche Weltsicht im neuzeitlichen Sinne zu konstatieren ist. Lory bedient sich bei der Verarbeitung seiner Erfahrungen in der Regel solcher Verfahren, die nicht eindeutig als «traditionell» oder als «neuzeitlich» zu charakterisieren sind. Dazu gehören vor allem die Formen der «Klassifikation» der Wirklichkeit, die gleichermaßen in der Antike und der Scholastik zu finden sind wie sie auch in der neuzeitlichen Wissenschaft praktiziert werden. Sie sind zwar keine Errungenschaft des neuzeitlichen Denkens; aber ihre immer weiter verfeinerte Ausarbeitung

81

Ordnungsstiftend wirken auch die zahlreichen Maßangaben, vor allem das wiederholte Nennen der Längen- und Breitengrade der durchreisten Gebiete (cf. etwa L6ry: Histoire d'un voyage, p. 14, p. 31, p. 36, p. 37, p. 86). Die Bestimmung der Breitengrade mit Hilfe des Meridians der Sonne war erst Ende des 15. Jahrhunderts möglich, so daß sie auch Columbus weitgehend unbekannt war und seine entsprechenden Angaben häufig falsch sind (cf. Mollat: «Soleil et navigation au temps des docouvertes», pp. 96 sq., pp. 103 sq.). 82 Morisot: «Introduction», p. XIV. 83 Zwar muß Lory bisweilen noch vor dem Kausalitätsprinzip resignieren, wie er angesichts eines Experiments gesteht: «chose dequoy ie me suis esmerueillo, & que ie laisse a disputer aux Philosophes»; (Lery: Histoire d'un voyage, p. 33) meist aber gelingt es dem Reisenden, das Verhältnis von Ursache und Wirkung zu durchleuchten: «QVANT au froment & au seigle que nous y semasmes, voici le defaut qui y tut: c'est que combien qu'ils vinssent beaux en herbes, & mesme paruinssent iusques l'espi, neantmoins le grain ne s'y forma point. Mais dautant que l'orge y grena & vint ä iuste maturito, voire multiplia grandement, il est vray-semblable que ceste terre estant trop grasse pressoit & auan9oit tellement le froment & le seigle [...] qu'estans trop tost montez [...] ils n'eurent pas le temps pour fleurir & former leurs grains» (ibid., p. 122). Auch die Tatsache, daß die Indianer Tiere essen können, die in Europa als giftig gelten, löst bei Lory «Begründungsversuche» aus: «qu'ä cause de la temperature du pays (ou peut-estre pour autre raison que i'ignore) ils ne sont vilains, venimeux ni dangereux comme les nostres.» (Ibid., p. 141.) 84 Cf. ibid., pp. 31 sq. 8 ^ Ibid., p. 348. Allerdings hatte Le"ry auch bei der Hinreise schon erkannt, welch große Rolle die Windströmungen für die erschwerte Navigation spielten. 152

und Anwendung gehört dennoch zu den charakteristischen Erscheinungsformen, in denen sich frühneuzeitliches Wissen darstellt. Referenz- und Klassifikationssysteme erweisen sich immer dort als notwendig, wo der «Stoff» aufgrund seiner Unüberschaubarkeit nicht mehr faßbar oder aufgrund seiner Fremdheit isoliert steht.86 Daher ist es nicht überraschend, daß diese Systeme im 16. Jahrhundert mit seinem enormen Erfahrungszuwachs eine große Bedeutung gewannen. Der «explosiv ansteigende Wissensstoff» stellte die Wissenschaftssystematik und -organisation vor neue Probleme; die Zunahme des Wissens bedarf jetzt «wegen seiner Uferlosigkeit einer Ordnungswissenschaft als Stmkturgefiige».87 Diese Systematisierungsbestrebungen zeigen sich beispielhaft in der Tendenz zur Enzyklopädisierung des Wissens, wie sie die Renaissance hervorgebracht hat.88 Die Probleme der Klassifikation, Systematisierung wie überhaupt der «Ordnung» der Wirklichkeit stellen sich in Reiseberichten besonders nachdrücklich. Allerdings zeigt ein Vergleich der Texte Lerys und Thevets, daß im 16. Jahrhundert noch ganz verschiedene Strukturierungsverfahren möglich waren, die in bezug auf ihren traditionellen oder neuzeitlichen Status kaum eindeutig einzuschätzen sind. Bei Thevet ist dieses Bedürfnis nach einer geordneten Darstellung kaum ausgeprägt. Er beschränkt sich weitgehend auf die Diskussion und Wiedergabe von Details, die offenbar auf gewissenhaften Forschungen beruhen.89 Er gibt aber keine systematische Darstellung von Flora und Fauna Brasiliens, sondern fügt entsprechende Verweise immer nur da ein, wo er sie brauchen kann, etwa seine Beschreibung der Wurzel Hetich im Zusammenhang mit indianischen Religionsriten.90 In seinen Texten finden sich auch oft willkürlich anmutende Aneinanderreihungen verschiedener Themenbereiche, die in keinem sachlichen Zusammenhang stehen, so wenn er von der Erörterung des «grand Caraibe» unvermittelt zu den Problemen von Geburt und Kindererziehung übergeht.91 Das ist nicht bloße Naivität oder darstellungstechnische Unfähigkeit. Thevet ist sich seiner Verfahrensweise vielmehr durchaus bewußt: C'est de Institution de ce grand Caraibe, qu'ils usent de certaines ceremonies envers les enfans nouveaux-nez, ä fin qu'ils deviennent bons et vaillans au fait de la guerre. Mais puis que nous sommes tombez sur les enfans, je vous diray comme les femmes produisent.92

Diese Bemerkung bekundet Thevets Desinteresse an einer geordneten und systematischen Darstellung. Dieses Desinteresse ist sicher auch eine Folge seines Autopsieprinzips, für das nicht die Systematik - und damit die Möglichkeit zur Einordnung in einen größeren wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang - das Entscheidende 86 87 88

89 90 91 92

Cf. Rey: Encyclopedies et dictionnaires, p. 24. Gerl: Einführung in die Philosophie der Renaissance, p. 36. Das Erscheinen verschiedener Enzyklopädien (1553 publiziert Robert, der Sohn von Francois Ier, die erste französische Enzyklopädie Dictionarium historicum et poeticum; ab 1599 erscheint die mehrbändige Naturgeschichte Aldrovandis) belegt die enzyklopädischen Tendenzen des 16. Jahrhunderts. Cf. femer Bitterli: Die «Wilden» und die «Zivilisierten», p. 223: «Der expansiven Bewegung des Entdeckens entsprach jene des bewahrenden Festhaltens. Das Gefäß, in dem die Wissensflut sich sammeln sollte, wurde die Enzyklopädie.» Cf. Touzaud: «Andrf Thevet d'Angoule'me», p. 23. Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 74. Cf. ibid., p. 49. Ibid. 153

ist, sondern nur die Tatsache, daß der Reisende die Phänomene mit eigenen Augen sieht.93 Obwohl dieses Prinzip auch bei Lory zumindest in seiner Argumentation eine große Rolle spielt, ist in seinem Reisebericht das Bemühen um eine geordnete Darstellung sehr viel ausgeprägter. So sind besonders die Kapitel X bis «enzyklopädisch» angelegt; daneben integriert Lery mit Kapitel XX ein zweisprachiges «Colloque» in seine Histoire, das weit über eine «introduction au langage tupi» hinausgeht94 und gleichermaßen Züge eines Wörterbuchs wie die einer Enzyklopädie in sich vereinigt. Kapitel X bis der Histoire d'un voyage sind insofern ein Versuch enzyklopädischer Katalogisierung, als sie zumindest ein Teilgebiet des Wissens über Brasilien, nämlich dessen exotische Flora und Fauna möglichst vollständig beschreiben wollen. Lery löst diesen Anspruch auf Vollständigkeit in seiner Darstellung von Tieren und Pflanzen Brasiliens bis auf wenige Ausnahmen ein.95 Nur die höchst selten vorhandene Ähnlichkeit mit einem europäischen Tier,96 die Angst, den Leser durch Wiederholungen zu langweilen97 oder das eigene Unvermögen einer Darstellung aufgrund eingeschränkter Wahrnehmung98 fuhren zur - gewollten oder erzwungenen Unvollständigkeit in der Beschreibung exotischer Natur. Die Gliederung von Flora und Fauna in diesen Kapiteln erfolgt nicht nach alphabetisch angeordneten Stichwörtern; vielmehr liegt ein bestimmtes System zugrunde, das Clerc ironisch als «classement a la bourguignonne» charakterisiert, «ä savoir selon Tordre du delicat, du comestible et du detestable.»99 Wenn Clerc damit auch das wesentliche Klassifikationsmerkmal festgestellt hat, so trifft er damit doch nicht ganz den Kern der Sache. Er übersieht zum einen weitere Klassifikationsmerkmale und zum anderen läßt er die Hintergründe und Ursachen für die Wahl der Klassifikation außer Acht. Lery hat eine ganze Anzahl teils sich ergänzender, teils auch unabhängig voneinander bestehender Klassifikationskriterien. Neben der von Clerc

9

^ Auch Lestringant verweist im Zusammenhang mit Thevet und Cartier darauf, daß «le savoir du cosmographe se trouve fondo sur ('experience, non sur la compilation des livres.» (Lestringant: «La conference de Saint Malo», p. 38.) 94 Morisot: «Introduction», p. XV. Ein für die Thematik zentrales Werk, das leider nicht zugänglich war, ist Gaffarel: Jean de Lery et la langue Tupi, Paris 1877. 95 Le"rys Anspruch auf vollständige Beschreibung der Flora und Fauna Brasiliens erschließt sich indirekt: «VOILA, non pas tout ce qui se pourroit dire des arbres, herbes & fruicts de ceste terre du Bresil, mais ce que i'en ay remarque" durant enuiron vn an que i'ay demeure".» (Lory: Histoire d'un voyage, p. 193.) 96 So verzichtet Le"ry auf die Beschreibung eines Cay «parce qu'il s'en voit assez par-deca» (ibid., p. 144). 97 Leiy verzichtet auf die Beschreibung der «Baleines, monstres marins, poissons volans, & autres de plusieurs sortes», da er sie schon in früheren Kapiteln detailliert beschrieben habe (ibid., p. 164). 98 Cf. Lory, Histoire d'un voyage, p. 145. Le"ry bedauert, trotz seiner Neugierde nicht alles gesehen zu haben. Dabei ist die eingeschränkte Wahrnehmung und somit die Reduktion auf nur wenige Beispiele einer Tier- oder Pflanzenart auch eine Folge der ungeheuren Vielfalt (cf. ibid., p. 156, p. 166). 99 Clerc: «Introduction», pp. 47 sq. Obwohl Morisot («Introduction», p. XXII) Le"rys Zielsetzung eines «dessein pratique» erkannt hat, bezeichnet auch er die an der «Eßbarkeit» ausgerichtete Klassifikation als «naive», ohne weiter darüber zu reflektieren. 154

vernachlässigten Differenzierung nach Gestalt, Tierlauten oder Farben100 verwendet Lery als zusätzliche Kriterien quantitativ-messende wie Größe, Gewicht und Häufigkeit des Vorkommens von Flora und Fauna,101 Kriterien, die letztlich das Weltbild der Neuzeit mitkonstituieren: «Denken wird messen, mens gleich mesurare; Gewicht, Maß und Zahl werden Instrument und Ausdruck des Sich-Selbst-Behauptens im Endlichen.»102 Zudem trifft Liry bisweilen bei Flora und Fauna die Grobklassifikation nach «espece» und «genre», wie sie noch heute als Nomenklatur verwendet werden.1« Die von Clerc festgestellte und tatsächlich vorherrschende Klassifizierung nach «eßbar» - «nicht eßbar» muß, soll sie angemessen bewertet werden, differenziert gesehen werden. Es geht Lery nicht um die simple Unterscheidung «bon ä manger» «non bon ä manger», sondern seine Klassifikationsversuche folgen dem übergeordneten Merkmal der «Nützlichkeit». Lory nimmt in seine Enzyklopädie nicht nur Pflanzen und Tiere auf, die er auf ihre Genießbarkeit hin untersucht. Am Aspekt des Nutzens orientiert, gilt sein Interesse und folglich seine Darstellung im gleichen Maße der Flora und Fauna, die sich als Heilmittel, als Gerät oder anderweitig zum Nutzen der Indianer und der Franzosen verwenden läßt. So hilft etwa der Saft einer Frucht namens Courog gegen Schmerzen aller Art, (161) die Frucht des Baumes Choyne dient der Herstellung von Maracas, einem Musikinstrument, und von Eßgeschirr, (181 sq.) aus der Baumwolle verfertigen die Eingeborenen Hängematten (185) und aus der Pflanze toucon Angelschnüre. (170)104 Auch Lerys Beschreibung des Brasilholzes folgt im wesentlichen solchen Nützlichkeitserwägungen, wenn er sich darin auf die Schilderung der Möglichkeiten des Abtransports, des Färbens und eine

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Wenn L4ry bei der Beschreibung der Papageien auch nach wie vor der Haupteinteilung folgt «ie viendray aux oyseaux lesquels ne sont pas si commons ä manger en ceste terre du Bresil», (Le"ry: ffistoire d'un voyage, p. 150) so verfahrt er bei der weiteren Klassifikation vor allem nach der Große der Vögel und der Farbe des Gefieders (ibid., pp. 150 sqq., p. 156). Cf. weiter zur Differenzierung nach Farben ibid., p. 138, p. 180. 101 Le*ry begnügt sich bei seiner Gliederung nicht allein mit der Grobdifferenzierung eßbar- nicht eßbar, sondern Pflanzen wie Tiere werden weiter insbesondere nach Größe und Gewicht unterteilt (cf. ibid., pp. 136 sq., p. 138, p. 145, p. 149, p. 152, p. 153, p. 155, p. 179, p. 184). Bei der Beschreibung der Fische verzichtet L£ry auf die Grobklassifikation nach der Eßbarkeit; statt· dessen nennt er als primäres Klassifikationskriterium die Häufigkeit des Vorkommens (ibid., p. 164). 102 Gerl: Einführung in die Philosophie der Renaissance, p. 39. Das Interesse für Maß und Gewicht in der Frühen Neuzeit dürfte auch auf die Fortschritte in der Entwicklung neuer Meßinstrumente im 16. Jahrhundert zurückzuführen sein (cf. Demonet-Launay : XVf siecle, p. 32). 1°3 Zwar hatte schon Aristoteles versucht, die ihm bekannten Tierarten aufgrund ihrer äußeren Merkmale in ein System einzureihen; dennoch ist es bemerkenswert, daß der wissenschaftlich ungeschulte Lory auf die naturwissenschaftlichen Kategorien «genres» und «especes» zurückgreift, auch wenn diese Unterscheidung ziemlich willkürlich bleibt. Cf. etwa ibid., p. 164: «PREMIEREMENT ä fin de cömencer par le genre, les sauuages appellent tous poissons/Va; mais quät aux especes, ils ont de deux sortes de francs mulcts, qu'ils nomment Kvrema & Parati». Doch mündet auch diese Klassifikation von «genre» und «espece» in das Unterscheidungsmerkmal der «Eßbarkeit». !°4 Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf L£ry: Histoire d'un voyage. Zu den Pflanzen, die als Heilmittel verwendet werden cf. ibid., p. 179, p. 181. Zu den Früchten, die als Gerate dienen (p. 182). Federn dienen als Kleidung und Schmuck (p. 151, p. 154). 155

von Franzosen und Portugiesen eingeführte neue Technik des Abholzens beschränkt.105 Das von Lery für die Klassifikation der brasilianischen Flora und Fauna gewählte Kriterium der Nützlichkeit ist keinesfalls laienhaft oder unwissenschaftlich, wie dies Clerc mit seiner Polemik andeutet. Es rückt den Reisenden vielmehr in die Nähe einer an der Nützlichkeit orientieren Entwicklung von «encyclopedic» und «dictionnaire», die ihren Höhepunkt allerdings erst im 18. Jahrhundert finden sollte. 106 Frühe Ansätze zu einer militaristischen Ausrichtung der Wirklichkeitsbeschreibung lassen sich bereits im Humanismus des 16. Jahrhunderts feststellen. Zwar hat erst die Aufklärung das utilitaristische Denken zum grundlegenden Prinzip der Bestandsaufnahme des Wissens gemacht, wie sie von Diderots und D'Alemberts Encyclopedic vorgelegt wurde, welche das Ungenügen an einer praxisfernen Theorie artikuliert. Aber auch der Humanismus, der im Rückgriff auf die griechische und römische Antike die «studia humanitatis» vorantreiben wollte, sah eine zentrale Aufgabe darin, Wissen und Handeln miteinander zu verbinden.107 Das ist der Hintergrund für Lerys Bemühen, seiner Katalogisierung des Wissens Nützlichkeitsüberlegungen zugrunde zu legen, die das Wissen dem Handeln dienstbar machen können. Die Einsicht in die Bedeutung des Handelns für den Wissenszuwachs macht Lerys polemische Angriffe gegen die «messieurs les delicats» plausibel.108 Nützliches Wissen mußte jedoch nicht nur gesucht, sondern auch gesammelt, kommentiert und auf Fehler hin überprüft werden. So ist das humanistische Zeitalter der Entdeckungen nicht nur von vielfältigen Funden auf dem Gebiet antiker Manuskripte bestimmt;109 auch das in Reiseberichten gesammelte empirische Wissen über die Neue Welt, das meist ebenfalls anderen Berichten bestätigend oder korrigierend gegenübergestellt wurde, leitete das neue Zeitalter ein. Lorys Orientierung an Nützlichkeit und Aktivität, wie sie sich in der Histoire d'un voyage widerspiegelt, wurzelt aber mehr als im Humanismus in seinem calvinistischen Glauben. Lery legt sowohl bei der eigenen Lebensführung als auch bei der Betrachtung der Neuen Welt die Kriterien von Leistung und Nutzen als Urteilsprinzipien zugrunde. Wenn auch die in der Histoire d'un voyage feststellbare dualistische Differenzierung der Beschreibung von Flora und Fauna Brasiliens nach den Kriterien von «nützlich» und «nicht nützlich» sich allgemein durch die schlechte Versorgungslage auf Fort Coligny erklären ließe, die die Untersuchung der unbekannten Pflanzen und Tiere auf ihre Genießbarkeit erforderte,110 so sind das Nützlichkeitsdenken und 105

Cf. ibid., pp. 174 sqq. Allerdings deutet sich in dem Gespräch zwischen Indianer und «Ich»-Erzähler auch eine kritische Einstellung zu den von materiellen Interessen geleiteten Europäern an (pp. 176 sq.). 106 ££ Rey. Encyclopedies et dictionnaires, p. 22. 107 Margolin: L'humanisme en Europe au temps de la Renaissance, p. 9. Cf. auch Stagl: «Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert», p. 146. 108 LAry: Histoire d'un voyage, p. 33. 109 Cf. Margolin: L'humanisme en Europe au temps de la Renaissance, pp. 21-29. 110 Wie schlecht die Versorgungslage in Fort Coligny ist, macht neben Villegagnons Brief an Calvin (Le~ry: Histoire d'un voyage, PreTace [pp. 8 sqq.]) auch Lerys Beschreibung der Situation auf der Insel in der Bucht von Guanabara deutlich, die alles andere als paradiesisch ist (ibid., p. 56). Selbst für die kärglichste Ernährung («farine faite de racines; du poissonboucane [...], d'autres meines cuictes aux cendres [...] et pour breuuage [...] de l'eau d'vne cysterne [...], laquelle estoit 156

die Praxisorientierung Lerys doch tiefer verwurzelt. Sie sind als Ausdruck eines calvinistischen Ethos zu verstehen: Toutesfois tant pour le grand de"sir que nous auions que ce bastiment & retraite, qu'il [Villegagnon — A. E.] disoit vouloir faire aux fideles en ce pays-la, se paracheuast, que parce que maistre Pierre Richier nostre plus ancien Ministre, ä fin de nous accourager dauantage, disoit que nous auions trouud vn second sainct Paul en Villegagnon [...] il n'y eut celuy de nous qui, par maniere de dire, outre ses forces ne s'employast allegrement l'espace d'enuiron vn mois, ä faire ce mestier, lequel neantmoins nous n'auions pas accoustume*.'1'

Arbeit und Leistung spielen für die Neuankömmlinge aus Genf eine zentrale Rolle angesichts einer calvinistischen Ethik und ihres «Militärischen Charakters».112 Aus ihr übernehmen sie die Auffassung, daß «soziale Arbeit des Calvinisten in der Welt [...] lediglich Arbeit 'in majorem gloriam Def» sei.113 Da der Erfolg von Arbeit und Pflichterfüllung als ein Medium der religiösen Selbstvergewisserung und als ein Zeichen für den Gnadenstand gelten, unterwerfen sich die Calvinisten ohne ernsthaften Widerspruch dem strengen Reglement Villegagnons. Nur zu Beginn kommentiert Lery den Arbeitszwang mit einem ironischen Tonfall: Finalement nostre demier mets fut, que pour nous rafraischir du trauail de la mer, au partir de la, on nous mena tous porter des pierres & de la terre en ce fort de Coligni qu'on continuoit de bastir. C'est le bon traitement que Villegagnon nous fit dos le beau premier iour, ä nostre arriuee [...].1 ^

Solange Villegagnon jedoch eindeutiger Anhänger des Calvinismus ist, respektiert Lery ihn als vorbildlichen Vertreter der reformierten Religion und folgt widerspruchslos seinen Anordnungen: Sur quoy ie puis dire que Villegagnon ne s'est peu iustement plaindre, que tant qu'il fit profession de l'Euangile en ce pays-la, il ne tirast de nous tout le seruice qu'il voulut.1' ^

Für Villegagnon stehen bei der Koloniegründung Arbeit und Leistung im Vordergrund. Hatte Villegagnon bei den ersten Kolonisten die Zügel schleifen lassen, so daß bald «oisiuete» statt Arbeit vorherrschte,116 so sollten die Neuankömmlinge, Handwerker wie Pastoren, einen «trauail continue!» verrichten.11^ Zusätzlich erhofft sich Villegagnon, aufgrund der Insellage, die neuen Kolonisten «en son deuoir» zu hal-

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aussi verte, orde & sale qu'est vn vieil fosse* couuert de grenouilles» [p. 56]) muß hart gearbeitet werden. Cf. auch die knappe, aber treffende Schilderung Le"vi-Strauss' Über die schlechten Lebensbedingungen der Kolonisten auf der Insel: «Isolos sur un continent aussi inconnu qu'une autre planfete, completement ignorants de la nature et des hommes, incapables de cultiver la terre pour assurer leur subsistance, dependant pour tous leurs besoins d'une population incomprdhensible qui les a d'ailleurs pris en haine, assaillis par les maladies.» (Le"vi-Strauss: Tristes tropiques, pp. 91 sq.) Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 58. Weber: «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus», p. 127. Ibid., p. 126. Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 57. Auch in seiner Funktion als Vater wird Villegagnon von Le"ry ironisch in Frage gestellt: «il sembioit bien nous trailer vn peu plus rudement que le deuoir d'vn bon pere (tel qu'il auoit dit ä nostre arriuee nous vouloir estre)» (ibid. p. 58). Cf. ibid. Einer der reformierten Ankömmlinge vergleicht Villegagnon mit dem heiligen Paulus, und auch Leiy bestätigt die Autorität Villegagnons in religiösen Angelegenheiten: «comme de faict, ie n'ouy iamais hotnme mieux parier de la Religion & reformation Chrestienne qu'il faisoit lors» (ibid.). Ibid., PreTace [p. 10]. Ibid., p. 11.

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ten.118 Arbeit dient Villegagnon nicht nur dazu, das Fort möglichst schnell zu errichten, sondern sie gilt ihm darüber hinaus als ein Instrument der Disziplinierung: Et par ainsi ne les espargnant point, mais moy-mesme present les faisant trauailler, non seulement nous auons bouschö le chemin ä leurs mauuais desseins, mais aussi en peu de temps auons bien muni & fortifio nostre isle tout ä l'entour.1 19

Neben der Arbeit soll auch das von Villegagnon den Kolonisten auferlegte tägliche Gebet von Lastern abhalten.120 Verstöße gegen Befehle und Anordnungen Villegagnons werden nicht mit religiösen «Strafen» gesühnt; nur Kerker, Tod oder eben harte Arbeit erachtet Villegagnon als geeignete Disziplinierungsmaßnahmen.121 Zwei Zielsetzungen bestimmen Villegagnons Verhalten: sowohl die Befriedigung persönlichen Machtstrebens als auch die Verwirklichung christlich-calvinistischer Überzeugungen konnten durch Arbeit und Leistung erlangt werden.122 Daß dieser Aspekt der Nützlichkeit und der Arbeit für Lery eine so große Rolle spielte und zu einer Leitlinie der Darstellung werden konnte, ist angesichts dieser Voraussetzungen nicht überraschend.

3. Die Sprache als Ordnungsfaktor und die Universalität des «Vergleichs» Neben die verschiedenen wissenschaftlichen, klassifikatorischen und ideologischen Ordnungs- und Wertungsprinzipien, mit denen Lorys Histoire d'un voyage sich der fremden Wirklichkeit nähert, tritt die Sprache als eine eigene ordnungsstiftende Komponente, in der sich Strukturierungsprinzipien manifestieren. Le"rys Anstrengungen, der Vielfalt der Neuen Welt sprachlich zu entsprechen, können als Versuch des «imposer un ordre ä la matiere foisonnante» charakterisiert werden.123 Diese Tendenz zeichnet sich nach Morisot besonders seit der Edition von 1580 ab: Ce souci de Her s' affirme plus encore en 1580: aux dimensions du chapitre et de la phrase, Le"ry accumule partout les «charnieres», pour rosumer, annoncer, coordonner, «e"piloguer».124

Besonders deutlich treten solche Ordnungsbemühungen in den «enzyklopädisch» orientierten Kapiteln auf. Hier finden sich Strukturierungsbemühungen nicht nur innerhalb der einzelnen Kapitel, sondern auch in den «enzyklopädischen» Beschreibungen, und sie setzen sich bis hinunter zur Satzebene fort.125 Das entscheidende 118 119 120 121 122 123 124 125

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Ibid., Preface [p. 11]. Ibid., Proface [p. 12]. Cf. ibid.,PreTace, [pp. 12 sq.]. Cf. ibid., Priface, [pp. 11 sq.]. Cf. Lovi-Strauss: Tristes tropiques, p. 89. Morisot: «Introduction», p. XVI. Ibid., p. XVI. Lory verknüpft die einzelnen Kapitel vor allem durch Vor- und Rückverweise von schon Erwähntem bzw. noch zu Erwähnendem (Le"ry: Histoire d'un voyage, etwa p. 178, p. 179, p. 180) oder durch vielfältige Unterteilungen der reichen Materie in «premierement», «secondement» usw. Auch innerhalb seiner «enzyklopädischen» Beschreibung, so zum Beispiel bei den Papageien, von denen es «quatre sortes» gibt, untergliedert er weiter nach «seconde espece», «troisiesme sorte». Als ordnungsstiftende Merkmale auf der Satzebene cf. etwa die häufigen Verweise, die verdeutlichenden, verstärkenden, verweisenden oder verknüpfenden Charakter besitzen: c'est-ä-

Strukturierungsproblem, dem sich Lory gegenübersieht, ist die Vermittlung der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit der fremden Welt. Zur Bewältigung dieses Problems setzt er eine Reihe von unscheinbaren, aber durchaus wirksamen Darstellungsverfahren ein. Er erleichtert dem Leser die Orientierung in der Vielfalt durch Vorund Rückverweise, die über einzelne Kapitel hinausgehen, und durch nochmaliges Resümieren des bereits detailliert Aufgelisteten: AVANT discount ci-dessus tat des animaux ä quatre pieds que des oyseaux, poissons, reptiles & choses ayans vie, mouuement & sentimet, qui se voyent en I'Amerique: auant encores que parier de la religion, guerre, police & autres manieres de faire qui restent a dire de nos sauuages, ie poursuyuray ä descrire les arbres, herbes, plantes, fruicts, racines, & en somme ce qu'on dit communiment auoir ame vegetatiue, qui se trouuent aussi en ce pays-la.12i>

Falls der Erfahrungsdruck zu groß wird, wie zum Beispiel angesichts der Mannigfaltigkeit exotischer Vögel oder der «infinite» von Fischen, so gelingt Lery die Strukturierung des Stoffs auch durch die Reduktion der reichen Materie auf wenige Beispiele. Ein oder zwei Exemplare repräsentieren dann die gesamte Art.127 Das von L6ry am häufigsten eingesetzte sprachliche Mittel, das Bewältigung der neuen Wirklichkeit durch Ordnung und Klassifikation verspricht, ist der «Vergleich».128 Als Bezugspunkt dient Lory fast ausschließlich der eigenkulturelle Erfahrungshintergrund. Das «Neue» erfordert zu seiner Klassifikation prinzipiell die Zuordnung zu einem «Gemeinsamen» oder «Ahnlichen», das im Falle Lorys entweder im Vergleich mit einem inzwischen «Bekanntgewordenen» der Neuen Welt oder mit einem längst «Bekannten» der Alten Welt gewonnen wird. Lerys durchgängiger und nahezu ausschließlicher Rückgriff auf Pflanzen und Tiere Europas, die er zu den noch fremden brasilianischen in Beziehung setzt, ist in erster Linie durch den auf Europa beschränkten Erfahrungshorizont der Leser vorgegeben,129 zum anderen wohl aber auch Ausdruck eines noch unzureichenden Wissens über den schlecht erforschten Kontinent. Verschiedene Vergleichspartikel wie «comme», «semblable» oder «ressemblant», die durchgängig den Bezug zwischen der brasilianischen und der europäischen Erfahrungswelt herstellen, zeugen von der Schwierigkeit, eine direkte sprachliche Umsetzung zu finden. Dabei ist Lerys Vorgehen von dem steten Bemühen gekennzeichnet, möglichst detailliert die verschiedenen Merkmale der brasilianischen Pflanzen und Tiere mit den europäischen in Relation zu setzen. '30 so wird ein Tier namens Tapiroussou durch seine «grandeur, grosseur & forme d'vne vache» charakterisiert; femer ist es aufgrund bestimmter äußerer Merkmale - «portant point dire, (ibid., p. 184) et de fait, (p. 183, p. 188) vrai est, (p. 189) comme j'ai dit, (p. 190, p. 191) comme usw. 126 Ibid., p. 173. Cf. Vor- und Rückverweise bzw. «Resümees» etwa p. 133, p. 154, p. 164, p. 173. 127 Cf. ibid., p. 156, p. 166. 128 Zur Geschichte des «Vergleichs» als einem geographischen Darstellungsverfahren cf. Beck: «1st Vergleichen sinnvoll?», pp. 17 sq. 129 Le"ry kennt und artikuliert den eurozentrischen Wahmehmungshorizont des Lesers: «Bien est vray que VYri porte vn fruict rond cöme prunelles serrees & arrengees ensemble, ainsi que vous diriez vn bien gras raisin» (Le"ry: ffistoire d'un voyage, p. 179). Auch ohne daß das «vous» naher spezifiziert wird, ist deutlich, daß damit der Leser gemeint ist. 130 pQj. und «Sprachvermittler» betrachtete, wird schon in der scharfen Auseinandersetzung mit Thevet deutlich, den er aufgrund seiner Aussagen über die Tupinamba-Sprache mehrmals kritisiert.181 Von den wissenschaftlichen Ambitionen Lerys182 zeugen dabei die «introduction au langage tupi»183 ebenso wie die enzyklopädischen Komponenten, die das «Colloque» als kulturhistorisch-ethnographisches Dokument ausweisen. Gerade durch diese Ver17

^ Ibid., Priface [p. 28]. Cf. weitere Aussagen über die Vielfalt von Pflanzen und Tieren in der Neuen Welt, die sich grundsätzlich von den europäischen unterscheiden; (ibid., p. 147, p. 166, p. 193, p. 194) davon ausgenommmen sind allein «ces trois herbes: assauoir du pourpier, du basilic, & de la feugiere, qui viennent en quelques endroits, ie n'y ay veu arbres, herbes, ny fruicts qui ne differassent des nostres.» (Ibid., pp. 193 sq.) 177 Cf. Berg: «'Wie ich in der tyrannischen Völcker Gewalt kommen bin1», p. 183. Ein ähnliches Wörterverzeichnis «franco-tupi» soll bereits 1540 in dem Handbuch eines Händlers aus Rouen integriert gewesen sein (cf. Mollat du Jourdin: «L'altorito, döcouverte des dicouvertes», p. 313). Zu der Schwierigkeit, Wörterverzeichnisse zu erstellen, die tatsächlich etwas zum Fremdverständis beitragen konnten, cf. Bitterli: «Entdecken, Erobern, Verstehen», p. 112. 178 Ldry: Histoire d'un voyage, p. 306. 179 «Dictionnaire» nicht im engen Sinn als Übersetzung einzelner Wörter von einer Ausgangs- in die Zielsprache verstanden, sondern auch als Übersetzung einzelner oder mehrerer Sätze. 180 Auch Blanchard verweist auf die im «Colloque» gegebenen «regies qui president a l'e"laboration d'un nouveau langage et qui associent les participants au proces de döcouverte» (Blanchard: Trois portraits de Montaigne, p. 129). 181 Cf. L6ry: Histoire d'un voyage, Preface [p. 20]. 182 Morisot sieht in dem «Colloque»- dessen Urheberschaft durch Lory er allerdings in Frage stellt«une obauche de savoir 'linguistique'» (Morisot: «Introduction», p. X). 183 Ibid., p. XV. 168

quickung von «dictionnaire» und «encyclopedic» wird das während des Aufenthalts gewonnene Wissen geordnet und strukturiert. Daß Lery sein «Colloque» nicht nur als Sprachführer, sondern auch als ein kulturhistorisches und ethnographisches Dokument verstand, zeigt die Leseranrede, mit der er das «Colloque» ankündigt: puis que i'ay poursuyui les sauuages iusques a la fosse, ie mettray ici fin ä discourir de leur maniere de faire: toutesfois les lecteurs en pourront encore voir quelque chose au colloque suyuant, qui fiit fait au temps que i'estois en l'Amerique, ä l'aide d'vn truchement.18^

Als Sprachführer für die Tupinamba-Sprache deutet das «Colloque» auf Lerys Bemühen hin, inhaltlich wie formal eine empirische Orientierung der Wirklichkeitsbeschreibung abzulösen und zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung überzugehen.185 Lory gelangt zu einer recht detaillierten Abgrenzung der einzelnen Indianersprachen; anhand der Kriterien «Sprechweise» und «Lebensweise» nimmt er eine Einteilung der Stämme vor: les Toüoupinambaoults Toupinenquin, Touaiaire, Tenreminon & Kario, parlüt vn mesme langage, ou pour le moins y a peu de difference entr'eux, tat de facon de faire qu'autrement.18^

Dagegen unterscheiden sich die Stämme der Karaia, Ouetaca und Oueanen von den genannten in Sprache und Lebensart.187 Lery muß sein «Colloque» bestimmten Kriterien unterwerfen, die es von einer bloßen Übersetzung einzelner Wörter grundsätzlich unterscheiden, da er späteren Brasilienreisenden gleichermaßen ein sprachliches wie kulturelles Nachschlagewerk vorlegen will. Er überliefert seine aufgrund eigener Erfahrungen gewonnenen Kenntnisse nicht durch einfache Wortgleichungen zwischen «francais» und «tupi». Mit Hilfe eines truchement, der durch seinen siebenjährigen Aufenthalt in Brasilien über entsprechende Kenntnisse beider Sprachen verfügt,188 kontrastiert er vielmehr sprachlich und inhaltlich äußerst komplexe Aussagen der beiden Gesprächspartner Tupinamba-Indianer und Franzose. Lerys modern anmutender Umgang mit Sprache zeigt sich in seiner Einsicht in die Unzulänglichkeit reiner Übersetzungen auf der Wort- und Satzebene, insbesondere aber in seiner Sprachreflexion, die bereits den Anforderungen eines modernen «dictionnaire» genügt: En effet, pour docrire le fonctionnement des unitos de la langue dans I'usage social [...], le dictionnaire ne peut se contenter de maltriser les relations de ces unites-signes entre elles, leur syntaxe. H lui faut renseigner son lecteur non seulement sur leur nature formelle [...] et sur leur comportement forme! au niveau du syntagme [...], mais aussi et surtout sur leur nature et sur leur comportement semantiques.'8^

18/

* Löry: Histoire d'un voyage, p. 306. Lery spricht nur dann bisweilen von einer «langue Bresilienne», (p. 331) wenn es ihm um die allgemeine Charakterisierung der Tupi-Sprache oder um ihr verwandte Sprachen geht in Abgrenzung zum Französischen. 186 Ibid., p. 318. 187 Cf. ibid., pp. 318 sq. 188 Lerys truchement verfügt neben indianischen Sprachkenntnissen auch über Kenntnisse des Griechischen, die ihn feststellen lassen, daß die Sprache der Tupinamba auch Elemente des Griechischen enthalten soll (p. 306). Im «Colloque» selbst verweist L£ry auf den Dual in der Sprache der Tupinamba, «dont les Grecs vsent quand ils parlent de deux.» (p. 319). 18 " Rey: Encyclopedies et dictionnaires, p. 42. 185

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Lory erfüllt zumindest ansatzweise die Anforderungen eines modernen «dictionnaire», die sich von der reinen Sprachbeschreibung bis in die Pragmatik und Semantik erstrecken. Die Art der Darstellung des «Colloque» zeigt, daß Lory bereits die Notwendigkeit erkannt hat, Aufschluß über die «formale Natur» von Einheiten einer Sprache, die in einem völlig anderen sozialen Umfeld als die eigene steht, zu geben. So gibt das «Colloque» den Franzosen Aussprache- und Rechtschreibregeln von Wörtern der Tupi-Sprache an die Hand. Lory erweitert die Übersetzung der Begriffe Mocap oder Mororocap um folgende Bemerkung: «II semble aucunefois qu'ils prononcent Bocap par B. & seroit bon en escriuant ce mot d'entremesler M.B. ensemble qui pourroit.»190 Auch dem «comportement formel au niveau du syntagme»191 wird Lery gerecht. Beispiele und Wortreihen verdeutlichen den Gebrauch der Wörter im Satz, ihre Verbindung mit anderen Wörtern oder ihre funktionellen Möglichkeiten;192 Wortzusammensetzungen werden auf ihre Basismorpheme und deren jeweilige Bedeutung zurückgeführt.193 Er führt Deklinationsmuster unterschiedlicher Pronomen oder Konjugationsreihen von Verben vor und gibt explizite, mit Beispielen versehene Regeln für deren Gebrauch.194 Darüber hinaus reflektiert er über den Begriff «verbe» und führt anschließend einige Beispiele an mit dem Ziel «pour en auoir quelque intelligece».195 Wie differenziert er bei der indianischen Sprachbeschreibung und -darstellung vorgeht, läßt sich besonders an seiner detaillierten Darlegung der Bildung von Verbformen erkennen. Über eine komplette Auflistung der verbalen Kategorien Tempus, Genus, Modus, Person, Numerus hinaus beschreibt er die verschiedenen Ausprägungen jeder dieser Kategorien.196 Die Unterteilung des Tempus in Präsens, Präteritum, Futur, Perfekt und Plusquamperfekt oder des Modus in Indikativ, Konjunktiv und Imperativ zeigt seine Fähigkeit zur analytische Durchdringung der Sprache.197 Gera19

^ LeYy: Histoire d'tm voyage, p. 309; cf. ferner p. 322. Auch bei der Konjugation des Verbs Aioüt nennt Ldry die klanglichen Auswirkungen, die das Wort bei einem Franzosen hervorrufen kann: «Neantmoins qu'il sonne en nostre langue Francois double, c'est qu'il sonne comme passe"», p. 334. 191 Rey: Encyclopedies et dictionnaires, p. 42. 192 So stellt L6ry neben das Simplex «Kaa, C'est toute sorte de bois & forests» die Zusammensetzungen «Kaapaon, C'est vn bois au milieu d'vne campagne. Kaa-onan, Qui est nourri par les bois. Kaa-gerre, C'est vn esprit malin, qui ne leur fait que nuire en leurs affaires», (L&ryiHistoire d'un voyage, p. 323) die trotz unterschiedlicher Bedeutung und Verwendung fast durchgängig eine enge semantisch Beziehung zum Grundwort aurweisen. 19 ^ Cf. etwa «Ourapat, vn arc. Et neantmoins que ce soit vn nom composo de ybouyrah qui signifie bois, & apat crochu, ou partie: toutesfois ils prononcSt Orapat par syncope» (ibid., p. 322). 194 Bevor Le"ry die Deklination der Possessivpronomen (die er anhand von Körperteilen exemplifiziert) vorführt, verweist er explizit auf deren Gebrauch: « Che, C'est la premiere personne du singulier qui sert en toute maniere de parier, tant primitiue que deriuatiue, possessiue, ou autrement»; (ibid., p. 327) cf. zum Gebrauch von Pronomen auch p. 328. Bezüglich der Personalpronomen differenziert die Sprache der Tupinamba bei der 3. Person Singular nach männlich und weiblich (p. 329). 195 Ibid., p. 331. 196 Cf. ibid., pp. 331-336. L&y erweitert dieses Kategoriensystem der finiten Formen um die infiniten Formen (etwa Infinitiv und Partizip), wobei er auch hier Bildung und Funktion, ja sogar die Häufigkeit des Gebrauchs nennt (p. 334). 197 Auch über das Modalfeld gibt Lory relativ detaillierte Auskünfte. So verweist er etwa darauf, daß man in der Tupi-Sprache in der 3. Person befehlen könne (ibid., p. 335) oder er gibt Beispiele für den Gebrauch des Optativs (p. 336). 170

de die Untersuchung dieses Aspekts der Tupinamba-Sprache ist besonders bemerkenswert, als LeYy bei der Gliederung des Tempussystems sogar sprachliche Feinheiten wie die unterschiedlichen Grade der Abgeschlossenheit der Zeitstufen der Vergangenheit thematisiert und reflektiert.198 Das Hauptinteresse LeYys gilt aber der Sprachverwendung in bestimmten Situationen; er wendet sich damit Problemen zu, die in den Bereich der Semantik und Pragmatik fallen. Lery thematisiert das Problem der Kontextgebundenheit eines Wortes zunächst innerhalb der Tupi-Sprache: Wird das Wort yporraca normalerweise im Kontext des Fischfangs verwendet, so kann es auch «en toute autre Industrie de prendre beste & oyseaux» stehen.199 Das «Colloque» thematisiert auch die Frage der Bedeutungsgleichheit von Wörtern einer Sprache, ein Problem, das in der heutigen Sprachwissenschaft einen zentralen Stellenwert einnimmt und schon Lory zu sprachwissenschaftlichen Überlegungen animiert: Les sons escrits, eiot. & pe-iot, ont semblable sens, mais le premier eiot, est plus honneste ä dire entre les hommes, d'autant que le demier Pe-iot, est communoment pour appeller les bestes & oyseaux qu'ils nourrissent. ^00

Die Situierung eines Wortes in seinem jeweiligen Kontext bereitet bei der Übersetzung Probleme, da kaum jemals Bedeutungsgleichheit erzielt werden kann. Lery illustriert die Unzulänglichkeit von Übersetzungen an dem Wort Mahmo, bei dem, im Gegensatz zum französischen beaucoup, ein Gefühlswert mitschwingt: «Mahmo. Beaucoup. Ce mot empörte plus que beaucoup, car ils le prennent pour chose esmerueillable.»201 Auch Interjektionen der Indianer wie He, deren Bedeutung erst durch die eindeutige Zuordnung zu bestimmten Situationen erschlossen werden kann, werden von Lery angesprochen: \ C'est vne interjection qu'ils ont accoustumö de faire quand ils pensent a ce que'on leur dit, voulans repliquer volontiere. Neantmoins se taisent ä fin qu'ils ne soyent veus irnportuns.2^2

Die größten Übersetzungsschwierigkeiten liegen für einen Reisenden in eine fremde Kultur jedoch in der Regel darin, daß die eigene und die fremde kulturelle Wirklichkeit kaum miteinander vergleichbar sind. Diese Problematik erfordert vom «Sprachforscher» einen vorsichtigen Umgang mit Übersetzungen und, falls notwendig, zusätzlich erklärende Kommentare. Besonders schwierig ist die Übersetzung von Verwandtschaftsbezeichnungen; (331) und auch die Übertragung eines so einfachen Wortes wie «ville» ist problematisch, da die Indianer nur in Dorfgemeinschaften leben. (324) Die zahlreichen und vielfältigen Aussagen im «Colloque» über die indianische Kultur stehen nicht ungeordnet nebeneinander. Vielmehr folgt der Dialog einem 198

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200 201 202

Cf. ibid., p. 332. So differenziert Lory eine «temps passo imparfaict & non du tout accompli. Car on peut estre encores ce qu'on estoit alors» von einer «temps parfaitement pass£ & du tout accompli», die mit der weiteren Erklärung «sans nulle esperance d'estre plus en la maniere que estoit en ce temps-la» versehen wird. Die verschiedenen Aspekte (unvollendet, vollendet) werden dabei mit Hilfe von Adverben gebildet (zum Beispiel: aquodmfe = en ce temps-la, ibid., p. 332). Ibid., p. 319. Bedeutet das Wortcarowc normalerweise «le vespre ou le soir», so bedeutet es in dem Kontext Che-caroue-assi «le suis triste» (ibid., p. 330). Ibid., pp. 335 sq. Ibid., p. 326. Ibid., pp. 309 sq. 171

Raster, in das Gegenstände, Sachverhalte imd Vorstellungen der fremden Kultur nach Sachgruppen eingeordnet sind. Zum Teil liegen auch noch weitere Untergruppierungen vor. Handelsgegenstände werden nicht nur allgemein thematisiert, sondern Lery listet detailliert die verschiedenen Arten mit ihren Unterschieden auf.203 Weitere katalogartig erfaßte Themen sind die fremde Tier- und Pflanzenwelt, die Gesellschaftsstruktur, Charakterisierungen der Feinde der Tupinamba, Sprachunterschiede zwischen den einzelnen Stämmen, Wertvorstellungen, Wohnweise, Haushaltsgeräte u.a. Die Gliederung nach Sachgruppen ebenso wie deren inhaltliche Darstellung und Erläuterung belegt die enzyklopädische Ausrichtung des «Colloque», das auf eine möglichst vollständige Beschreibung der indianischen Kultur angelegt ist. Die Frage, wieviele Kisten die Franzosen den Indianern mitgebracht hätten, wird nicht mit einer einzelnen Zahl beantwortet; Lery nimmt vielmehr die Frage zum Anlaß, detailliert Art und Gebrauch des - allerdings sehr beschränkten - Zahlensystems der indianischen Kultur zu beschreiben. Auch die ausführliche Aufzählung der unterschiedlichen Verwandtschaftsgrade bei den Indianern und die zusätzlichen Erläuterungen Lerys entspringen einem Vollständigkeitsstreben.204 Die Katalogisierung von Information und der Anspruch auf vollständige Beschreibung der fremden Kultur fuhren zu einer Systematisierung des empirisch gewonnenen Wissen Lerys. Dieses Vollständigkeitsstreben hat nicht nur und vielleicht nicht einmal primär wissenschaftliche Intentionen zur Grundlage; Lorys Absicht ist es auch, die Missionierung der Indianer zu erleichtern. Eine vollständige Auflistung und Übersetzung aller lebensnotwendigen Informationen,205 die von Lery und den übrigen Genfem in Kontakt mit den Indianern ebenso wie durch Informationen seitens der truchements mühsam und über einen langen Zeitraum hinweg in Erfahrung gebracht und gesammelt worden waren, konnte neuen Missionaren große Dienste erweisen. Dieser Transfer von gesammeltem und äußerst komprimiertem Wissen206 lieferte den Neuankömmlingen, also insbesondere den Missionaren, eine Basis an fremdkulturellem Wissen. Auch die Situierung des «Colloque» im Kontext der Histoire d'un voyage sowie Lerys Auswahl der vermittelten Informationen ist durch diese Absicht bestimmt. Mit der Fixierung von Verhaltensregeln will das «Colloque» die französischen Neuan203 204

205

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Cf. zu Lorys detaillierter Darstellung von Waffen p. 309, Stichwort «Mocap, ou Mororocap». Lirys Bedürfnis nach möglichst großer Detailgenauigkeit und Vollständigkeit zeigt sich auf nahezu allen Gebieten der indianischen Kultur: bei der Auflistung von Farbbezeichnungen (p. 308) oder von Körperteilen, (ibid., pp. 327 sq.) im Bereich des Essens und der Eßgewohnheiten, (pp. 329 sq.) bei der Beschreibung von Haushaltsgegenständen (p. 329), Gefühlsbewegungen, (p. 330) Rangordnungen, (p. 330) Wohnen (p. 314). Die Informationen des «Colloque», die den neuankommenden Missionaren über die fremde Kultur gegeben werden sollen, betreffen dabei nicht etwa Aussagen Über die indianische Religion, sondern sie sind rein pragmatisch orientiert; sie beziehen sich auf das zum Überleben notwendige Wissen Über Emährungsmöglichkeiten, (ibid., p. 312, pp. 313 sq.) Art und Weise des Handelns, Stammesfeindschaften u.a.). Während in der Histoire d'un voyage der indianischen Religion als einem Kulturphänomen unter anderem ein ganzes Kapitel gewidmet wird, zielt das «Colloque» darauf ab, den Missionaren die Voraussetzungen der Missionierung zu schaffen. Le"ry verweist sowohl direkt (ibid., p. 328: «Et pour cause de briefuete" ie n'en feray autre diffinition») als indirekt (p. 312: das Tier Tapiroussou wird hier nur noch als «demi asne & demi vache» ohne weitere Ausführungen charakterisiert) auf die Notwendigkeit, Wissen im «Colloque» möglichst komprimiert zu fassen.

kömmlinge auf den ersten Kontakt mit den «Wilden» vorbereiten, indem es nicht nur Sprachkenntnisse, sondern auch möglichst umfangreiche Informationen über die indianische Kultur vermittelt; so ist damit auch eine Grundlage für die Missionierung geschaffen, der das Hauptinteresse der calvinistischen Koloniegründer galt. Im Vergleich zur übrigen Histoire d'un voyage werden im «Colloque» diejenigen Themen und Bereiche intensiver dargestellt, die für die Kontaktaumahme mit den Indianern zentral sind. Das betrifft vor allem die wirtschaftliche Komponente des Kulturkontakts: In der Histoire d'un voyage selbst spielt der Handel zwischen Indianern und Franzosen quantitativ nur eine untergeordnete Rolle, im «Colloque» hingegen dient die detaillierte und umfangreiche Beschreibung von Tauschobjekten der Vermittlung von Kenntnissen, die die Kontaktaumahme und die Gewinnung von Vertrauen erleichtern.207 Lery kennt auch subtilere Formen der Informationsvermittlung, die den potentiellen Missionar auf die spezifische Variante des Kulturkontakts vorbereiten sollen: Lery legt in dem Dialog dem Tupinamba Worte in den Mund, in denen dieser selbst auf seine inferiore Stellung gegenüber den Franzosen, die hier als «le monde» apostrophiert werden, hinweist: «C'est le monde qui nous est pour nostre bien. C'est, qui nous donne de ses biens.»208 Mit der Wiedergabe von solchen - authentischen oder erfundenen - verbalen Unterlegenheitsgesten bereitet Lory den potentiellen Missionar auf die Herrschafts- und Kommunikationsstrukturen in der Neuen Welt vor: In der von den Tupinamba geäußerten Auffassung ist eindeutig die Neue Welt als die unterlegene und empfangende, die Alte Welt als die überlegene und gebende fixiert. Diesem hierarchischen Verhältnis von «Dienen) und «Herrscher» entsprechend verhalten sich die Tupinamba auch tatsächlich, wenn Lerys Darstellung zutreffend ist. Da die Indianer die Ankunft der Fremden uneingeschränkt positiv sehen, orientieren sie sich in ihrem praktischen wie moralischen Verhalten an dem Wohlergehen der Franzosen. Die Tupinamba arbeiten für den Lebensunterhalt der Fremden - «Typoeraca apoaue. Travaillos pour prgdre de la proye pour eux»209 - oder sie stellen sich selbst unter die Forderung «Tyre comremoich-meien de-mae recoussaue. Ne traittons point mal ceux qui nous apportet de leurs biens.»210 Die Bekundungen der Über- und Unterordnung,211 die Lery hier den Indianern zuschreibt, stellen einen Widerspruch zu den Aussagen des Haupttextes dar, in denen die Indianer bisweilen nicht nur gleichberechtigt neben den Franzosen stehen, sondern sogar Vorbildfunktion haben. Das «Colloque» hingegen stellt negative Wertungen der Indianer in den Vordergrund. Der Vorwurf einer materialistischen Gesinnung spielt dabei eine besondere Rolle. Der Dialog zwischen Tupinamba und Franzosen handelt auf mehreren Seiten nahezu ausschließlich vom indianischen Interesse an den aus Frankreich mitgebrachten Wa207

Cf. ibid., pp. 307 sqq. Ibid., p. 319. 2 9 Ibid. 210 Ibid., p. 320. 211 Cf. zur sprachlichen Umsetzung von Über- und Unterordnung ibid., p. 330: «Che remiac-oussou. Mon esclave.»; «Chere miboye. Mon seruiteur». «Che roiac. Ceux qui sont moindre que moy, & qui sont pour me seruir.» Bitterli verweist darauf, daß europäische Begriffe oft weit davon entfernt waren, der Ethnic der Indianer gerecht zu werden: «Ein Beispiel sind die Termini der absolutistischen Gesellschaft wie 'König', 'Prinz', 'Vasall', die man häufig irreführend auf die indianischen Gesellschaftsstrukturen übertrug.» (Bitterli: «Entdecken, Erobern, Verstehen», p. 112.) 208

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ren. (306-312) Dabei wird der Indianer als die treibende Kraft dargestellt; er lenkt hartnäckig und ausdauernd das Gespräch auf die Handelsgegenstände und will diese auch sehen und besitzen. In Lerys Darstellung zeigen sich die Indianer beglückt über die von den Franzosen herbeigeschafften Gegenstände, die sie den eigenen, von den Vorfahren ererbten Gütern vorziehen. (320) Mit dieser Akzentuierung gibt Lory das Bild des selbstlosen und genügsamen Indianers preis. Seine hartnäckigen Wiederholungen bestimmter Themen, die häufig zu Übertreibungen führen, dienen der vollständigen Beschreibung möglicher indianischer Verhaltensweisen, ohne daß dabei auch die Richtigkeit der Aussagen oder auch nur ihre Kongruenz mit dem übrigen Text eine Rolle spielten. Diese Art der weitgehend negativ gezeichneten Indianerdarstellung ist eine Konsequenz aus der Funktion, die das «Colloque» als Handbuch für neuankommende Franzosen wahrnehmen soll. Lery will nicht die Möglichkeit einer Übernahme fremder Werte in die eigene Kultur diskutieren, sondern europäische Vorstellungen in der fremden Welt durchsetzen. Daß es Lery nicht darum geht, die fremde Kultur zu dokumentieren, sondern um eine möglichst komplette Auflistung von Verhaltensregeln, zeigt die offensichtliche Künstlichkeit des Dialogs, der sich auch keine Mühe gibt, Authentizität vorzutäuschen. Im Gegensatz zu einem echten Dialog gibt es keinen gleichgewichteten Wechsel von Frage und Antwort; vielmehr bietet jede Frage Anlaß, möglichst vollständig das für die Franzosen interessante Wissen aufzulisten.212 Auch die Verallgemeinerung einzelner Exempel, die aus ihrem Kontext gelöst werden, dient diesem Ziel.213 Der artifizielle Charakter des Dialogs wird noch verstärkt durch das ungeschickte Vertauschen der Positionen: So wäre es in einem echten Dialog nicht möglich, daß ein Tupi bald Vergleiche zu Tieren im eigenen Land zieht, bald solche zu Tieren in Frankreich, die er nicht kennen kann.214 Auch der an das «Colloque» angefügte «catalogue» von 22 Dörfern, die Lory selbst gesehen hat, hat ähnlich wie das «Colloque» selbst eine Ratgeberfunktion: Es handelt sich um Dörfer «ou i'ay esto et frequente familierement parmi les sauuages Ameriquains».215 Der Wert einer solchen Zusammenstellung für europäische Neuankömmlinge ist unmittelbar einsichtig; daß Lery sie direkt an das «Colloque» anfügt, läßt noch einmal deutlich werden, daß es ihm in diesem Teil seines Buches vor allem darum geht, eine Ratgeberrunktion wahrzunehmen. Mit seiner nüchternen Darstellung indianischer Sprache und Kultur dürfte das «Colloque» bei den zeitgenössischen Lesern nur auf geringes Interesse gestoßen sein. Denn das Publikum der Reiseliteratur war offensichtlich - wie vor allem die Illustrationen in den am Publikumsgeschmack orientierten Sammlungen von Reiseberichten vermuten lassen - stärker an den vom Exotisch-Fremden ausgehenden sinnlichen Reizen interessiert als an einer theoretischen Aufarbeitung der fremden Kultur: «on avail des bouches a tout avaler, et des oreilles ä tout endendre».216 Daß Lory in 212

213 214 215 216

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Als der Franzose als Gegenleistung für die mitgebrachte Ware Tiere zum Essen fordert, fragt der Indianer, ob er sie alle aufzählen solle, was er dann auch tut und damit in der Tat eine Art enzyklopädischen Abriß gibt (ibid., pp. 312 sq.). Cf. ibid., p. 309, p. 315. Cf. ibid., p. 313. Ibid., p. 337. Heulhard: Villegagnon, p. 96.

weiten Passagen seines Werkes darauf verzichtet, solche vordergründigen Leserinteressen zu befriedigen, zeigt wiederum, daß sich bei ihm eine neue Auffassung im Verständnis des Fremden ankündigt.

5. Formen der Darstellung fremder Kultur Mit seinen diversen Techniken der Darstellung der Neuen Welt und ihrer natürlichen wie sozialen Besonderheiten hat sich Lory ein Instrumentarium geschaffen, das in mancher Hinsicht schon sehr subtil wirkt. Es ist jedenfalls offensichtlich, daß Lery eine gewisse Vorstellung davon hat, welche Schwierigkeiten die Wahrnehmung und Darstellung des Fremden bereiten kann; ebenso deutlich ist aber auch, daß er zwar vielfältige, aber keine durchgängig überzeugenden Formen der Beschreibung gefunden hat. Sein Verfahren bleibt eklektisch; es zeugt damit mehr vom Problembewußtsein als von zukunftsweisenden Problemlösungen. Zu seinen kennzeichnenden Charakteristika gehört aber, daß Lery einerseits öfters, wenn auch meist nur beiläufig, über die Fragen der Fremdwahmehmung reflektiert, und daß er andererseits jene Techniken in den Vordergrund stellt, die auf eine Systematisierung des Wissens nach bestimmten, meist praktischen, Kriterien hinauslaufen. Lerys Antipode Thevet unterscheidet sich von diesen Darstellungstechniken fast diametral, ohne daß sich aber eindeutig entscheiden läßt, welcher von beiden Autoren angemessener oder auch nur zukunftsweisender die Wirklichkeit beschreibt. Beide sind abhängig von den Darstellungs- und Wahrnehmungsverfahren, die die Tradition und ihre Gegenwart bereitgestellt haben, aber beide wählen aus dem Angebot dieser Möglichkeiten ganz verschiedene Formen zur Beschreibung der Wirklichkeit aus. Bei Lery lassen sich deutliche Anzeichen einer Systematisierung der Wirklichkeitsdarstellung erkennen; in Thevets Darstellung der indianischen Kultur ist hingegen ein Verfahren festzustellen, das sich als «Informationskumulation» bezeichnen läßt. Dieses Verfahren wird noch in der neueren Forschung abwertend als «classement cumulatif» charakterisiert und - im Vergleich zu anderen Reisenden als rückständig qualifiziert.217 Thevets Berichte werden in der Tat immer ausfuhrlicher und detaillierter.218 Die Gründe dafür sind schwer zu erschließen, aber es lassen sich einige Vermutungen darüber anstellen. Daß in die Singularites nicht die gesamte Thevet zur Verfügung stehende Information über Amerika eingearbeitet wird, so daß dieses erste Werk das am wenigsten ausführliche ist, hängt zunächst sicher mit seiner Entstehungsgeschichte und dem Verfasserproblem zusammen. Die beträchtliche Mitarbeit des Hellenisten Mathurin Heret, den Lestringant den «redacteur principal des Singularitez» nennt,219 hatte auf jeden Fall weitreichende Auswirkungen: En consequence, la responsabilitö d1 Thevet apparait moindre dans cet ouvrage public" a la häte — le Cardinal de Sens semble avoir pousse* ä la roue pour de 15S7— que dans ses Cf. Blanchard: Trois portraits de Montaigne, p. 169. 8 So stellt die Cosmographie universelle eine Erweiterung der Singularites Thevets dar; (cf. Julien: Les voyages de dacowerte et les premiers etablissements, p. 373, Anm. 2) auch sonst lassen sich von Werk zu Werk Anreicherungen an Information feststellen, (cf. ibid., p. 373, Anm. 3) vor allem auf dem Gebiet der indianischen Religion (cf. ibid., p. 389, Anm. 2) und des Kannibalismus. 219 Lestringant: «La Conference de Saint-Malo (1552-1553)», p. 38. 21

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oeuvres ultirieures, dont l'elaboration sera beaucoup plus lente- une dizaine d'annoes pour la Cosmographie universelle et les Hommes illustres — et l'information plus ample et plus

Besonders deutlich läßt sich dieses Schema der Informationskumulation bei Thevets Beschreibung der anthropophagischen Riten beobachten, denen von den Singularites über die Cosmographie bis hin zu den Deux voyages immer mehr Raum gewährt wird. Wenn diese Detailhäufung und Ausführlichkeit auch mit der Zunahme an Information durch die truchements zusammenhängen mag, so steht doch der Versuch Thevets im Vordergrund, durch das Hinzufügen zusätzlicher Details die Schilderung zu vervollständigen und damit vielleicht auch einem sich verstärkenden europäischen Leserinteresse gerecht zu werden. Nicht nur das aus der Empirie, sondern auch das durch «Hörensagen» gewonnene Wissen dient der Erforschung der «secrets du monde» und ist insofern als ein Versuch der Wissensausweitung zu werten.22! Thevet beschreibt das Ritual der Anthropophagie nicht als globales Phänomen, sondern er differenziert ausführlich seine wesentlichen Konstituenten in ihrer Abfolge: Gefangennahme, Gefangenschaft, Vorbereitung vor der Exekution, die Hinrichtung selbst, das anschließende Festmahl, das selbst Details wie die Aufteilung bestimmter Körperteile an jeweils bestimmte Personen umfaßt.222 Obwohl diese Konstituenten bei Lery und Thevet oft bis ins Detail übereinstimmen223 - was sich durch den generellen Rückgriff auf die truchements erklären ließe -, so unterscheidet sich die Darstellung Thevets durch zusätzliche Informationen und noch größere Differenzierung.224 Ein Vergleich in einem Detail läßt das deutlich werden: Sowohl Lery wie Thevet widmen dem Verhalten der Indianer, die das Massaker ausführen, gleichermaßen breiten Raum. Lery beschränkt sich darauf, zu referieren, wie sich die Krieger nach dem Massaker zurückziehen, sich mit nichtentfernbarer schwarzer Farbe bemalen sowie Schnitte in ihren Körper vornehmen.22^ Thevet hingegen fügt dieser Information die als Reinigungs-Riten zu verstehenden Praktiken wie Fasten und Enthaltsamkeit hinzu: So die Angst der Krieger, nach dem ausgeführten Massaker den Boden zu berühren oder die Abstinenz von gesalzenen Speisen.226 Bei Lery völlig ausgespart 22

Ibid.

22

1 Cf. dazu Febvres Kommentar zu Rabelais' satirischer «alle~gorie de OuY-dire» (Febvre: Le Probleme de l'incroyance au 16e siede, p. 360). 222 Cf. zur Beschreibung über die an bestimmte Pesonen verteilten Körperteile Thevet: Cosmographie universelle, p. 203; Thevet: Les deux voyages, p. 281. 223 In den Beschreibungen von indianischen Bräuchen, die beide Autoren behandeln, finden sich nur wenige Abweichungen, wie etwa bei der Behandlung der Frage, ob der Verzehr von Gehirn erlaubt ist oder nicht (cf. ibid., p. 282; Lery: Histoire d'un voyage, pp. 220 sq.). 224 Cf. etwa Me"traux' Wertung über die zusätzliche Information in Les deux voyages: «il existe dans la version de Thevet [...] une Variante qui est loin d'e'tre nogligeable.» (M&raux: Religions et magies indiennes d'Amerique du Sud, p. 62, Anm. 1). Allein bei Staden und Thevet sollen sich «quelques pröcieux indices» finden, die darauf hinweisen, daß der Kannibalismus der Tupi eine Bedeutung bei den Begräbnisriten hatte (ibid., p. 70). Auch ethnographisch wird die Kannibalismus-Darstellung Thevets allgemein als wahrheitsgetreu anerkannt (cf. etwa Les Franqais en Amerique [...], Le Bresil et les Bresiliens, p. 284, Anm. 1). 225 Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 221. 226 Cf. Thevet: Les deux voyages, p. 282. Lussagnet verweist in diesem Zusammenhang auf weitere Reisende, die diese Reinigungs-Riten ebenfalls erwähnen und bestätigt damit die Richtigkeit der Aussagen Thevets (Les Francois en Amerique [...], Le Bresil et les Bresiliens, p. 282, Anm. 2). 176

werden weitere Details der Anthropophagie, auf die Thevet ausführlich eingeht: die unterschiedliche Behandlung der Gefangenen nach Geschlecht227 oder des bei den einzelnen Stämmen unterschiedlich vorherrschenden endogenen oder exogenen Kannibalismus.228 Die mit dem Kannibalismus verfolgten Ziele werden von Thevet ebenfalls weitaus deutlicher als bei Lery beschrieben. Nach Thevets Beschreibung dient der Kannibalismus nicht nur der Rache und gleichzeitig der Erneuerung von Rachegefühlen, die bereits in den Kindern durch bestimmte Rituale geweckt werden sollen.229 Thevet läßt vielmehr indirekt seine Einsicht in die sozialen Implikationen des Brauches erkennen: eine Heirat etwa wird erst erlaubt, wenn ein potentieller Werber einen Feind getötet hat; (134)230 ebenso darf sich eine Frau erst dann wieder verheiraten, wenn ihr erster Mann gerächt ist. (283) Ganz abwegig erscheint deshalb die von Hassinger aufgestellte Behauptung, Thevet habe, im Gegensatz zu Lery, nicht verstanden, «daß es sich bei dem Kannibalismus um ein rituelles Phänomen und nicht um eine Ernährungsweise handelt.»231 Thevets Streben nach Akkumulation von Wissen sowie sein Anspruch auf Autopsie werden durch hinzugefügte Illustrationen ergänzt und erweitert. Der detaillierten Schilderung der Vorbereitungen des Gefangenen für das Massaker auf einem öffentlichen Platz (199) folgt die entsprechende, mit dem Titel «Le prisonnier est tue en la place publique» versehene Illustration und der Vermerk: et leur [ennemis — A. E.] laisse-on les liens, qui sont assez forts, tenuz ä chacun bout par quelques forts Sauvages, ä la fa$on et maniere que pouvez veoir par ce present pourtrait et figure que je vous ay voulu representer au naturel, comme ayant veu faire plusieurs d'iceux massacres/32

Aber trotz der Genauigkeit und Ausführlichkeit seiner Informationen behält Thevet erklärtermaßen bei der Schilderung des Kannibalismus den Leser und seine Erwartungen im Auge, die er nicht enttäuschen will: Oultre je vous ay cy dessus mis la figure comme ils despiecent le corps occis et massari [sie!], et comme apres ils le rotissent, ä fin de contenter le Lecteur.233

In solchen Bemerkungen, die neben dem «docere» auch das «delectare» im Auge haben, zeichnet sich ein grundlegender Unterschied zu dem Protestanten Lery ab. Der Cf. dazu ferner Metraux: «The Tupinamba», p. 126 und Metraux: Religions et magies indiennes d'Amerique du Sud, p. 76. 227 Thevet verweist hier auf die Unterschiede zwischen Frauen und Männer hinsichtlich der Gefangenschaft; hingegen werden der Ritus des Tötens und der Kannibalismus geschlechtsunspezifisch durchgeführt (Thevet: Cosmographie universelle, p. 199). So differenziert Thevet in seinen Kannibalismus-Schilderungen zwischen dem endogenen Kannibalismus der Tapouys und dem exogenen der Tupi-Indianer (Thevet: Les deux voyages, p. 272). 229 Thevet wie Llry beschreiben an Kindern begangene Rituale, die der Stärkung des Muts dienen sollen (Thevet: Cosmographie universelle, p. 203, p. 207; L6ry:Histoire d'un voyage, p. 218): So werden etwa bei der Geburt den Jungen Pfeil und Bogen in die Wiege gelegt (Thevet: Cosmographie universelle, p. 50; Lory: Histoire d'un voyage, p. 266). 23 ^ Alle Seitenangaben im Text beziehen sich hier auf Thevet: Cosmographie universelle. 231 Hassinger: «Die Rezeption der Neuen Welt durch den französischen Späthumanismus», p. 104. 232 Thevet: Cosmographie universelle, pp. 199 + 201. 233 Ibid., p. 203. Dem «delectare» zuzuordnen ist auch die folgende Aussage Thevets, mit der er seine Kannibalismus-Beschreibung fortführt: «Cependant je poursuivray ce qui reste pour Pembellissement de mon oeuvre.» (Ibid., p. 72.) Cf. weitere Stellungnahmen Thevets, die den Unterhaltungswert der Texte für den Leser im Auge haben:Les deux voyages, p. 264. 177

Rückgriff auf die kannibalischen Bräuche dient Lory zur Illustration seines zentralen Anliegens, nämlich der Propagierung des calvinistischen wie der Verunglimpfung des katholischen Glaubens: IE pourrois encore amener quelques autres semblables exemples, touchant la cruaute" des sauuages enuers leurs ennemis, n'estoit qu'il me semble que ce que i'en ay dit est assez pour faire auoir horreur, & dresser ä chacun les cheueux en la teste. Neätmoins ä fin que ceux qui liront ces choses horribles, exercees ioumellement entre ces nations barbares de la terre du Bresil, pesent aussi vn peu de pres ä ce qui se fait par de9a parmi nous.2^4

Um dieses Ziel zu erreichen, greift Lory nahezu ausschließlich auf den Vergleich zwischen Indianern und Franzosen oder überhaupt Europäern zurück. Er vergleicht etwa die kannibalischen Bräuche der Indianer mit den noch grausameren Handlungsweisen der Katholiken, die an den Calvinisten während der Bartholomäusnacht begangen wurden, um so die französischen Katholiken zu brandmarken; die eigene Kultur tritt hier wieder ins Zentrum des Interesses und drängt die fremde Kultur in die Rolle eines bloßen argumentativen Hilfsmittels im Kampf der Konfessionen. Die deutlichen Unterschiede in der Darstellung der fremden Kultur zwischen Lory und Thevet beruhen jedoch nicht nur auf den unterschiedlichen Interessen der beiden Reisenden. Sie ergeben sich vor allem daraus, daß Thevet einer anderen Beobachtungskonzeption folgt als Lery. In der Forschung besteht ein einhelliges Urteil über die Zielsetzung Thevets, die dieser Konzeption zugrundeliegt: En pla(ant le mot «singularity» dans le litre de son ouvrage sur l'Amörique [...] Thevet, comme dit, annoncait clairement couleur: il ne faisait ni un re"cit «ä plat» de ce qu'il avait vu, ni une histoire avec ce que cela comporte d'orudition livresque, de critique des textes, d'analyse des scenes et des övinements ~5

Wenn auch dieses Herausstellen der «singularito» in der Forschung Allgemeingut geworden ist, so hat Lestringant als einziger Konsequenzen gezogen aus der zentralen Rolle, die diese Kategorie für die Einstellung Thevets gegenüber der fremden Kultur spielt: Les condemnations les plus violentes — ces «brutaux», ces «bestiaux» de sauvages — que l'on retrouve ä chaque page sont presque toujours neutralised ä la ligne d'apres par des ologes syme"triques et, semble-t-il, tout aussi sinceres ou dlsinvoltes. Thevet n'est sans doute pas exempt des prejuge"s politiques, religieux, ou mdme tout simplement racistes de ses contemporains — car le racisme, quoi qu'on en ait dit parfois, n'est pas un phonomene otranger au siecle des Grandes De"couvertes; mais comme il ne trie guere dans le corpus d'informations qu'il possede, l'on serait bien en peine de docouvrir chez lui de ces censures ou de ces silences qui affleurent, au sujet de la religion, par exemple, dans l'essai de Montaigne ou l 'Histoire de Le"ry .236

Lestringant beschränkt sich darauf, seine Einsichten in erster Linie theoretisch abzuhandeln. Nur das Thema des Kannibalismus wird breiter ausgeführt; zudem bezieht L6ry: Histoire d'un voyage, p. 228. 235 Baudry: «Un dossier Thevet», p. 49. Cf. etwa auch Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, pp. 165 sq.; Chinard: L'exotisme americain dans la litterature franqaise au XVF siecle, pp. 88 sq. Ce"ard: La nature et lesprodiges, pp. 283 sq. Lestringant: «Introduction [Singularity]», p. 27. Auch Julien stellt im Vorwort zurCosmographie universelle Thevets Unvoreingenommenheit gegenüber den indianischen Sitten fest, die zu ethnographisch wertvollen Resultaten fuhrt: «Ainsi nous a-t-il [Thevet - A. E.] procure* sur la civilisation des Tupi-Guarani un matoriel dont les ethnologues apprtcient la variote* et la valeur.» (Julien: «Introduction: Le cordelier Thevet», p. VIII.) Die detaillierte Schilderung indianischer Kulturen beruht jedoch auschließlich auf Informationen von truchements (ibid., p. VIII). 178

er sich ausschließlich auf die Singularites. Aber nicht nur in den Singularity, sondern auch in den anderen Brasilien-Texten Thevets steht das Einmalige und Außergewöhnliche im Zentrum der Betrachtung. Thevet betont in der Cosmographie universelle, den Deux voyages oder in Le Grand Insulaire et pilotage nahezu ausschließlich das «Singuläre»; und er rühmt sich auch, das als einziger Europäer gesehen oder bemerkt zu haben: Et voilä sommairement toute lliistoire de ces Sauvages, tant sur leur maniere de vivre, que sur la description des choses rares et inaudites ä ceux de pardefa, et ä tous les anciens, tant Grecs, Hebrieux, que Latins 23^

Thevets Konzentration auf das «Einzigartige» bestimmt seine Darstellung der indianischen Kultur durchgehend und prägt ihr ein anderes Muster auf als der Lerys. Dank der «singularite» als der zentralen Kategorie kann Thevet von einem Verfahren des Vergleichs abrücken, das auf die Konstellation «Indianer» versus «Europäer» zentriert ist.238 Thevets Interesse an der Wiedergabe ungewöhnlicher Erlebnisse wird auf allen Gebieten offenkundig.239 Er beschreibt die Riten und Bräuche aller Bereiche, religiöser wie säkularer, im allgemeinen mit derselben Sachlichkeit.240 Es geht ihm also nicht nur um die Beschreibung der Neuen Welt als einem bevorzugten Zielgebiet der europäischen Kolonisation und Mission. Das Außergewöhnliche läßt sich in anderen Regionen der Welt ebenso finden und den Europäern vorführen. Besonders die Kulturen des Orients, die Thevet aus eigener Erfahrung kannte, boten sich Thevet als darstellungswürdig an, da sie - ähnlich den Indianern - stellvertretend für den falschen Glauben; (47) für Aberglauben, (40,60, 72, 190) Ignoranz (72) und mangelnde Glaubensfähigkeit (72) stehen konnten.241 Die umfangreiche und breit angelegte, auch aufweitreichenden eigenen Kenntnissen beruhende Auseinandersetzung mit der Religion der verschiedenen Völker sprechen gegen die Behauptung Geweckes, daß

Thevet: Cosmographie universelle, p. 236. Daß für Thevet die Suche nach dem «singulier» auch außerhalb der Singularites die zentrale Reisemotivation blieb, verdeutlicht folgende Äußerung seiner Cosmographie: «Et poursuivant mon chemin, pour visiter ce qui me restoit de singulier en ce paYs continent, et Isles lointaines, je ne veux le laisser, sans en faire quelque recit.» (Ibid., p. 36.) Cf. weitere Textstellen, in denen Thevet die Erkenntnis bestimmter «singularitos» sich selbst zuschreibt: Thevet: Cosmographie universelle, p. 9, p. 38; Thevet: Les deux voyages, pp. 281 sq., p. 257; Thevet: Le Grand Insulaire, pp. 313 sq. Die von Liry häufig vorgenommene Gegenüberstellung der gottlosen Indianer mit den noch gottloseren Europäern ist bei Thevet nur selten zu finden (cf. etwa Thevet: Cosmographie universelle, p. 84). 239 So existieren für Thevet die «superstitions» auch in vielen anderen Bereichen außerhalb der Religion (ibid., p. 53, p. 55, p. 155, p. 189, p. 205; Thevet: Les deux voyages, p. 269, p. 272). 240 wenn auch derartige Beschreibungen von Thevet mit großer Sachlichkeit wiedergegeben werden, so ist damit noch nicht die Wissenschaftlichkeit oder der Autopsiegehalt solcher Ausführungen belegt, die in der Tat aufgrund des wahrscheinlich nur kurzen Aufenthaltes Thevets in Amerika fraglich scheinen. An diesem Punkt setzt auch meist die Kritik an Thevet an, dem man seine Pseudo-Wissenschaftlichkeit und ungerechtfertigten Autopsiebehauptungen vorwirft. Trotz dieser Einwände ist sein Werk jedoch gerade im religiösen Bereich weniger dogmatisch als das nach wissenschaftlichen Kriterien fundiertere Werk Le°rys, der neben die wissenschaftliche Zielsetzung gleichberechtigt die missionarische setzt. 241 Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf Thevet: Cosmographie universelle. 179

Thevet einem «primär religiös begründeten Soziozentrismus» verhaftet geblieben Sei.242 Mit dieser Einschätzung verkennt Gewecke die Bedeutung der «singularitos» als einer Kategorie der Fremdwahrnehmung. Thevet schafft sich damit ein Instrument der Differenzierung, das erst eine Wahrnehmung des «Anderen» erlaubt; er greift damit auf eine Technik zurück, die von den mittelalterlichen «mirabilia» oder «merveilles» her vertraut ist, die bei ihm aber von ihren religiösen, mythischen und exotistischen Komponenten befreit werden: La perception des differences est l'&ape-clo de la dicouverte de I'alteiito en ses deux aspects: le de"couvreur ressent sä propre individuality dans les differences qui lui permettent de percevoir l'individualito de l'autre; et vice-versa, meme si la documentation est muette, le plus souvent, sur cette röciprocito de la part des 'naturels1 en face des explorateurs.24^

Das Verfahren läßt sich zunächst bei der Naturbeschreibung beobachten. Lery und Thevet ist bei der Betrachtung der Natur Amerikas, speziell Brasiliens, das weitgehende Fehlen eines ganzheitlichen Blicks gemeinsam, wie er sich bei Landschaftsdarstellungen der Renaissancekunst schon herauszubilden begonnen hatte. Die Erfahrung des «Neuen» aber wird im 16. Jahrhundert in aller Regel noch nicht in solche ganzheitliche Darstellungen integriert; sie führt vielmehr ganz gegenläufig zur Auflösung des ganzheitlichen Blicks und zur Singularisierung der Wahrnehmung.244 In dieser Weise richtet sich das Augenmerk der Reisenden auf Details in der Natur; es sind meist die singularites, die die Aufmerksamkeit erregen.245 Welche Rolle die singularites bei der Beschreibung von Flora und Fauna Brasiliens spielen, verdeutlicht Thevets Beschreibung eines Baums, der als strukturierendes Prinzip die singularites zugrundeliegen: le ne voudrois aucunement laisser en arriere pour son excellence et singularite vn arbre nöme* des sauuages Hyuourahe, qui vaut autät ä dire, comme chose rare. [...] Autre chose singuliere ä cest arbre [...]. Mais autre chose sera parauenture estrange & presque incroyable [...].24°

Diese Konzentration auf das Besondere und Außergewöhnliche, auf das also, was bei einem Vergleich mit den eigenen Erfahrungen und Erwartungen herausfallt, ist einerseits die Fortsetzung einer langen Tradition. So hatte sich bereits die Wahrnehmung von mittelalterlichen Reisenden überwiegend auf das Exotische und Monströse konzentriert.247 Analog dazu häufen sich in Lerys und Thevets Beschreibung von Flora und Fauna Brasiliens Hinweise auf die einmaligen, vorher nie geschauten Pflanzen und Tiere, auf deren außergewöhnlichen Status bereits durch Attribute wie «rare» «monstrueux», «bizarre», «difforme» oder «etrange» verwiesen wird.24* 242

Gewecke: Wie die neue Weh in die alte kam, p. 172. ^ Mollat du Jourdin: «L'alte"rit6, de~couverte des docouvertes», p. 306. 244 Cf, Demerson: «Le paysage ä la Renaissance», p. 329. 245 Cf. Adhömar: Frere Andre Thevet, p. 39. 24 6 Thevet: Singularites, pp. 96 v. sq. [Hervorhebung- A. E.] 247 Besonders Pochat (Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance, p. 86) betont den langwierigen Prozeß der Loslösung des Blicks der Reisenden sowie auch der Leser von exotischen Traditionen. 24 * Cf. unter den zahllosen Beispielen etwa Lory: Histoire d'un voyage, p. 133, p. 137, p. 142, p. 145, p. 146, p. 147; Thevet:Singularites, p. 89 v., p. 91, p. 91 v., p. 93 v., p. 94, p. 95 v., p. 96; Thevet: Cosmographie universelle: p. 120, p. 144, p. 149, p. 157, p. 164, p. 173, p. 234; Thevet: Les deux voyages: p. 240, p. 250. Auch Teilüberschriften wie «Suyte des choses plus rares, comme arbres: et de la beste Haut, qui ne vit que de vent» (Thevet: Cosmographie universelle, p. 24

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Allerdings ist zu Recht festgestellt worden, daß die Kumulation des Singulären bei Thevet nicht beliebig ist, sondern bestimmten Regeln gehorcht, die mit denen Le"rys vergleichbar sind. Mais cet amour de la beauto multiple et varied des choses obe"it ä des regies: celle de l'utilite* d'abord, [...] celle de ('analogic aussi, [...] celle encore de l'equilibre des parties.249

In dieser Beziehung ist er also nicht so weit von den Darstellungsprinzipien Lerys entfernt, wie der erste Anschein glauben macht.

6. Formen des wissenschaftlichen Diskurses Der eigene Augenschein und die Strukturierung der Darstellung durch verschiedene Techniken sind die Hauptmerkmale, durch die sowohl die Reiseberichte Lerys wie auch die Thevets gekennzeichnet sind. In beiden Fällen handelt es sich um Verfahren, die nicht neu sind; die Autoren können sich dabei auf alte Traditionen stützen, die sie aber in ihrem eigenen Sinne nutzen. Ganz ähnlich gilt das für einen weiteren Aspekt, der bei beiden Autoren auffällig ist und die Forschung vor Probleme gestellt hat. Denn sowohl Thevet wie Lery berufen sich auf die «Autopsie», aber beide ziehen auch in einem erheblichen Umfang fremdes Material heran. Die Autopsieforderung wird ergänzt durch ein Verfahren, das sich als «öffentlicher Diskurs» bezeichnen läßt. In Lerys Histoire d'un voyage werden vor allem mit der Edition von 1585 immer häufiger Verweise auf Texte von anderen Reisenden und Geschichtsschreibern über die Neue Welt in den Reisebericht integriert. Die Bedeutung dieses Verfahrens ist oft übersehen oder falsch bewertet worden. Denn tatsächlich ist das Abrücken von der reinen Autopsie nicht als Rückschritt ins Mittelalter zu bewerten;250 es verweist vielmehr auf jene Verfahrensweisen, die sich in der Zukunft in der neuzeitlichen Wissenschaft durchsetzen werden. Der einzelne Forscher und sein Augenschein verlieren in diesem Prozeß mehr und mehr an Bedeutung; an ihre Stelle tritt die Auffassung von der Wissenschaft als einer Institution, zu deren Fortschritt jeder einzelne immer nur Bruchstücke beitragen kann. Das ist das Verfahren, das die neuzeitliche Wissenschaft entwickelt hat, um ihre Resultate weit über die individuell beschränkte Anschauung hinaus gewinnen und überprüfen zu können. Die in der Forschung weitverbreitete Vorstellung, daß nur das Selbstgesehene und nicht auch das von anderen übernommene und in den eigenen Kontext eingearbeitete Wissen ernst zu nehmen und als «neuzeitlich» zu qualifizieren sei, wird der neuzeitlichen Wissenschaft nicht gerecht und fuhrt leicht zu Fehlurteilen.251 Damit wird gerade das Moment in Lerys Text an den Rand gedrängt, das im Verlauf der einzelnen neuen Auflagen immer stärker in den Vordergrund getreten und schließlich zu seinem charakteristischen Kennzeichen geworden ist. Morisots Charakterisierung der

250 251

166) belegen etwa Thevets primäres Interesse an dem Singulären. Zur Verhaftung von Thevets Konzentration auf die singularites in mittelalterlichen Traditionen cf. Adhomar: Frere Andre Thevet, p. 43. Cdard: La nature et les prodiges, p. 288 Staza Majer: The Notion of Singularity, p. 4. Cf. weiter ibid., p. 120. Staza Majers Definition von «singulier» als « nowellete», « rareteti, vie merveilleux» und schließlich als «intellectuel strategy», bindet den Begriff «singulier» ausschließlich an die Autopsie des Reisenden und leistet damit solchen Fehldeutungen Vorschub (cf. ibid., p. 3 und p. 5). 181

Histoire d'un voyage in der Fassung von 1611 hebt die Diskrepanz zwischen Autopsieanspruch und Zitat - manchmal auch Plagiat - in Lerys Reisebericht hervor und deutet sie als selbstwidersprüchlich: sie sei «manie des compilations», «mode de semer dans sa prose de 'belles fleurs cueillies 93 et la'»252 und stehe damit im Widerspruch zu Lorys 1578 mit Stolz vorgetragener Behauptung, seinen Bericht kaum mit fremden Federn geschmückt zu haben: Et de feit, selon mon petit jugement, une histoire, qui n'est point tellement parie des plumes d'autrui, est assez riche quand eile est remplie de son propre sujet.25^

Ein Blick auf die vor allem in der Edition von 1611 vorgenommenen Erweiterungen zeigt jedoch, daß Lery sich nicht einfach in Widerspruch zu seinem Autopsieanspruch stellt, sondern daß die Aufnahme fremder Autoren einer bewußten Konzeption folgt, die als komplettierend zur Autopsie verstanden werden will. Sie dient der Ergänzung und Bestätigung seiner eigenen Aussagen und bleibt insofern auf das Autopsieprinzip bezogen: L£ry, dans cette troisieme odition de son aventure brlsilienne, adopte le point de vue systdmatique de la «conference»; en integrant a sa relation personnelle d'autres temoignages concordants (ce sont, des 1585, Benzoni-Chauveton, le Portugals Osorio, l'Espagnol Lopez de Gomara, mais aussi les autorites traditionnelles de Plutarque, de Flavius Josephe et de Chalcondyle), Lory consolide l'autopsie initiale par une sorie de garants extorieurs.254

Lestringant sieht dieses «Systeme d'autoritos» beispielhaft in Kapitel XV der Histoire von 1585 verkörpert, da hier die Darstellung der amerikanischen Anthropophagie ausgeweitet wird durch Vergleiche «avec les anciens Juifs, les Turcs, les catholiques francais, les Espagnols de la conquista», die ebenfalls dem Kannibalismus pflegen sollen.255 In dieser Parallelisierung zeigt sich für Lestringant zum einen Lorys Zielsetzung, den amerikanischen Kannibalismus durch den Vergleich mit den Grausamkeiten der europäischen Christen zu relativieren, zum anderen aber auch die Absicht, «la verite" universelle»256 dieser Sitte herauszustellen, wie sie in allen Kontinenten und in jeder Epoche anzutreffen sein soll.257 Le"rys Vergleich von verschiedenen Völkern verweist auf eine «bedeutende methodische Wende» in der Wissenschaftsentwicklung, die ihre endgültige Ausformung allerdings erst im 18. Jahrhundert als «eine systematisch vergleichende Analyse der zeitlich und räumlich verschiedenen und einander fernstehenden menschlichen Sitten» erfahren hat.258 Ein solches Verfahren weist weit über den kulturrelativierenden Vergleich zwischen der eigenen und der firemen Kultur hinaus, der immer an den durch biographische Zufalle begrenzten Erfahrungshorizont des einzelnen gebunden bleibt. Der universelle Vergleich greift weiter aus, er sucht systematisch nach objek-

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Morisot: «Introduction», p. XVI. Cf. zur Wertung von Lorys Kompilation anderer Autoren weiter Morisot, «'L'Histoire d'un voyage fait en la terre du Brosil' de Jean de Lory», p. 31. 25 ^ Liry: Histoire d'un voyage fait en la terre de Bresil, Paris 1980, p. 48. 254 Lestringant: «L'excursion bresilienne», p. 68. 255 Ibid., p. 69. 256 Ibid. 257 Auch hier gilt der Vorbehalt, daß die Zuweisung kannibalischer Praktiken nach neueren ethnohistorischen Einsichten mit größter Zurückhaltung behandelt werden muß; cf. wieder Frank, «'Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist...'», pp. 218 sq. 258 Moravia: Beobachtende Vernunft, p. 139.

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tiv abgesicherten und universell gültigen Aussagen, die nicht mehr durch Autopsie, sondern nur durch das Zusammenwirken der Forscher zu gewinnen sind. Auch Thevet bedient sich des Vergleiches häufig als eines Darstellungsverfahrens, aber bei ihm hat er eine andere Gestalt. Seine Vergleiche der Sitten von Völkern der verschiedenen Kontinente sind immer eingeschränkt, da sie bewußt auf den eigenen allerdings wohl sehr breiten - Erfahrungshorizont begrenzt bleiben. Um seine auf zahlreichen Reisen gewonnenen, zumindest oberflächlich umfangreichen Kenntnisse zu illustrieren,259 greift Thevet häufig auch auf Vergleiche zurück, die in der Sache nichts zur Wissenserweiterung beitragen: Voila la maniere dont ils usent pour prendre ces Onces ravissantes qu'ils nomment Rarippel, et les Canadiens Nemorapt, les Abissins d'Afrique Hidecel, et les Armeniens Taphnais, qui m'a occasion vous en faire le recit26"

Gerade dieser universale, aber an eine einzelne Person gebundene Wissensanspruch widerspricht den Prinzipien der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung. Es reicht nicht aus, allgemeine, «umfassende Kenntnisse über die Sitten und Bräuche der verschiedenen Volkere zu erwerben [...]. Es war vielmehr nötig, vergleichende Studien in die Wege zu leiten und dabei eine ganz bestimmte epistemologische «Distanz» zum analysierten Material zu wahren. Nur eine solche vergleichende Analyse erlaubte es, jenseits der bloßen Neugierde oder abstrakten Gelehrsamkeit jene anthropologischen Kenntnisse Über die Ursprünge und die Entwicklung der menschlichen Kultur zu erlangen [...].261

Lery verfahrt in seiner Histoire d'un voyage in mancher Hinsicht anders als Thevet. Nicht erst in den Ausgaben von 1585 und 1611, sondern bereits 1580 hat er zahlreiche Zitate verschiedener Autoren in seinen Text aufgenommen. Besonders Gomaras Histoire generate des Indes diente ihm zur Untermauerung eigener Aussagen. Die Anerkennung, die er der Histoire generate des Indes zukommen läßt, zeigt die generelle Bedeutung, die Lery Gomara beimißt. Das läßt sich mit vielen Passagen seines Textes belegen. Um etwa dem Leser seiner Histoire d'un voyage das befremdliche Aussehen eines Taiassou vertrauter zu machen, verweist Lery auf die Beschreibung eines ganz ähnlichen Tieres bei Gomara: Et a fin qu'on ne trouue cela si esträge, celuy qui a escrit lliistoire generate des Indes dit, qu'il y a aussi au pays de Nicaragua pres du Royaume de la nouuelle Espagne des porcs qui ont le nombril sur l'eschine: qui sont pour certain de la mesme espece que ceux que ie vien de descrire.262

Weiter führt Lery die Histoire des Indes an, um die Höhe und Stärke des Stammes amerikanischer Bäume zu bestätigen,263 oder er greift auf Gomara zurück, um zu belegen, was er selbst nicht gesehen hat und nur vermutet wie die mögliche Reaktion der Indianer auf den Anblick eines Pferdes.264

In ihren Anmerkungen zu Thevets Cosmographie universelle und Deux voyages verweist Lussagnet mehrmals auf die eingeschränkten Kenntnisse Thevets, der sich in den meisten Ländern nur kurze Zeit aufgehalten hatte (Les Francais en Amerique [...], Le Bresil et les Brasiliens, p. 12, Anm. 3; p. 284, Anm. 1). 260 Thevet: Cosmographie universelle, p. 157. 26 ' Moravia: Beobachtende Vernunft, p. 139. 262 Lery: Histoire d'un voyage, p. 137. 263 Cf. ibid., p. 173. 264 Cf. ibid., p. 206. 183

Aber der Verweis auf andere Autoren dient Lery nicht nur dem Vergleich, der Illustration oder der Komplettierung seiner eigenen Aussagen. Gleichzeitig - und dies wurde in der Forschung bislang vernachlässigt - wird schon in der zweiten Ausgabe der Histoire d'un voyage deutlich, daß die Integration fremder Textbelege eine weiterreichende Funktion hat: Sie dienen der Wissenserweiterung und der Korrektur eigener Aussagen. Lery findet bei Gomara seine Theorie bestätigt, daß die Indianer von Cham abstammen. Das veranlaßt ihn dazu, seinen Vorgänger als «hörne bien verse aux bones sciences quel qu'il soit» (261) und, trotz einiger nachweisbarer kleinerer Fehler, als «digne de foy» (351) zu charakterisieren. Die detaillierten und umfangreichen Kenntnisse Gomaras sind es, die seinen Text für Lery als Quelle für Zitate interessant machen. Diese Wertschätzung drückt sich in vielfältigen Bezugnahmen bei den unterschiedlichsten Gegenständen aus: Gomaras Histoire gener ale gibt Lery und der übrigen Schiffsmannschaft, die bei der Rückreise von Brasilien mit unbekannten Schlingpflanzen konfrontiert werden, Aufklärung über die Ungefährlichkeit dieser «herbes marines».265 Weiter fügt Lery einen langen Textauszug aus Gomaras Histoire generate in seine Histoire d'un voyage ein, um eigene falsche Aussagen über eine Pflanze namens Auati zu korrigieren: Et croy (cötre toutesfois ce que i'auois dit en la premiere edition de ceste histoire, oü ie distingois deux choses lesquelles neantmoins quand i'y ay bien penso ne sont qu'vne) que cest Auati de nos Ameriquains est ce que l'historie Indois appelle / / , lequel seid qu'il recite sert aussi de bled aux Indiens du Peru: car voici la description qu'il en fait.266

Solche Rückgriffe auf Gomara und andere Autoren, die sich schon in der Ausgabe von 1580 zeigen und die von Edition zu Edition zunehmen, sind generell als Ausdruck eines Fortschrittsdenkens zu verstehen, das die Überforderung des einzelnen angesichts der nicht mehr zu bewältigenden Informationsfülle erkennt.267 Die Vielfalt und Divergenz der Neuen Welt ist von einem einzelnen Beobacher und Autor nicht mehr zu umfassen. Lery kann den Anforderungen, denen er sich angesichts der Mannigfaltigkeit Amerikas stellen müßte, allein nicht mehr gerecht werden. Nur in kollektiver Arbeit, im gemeinsamen Sammeln von Wissen über die fremde Welt, sieht er eine Möglichkeit, wenn auch nicht unumschränkt wahre und ewig gültige Ergebnisse zu liefern, so doch Erkenntnisse, die in möglichst hohem Maße Wahrheit und Gültigkeit beanspruchen können. So gehört Lery schon zu den Wissenschaftlern der Renaissance, die einsehen, «daß es ehrlicher sei, eigene Beschränkung offen zu gestehen, und daß die gelehrte Unwissenheit der unwissenden Gelehrtheit vorzuziehen ist.»268 Aus diesem Anspruch heraus ist Lerys Kritik an Thevet zu verstehen, den er seit der ersten Ausgabe bezichtigt, Ungenauigkeiten und Unwahrheiten nicht nur über die auf Fort Coligny lebenden Calvinisten, sondern auch über Sitten und Bräuche der Indianer zu berichten.269 Trotz des häufig noch vorherrschenden ironischen Tonfalls, 265 266 267

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Cf. ibid., p. 357. Ibid., pp. 120 sq. Cf. zur Systematisierung des wissenschaftlichen Fortschrittsgedankens im 16. Jahrhundert Krohn: «Die 'Neue Wissenschaft' der Renaissance», p. 54. Hooykaas: «Von der 'physica zur Physik'», p. 38. Löry zieht bei dem Versuch, Thevets Aussagen zu korrigieren bzw. als falsch zu entlarven, auch naturwissenschaftliche Begründungen heran, wenn auch bisweilen mit einem ironischen Nebenton

der Lerys Aussagen über Thevet den Anstrich einer rein persönlich-polemischen Auseinandersetzung verleiht - was sie gewiß auch und wahrscheinlich sogar vornehmlich sind -, haben viele der Thevet betreffenden Ergänzungen in der Ausgabe von 1611 ihre Ursache im Wissenschaftsverständnis Lerys. Lery attackiert Thevets Texte über Brasilien häufig weniger aufgrund erkennbarer religiöser Differenzen, sondern überwiegend wegen ethnographischer Fehler, die er bis ins Detail korrigiert.270 Obwohl sowohl Lery als auch Thevet im großen Umfang auf Texte anderer Autoren zurückgreifen, ist die unterschiedliche Zielsetzung nicht zu übersehen: Lery stellt seine Erfahrungen in einen umfassenderen Wissenskontext, während Thevet letztlich überzeugter Vertreter der Autopsie, Verfechter der «superiorite de l'experience»271 bleibt, obwohl er selbst durch den kurzen Brasilien-Aufenthalt nur über einen sehr eingeschränkten Erfahrungshintergrund verfügt. Wenn Lery in seiner Histoire d'itn voyage zusehends stärker eigene Erfahrungen mit der Auffassung anderer Amerika-Reisender und Geschichtsschreiber konfrontiert, deutet er den Weg der modernen Wissenschaft an, Wissen in Zusammenarbeit mit anderen Forschern zu gewinnen und zu vervollständigen. Daß Lery mit seinem Bestreben, über den eigenen Erfahrungsbereich hinausgehendes Wissen zu akkumulieren, einem Zug der Zeit folgte, läßt der Vergleich mit den im Spätmittelalter und zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstehenden Reisesammlungen erkennen. Nicht die Entdeckungsfahrten als solche und der schriftliche Bericht eines einzelnen Reisenden überwinden bereits die Dominanz der Wissenstradition. Das gelingt vielmehr erst der Konfrontation mit immer neuen Wissensbeständen, die sich aufgrund der großen Anzahl von Entdeckungsfahrten rasch ablösten: «Denn 'Entdecken' beinhaltete mehr als zum erstenmale sehen; es beinhaltete das Zusammenfügen neuen Wissens mit dem alten bei der Auswertung des Gesehenen.»272 Erst die systematisierte Sammlung und kritische Auswertung möglichst umfangreicher Informationen aus verschiedenen Quellen gewährleistete eine Annäherung an die Wahrheit. (L6ry: Histoire d'un voyage, p. 288). Auch die Kritik an einem «cosmographe» bezüglich des Nesterbaus von Papageien dürfte gegen Thevet gerichtet sein (p. 154); cf. weiter pp. 190 sq., p. 219, pp. 286 sqq. 270 Da mir die Ausgabe von 1611 nicht zugänglich war, beziehe ich mich bei der Untersuchung der von L£ry aufgegriffenen Textstellen aus den Werken Thevets auf den Anhang von Morisot, («Notes et variantes», pp. 413- 442) der die einzelnen Textstufen detailliert auflistet. Ein Großteil der von Leiy aufgegriffenen Textstellen der Singular ites oder der Cosmographie universelle rekurriert dabei auf ethnographisch unzulängliche Aussagen über die Neue Welt. Cf. etwa die Ergänzung 30, 32, (Morisot: «Notes et variantes», p. 419) in der Lery konträre Aussagen Thevets über die Meeresschildkröten gegenüberstellt. Cf. femer 125, 18, (ibid., p. 425) 140, 3, (ibid., p. 426) 279, 33 (ibid., p. 438). 27 ' Jeanneret: «Ldry et Thevet: comment parier d'un monde nouveau?», p. 239. 272 Stagl: «Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert», p. 146. Stagl bezieht sich hier auf Sammelwerke. Cf. zur Entstehung neuzeitlicher Kartographie, Reisekompilationen und Reisesammlungen Pochat: Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance, pp. 162 sqq. Wichtige Reisekompilationen und Reisesammlungen, auf die Pochat (pp. 162-164) verweist, sind etwa die 1532 erschienene Kompilation Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum von Johann Hüttich von Mainz und Sebastian Munster oder die zwischen 1550-1559 publizierte Reisesammlung des Italieners Ramusio in drei Bänden. Nach der Jahrhundertmitte folgen insbesondere spanische und portugiesische Werke, die erst nach 1585 von englischen, italienischen und niederländischen Reisesammlungen abgelöst werden. 185

So wie einzelne Reisende des 16. Jahrhunderts die Notwendigkeit erkennen, eigenes Wissen durch fremdes zu ergänzen oder zu korrigieren, so sieht auch der Herausgeber von Reisesammlungen die Möglichkeit, ein möglichst vollständiges und zugleich objektives Bild des jeweils behandelten Kontinents zu geben. Im Gegensatz zu diesen Verfahren bleibt Thevet in seinen Berichten über Amerika, auch in späteren Schriften wie den Deux voyages, bei der Empirie stehen, die er bisweilen nahezu exzessiv betont: «Et de cecy j'en parle asseurement, cornme l'ayant veu, et non ouy dire.»273 Dabei beschränkt sich Thevet nicht auf seine zweimonatige Amerikaerfahrung, sondern er versucht - zum Teil völlig willkürlich - eigene Erfahrungen, die er in anderen Ländern und Kontinenten im Laufe seines Lebens gesammelt hat, in seine Amerika-Berichte zu integrieren.274 Gegenüber dieser Dominanz der eigenen Erfahrung spielen die Berufungen auf andere Autoren eine untergeordnete Rolle. Thevets Rückgriff auf sie ist gekennzeichnet von der Absicht, sie zu widerlegen;275 daneben erschwert seine beständige Akzentuierung der eigenen einmaligen Erfahrungen eine objektive Auseinandersetzung mit dem Phänomen «Neue Welt»: Or avant que passer plus outre, je suis content pour donner quelque plaisir au Lecteur, declarer ce que j'ay observö, et ce que nul par cy devant n'a escrit, pour n'en avoir fait la recerche comme j'ay fait en ce quartier de la riviere de Potijou, du temps que noz Francois y estoient pour le traficq.27^

Aus dieser subjektzentrierten Haltung Thevets resultiert eine Ausrichtung seiner Amerika-Berichte, die keine wissenschaftlichen Ansprüche im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung erheben kann. Die in Thevets Reiseberichten niedergelegten Amerika-Erfahrungen, die eine konstante Selbstüberschätzung verraten, dienen in erster Linie der Herausstellung und Stilisierung der eigenen Person:

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Thevet: Cosmographie universelle, p. 125. Cf. weiter etwa ibid., p. 24, p. 54, p. 111, p. 141, p. 143, p. 147; Thevet: Les deux voyages: p. 264, p. 266. Dabei greift Thevet auf Erfahrungen zurück, die er bei seinen zahlreichen Reisen nach Asien, Afrika und den Nahen Orient gemacht hat (cf. Cosmographie universelle·, etwa p. 56, p. 107, p. 128, p. 149, p. 159). Besonders häufig zieht Thevet als Vergleichsland die Türkei heran, die als Negativbeispiel für Barbarei, Grausamkeit, Unsitten, Invasionslust und drohende Gefahr steht (ibid., p. 40, p. 47, p. 72, p. 111, p. 112, p. 139, p. 185, p. 187, p. 190). Dieses auffallend negative Türkenbild ist zeittypisch und hängt wohl mit der konkreten Türkenangst der Europäer nach dem Fall von Konstantinopel zusammen. So hatte die Türkei in der gesamten Literatur des 16. Jahrhunderts weitaus mehr Reaktionen hervorgerufen und Interessse geweckt als die Eroberung Amerikas. Die Indianer stellten für die Europäer zwar ein interessantes Phänomen dar, aufgrund der räumlichen Entfernung aber erforderten sie keine unmittelbare Auseinandersetzung, ganz zu schweigen von einer Provokation oder Gefahrenquelle (cf. Atkinson: Les nouveaux horizons, pp. 10-12). So gibt es in Thevets Reiseberichten eine Vielzahl von Stellen, wo er angebliche oder tatsächliche Fehler anderer Autoren, Reisender wie Geschichtsschreiber, aufgreift, um die eigene Meinung als die allein gültige hervorzuheben. Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 7, p. 8, p. 21, p. 23, p. 27, p. 32, p. 34, p. 102, pp. 104 sq., p. 129; Thevet: Les deux voyages, p. 250, p. 253, p. 297, p. 319. Nur an sehr wenigen Stellen beschränkt sich Thevet auf Aussagen anderer Autoren: «Je ne passeray aussi plus outre sur la dispute, si le diable scait et congnoist les choses futures, me contentant de ce que plusieurs en ont escrit.» (Thevet: Cosmographie universelle, p. 82.) Hingegen finden sich in den Reiseberichten Thevets, soweit mir bekannt ist, keine Textstellen oder Verweise anderer Autoren, die integriert wären, um eigene Aussagen zu korrigieren. Thevet: Les deux voyages, p. 254. Weitere Textstellen, die die «Einmaligkeit» von Thevets Erfahrungen in der Neuen Welt belegen: Thevet: Cosmographie universelle, p. 6, p. 24, p. 31, p. 94, p. 102, pp. 104 sq., p. 125; Thevet: Les deux voyages: p. 253, p. 254, p. 300.

Aussi en Turquie j'ay veu certains imposteurs compaignons des Delvis, scavoir hermites Mahometans, qui vont en tout temps ainsi nuds, comme je vous ay dit en mon livre de la description d'Asie.277

Die Bedeutung der eigenen Person wird in dieser Weise immer wieder hervorgehoben: En cette isle se trouve le meilleur Petum du monde, qui est celle plante, de laquelle je vous ay assls amplement discouru dans ma Cosmographie et comme j'ay este1 le premier de l'Europe qui a fidelement escrit tout le premier cette grande continue de terre tant Australe, que Septentrionale [..J.278

Thevet fährt im gleichen Atemzug fort «J'ay este aussy pareillement le premier qui a apporto en France de la graine d'iceluy petum, et donnö le nom d'Angoulmoisine»,279 um hier erneut alle Aussagen anderer Autoren über diese Pflanze durch Referieren auf eigene Erfahrung zu widerlegen oder sich über sie zu mokieren. Diese Absicht manifestiert sich auch in seinem - ungerechtfertigten - Angriff auf Lory, der weitaus länger in Brasilien lebte als Thevet selbst: Cette bourde est d'aussy bonne grace que celle de Jean Le"ry, qui monstre bien n'avoir jamais penetru jusques en ces pais lä, toutefois il s'en vante, et confesse luy mesme qu'estant arrivo en Pisle de Coligny [...]».28°

In seinem letzten überlieferten, aber nicht mehr zu seinen Lebzeiten gedruckten Werk setzt sich Thevet mit den Vorwürfen auseinander, die ihm diesbezüglich gemacht wurden und rechtfertigt sich, indem er die informierenden Intentionen hervorhebt: Je ne prens point trop de plaisir a entrer en la description de ceste Isle, parce que je scais bien, que ceux qui ne me sont gueres bien devotionn£s, prendront argument de lä de dire, que l'envie, que j'ay de m'exalter, me fait publier celle, de laquelle je suis le vray parrain. Et ä dire la , si je n'eusse eu peur de faire tort au benevole Lecteur, luy recelant les singularity de ceste Isle, j'eusse bien prins ä gre", de couler par oubly le present discours, ou remettre ä quelque autre la charge de specifier les raritls d'icelle.281 277 278

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Thevet: Cosmographie universelle, p. 111. Thevet: Les deux voyages, pp. 289 sq. Thevet grenzt sich hier von Lory und Benzoni ab, denen er Plagiate vorwirft. Besonders Benzoni hatte dem Rauchen und seinen Auswirkungen auf die Indianer eine sehr ausführliche Darstellung gewidmet (cf. Benzoni: Historia del Mondo Nuovo, pp. 54 v. sq.). Im Vergleich zu Liry fällt Thevets «Ichzentriertheit» ins Auge, die ihm von den Zeitgenossen vorgeworfen wurde (cf. Adhomar: Frere Andre Thevet, p. 84). Sie verhindert jedoch keinesfalls, daß er sich an manchen Stellen seiner Amerika-Berichte sogar Le~ry überlegen zeigt hinsichtlich der Richtigkeit gewisser Phänomene der Neuen Welt. Aufschluß aber den Wahrheitsgehalt bestimmter Aussagen Thevets gibt vor allem Lussagnet in ihren Anmerkungen zur Cosmographie universelle, den Deux voyages und dem Grand Insulaire; unter Heranziehen verschiedenster Belege unterstreicht bzw. korrigiert Lussagnet Thevets Behauptungen. Auch Lestringant betont Thevets, insbesondere zu seinem letzten Werk Le Grand Insulaire hin zunehmenden geographischen und ethnographischen Informationen (cf. Lestringant: «L'avenir des Terres Nouvelles», p. 48 und p. 51). Geweckes abfällige Bemerkungen Ober Thevet sind deshalb ein Fehlurteil, das einer wissenschaftsgeschichtlichen Konvention folgt, dem Sachverhalt aber nicht entspricht: Thevet erhebe einen Anspruch, der «mit einem so unerschütterlichen Vertrauen in die eigene Kompetenz und Unfehlbarkeit vorgetragen wurde, daß ihm dieses Werk von zeitgenössischen wie von modernen Kritikern als unverdauliches Produkt einer nachgerade ungeheuerlichen Anmaßung verübelt wurde.» (Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 172.) Thevet: Les deux voyages, pp. 289 sq. Ibid., p. 291. Darüber hinaus mokiert sich Thevet auch über L&ys Aussage, daß das Rauchen mehrere Tage vor Hunger bewahre (ibid.). Thevet: Le Grand Insulaire, pp. 313 sq. 187

Unter den Reisenden des 16. Jahrhunderts macht wohl erst Lory einen entscheidenden Schritt über die Grenze hinaus, welche das reine Beobachtungswissen vom institutionalisierten wissenschaftlichen Wissen der Neuzeit trennt. Durch die aus Texten anderer Autoren gewonnene Bestätigung, Erweiterung oder Korrektur des eigenen Beobachtungswissens gelingt Lery eine Re-Systematisierung und Re-Theoretisierung, die mit der Ablösung des «theoretischen» Toposwissens durch das «alltägliche» Beobachtungswissen verloren gegangen war.282 Erst durch die Theoretisierung und Institutionalisierung von Wissen, und nicht durch die Kumulation undiskutierten Wissens einzelner Forscher, vermag «Wissenschaft» im neuzeitlichen Sinne zu entstehen. Die Idee, Wissen als «oeuvre collective» durch Institutionalisierung der Wissenschaft voranzutreiben, hat ihren Ursprung bereits im 16. Jahrhundert.283 Die Amerika-Reisenden haben nicht wenig dazu beigetragen. Vor allem durch den Export von Exotika aus der Neuen Welt nach Europa sowie durch Erfindung neuer Meßtechniken haben sie die Institutionalisierung der Wissenschaft gefördert, zu der «der Aufbau von Laboratorien, Instrumenten- und Kuriositätensammlungen» notwendig gehörte.284 Merkwürdigerweise hat Thevet diese Bestrebungen im besonderen Maße unterstützt, obwohl sein eigenes Reise- und Darstellungsprinzip individualistisch angelegt war. Bei seinen Reisen legte er umfangreiche Kollektionen von Exotika an; er gehört damit zu den Begründern der Sammlungen über Amerika in Frankreich.285 Aber wenn nicht nur Thevet, sondern auch Lery und andere Reisende exotische Flora und Fauna286 und sogar Menschen der Neuen Welt nach Europa geschafft haben,287 so geschah dies sicher zum Teil aus Freude am Exotischen, die sich in der zunehmenden Zahl von Menagerien oder exotischen Festen äußerte. Zum Teil kann der Export des Fremden nach Europa aber auch als Ausdruck eines anwachsenden wissenschaftlichen Interesses interpretiert werden.

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Cf. dazu die Zusammenfassung von Hassauer: «Volkssprachliche Reiseliteratur», p. 270: «Das gelehrte und systematisierte Toposwissen ist für das Mittelalter auf einer Ebene höherer Wissensformen angesiedelt; es stellt theoretisches Wissen dar. Ihm steht, wissenssoziologisch betrachtet, mit der 'geography of observation' ein andersartig strukturierter Wissensbereich gegenüber: Jenseits religiös-kosmologischer Positionen und Tabus werden hier strikt situationsabhängige, akzidentielle Beobachtungen gesammelt, und zwar unter den differenten Glaubwürdigkeitskriterien von Authentizität des eigenen Erlebnisses und Augenzeugenschaft. Solche Beobachtungen unterliegen vorerst nicht den Systematisierungsanforderungen des Toposwissens. Im Unterschied zu dessen theoretischem Status hat das Beobachtungswissen Status und Struktur von Alltagswissen.» Morisot sieht das 16. Jahrhundert als «e~poque des 'cabinets de curiositos', des faunes et des flores illustrdes», ohne jedoch dem Ursprung eines solchen Interesses nachzugehen oder es mit der modernen Wissenschaftsentwicklung in Zusammenhang zu bringen. (Morisot: «Introduction», p. XXII.) Daele: «Die soziale Konstruktion der Wissenschaft», p. 137. Adhömar: Frere Andre Thevet, pp. 39 sq. Adhe"mar verweist darauf, daß dieses Interesse für Exotika, wie es Thevet bekundet, ein Charakteristikum des 16. Jahrhunderts ist, das sich etwa auch bei Dürer findet (cf. ibid., pp. 24 sq.). Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 134, p. 340, p. 370. Cf. ibid., p. 211. Pochat zufolge sollen erste Menagerien als Ausdruck exotischen Geschmacks bereits an königlichen Höfen verschiedener westeuropäischer Länder im 13. Jahrhundert existiert haben (Pochat: Der Exotismus währenddes Mittelalters und der Renaissance, pp. 70 sqq.). Nach Frankreich werden exotische Tiere vor allem seit dem 14. Jahrhundert eingeführt (ibid., p. 84).

Das wird bei Lory besonders deutlich: Ihm geht es weniger darum, eine große Anzahl gleicher Tiere und Pflanzen, als vielmehr einzelne Exemplare verschiedener Spezies nach Frankreich zu transportieren. Auch das Mitnehmen von Erzeugnissen indianischer Arbeit,288 die wohl nur auf geringes Interesse des Hofs oder der Öffentlichkeit gestoßen sein dürfte, zeugt von Lerys Bedürfnis nach Dokumentation des Fremden. Daß er das Neue überwiegend unter wissenschaftlichem Anspruch betrachtete, verdeutlicht sein mehrmaliges Ersuchen an einen die Expedition begleitenden Zeichner, das Fremde zu illustrieren.289 In diesem Sinne kann Lerys Aufenthalt in der Neuen Welt nicht nur unter dem Aspekt der Missionierung oder Kolonisierung gesehen werden, sondern auch als eine schon recht ausgereifte Vorform der wissenschaftlichen Expedition, deren Erträge in die heimatliche Institution Wissenschaft eingebracht werden sollen. Allerdings handelt es sich bei allen diesen Erscheinungen nur um frühe Vorformen institutionalisierter Wissenschaft. Der entscheidende Schritt zu deren Durchsetzung erfolgt erst viele Jahrzehnte später durch die Gründung von Akademien und Gesellschaften im 17. Jahrhundert.290 In bezug auf die Verarbeitung fremden Wissens hat Lery wohl die Zeichen der Wissenschaftsentwicklung deutlicher erkannt als Thevet. Wenn Thevet stärker als Lery auf seine eigene Person und die durch Augenschein zu erwerbenden Wissensbestände vertraut, dann bedeutet dies jedoch nicht, daß er hinter Lery grundsätzlich zurückgeblieben wäre. Auch seiner Darstellung liegen Prinzipien zugrunde, die der Neuzeit angehören, die jedoch andere Komponenten in den Vordergrund stellen als Lery. Mit seiner empirischen und autoptischen Orientierung löst auch Thevet den Typus des mittelalterlichen «Toposwissens» ab: «schriftlich überliefertes 'geographisches' Wissen, vor allem aus der Antike und der Bibel, dessen Glaubhaftigkeit sich der Autorität der Tradition verdankt».291 Gegenüber einer solchen traditionsorientierten Wirklichkeitsauffassung entwickelt Thevet Ansätze eines Fortschrittsdenkens, die in ihrer expliziten, fast schon theoretischen Formulierung sehr avanciert wirken, auch wenn sein eigener Text dann nicht unbedingt hält, was Thevet verspricht. Im Widmungsschreiben der Cosmographie de Levant formuliert Thevet ausdrücklich seine Einsicht, daß das Neue eine beständige Auseinandersetzung erfordert, die am ehesten durch den Augenschein erbracht werden kann: Car mon iugement ha esto tousiours tel, que puisque entre tous les sens de nature, le regard humain est le plus actif: de tant mieus ITiöme entend, & peut plus parfaitement, descrire ce qu'il connoissoit par liures, l'ayant songneusement examin£ & experiment^ a vue" d1 ceil. le say bien qu'aucuns diront: Qui est ce nouueau Anacharse ou Cosmographe, qui apres plusieurs Auteurs tant anciens que modernes, peut inuenter quelques choses nouuelles? Mais ie leur demande: Nature s'est eile tellemet astreinte & assugettie aus escris des Anciens, qu'il ne lui fiist loisible au tems a venir varier, & donner altematiue vicissitude aus choses dont ils auroient escrit? Seroit i l raison que ce de nouueaute, que de iour en iour eile produit en diuerses contrees, qui ha esti aus Ancies inconnu, pour n'estre auenu de leur tems, & ä la plus part des modernes, pour n'en auoir fait la recherche, dust estre supprimo en silence? Que ne s'est teu Pline, puis que Strabon auoit auant lui tant absolument traito de la Geographie? & apres eus Ptolemee, Volaterran, Glarean, & infinis 288

Cf. Lory: Histoire d'un voyage, pp. 274 sq. Cf. ibid., p. 105, p. 147. Die Bedeutung, die Liry der Illustration des Gesehenen beimißt, zeigt sich auch in der Zunahme an Zeichnungen von Edition zu Edition. 290 Cf. dazu Daele: «Die soziale Konstruktion der Wissenschaft», pp. 136-139. 29 1 Hassauer: «Volkssprachliche Reiseliteratur», p. 269. 289

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autres, desquels (s'ils ussent craint teile censure) nous n'aurions les excellens escris? Penseroient ils bien, pour aplaudir ä leur pusilan unite", me destoumer de la iouissance d'une liberto commune a tous hommes, d'employer toutes ses actions, estudes, & en general tout le cours de nostre vie au proufit& auantage du bien publiq?292

Thevets Berufung auf den Wissensvorsprung der Zeitgenossen, der beständig aufgrund neuer empirischer Erkenntnisse überschritten und korrigiert werden kann,293 ist nicht allein ein Topos für die Rechtfertigung einer erneuten Beschreibung über den Vorderen Orient. Sie gehört auch zu den frühesten Zeugnissen eines Fortschrittsdenkens, wie es sich in dieser Zeit gerade in der Auseinandersetzung mit dem Vorbildanspruch der Antike langsam zu etablieren begann. Die Absicht, über das den Alten bekannte Wissen hinauszuschreiten, findet sich auch als Resümee der Cosmographie universelle ausgesprochen: Et voilä sommairement toute lliistoire de ces Sauvages, tant sur la maniere de vivre, que sur la description des choses rares et inaudites ä ceux de pardefa, et ä tous les anciens, tant Grecs, Hebrieux, que Latins.29^

Trotz solcher programmatischer Ansätze setzt Thevet das Fortschrittsprinzip nicht konsequent durch, da es in Konkurrenz mit dem Erfahrungsprinzip steht. Beide Prinzipien ergänzen sich hier nicht, sondern stehen unvermittelt nebeneinander. In seiner eigenen Beschreibungspraxis ist es immer nur die individuelle Erfahrung des Reisenden Thevet, die zur letzten Instanz wird, durch die allein tradiertes Wissen überholt werden kann; die Erfahrung oder das Wissen anderer hingegen spielen dabei keine Rolle. Sofern Thevet einen Anspruch darauf erhebt, nicht nur in seinen programmatischen Erklärungen, sondern auch in der Praxis seiner Beobachtung und Darstellung bereits Verfahren der modernen Wissenschaft zu praktizieren, dann trifft dies eher auf einzelne Aspekte seines Vorgehens zu. Ein solcher Anspruch könnte sich gründen auf jene Elemente, die auf Thevets Bevorzugung des Autopsieprinzips zurückgehen; dazu gehört vor allem auch seine Fähigkeit zur vorurteilslosen Beobachtung und Deutung einzelner Phänomene, die ausgeprägter ist als sein Bemühen um ihre systematische Beschreibung und Anordnung.295 Bei diesen Fragen spielen aber auch wieder konfessionelle Komponenten eine Rolle. Nicht nur die Situierung des Autors im wissenschaftlichen, sondern auch die im religiösen Diskurs bestimmt seine Darstellung und seine Rezeption dort, wo es inhaltlich um wissenschaftliche Fragen geht. Lorys Reisebericht wird nicht zuletzt wegen seiner protestantischen Tendenzen in ein «Systeme de reconnaissance mutuelle entre 'historiens' ou imprimeurs le plus souvent de la meme confession» integriert,296 während Thevet durch die gewollte Konzentration auf sich selbst als dem reisenden und beobachtenden Individuum zusehends in Vergessenheit gerät. Aber welche Gründe auch immer für die Kommunikation maßgeblich sind - auf jeden Fall wird Kooperation der Reisenden untereinander, aber auch mit den zu Hause gebliebenen Wissenschaftlern, im 16. Jahrhundert das entscheidende Krite-

292

Thevet: Cosmographie de Levant, pp. 3 sq. Cf. ibid., p. 5. 294 jhevet: Cosmographie universelle, p. 236. Cf. auch Thevet: Les deux voyages, p. 241. 295 Zur Verteidigung von Thevets Wissenschaftlichkeit cf. Touzaud: «Andre" Thevet d'Angoulenie», pp. 17 sq. 296 Lestringant: «L'excursion brösilienne», p. 71. 293

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Hum, das über Erfolg oder Mißerfolg eines Reiseberichts entscheidet, wie die unterschiedliche Rezeption der Texte Lorys und Thevets belegt: Signe sans doute qu'en ce toumant de 1'äge classique ITiistoire du monde tendait ä devenir une ceuvre collective et toujours inachevöe. Indice encore de l'efficaciti grandissante des reseaux de collecte et de diffusion et des solidarites idöologiques ou confessionnelles dont Liry, a partir du succes initial de son ceuvre, avait su remarquablement jouer.^9?

Le~rys Histoire d'un voyage ist wesentlich kommunikativer angelegt als die manchmal egozentrischen, in jedem Fall ganz auf die Person des Autors konzentrierten Werke Thevets. Das zeigt sich nicht nur in Le*rys Bezugnahmen auf andere Autoren, sondern ebenso deutlich in seiner Kommunikation mit dem Leser, die sich vor allem in der Form von Leseranreden vollzieht. Lory präsentiert dem Leser seine eigene Meinung nicht als einzig gültige. Vielmehr fordert er ihn auf, Aussagen über indianische Sitten oder auch über Flora und Fauna Amerikas selbst auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überprüfen. Lery stellt unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Phänomene in Frage, ohne jedoch dem Leser seine Meinung aufzudrängen: Sur lequel recit, assez esträge de cest Ameriquain, ie laisse ä philosopher au lecteur, si suyuant la commune opinion qu'il y a dans la mer de toutes les especes d'animaux qui se voyent sur terre, & qu'aucuns ont escrit des Tritons & des Sereines: assauoir, si e'en estoit point vn ou vne, ou bien vn Singe ou Marmot marin, auquel ce sauuage affermoit auoir coup£ la main. Toutesfois, sans condamner ce qui pourroit estre de telles choses, ie diray libremet que tant durant neuf mois que i'ay estd en plaine mer, sans mettre pied ä terre qu'vne fois, qu'en toutes les nauigations que i'ay souuet faites sur les riuages, ie n'ay rien apperceu de cela: ny veu poisson (entre vne infinite de toutes sortes que nous auös prins) qui approchast si fort de la semblance

In dieser Aufforderung an den Leser zur Reflexion drückt sich eine neue Einstellung aus. Der Leser wird nicht einfach mit der Autorität des Reisenden konfrontiert, der über eine selbst gesehene Wirklichkeit berichtet, und der Reisende befriedigt nicht einfach die exotistischen Interessen des Publikums.299 Der mittelalterliche Erzähler bemüht sich darum, Realität und Fiktion möglichst gleitend und bruchlos ineinander zu arbeiten, um dem Leser eine Welt der Phantasmagorien als Realität erscheinen zu lassen; Lerys Histoire d'un voyage spiegelt eine Erzählhaltung wider, die geprägt ist von Brüchen und selbstreflexiven Elementen. Das wird in vielen Details der Darstellung erkennbar. Lery bricht beispielsweise die Spannung einer Erzählsequenz, indem er ausführlich über den Brauch des «boucaner» berichtet;300 an anderer Stelle läßt er von einem Thema ab, um nicht beim Leser den Vorwurf zu riskieren, Ursachen von zu weit her zu holen.301 Dane297

Ibid., p. 72. Morisot setzt stilistische Kriterien an, um den Erfolg von Le"rys Reisebericht zu begründen; er sieht ihn bedingt durch dessen «sensibilitö personnelle», die sich bis hin zum «lyrisme» steigern kann (Morisot: «Introduction», p. XIV). Liry: Histoire d'un voyage, pp.169 sq. Zu weiteren Textstellen, in denen Löry den Leser zur eigenen Entscheidung auffordert, cf. ibid., p. 91, p. 98, p. 112, p. 141. 299 Wenn in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Publikumsinteresse am neu entdeckten Kontinent auch noch sehr begrenzt war (cf. dazu Bucher: La sauvage aux seins pendants, pp. 6 sq.) so war es von Beginn an auf das engste mit «exotischen» Leser-Erwartungen verbunden, die die des Reisenden noch Übertrafen (cf. Pochat: Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance, p. 45). Cf. auch Funke: Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung, p. 96. 300 Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 135. 301 Cf. ibid., p. 257.

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ben wird Lory - wenn auch nur selten - zum auktorialen Erzähler, der den Leser den Übergang von einem Thema zum anderen bewußt vor Augen führt: Mais parce que il eust este" plus a propos de toucher ce poinct, quand cy apres ie parleray de leurs combats, a fin de ne confondre les matteres plus auant, ie vay mettre nos Toüoupinambaoults en campagne pour marcher centre

Indem Lery mögliche Fragen des Lesers vorwegnimmt, schafft er eine Erzählhaltung, die statt auf Identifikation auf Reflexion abzielt, da solche Fragen den Leser von der Beschreibungs- zur Reflexionsebene leiten. Nicht zuletzt ist Lerys Beschreibungsform, die den Leser einbezieht, ein Versuch, diesem ein realistisches Bild der Neuen Welt vor Augen zu führen: aussi ne doutay-ie point que plusieurs de ceux qui liront ceci (& les autres dangers dont i'ay iä fait & feray encore mention, que nous experimentasmes en ce voyage) selon Ie prouerbe ne disent: Ha! qu'il fait bon planter des choux, & beaucoup meilleur ouyr deuiser de la mer & des sauuages que d'y aller voir.3°3

Erst die Summe dieser verschiedenen Verfahren in den Reiseberichten ergibt die Grundlage für die Erörterung der Frage nach dem historischen Ort der Autoren. Es zeigt sich dabei, daß Lery und Thevet kaum gegeneinander ausgespielt werden können. So verschieden ihre Text auch angelegt sind, so sehr ähneln sie sich in bezug auf ihre Stellung zur neuzeitlichen Wissenschaft. Beide greifen auf Verfahren der Wahrnehmung und Beschreibung zurück, die traditionell sind, die von ihnen aber in neuer Funktion eingesetzt werden. Beide verwenden aber auch schon Techniken der neuzeitlichen Wissenschaft, wobei allerdings ganz verschiedene Momente dominieren: Während bei Thevet das Autopsieprinzip die entscheidende Rolle spielt, stellt Lery mehr und mehr das Diskurs- und Institutionalisierungsprinzip in den Vordergrund. Diese Prinzipien beziehen sich auf die Oberfläche der beobachteten Wirklichkeit, wie es auch der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung entspricht. Mit den von Lery und Thevet verwendeten Beobachtungs-, Beschreibungs- und Strukturierungsverfahren können einzelne Phänomene erfaßt und in mehr oder weniger plausible Zusammenhänge eingeordnet werden. Auf dieser Ebene suchen beide Autoren auf je eigene Weise den Anschluß an die Verfahren der neuzeitlichen Wissenschaft, die sich langsam zu ihrer Zeit herausbilden. Gelegentlich findet sich bei den Reisenden aber auch das Bemühen, den neuen Erfahrungen und ihren Problemen durch andere als bloß wissenschaftliche oder wissenschaftsnahe Beschreibungsformen gerecht zu werden. Der «Singularität», die das vorherrschende Beschreibungsprinzip bei Thevet wie bei Lery ist, treten oft Formen an die Seite, die größere Komplexe der Natur - wenn auch noch nicht ganze «Landschaften» - in den Blick nehmen. Bei Lery wird diese Absicht manchmal dadurch realisiert, daß er sich in die Tradition der antiken Rhetorik des locus amoenus stellt, wie sie «bis zum 16. Jahrhundert das Hauptmotiv aller Naturschilderung» war:304

Ibid., p. 201. Cf. dazu eine weitere Textstelle, die Le"ry als auktorialen Erzähler ausweist: «Voila done les maisons de nos sauuages faites & meublees, pourquoy il est maintenant temps de les aller voir au logis» (ibid., p. 278). 303 Ibid., pp. 355 sq. 304 Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, p. 202. 192

auec eux [Tupinamba — A. E.] ie passois ä trauers d'vne grande forest, con t einplant en icelle tant de diuers arbres, herbes & fleurs verdoyantes & odoriferantes: ensemble oyant le chant d'vne infinite" d'oyseaux rossignollans parmi ce bois oü lors le soleil donnoit, me voyant, di-ie, comme conuio ä louär Dieu par toutes ces choses, ayant d'ailleurs le coeur gay, ie me prins ä chanter a haute voix le Pseaume 104.3°5

In Lerys Landschaftsidylle finden sich nicht nur nahezu alle für einen locus amoenus charakteristischen Grundelemente wie vielartige Bäume, immergrüne Gräser und blühende Blumen und damit das Bild eines «ewigen Frühlings»;306 auch Lerys Verweis auf die «oyseaux rossignollans», also auf «Vögel, die wie Nachtigallen schlagen», verweist weniger auf die reale amerikanische Natur als erneut auf den Topos des locus amoenus.Wl Auch wenn von Lery die stimmungsvolle Naturbetrachtung als persönliches Erlebnis geschildert wird, so steht dies nicht in Widerspruch zu der Tatsache, daß er hier in der Tradition des locus amoenus steht, denn auch die Berufung auf die eigene Empfindung gehört zu diesem Topos.308 Auch in Thevets Brasilientexten findet sich nur in ähnlich rudimentären Ansätzen eine ganzheitliche Natursicht, die in Schilderungen der Naturschönheit zum Ausdruck kommt. Vor allem in Les deux voyages stehen Schilderungen der amerikanischen Naturschönheit häufig unmittelbar neben Bemerkungen technischer Art.309 Aber solche Bemerkungen zur Schönheit oder zum toposhaft geschilderten Erlebniswert der Natur bleiben in den Reiseberichten sehr vereinzelt. Eine ganzheitliche Naturbetrachtung ist bei beiden Reisenden nicht das dominierende Wahrnehmungsprinzip geworden. Besonders die ästhetische Komponente, die zu den entscheidenden Neuerungen der Renaissance bei der Wahrnehmung der natürlichen Wirklichkeit gehörte und vor allem in der Bildenden Kunst realisiert wurde,310 spielt bei ihnen keine 306

308

309

Lory: Histoire d'un voyage, p. 257. Zum Motiv des «ewigen Frühlings» cf. Curtius: «Rhetorische Naturschilderungen im Mittelalten), p. 103. cf. Gruenter («Landschaft», p. 206) über die Nachtigall im Topos des locus amoenus: «Die Nachtigall führt den Gesang der Vögel an». Auch Columbus bewegt sich bei seiner Beschreibung der Naturschönheiten in dem traditionellen Denken deslocus amoenus, wenn er konstatiert: «Mit wahrem Genuß erlebte ich die Schönheit eines jeden Morgen, denen fast nichts anderes zu ihrem vollen Zauber fehlte, als der Sang der Nachtigallen.» (Kolumbus: Bordbuch, p. 22.) Auch an anderer Stelle vergleicht Lory den Gesang eines brasilianischen Vogels mit der Nachtigall (Le~ry: L'Histoire d'un voyage, p. 156). Cf. Curtius: «Rhetorische Naturschilderungen im Mittelalter», p. 98. Deshalb erscheint Le~viStrauss' Interpretation dieser Passage anachronistisch, wenn er sie als eine Vorwegnahme von Chateaubriands Atala charakterisiert (cf. L£vi-Strauss: «Eine Idylle bei den Indianern», p. 70). Auch Morisot betont bei dieser Naturbeschreibung Lorys die ungewöhnliche «expression d'une sensibilito personnelle» (Morisot: «'L'Histoire d'un voyage fait en la teire du Brösil' de Jean de Le"ry», p. 30). Derartige «gefühlsbetonte» Naturschilderungen lassen sich bereits bei Columbus finden, (cf. die Belege bei Babelon: «Dicouverte du monde et littorature», pp. 162 sq.) wo sie allerdings kaum als «accents [...] d'un romantisme £perdu» (ibid., p. 163) verstanden werden dürfen. Cf. Thevet: Les deux voyages, pp. 245 sq., p. 288; Thevet: Le Grand Insulaire, pp. 315 sq. Ledwige bestätigt im übrigen die Richtigkeit von Thevets wissenschaftlich-kosmographischen Äußerungen in den Naturbeschreibungen der Deux voyages (cf. Ledwige: «Le littoral canadien vu par The"vet», p. 80). «Die Italiener sind die frUhesten unter den Modernen, welche die Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenommen und genossen haben» (Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, pp. 292 sq.) Zwar gab es Darstellungen von Ideallandschaften, wie sie insbesondere im Bild des locus amoenus auftreten, seit der Antike, doch handelte es sich hierbei 193

nennenswerte Rolle.311 Auch die den Reiseberichten beigegebenen Illustrationen sind noch weit entfernt von den Darstellungsmöglichkeiten, die sich in der Malerei zu entfalten begannen. Die Untersuchung der Amerika-Texte von Lory und Thevet weist sie als Dokumente einer Übergangsepoche aus. Eine einheitliche Form der Betrachtung fremder Wirklichkeit hat sich in ihnen noch nicht durchgesetzt. Beide Autoren experimentieren mit einer Vielzahl verschiedener Beobachtungs- und Beschreibungsformen, die teils der traditionellen, teils der neuzeitlich-wissenschaftlichen und ansatzweise auch schon einer ästhetischen Weltsicht verpflichtet sind.

um rein rhetorische Muster und nicht etwa um den Ausdruck persönlich erlebter Natur (cf. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, pp. 202-205). Febvre sieht den Mangel an ästhetischer Sensibilität auch begründet in einem «retard de la vue»: «D'un mot, si j'osais, je dirais qu'au XVIe siecle, Photel Bellevue n'&ait point ne". Ni ITiotel Beau Site. Us ne devaient apparaitre qu'aux temps du Romantisme» (Febvre: Le probleme de l'incroyance au I6e siecle, p. 403) . 194

Viertes Kapitel Montaigne und die Neue Welt 1. Montaigne und die literarische Amerikarezeption in Frankreich Außerhalb der «litterature göographique» hat die Entdeckung Amerikas in der französischen Literatur ein Jahrhundert lang nur wenig Resonanz gefunden.1 Die ersten Autoren, die den neuen Kontinent berücksichtigt haben, sind wohl die Dichter der Pleiade gewesen. Berühmt geworden sind zwei Gedichte Ronsards, welche die Arkadien-Vorstellungen in bezug auf Amerika neu beleben. Während in Les Isles Fortunees (1553) die Inseln unspezifiziert bleiben und irgendwo im Ozean «Loin de l'Europe» situiert werden,2 verweist das Gedicht Complainte contre fortune (1559) durch seine Kritik an der Expedition Villegagnons auf den Schauplatz Brasilien.3 Les Isles Fortunees, ein «frühes 'Aussteiger'-Gedicht», richtet sich gegen das alte, von der Sucht nach Gold beherrschte Europa und entwirft das Bild eines neuen Arkadien.4 Ronsard bleibt somit den klassischen Mythen verbunden;5 Amerika wird als neuer, vierter Kontinent, der eigene Vorstellungen hervorbringen könnte und müßte, noch nicht wahrgenommen. Der Rückgriff auf die Antike ist dabei nicht nur eine Technik, mit der das Neue dem Horizont des Vertrauten eingeordnet und somit begreifbar gemacht wird; er bedeutet zugleich - wie schon in den Illustrationen zu den Reisewerken - eine Reduktion der Erkenntnismöglichkeiten. Es ist ein Versuch, der fremden Welt mit ihren unverständlichen Bewohnern und deren wilden Sitten die Bedrohlichkeit zu nehmen; ein Versuch aber, der angesichts der amerikanischen Realität scheitern muß: Mais le danger existe, qu'une teile ^interpretation spontande du Nouveau Monde ä travers la grille des humanites classiques ne finisse par eclipser son objet. *>

Mit dem Verweis auf die arkadischen Traditionen der Antike ebenso wie mit den europakritischen Andeutungen eröffnet Ronsard auch in der französischen Literatur jene Form der Auseinandersetzung mit dem neuen Kontinent, die sich in den Reiseund Geschichtswerken schon angedeutet findet und die später immer wiederkehren wird. 1 Zwar ist es bemerkenswert, «que les premieres et fugitives mentions de l'Amerique dans les littoratures europoennes se trouvent chez des poetes», (Broc: «Reflets americains dans la poesie de la Renaissance», p. 151) doch standen insbesondere in Italien und Frankreich die Dichter der Entdeckung des neuen Kontinents in der Regel gleichgültig gegenüber (ibid., pp. 152 sq.)· Erst ab 1550 finden sich erste Erwähnungen Über Amerika bei den Dichtern der Ploiade, deren «production» Broc - Ronsard ausgenommen-als «assez mediocre» bezeichnet (ibid. p. 153). 2 Ronsard: «Les Isles Fortunees», p. 182 (v. 91). 3 Cf. Ronsard: «Complainte contre fortune», p. 33 (vor allem v. 347, v. 353). Zu Ronsards nostalgischer Sehnsucht nach einer Wunschlandschaft cf. Delumeau, Une histoire du paradis, p. 158. 4 Stierte: «Vom Gehen, Reiten und Fahren», p. 206. 5 Cf. Lestringant: «Introduction. Deux mondes en miroir», p. 7. 6 Ibid., p. 7. 195

Trotz dieser beiläufigen Bemerkungen Ronsards zur Neuen Welt behält die Festeilung ihre Gültigkeit, daß Amerika im geistigen Leben Frankreichs während des 16. Jahrhunderts keine besondere Rolle gespielt hat: Sur le plan intellectuel, l'Amörique n'apporte aucune revolution. Le voyage de J. Carrier donne seulement un cadre fantaisiste aux voyages de Pantagruel, les rocits de J. de Lay ou 1'Essai fatneux de Montaigne sur les Cannibales marquent une interrogation importante sur la nature humaine: on ne saurait parier d'avonement du bon sauvage, qui sera le fait du siecle des lumieres.^

Montaigne ist der erste der großen Schriftsteller in der französischen Literaturgeschichte, der sich ausführlicher und unmittelbar mit der Entdeckung Amerikas und ihren Folgen für das europäische Bewußtsein auseinandergesetzt hat.8 In seinen Essais verarbeitet er in großem Umfang die Erfahrungen der Reisenden und die Reflexionen der Geschichtsschreiber, um sie für die Kritik am Denken seiner Zeit zu nutzen. Die Entdeckung der Neuen Welt und ihre allmähliche Rezeption in Europa stellt für Montaigne eine Provokation dar, der er sich nicht verweigert. Eine Auseinandersetzung mit ihr wird unausweichlich, da sie sowohl in der Realität wie im intellektuellen Diskurs präsent ist, wozu die Reiseberichte einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Sie sorgten durch ihre Vermittlung von «menschenkundlichen Tatsachen» für die «geographische und ethnographische Horizonterweiterung der Europäer».9 Die Entdeckung Amerikas und die Konfrontation mit anderen außereuropäischen Kulturen verleiht Montaignes kulturkritischen Intentionen wichtige Impulse, die allerdings nicht so eindeutig zu beurteilen sind, wie es auf den ersten Blick scheint, m seiner Aufarbeitung der europäischen Amerika-Erfahrungen geht Montaigne andere Wege als die Reisenden und die Geschichtsschreiber. Ihn interessiert weniger der faktische Gehalt des nach Europa eingebrachten Wissens über fremde Kulturen. Sein Interesse gilt vielmehr der Frage, in welcher Weise es genutzt werden kann zur kritischen Selbstreflexion des europäischen Bewußtseins. Diese Absicht führt dazu, daß er bei seiner Rezeption Akzentuierungen und Verschiebungen vornimmt, die in vielen Fällen zu wesentlichen Abweichungen von dem fuhren, was die Reisenden mitgeteilt haben. Aufgrund dieser Interessenlage stehen jene Phänomene im Zentrum seiner Rezeption der Neuen Welt, die direkte Anschlußmöglichkeiten für die kritische Prüfung der europäischen Kultur bieten. Quantitativ kommt der Neuen Welt in den Essais keine besondere Rolle zu; sie weckt nur sein allgemeines Interesse: Comme il n'y a pas une idee de son temps que Montaigne n'ait discutoe, il est naturel que l'Amenque et les problemes soulevos ä son sujet aient interesso cet esprit universellement curieux.10

Die «decouvertes modernes», unter die auch die Entdeckung Amerikas einzureihen ist, stellen für Montaigne nur eine Quelle unter anderen dar, sie stehen in Konkurrenz

Stegmann: «L'Amorique de Du Bartas et de De Thou», p. 306. Soutet weist zu Recht daraufhin, daß die Entdeckung Amerikas erst am Ende des 16. Jahrhunderts - etwa bei Bodin oder eben Montaigne - zu soziologischen oder ethischen Konsequenzen im Denken geführt hat (cf. Soutet: litleratureß-anfaise de la Renaissance, pp. 8 sq.). Friedrich: Montaigne, p. 192. Lebel: Histoire de la Litteratwe Coloniale en France, p. 15.

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mit der Antike, der christlichen Tradition und dem Mittelalter.11 In historischer Hinsicht gilt seine Vorliebe - entsprechend dem Geschmack der Zeit - eindeutig der Antike. In geographischer Hinsicht greift er überwiegend auf jene exotischen Länder zurück, die entweder durch die Entdeckungsreisen oder aber durch die europäischen Konflikte mit dem Islam ins europäische Bewußtsein gerückt waren; sein Interesse gilt also dem Orient - dabei stehen Persien und die Türkei im Zentrum12 -, Afrika13 und danach erst dem neuentdeckten Kontinent Amerika. Die Präferenzen für die Antike und die exotischen Länder schließen freilich nicht aus, daß ihm auch die nähere Umgebung und die neuere Zeit in den Blick kommen. Montaignes erklärte Vorliebe gilt zwar den «exemples anciens», während er Phänomene aus der eigenen Zeit zu ignorieren behauptet: «Dequoy il y a tant d'exemples anciens, laissant ä part les nostres, qu'il n'est besoing que je m'y estende.» (2l)14 Tatsächlich jedoch wird diese Behauptung durch seine eigene Praxis an der gleichen Textstelle schon widerlegt: Er greift bei seiner unmittelbar an diese Aussage anschließenden Beschreibung von Jenseits- und Todesvorstellungen auf Belege zurück, die bis ins 16. Jahrhundert reichen. Zwar überwiegen Bezugnahmen auf das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit, doch finden sich auch zeitgenössische Ereignisse erwähnt, wie ein Hinweis auf die Neue Welt oder auf eine 1524 stattgefundene Schlacht. (21) Inhaltlich entstehen durch das Nebeneinder der verschiedenen Kulturen und Epochen in den Essais keine großen Brüche, weil Montaigne davon ausgeht, daß alle Teile der Welt kontinuierlich zusammenhängen. Er verweist ausdrücklich auf die «similitudes et convenances de ce nouveau monde des Indes occidentales avec le nostre, presant et passe, en si estranges exemples». (556) Mit dieser Auffassung schließt er sich an die Konzeption an, die auch Lery und Thevet, jeder auf seine Weise, vertreten haben, als sie die Homogenität der Welt darin bestätigt sahen, daß die «singularites» zu allen Orten und Zeiten einander ähnelten. Wie diese Autoren geht Montaigne von einer universalen Homogenität aus. Entsprechungen bestehen nicht nur zwischen den Merkwürdigkeiten der Neuen Welt und Europa; sie lassen sich in allen Ländern und Zeiten finden:

Feytaud: «Priface», p. 9. Cf. auch Gierczynski: «Le rationalisme de Montaigne et l'unitö de sä pensie», pp. 142 sq.: «II [Montaigne -A. E.] utilise de proference les oeuvres historiques des grands auteurs de l'Antiquite*, dont le tomoignage a plus d'autorite". II les soumet cependant toujours ä l'examen de son propre jugement. Conune l'opoque oü il vit est celle des grandes döcouvertes goographiques, il s'intoresse aussi beaucoup aux relations des voyageurs et des explorateurs, par exemple, ä leurs tomoignages sur la vie des peuples primitifs de l'Amorique.» Cf. auch Ce~ard: La nature et les prodiges, p. 403. Montaignes Interesse für Reiseberichte erklärt Bendelac mit der Unzulänglichkeit der empirischen Kenntnisse, die einem einzelnen Menschen zur Verfugung stehen und die durch die Lektüre anderer Autoren erweitert werden können. (Cf. Bendelac: «Montaigne et les anecdotes, le röel, la ve"rit6 et ITiistoire», pp. 74 sq.) Auch Montaignes Interesse für die Geschichtsschreiber («les historiens sont sä lecture favorite» (ibid., p. 75) ist unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Cf. weiter Francon: «Note sur Montaigne et l'histoire», p. 115. Nakam verweist auf die quantitative Dominanz der Asienbezüge in Montaignes Essais vor den anderen Kontinenten (Nakam: «La conquete du Nouveau Monde», p. 48). Cf. etwa folgende Orient-Thematisierungen in den Essais: Türkei, (857) Persien , (950 sq.) Orient (1049). Zu außergewöhnlichen Phänomenen in Afrika cf. etwa Montaigne: Essais, p. 857. Alle Seitenzahlen ohne nähere bibliographische Angaben im Text und in den Anmerkungen beziehen sich auf Montaigne: Essais. 197

En verite", considerant ce qui est venu ä nostre science du cours de cette police terrestre, je me suis souvent esmerveille" de voir, en une Ires grande distance de lieux et de temps, les rencontres d'un grand nombre d'opinions populaires monstrueuses et des moeurs et creances sauvages, et qui, par aucun biais, ne semblent tenir a nostre nature! discours. (556 sq.)

Aber trotz seiner Erklärung der Gleichrangigkeit aller Phänomene (104, 289) gehört Montaignes Vorliebe eindeutig der Vergangenheit (104, 975) und hier wieder der Antike,15 die er gegen die als schlecht charakterisierte Gegenwart ausspielt. (975) Freilich zitiert er die Antike nicht unspezifiziert: In «den beiden ersten Jahrhunderten der Renaissance» war Cicero allgegenwärtig;16 Montaigne aber wendet sich, unter Vernachlässigung Ciceros und manchmal auch in kritischer Wendung gegen ihn, Tacitus zu. Das hat auf seine Art der Geschichtsschreibung eine nachhaltige Auswirkung. Tacitus ist für Montaigne interessant als der Repräsentant einer Geschichtsauffassung, die sich eher auf kulturgeschichtliche Phänomene als auf politische und militärische Ereignisse konzentriert.17 Diese Präferenz für das kulturhistorische Detail macht sich Montaigne selbst zu eigen, wenn er sein Hauptinteresse bei der Betrachtung fremder Völker und Kulturen den Phänomenen der Alltagskultur widmet. Das Kriterium für die Auswahl solcher Phänomene ist die Frage, wie weit sie von den europäischen Gewohnheiten abweichen. In Montaignes schriftstellerischer Praxis fuhrt das dazu, daß er den außergewöhnlichen und besonderen Phänomenen den Vorrang gibt: Et aux diverses lecons qu'ont souvent les histoires, je prends ä me servir de celle qui est la plus rare et memorable. (104)

Montaigne sucht bei seinem Blick auf andere Länder zwar die Alltagskultur - im Gegensatz zu den großen politischen und geschichtlichen Ereignissen -, aber er sucht nicht das Gewohnte und Vertraute, wie viele seiner Zeitgenossen, über die er sich mokiert. (964) Er richtet vielmehr sein Augenmerk auf das Außergewöhnliche,18 das sich in jedem beliebigen kulturhistorischen Gegenstand zeigen läßt: D'autant qu'a mon advis, des plus ordinaires choses et plus conmunes et cogneuös, si nous 593vions trouver leur jour, se peuvent former les plus grands miracles de nature et les plus merveilleux exemples, notamment sur le subject des actions humaines. (1059, cf. auch 445)^

Auch westeuropäische Länder wie Italien oder Deutschland liefern Montaigne entsprechende Belege;20 selbst Frankreich wird gelegentlich in diesem Sinne betrachtet. (108 sq., 109 sq.) 15

Zum Rückgriff der Humanisten auf die Antike cf. Mousnier:Ies XVf et XVII6 siöcles, pp. 16

,, 10 »N-

Bück: Die Rezeption der Antike in den romanischen Literaturen der Renaissance, p. 119. Cf. Salmon: «Cicero and Tacitus in sixteenth-century France», pp. 47 sq. Cf. auch Bück: Die Rezeption der Antike in den romanischen Literaturen der Renaissance, pp. 131-133. 18 Cf. dazu Montaigne: Essais, p. 964: «Au rebours, je peregrine tres saoul de nos facons, non pour cercher des Gascons en Sicile (j'en ay assez laisse" au logis); je cerche des Grecs plustost, et des Persans». !9 Cf. auch Montaigne: Essais, p. 289. Mit Vorliebe betrachtet Montaigne seinen Untersuchungsgegenstand «par quelque lustre inusito»; (289) in den Editionen vor 1595 wird der Akzent noch deutlicher auf das Außergewöhnliche gelegt: «par quelque lustre extraordinaire». (1516) 20 So kommt Montaigne durch einen Vergleich der Badegewohnheiten in Deutschland und Italien zu folgendem Schluß: «II y a infinies autres differences de coustumes en chasque contrde; ou, pour mieux dire, il n'y a quasi aucune ressemblance des unes aux autres.» (757) 17

198

In diesen Rahmen ordnet sich seine Rezeption der Neuen Welt ein. Den Informationen über Amerika wird in diesem Kontext kein besonderer Stellenwert zugeschrieben, aus dem etwa hervorgehen könnte, daß sich Montaigne der epochalen Bedeutung der Entdeckung Amerikas für Europa bewußt gewesen wäre. Bei seiner Auswahl der in den Essais verarbeiteten Amerika-Informationen läßt sich feststellen, daß er sich weitgehend auf die Lebens- und Kulturformen der Indianer konzentriert. Themenkomplexe wie Geographie, Erdgeschichte, Flora und Fauna sowie die Entstehungs- und Entdeckungsgeschichte Amerikas werden nur am Rande erwähnt. Aus der Fülle der in den Amerika-Quellen dargestellten Lebens- und Kulturformen der Indianer greift Montaigne die dem Europäer unbekannten und außergewöhnlichen Bräuche heraus, die je nach Kontext und je nach der von Montaigne verfolgten Absicht durchaus unterschiedliche Funktionen wahrnehmen können und die unter den von Montaigne betrachteten verschiedenen Kulturen keineswegs eine Sonderstellung einnehmen: Wenn Montaigne Phänomene aus fremden Kulturen heranzieht, um sie mit der eigenen französischen Kultur zu konfrontieren, dann stehen Belege aus Amerika gleichberechtigt neben solchen aus anderen Ländern und Kontinenten wie der Türkei, Ägypten, Persien, Asien und Afrika.21

2. Quellen, gedankliche Voraussetzungen und Absichten von Montaignes Amerika-Darstellung Montaigne sieht sich theoretisch wie biographisch mit der Neuen Welt konfrontiert. Die Quellen, aus denen er seine Informationen bezogen hat, sind bekannt. Er hat sich im wesentlichen auf die Reiseberichte Andro Thevets und Jean de Lerys sowie auf die großen Geschichtswerke seiner Zeit gestützt, insbesondere auf Gomara und Benzoni/Chauveton.22 Die positivistisch orientierte Forschung hat Montaignes 21

22

Eine Aufstellung Über Vorkommen und Häufigkeit der unterschiedichen Kontinente in Montaignes Essais gibt Atkinson: Les nouveaia horizons, pp. 325 sq. Wenn auch Montaigne weder in den Essais noch in den übrigen auf die Neue Welt bezogenen Textstellen namentlich bestimmte Autoren nennt, so gilt seine Auswertung der Werke Thevets und insbesondere Ldrys sowie der Geschichtsschreiber Gomara und Chauveton in der Forschung als gesichert. Julien verweist femer auf den Geschichtsschreiber Belieferest, den Montaigne rezipiert haben soll (Julien: Les voyages de decouverte, p. 418). Eine indirekte Erwähnung Thevets findet sich in Des Cannibales, wo Montaigne sich von den Kosmographen distanziert; daß damit Thevet gemeint ist, wird deutlich durch seinen Zusatz Über den Palästina-Reisenden. (203) Zum Verhältnis Montaignes zu Chauveton cf. Villey, der es als gesichert ansieht, daß Montaignes Essai Des Cannibales auf Chauvetons Obersetzung, und nicht etwa direkt auf Benzonis Historia del Mondo Nuovo rekurriert: «on releve dans l'essai Des Cannibales un long morceau qui en [Chauveton - A. E.] vient directement. Les mots memes de Chauveton se retrouvent chez Montaigne, si bien qu'il n'est pas possible d'admettre que l'emprunt ait eti fait au texte Italien.» (Villey: Les sources et revolution des Essais de Montaigne I, p. 316.) Francon hingegen bestreitet die Annahme, daß Montaigne sich auf Benzoni/Chauveton gestützt habe, und zieht auch generell das Verfahren von Villeys Quellenuntersuchungen und Datierungsversuchen der Essais in Zweifel. Allerdings stützen sich Fra^ons Überlegungen nur auf schwache Indizien. (Cf. Francon: «On a Source of Montaigne's 'Essais'», pp. 443-445.) Über die zahlreichen Entlehnungen Montaignes aus Gomara geben die gut fundierten Anmerkungen der hier benutzten Pteiade-Ausgabe Aufschluß. - Montaigne konnte, da er bei der Beschreibung der Neuen Welt auch Bezug auf Mexiko nimmt, frühestens die 1584 von Martin Fumee verfaßte franzosische Übersetzung des spanischen Textes, die erstmals den Anhang über Mexiko enthält, vor Augen 199

Entlehnungen aus Geschichtswerken und Reiseberichten über die Neue Welt detailliert nachgewiesen, ohne jedoch diese Übernahmen angemessen zu charakterisieren.23 Chinard stellt seine Untersuchung unter den Anspruch, die verschiedenen Amerika-Textstellen der Essais - «ä travers les differents chapitres et les differentes editions»24 - in seine Montaigne-Interpretation einzubeziehen; er beschränkt sich jedoch auf Des Cannibales und Des Caches: Ne pouvant InumeYer en detail les passages Montaigne parle de l'AmeYique, ce qui du reste nous semble inutile, nous ferons porter plus particulierement notre attention sur deux chapitres [Des Caches, Des Cannibales - A. E.].25

Wenn auch in diesen beiden Essais die Leitideen von Montaignes Amerikabild dargelegt werden, so muß ihre Untersuchung doch ergänzt werden durch eine Betrachtung der übrigen Amerika-Erwähnungen bei Montaigne. Die Mißachtung dieser Notwendigkeit führt bei Chinards Untersuchung häufig zu pauschalen und willkürlichen Ergebnissen.26 Auch neigt er in seiner Analyse der von Montaigne verwendeten Quellen zu widersprüchlichen und vorschnellen Erklärungen, um Montaignes Rückgriff auf bestimmte Autoren zu erklären. Montaigne hat sich jedoch bei der Herausbildung seiner Amerika-Auffassung nicht nur auf gedruckte Reiseberichte und Geschichtswerke gestützt. Er nimmt auch verschiedene Gelegenheiten wahr, um unmittelbare persönliche Informationen zu bekommen. Eine entscheidende Rolle bei seiner Konzentration auf die Neue Welt in den beiden Amerika-Essais dürften zwei Vorfalle gespielt haben, die es Montaigne erlaubten - so behauptet er jedenfalls selbst -, in unmittelbaren Kontakt zu Gewährsmännern zu treten, die über hinreichende Amerika-Erfahrung verfugten. In Des Cannibales berichtet Montaigne von einem Informanten, der viele Jahre in Brasilien gelebt hat und den er lange Zeit bei sich hatte: J'ay eu long temps avec moy un homme qui avoit demeuro dix ou douze ans en cet autre monde qui a est6 decouvert en nostre siecle, en l'endroit ou Vilegaignon print terre, qu'il surnomma la France Antartique. (200)

Dieser Informant gibt Montaigne die Gelegenheit, Kenntnisse über die Neue Welt aus erster Hand zu bekommen, indem er ihn mit nach Amerika gereisten Matrosen

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gehabt haben bzw. die folgende Übersetzung aus dem Jahre 1587 (cf. Pereyra: «Montaigne et Lopez de Gomara», p. 123). Zu dem Einfluß Gomaras auf Montaigne cf. ibid. pp. 122-128; Bataillon: «Montaigne et les conqudrants de l'or», pp. 354 sqq. Inwieweit Montaigne Las Casas rezipiert hat, konnte weder von der älteren noch von der neueren Forschung mit Sicherheit geklärt werden (cf. Julien: Les voyages de decouverte, p. 418; Plattard: «L'Ame"rique dans ceuvre de Montaigne», p. 19; Mouralis: Montaigne et le mythe du bon Sauvage, p. 53; Bataillon: «Montaigne et les conqulrants de l'or», p. 355). Zu den von Montaigne rezipierten «textes d'histoire immediate et de geOgraphie» cf. Demonet: Michel de Montaigne, pp. 64 sq. Cf. etwa Villey zu Gomara (Villey: Les livres d'histoire moderne utilises par Montaigne, pp. 7696). Chinard: L 'exotisme americain dans la litterature franqaise au XVP siecle, p. 193. Ibid., p. 194. Bei der Gegenüberstellung von Montaigne und Lory konstatiert Chinard unspezifisch «quelques points de ressemblance» (ibid., p. 196) oder er zeigt sich erstaunt Über die «ressemblance entre deux esprits qui par leurs croyances et leurs habitudes intellectuelles, auraient du etre entierement difforents.» (Ibid., p. 197.)

und Kaufleuten bekannt macht. (203)27 Als weitere unmittelbare Informationsquelle von wesentlicher Bedeutung gibt Montaigne das Zusammentreffen mit drei Indianern anläßlich eines Fests in Rouen im Jahre 1562 am Hof von Charles IX an. (212 sq.) Montaignes Erwähnung dieser Begegnung ist eine der Schlüsselstellen, die von der Forschung bei der Thematisierung des französisch-überseeischen Kulturkontaktes im 16. Jahrhundert immer wieder herangezogen wird. Da offensichtlich andere historische Dokumente über diese Begegnung nicht existieren, wird Montaignes Aussage darüber immer wie selbstverständlich als authentisch angenommen.28 Es ist unbestritten, daß Montaigne im Gefolge von Charles DC an der Belagerung des hugenottischen Rouen teilgenommen hat;29 ob aber bei dieser Gelegenheit tatsächlich die Möglichkeit zu einem Treffen mit Indianern bestanden hat, ist fraglich. Montaignes eigene Angaben sind jedenfalls äußerst vage. In den wenigen Zeilen, in denen er über das Treffen berichtet, sind - was der Montaigne-Forschung bisher merkwürdigerweise völlig entgangen ist - nicht weniger als drei verschiedene Gespräche aufgeführt, auf die sich Montaigne bezieht: Zunächst eine nicht näher beschriebene Unterhaltung Charles1 IX mit Indianern, die zu dieser Zeit in Rouen gewesen sein sollen. Sodann beschreibt Montaigne das Gespräch eines anonymen Gesprächspartners - das er selbst also nur vom Hörensagen oder vom Zuhören kennt -, in dem die Indianer die berühmten drei Antworten geben, von denen Montaigne eine vergessen hat. Nur das letzte Gespräch will Montaigne selbst mit einem der Indianer geführt haben.30 Es hatte durch die Unzulänglichkeit des truchement nicht den gewünschten Erfolg31 obwohl Montaigne trotz dieses Eingeständnisses erstaunlich präzise die kritischen 27

Die Bezugnahme auf einen Gewährsmann, einen Indianer oder eine Person, die Amerika bereist hatte, scheint Üblich gewesen zu sein, um den eigenen Ausführungen einen größeren Authentizitätsgehalt zu verleihen. Pasquier will seine Kenntnisse Über die Indianergesellschaft Brasiliens von einem «Gentil-homme que je rencontray, ä Sainct Germain en Laye, qui avoit esto au Brezil» bekommen haben; gleichzeitig schützt er sich vor eventueller Kritik, die sich gegen die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen richten könnte: «L'on diet que celuy peut impunöment mentir, qui vient de loing.» (Pasquier: Les OEuvres II, col. 56). 28 Es gehört Überhaupt zu den Eigenheiten der Montaigne-Forschung, daß sie ihrem Autor sehr viel Vertrauen entgegenbringt; Montaigne hat, wie ironisch bemerkt wurde, in der Forschung so wenig Kritiker, daß es fast beunruhigend ist (cf. Bellenger: Montaigne, p. 297). Während vor allem Thevet vielen Forschern als unglaubwürdig gilt, ist man bei Montaigne stets bemüht, die seltenen Authentizitätsbeteuerungen in seinen Amerika-Essais uneingeschränkt zu glauben (cf. etwa Blanchard: Trois portraits de Montaigne, pp. 109 sqq., p. 152; Certeau: «Le lieu de l'autre», p. 66; Michel: «Montaigne et l'indigene du Brösil», p. 91). 29 Cf. etwa Nakam: Montaigne et son temps, p. 95. 30 In der Forschung wird die entsprechende Passage (212 sq.) zwar viel zitiert, aber meist ungenau gelesen. Daß es sich um drei verschiedene Gespräche handelt, wird häufig Übersehen; so spricht Sayce von den «three Brazilians», mit denen sich Montaigne mit Hilfe seines Dolmetschers unterhalten habe (cf. Sayce: The Essays of Montaigne, p. 91). Ähnlich geht auch Plattard von einem Gespräch Montaignes mit drei Indianern aus (Plattard: «L'Amorique dans ceuvre de Montaigne», p. 12). 3 1 Diese Äußerung Montaignes über seinen Dolmetscher hat gewagte Spekulationen ausgelöst: danach lastet Montaigne das Merkwürdige der Aussage des Indianers seinem Dolmetscher an, damit Montaigne das Fremde besser als das Eigene interpretieren kann. Auch wenn diese -und noch weiterreichende - Spekulationen Blanchards über die Gesprächssituation durch den Text nicht abgedeckt sind, ist doch die eine Beobachtung plausibel, daß der Indianer, mit dem Montaigne selbst gesprochen haben will, offensichtlich mit dessen Fragen nichts anfangen kann und daß Montaigne die Schuld daran dem Dolmetscher zuschreibt (cf. Blanchard: «Of Cannibalism and Autobiography», p. 665). 201

Aussagen des Indianers über Frankreich und seine politischen wie sozialen Verhältnisse wiedergibt. Die unklare Darstellung von Montaignes Begegnung mit den Indianern muß Zweifel an der Authentizität der geschilderten Erlebnisse wecken. Montaignes Bericht über dieses Treffen ist vielleicht nur eine Reminiszenz an das berühmte «Fest von Rouen»32 von 1550 anläßlich des Einzugs von Henri II in die Stadt.33 Die Möglichkeit scheint nicht ausgeschlossen, daß es eher der genius loci Rouens und die Erinnerung an das berühmte Fest von 1550 gewesen sind, die Montaigne dazu veranlaßt haben, ein nur fiktives Gespräch in diese Stadt zu verlegen.^)34 Die ungenauen Aussagen über die Gesprächssituation, die im frappierenden Gegensatz stehen zu den von Montaigne präzise referierten Äußerungen der Indianer, lassen die Authentizität der Begegnung jedenfalls zwielichtig erscheinen, zumal die gesellschaftskritischen Antworten zu sehr in Montaignes «Indianer»-Bild passen, als daß sie unbefragt als authentisch angenommen werden dürfen.35 Der kritische 32

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Es ist ganz sicher ein Irrtum, wenn Mollat annimmt, daß der 17-jährige Montaigne bereits an diesem Fest teilgenommen habe (cf. Mollat: «Humanisme et grandes dicouvertes», p. 233). Einen zeitgenössischen Bericht über das 1550 stattgefundene Fest von Rouen -ein Exemplar davon befindet sich in der Bibliotheque municipale von Rouen (Re's. Norm. 1126) -konnte ich Über Femleihe leider nicht beziehen; der Titel dieser Publikation (zitiert nach: Lestringant: «Rouen et les 'nouveaux horizons'», p. 235, Anm. 5) lautet: « C'est la deduction du sumptueux ordre plaisantz spectacles et magnifiques theatres dresses, et exhibes par les citoiens de Rouen ville Metropolitaine du pays de Normandie, A la sacree Majesta du Treschristian Roy de France, Henry second leur souverain Seigneur, Et a Tresillusfre dame, ma Dame Katharine de Medicis, la Royne son espouze, lors de leur triumphant joyeulx et nouvel advenemeni en icelle ville, Qui fut es jours de Mercredy et jeudy premier et second jours d'Octobre, Mil cinq cens cinquante («On les vend ä Rouen chez Robert le Hoy Robert et Jehan dictz du Gord tenant/ leur boutique Au portail des Libraires»). Ein Auszug eines weiteren zeitgenössischen Dokuments mit dem Titel «Relation de l'entröe du Roi Henri II ä Rouen» findet sich in: Les Haut-Normands et la Mer, pp. 10 sq. Cf. auch Chirol: «La premiere Renaissance en Normandie, de Gaillon ä Rouen», p. 228. Seit 1550 sind solche Schaustellungen mit Indianern in Frankreich üblich gewesen und auch gut belegt; die «de"fil£s exotiques» waren «ä la mode» (cf. Julien: Les voyages des decouverte et les premiers etablissements, pp. 324 sq.). Sayce verweist auf ein ahnliches Fest in Bordeaux anlaßlich des Einzugs von Charles IX, das 1565 stattgefunden haben soll und das Montaigne ebenfalls gesehen haben könnte (cf. Sayce: The Essays of Montaigne, p. 91); cf femer Francon: «Sur l'exotisme chez Rabelais et chez Montaigne», pp. 77-79. Gomez-Glraud spricht ganz selbstverständlich von einem Zusammentreffen Montaignes mit den Indianern in Bordeaux und nicht in Rouen; (cf. Gomez-Giraud: «La figure de l'interprete dans les r£cits de voyage», p. 320) damit steht sie in der Forschung wohl allein. Das erste Fest in Rouen hat im übrigen wesentlich dazu beigetragen, daß der französische König Henri II die Erforschung der Neuen Welt förderte (cf. Adhdmar: Frere Thevet, p. 32; La Ronciere: Histoire de la marine franfaise, p. 13). Beschreibungen des Fests von Rouen geben Alewyn: Das große Welttheater, p. 25 und La Ronciere: Histoire de la marine franfaise, pp. 10 sq. Montaigne thematisiert erneut das Zusammentreffen mit den Indianern in Rouen, um Begriffe wie «sauvages» und «brutes» zu relativieren, pp. 445 sq. Es wäre sicher notwendig, den Wahrheits- oder Möglichkeitsgehalt einer solchen Begegnung noch einmal sorgfältig zu prüfen und nicht einfach nur zu unterstellen, daß Montaigne hier über ein eigenes Erlebnis berichtet (cf. etwa Julien: Les voyages de dacotcverte, pp. 417 sq.; Raymond: «Montaigne devant les sauvages d'Amorique», p. 28). Die Forschung scheint sich mit dieser Frage der Authentizität noch kaum beschäftigt zu haben. Es gibt zu denken und ist charakteristisch für die apologetische Tendenz von großen Teilen der Montaigne-Forschung, daß die auf jeden Fall sehr ungenaue Basis für den «Kannibalen»-Essay zuletzt auch noch zugunsten Montaignes ausgelegt wurde: Lutri hat sie als Argument dafür gesehen, daß der Essai nicht ernst gemeint sei. Mon-

«Dialog» zwischen Montaigne und dem Indianer hat einen stereotypen Charakter; er erinnert an die späteren fiktiven Dialoge zwischen Europäern und «Wilden», wie sie die Aufklärung hervorgebracht hat: Hier wie dort geht es nicht um eine angemessene und kohärente Darstellung der Indianerwelt, sondern die jeweiligen europäischen Gesprächspartner sind nur an jenen Komponenten interessiert, die sich in eine Kritik der eigenen Gesellschaft ummünzen lassen.36 Wie immer auch der Authentizitätsgehalt von Montaignes Bericht zu werten ist - dieses reale oder fiktive Zusammentreffen stellt für Montaigne nach semen eigenen Aussagen jedenfalls den Höhepunkt seiner Erfahrung mit den neuentdeckten Völkern dar. Die empirische Grundlage für Montaignes Amerika-Bild ist also sehr schmal; das entspricht dem generellen Befund, daß Montaignes «Beobachtungsinteresse» selbst dort gering ist,37 wo es «den Menschen betrifft», und steht der Formulierung entgegen, nach der Montaigne ein «philosophe observateur» gewesen sei.38 Seine einzige unmittelbare Erfahrung über Amerika bestand offensichtlich darin, daß er ein indianisches Grundnahrungsmittel probiert haben will: «J'en ay taste: le goust en est doux et un peu fade.» (205) Montaignes wichtigste Quelle der «Welterfahrung» bleibt jedenfalls die Literatur im weitesten Sinne. Das ist freilich nicht unbedingt ein Einwand gegen seine Amerika-Auffassung, denn grundsätzlich ist die von Bideaux aufgestellte These nicht falsch, daß ein Autor wie Montaigne als Leser oder «cosmographe en chambre» über eine größere Informationsfülle als ein Reisender verfüge.39 Für Montaigne selbst sind Berufungen auf den Authentizitätsgehalt jedenfalls unwichtig; ihm ist eine allgemeine Plausibilität ausreichend: Aussi en Pestude que je traitte de noz moeurs et mouvemens, les tesmoignages fabuleux, pourveu qu'ils soient possibles, y servent comme les vrais. (104)40 taigne gehe es nicht dämm, die Kannibalen gegenüber den Europäern aufzuwerten, sondern das Augenmerk auf die Diskrepanz zwischen Fiktion und Erfahrung zu lenken. Lutris Aufsatz («Montaigne's Des Cannibales») ist ein guter Beleg für die von Lestriagant beobachtete Tendenz der Montaigne-Forschung, gerade angesichts des «Kannibalen»-Essais, Montaignes Argumentation nicht emst zu nehmen und ihm eine spielerische oder ironische Absicht zu unterstellen (cf. Lestringant: «Le cannibalisme des 'Cannibales' I», p. 29). Die tatsachliche oder vermeintliche Begegnung Montaignes mit den Indianern in Rouen hat die Forschung auch zu mancher anachronistischen Überinterpretation der gesellschaftskritischen Intention dieser Textstelle veranlaßt; so stellt etwa Blanchard fest: «Montaigne pose ä l'öpoque de Velazquez, la tameuse question de la place du ro/.» (Blanchard: Trots portraits de Montaigne, p. 110.) Diese Frage gehört zwar in der Tat zur «Epoche» von Velazquez, aber eben noch nicht zu der Montaignes: Velazquez wurde 1S99 geboren und malte sein einschlägiges Bild «Las Meninas» erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Cf. Kugler: «Das Streitgespräch zwischen 'Zivilisierten' und 'Wilden'», pp. 69 sq. Allerdings trägt diese Kritik keinesfalls revolutionäre Züge, wie Nakam andeutet, die in diesem Gespräch schon Vorausdeutungen auf die Französische Revolution angelegt sieht (cf. Nakam: «La conquete du Nouveau Monde: «une boucherie universelle»», p. 51). Gmelin: «Montaigne und die Natur», p. 27. Moureau, Francois: «Deux inidits montaigniens», p. 188. Cf. Bideaux: «Llionneste des autres: voyageurs du XVIe siecle», p. 80. Mit der These, Montaigne habe mit seinen Empiriebeteuerungen einen «effet de re"el» in der Darstellung der Indianergesellschaft schaffen wollen, nimmt Kritzman in der Montaigne-Forschung eine singuläre Position ein. So ist Kritzman wohl auch der einzige, der auf den möglicherweise fiktiven Charakter des Montaigneschen Gewährsmanns verweist: «Le lecteur doit ftre sdduit par un 'tomoin' qui lui est propose^ comme relais Voridique' [...]. Afin de simuler une libe"ra203

In seiner Komnientierung kultureller Sitten macht er keinen Unterschied zwischen Informationen aus erster und zweiter Hand. Er stellt aus Quellen erworbene Kenntnisse über die Antike ebenso wie solche über die Bewohner Amerikas oder «des Indiens et des Mores» völlig gleichberechtigt neben seine eigene Erfahrung.41 Der entscheidende Gesichtspunkt Montaignes bei der Auswahl seiner Informationen scheint weniger der Glaubwürdigkeitsgehalt zu sein als vielmehr der Grad des Interesses, den sie aufgrund ihrer Abweichung von der eigenkulturellen Normalität beanspruchen können.42 Diese Einstellung fuhrt zu einem sorglosen Umgang mit außergewöhnlichen Phänomenen, der den neuzeitlichen Ansprüchen an Authentizität und Glaubhaftigkeit kaum entspricht: Au point de vue de la critique historique, ce qui nous parait, a nous modernes, le plus suspect dans les Essais, c'est la facilitö de Montaigne ä accepter sans contröle des contes entachos de lögende et des coutumes extraordinaires. Rien ne lui parait discutable dans les re"cits de Plutarque, et il dofend son eher auteur contre Bodin, qui trouvait ses histoires parfois fabuleuses et inccroyables. (II, 32)«

Dieses Verfahren ist charakteristisch für einen Autor, dem es erklärtermaßen weniger auf den Wahrheitsgehalt seiner Informationen ankam als auf seine eigene Ansicht über sie; entscheidend für ihn war wohl das Reizpotential, das in bestimmten Phänomenen angelegt war44 und subjektive Kommentare und Assoziationen provozieren konnte. Angesichts dieser Dominanz der Subjektivität spielt die Realität nur eine untergeordnete Rolle. Die Frage, ob eine Information richtig oder falsch ist, tritt gegenüber der Originalität der durch sie ausgelösten Reflexionen zurück. Montaigne setzt gleichermaßen unmittelbare wie aus zweiter Hand vermittelte Erfahrungen mit dem Fremden zu den eigenen Gewohnheiten in Kontrast. Dennoch ist für ihn die Frage nach der Authentizität seiner Informationen zumindest unter dem rhetorischen Gesichtspunkt der Überzeugung des Lesers nicht ohne Belang. Da er mit seinen «Kuriositäten» nicht nur unterhalten, sondern auch belehren wollte,45 insistierte er auf der Glaubwürdigkeit seiner Informationen mit einem eher spekulativen als empirischen Argument, wenn er das universale Vorkommen solcher tion 'des inventions fauces', Montaigne invente un porte-parole, un veritable personnage de spectacle, qui seit de trompe-l'ceil cr66 pour les besoins de l'articulation de l'essai.» (Kritzman: «Montaigne et l'icriture de l'histoire», p. 111.) Defaux betont den Spielcharakter, der in den Authentizitätsbeteuerungen Montaignes sichtbar wird (Defaux: «Un cannibale en haut de chausses», p. 938). («Cannibales, Rabelais et Montaigne», p. 107) macht sich wieder für die Glaubwürdigkeit Montaignes stark, wie überhaupt die gesamte Forschung bei Montaignes Amerikaschilderung die Behauptung des persönlichen Erlebnisses nicht bezweifelt (cf. etwa Michel: «Cannibales et cosmographies», p. 24; Julien: Les voyages de decouverte, p. 418). 4 ! Montaigne: Essais, I, 36: De l'usage de se vestir (221-224). 42 Cf. Michel, der auf Montaignes Vorliebe für die «coutumes les plus insolites», die er allen Nationen und Epochen entlehnt, verweist (Michel: «Montaigne et l'indigene du Brosil», p. 90). 4 3 Villey: Les livres d'histoire moderne utilises par Montaigne, p. 29. Cf. Montaigne über Bodin: Essais, p. 700. Villey ist einer der wenigen, der auf die Unglaubwürdigkeit von Geschichten, die Montaigne als wahr ansah, hinweist. 44 Cf. zu Montaignes «amour de nouveau, de l'otrange», der sich über den Menschen hinaus erstreckt Raymond: «Montaigne devant rAme"rique», p. 29. 45 Von einem «ton [...] didactique» spricht Mermier in bezug auf den Essai Des Cannibales («L'essai Des Cannibales de Montaigne», p. 31). Cf. zu Montaignes Absicht «tirer une de ces ove"nements» Franfon, («Note sur Montaigne et l'histoire», p. 115) der sich hier auf zwei zeitgenössische Vorfälle bezieht; doch dürfte diese Intention Montaignes generell gültig sein. 204

Phänomene beteuerte: «Ces traits se pourroient trouver estranges, s'il n'estoit receu de tout temps». (20) Mit dieser Aufweichung des Authentizitätsanspruchs, den der Reisebericht und die Geschichtsschreibung gerade in dieser Zeit zu entwickeln begonnen hatten, verwischt Montaigne die Differenz zwischen Authentizität und Fiktion und zugleich auch die zwischen dem Gewöhnlichen, dem Außergewöhnlichen und schließlich dem Wunderbaren. Er gelangt damit fast wieder zu einer Rehabilitierung der von den älteren Geschichtsschreibern und Reisenden häufig verwendeten Begriffe «monstres» oder «miracles»: Si nous appellons monstres ou miracles ce oü nostre raison ne peut aller, combien s'en presente il continuellement ä nostre veue? (178)

Während die Reisenden und Historiographen des 16. Jahrhunderts zu einem vorsichtigen Umgang mit Begriffen wie «monstres» und «merveilles» gelangt waren, neigt Montaigne dazu, diese Begriffe unter Berufung auf die unendlichen Möglichkeiten Gottes und der Natur wieder als Kategorien der Weltbeschreibung zu akzeptieren: mais la raison m'a instruit que de condamner ainsi resoluement une chose pour fauce et impossible, c'est se dormer I'advantage d'avoir dans la teste les bomes et limites de la volonto de Dieu et de la puissance de nostre mere nature; et qu'il n'y a point de plus notable folie au monde que de les ramener ä la mesure de nostre capacity et Süffisance. (178)

Diese Überlegungen haben auch Konsequenzen für Montaignes Verständnis fremder Kulturen. Denn im Zusammenhang mit seinem Verweis auf die Unzulänglichkeit menschlicher Vernunft wird auch die negative Konnotation des Wortes «barbare», mit dem die Europäer gerne die Indianer belegten, von Montaigne zurechtgerückt: Les barbares ne nous sont de rien plus merveilleux, que nous sommes ä eux, ny avec plus d'occasion; comme chacun advotleroit, si chaucun S9avoit, apres s'estre promeno par ces nouveaux exemples, se coucher sur les propres et les conferer sainement. La raison humaine est une teinture infuse environ de pareil pois ä toutes nos opinions etmceurs, de quelque forme qu'elles soient: infinie en matiere, infinie en diversity. (110)

Mit solchen Reflexionen über kulturelle Grenzphänomene hebt Montaigne die eindeutigen Grenzziehungen wieder auf, welche der Diskurs der Neuzeit geschaffen hatte.46 Montaigne strebt damit eine strukturelle Öffnung des Denkens an, die sich auch auf anderer Ebene wiederholt. Seine Essais sind als Sammlungen von Belegen über kulturelle Phänomene zu verstehen, die potentiell unabschließbar sind. Häufig verweisen bereits Überschriften wie De l'usage de se veslir (I, 36) oder De la cruaule (II, 11) durch ihren allgemeinen Charakter auf die Möglichkeit, Belegsammlungen beliebig zu erweitem. Charakteristisch sind Überschriften wie De la cousiume et de ne changer aisement une loy receüe; (I, 23) sie lassen das Thema und damit auch die von Montaigne herangezogenen Phänomene völlig offen.47 Erst während der Lektüre 46

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Cf. dazu Ce"ard: La nature et les prodiges, vor allem p. 409 und p. 421 (cap. XVII: Miracles et monstres dans les Essais). Montaigne verweist selbst auf die lockere Beziehung, die zwischen der Überschrift eines Essai und seinem Inhalt besteht: «Les noms de mes chapitres n'e n embrassent pas toujours la matiere; souvent ils la denotent seulement par quelques marque, comme ces autres tiltres: l'Andrie, l'Eunuche, ou ces autres noms: Sylla, Cicero, Torqualus. J'ayme l'alleure poetique, ä sauts et ä gambades.» (973) Vor allem die Frage nach einer Struktur in Des Caches, einem Essai, der auf den ersten Blick völlig disparat und unzusammenhängend erscheint, hat zahlreiche Interpreten 205

erfährt der Leser von der Relativität menschlicher Gewohnheiten, die themenspezifisch aufgezeigt und mit Hinweisen auf verschiedene Völker und Zeiten belegt werden. Aber auch ein speziellerer, topographisch festgelegter Titel wie Coustume de l'isle de Cea (II, 3) hindert Montaigne nicht daran, bestimmte Verhaltensweisen anhand unterschiedlicher Nationen und Epochen zu illustrieren. Dagegen sind Überschriften, die wie in Des Cannibales von vornherein eine inhaltliche und tendenziell eine topographische Festlegung implizieren, äußerst selten. Der offenen und auf Erweiterung der Belegstellen angelegten Struktur der Essais entspricht auch ihr Stil. Montaigne verweist auf die Fortsetzbarkeit seiner BeispielSammlungen durch die Kumulation beliebiger Sitten aus allen Ländern und Epochen, indem er seine Informationen in Teilsätzen aneinanderreiht, die alle mit «oü» eingeleitet werden. Dieses Stilmittel wird in dem Essai De la coustume et de ne changer aisement une loy receüe (I, 23) durch die Ausdehnung über mehrere Seiten extrem überanstrengt, (l 10-113; cf. auch 557) Die Unabgeschlossenheit, die zu den charakteristischen Merkmalen der europäischen Essayistik gehören wird, demonstriert Montaigne auch durch sein Publikationsverfahren. Von Edition zu Edition reichert er seine Essais mit neuen Belegen an, die in immer neuen Variationen außergewöhnliche und einmalige Sitten und Bräuche illustrieren. Dieses Verfahren erlaubt es ihm, auf neue Erfahrungen und Informationen zu reagieren und sie in seine Essais einzubeziehen, ohne deren Struktur deshalb umgestalten zu müssen. Davon profitiert auch seine Rezeption der Neuen Welt, die in den ersten Ausgaben der Essais eine nur geringe Rolle gespielt hat. Seit der Ausgabe von 1588 gewinnt sie einen Status, der sie bald gleichberechtigt stehen läßt neben den anderen Kulturkreisen, aus denen Montaigne seine Belege für exotische Sitten und Gebräuche bezieht. Der Grund für diese verzögerte Rezeption Amerikas ist auch darin zu sehen, daß Montaigne der neue Kontinent zu einem großen Teil erst durch Fumees 1584 publizierte Übersetzung der Historia general Gomaras zugänglich wird: Cette addition de 1588 prouve combien Montaigne s'interessait aux moeurs et coutumes des sauvages d'Amerique, auxquels sont consacrts l'essai Des cannibales (chap. XXXI de ce mSine livre) et un passage de l'essai Des caches (III, VI)/*8

Die Neue Welt fügt sich strukturell wie inhaltlich problemlos in den Kosmos kultureller Phänomene ein, die ihren Platz in Montaignes Essais gefunden haben. Die Offenheit der Essaiform erlaubt die Integration immer neuer Informationen.

beschäftigt (cf. etwa Guthwiith: «Des Caches, ou la structuration d'une absence», pp. 8-20; Stierle: «Vom Gehen, Reiten und Fahren»). Als vorrangiges Bindeglied zwischen den verschiedenen Themen dient in Des Caches «le luxe» (cf. Terrasse: Rhetorique et l'essai litteraire, p. 23); Tournon unterscheidet zwei zentrale Begriffe, «l'instabilito» und «le luxe», die -ohne jeglichen Bezug zueinander - für die Struktur von Des Caches maßgeblich sind (Toumon: «Function et sens d'un titre inigmatique (III, 6)», pp. 61 sq.). Rat: «Notes et variantes», p. 1434 (Anm. 4 zu p. 21 der Essais). Fun^e hatte bereits 1569 die Historia general Gomaras übersetzt.

206

3. Die philosophischen Voraussetzungen von Montaignes Welterfahrung Das Amerika-Interesse Montaignes steht in einem größeren Kontext. Ihn interessieren offensichtlich die Details der fremden Kultur nicht allzusehr; interessant ist vielmehr für ihn die Frage, welche Rolle die Erfahrung des «Neuen» für den Menschen und den Philosophen spielen kann. Montaigne thematisiert diese Frage in der Form, daß auch er, ebenso wie manche der Amerika-Reisenden, sich mit dem Problem der «Neugierde» auseinandersetzt. Seine eigene praktische Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen wird theoretisch durch einige positive Stellungnahmen zur Neugierde in den Essais fundiert. Montaigne konstatiert bei sich eine Über die allen Menschen eigene «naturelle curiosit6> (492) weitergehende «singuliere curiosite». (394)49 Bisweilen sieht er sich auch veranlaßt, sich «un peu plus curieusement qu'il ne se faict» (756) mit Begebenheiten auseinanderzusetzen. Montaigne propagiert die Neugierde nicht nur als erstrebenswertes Ziel für sich selbst. Auch in der Kindererziehung stellt die «honeste curiosito de s'enquerir de toutes choses» (155) ein wesentliches Erziehungsziel dar. Jeder beliebige Gegenstand kann die Neugierde des Kindes wecken: Sonune, je veux que ce [ce grand monde — A. E.] soit le livre de mon escholier. Tant dtiiimeurs, de sectes, de jugemens, d'opinions, de loix et de coustumes nous apprennent ä juger sainement des nostres, et apprennent nostre jugement ä reconnoistre son imperfection et sä naturelle foiblesse: qui n'est pas un legier apprentissage. (157)

Bereits in diesem Zusammenhang wird das «Reisen» als ein Mittel des Erkenntnisgewinns oder der Überschreitung von Erkenntnisschranken gewürdigt50 - eine Auffassung, die, entgegen heutigen Denkgewohnheiten, bis ins 18. Jahrhundert hinein durchaus nicht selbstverständlich war. Für Montaigne kann das Reisen in fremde Länder einen ganz entscheidenden Beitrag zur Erziehung des Kindes leisten, da es reines Buchwissen überwindet und die eigene Urteilsfähigkeit zumal dann ausbildet, wenn es über die im 16. Jahrhundert für den Adel üblichen Bildungsreisen hinausgeht, (l 52) Die Stellungnahmen Montaignes zur Neugierde sowie seine allgemeine Forderung nach Unterstützung des Wissenstriebes dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß er einer Wissenskonzeption verhaftet bleibt, die ihn neuen Erfahrungen gegenüber wenig aufgeschlossen macht. Trotz seines Interesses und seiner Sensibilität, mit denen er dem Neuen und Unbekannten gegenübertritt,51 ist Montaigne noch weit von jener neuzeitlichen Form der Neugierde entfernt, die Blumenberg als «theoretische» oder «reflektierte» Neugierde bezeichnet. Zwar ist auch die als «naiv» zu bezeichnende Neugierde-Konzeption Montaignes eine Voraussetzung für die Wahrnehmung des Neuen und die Möglichkeit, es als Provokation zu empfinden. Aber erst mit der Ausbildung einer «reflektierten» Neugierde verfügt das Subjekt über die Bedingun-

49 Diese «singuliere curiosito» gilt jedoch nicht generell, sondern beschrankt sich auf das Studium der von Montaigne konsultierten Autoren (394). 50 Cf. dazu Bellenger: Montaigne. Unejete pour I'esprit, pp. 227-230. 51 Cf. zu diesem Problem die Überlegungen Stackelbergs aus Anlaß von Montaignes Italienreise (Stackelberg: Französische Moralistik im europischen Kontext, pp. 75 sq.). 207

gen, die ihm Erfahrung und Verarbeitung des Fremden erlauben.52 Eine wesentliche Konstituente der «theoretischen» Neugierde stellt nach Blumenberg die Einsicht dar, daß der Mensch sich emanzipieren kann von jenen Schranken, die ihm Gott mit seiner Gewährung eines nur beschränkten Erkenntnisrechtes zugewiesen hat.53 In den Essais hingegen häufen sich Aussagen, die den Menschen auf die Grenzen seiner Erkenntnis verweisen: II se faut contenter de la lumiere qu'il plait au soleil nous communiquer par ses rayons; et, qui eslevera ses yeux pour en prendre une plus grande dans son corps mesme, qu'il ne trouve pas estrange si, pour la peine de son outrecuidance, il y perd la veüe. (215)

Grundsätzlich hält Montaigne an einer Wissenskonzeption fest, die versucht, das Neue in vorhandene Erklärungsmuster zu integrieren. Trotz einer beständigen Konfrontation mit neuem Wissen, wie sie das 16. Jahrhundert auf den verschiedensten Gebieten mit sich brachte, bleibt Montaigne einer Haltung verhaftet, die jedes Fortschrittsdenken ablehnt: La cognoissance des causes appartient seulement ä celuy qui a la conduite des choses, non ä nous qui n'en avons que la souffrance, et qui en avons l'usage parfaictement plein, selon nostre nature, sans en penetrer l'origine et l'essence. (1003)

Insbesondere Montaignes Apologie de Raimond Sebond (II, 12) bietet hierfür zahlreiche Belege, was umso merkwürdiger ist, als gerade dieser Text von den Zeitgenossen je nach Position entweder als Skandalen oder aber als Eintritt in eine neuzeitliche Auffassung des Wissens begriffen wurde. Tatsächlich aber geht es Montaigne gerade hier darum, den Glauben gegen die Vernunft aufzuwerten und den menschlichen Wissensanspruch zurückzuweisen. Falls die menschliche Neugierde die von Gott gesetzten Wissensgrenzen überschreitet, wird sie von Montaigne als vom Teufel gesandte Versuchung, (467) als Pest54 und Sünde gewertet: Les Chrestiens ont une particuliere cognoissance combien la curiosito est un mal nature! et originel en Itiomme. Le soing de s'augmenter en sagesse et en science, ce flit la premiere mine du genre humain; c'est la voye par oü il s'est precipite* ä la damnation eternelle. (477 sq.)55

Damit reiht Montaigne die «curiositas» wiederum in den Lasterkatalog ein und empfiehlt wie Augustinus statt Neugierde Mäßigung auch im Erkenntnisstreben. Auf der anderen Seite jedoch konnte sich Montaigne der Konfrontation mit dem Neuen nicht entziehen. So sehr er die bloße Neugierde ablehnte, so intensiv, aber auch so skeptisch hat er sich mit den Erfahrungen auseinandergesetzt, die in seiner Zeit das traditionelle Weltbild ins Wanken gebracht haben. In seinen Reflexionen über die Errungenschaften des menschlichen Geistes und menschlicher Tätigkeit findet er immer wieder seine skeptische Grunderfahrung bestätigt, daß Unsicherheit das Sicherste sei, 52

53 54

55

208

Zu den Begriffen der «naiven» und der «reflektierten» Neugierde cf. nochmals Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, insbesondere pp. 17 sq. Cf. ibid., p. 202. Cf. Montaigne: «La peste de l'homme, c'est l'opinion de scavoir. Voilä pourquoy l'ignorance nous est tant recommandoe par nostre religion comme piece propre ä la creance et ä l'obeissance.» (Essais, pp. 467 sq.) Zur Ablehnung der Neugierde durch Montaigne cf. weiter Essais, p. 181, p. 215, pp. 296 sq., p. 467, pp. 477 sq., p. 491. Cf. dazu Ishigami-Iagolnitzer: «Ide"e de la destinie humaine selon quelques humanistes du temps des guerres civiles», p. 120. Ähnlich wie die Neugierde wird auch die Erfahrung von Montaigne abgewertet, wenn sie die Metaphysik berührt. (Cf. Bernoulli: «De Sebond ä Montaigne», p. 39.)

was es auf der Welt gibt.56 Montaignes antipodisches Verhältnis zu den Prozessen, in denen sich die Neuzeit konstituierte, wird in seiner skeptischen und zugleich konservativen Haltung gegenüber den Errungenschaften der Wissenschaft und der praktischen Welterschließung manifest.57 Auch wenn er Theoreme formuliert, die sich im Zusammenhang mit dem neuzeitlichen Weltbild herausgebildet haben, gibt er ihnen eine traditionalistische Wendung. In der Apologie de Raimond Sebond greift er den Gedanken auf, daß alle Menschen den gleichen physikalischen Gesetzen unterliegen, die von der menschlichen Vernunft auch erkannt werden. (504 sq.) Aber diese Grundidee des neuzeitlichen Weltbildes wird sogleich wieder eingeschränkt. Sie impliziert, wie Montaigne richtig sieht, eine Selbstermächtigung der menschlichen Vernunft, der sich der fortschrittsskeptische Montaigne nicht so ohne weiteres anheimgeben will. So führt er gegen die Homogenität jener Welt, welche die Vernunft erkennen kann, die unendlichen Möglichkeiten Gottes an, welche jede Vemunfterkenntnis überschreiten. Montaigne will damit jene Berichte rehabilitieren, welche von der neuzeitlichen Entdeckungsgeschichte ins Reich der Fabel verwiesen wurden. Nicht unbedingt um die Einheit der Welt zu bestreiten, wohl aber um die Macht der Vernunft wieder in ihre Schranken zu weisen, werden die Fabelwesen der antiken Naturgeschichte, die «homines [...] sans teste, portant les yeux et la bouche en la poitrine» oder die «hommes sans bouche, se nourissans de la senteur de certaines odeur» wieder neu belebt. (506) Sein Mißtrauen gegenüber der Vernunft führt Montaigne schließlich dazu, die Homogenität der Welt in Frage zu stellen. Wo sie besteht, ist sie nur eine Fiktion des menschlichen Verstandes, der die göttlichen Möglichkeiten beschneiden muß, um sich in der Welt einrichten zu können. Die Vernunft erkennt nicht die Welt, sondern nur die Regeln, «que nous avons taillees et prescrites a nature». (506) Diese gedankliche Volte führt Montaigne zu einer eigenartigen Bewertung der Neuen Welt in ihrem Verhältnis zur alten. Erschien sie ihm einerseits als kontinuierliche Fortsetzung der bekannten Welt, so wird sie ihm im Kontext seiner vemunftskeptischen Überlegungen zum Beleg für die gottgegebene unendliche Vielfalt, die sich dem gedanklichen Zugriff des Menschen entzieht:

Cf. Montaigne: Essais, p. 1053. Zu Montaignes Skepsis gegenüber der Wissenschaft und ihren antiken Quellen cf. Winklehner: Die Tugenden der antiken Philosophenschulen bei Michel de Montaigne, pp. 31-33. Damit stand Montaigne nicht allein in seiner Zeit. Die westeuropäischen Krisenerfahrungen des 16. Jahrhunderts haben dazu beigetragen, daß das Vertrauen in die menschliche Leistungs- und Erkenntnisfähigkeit nachhaltig erschüttert wurde, was sich in der skeptischen Haltung vieler Autoren der Romania artikulierte. Cf. Bück: Forschungen zur romanischen Barockliteratur, pp. 3251; zu Montaigne cf. ibid., p. 38. Zu Montaignes Feindschaft gegenüber Neuerungen cf. Starobinski: Montaigne, pp. 403-424. Die Skepsis gegenüber den Wissenschaften ist zeittypisch; bei Montaigne wird sie jedoch in einer Weise radikalisiert, wie sie sich bei kaum einem anderen Zeitgenossen findet (cf. Bück: «Montaigne und die Krise des Humanismus», pp. 13 sq.). Lopez Fanegos Bemühungen, Montaigne trotz seiner ablehnenden Haltung der Wissenschaft gegenüber zumindest einen «esprit scientifique» zuzuweisen, sind wenig überzeugend: «L'esprit scientifique [...] date du moment les hommes ont cherche ä savoir, ä savoir pour savoir et non pas seulement pour vivre. De ce point de vue les Essais sont un maillon exceptionnellement important de la chalne que constitue ITiistoire du progres scientifique.» (Lopez Fanego: «L'attitude prohistorique de Montaigne», p. 165.)

209

Nous voyons en ce monde une infinie difference et varieto pour la seule distance des lieux. Ny le bled, ni le vin se voit, ny aucun de nos animaux en ces nouvelles terres que nos peres ont descouvert; tout y est divers. (506)58

Was bleibt, sind am Ende die empirischen Phänomene, über deren Einordnung in einen größeren Zusammenhang die Vernunft keine Entscheidung treffen kann. Montaigne ist an der Empirie interessiert, nicht an gedanklichen Modellen, mit denen sich diese Empirie in den Kosmos einordnen läßt. Seine Skepsis gegenüber der menschlichen Wissensfähigkeit «führt ihn zur Verachtung der Prinzipien», an deren Stelle er «gesunden Menschenverstand» und eine experimentelle, empirisch orientierte Methode setzt.59 Seine Foitschrittsskepsis drückt sich exemplarisch in seiner Rezeption der neuen Theorie von Kopernikus aus. Montaigne scheint der erste Schriftsteller des 16. Jahrhunderts in Frankreich gewesen zu sein, der sich überhaupt etwas einläßlicher mit Kopernikus auseinandergesetzt hat. Er kommt aber in bezug auf die kopernikanische Theorie zu dem gleichen Urteil wie überhaupt über den Wissensfortschritt: Sie hat keinen größeren Wert als ihre Vorgänger. Sie muß mit Mißtrauen betrachtet werden, da sie weniger von der Leistungsfähigkeit als von der Fehlbarkeit des menschlichen Verstandes Zeugnis gibt, denn durch Kopernikus werden alle Theorien entwertet, die zuvor über den Kosmos aufgestellt worden waren; nichts bürgt dafür, daß ein gleiches Schicksal nicht auch der Theorie von Kopernikus selbst wiederum widerfahren kann.(553)60 Mit diesem Argument thematisiert Montaigne die Unzulänglichkeit menschlichen Wissens, indem er eine zentrale Theorie des neuzeitlichen Selbstverständnisses61 in ihrem Fortschrittsgehalt entwertet. In gleicher Weise greift Montaigne auch die Entdeckung Amerikas auf. Sie erscheint ihm weniger als Ausdruck der menschlichen Leistungsfähigkeit denn vielmehr als Beleg für die Vergänglichkeit allen Wissens: Cette descouverte d'un pals infini semble estre de consideration. Je ne S9ay si je me puis respondre que il ne s'en face ä l'advenir quelqu'autre, tant de personnages plus grands que nous ayans est£ trompez en cette-cy. (200)

Die kritischen Aussagen Montaignes über die Legitimation menschlichen Forschens und Wissens gerade im Zusammenhang mit den beiden Ereignissen, die als bahnbrechende Leistungen der Neuzeit betrachtet wurden, lassen auf einen konservativen Neugierdebegriff schließen.62 Mit ihm bleibt Montaigne hinter den Geschichts58

Cf. zur Vielfalt der Welt auch Montaigne: Essais, p. 321. Gmelin: «Montaigne und die Natur», p. 29. 6 ^ Cf. Plattard: «Le Systeme de Copernic dans la litterature frai^aise au XVIe siecle», pp. 234 sq. 61 Zur Wirkung der kopemikanischen Theorie auf die Zeitgenossen und spätere Jahrhunderte cf. Blumenberg: Die Genesis der kopemikanischen Welt, pp. 149-161. Auch in bezug auf Kopernikus wurde -wie in bezug auf Columbus -oft die unzutreffende These vertreten, daß seine Theorie als Schock empfunden wurde: «In 1543 when COPERNICUS published his tract on the revolutions of the celestial orbs, the notion that the earth moved from a fixed point seemed novel, even shocking.» (Heninger: «Pythagorean Cosmology and the Triumph of Heliocentrism», p. 35.) 62 In neuerer Zeit verdankt Montaigne seinen Ruf vor allem der Tatsache, daß er das «diskursive Wissen» in Frage gestellt und sich in das «offene Feld des Erkennbaren» hinausgewagt habe. Er wendet sich gegen den linearen und schulmäßigen Diskurs, um «das Denken in seiner Ursprünglichkeit und in seiner körperlichen Venvurzeltheit sinnfällig machen zu können»; Stierte: «Vom Gehen, Reiten und Fahren», p. 209. Eine solche Deutung mutet jedoch recht anachronistisch an, 59

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schreiben! und Reisenden seiner Zeit zurück, die - wenn auch innerhalb bestimmter theologischer Grenzen - der Neugierde und damit verbunden dem Wissenszuwachs positiv gegenüberstanden. Seine Skepsis steht quer zum sich anbahnenden Fortschrittsdenken der Neuzeit, welches das folgende Jahrhundert beherrschen wird. Montaigne vertraut eher auf traditionelle Denk- und Verhaltensformen als auf die Weltoffenheit der Neuzeit; in «dem skeptischen Realismus, mit dem Montaigne die Gesellschaft und den Einzelnen in ihrem Sosein mustert, wurzelt seine Abneigung gegen alles Neue.»63

4. Die Relativität kultureller Werte in der Ideengeschichte der Frühen Neuzeit Als eine der wesentlichen geistigen Errungenschaften von Montaignes Essais wird seine Einsicht in die Relativität kultureller Wertvorstellungen betrachtet. Montaigne gilt als der Philosoph, der als einer der ersten die Unbedingtheit der eigenen Kultur in Frage gestellt hat.64 Diese Vorstellung ist sicher nicht erst durch seine Rezeption der amerikanischen Kultur entstanden. Auch seine eigenen, allerdings geringen Reiseerfahrungen haben zur Ausweitung seines Horizontes und zur Vorbereitung der Einsicht in die Relativität der Kulturen beigetragen.65 Das Tagebuch seiner mehrmonatigen Italienreise dokumentiert die Unterschiede in den Sitten, Gebräuchen und Gesetzen der Nationen minutiös und liefert so eine empirische Grundlage für die Auffassung der Relativität kultureller Phänomene.66 Montaigne hält in seinem Tagebuch zahlreiche Beobachtungen fest - oder läßt sie von seinem Diener festhalten -, die seinen Willen zum Abrücken von Vorurteilen und überkommenen Meinungen dokumentieren: Qu'il [Montaigne - A. E.] s'estoit toute sa vie mesfio du jugemant d'autniy sur le discours de commodity des pals estrangiers, chacun ne scachant gouster que selon l'ordonnance de sa coutume et de l'usage de son village."

Seine in den Essais formulierte Kritik gegenüber der Anmaßung, fremde und ungewöhnliche Phänomene moralisch zu bewerten, findet hier ihr Anschauungsmaterial: da sie Montaigne zum Kritiker einer Wissensauffassung macht, die sich zu seiner Zeit in dieser Form noch kaum herausgebildet hat. 63 Bück: «Montaigne und die Krise des Humanismus», p. 19. 64 Cf. Brenner: «Interkulturelle Hermeneutik», pp. 37-39. 65 Cf. Montaigne: «Tant dtiumeurs, de sectes, de jugemens, d'opinions, de loix et de coustumes nous aprennent ä juger sainement des nostres, et apprennent nostre jugement ä reconnoistre son imperfection et sa naturelle foiblesse: qui n'est pas un legier apprentissage». (157) 66 Cf. Moureau: «Deux inidits montaigniens», p. 188. Cf. auch Wuthenow: Die erfahrene Welt, pp. 82-8S. Zum Verlauf der recht konventionell und aufwendig angelegten Reise cf. Schultz: Michel de Montaigne, pp. 66-99. Zu Montaignes Aussagen Ober andere ungewöhnliche Sitten und Bräuche cf. Montaigne: Journal de voyage en Italie, pp. 1130, p. 1165, p. 1236, p. 1250. Dazu auch Stackelberg: Französische Moralistik im europäischen Kontext, pp. 73 sq. 6 ^ Montaigne: Journal de voyage en Italie, p. 1170. Diese Einstellung hindert Montaigne andererseits nicht daran, bei seiner Italienreise auf den gewohnten Komfort zu verzichten, und fremde Sitten und Bräuche als «unbequem» zu qualifizieren; (cf. ibid., pp. 1146 sq.) dies bringt dem Italien-Reisenden den Ruf eines «nomadeen pantoufles» ein (Delpech: «Introduction», p. 10). 211

c'est line sötte presumption d'aller desdaignant et condamnant pour faux ce qui ne nous semble pas vray-semblable, qui est un vice ordinaire de ceux qui pensent avoir quelque Süffisance outre la commune. (177 sq.)

Der Einfluß der Reiseliteratur über exotische Regionen auf Montaigne und damit seine Konfrontation mit dem «Neuen» läßt sich in den Essais erst für die späteren Auflagen konstatieren.68 Montaigne konzentrierte sich zunächst auf «den Kulturkreis des Mittelmeers und Westeuropas», ab 1588 aber sind «die Essais dicht gesättigt mit Belegen aus den südamerikanischen, nah- und femöstlichen Völkern.»69 In diesem Zusammenhang tritt auch die Neue Welt in den Blick Montaignes. Obwohl sie quantitativ nicht besonders herausragt, kommt ihr gegenüber den vielen verstreuten Bemerkungen über die Sitten der verschiedenen Zeiten und Kulturen insofern ein gewisser Sonderstatus zu, als Montaigne ihr mit Des Cannibales (I, 31) einen seiner Essais ganz und mit Des Caches ( , 6) einen weiteren zum großen Teil gewidmet hat. Für Montaigne, der sich als Philosoph, Moralist und Schriftsteller allen Themen gleichermaßen zuwenden will und der vor allem den Menschen ins Zentrum seiner Betrachtung rückt, stellt sich die Entdeckung Amerikas mit seinen Naturvölkern sowohl auf philosophischer als auch auf moralischer Ebene als eine Herausforderung dar. Die «damals so zahlreichen abenteuerlichen Beschreibungen der eben neuentdeckten Länder», die nicht nur den «Kuriositätenhunger» Montaignes stillen, sondern auch einen «philosophischen Nutzen» haben, treten also neben die aus der klassischen Antike oder aus anderen Epochen und Regionen bezogenen Zeugnisse.70 Der «philosophische Nutzen» Amerikas besteht zunächst darin, daß die eigenen Vorstellungen einer Überprüfung unterzogen werden: Les peuples «sauvages» que les premiers navigateurs vont rencontrer, a la fin du XVe siecle, aux Antilles, puis sur le continent, provoquent d'emblee une double interrogation [...]. Sur le plan philosophique: ces peuples qui paraissent vivre dans une sorte d'otat de nature n'ont-ils pas un mode de vie superieur a celui des Europeans? Sur le plan moral: a-t-on le droit de chercher ä les convertir au christianisme et de vouloir leur imposer une domination politique qui risque de faire leurmalheur?7'

Es ist kaum bestreitbar, daß diese Literatur und die in ihr vermittelten Erfahrungen wesentlich dazu beigetragen haben, die europäischen Wertvorstellungen einer gedanklichen Revision zu unterziehen.72 Montaigne gilt in der Forschung heute vielfach als jener Autor in der französischen, wenn nicht überhaupt in der europäischen Literatur, der als erster Konsequenzen aus der Entdeckung der Neuen Welt gezogen habe, indem er die eigenen Wertvorstellungen relativierte und zu einer vorurteilsfreien Betrachtung fremder Kulturen gelangt sei: II est le premier dcrivain fran9ais qui ait envisago la question indigene exclusivement du point de vue humain, en dehors de tout egoYsme et de tout prejugo d'Europoen, en apportant dans cet examen un don de Sympathie et demotion exceptionel dans son ceuvre et qui ne sera pas depasso.

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Cf. Friedrich: Montaigne, pp. 192 sq. Ibid., p. 193. 70 Flake: «Einleitung», p. 16. 7 ' Mouralis: Montaigne et le mythe du bon Sauvage, p. 11. 72 Cf. Wuthenow: Die erfahrene Welt, pp. 86 sq. 69

212

En denon9ant les idoes pre*con9ues et les mensonges des civilised, il a frayi la voie aux libertins et aux philosophes.7^

Diese von einem Kenner der Materie geäußerte Auffassung hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Auch Edwin M. Duval sieht Montaigne als «pioneer of 'cultural relativism'»;74 Frauke Gewecke spricht unter den Zeitgenossen allein Montaigne die Fähigkeit zu, über die Einsicht in die Natur des Vorurteils in allgemeinen Erkenntnisprozessen und die Steuerungsmechanismen ethnozentrischer Einstellung in der besonderen Situation der interkulturellen Begegnung zu einem angemesseneren, die Stereotypisierung allerdings nicht ausschließenden Verständnis des Amerikaners zu gelangen.7^

Die Zeitgenossen wie Gomara, Benzoni/Chauveton, Las Casas, Thevet und Lery bleiben nach dieser Auffassung «der schlichten Wiedergabe der angebotenen, in der Tradition der Amerikana bereits fest verwurzelten Stereotype» verhaftet.76 Nur selten werden in der Forschung kritischere Stimmen laut, die Montaignes diesbezüglichen Ruf in Frage stellen. Lestringant betont zwar den Kulturrelativismus Montaignes, doch spricht er ihm die Vorreiterrolle ab, indem er ihn gleichrangig neben Hans Staden, Thevet und Lory stellt: Montaigne, y [Des Cannibales — A. E.] reprenant apres l'Apologie de Raymond Sebond l'opposition de l'art et de la nature, affiime la superorito de celle-ci sur celui-lä pour dresser le tableau soduisant et tres nettement favorable de la soci£t£ des Cannibales du Brasil —docrits auparavant en des termes tout ä fait comparables par Hans Staden, Andrt Thevet et Jean de Leiy.77

Todorov schließlich bestreitet überhaupt Montaignes Fähigkeit, die Relativität der eigenen europäischen kulturellen Werte zu erkennen: «II voudrait etre relativiste, sans doute croit-il l'etre; il n'a en realite jamais cesse d'etre universaliste.»78 Die Frage, wie Montaigne tatsächlich auf die Berichte aus der Neuen Welt reagiert hat und wie sie seine eigenen kulturellen Vorstellungen beeinflußt haben, bedarf in der Tat einer genaueren Prüfung. Sie läßt sich nicht - wie es auch die neuere Forschung oft getan hat - mit einer Paraphrase der vergleichsweise wenigen Bemerkungen beantworten, die Montaigne in seinen beiden berühmten Amerika-Essais dazu gemacht hat. Das Problem von Montaignes Urteil über die eigene Kultur und die fremde Kultur der Neuen Welt ist tiefschichtiger angelegt. Seine Untersuchung erfordert gleichermaßen eine Einordnung der Neue-Welt-Thematik in den Kontext von Montaignes gesamtem Vorstellungshorizont der Essais wie auch in den sozialund ideengeschichtlichen Kontext der Zeit. Bei einer solchen Betrachtung größerer Kontexte wird zunächst deutlich, daß Montaigne keinesfalls der erste europäische Autor der Neuzeit war, der die eigenkul7

·* Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 430. Zur Relativierung von Wertvorstellungen als der zentralen Idee in Montaignes Des Cannibales cf. Mermier: «L'essai Des Cannibales de Montaigne», pp. 29-33. 74 Duval: «Lessons of the New World», p. 95. Gauna bezeichnet Des Cannibales als «key expression of Montaigne's relativism and his primitivism»; (Gauna: The Dissident Montaigne, p. 32) auch Kritzman spricht von Montaigne als «photographe du relativisme culturel» (Kritzman: «Montaigne et l'ecriture de l'histoire», p. 103); cf. ferner HauserDw Manierismus, pp. 49-52. 75 Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam, p. 226. 76 Ibid., p. 226. 77 Lestringant: «Le Cannibalisme des 'Cannibales' I», p. 28. 7 " Todorov: Nous et les autres, p. 61. 213

turellen Wertvorstellungen in Frage stellte. Auch ist es nicht erst die Entdeckung der Neuen Welt gewesen, welche den Anstoß dazu gegeben hat. Die Europa- und Gegenwartskritik Montaignes ist vielmehr der vorläufige Endpunkt einer langwierigen Diskussion, die durch viele Faktoren der Geistes- und Realgeschichte ausgelöst wurde. Die neuzeitlichen Entdeckungen und Erfindungen spielten dabei insofern eine große Rolle, als sie zu einer Auflösung des alten Weltbildes und damit zu einer allgemeinen Verunsicherung des Wertesystems führten: Coup sur coup, la deOmverte de l'antiquito, puis la docouverte des Indes orientates et occidentals avaient jet£ dans la circulation une masse de faits nouveaux, d'idoes nouvelles. L'imprimerie, nouvelle eile aussi, avait repandu partout ses connaissances troublantes, difficiles ä assimiler. Les anciens cadres de l'esprit s'äaient brise's sous les chocs re"pote"s79

In der Literatur des 16. Jahrhunderts finden sich immer wieder Belege dafür, daß diese Verunsicherung durch die diversen Entwicklungen der Frühen Neuzeit weit verbreitet gewesen ist. Bereits die Humanisten gelangten durch den Vergleich der Sitten und Gebräuche verschiedener Nationen zu der Einsicht, daß Wertvorstellungen kulturell bedingt sind. So stellt 1530 Agrippa von Nettesheim in seiner skeptischen Schrift De incertitudine et vanitate scientiarum et artium fest, daß Bräuche und Gewohnheiten «nach der Zeit, des Orts und der Menschen Meinung» verschieden sein können: Dahero geschieht's, dass, was einstens für ein Laster gescholten, jetzt für eine Tugend gehalten wird; und was hier eine Tugend, das ist dort ein Laster, was dem einen ehrbar, scheinet dem ändern hässlich, was bei uns recht ist, das ist bei ändern unrecht; und solches nach jedwedes Orts, jedweder Zeit, jedweder Lage Menschensatzung und -meinung.^O

Auch bei französischen Autoren des 16. Jahrhunderts finden sich ähnliche Überlegungen, die auf die Relativität politischer, religiöser und ethischer Normen verweisen, wobei der Vergleich innereuropäischer Erfahrungen den Anstoß gegeben hat. Des Periers erkennt in seinem Cymbalum Mundi von 1537, das am 5. März 1537 wegen Häresie vom französischen König verboten wurde, die Verschiedenheit menschlicher Meinungen insbesondere bezüglich religiöser Bräuche und Riten; die Philosophen besitzen sogar die Fähigkeit, sich über jeden beliebigen Gegenstand zu streiten: L'ung diet que pour en trouver des pieces il se fault vestir de rouge et vert; 1'aultre diet qu'il vauldroit mieulx estre vestu de jaune et bleu. L'ung est d'opinion qu'il ne fault manger que six fois le jour avec certaine diette; l'aultre tient que de dormir avec les femmes n'y est pas bon. L'ung diet qu'il faut avoir de la chandelle, et fust ce en plein mydi; l'aultre diet du contraire?'

Eine ähnlich undogmatische Haltung in Religionsfragen nimmt gegen Ende des Jahrhunderts Bodin ein. In seinem Buch Heptaplomeres, das wohl um 1587 entstand, fordert er religiöse Gewissensfreiheit und Toleranz, die einen Disput über die wahre Kirche und Religion sinnlos machen.82 In diesem Sinne ist wohl auch das von dem Reformierten Curtius unter Berufung auf Tertullianus geäußerte Plädoyer für Gewaltfreiheit in Glaubensangelegenheiten zu verstehen: «Es ist gegen die Religion, zu Villey: Les livres d'histoire moderne utilises par Montaigne, pp. 29 sq. Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften I, pp. 202 sq. (Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Peter J. Brenner.) Des Periers: CEuvresfrancoises l, p. 333, Cf. Guhrauer: «Leben und Charakter Bodin's im Umrisse», p. LX.

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erzwingen, was freiwillig angenommen werden muß, nicht mit Gewalt».83 Vergleichbare Tendenzen der Relativierung kultureller Werte finden sich in den Briefen von Pasquier: que la diversity des loix provient de la diversity desmceurs, qui naissent entre les peuples selon la diversity des Regions, & de l'air: & que tout ainsi que le Medecin change de remedes, ayant esgard aux contrees, aux aages, aux complexions de ses patients; aussi le semblable font les sages legislateurs envers les peuples qu'ils gouvernent; donnants prudemment beaucoup par leurs loix, au naturel des lieux qu'ils se proposent de governer8"*

Gerade diese Verschiedenheiten der Gesetze und Bräuche lassen Pasquier zu folgendem Schluß kommen: c'est a scavoir, que quelque diversity de loix qu'il y ait, il faut vivre selon celle du pars auquel on s'est habitue*, & estimer que puisqu'elle y est establie, nous la devons juger bonne. [...] les loix & coustumes des honunes sont difFerentes; &. estiment quelques peuples une chose honneste, qui est deshonneste ailleurs: mais bien est-il honneste ä tous, & par tout, d'observer celles du pals ou on est.8*

Pasquier zieht hier als Belege für die Relativität von Wertvorstellungen mit den Persern ein außereuropäisches Volk heran. Ebenso benutzt er bereits den Vergleich Europas mit Amerika als Argument. In seinem Brief A Monsieur Querquifinen, Seigneur d'Ardivilliers gibt er einen kurzen Überblick über Aussehen und Sitten der Neuen Welt und unternimmt einen Vergleich der «moeurs brusques de leurs peuples avecques la civilito des nostres», der freilich eher zuungunsten Amerikas ausfällt.86 Das 16. Jahrhundert hat mit solchen Überlegungen allgemein den Boden bereitet für die Tendenz zur Relativierung der eigenen kulturellen Werte. Sie bestätigen die theoretische Erfahrung vom Zerfall des naturrechtlichen Denkens, und sie öffnen den Blick auf die faktische Natur des Menschen jenseits der philosophischen Idealisierungen, welche die Tradition ihm hat zuschreiben wollen:87 Abgesehen von ihren empirischen Materialien, hat diese Literatur eine Reihe von Ideen angeregt und gefördert, die zum geistigen Grundbestand des 16. Jahrhunderts gehören: das religiöse Toleranzprinzip, entstanden aus der Berührung mit anderen Religionen, — die Relativierung politischer und ethischer Normen durch die Kunde von den Lebensordnungen fremder Völker, — die Erschütterung der Autorität der Alten durch Feststellung ihrer geographischen Irrtümer oder Unkenntnisse usw.88

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Bodin: Von den verborgenen Geheimnissen erhabener Dinge, p. 158. 84 Pasquier: Les CEuvres I, col. 554. 85 Ibid. 86 Pasquier: Les CEuvres II, col. 55. Einen Vergleich von Montaignes Amerika-Essais mit dem genannten Brief Pasquiers unternimmt Lestringant: «La nogation des cannibales», pp. 225-237. 87 Cf. Bück: «Montaigne und die Krise des Humanismus», p. 15. 88 Friedrich: Monta/gne, p. 192. 215

5. Das Ideal des Naturzustände Der Hintergrund von Montaignes Amerika-Interesse wurde schon früh diskutiert. Montaigne will, so lautet die opinio communis der Forschung, ein Gegenbild zum Europäer schaffen und so den Naturzustand der Indianer gegen die Zivilisation der Europäer ausspielen, um diese damit zu kritisieren. Er bewegt sich damit in jenen Bahnen, die sich bereits in den Geschichts- und Reisewerken andeuteten und die später in der literarischen Figur des bon sauvage münden sollten: Entre ('innocence dont jouissaient les bons sauvages et la corruption qui rognait en Europe, entre leur douceur et leur largeur de vues en matiere de religion et le fanatisme qui de"chirait la France, la comparaison s'imposait pour tous ceux qui voulaient faire le proces de la socioto dans laquelle ils vivaient. Exagorer les qualitös que attribuait aux Indiens devint un moyen nouveau de nous faire rougir de nos vices et de nous faire la morale.**9

Genau diese Probleme beschäftigen Montaigne zumindest in Des Cannibales von 1580, wo er den Gegensatz Natur - Zivilisation thematisiert. Er spricht damit ein Thema an, das in der Zivilisationskritik und damit verbunden in der Aufwertung des indianischen Naturzustands mündet, wie ihn in Frankreich auch Ronsard schon evoziert hatte: «Avant Montaigne, il prend la defense des Indiens du Bresil qui vivent ä l'etat de nature.»90 Der Gegensatz von Natur und Zivilisation wird von Montaigne ebenfalls in aller Schärfe hervorgehoben. Er charakterisiert die naturgeleitete Indianergesellschaft als vorbildhaft; die europäische Gesellschaft mit ihren zivilisatorischen Phänomenen hingegen wird moralisch in Frage gestellt. Das während des europäischen Entwicklungsprozesses erworbene Wissen wiegt die «nombre infmy de passions», von der es begleitet wird, nicht auf. (465) Diese «passions», die die europäische Zivilisation mit ihren Auswüchsen charakterisieren, sind spiegelbildlich zu den Merkmalen angelegt, die in der indianischen Gesellschaft nach Montaignes Darstellung nicht zu finden sind: nous avons pour nostre part l'inconstance, ('irresolution, ('incertitude, le deuil, la superstition, la solicitude des choses a venir, voire, apres notre vie, ('ambition, ('avarice, la jalousie, I'envie, les appetits desreglez, forcenez et indomptables, la guerre, la mensonge, la desloyaute", la detraction et la curiosite*. (465)

Montaigne entwickelt diesen Katalog von negativen europäischen Eigenschaften in direkter Entgegensetzung zu Charaktermerkmalen, die er den Tieren zuschreibt und die analog auch bei den Indianern zu finden sind. Eine zentrale Rolle bei der Betrachtung der indianischen Kultur spielt für Montaigne die Idee eines «Naturzustandes»; sie ist ein einheitsstiftendes Moment seiner kulturvergleichenden und kulturkritischen Betrachtungen. Sie stellt eines der Leitmotive in den Essais und eine konstituierende Komponente seiner «Philosophie» dar.91 In ihr verbinden sich kritische, gegen die eigene Gegenwart gerichtete Absichten mit einer spezifischen Re-

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Chinard: Les refugies huguenots en Amerique, p. XIV. Zu den zeittypischen Idealisierungen der Natur Amerikas cf. Delumeau, Une histoire duparadis, p. 145-152. 90 Broc: «Reflets amoricains dans la poösie de la Renaissance», p. 153. 9 1 Montaigne hat die Vorstellung, daß der Mensch dem Vorbild der ihn umsorgenden Natur folgen solle, von antiken Vorbildern, insbesondere Lukrez und Epikur, bezogen. Cf. Bück: Die Rezeption der Antike in den romanischen Literaturen der Renaissance, p. 113. 216

zeption antiker Philosophie und Literatur,92 wie sie im Humanismus des 16. Jahrhunderts nicht selten gewesen ist. Montaigne versucht die Idee eines Naturzustandes jedoch nicht nur als literarisches Ideal zu rekonstruieren, sondern er ist bemüht, auch empirische Belege für sie zu finden. Dafür spielt die Entdeckung der westindischen Völker eine unschätzbare Rolle, da sie ihm Beweise für die reale Existenz eines ursprünglichen, naturverbundenen und unverfälschten Lebens geben und ihm erlauben, den Gegensatz zur eigenen Zivilisation zu betonen. Freilich haben die Indianer in diesem Zusammenhang keinen völlig singulären Status. Sie sind zwar ein sehr wichtiger, aber bei weitem nicht der einzige empirische Beleg für die reale Existenz eines Naturzustandes. Montaigne kennt auch andere kulturelle Erscheinungen in Vergangenheit und Gegenwart, die diesem Ideal des Natürlichen nahekommen. So bedient er sich zur Illustration des naturnahen Lebens gerne der Skythen, des einfachen französischen Volks seiner Zeit, der Bauern oder auch der Kinder, gelegentlich sogar der Tiere.9^ Andere Kulturen, denen Montaignes Aufmerksamkeit dann im besonderen Maße gilt, wenn er sein Interesse auf das kulturell Außergewöhnliche richtet, spielen in diesem Kontext keine Rolle. Das gilt für die Araber oder die asiatischen Kulturen, deren Errungenschaften von Montaigne gewürdigt werden, deren Qualitäten jedoch gerade nicht in ihrer Ursprünglichkeit und Natumähe liegen. Montaignes Präferenz für das Natürliche liegt eine Anthropologie zugrunde, deren Quintessenz die wertende Differenzierung der menschlichen Bedürfhisse in natürliche, notwendige und künstliche ist: Les cupiditez sont ou naturelles et necessaires, comme le boire et le manger; ou naturelles et non necessaires, comme l'accointance des femelies; ou elles ne sont ny naturelles ny necessaires; de cette derniere sötte sont quasi toutes celles des hommes; elles sont toutes superflues et artificielles. Car c'est merveille combien peu il faut ä nature pour se contenter, combien peu eile nous a laisso ä desirer, (450)

Nach diesem Kriterium des auf natürlichen Bedürfhissen beruhenden «Naturzustandes» wählt Montaigne die Phänomene aus seinen Quellen aus, auf die er in den Essais eingeht. Es handelt sich dabei einerseits ganz allgemein um als sonderbar und exotisch empfundene Bräuche; zum anderen aber um solche Phänomene, die dazu beitragen können, die Indianer, die bei den meisten Reisenden und Geschichtsschreibern des 16. Jahrhunderts noch ambivalent beschrieben werden, im Sinne des Naturzustandes zu idealisieren.94 92

Für die Rezeption griechischer Autoren war Montaigne Übrigens auf lateinische Übersetzungen angewiesen; cf. ibid., p. 67; auch Plutarch als eine seiner wichtigeren Quellen war ihm nur in der französischen Übersetzung Jacques Amyots zuganglich (cf. ibid., p. 70 sq.). " Cf. zum natürliche Leben der Skythen Montaigne: Essais, p. 1060; des Bauern oder Handwerkers, p. 466, p. 1014, p. 1016, p. 1029; des Kindes, p. 437, p. 1094; des Tieres, pp. 465 sq., p. 471, p. 523, p. 1026. Seilliere gibt eine sehr kritische Untersuchung Montaignes, die sich dem Problem des Naturzustands bei Tieren und dem einfachen Volk, vor allem aber der «bonte* naturelle» der Indianer widmet. Er zeigt, daß die «bonto naturelle», die Montaigne den Indianern zuschreibt, nicht aus deren Naturzustand resultiert, sondern vielmehr seiner «imagination gone"reuse» entspringt; (cf. Seilliere: «La doctrine de la bont£ naturelle», p. 379) außerdem gelingt es ihm, zum Teil sehr Überzeugend, im Detail die Widersprüche aufzuzeigen, die in dem vermeintlichen Naturzustand der Indianer, wie ihn Montaigne schildert, stecken (ibid. vor allem pp. 378383). 94 Dagegen kann es sich Lory, bei dem solche Idealisierungstendenzen noch nicht im Zentrum stehen, durchaus erlauben, auch Merkmale indianischer Kultur, etwa Bemalung, Tätowierung

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Montaigne ist bemüht, die Versöhnung von Mensch und Natur in der indianischen Gesellschaft hervorzuheben. Das Ideal der in jeder Hinsicht gemäßigten Lebensführung erscheint ihm nicht der Natur abgerungen, sondern von ihr selbst gegeben. Das wird in jenem Punkt deutlich, in dem er am entschiedensten von der calvinistischen Auffassung abweicht. Anders als Le"ry, der den Arbeitsvorgängen in der indianischen Gesellschaft einige Aufmerksamkeit gewidmet hatte, leugnet Montaigne geradezu die Notwendigkeit, daß die Indianer ihren Lebensunterhalt erarbeiten müßten. Er sieht sie vielmehr in eine Natur gestellt, die durch Überfluß gekennzeichnet ist und so ein glückliches Leben ohne Arbeit ermöglicht. (208) Einzelne Bereiche des indianischen Lebens, über die die Reisenden detailliert berichtet hatten, werden von Montaigne, teilweise im dezidierten Widerspruch zu diesen Berichten, in diesem Sinne gedeutet.95 Im Gegensatz zu Montaignes Auffassung einer arbeitsfreien Gesellschaft beschreibt Thevet die zahlreichen, zum Teil sehr beschwerlichen Tätigkeiten, die vor allem die Indianerinnen zu verrichten haben. Ihre Arbeit besteht in «cueillir racines, faire farines, bruuages, amasser les fruits, faire iardins, & autres choses, qui appartiennent au mesnage.»96 Auch der von den Indianern praktizierte Ackerbau mußte Montaignes Vorstellung eines naturgegebenen Überflusses widersprechen. Montaignes Behauptung, unter den Indianern gebe es «nulle agriculture», (204) steht im ausdrücklichen Gegensatz zu den Berichten von Thevet, Lery und Benzoni.97 Auch hierin wird wieder deutlich, daß es Montaigne nicht um eine ethnographische Beschreibung indianischen Lebens geht. Er entwirft vielmehr eine offensichtlich an antiken Idealen orientierte Vorstellung der naturgeleiteten Indianergesellschaft, um damit die eigene Gesellschaft zu kritisieren, die sich immer weiter von der Natur entfernt: Ces nations que nous venons de descouvrir si abondamment foumies de viande et de breuvage nature!, sans soing et sans fa9on, nous viennent d'apprendre que le pain n'est pas nostre seule nourriture, et que, sans labourage, nostre mere nature nous avoit munis ä plantl de tout ce qu'il nous falloit; voire, comme il est vraysemblabe, plus plainement et plus richement qu'elle ne fait ä present que nous y avons meslo nostre artifice. (435)

Das Gesellschafts- und Menschenideal, das Montaigne anstrebt, wird aus seiner Darstellung der Indianer ebenso, wenn auch immer nur indirekt, deutlich wie aus den vielfaltigen Antike-Bezügen in den Essais. Der Indianer verfügt wie der einfache Mensch, der Handwerker und Bauer mit der Seelenruhe über das höchste Gut, das dem Menschen zugänglich ist. (466 sq., 470, 1017, 1026) Diese Eigenschaft findet er bei den Brasilianern wieder. Neben dem guten Klima ist auch ihre Gelassenheit der

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oder Schmuck der Indianer als «artifice» zu charakterisieren. (Cf. Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 108). Cf. Thevet: Singularites, pp. 112 sq.; Lory: Histoire d'un voyage, p. 120, p. 192. Seilliere zeigt auf, daß Montaigne sich in seinen Ausführungen zum Teil auch selbst widerspricht (cf. Seilliere: «La doctrine de la bonte" naturelle», p. 381). Thevet: Singulartäs, p. 80. Benzoni zeigt ein großes Interesse filr die unterschiedlichen Anbau- und Aufzuchtmöglichkeiten in den einzelnen Ländern der Neuen Welt (cf. Historia del Mondo Nuovo, p. 58, p. 60, p. 61 v., p. 62, p. 62 v., p. 102). Dabei geht er auf die Witterungsbedingungen, (p. 59 v.) Bodenbeschaffenheit (p. 61v.) oder die Verschiebung der Jahreszeiten (p. 62, p. 102, p. 108, p. 160) in den einzelnen Ländern ein.

Grund für ihr hohes Alter, wie Montaigne - ähnlich wie zuvor schon Lery - feststellt:98 Ce qu'on nous diet de ceux du Bresil, qu'ils ne mouroyent que de vieillesse, et qu'on attribue ä la serenito et tranquillity de leur air, je l'attribue plustost ä la tranquillito et sereniti de leur ame, deschargee de toute passion et pensee et occupation tenduC ou desplaisante, comme gens qui passoyent leur vie en une admirable simplicity et ignorance, sans lettres, sans loy, sans roy, sans relligion quelconque [...]. (471)

Nur das antike Ideal der «impassibilito Stofcque» kann mit der «stupidito populaire» konkurrieren.(997)99 Der Verachtung der europäischen Lebensformen des 16. Jahrhunderts, denen Montaigne das vermeintlich natürliche Leben der Indianer gegenüberstellt, entspricht auch eine Ablehnung der Kulturtechniken, die im 16. Jahrhundert eine entscheidende Rolle in Europa zu spielen begannen.100 Es ist sicher kein Zufall, daß Montaigne die schon ältere Legende aufgreift, den Indianern seien die Zahl und das Rechnen unbekannt. (442)101 Diese Behauptung ist ein wichtiger Bestandteil des Mythos vom unverbildeten Naturzustand der Indianer; aber sie steht im Widerspruch zu den Informationen, welche die Reiseberichte gegeben haben.102 Mit dem Aufzeigen der vorbildlichen naturnahen Indianergesellschaft und seiner Kritik an der eigenen, von «artifice» geleiteten Kultur, illustriert Montaigne die wohl auch von ihm für die eigene Zeit als erstrebenswert geachtete Lebensregel: «Nostre grand et glorieux chef-d'oeuvre, c'est vivre a propos.» (1088)103 Damit ist das Ideal eines ausschließlich naturgeleiteten Lebens gemeint, das dem Menschen Zufriedenheit und Glück auch ohne sein Eingreifen in die Natur gewährt und das für Mon-

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* L6ry: Histoire d'un voyage, p. 95. Über Montaignes Verhältnis zur stoischen Tradition hat die Forschung viel diskutiert. Tatsächlich gehört Seneca zu jenen Autoren, die Montaigne am intensivsten ausgewertet hat; (cf. Villey:Lei sources et revolution des Essais de Montaigne I, p. 239) doch dringen in die stoische Philosophie mit dem Hauptvertreter Seneca auch fremde Elemente ein, die Villey von einem «stolcisme oclectique» sprechen lassen; (cf. Villey: Les sources et revolution des Essais de Montaigne H, p. 52) andererseits hält Friedrich dezidiert daran fest, daß es eine «stoische» Phase Montaignes nicht gibt (cf. Friedrich: Montaigne, p. 67). Bück macht den Unterschied zwischen der stoischen Lehre und Montaigne gerade in jenem entscheidenden Punkt fest, daß jene eine asketische Unterdrückung der Affekte in den Mittelpunkt stelle, während Montaigne eine «Bejahung der natürlichen Menschlichkeit) fordert. (Bück: Die Rezeption der Antike in den romanischen Literaturen der Renaissance, p. 108). Zu einer ähnlichen Einschätzung der Stoa-Rezeption durch Montaigne kommt Winklehner: Montaigne greift einzelne Elemente der stoischen Lehre auf, ohne aber Neostoizist zu sein; er wendet sich vielmehr gegen die Philosophie Senecas und die «oft unmenschlich scheinende[n] Strenge der stoischen Lehre mit ihrer Forderung nach Unterdrückung der Affekte» (Winklehner: Die Tugenden der antiken Philosophenschulen bei Michel de Montaigne, p. 24; cf. auch p. 39). 100 Cf. dazu Erdheim: «Anthropologische Modelle des 16. Jahrhunderts», p. 43: «Der Begriff der Kultur wird mit dem der Überflüssigkeit verknüpft. Die Kultur produziert laufend Unterschiede, während der Naturzustand auf Gleichheit beruht, und insofern erstickt die Kultur die Natur.» 101 Cf. auch Montaigne: Essais, p. 523. 102 Lory berichtet von dem indianischen Zählsystem in seinem «Colloque»; (Leiy: Histoire d'un voyage, p. 307) auch Thevet erwähnt diese, wenn auch nur eingeschränkte, Fähigkeit der Indianer, bis fünf zählen zu können (Thevet: Singularites, p. 75 v., p. 102). 103 Cf. zu Montaignes Ideal eines naturgeleiteten Lebens auch sein Bestreben des «naturellement s;avoir vivre cette vie». (1091) 99

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taigne im 16. Jahrhundert wohl überwiegend die neuentdeckten Völker Amerikas verkörperten. Das Resultat von Montaignes Darstellung ist das Bild einer indianischen Welt, die in vielem von der Realität - soweit sie heute noch zu rekonstruieren ist - und auch in wesentlichen Zügen von dem ambivalenten Indianerbild seiner Vorläufer abweicht. Bei dieser Idealisierung spielt die Realität keine Rolle mehr; die Frage ist wenig sinnvoll, ob sich das Indianerbild der Essais durch realistische Informationen seitens eines truchement tatsächlich geändert hätte, da es Montaigne offensichtlich nicht um die Realität, sondern um den Entwurf eines Ideals geht.104 Dabei spielen die Empirie und die zur Verfügung stehenden Informationen nur eine untergeordnete Rolle. Montaigne drängt vielmehr ganz bewußt die Vielfalt der Erscheinungsformen an den Rand, um ein möglichst einheitliches Bild der amerikanischen Wirklichkeit zu entwerfen. Die Quellen, auf die er sich stützt, geben recht differenzierte Informationen über die Neue Welt und ihre Bewohner; sie werden aber von Montaigne in ihrer Vielfalt weitgehend reduziert. Vor allem die bei den Reisenden und Geschichtsschreibern zum Teil bereits klar ausgewiesene Differenzierung der Indianer nach Stämmen und Regionen wird von ihm wieder rückgängig gemacht.105 Er hat eine Vorstellung des Mythos vom hon sauvage und des natürlichen Lebens, nach der er seine Darstellung der indianischen Kultur ausrichtet unter Vernachlässigung der Spezifika, die in den Quellen noch deutlich erkennbar sind: die historische und regionale Mannigfaltigkeit wird reduziert auf das eine Ideal. In Des Cannibales wird dieses Verfahren exemplarisch deutlich. Nur indirekte Verweise lassen darauf schließen, daß es sich in Des Cannibales um Indianer aus der Küstengegend um Rio de Janeiro handeln muß. Ein Gewährsmann, den Montaigne lange bei sich hatte, bezieht seine Kenntnisse aus dem «endroit oü Vilegaignon print terre, qu'il surnomma la France Antartique». (200) Daneben berichtet Montaigne von Informationen durch Matrosen und Händler, die der Gewährsmann auf seiner Reise kennengelernt hatte; folglich stammen auch diese Informationen aus Brasilien. (203) Nur die Idealisierung der Indianer legt nahe, daß mit «la nation» beziehungsweise «les nations» der mit den Franzosen verbündete Stamm der Tupinamba, und nicht etwa die von Thevet ebenfalls in dieser Gegend angesiedelten Tonaiatz, ein tapferer, aber grausamer Stamm, gemeint sind.106 Wie wenig Montaigne eine Differenzierung nach Stämmen interessiert, verdeutlicht sein sorgloser Umgang mit dem bald im Singular, (203) bald im Plural (204) erscheinenden Begriff «nation», der beide Male den gleichen Indianerstamm meint. Kennzeichnend ist, daß die Tupinamba weder in Des Cannibales noch in den übrigen Essais, die Amerika thematisieren, namentlich vorkommen. Auch auf das Nennen von Namen feindlicher Stämme, wie die der Margaias oder Ouetacas, die sowohl Lery als Thevet mehrmals anfuhren,107 verzichtet Montaigne. Die Feinde der Tupi104 105

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Cf. Julien: Les voyages de decouverte et les premiers otablissements (XVs -XVI6 siecles), p. 372. Neben Thevet hat insbesondere Du Bartas den neuentdeckten Kontinent nach «regions naturelles» differenziert; auch eine Unterscheidung der «grands empires azteque et inca» oder einzelner Stämme oder Völker nach «races» und «temperaments» findet sich bei ihm (cf. Stegmann: «L'Ame"rique de Du Bartas et de De Thou», p. 300 und p. 301). Cf. Thevet: Cosmographie universelle, p. 53. Cf. etwa ibid., p. 293: «Or pource qu'il y a diverses sortes de peuples, et nations, qu'on couvre de la chappe de Margajats, je veux icy proposer la difference qui est entre eux. Je commenceray de la nation des Oueitaca».

namba werden von ihm ebenfalls verallgemeinernd nur als «nations qui sont au dela de leurs montaignes, plus avant en la terre ferme» begriffen. (207) Weitere unspezifizierte und verallgemeinernde Bezeichnungen wie «sauvages» oder «barbares», die die Tupi-Indianer positiv konnotieren sollen, zeigen Montaignes Generalisierungstendenzen. Mit dieser Haltung unterscheidet sich Montaigne nicht wesentlich von dem Lesepublikum, das bis ins 17. und 18. Jahrhundert an entsprechenden Verallgemeinerungen festhält: suivant de loin quelques voyageurs d'esprit plus scientifique, se docide ä separer ces sauvages en tribus ou en nations difßrant en coutumes, en degre" de civilisation et en religion. Le sauvage am£ricain, tel qu'on l'imaginera en Prance pendant tres longtemps, sera aussi bien le sauvage du Nord que le sauvage du Sud.10*

Indem Montaignes generalisierendes Verwischen aller ethnologischen Unterschiede also mit europäischen Denkgepflogenheiten übereinstimmt, weicht es aber deutlich von seinen Quellen ab. Diese greifen gelegentlich zwar auch zu verallgemeinernden Bezeichnungen; sie blieben sich aber der gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen indianischen Völkern nicht nur bewußt, sondern mußten diese schon aufgrund ihrer vitalen politischen Interessen, die eine Unterscheidung zwischen befreundeten und feindlichen Stämmen notwendig machte, klar hervorheben. In den Berichten der Reisenden wird fast immer deutlich, daß es sich bei den Völkern der Neuen Welt um sehr unterschiedliche Kulturen handelte, die nicht länger pauschal mit dem «Fremden» als Gegenbild zu dem «Eigenen» gleichzusetzen waren. Selbstverständlich unterliegen die von den Autoren des 16. Jahrhunderts vorgenommenen Differenzierungen noch zahlreichen Irrtümern und Verwechslungen,109 zumal die Bezeichnungen für die indianischen Völker im 16. Jahrhundert in den einzelnen europäischen Sprachen variierten.110 Dennoch wiesen die Reisenden schon ein großes Differenzierungsvermögen auf. Insbesondere Benzoni/Chauveton und Thevet geben detaillierte Beschreibungen der Neuen Welt nach indianischen Völkern und Stämmen; Benzoni grenzt sehr genau die Sitten der Guatemalteken, Nicaraguer und Mexikaner voneinander ab.1'J Selbst innerhalb einzelner Völker unterscheidet er weiter nach Stämmen oder Gegenden.112 Auch Thevet nimmt zahlreiche Differenzierungen der einzelnen Völker in seinen Beschreibungen vor, die sich bis hin zu den 10

° Chinard: L'Amerique et le reve exotique dans la litterature franfaise au XVIf et au XVllF siede, p. 2. 109 So konstatiert etwa Lussagnet in bezug auf die Waitaca «Les auteurs du XVIe siecle ne s'accordent pas sur habitation et le mobilier des Waitaca» (Lussagnet: Les Frangais en Amerique [...]. Le Bresil et les Bresiliens, p. 297, Anm. 3). Auch innerhalb der Aussagen eines Autors kann der Wahrheitsgehalt der vorgenommenen Differenzierungen unterschiedlich sein. Lussagnet wirft etwa Thevet wegen seiner Beschreibung des «Brasil septentrional», das er selbst nicht bereist hat, «de graves confusions goographiques et surtout culturelles entre les nations indiennes aussi difförentes et aussi distantes que les Tupi du littoral nord du Brosil, et les Indiens Karib du Nord de Amazone et des Antilles» vor; trotz dieser Verwechslungen gesteht sie diesen Beschreibungen jedoch «des donnöes intöressantes» zu. (Lussagnets Kommentar in: Les Frangais en Amerique [...]. Le Bresil et les Bresiliens, p. 236, Anm. 2.) In bezug auf die Differenzierung der Indianersprachen hingegen wird Thevets Weitsicht hervorgehoben: «Le nom de Waitaka-miri ne se trouve que chez Thevet.» (Ibid., p. 296, Anm. l.) 110 Cf. zu der problematischen Zuordnung und Rekonstruktion bestimmter Termini wie «Toupinenquin» oder «Toupinanquin» zu bestimmten Indianerstammen ibid., p. 299, Anm. l. 111 Cf. Benzoni: Historia del Mondo Nuovo, p. 108, p. 168 v. 112 Cf. etwa ibid., p. 2, pp. 96 v,/97. 221

einzelnen Sprachfamilien erstrecken.113 Darüber hinaus liefert er einen theoretischen Abriß über die Vielschichtigkeit dieses weiten neuentdeckten Kontinents: ceste seule partie que je fais la quatrieme de tout le monde, contient plus en longueur que ne faict toute l'Asie, pour-ce que son estendue n'est moindre que de six mil lieußs: et se peult tout cecy veoir et mesurer assez aisement, qui considerera les Provinces, Regions, Royaumes et Peuples divers, qui sont en icelle, conune sont le grand pals de Platte, les Vazes, Canibales, et le merveilleux Royaume de Mexique, Cassique, Tabalipe, Cusco, le Peru, la Floride, Nicarague, Xalisco, Baccaleos, et puis la region arrousee des rivieres de Ganabara, paYs de Canada, Terres-neufVes, et les Isles voisines, et celle grande riviere d'Orelane.114

Thevet verweist zugleich ausdrücklich auf sein Bestreben, generalisierenden Tendenzen, wie sie sich beispielsweise in dem Begriff «cannibales» artikulieren, entgegenzutreten: Et d'autant que je parle des Canibales, ne pensez pas que je prenne le nom si generalement que les Espaignols, qui en ont escrit sans en avoir sceu la verito, lesquels assez mal ä propos ont appello tout ce pays, que on dit l'Antarctique, et jusques ä la nouvelle Espaigne, Canibales, ceux qui sont Anthropophages: la oü je nomme ainsi seulement ceux, qui proprement s'appellent Carybes, ou Caraibes, lesquels se tiennent le long de ce promontoire [St. Augustin] et Isles voisines, n'approchans point ä cens lieußs de Castille d'or.1 "

Montaigne nimmt seine Generalisierungen unreflektiert vor, Thevet hingegen kennzeichnet explizit diejenigen Aussagen über Amerika, die generalisierenden Charakter haben sollen. In seine Singularites fügt er ein Kapitel ein, bei dem bereits die Überschrift «De l'Amerique en general» auf die Verallgemeinerung verweist, die er für den neuentdeckten Kontinent vornimmt. Entsprechend sind auch generelle Aussagen, etwa über die Fruchtbarkeit des gesamten Kontinents, gerechtfertigt.116 Montaignes Aussagen über die indianischen Kulturen sind an solchen Differenzierungen nicht interessiert, obwohl er grundsätzlich die «diversite» der Menschen und Völker feststellt. (559) Auch wenn sein Verfahren in den Essais am empirischen Detail orientiert ist, so zielt es der Intention nach dennoch fast stets auf Verallgemeinerungen. Es geht von vorgefaßten Aufassungen und Urteilen aus, für die in der Empirie Bestätigungen gesucht werden.

6. Techniken der Idealisierung Bei seiner Idealisierung der Naturgesellschaft verfährt Montaigne so, daß er Schritt für Schritt den negativen Merkmalen der eigenen Kultur die positiven der fremden gegenüberstellt, um jene als Abweichungen vom Naturzustand zu kritisieren.117 1

!3 Cf. Thevet: Cosmographie universelle, pp. 295 sq. Ibid., pp. 27 sq. 115 Thevet: Cosmographie universelle (da diese gekürzte Ausgabe das Zitat nicht enthält, hier zitiert nach: Lussagnets Kommentar in: Les Frarqais en Amerique [...]. Le Bresil ei les Brasiliens, p. 271, Anm. 1). 116 Cf. Thevet: Singularites, p. 51. 117 Vor allem diese Negativdarstellung Montaignes dient Seilliere dazu, den von Montaigne für die Indianer propagierten reinen Naturzustand anzuzweifeln: «Le dilettante bordelais, nullement renseign6 sur leur passö historique, les croit encore fort voisins de leur nätvete originelle.·» (Seilliere: «La doctrine de la bontö naturelle», p. 379.) Detailliert weist Seilliere die Unzulänglichkeiten solcher verallgemeinernden Aussagen nach und kommt etwa hinsichtlich der «natürlichen Tugenden» zu folgendem Ergebnis: «Une plus attentive e"tude des primitifs a montro que la 114

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Darin zeigt sich nicht nur «le fait que nous ne pouvons nous figurer une autre societi que par rapport a la notre»;118 es verhält sich vielmehr wohl so, daß Montaigne ganz bewußt und systematisch diese Gegenbildsituation aufbaut. Er greift dabei im Unterschied zu den Autoren der Geschichts- und Reisewerke zu einem Verfahren, das auf Reduktion und Systematisierung abzielt. Daß diese Gegenbildlichkeit nahezu ausschließlich als Negation der eigenen Kultur angelegt ist, spiegelt sich inhaltlich und auch formal wider. Montaigne gewinnt seine Charakterisierung der indianischen Idealgesellschaft durch ein ex negativo-V erfahren: C'est une nation, diroy je ä Platon, en laquelle il n*y a aucune espece de trafique; nul cognoissance de lettres; nulle science de nombres; nul nom de magistral, ny de superiority politique; nul usage de service, de richesse ou de pauvrete; nuls contrats; nulles successions; nuls partages; nulles occupations qu'oysives; nul respect de parent^ que commun; nuls vestemens; nulle agriculture; nul metal; nul usage de vin ou de bled. Les paroles mesmes qui signifient la mensonge, la trahison, la dissimulation, l'avarice, l'envie, la detraction, le pardon, inoules. (204)1 l'

Um sein Ziel einer Idealisierung der Indianergesellschaft zu erreichen, reduziert Montaigne die normalerweise polyvalenten ex-nega/ivo-Formulierungen,120 mit denen er die brasilianische und die europäische Gesellschaft gegenüberstellt, zur Eindeutigkeit. Sie stellen ein Konglomerat idealisierter Merkmale dar, wie es von Montaigne in deutlicher Abweichung von seinen Quellen konstruiert wird. Die von ihm der indianischen Idealgesellschaft zugewiesenen konstituierenden Merkmale wie Nacktheit, das Fehlen von Handel, Besitz und Kultur, schließlich auch die Herrschaftsfreiheit und Gleichheit sind in dieser Globalität in den Texten der Reisenden und Geschichtsschreiber kaum anzutreffen. Sie verweisen eher auf das literarische Vorbild Ronsards, der, unter dem Einfluß der antiken Vorstellung vom «Goldenen Zeitalten>, in der Complainte das Ideal einer Indianergesellschaft gezeichnet hatte, die keine Gesetze und keinen Besitz kennt und deren Mitglieder ein Leben entsprechend der Natur in Ruhe und Unschuld verbringen: le Brasilien de la Complainte peut £tre ä bon droit consider^ comme le pere d'une lignee de bons sauvages qui n'est point encore tarie. Ronsard n'est pas davantage un revolutionnaire, mais un humaniste naturiste.'2'

Wenn Montaigne solche Idealisierungen aufgreift, dann stehen seine Aussagen häufig im Widerspruch zur Realität - soweit dies von der Ethnologie nachträglich ermittelt werden konnte - oder aber zu dem, was den Zeitgenossen über die indianische Reali-

discipline sociale n'etait nulle part plus stride, plus oppressive et, au besoin, plus cruelle que dans leurs clans et tribus ou la cohosion absolue est une condition necessaire de la survivance du groupe.» (Ibid., p. 378.) 118 Samaras: «Le Mythe de 1'äge d'or», p. 50. 119 Ganz ahnlich verführt auch Pasquier bei seiner Beschreibung der indianischen Gesellschaft: «Quant ä leur administration politique, ils n'ont nuls Magistrats, nulle ville, nulle forme de republique, fors qu'ils sont divisez en families selon leurs consanguinitez & parentelles, sur lesquelles le plus ancien a toute jurisdiction & esgard.» (Pasquier: Les CEuvres II, Sp. 55). Die Negation bei dem Rechtsanwalt Pasquier ist jedoch weniger systematisch als bei Montaigne und beschrankt sich auf den politischen Bereich; cf. dazu Lestringant: «La negation des cannibales», p. 232. 12< * Cf. Funke: «'La Rdpublique sauvage'», p. 43. l2l Julien: Les voyages de decouverte et les premiers ^/aWusemen/s, p. 400. 223

tat bekannt sein konnte.122 Montaigne stellt sich mit dieser Idealisierung der Indianer und ihrer Kultur in die Nähe der Reiseberichtautoren, doch unterscheidet er sich von ihnen hinsichtlich der Absolutheit ihrer Idealisierung. Während nämlich bei Thevet, Lery oder Benzoni diese Idealisierungen nur in Ansätzen auftreten, fugt Montaigne diese Merkmale zu einem systematischen Bild zusammen. Lory etwa bewahrt trotz gewisser idealisierender Tendenzen ein ethnographisches und wissenschaftliches Interesse auch bei seiner Indianerdarstellung;123 die Idealisierung wird dadurch immer wieder korrigiert, ebenso wie sie durch andere nationale und religiöse Interessen überlagert wird. Hingegen ist Montaignes Idealisierung der indianischen Kultur grundsätzlicher Art.124 Beim Entwurf seines Gegenbildes zur eigenen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts muß Montaigne seine Quellen auf die Aussagen reduzieren, die seiner Idealisierungsabsicht Vorschub leisten. In seiner idealisierten Darstellung der Indianerkultur spielen vor allem jene Merkmale eine entscheidende Rolle, die er in der eigenen französischen Gesellschaft mißbilligt und seiner Kritik unterwerfen will - ein Verfahren, das bereits in der antiken Idealisierung der «Skythen» sein Vorbild gehabt hat.125 Bei seiner Idealisierung des Fremden in der Neuen Welt und der damit parallel laufenden Abwertung der eigenen Kultur verwendet Montaigne verschiedene Techniken. Zunächst neigt er - im Vergleich zu seinen Vorläufern - zum Ignorieren oder zur Modifikation jener indianischen Charakterzüge, die dem Bild einer «naifvete originelle» (204) nicht gerecht werden. Hingegen kann Montaigne die in Reiseberichten und Geschichtswerken bereits positiv vermerkten Charakteristika, die seinem Ideal eines an der Natur ausgerichteten Lebens entsprechen, beibehalten. Schließlich scheut er nicht davor zurück, idealisierende Merkmale zu erfinden, die in seine Vorstellung vom bon sauvage passen, jedoch in den Quellen nicht erwähnt werden. Das von Montaigne am häufigsten verwendete Vorgehen ist das Weglassen oder die Abänderung jener Phänomene, die der Vorstellung einer «nayfVeto si pure et simple», (204)126 wie er sie der Indianergesellschaft und dem bon sauvage zuschreibt, widersprechen. Um sein Bild der idealen Indianergesellschaft zu zeichnen, greift Montaigne zu einem Verfahren, das als «une reformulation soustractive par suppression de certains elements appartenant au monde de reference» zu charakterisieren ist.127 Dieses Verfahren läßt es wenig sinnvoll erscheinen, Montaigne als 122

Cf. dazu auch Lestringant: «La legation des cannibales», p. 229: «On s'apercoit que la se"rie nogative aboutit [...] ä faire disparaitre la personne de l'Amoricain riel». 123 Zu einer diametral entgegengesetzten Interpretation der Texte Lorys und Montaignes gelangt Plattard, der Montaigne als ethnographisch versierter als Lory oder Thevet charakterisiert: «Montaigne y [Kriegsführung -A. E.] voit encore l'explication de certains traits demoeurs indiennes restes ä peu pres inintelligibles pour les Thevet, les Le"ry et autres auteurs de relations sur les sauvages du Nouveau Monde.» (Plattard: «L'Amorique dans oeuvre de Montaigne», p. 15.) 124 Cf. Julien: Les voyages de decouverte et les premiers etablissements, p. 421. Zu Montaignes Bedürfnis, «d'embellir la rtalito, de peindre le Visage' des choses sans ses taches, ses laideurs ou ses verrues» cf. Defaux, Un cannibale en haut de chausses, p. 944. Cf. hingegen Lapps Urteil, Montaigne wäre in Des Cannibales «loin d'embellir le Nouveau-Monde» (Läpp: «Montaigne et le Nouveau Monde», p. 107). 12 ^ Cf. Riese: Die Idealisirung der Naturvölker des Nordens in der griechischen und römischen Literatur, pp. 28 sq. 126 Cf. dazu auch Montaigne: Essais, p. 199. 127 Racault: «Instances modiatrices et production de l'altiriti dans le ricit exotique aux 17e et 18e siecles», p. 35. 224

einen Autor auszuweisen, der ein «tableau 'ethnologique'» von der Neuen Welt liefert.128 Diese Idealisierung beginnt schon mit seiner Darstellung der Natur, in der die Indianer leben. Montaigne unterwirft sie einer Stilisierung, die sie zu einer von mehreren «contrees du bonheur» werden lassen: Immensito am&icaine, lointain ilot de Dioscoride dans lOce~an Indien, cito ve~nitienne, Angrogne, dans les hautes vallds vaudoises du Piimont, Lahontan en B£am, au pied des Pyronoes: ces contre"es ivoquent a la fois l'espace et Pabri. Elles melent des reveries de terre et d'eau. Elles rlpondent aux plus anciens dosirs de Itiumaniti [...]. La salubritö de l'air, la Kcondite du sol, la beautl en font des asiles de paix, d'indöpendance et de liberte".12^

Montaigne evoziert mit seinem Bild einer «contree de pai's tres-plaisante et bien tempered» (205) eine Idylle der amerikanischen Natur, die es so nicht gegeben haben kann. Er läßt Aussagen seiner Quellen, die dieser Idylle widersprechen - etwa den Mangel an Süßwasser, das ungesunde Klima, die unterschiedlich gute Bodenqualität oder die Insektenplagen - einfach weg.130 Auch bei der Auswahl seiner Quellen verfahrt er selektiv: Wenn er sich unspezifiziert auf Informationen beruft, in denen das Fehlen von Krankheit oder Gebrechlichkeit in der indianischen Gesellschaft behauptet wird, dann ignoriert er etwa die recht ausführliche Darstellung dieses Komplexes in Thevets Singular/Yes131 zugunsten seiner vorgefaßten Auffassung einer «Idealgesellschaft». (205) Montaignes Tendenz geht offensichtlich dahin, seine Reminiszenz an das arkadische Ideal hervorzurufen; der ideale Mensch muß auch in einer idealen Natur leben. Die Idee des «Naturzustandes» ist auch dort Montaignes Leitlinie der Uminterpretation seiner Informationen, wo es um die alltäglichen Lebensgewohnheiten der Indianer geht. Montaignes Indianer sind durch ihren Verzicht auf alles Überflüssige, also durch ihre maßvolle und an der Natur orientierte Lebensführung charakterisiert. Dazu gehört die von Montaigne aufgestellte Behauptung, die Indianer würden mit dem Sonnenaufgang aufstehen, (205) was von den Quellen nicht gestützt wird.132 Montaigne interpoliert hier seine eigene Auffassung von einem der Natur entsprechenden Tagesablauf in die fremde Gesellschaft, um so deren Idealität behaupten zu 128

Certeau: «Le Heu de l'autre», p. 61. Cf. auch Atkinson: Lei nouveaux horizons, pp. 340 sq., p 427. 12 ^ Nakam: «Figures et espaces du reve dans les Essais», pp. 180 sq. 13 0 In den Beschreibungen der Natur Amerikas bei Benzoni, Thevet und Lory wird deutlich, daß es sich bei dem neuentdeckten Kontinent keinesfalls um eine Idylle handelte (cf. Benzoni: Historia del Mondo Nuovo, p. 61 v.; Thevet: Singularites, p. 112 v.; Lory: Histoire d'un voyage, p. 162). 131 Thevet hat den indianischen Krankheiten zwei Kapitel seiner Singularites gewidmet; cf. Thevet: Singularites, cap. 45 (pp. 86-88): «Description d'vne maladie nominee Pians, ä laquelle sont sublets ces peuples de l'Amerique, tant es isles que terre ferine»; cap. 46 (pp. 88-90): «Des maladies plus requentes en l'Amerique, & la methode qu'ils obseruent ä se guerir»; cf. auch Lory: Histoire d'un voyage, pp. 298 sq. 132 Bei der Vielzahl der als Quelle für Montaigne in Frage kommenden Texte ist es selbstverständlich nicht auszuschließen, daß nicht doch an entlegener Stelle Bemerkungen zu finden sind, die Montaignes Indianerbild stutzen. Solche Textstellen hätten jedoch nur marginale Bedeutung, da sie sicher nicht an exponierter Stelle zu finden sind und für das Indianerbild der authentischen Amerika-Berichte keine Rolle spielen. Am Gang der Argumentation wurde eine solche Beobachtung nur wenig ändern: Grundsätzlich ist es von untergeordneter Bedeutung, ob Montaigne indianische Lebensgewohnheiten frei erfindet oder ob er periphere Stellen aus der Reiseliteratur ins Zentrum rückt. Bei Thevet findet sich zwar die Aussage, die Indianer wurden früh aufstehen; jedoch nur, um zu essen - was sie zu jeder beliebigen Tageszeit tun - und um sich danach wieder schlafen zu legen (Thevet: Singularites, p. 56 v.). 225

können. Bei der Beschreibung dieser und anderer einschlägiger indianischer Lebensgewohnheiten folgt Montaigne gerne den Quellen, soweit sie entsprechende Informationen enthalten und dieses Bild stützen. Er berichtet über die Gewohnheit, in Hängematten zu schlafen oder auch über die naturnahen Unterkünfte und Ernährungsgepflogenheiten der Indianer.133 Andererseits ändert er jedoch gegenüber den Quellen einige Details ab, die nicht in sein Bild einer asketischen und gemäßigten Lebensweise passen, oder er ignoriert sie gänzlich: Er reduziert die Darstellungen Thevets und Lerys auf die Aussage, die Indianer würden Fisch und Fleisch «sans autre artifice que de les cuir» essen, während die Reiseberichte neben dem NichtWürzen auch das Würzen von Speisen erwähnen. (205)134 Lory und Thevet berichten auch übereinstimmend darüber, daß die Indianer willkürlich zu jeder Tageszeit essen; Montaigne hingegen behauptet, die Indianer würden nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nehmen. (205)135 Von wesentlicherer Bedeutung als solche Umdeutungen indianischer Lebensgewohnheiten ist jedoch Montaignes Auseinandersetzung mit jenen Phänomenen, die den Europäern an der indianischen Gesellschaft die größten Probleme bereiteten und die sich am schwersten in das Bild der idealen Gesellschaft einfügen lassen. Dazu gehört vor allem wieder die Anthropophagie. Montaignes Umgang mit diesem Problem ist charakteristisch für seine Technik der Idealisierung durch Umdeutung. Das Phänonem hat dem wichtigeren seiner beiden Amerika-Essais den Namen gegeben; auch an anderer Stelle streift Montaigne es kurz, um die «diversite" d'opüiions» von Völkern «qui avoient anciennement cette coustume» zu belegen. (565) In Des Cannibales wird die Anthropophagie zum Höhepunkt von Montaignes Darstellung indianischer Kultur ebenso wie sie einen Beleg für seine Kunst der Interpretation kultureller Phänomene darstellt. Montaigne konnte die Unwissenheit oder Gesetzlosigkeit der Indianer problemlos ins Positive wenden; unmenschliche Handlungsweisen, wie sie der Kannibalismus darstellt, vermag er aber nicht einfach zu ignorieren. Im Unterschied zu Thevet, aber auch zu Lery, die weitgehend an einer sachlich-ethnographischen Beschreibung des unterstellten «Kannibalismus» der Indianer interessiert sind, nimmt Montaigne bei seiner Beschreibung der Anthropophagie deutliche Akzentverschiebungen vor. Um eine generelle Idealisierung der Indianer zu erreichen, verzichtet er auf die Schilderung bestimmter Details, die eine Idealisierung der Indianer wenig glaubhaft erscheinen lassen würden. Er läßt ein von Lery geschildertes und als besonders grausam charakterisiertes Detail des Kannibalismus weg, nach welchem die aus einer Ehe mit einem Gefangenen hervorgegangenen Kinder nach dessen Hinrichtung ebenfalls getötet und gegessen werden.136 Auch das - nach Thevet - im Krieg vorkommende Abhacken und Essen von Armen und Beinen jener Gefangenen, 133

So erzielt Montaigne Übereinstimmung mit seinen Quellen bei den Bräuchen, die seinen Vorstellungen von einem naturlichen und maßvollen Leben entsprechen. Er berichtet wie seine Vorläufer (Thevet: Singularites, p. 56 v.) aber die indianische Sitte, während des Essens nicht zu trinken. (105) Auch die Aussage, die Neue Welt verfuge weder über Wein noch Weizen, (Thevet: Singularites, p. 113) greift Montaigne gerne auf. (205) 134 Zum Würzen der Speisen bei den Indianern cf. Thevet: Singularites, p. 114 v.; Thevet: Cosmographie universelle, p. 149, pp. 215 sq.; Lery: Histoire d'un voyage, pp. 192 sq. 13 ^ Zu den ungeregelten Essenszeiten bei den Indianern cf. Thevet: Singularitds, p. 56, p. 56 r.; ebenso Leiy: Histoire d'un voyage, pp. 127 sq. 136 Cf. L6ry: Histoire d'un voyage, p. 223.

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die die Sieger nicht mit sich führen können, ignoriert Montaigne.137 Da sich der indianische Kannibalismus angesichts der Quellenlage nicht generell leugnen läßt, stellt Montaigne neben das Verschweigen die Uminterpretation. Im direkten Vergleich mit den Greueln des eigenen Religionskrieges, zu denen auch kannibalische Praktiken gehört haben oder gehört haben sollen, wird der indianische Kannibalismus zu einer tugendhaften Handlung umstilisiert. Montaigne kann sich auf die Berichte L&ys stützen,138 wenn er den Indianern edelmütige Motive zugutehält: Dir Kannibalismus, so stellt er fest, entspringt nicht, wie etwa bei den Skythen, dem Nahrungsbedürfhis, sondern ist eine rituelle Form der Rache, also an kriegerische Tugenden gebunden.(207) Seine Interpretation der Anthropophaphie bei den Indianern als eines «cannibalisme vertueux» ist nicht nur die weitestmögliche Verharmlosung des skandalösen Phänomens, von dem die Reisenden immer wieder berichtet hatten;139 sie stellt auch direkte Anschlußmöglichkeiten zu den großen Männern der Antike bereit.1™ Während Montaigne im Falle der Anthropophagie sein Ziel der Idealisierung durch Uminterpretation erreicht, verwendet er in einem anderen gravierenden Fall die Technik des Verschweigens. In semer Schilderung des indianischen Alltags ignoriert er die Trinkexzesse, über die nahezu alle Reisenden und Geschichtsschreiber berichten und die als eine zentrale Komponente der indianischen Festkultur zu betrachten sind, fast vollständig.141 Im Ignorieren dieser so auffälligen Lebensgewohnheit, die ihm durchaus aus den Quellen bekannt war, wie eine beiläufige Erwähnung (558) beweist, tritt die generelle Tendenz von Montaignes idealisierender Stilisierung besonders deutlich hervor. Es zeigt sich aber auch, wie diese Stilisierung auf Auffassungen bezogen ist, die sich im Frankreich des 16. Jahrhunderts durchzusetzen begonnen hatten. Die Aversion gegen die Trunksucht teilt Montaigne mit seiner Zeit, in der sich, auch unter dem Einfluß der protestantischen Ethik, eine neue Auffassung über den Alkohol etabliert: Im 16. Jahrhundert bildet sich zwar keine entscheidende Änderung in den Konsumgewohnheiten, wohl aber eine Änderung der «Anschauung

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Thevet: Cosmographie universelle, pp. 192 sq. Cf. Lory: Histoire d'un voyage, p. 195. 139 Cf. Lestringant: «Le cannibalisme des 'Cannibales' I», p. 37. 14 ^ Cf. ibid. p. 39. In seiner Interpretation von Montaignes «Kannibalismus»-Essay geht Lestringant noch weiter: der kannibalische Akt « represente une externe vengeance»; (ibid.) für Montaigne wäre er danach also nur ein Zeichen in einem System von Symbolen und nicht mehr ein Teil der empirischen Wirklichkeit; auf diese Weise würden sich dann die Widersprüche endgültig auflösen, die der Essay dadurch aufweist, daß er die kannibalischen Praktiken von tugendhaften Menschen in einer guten Natur schildert. Lestringants Interpretation folgt aber hier auf andere Weise genau jenem Muster der Glättung und Verharmlosung von Widersprüchen bei Montaigne, das er selbst anderen vorwirft; cf. ibid., p. 29. Lestringant verfolgt das Kannibalismus-Motiv weiter bis ins 19. Jahrhundert und zeigt dabei, daß die übliche Deutung weit von der Montaignes abwich: Kannibalismus wurde im Zusammenhang mit Verbrechen wie Kindermord, Inzest oder auch als Nahrungsbeschafrung gesehen. Diese Deutungsmuster fuhren zu einem «ethnocentrisme des plus aggressifs.» (Lestringant: «Le cannibalisme des 'Cannibales' II», p. 30). 141 Zu den Trinkexzessen der Indianer cf. Thevet: Singvlarites, p. 46 v. und p. 56 r; Lery: Histoire d'un voyage, pp. 126 sq., pp. 128 sq. In Auswertung der Quellen kommt der Ethnohistoriker Mdtraux zu dem Schluß: «All social events were occasions for drinking bouts, at which great quantities of beer were consumed. [...] These orgies lasted for 3 or 4 days, during which nobody ate or slept much.» (M£traux: «The Tupinamba», p. 127.) 138

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über das Trinken» heraus.142 Dieser Wandel läßt sich auch in der Literatur verfolgen: Im ersten Jahrhundertdrittel macht Rabelais die Trunkenheit noch zu einem Leitmotiv seines Romans,143 ein halbes Jahrhundert später wird sie von Montaigne als «vice grassier et brutal» (322) geradezu geächtet, weshalb er sie aus seiner Darstellung einer idealisierten Gesellschaft entgegen dem eindeutigen Zeugnis der Quellen eliminiert. Die Trunkenheit wird ihm zum Symbol des allgemeinen Sittenverfalls,144 den er an seiner eigenen Gesellschaft zu beobachten glaubt und dem er die ideale Indianergesellschaft ebenso entgegenstellt wie die gerade vergangene Epoche. Die Generation seines Vaters repräsentiert für ihn ebenso wie die Indianergesellschaft das Ideal einer gemäßigten Lebensführung: «C'est merveille des comptes que j'ay ouy faire ä mon pere de la chastete de son siecle.» (325) Ganz analog verfährt er bei der Behandlung und Bewertung der «paillardise», die ihm ebenfalls als Ausdruck des Sittenverfalls der eigenen Zeit erscheint und die er neben die anderen zeittypischen Laster stellt.145 Ihr waren, so behauptet er, seine Vorfahren weniger stark ergeben als die eigene Zeit; (325) und bei den Indianern glaubt er ihre Sittenstrenge daran ablesen zu können, daß Männer und Frauen getrennt schlafen. (205)146 In diesen Techniken der Idealisierung wird Montaigne dem Bild gerecht, das die Forschung gerne von ihm gezeichnet hat. Er tritt auf als ein Kritiker der europäischen Zivilisation und als Verfechter eines naturgemäßen Lebens, wie es zwar nicht nur die Indianer, diese aber im besonderen Maße vorfuhren.

7. «Kunst» und Natur Die Bewohner der Neuen Welt dienen Montaigne als Medium der Kritik an der eigenen Gesellschaft, allerdings nur in jenen Bereichen, die Montaigne selbst für kritikwürdig erachtet. In anderen Bereichen bleibt Montaigne den Urteilen und Vorurteilen verhaftet, die für seine Zeit charakteristisch sind. Er gelangt dann zu Bewertungen und Folgerungen, welche der Alten Welt einen Vorrang einräumen und damit im Widerspruch stehen zu seiner Idealisierung der Indianergesellschaft. Zwar läßt sein Entwurf einer «fraternele societe et intelligence» (888) zunächst zumindest an ein gleichberechtigtes Nebeneinander beider Gesellschaften denken, aber die wie selbstverständlich geäußerte Idee «de faire son profit d'ames si neuves» stellt diese Gleichheit sofort wieder in Frage. (889) Daß er nach wie vor von einem Primat der «Alten» Welt ausgeht, wird an jener Stelle besonders deutlich, in der er den fiktiven 142

Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft, p. 41. Im 16. Jahrhundert gehörte das - auch unmäßige - Trinken offensichtlich zu den selbstverständlichen Ernährungsgewohnheiten des Alltags in der Festkultur. 143 Cf. dazu den «Prologue de l'auteur», in dem sich Rabelais an seine Leser mit «BEUVEURS tr6s illustres» wendet (Rabelais: CEuvres completes, p. 3). 144 Wie eng Trunkenheit und Auflösung der Sitten für Montaigne zusammengehören, verdeutlicht auch eine Aussage über die Stadt Basel im Journal de Voyage en Italic (p. 1129): «Plusieurs se pleinsirent ä M. de Montaigne de la dissolution des fames et yvrognerie des habitans.» 14 ^ Andererseits gelingt es Montaigne, sein Ideal einer gemäßigten Lebensführung mit den «voluptiz naturelles» in Einklang zu bringen: «II ne les faut ny suyvre, n'y fiiir, il les faut recevoir.» (1086, cf. auch 1094.) Hingegen charakterisiert Thevet - und darin stellt er keine Ausnahme dar - die Indianer als «luxurieux» und «chamel» (Thevet: Singularites, p. 86 v.).

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Wunsch diskutiert, daß schon die Antike die Neue Welt hätte erobern - und nicht etwa nur entdecken - sollen. (888) Das nämlich hätte für die indianischen Kulturen eine Bereicherung bedeutet. Die vorbildliche Lebenshaltung der Antike hätte den Indianern einerseits einen günstigeren Eindruck von den Europäern vermittelt - mit diesem Gedanken artikuliert Montaigne noch seine Kritik an der eigenen Gesellschaft -, andererseits aber hätte die Nachahmung der antiken Tugenden den Indianern Nutzen gebracht und zu ihrer eigenen Vervollkommung beigetragen.(888)147 Aus diesen Überlegungen wird besonders deutlich, daß Montaigne seine eigene Behauptung preisgibt, daß sich bei den Indianern die gleichen Tugenden vorfinden, welche die Antike gehabt hat und welche den modernen europäischen Völkern verlorengegangen seien.14" Zumindest die europäische Tradition, wenn schon nicht die Gegenwart, bleibt für die Indianer ein unerreichtes Leitbild. Montaigne zieht also die eigentliche moralische Grenzlinie nicht geographisch zwischen der eigenen Gesellschaft und der Neuen Welt. Die entscheidende Diskrepanz sieht er vielmehr im zeitlichen Abstand zwischen der Antike und der gegenwärtigen Welt, in der es zwar graduelle, aber keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Natur- und den zivilisierten Völkern gibt. Die Idealisierung eines indianischen Naturzustandes als eines Gegenbildes zur europäischen Kultur ist also keinesfalls so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Montaigne läßt nicht nur gelegentlich den Primat der Antike vor dem Naturzustand anklingen; er bringt auch in seiner Beschreibung der Indianergesellschaften Differenzierungen an, welche den Gedanken eines reinen Naturzustandes als Ideal fragwürdig erscheinen lassen. Montaignes Darstellung der Indianergesellschaften beruht zwar im wesentlichen auf Generalisierungen; in einem Punkt fuhrt er jedoch eine recht deutliche Differenzierung durch: Er unterscheidet - bei allen Ungenauigkeiten im einzelnen - in seinen beiden Essais zwischen den Hochkulturen Perus und Mexikos und den brasilianischen Indianern. Mit dieser Unterscheidung gerät seine Präferenz für den «Naturzustand» als dem Gegenbild der europäischen Gesellschaft ins Wanken. Neben die «nature» der brasilianischen Indianer treten die «arts» der Hochkulturen. Dieser Gegensatz, aber auch der Zusammenhang von «art»/«artifice» und «nature» stellt sich in den Essais sehr komplex dar; «Kunst» und Natur erscheinen manchmal als Gegenpole, manchmal aber auch verschwimmen die beiden Begriffe zu einem Ideal: «Si j'estois du mestier, je naturaliserois l'art autant comme ils artialisent la nature.» (852)l49 Während in Des Cannibales in erster Linie der Widerspruch zwischen «europäischer Kultur» und «indianischer Natur» betont wird, werden in Des Caches die Akzente verschoben. Das Oppositionspaar behält zwar nach wie vor seine Gültigkeit, (886 sq.) jedoch gewinnen die «arts» als mögliches Verbindungsglied der indianischen mit der europäischen Kultur auch ein Eigengewicht.150 Diese Akzent147

Cf. Läpp: «Montaigne et le Nouveau Monde», pp. 113-115. 8 cf. dazu die Unterstellung Montaignes, die Indianer seien «affamos d'apprentissage» und seiner Einschätzung ihrer natürlichen Tugenden, die sich jetzt in «si beaux commencemens normals» erschöpfen. (899) 149 £f zum Verhältnis von «art» und «nature» Delegue: «Du paradoxe chez Montaigne», p. 248. '50 Auch Trafton weist darauf hin, daß Montaigne speziell in diesem Essay deutlich von seiner sonstigen Gepflogenheit abweicht, den Naturzustand als der Kultur schlechthin Überlegen zu 14

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Verschiebung von Des Cannibales zu Des Caches geht einher mit einer Differenzierung der Betrachtungsweise. Denn Montaigne illustriert die indianischen «arts» ausschließlich an den Hochkulturen Mexiko und Peru. Er schildert in Des Caches zunächst eine Naturgesellschaft, die nur ganz allgemein als «autre monde» oder «monde enfant» (887) gekennzeichnet wird und die er in ähnlichen Formeln wie in Des Cannibales der eigenen Gesellschaft als Ideal entgegenstellt: «il n'y a pas cinquante ans qu'il ne S9avoit ny lettres, ny pois, ny mesure, ny vestements, ny bleds, ny vignes.» (886) Dieses naturorientierte Leben schließt eine den Europäern gleichwertige «clarto d'esprit naturelle» nicht aus. (887) Eine Differenzierung durch den Verweis auf die Hochkulturen Mexiko und Peru nimmt Montaigne erst dann vor, wenn er den Nachweis der «Kulturfähigkeit» der Indianer erbringen will: L'espouvantable magnificence des villes de Cusco et de Mexico, et, entre plusieurs choses pareilles, le jardin de ce Roy, tous les arbres, le fruits et toutes les herbes, selon l'ordre et grandeur qu'ils ont en un jardin, estoyent excellemment formez en or; comme, en son cabinet, tous les animaux qui naissoient en son estat et en ses mers; et la beauto de leurs ouvrages en pierrerie, en plume, en cotton, en la peinture, montrent qu'ils ne nous cedoient non plus en l'industrie. (887)

Montaigne hebt ausdrücklich hervor, daß diese kulturellen Leistungen allein von den Hochkulturen Mexiko und Peru erbracht werden. Er charakterisiert die Nationen aus dem «Royaume de Mexico» im Vergleich zu anderen Nationen der Neuen Welt als «plus civilisez et plus artistes»; (892) er vergleicht auch die kulturellen Errungenschaften Perus mit denen anderer klassischer Kulturländer und weist Peru den Vorrang zu: Quant ä la pompe et ä la magnificence, par je suis entro en ce propos, ny Graece, ny Romme, ny jEgypte ne peut, soit en utilitö, ou difficulte*, ou noblesse, comparer aucun de ses ouvrages au chemin qui se voit au Peru, dressd par les Rois du pays, depuis la ville de Quito jusques ä celle de Cusco. (893)

Bereits in Des Cannibales hatte Montaigne andeutungsweise versucht, den Naturvölkern Brasiliens kulturelle Fähigkeiten zuzuschreiben. Während er bei der Darstellung der Tupinamba wohl noch Schwierigkeiten hatte, Belege für deren kulturelle Gleichwertigkeit mit Europa zu finden, boten ihm die Hochkulturen ausreichend Material, die kulturellen Leistungen und damit die Überlegenheit über die europäische Kultur zu betonen. Entsprechend ist die quantitative Verteilung. Zwar zitiert Montaigne in Des Cannibales als kulturelle Leistung der Tupinamba zwei Gesänge, wobei er den Kriegsgesang als «Invention qui ne sent aucunement la barbaric», (211) das Liebeslied sogar als «tout a fait Anacreontique» charakterisiert; (212) trotzdem liegt in diesem Essai der Akzent auf der Naturgesellschaft; in Des Caches rücken die kulturellen Leistungen ins Zentrum der Betrachtung. Montaigne reduziert die Kulturen Mexikos und Perus auf ihre zivilisatorischen Leistungen und kulturellen Errungenschaften, Er ignoriert damit zugunsten einer Idealisierung die «barbarische» Komponente, die zumindest in der Aztekengesellschaft eindeutig vorhanden war.151 kennzeichnen; in Des Caches zeigt Montaigne vielmehr unmißverständlich die Grenzen seines vermeintlichen «Primitivismus». Cf. Trafton: «Ancients and Indians in Montaigne's 'Des coches'», pp. 76 sq. Cf. Soustelle: Das Leben der Azteken, pp. 384-391; Lehmann: «Les diffirentes civilisations ame"ricaines au moment de la c onqu&e espagnole», pp. 16 sq. Auch das Bild der streng hierarchisch gegliederten Aztekenherrschaft, die Sklaven hielt oder auch rigoros Tributzahlungen von

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Daß Montaigne in Des Caches Mühe hatte, der «nature» gegen die vorherrschenden «arts» wieder Raum zu verschaffen, zeigt seine Inkonsequenz in seiner Indianerdarstellung: Um die Größe spanischer Eroberungen einzuschränken, setzt er die Unschuld und Naivität der Indianer gegen die List und Waffenüberlegenheit der Spanier. Dabei werden - ohne daß dies ausgedrücklich gesagt würde - indirekt aus den Indianern der Hochkulturen wieder Naturvölker, indem Montaigne die bewaffneten Spanier «contre des peuples nuds» kämpfen läßt (888)152 Die Unentschiedenheit, die Montaigne bei seiner Indianerdarstellung zwischen einer Idealisierung der Natur- oder des Kulturzustandes schwanken läßt, ergibt sich aus dem sozialen und anthropologischen Ideal, das seinem Denken insgesamt zugrundeliegt. Montaignes Äußerung über Plutarch «qui est de tous les autheurs que je cognoisse celuy qui a mieux mesle l'art ä la nature et le jugement ä la science» (876) dürfte seine eigene Auffassung wiedergeben. Sein Ideal ist eine Verschmelzung von «nature» und «arts», die er beispielhaft in der Verbindung von Neuer Welt und Antike verkörpert sieht: Que n'est tombee soubs Alexandre ou soubs ces anciens Grecs et Romains une si noble conqueste, et une si grande mutation et alteration de tant d'empires et de peuples soubs des mains qui eussent doucement poly et defriche" ce qu'il y avoit de sauvage, et eussent conforte" et promeu les bonnes sentences que nature y avoit produit, meslant non seulement ä la culture des terres et omement des villes les arts de deca, en tant qu'elles y eussent esti necessaires, mais aussi meslant les vertus Grecques et Romaines aux originelles du pays! (888)

Auch Montaignes Resümee von Des Canniboles - «Tout cela ne va pas trop mal: mais quoy, ils ne portent point de haut de chausses!» (213) - ist nicht nur ironisch zu verstehen. Nicht der «gute» Wilde, sondern der «edle» Wilde erfüllt sein Ideal einer Verbindung von «art» und «nature». Dabei dürfte Montaignes bon sauvage entscheidend von Plutarch beeinflußt gewesen sein: «La vision de Montaigne ötait plus 'antique'; pour lui, le Sauvage ötait ä l'occasion un heios ä la Plutarque.»1^

8. Gesetz und Ordnung m Montaignes heterogenen Äußerungen über das Verhältnis der Alten zur Neuen Welt, die keine klare Entscheidung über moralische Prioritäten zulassen, kristallisiert sich die eigentliche Absicht immer deutlicher heraus: Sowohl in seiner Kritik an der eigenen Gesellschaft wie auch in seiner Stilisierung der Indianer geht es ihm darum, ein Raum und Zeit übergreifendes Ideal herauszuarbeiten, das für die Antike, die eigene Gesellschaft und schließlich für die indianische Kultur gleichermaßen gilt. Erst vor diesem Hintergrund werden die deutlichen Widersprüche in seinen Aussagen unterlegenen Völkern einforderte und die Ballesteros-Gaibros als «empire militaire» charakterisiert (Ballesteros-Gaibros: «Niveau culture! des indigenes americains», pp. 31 sq.), hatte wohl Montaignes idealisiertem Bild der Hochkulturen widersprochen. Montaigne geht auf die grausameren Opfer nur an anderer Stelle ein, um zu zeigen, daß Grausamkeiten Oberall existieren. (199) Diese Schilderung nackter Krieger widerspricht der Beschreibung, die Soustelle von den Azteken-Kriegern gibt, nach der diese eine spezielle Kriegskleidung trugen. (Soustelle: Das Leben der Azteken, p. 248.) Moureau: (Rez.) «Michele Duchet, Daniel Defert, Frank Lestringant, Jacques Forge, L'Ame~rique de Theodore de Bry», p. 110. 231

über die indianische Gesellschaft erklärbar. Im Zentrum dieses Ideals steht zumindest nach der Quantität der Äußerungen in den beiden Amerika-Essais das naturgemäße Leben; für Montaigne gehören aber auch kulturelle Errungenschaften zu einer idealen Gesellschaft. Die Ambivalenz des Ideals, das Montaigne in der Indianergesellschaft wiederfinden will, wird besonders dort deutlich, wo Montaigne Phänomene diskutiert, die in seiner eigenen Gesellschaft besondere Bedeutung gewonnen haben. Zunächst verweist er auf das Fehlen jener Einrichtungen in der Indianergesellschaft, welche eine zentrale Rolle bei der Bildung der neuzeitlichen Gesellschaft und des modernen Staates gespielt haben. Dazu gehört die Idee einer allgemeingültigen Gesetzgebung als dem Fundament des absolutistischen Staates, die in Frankreich gegen Ende des 16. Jahrhunderts von Jean Bodin erarbeitet worden war. In der Bewertung dieser Grundlage des modernen Staates zeigen sich die Amerika-Autoren ausgesprochen unsicher und ambivalent: In der Anfangsphase der europäischen Amerikarezeption wird das vermeintliche Fehlen von Gesetzen bei den Indianern durchaus positiv vermerkt, weil hierin eine Annäherung an das «Goldene Zeitalter» gesehen wurde.154 Thevet hingegen läßt schon die Entstehung des neuen Staatsideals erkennen, wenn er die Gesetzlosigkeit der Indianer neben das Fehlen von Religion, Glauben und Gesittung stellt und deshalb die Indianer in die Nähe von Tieren rückt.155 Bei Montaigne hingegen wird das Fehlen von Gesetzen wieder positiv gewürdigt, während die eigene Kultur gerade wegen ihres Übermaßes an Gesetzen kritisiert wird, die dennoch der «Mannigfaltigkeit des Lebens» nicht gerecht werden kann.156 Insbesondere in der Jurisprudenz wird für ihn deutlich, zu welchen Auswüchsen die vom Menschen geschaffenen Gesetze führen können. Gerade aus deren Unzahl in Frankreich ergibt sich für Montaigne ihre Nutzlosigkeit. (1042 sq.) Vor diesem Hintergrund muß ihm der gesetzlose Zustand der Neuen Welt als vorbildhaft erscheinen: Ceux qui reviennent de ce monde nouveau, qui a este" descouvert du temps de nos peres par les Espaignols, nous peuvent tesmoigner combien ces nations, sans magistral et sans loy, vivent plus legitimement et plus regloement que les nostres, ou il y a plus d'officiers et de loix qu'il n'y a d'autres hommes et qu'il n'y a d'actions [...]. (477)

Daß dieser Naturzustand durch die Zivilisation gefährdet ist, verdeutlicht Montaignes Schilderung einer Entscheidung König Ferdinands: dieser hatte es vermieden, Rechtsgelehrte in die Neue Welt zu entsenden aus Angst, sie könnten dort Zwietracht säen. (1043) Die Ablehnung staatlicher Gesetze ergibt sich für Montaigne konsequent aus seinen Prämissen, da ihm prinzipiell die Naturgesetze als allein adäquate erscheinen: «Les loix de nature nous aprenent ce que justement il nous faut.» (986) Nur die Natur kann den Menschen zur Zufriedenheit führen: «Nature les [les lois - A. E.] donne tousjours plus heureuses que ne sont celles que nous nous donnons.» (1043) Montaigne weiß aber, daß dieser ideale gesetzlose Zustand für die zivilisierte Welt unwiderbringlich verloren ist: «II est croyable qu'il y a des lois naturelles, comme il se voit es autres creatures; mais en nous elles sont perdues». (564) Deshalb ist Montaignes Stellungnahme zum gesetzlosen Zustand nicht eindeutig. Was in einem natürlichen Zustand mit naturgeleiteten Menschen möglich ist, bleibt Funke: «'Ripublique sauvage'», p. 42. Thevet: Singularites, p. 5 1 v. Gmelin: «Montaigne und die Nature, p. 3 1 .

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fur die Zivilisation ausgeschlossen. Wenn Montaigne den gesetzlosen Zustand im eigenen Land konstatiert - «il n'y avoit ny loy, ny justice, ny magistral» (924) -, dann bedeutet das keinesfalls eine Lobrede auf die eigene Gesellschaft, auch wenn er die Indianergesellschaft fast mit den gleichen Worten idealisiert hatte: «ces nations, sans magistral et sans loy».157 (477) Für das eigene Land gelten ihm gesetzlose Zustände als «grands maux»; (924) der zivilisierte Mensch muß den positiven Gesetzen des eigenen Landes gehorchen. (562, 934) Zwar kann den «meilleurs temps» nachgetrauert werden; (972) doch müssen die Gesetze selbst dann befolgt werden, wenn sie schlecht sind, da Gesetzlosigkeit den Krieg aller gegen alle bedeuten würde - das ist eine der Hauptideen, auf die sich der absolutistische Staat gründet, dessen Theorie ihren Höhepunkt in der Mitte des 17. Jahrhunderts bei Hobbes finden wird. Montaigne schließt sich Epikur an, wenn er diese Idee propagiert: II ne faut pas laisser au jugement de chacun la cognoissance de son devoir; il le lui feut prescrire, non pas le laisser choisir ä son discours; autrement, selon l'imbecilliti et variete1 infinie de nos raisons et opinions, nous nous forgerions en fin des devoirs qui nous mettroient a nous manger les uns les autres, comme dit Epicurus. (467, cf. auch 541)

Unier diesem Vorbehalt müssen auch die Passagen gesehen werden, in denen Montaigne die Überlegenheit des gesunden Menschenverstandes demonstriert, über den die Indianer im Gegensatz zu den Europäern verfügen. Angesichts der französischen Zustände stellen die Indianer, die Montaigne in Rouen gesehen oder gesprochen haben will, die Monarchie in Frage. Zwar finden sich kritische Gedanken dieser Art bereits lange vor Montaigne in der Reiseliteratur.158 Neu und brisant ist jedoch, daß Montaigne die Indianer darüber erstaunen läßt, daß die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa so widerspruchslos akzeptiert wird. Allerdings kann Montaigne wegen dieser Textstelle nicht als «precurseur de la Revolution» bezeichnet werden.159 Denn Montaignes Idealisierung der Indianergesellschaft, die ohne König, Gesetz und Religion zu existieren vermag, wird von ihm nicht auf die europäische Gesellschaft übertragen. Für eine Gesellschaft wie die europäische, die bereits den Naturzustand verloren hat, kann die idealisierte Gesellschaft der Indianer allenfalls bedingt Vorbildfunktion haben. Doch gibt es auch außerhalb der Neuen Welt in der eigenen Gesellschaft und der eigenen Zeit Montaignes Nischen, in denen sich der Naturzustand erhalten hat. '37 Auch andere Textstellen weisen in diese Richtung: «C'est une nation [...] en laquelle il n'y a [...] nul nom de magistral [...]; nuls contrats»; (204) oder: «sans lettres, sans loy, sans roy, sans relligion quelconque». (471) 158 Cf. etwa die Rede Panquiacos in Benzonis Historia del Mondo Nuovo, (pp. 47 v. sqq.) wo er die Besitzgier der Europäer anprangert. 159 Darauf weist schon Chinard (L'exotisme americain dans la litteraturefrangaise au XVf siede, p. 208) hin. Lestringants Interpretation, die die kritischen Bemerkungen des Indianers auch als Worte des verstorbenen La Bootie verstehen will, erscheint fragwürdig. (Lestringant: «La nogation des cannibales», p. 234.) Denn trotz seiner engen Verbundenheit mit La Bootie hat sich Montaigne von ihm wegen dessen radikaler Ansichten auch distanziert. Seine Distanzierung wird darin deutlich, daß er bei der Herausgabe von La Booties Schriften als einzige die revolutionäre Schrift Über die freiwillige Knechtschaft ungedruckt läßt; zu den Distanzierungstechniken gehört auch das Herabsetzen des Lebensalters von La Bootie von 18 auf 16 Jahre, das Montaignes vorsichtig-konservative Haltung verrät: «Die Arbeit eines Sechzehnjährigen jedoch könnte harmloser erscheinen, noch ohne politisches Bewußtsein verfaßt. Es sei nur eine Stilübung gewesen, erklärt Montaigne, man könne der staatsbürgerlichen Loyalität Boeties nur das beste Zeugnis ausstellen.» (Heydorn: «Einleitung», p. 8.) 233

Montaigne berichtet von einem französischen Dorf, das aufgrund seiner abgeschlossenen Lage sein natumahes Leben bewahren konnte und allen zivilisatorischen Einflüssen trotzte. Das natumahe Leben mit eigenen Bräuchen und Sitten wird von Montaigne ähnlich dem der «Wilden» als so glücklich und harmonisch geschildert, daß keine Gesetze nötig sind: Ce petit estat s'estoit continuo de toute anciennet£ en une condition si heureuse que aucun juge voisin n'avoit esto en peine de s'informer de leur affaire, aucun advocat employ^ ä leur donner advis, ny estranger appelte pour esteindre leurs querelies, et n'avoit on jamais veu aucun de ce destroict a l'aumosne. Ils fuyoient les alliances et le commerce de l'autre monde, pour n'alterer la puretö de leur police. (758)

Als die Hauptursache der zivilisatorischen Übel erscheint Montaigne das «Wissen», das die Menschen von der Natur entfernt. Bei seiner Idealisierung des einfachen Lebens achtet Montaigne aber sorgfältig darauf, negative Konnotationen zu vermeiden; «simplicito et ignorance» (471) bedeuten nicht Dummheit oder Unfähigkeit.160 Gegenteilige Befunde aus den Quellen - wie etwa L£rys Hinweis auf die ausdrücklich als «defaut» gekennzeichnete Unfähigkeit der Indianer, einfache Zeichnungen zu kopieren -, werden ignoriert.161 Vielmehr bemüht Montaigne sich, Belege für die indianische «discours»- und «jugement»-Fähigkeit zu geben, indem er auf die Qualität ihrer Poesie verweist, die in nichts der antiken Poesie nachstehe. (212)162 Die Naturordnung in der dörflichen Gemeinschaft funktioniert solange, als nicht äußere Störfaktoren auftreten. Erst die in das Dorf eindringenden juristischen und medizinischen Kenntnisse fuhren zur Zerstörung des Naturzustands. (758 sq.) Im Fehlen eines solchen Wissens stimmen die indianische Gesellschaft und die naturnah gebliebenen Teile der eigenen Gesellschaft überein; dieses Fehlen ist der Grundstein für ein Leben in Einfachheit und Ruhe. Denn Wissen erregt nach Montaigne unnötig den Geist und führt zwangsläufig zu Unruhe und Sorgen.163 (475,1016) Die Erwähnung der Restbestände einfachen Lebens in der eigenen Kultur beleuchtet aus einer anderen Perspektive noch einmal die Tatsache, daß es Montaigne mehr um die Kritik des Fortschritts und der Zivilisation geht als um eine Idealisierung der indianischen Gesellschaft. Deren Entdeckung und Rezeption durch Europa bietet ihm nur einen willkommenen Anlaß, die Mängel der eigenen Kultur zu thematisieren und sein Idealbild des Lebens zu konkretisieren. Die Tendenz von Montaignes Interpretation der Indianergesellschaft ist klar: Stets zielt er darauf ab, in der fremden Kultur jene Eigenschaften wiederzufinden, die in der eigenen Kultur vermeintlich verloren160

Ähnlich differenziert Montaigne seine Vorstellung von der Einfachheit eines truchement. Nur als «homme simple et grassier» (202) erfüllt dieser die für eine adäquate Berichterstattung notigen Voraussetzungen. Doch ist der Wunsch Montaignes nach einem truchement von einfachem Geist nicht mit jener «bestise» (213) zu verwechseln, die er an anderer Stelle einem truchement vorwirft, der nicht imstande ist, ein Gespräch mit Indianern richtig zu übersetzen. Montaignes Bevorzugung der «simplicito» wird auch gewertet als Grundlage «pour une attaque contre les podants, contre les partisans, et, disons, contre toute sorte de 'menteurs'» (Ehrlich: «Rabelais et Montaigne», p. 5). 161 Le"ry: Histoire d'un voyage, p. 277. 16 ^ Als Beleg für die «traits d'intelligence de ces Cannibales» führt Plattard ebenfalls die beiden Gesänge und auch die Unterhaltung mit dem Indianer in Rouen an (Plattard: Montaigne et son temps, pp. 174 sq.). 163 Selbst harmlose Beschäftigungen wie das Schachspiel können Unordnung im menschlichen Geist hervorrufen. (986)

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gegangen sind. Die eigene Zeit wird als ein Abfall von Idealen begriffen, die noch eine Generation zuvor, erst recht aber in der antiken Tradition wirksam gewesen sind. Montaigne gibt jedoch zugleich eine Apologie der gesellschaftlichen Ordnung, in der er lebt: So sehr er die indianische Lebens- und Wissensform als Ideal preist, so sehr hütet er sich zugleich davor, sie als ein Modell für die eigene Wirklichkeit zu empfehlen, da dies - die Indianer in Rouen haben dasrichtigerkannt - zu einer Zerstörung der gerade etablierten sozialen und politischen Ordnung in Frankreich fuhren würde. Montaigne ist nur Apologet der «ignorance» als einer geistigen Eigenschaft; er befürwortet keinesfalls die daraus resultierenden gesellschaftlichen «Zustände» in der Indianergesellschaft. Sein Plädoyer für eine gesellschaftsstabüisierende «ignorance» entspringt dabei dem generellen konservativen Grundzug seines Denkens: L'incivilito, Pignorance, la simplesse, la nidesse s' accompaignent volontiere de Pinnoncence; la curiosito, la subtilitö, le scavoir trainent la malice ä lew suite; l"humilite\ la crainte, l'obeissance, la debonnaireto (qui sont les pieces principales pour la conservation de la societl humaine) demandent une ame vuide, docile et presumant de soy. (477)

Denn grundsätzlich bleibt Montaigne auch in politischer und sozialer Hinsicht konservativen Ideen verhaftet. Es ist keinesfalls seine Absicht, «de faire supprimer la , les lois, le commerce, et de se priver de livres et de bon vin.»164 Wenn er die eigene Gesellschaft unter Zuhilfenahme der Indianer- oder anderer einfacher Kulturen kritisiert, dann geschieht dies nicht im Namen des Fortschritts, sondern im Namen der Vergangenheit, in der alles besser war.165 Der Konservativismus Montaignes zielt auf die Erhaltung der staatlichen, gesellschaftlichen und religiösen Institutionen: «Er akzeptiert die Gesellschaft und den Staat, so wie sie sind»;166 und er leitet aus den idealen Kulturen der Antike oder der Indianer nicht den Aufruf zur Veränderung der eigenen Gesellschaft ab. Sie sind ihm vielmehr nur Anlaß zu nostalgischer Verklärung vergangener oder entfernter Gesellschaften. Dieser Konservativismus drückt sich auch in der Struktur seines Denkens aus, das eher empirisch als theoretisch angelegt ist und schon deshalb immer den bestehenden Institutionen verhaftet bleiben muß. Montaignes Form der Skepsis ist letztlich nicht kritisch, sondern bewahrend.167

164

Lebegue: «Montaigne et le paradoxe des cannibales», p. 362. 105 Starobinski trifft diesen Sachverhalt nicht genau: «die anstößige Ungleichheit, die die nach Frankreich verbrachten Indianer mit gutem Recht kritisieren, ist Bestandteil der alten Institutionen, die Montaigne nicht gutheißt, die er jedoch, aus Angst vor Schlimmerem, lieber nicht gewaltsam umgestürzt sieht [...]. Montaigne wird schließlich dahin kommen, Kritik und 'Konservativismus' nebeneinander bestehen zu lassen.» (Starobinski: Montaigne, p. 381.) Kritik und Konservativismus können bei Montaigne deshalb nebeneinanderstehen, weil die Vergangenheit der Maßstab der Kritik ist. Erst in der Aufklärung werden «Kritik» und «Fortschritt» eine Verbindung eingehen. 166 Bück: «Montaigne und die Krise des Humanismus», p. 17. 167 Zum Verhältnis von Empirie, Skepsis und Konservativismus cf. Horkheimer: «Montaigne und die Funktion der Skepsis», p. 7 sq. Die heftige Kritik Horkheimers hat öfters Widerspruch hervorgerufen, obwohl sie im Kem berechtigt erscheint; gegen Horkheimer wenden sich Starobinski: Montaigne, p. 397 und Bück: «Montaigne und die Krise des Humanismus», p. 18. Montaignes Konservativismus wird dagegen hervorgehoben von Soutet: La litterature fran$aise de la Renaissance, pp. 111-113. 235

9. Das Ideal des honnete komme Das Gesellschaftsideal Montaignes, das in seinen kritischen Bemerkungen und in seinen Vergleichen mit den antiken und den indianischen Kulturen immer wieder angedeutet wird, findet seinen besonderen Ausdruck in einer Vorstellung, die oft Montaigne zugeschrieben wird, die aber etwas älteren Ursprungs ist: im Ideal des honnete komme. Als Vorläufer dieses Ideals kann der Italiener Castiglione mit seinem Libro del Cortegiano gelten.168 Mäßigkeit und Leidenschaftslosigkeit sind die Leitlinien, die Castiglione dem cortegiano vorschreibt. Auch Graciän warnt später vor den «impetus de las pasiones»,169 die das maßvolle Leben gefährden können, und fordert zu Leidenschaftslosigkeit und Friedfertigkeit auf, die Garanten für ein langes Leben sind.170 Der Hofmann soll im Alltag bescheiden171 und auch maßvoll leben: «non debba far profession d'essere gran mangiatore, ne bevitore, ne dissolute in alcun mal costume».172 Ein anderer Komplex von Charaktereigenschaften wird mit der Forderung angespochen, daß der honnete komme alle Tätigkeiten «anmutig» ausführen soll. «Grazia» bedeutet dabei nach Castiglione, daß jede Art von Ziererei und auch der Anschein von Anstrengung und Mühe vermieden wird.173 Nicht «studio» und «arte» dürfen sichtbar werden, sondern «natura» und «verita» sollen in den Vordergrund treten.174 Diese Vorstellungen liegen auch Montaignes Menschenbild zugrunde. Auch wenn sich in den Essais nur beiläufige Hinweise auf Castiglione finden, ist Villey zuzustimmen, der weitreichende Einwirkungen Castigliones auf Montaigne sieht: Mais ('influence de Balthasar Castiglione me parait beaucoup plus importante que ce nombre de deux emprunts ne porterait ä le supposer. [...] Souvent des phrases et des idöes dans les Essais rappellent le Corteggiano [sie].'7^

Im 17. Jahrhundert hat Graciän in seinem Oraculo manual^6 das von Castiglione formulierte und von Montaigne modifiziert weitergeführte Ideal noch einmal aufgegriffen und präzisiert. Der langanhaltende Erfolg dieser Vorstellung macht deutlich, in welchem Umfang sie den gesellschaftlichen Bedürfnissen einer bestimmten sozia168 pie ersten drei Bücher des Cortegiano wurden von April 1508 bis Mai 1509, das vierte Buch zwischen September 1513 und Dezember 1515 verfaßt (Wesselski: «Einleitung», p. 9). 69 Graciän: Oraculo manual, p. 73. 170 Cf. ibid., p. 68: «Hombre de granpaz, hombre de mucha vida[...]. El dia sin pleito hace la noche soflolienta.» Cf. zur Leidenschaftslosigkeit auch p. 5, p. 99; zum Ideal der Mäßigung ibid. p. 62, p. 73, p. 101, p. 103. 171 Cf. Castiglione: // libra del Cortegiano, p. 51, pp. 104 sq. 172 Ibid., p. 121. 173 Cf. ibid., pp. 49-51. Einen ähnlichen Gedanken äußert Graciän mit der Forderung «No ser ceremonial»; (Graciän: Oraculo manual, p. 65) cf. weiter ibid. p. 75. 174 Castiglione: // libra del Cortegiano, p. 49. 175 villey: Les sources et revolution des Essais de Montaigne J, p. 103. Ein Einfluß des Cortegiano auf Montaigne über beide unmittelbare Erwähnungen hinaus ist umso wahrscheinlicher, als dieses Werk nicht nur im Italien des 16. Jahrhunderts großes Ansehen genoß; (ca. 40 Editionen bis 1587) sondern auch außerhalb Italiens in ganz Europa sehr schnell rezipiert wurde (cf. Guidi: «Le Courtisan, de Baldassar Castiglione», pp. 27 sq.; Mousnier: Les XVP et XVIF siecles, pp. 10-14). 176 Graciäns Oraculo manual, «dessen 300 Abschnitte [...] für jede Art von Weltmann gelten können», entstand im Jahre 1647 (Voßler: «Einleitung», p. XI). 236

len Schicht in den romanischen Ländern entgegenkam.177 Grecian hat das Ideal in mancher Hinsicht präzisiert. Vor allem hat er deutlich gemacht, daß es sich nicht in der Forderung nach dem natürlichen Leben erschöpft. Zu den Tugenden des Hofmanns gehört einerseits das Ideal der Einfachheit und Naturorientierung: Pierden su m&ito las mismas eminencias con ella [la afectacion — A. E.], porque se juzgan nacidas antes de la artificiosa violencia que de la libre naturaleza, y todo lo natural fu6 siempre mäs grato que lo artificial.17*

Andererseits aber formuliert Graciän in aller Deutlichkeit eine Komponente des Ideals, die auch Montaigne in seinem Indianerbild hatte anklingen lassen: Das Kennzeichen des honnete komme ist das Raffinement, mit der Kunst und Natur miteinander in Harmonie gebracht werden. Gracian hat gerade auf dieses Wechselspiel besonderen Wert gelegt: Naturaleza y arte, materiay obra No hay belleza sin ayuda, ni perfection que no de" en bärbara sin el realce del artificio; a lo male socorre y lo bueno lo perficiona. Dejanos comünmente a lo mejor la naturaleza: acojämonos al arte. El mejor natural es inculto sin ella, y les falta la mitad a las perfecciones si les falta la cultura. Todo hombre sabe a tosco sin artificio, y ha menester pulirse en todo orden de perfection.17^

Eine Schlüsselrolle bei der Zuordnung der Tugenden des honnete komme zu den Indianern spielt eine Eigenschaft, der Montaignes besondere Aufmerksamkeit in seiner Indianerbeschreibung gilt: die «vaillance», die Tapferkeit gegenüber den Feinden. Wie für Montaigne war schon für Castiglione die Tapferkeit die entscheidende Tugend des Hofmanns; er stellt fest, «ehe la principale e vera profession del Cortegiano, debba esser quella deirarme».180 In Kriegszeiten soll der Hofmann angesichts des Feindes stets «fierissimo, acerbo, e sempre tra i primi» sein.181 Die Tapferkeit wird beim idealen Hofmann ergänzt durch die Bildung und das Wissen.182 Ganz ähnlich hat Gracian noch im 17. Jahrhundert sein Ideal formuliert: «El saber y el valor alternan grandeza; porque lo son, hacen inmortales».183 Nicht nur in Des Cannibales und Des Caches stellt die Tapferkeit einen zentralen Wert für Montaigne dar. In den Essais finden sich immer wieder Aussagen, die sie generell als herausragende Tugend hervorheben:184 «In der Tapferkeit sieht Mon177

Zur Weiterentwicklung und gesellschaftlichen Etablierung dieses Ideals im Frankreich des 17. Jahrhunderts cf. auch Funke: Studien zur Reiseutopie der Frühaufklärung, pp. 77-92. Funke zeigt hier, daß diese Schicht wegen ihrer spezifischen sozialen und bildungsmäßigen Voraussetzungen im besonderen Maße als Publikum von Reiseliteratur in Frage kam. 178 Gracian: Oraculo manual, p. 43. 17 9 Ibid., p. 6. 180 Castiglione: // libro del Cortegiano, p. 40. 181 Ibid., p. 41. Auch Graciän spricht in seinem Oraculo manual von der «buena guerra» (Gracian: Oraculo manual, p. 59). Zur entscheidenden Bedeutung dieser Verbindung von Tapferkeit und Bildung im Hofmannsideal bei Castiglione cf. auch Lecker: «Baldassar Castigliones Beitrag zur Frühgeschichte der Romanischen Philologie», pp. 97 sq. 182 Cf. Castiglione: // libro del Cortegiano, pp. 72 sq. 18 ^ Graciän: Oraculo manual, p. 3. 184 Zur «vaillance» cf. Montaigne: Essais, p. 320, pp. 363 sq., p. 646, p. 659, p. 664, p. 671, p. 673. Die Umwertung einer in den Quellen negativ verzeichneten indianischen Eigenschaft in eine positive durch Montaigne zeigt sich exemplarisch an der unterschiedlichen Bewertung der Rache. Wahrend Thevet die «folle opinion de vengeance» der Indianer verurteilt, (cf. Thevet: Singularites, p. 78 v.; cf. auch Thevet: Cosmographie universelle, p. 207) wendet sie Montaigne ins Positive. 237

taigne die ursprünglichste aller Tugenden».185 Sein Hauptinteresse gilt den Handlungen und Phänomenen, die die Tapferkeit und Standhaftigkeit der Indianer hervortreten lassen. (207, 208 sq., 210) Neben der «amiti£ ä leurs femmes» stellt die «vaillance contre les ennemis» eine der beiden zentralen Pflichten des Indianers dar. (206) Die Bedeutung, die Montaigne der Tapferkeit und dem Mut der Indianer zumißt, läßt sich bis in stilistische Details verfolgen. In deutlicher Abweichung von seinen sonstigen Gepflogenheiten zeigt sich Montaigne bei der Darstellung des Kampfes auch emotional bewegt: C'est chose esmerveillable que de la fertnetö de leurs combats, qui ne finissent jamais que par meurtre et effusion de sang. (207)18*>

Feytauds Feststellung ist also zutreffend, daß Montaigne den Krieg hochgeschätzt habe, «jusque dans ses nocessites les plus penibles et les plus basses.»187 In der Tat belegen zahlreiche Textstellen aus den Essais seine Begeisterung für kriegerische und militärische Einsätze, während distanzierte Äußerungen zum Kriegsgeschehen eher eine Ausnahme darstellen.188 In diesem Zusammenhang seiner generellen Befürwortung des Krieges und kriegerischer Tugenden muß Montaignes Würdigung indianischer Tapferkeit zunächst gesehen werden.189 Aber auch dabei geht es ihm nicht um eine unmittelbare Glorifizierung der Indianer; sie dienen ihm nur als Beleg für die Aussage, daß die Tapferkeit als Tugend auch im 16. Jahrhundert einen hohen Wert haben soll; deshalb kann er den Ausführungen über die indianische Tapferkeit unmittelbar weitere Beispiele aus einem Land wie Ungarn (209) oder der Antike folgen lassen. (210) Bei seiner Darstellung der Tapferkeit als herausragender Eigenschaft der Indianer stützt sich Montaigne auf die Berichte von Reisenden, deren Beschreibungen seine Auffassung untermauern. Von ihnen unterscheidet sich Montaigne aber dadurch, daß er durch superlativische Wendungen der indianischen Tapferkeit einen außerordentlichen Status zuweist: mais il ne s'en trouvepo? un, en tout un siede, qui n'ayme mieux la mort que de relascher, ny par contenance, ny de parole un seul poinct d'une grandeur de courage invincible; il ne s'en void aucun qui n'ayme mieux estre et mango, que de requerir seulement de ne l'estre pas.^O [Unterstreichungen - A. E.] (209)

185

Winklehner: Die Tugenden der antiken Philosophenschulen bei Michel de Montaigne, p. 114. > Diese Emotionalisierung der Darstellung ist zwar selten, aber nicht ganz singular in den Essais. Neuere Forschungsergebnisse haben gezeigt, daß sich zumindest die Edition von 1588 durch eine «lecture sympathisante» auszeichne; cf. Rigolot: «Montaigne et la pootique de la marge», p. 159. 187 Feytaud: «Valet de trefles ou l'Honneur des Armes», BSAM, 5-6. 1981, p. 45. 188 Montaigne relativiert selbst abwertende Stellungnahmen, etwa die Charakterisierung des indianischen Kriegs als «maladie humaine», indem er gleichzeitig von dessen «beauti» spricht. (208) Insgesamt überwiegen jedoch eindeutig positive Stellungnahmen, etwa zum Krieg als «la plus grande et pompeuse des actions humaines». (452) Cf. dazu auch die Aussage von Sayce, der ebenfalls die positive Haltung Montaignes zum Krieg betont (Sayce: The Essays of Montaigne, pp. 86 sq.). 189 Wenn Montaigne von der Tapferkeit spricht, scheint er vor allem an die kriegerische Tapferkeit zu denken; cf. Winklehner: Die Tugenden der antiken Philosophenschulen bei Michel de Montaigne, p. 114. !90 cf Thevet: Cosmographie universelle, p. 207: «Aussi quand ils sont prisonniers, vous n'avez garde de les ouyr demander pardon, ou sliumilier ä l'ennemy qui les detient, ä fin d'en avoir I8i

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Informationen in den Reiseberichten, die diesem Bild der Tapferkeit widersprechen, wie etwa die - wenn auch selten vorkommende - Flucht von Gefangenen, ignoriert Montaigne hingegen.191 Montaigne nutzt seine Darstellung der indianischen Tapferkeit wiederum zur Kritik seiner eigenen Kultur, der diese Eigenschaft verlorengegangen sei. Die Interpretation indianischer Verhaltensweisen im Kontrast zu europäischen geht allerdings manchmal nicht ohne Sophisterei vor sich, wenn Montaigne sehr ähnliche Erscheinungen in entgegengesetzter Weise bewertet. Er muß eine Umwertung der «Tapferkeit» und eine begriffliche Differenzierung vornehmen, um die Grausamkeiten der Bürgerkriege,192 die «cruautez inouies», (672) verurteilen zu können, ohne damit zugleich auch die Indianer zu treffen. Denn Tapferkeit «s'arreste a voir l'ennemy ä sä mercy»; (671) hingegen seien Massaker und Blutvergießen ein Zeichen von «pusillanimitö», (671) die er der «canaille de vulgaire» zuschreibt: cette canaille de vulgaire s'aguerrit et se gendarme ä s'ensanglanter jusques aux coudes et ä deschiqueter un corps ä ses pieds, n'ayant resentiment d'autre vaillance [...] comme les cbiens coOards, qui deschirent en la maison et mordent les peaux des bestes sauvages qu'ils n'ont os£ attaquer aux champs. (672)

Hier übersieht Montaigne seine eigene Feststellung aus den Cannibales, (207) daß die Kämpfe der Indianer immer mit Blutvergießen endeten und daß auch die Indianer über den Feind herfielen, um ihn zu zerreißen. Diese Analogien zum Bürgerkrieg im eigenen Land übergeht Montaigne jedoch, da es ihm darum zu tun ist, auch die indianische Kriegsführung gegenüber der europäischen in einem positiven Licht erscheinen zu lassen: Leur guerre [barbares — A. E.] est toute noble et genereuse, et a autant d'excuse et de beaute que cette maladie humaine en peut recevoir; eile n'a autre fondement parmy eux que la seule Jalousie de la vertu. (208)

Montaigne steht damit in direktem Widerspruch zu Thevet, der die indianischen Kriege als «guerres sans juste occasion» und «sanguinaires» entschieden ablehnte.193 Die Aufwertung indianischen Muts gegenüber dem der Europäer wird von Montaigne an anderer Stelle durch einen Vergleich mit der Größe der Antike erreicht: Quant ä la hardiesse et courage, quant ä la fermetö, Constance, resolution centre les douleurs et la faim et la mort, je ne craindrois pas d'opposer les exemples que je trouverois parmy eux aux plus fameux exemples anciens que nous ayons aus memoires de nostre monde par deca. (887)

Montaigne exemplifiziert die Tapferkeit der Indianer in erster Linie an den Königen Perus und Mexikos. (890 sq.) Doch nicht nur diese, auch Frauen und Kinder verteidigen ihre Freiheit und ihre Götter gegen die Eroberer. (888) In Des Caches kommt Montaigne aufgrund der tatsächlichen Niederlage der Indianer gegen die spanischen Eroberer allerdings in Rechtfertigungszwang, wenn er die indianische Tapferkeit weiterhin verteidigen will. Den Sieg der Eroberer muß er unter dieser Voraussetzung zum einen mit der List der Spanier, ihrer waffentechnischen Überdouce composition: car ce seroit a eux folie, d'autant qu'ils n'en esperent la mort, laquelle ils acomptent ä grand honneur, et gloire, l'ayans recueu pour ceste quereile, et esperans en estre courageusement vengez.» 191 Cf. ibid., p. 283. 192 Cf. dazu Nakam: Les Essais de Montaigne, pp. 311-316. 19 ^ Thevet: Cosmographie universelle, p. 207. 239

legenheit und ihrer Bereitschaft zur Gewaltanwendung, (887 sq.)194 zum ändern aber mit dem Erstaunen der Indianer über das «Neue» erklären. (887 sq.)195 Die Gründe für die auffällige Wertschätzung, die Montaigne der indianischen Tapferkeit zukommen läßt, sind weniger durch die Berichte der Reisenden zu erklären, die eine solche Deutung der indianischen Tugenden nicht unbedingt bestätigen. Es ist vielmehr offensichtlich so, daß Montaigne - darauf verweist schon sein Vergleich der Indianer mit der Antike - traditionelle europäische Wertvorstellungen in Amerika wiederfinden will. Seine Hervorhebung der indianischen Tapferkeit im Kontrast zum Europa seiner eigenen Zeit ist deshalb nicht als Ausdruck einer Relativierung europäischer Werte zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil die Projektion eines Ideals nach Amerika, das in den romanischen Ländern des 16. Jahrhunderts eine Neubelebung erfahrt. Das von Montaigne angestrebte Ideal ist klar ersichtlich: il est digne d'estre considero que nostre nation donne ä la vaillance le premier degrt des vertus, comme son nom montre, qui vient de valeur; et que, ä notre usage, quand nous disons im Komme qui vaut beaucoup, ou un homme de bien, au Stile de nostre court et de nostre noblesse, ce n'est ä dire autre chose qu'un vaillant homme, d'une fa^on pareille ä la Romaine. (363)

Wenn Montaigne hier als Träger der «vaillance» auch nur einen «homme qui vaut beaucoup» und «homme de bien» kennzeichnet, so wird aus dem Kontext doch klar, daß Montaigne mit dem «vaillant homme» sein Ideal des Adligen anvisiert.196 Mit seiner Betonung der Tapferkeit greift Montaigne eine noch junge Tradition auf, die sich im 16. Jahrhundert zu entfalten begonnen hatte; die Tapferkeit in diesem Sinne gehört auch zu den zentralen Tugenden des honnete homme. Kriegerische Tugenden rücken gerade in dieser Zeit wieder in den Mittelpunkt des Persönlichkeitsideals, in der sie de facto bedeutungslos werden. Das 16. Jahrhundert ist zwar das Jahrhundert der Eroberungen und der religiösen Bürgerkriege, aber es ist zugleich auch das Jahrhundert, in dem die Tapferkeit als persönliche Tugend des Edelmanns keine entscheidende Rolle mehr spielt; an die Stelle des kämpfenden Edelmanns tritt der conquistador als Abenteurer oder die Volksmenge als Träger der Bürgerkriegshandlungen. Angesichts dieser Realität wird die Tapferkeit des honnete homme zum Ideal, das an eine vergangene Zeit erinnert: «Au temps oü vit Montaigne, le gentilhomme est un guerrier»:197 die Tapferkeit ist «un de ses principaux ornements».198 194

Dazu Stierle: «Vom Gehen, Reiten und Fahren», p. 207. ^ Auch Trafton hat schon bemerkt, daß Montaigne uiDes Caches in bezug auf die indianische Tapferkeit anders argumentiert als in Des Cannibales. Er berücksichtigt allerdings nicht den unterschiedlichen Problemkontext, in dem die Tapferkeit in den beiden Essais thematisiert wird, und kommt deshalb zu dem Schluß, daß Montaigne die Anerkennung der indianischen Tapferkeit mit der Hervorhebung ihrer passiven Komponente schmälern wolle, während er tatsächlich wohl nur das historische Faktum der Niederlage der Indianer gegen die Spanier in Einklang bringen will mit seiner Apotheose der Indianer (cf. Trafton: «Ancients and Indians in Montaigne's 'Des coches'», pp. 80 sq.). 196 Larmat nennt «l'honneur» neben «la raison» und «le bonheur» als zentrales Moment der Montaigneschen Moral (Larmat: «Montaigne, moraliste 'certain' et'resolu'», pp. 141 sq.). 197 Feytaud: «Valet de trefles ou l'Honneur des Armes», BSAM, 5-6, 1981, p. 51. 198 Ibid., p. 52. Es ist aber daran zu erinnern, daß die Tapferkeitsforderung nur noch ein Ideal gewesen ist, dem kaum mehr eine Realität entsprach. Die Idee des honnete homme, die mehr ein geselliges als ein kriegerisches Ideal verkörpert, tritt an die Stelle des kriegerisch motivierten Ideals der «gloire». Der Ruhm erscheint deshalb bei Montaigne auch nicht als Pendant der Tapfer19

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Mit dem honnete komme ist eine Vorstellung beschrieben, die Montaigne nicht nur in seinen Essais propagiert, sondern die auch für sein eigenes, nicht unproblematisches Selbstverständnis eine Rolle spielte. Für Montaigne repräsentiert der honnete homme den idealen Menschentypus, wenn er sich selbst auch immer wieder vorn Hof zurückgezogen hat.199 Das Ideal des honnete homme hat er für sein eigenes Leben als Vorbild statuiert, im vollen Bewußtsein dessen, daß er dem Ideal trotz mancher Bemühungen nicht gerecht werden konnte. Zu den ritterlichen Tugenden, die er nach eigener Aussage pflegt, gehört insbesondere das Fechten.200 Für Feytaud ist Montaigne «bon chevalier» und «excellent cavalier», der auch beispielhaft die «dons equestres» verkörpere:201 Homme d'öpee, il [Montaigne — A. E.] Test assurement, n'en döplaise ä Brantome, et ce n'est point pour la parade. Aucune occuptaion ne lui parait «plaisante comme la militaire», ni plus noble.502

Auch Feytaud kommt schließlich zu dem Ergebnis, daß Montaignes Bemühungen, dem Bildungsideal des honnete homme gerecht zu werden, letztlich kein Erfolg beschieden gewesen ist: Montaigne n'est pas bourgeois gentilhomme. II ne se vante pas. II reconnaft ses maladresses, et ses incapacitos.203

Dennoch war Montaigne vom Ideal des honnete homme nicht nur fasziniert, sondern er hat es auch zur Stilisierung seiner eigenen Person eingesetzt. Bereits bei seinen Zeitgenossen ist die Selbststilisierung in bezug auf seine Tapferkeit, seine militärischen Fertigkeiten und ritterlichen Tugenden auf Skepsis gestoßen. Brantome204 zeichnet in seinen Memoiren ein zurückhaltenderes Bild Montaignes in dieser Hinsicht, das mit seinen Selbstaussagen nicht übereinstimmt; ebenso wie auch andere Autoren Montaigne diesbezüglich kritisiert haben:

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keit, hier weicht er deutlich von antiken Wertvorstellungen ab. Cf. Winklehner: Die Tugenden der antiken Philosophenschulen bei Michel de Montaigne, pp. 62-67: «So wurde das Bild des Helden durch das Ideal des Tionn&e homme' ersetzt» (ibid., p. 67). Cf. Plattard: Montaigne et son temps, pp. 90 sq. Über Montaigne und das Fechten cf. auch Feytaud: «Valet de trefles ou l'Honneur des Armes», BSAM, 7-8, 1981, p. 12. Ablehnend steht Montaigne der Fechtkunst nur gegenüber, wenn dabei die Geschicklichkeit des Fechters, die bereits zum Sieg ausreichen kann, seine Tapferkeit Oberwiegen sollte (676) oder wenn sie allein zum «fin » eingesetzt wird (676 sq.). Feytaud: «Valet de trifles ou PHonneur des Armes», BSAM, 5-6, 1981, p. 46, p. 48 und p. 49. Cf. zu den «dons öqestres» Montaignes vor allem Des Destries, (I, 48) in der er auch seine Leidenschaft für das Reiten zum Ausdruck bringt (vor allem p. 278). «Monier ä cheval» wird auch von Foisil als «indispensable savoir de tout gentilhomme» charakterisiert (Foisil: «Le corps de ('adolescent royal», p. 317). Feytaud: «Valet de trifles ou l'Honneur des Armes», BSAM 5-6, 1981, p. 44. Cf. zur Bedeutung des Kriegs weiter Feytaud: «il faut avouer que le nombre, la densito, la precision de ses observations et de ses inflexions sur la guerre, lui donnent dans son livre une place preponderante.» (Ibid., BSAM, 7-8, 1981, p. 22.) Feytaud: «Valet de trefles ou l'Honneur des Armes», BSAM, 9-10, 1981, p. 25. Cf. Brantome: CEuvres completes V, pp. 92 sq.: «nous avons veu des conseillers sortir des courtz de parlement, quitter la robe et le bonnet carre, et se mettre ä traisner l'espee, et les charger de ce collier aussitost, sans autre forme d'avoir faict guerre, comme fit le sieur de Montaigne, duquel le niestier estoit meilleur de continuer sä plume ä escrire ses Essays que de la changer avec un 'espee qui ne luy sieoid si bien.»

241

Was allen zeitgenössischen Lesern der Essais aufgefallen war, das ist die Adelsprätension des Verfassers, die etwas hoher zu greifen liebte, als es dem Sproß eines handeltreibenden Bürgertums zustand.205

Die in der Regel sehr montaignefreundliche Forschung hat sich - wie hier Friedrich bemüht, diesen Sachverhalt herunterzuspielen und dabei übersehen, daß gerade in dieser biographischen Prätention ein Schlüssel liegt fiir das Verständnis von Montaignes Menschenideal im allgemeinen und des Indianerbildes im besonderen: Daß Montaigne das Ideal des honnete komme so ins Zentrum seines Menschenbildes stellt und daß er sogar als Schöpfer dieses gesellschaftlichen Idealbildes betrachtet wurde,206 hängt sicherlich auch damit zusammen, daß es sich hier um ein Ideal handelt, das nicht an Standesgrenzen gebunden ist und das seinen Besitzer durch persönliche Tugenden zu adeln vermag. Für Montaigne entwickelt sich der honnete komme von innen heraus, er ist von seiner höfischen oder anderen Umgebung nicht abhängig.207 Das Ideal des honnete komme ist kein Standesideal im alten Sinne mehr; es ist vielmehr eine wesentlich an die Person gebundene Tugend,208 die auch jenem erreichbar ist, der - wie Montaigne - nicht dem alten Adel angehört. Diese Individualisierung des Tugendideals ist Montaigne bewußt und wichtig gewesen; sie wird in seinem Urteil über die französischen und portugiesischen Könige deutlich, denen er die kriegerische Tugend abspricht, weil sie nicht an den Eroberungen persönlich teilgenommen haben: Et cherchent autre adherent que moy, ceux qui veulent nombrer entre les belliqueux et magnanimes conquerants les Roys de Castille et de Portugal de ce qu'ä douze cents lieues de leur oisive demeure, par l'escorte de leurs facteurs, ils se sont rendus maistres des Indes d'une et d'autre part: desquelles c'est ä s'ils auroyent seulement le courage d'aller jouyr en presence. (659)

Montaigne konnte diese Kritik an den spanischen und portugiesischen Königen in dieser Beziehung leicht fallen, weil der spätere französische König Henri IV 20

* Friedrich: Montaigne, p. 16. Cf. auch Auerbach, («Der Schriftsteller Montaigne», p. 184) der Montaigne als «ein wenig snobistisch» charakterisiert oder Porouse: «La Renaissance de la beauto masculine», p. 72: «II [Montaigne -A. E.] partage, ou veut partager l'esthetique de la noblesse ' .» Eine detaillierte Ausführung zur sozialen Stellung Montaignes und seiner Familie gibt Toumon: Montaigne en toutes lettres, pp. 7-10. Wie erfolgreich Montaigne mit der Verwischung seiner sozialen Herkunft war, zeigt noch ein Apologet aus dem Jahre 1984: «Scaliger protend que le pere de Michel de Montaigne e~tait un vendeur de harengs; mais quand on icrit sans preuves, on s'expose a dire des mensonges, en trompe le publique et on se fait tort ä soi meme. Pierre Eyquem otait bien gentilhomme d'origine: nous en avons vu des litres qui remontent la filiation jusqu'en 1400 environ, et constamment MM. d'Eyquem prennent la qualitö de damoiseaux, domicelli.» (Moureau: «Deux inödits montaigniens», p. 189.) 206 Cf. Auerbach: «Der Schriftsteller Montaigne», p. 194. Die beiden von Höfer, Reichardt konstruierten Traditionsstränge, die das Bild des honnete komme im 17. Jahrhundert konstituieren sollen, stellen eine Vereinfachung dar. Die eine Strömung sehen sie in der «Moralistik im Sinn von freigeistiger, psychologisch-didaktischer Menschenbeschreibung, von Lehre und Kunst unpedantischer Wesens-und Geistesbildung, gelassen-natürlicher Selbstverwirklichung und gesellschaftlichem Disputierspiel, wie sie vor allem der Humanist M. de Montaigne [...] entwickelt hatte» verkörpert; die andere als «sog. Hofpräzeptistik» von Castiglione mit seinem £;Aro del Cortegiano (Höfer, Reichardt: «Honn6te homme, Honn6tet6, Honnetes gens», p. 9). Zumindest für Montaigne trifft diese schematische Trennung nicht zu, da sein Begriff des honnete homme stark von Castiglione beeinflußt ist. 207 Cf. Roth: «Höfische Gesinnung und honnetete im Frankreich des 17. Jahrhundert», p. 242. 208 Cf. dazu etwa die Äußerung Montaignes: wenn Adel Überhaupt eine Tugend ist, dann nur eine künstliche und äußerliche, die von Zeit und fortune abhängt (827 sq.). 242

tatsächlich dieses Ideal real verkörpert hatte.209 Er scheint der letzte französische König gewesen zu sein, der noch selbst an Schlachten teilnahm, während Louis XTV als höfisch-aristokratischer König «an körperlichen Einsatz und persönliche Aktivität in der Schlacht kaum noch gewöhnt war.»210 Schließlich ist als persönliche Tugend definierte Tapferkeit zwar an den physischen Einsatz, nicht aber an den Erfolg gebunden, da dieser von äußeren, vom einzelnen nicht zu beeinflussenden Faktoren abhängen kann: Eine tapfere Handlung macht noch keinen tapferen Mann. (319, 209 sq.)211 Aus dem gleichen Grund gibt Montaigne bei kriegerischen Auseinandersetzungen dem Kampf mit dem Schwert den Vorzug, während er Schußwaffen (279) und Artillerie212 ablehnend gegenübersteht, da sie die individuellen Fähigkeiten entwerten. Das Ideal ist die Kampfesweise seiner Ahnen, die sich nur verlassen konnten auf «leur force propre et vigueur de leur courage et de leurs membres, de chose si chere que l'honneur et la vie.» (279) Bei Castiglione ebenso wie bei Montaigne ist die Tapferkeit die zentrale Tugend, aber nicht die einzige. Erst eine Summe verschiedener, harmonisch aufeinander abgestimmter Eigenschaften bilden das Ideal des cortegiano und des honnete komme. Im Kanon dieses Bildungsideals steht die Tapferkeit nur im Zentrum eines Menschenbildes, das durch weitere Eigenschaften komplettiert wird, wie sie Castiglione in seinem Libra del Cortegiano formuliert und wie sie Montaigne aufgegriffen hatte. Nach Castiglione muß der Hofmann stets «umano, modesto, e ritenuto» sein;213 und bei seiner Beschreibung der Indianer greift Montaigne diese Tradition wieder auf: Er hebt die Tapferkeit als zentrale Tugend hervor; aber er findet noch eine ganze Reihe weiterer Eigenschaften, die es erlauben, den Indianer in Beziehung zum europäischen Ideal zu setzen. Es ist unübersehbar, daß das von Castiglione und Montaigne entworfene und von Graciän im 17. Jahrhundert weitergeführte und systematisierte Ideal der Hintergrund ist, auf den Montaignes Bild des Indianers gemalt wird; den Indianern werden fast ausschließlich jene Tugenden zugeschrieben, die Castiglione fordert. Vor allem in der Mäßigkeitsforderung an den honnete komme ebenso wie an den Indianer zeigt sich die Dominanz von Montaignes eigenen kulturellen Wertvorstellungen und auch seines individuellen Lebensideals, dem jedes Übermaß als «widernatürlich» erschien.21^ Der honnete komme kehrt in Montaignes Indianerbild wieder, aus dem alle 209

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Heinrich von Navarra, der spätere Henri IV, war mit Montaigne persönlich gut bekannt; Montaigne hatte ihn 1584 und 1587 in seinem Haus beherbergt und war für ihn wohl auch als Berater tätig (cf. Toumon: Montaigne en toutes lettres, pp. 47 sq., Aulotte: Montaigne: «Essais», p. 50). Die oben zitierte Kritik am mangelnden persönlichen Einsatz der spanischen und portugiesischen Könige findet sich in dem Essai Contre la faineantise aus dem zweiten Buch der Essais; der entsprechende Passus wurde indes erst in der postumen Ausgabe von 1595 publiziert. Es ist also durchaus denkbar, daß für Montaigne das Ideal des honnete komme durch die historische Figur Henri IV seine präzise Bestimmung erhalten hat. Elias: Die höfische Gesellschaft, p. 226. Cf. Feytaud: «Valet de trefles ou l'Honneur des Armes», BSAM, 5-6, 1981, p. 52. Cf. ibid., BSAM, 7-8, 1981, p. 25 und p. 26. Zur Entwicklung der Fechtkunst im 15. und 16. Jahrhundert cf. Vigarello: «Le maniement », pp. 351-355. Castiglione: // libro del Cortegiano, p. 41. Zur Bescheidenheit als zentraler Tugend neben der Tapferkeit cf. auch ibid., pp. 104 sq. Gmelin: «Montaigne und die Natur», p. 33. Cf. zur Leidenschaftslosigkeit Montaignes, die Starobinski als «mittlere Einstellung» charakterisiert, Starobinski: Montaigne, p. 394; cf. auch 243

Elemente ausgeschlossen sind, die exzessiven Charakter haben; hier wie dort ist die Mäßigkeitsforderung eine entscheidende Komponente.215 Montaigne hat einen Katalog von Verhaltens- und Charaktereigenschaften zusammengestellt, welche die Indianer auszeichnen sollen: Das Ideal des einfachen und enthaltsamen Lebens, der Abhärtung, der Ausdauer (205, 207) gehört ebenso dazu wie die physische Geschicklichkeit und andere ritterliche Verhaltensweisen wie Jagd, (205) Zweikampf, (207) Tanz, (205) freundschaftlicher Umgang mit den Frauen. (206) Der gesamte Komplex dieser vermeintlich indianischen Eigenschaften gehört wiederum zur Tradition des cortegiano-ldeals, wie es von Castiglione begründet wurde: Auch der Hofmann soll sich in den verschiedensten ritterlichen Tugenden ertüchtigen. Wie bei allen Tätigkeiten, so soll er beim Fechten, Ringen, Reiten, bei der Jagd, beim Schwimmen, Laufen, Steinwerfen, Ballspiel und Tanzen Geschmeidigkeit und Leichtigkeit erlangen.216 Bereits in seinen Regeln für die Kindererziehung - die sich natürlich nur an die männlichen Kinder des Adels richten - setzt Montaigne diese ritterlichen Fähigkeiten ins Zentrum: Les «jeux» auront bonne part ä l'itude, avec la musique et la danse. Mais aussi la course, la lutte, la chasse, les chevaux, les armes (I, XXVi, 214 A et 197). Ne l'oublions pas, il s'agit de former un gentilhomme, c'est-a-dire un homme du monde, de commerce agrtable et sachant se tenir en Cour. Mais encore, et surtout, un homme d'armes, capable de servir dans les camps et dans les armies.217

In seiner Indianerdarstellung läßt Montaigne erkennen, wie sich ihm dieses Ideal konkret darstellt. Die Ideale des Hofmanns werden umformuliert in die Lebensformen, die Montaigne bei den Indianern vorzufinden behauptet. Er reichert seine Beschreibung indianischer Lebensgewohnheiten durch Aussagen an, die dem von ihm persönlich gepflegten Lebensideal entspringen, aber durch die Quellen nicht gedeckt sind. Sein eigenes «plaisir», so erklärt er, besteht in «jeu» und «passetemps» (807) — wobei er den «Zeitvertreib» freilich auf den Umgang mit Büchern beschränkt - und mündet in dem generellen Bekenntnis eines müßiggängerischen Lebens: «Je vis du jour ä la journee; et, parlant en reverence, ne vis que pour moy: mes desseins se terminent la.» (807)218 Diesem Ideal des «passetemps» entsprechend interpretiert Montaigne die indianische Lebensführung. So werden von Montaigne Beschreibungen über die mühsame und schwere Arbeit insbesondere der Frauen, die er in den Quellen hätte finden können, ignoriert.219 Er begreift die alltäglichen Pflichten vielmehr euphe-

pp. 390-402. Auch im politischen Bereich tendiert Montaigne zu einem «engagement mode'ri» (Cremona: «La pensie politique de Montaigne et les guerres civiles», p. 444). Montaigne verquickt zwei zentrale Auffassungen der Antike, wenn er das naturgemäße Leben und die Mäßigkeitsforderung fast synonym setzt. (Winklehner: Die Tugenden der antiken Philosophenschulen bei Michel de Montaigne, p. 75.) 216 Cf. Castiglione: // libra del Cortegiano, p. 41, pp. 44-46. Zu den «jeux d'adresse» als «jeux des honnetes hommes» im Frankreich des 16. Jahrhunderts cf. Manson: «Le role des objets de jeu», vor allem p. 370, pp. 374-376. 217 Feytaud: «Valet de trefles ou l'Honneur des Armes», BSAM, 5-6, 1981, p. 50. 21 8 Cf. Montaignes Charakterisierung der eigenen Person als «paresseux et fayneant». (626) 219 Cf. zur Arbeitslast der Frauen Thevet: Singularites, pp. 79 v. sq., p. 114 v.; Thevet: Cosmographie universelle, p. 215; auch ein Faktum, das Ungleichheit unter den Frauen suggeriert, wie etwa 244

mistisch als Vergnügungen: «Une partie des femmes s'amusent cependant a chauffer leur breuvage, qui est leur principal office». (205) Die Vorstellung von einem Leben in Müßiggang ergänzt Montaigne durch die Aussage, die Frauen würden den ganzen Tag tanzen. (205)220 Der Tanz erscheint ihm als Symbol des glücklichen Lebens.221 In diesem Zusammenhang wird wiederum Montaignes Desinteresse an ethnographischen Details, das bis zur Verfälschung gehen kann, offenkundig; der zugrundegelegte Mythos des «Goldenen Zeitalters» verdeckt die ethnographischen Tatsachen: «Aux Tupinambas voritables etait substituoe une image qui n'avait rien ä voir avec la realite.»222 Denn gerade der Tanz der Indianer hatte die Reisenden und Geschichtsschreiber zu sehr ausführlichen Beschreibungen und Illustrationen animiert, die Montaigne aber ignoriert.223 Die Amerika-Reisenden verbinden das Tanzen nicht unbedingt mit dem Begriff des Glücks; sie beschreiben den Tanz in erster Linie als einen Fest-Brauch unter anderen.224 Die Aussage Lerys über die Indianer «de s'assembler tous les jours pour danser»225 wird von Montaigne verabsolutiert in «Toute la joumoe se passe ä dancer.» (205) Die Uniinterpretation der Quellenaussagen dient der Stilisierung des indianischen Lebens im Sinne des honnete Aomme-Ideals. Dieses Ideal wird zum Verbindungsglied, mit dem Montaigne seine eigene, maßgeblich von antiken Vorstellungen bestimmte Lebensform und die indianische Kultur miteinander in Einklang bringen und beides gegen die Gesellschaft seiner Zeit ausspielen kann.

die Tatsache, daß die Lieblingsfrau weniger arbeiten müsse, wird von Montaigne nicht erwähnt (cf. Thevet: Singularites, p. 81). 22 0 Auch für die Antike verzeichnet Montaigne positiv, daß man sich Zeit für Spiele und Tanz nahm. (1089 sq.)

111 L2 1

· Cf. Nakam: «Figures et espaces du räve dans les Essais», p. 181.

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Gagnon: «Les cannibales de Montaigne», p. 30. Cf. auch Mönager («Montaigne, la 'librairie' et le 'pays sauvage1», p. 391): «il est impossible de distinguer ce qui est des livres et ce qui est du monde. Montaigne per^oit le ä travers ses livres et ses livres ä travers le reel. Le monde est tout de lecture et de culture tout comme ces hommes qu'on appelle 'sauvages' et dont Montaigne nous dit que leurs poesies ont un air de parento avec celles d'Anacrton. II y a peut-elre un pays sauvage 'en soi'». Montaigne vernachlässigt ethnographisch bedeutsame Details wie das von Lery erwähnte Faktum, daß Frauen und Männer getrennt tanzen; (Leiy: Histoire d'un voyage, p. 130) auch die Art ihrer Tanzbewegungen (cf. die Illustration Thevet: Cosmographie universelle, p. 106) oder ihre Instrumente interessieren Montaigne kaum (ibid., pp. 80 sq., p. 107, p. 191). Lerys Beschreibung des indianischen Tanzes (Lory: Histoire d'un voyage, pp. 129 sq., pp. 244 sq.) und auch der in die Ausgabe von 1578 eingefügte Holzschnitt «La figure du danseur et du sonneur de maraca» sind dabei so detailliert, daß de Bry ausgehend von diesen «Dokumenten» eine eigene Illustration «la danse rituelle» anfertigt (cf. dazu Forge: «Renaissance d'une image», pp. 69 sqq.; weiter Forge: «Naissance d'une image», pp. 107-110). Lery: Histoire d'un voyage, p. 128; cf. auch Thevet: Cosmographie universelle, pp. 107 sq. Lory: Histoire d'un voyage, p. 129. 245

10. Der honnete komme und die Zivilisation Die Tatsache, daß Montaigne wesentliche Komponenten des honnete homme-Ideals auf die Indianer projiziert hat, ist offensichtlich; die Frage jedoch, warum er dies tut, ist damit noch nicht beantwortet. Karl-Heinz Kohl hat den Versuch unternommen, die mit dieser Frage verbundenen Probleme zu präzisieren. Er verweist auf Montaigne als einen der wichtigsten Repräsentanten für das weitgehend idealisierte Bild des «Wilden» im Frankreich des 16. Jahrhunderts.226 Aber obwohl Montaigne seine positive Darstellung vom «Wilden» mit vielen anderen Autoren seiner Zeit teilt, sieht Kohl dennoch in Montaignes Auffassung eine charakteristische Besonderheit, die er auf den sozialen Status des Autors zurückfuhrt. Er betont die Zugehörigkeit Montaignes zur «herrschenden Oberschicht», die ihn sozial entscheidend von den Entdeckern und Missionaren trennt und die seine besondere Blickweise auf Amerika hervorbringt.227 Zu diesem biographischen Faktum - das freilich einer Differenzierung bedarf, da Montaigne als Mitglied einer Parvenue-Familie und aufgrund seines weitgehenden Verzichts auf politische Aktivität doch auch wieder eine Sonderstellung einnimmt tritt die allgemeine soziale und politische Situation in Frankreich. Kohl denkt dabei weniger an die konkreten Erscheinungsformen der Politik im 16. Jahrhundert, die geprägt waren von den konfessionellen Bürgerkriegen. Entscheidend ist für ihn vielmehr die Feststellung, daß im 16. Jahrhundert sich nach Spanien auch in Frankreich jene Hofkultur herausgebildet hat, in der sich zunehmend diejenigen Verhaltensnormierungen und -zwänge herauskristallisierten, die das Bild der modernen westeuropäischen Gesellschaft in Zukunft bestimmen werden. Angesichts dieser Verhältnisse werden nach Kohls Interpretation für Montaigne die «Wilden» zu einem Gegenmodell. Ihnen wird zugeschrieben, was der «überzivilisierten» Hofwelt Frankreichs verlorengegangen ist. Die «Wilden» verkörpern für Montaigne als spiegelbildliche Umkehrung seiner eigenen Zeit «die Vorzüge eines im Untergang begriffenen, von bedrängenden Selbstzwängen scheinbar noch freien Ordnungs- und Wertesystems».228 Diese Montaigne-Interpretation Kohls stützt sich auf die im allgemeinen zweifellos zutreffende Annahme, daß sich im 16. Jahrhundert Formen der sozialen Disziplinierung entwickelt haben, die von vielen Zeitgenossen als zunehmende Einengung empfunden und beschrieben worden sind. Karl-Heinz Kohl zeigt auf, wie die idealisierten Lebensformen, die Montaigne den Indianern zuschreibt, durch diese «Selbstzwangapparatur der künstlichen höfischen Lebenswelt» bedingt sind.229 So wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch zivilisatorische Zwänge eingeengt: Montaignes Lob des Naturzustandes erscheint vielmehr insgeheim geprägt von den Auswirkungen der [...] aus der Umsetzung von Fremd- in Selbstzwänge resultierenden «zivilisatorischen Affektmodellierung», Auswirkungen, die gerade Montaigne — als ein Mann des öffentlichen und höfischen Lebens — als ständigen Zwang zur Selbstkontrolle deutlich verspürt und in verschlüsselter Form auch wiederholt zur Sprache gebracht hat. 226 227 228 229 230

246

Cf. Kohl: Entzauberter Blick, p. 2l. Cf. ibid., p. 29. Ibid., p. 29. Ibid., p. 32. Ibid., p. 26.

Kohls These ist sehr global formuliert. Sie versäumt es, der generellen Feststellung eines «Zivilisationsprozesses» in der höfischen Gesellschaft Frankreichs die konkreten Belege an die Seite zu stellen, aus denen hervorgeht, daß Montaigne tatsächlich die höfischen Umgangsformen als Beengung seines Lebens- und Menschenideals begriffen hat. bi Montaignes Essais und in seinem Reisetagebuch gibt es zunächst deutliche Indizien, die gegen Kohls These sprechen: Oft genug unterwirft sich Montaigne freiwillig auch dort der Etikette, wo dies nicht von außen gefordert wird; es ist vielmehr deutlich, daß er selbst außerordentlich großen Wert auf die Beachtung von Umgangsformen legt, in denen sein sozialer Status sich bekundet. Das «Ritual der Aristokraten» wird von ihm ebenso beobachtet wie geachtet;231 Charakteristisch ist die Passage aus dem Reisetagebuch, wo Montaigne sich piquiert zeigt, daß er in Innsbruck nicht vom Erzherzog Fernand d'Autriche empfangen wurde.232 Solche Bemerkungen entsprechen dem Typus des sozialen Aufsteigers, der sich seines Status immer wieder durch den Verweis auf Äußerlichkeiten versichern muß. Auf der anderen Seite ist es aber ebenso offensichtlich, daß Montaigne in seinen Essais die an die Etikette gebundenen Verhaltensformen als Zwang empfindet. So charakterisiert er den Verzicht auf die Etikette in seinem eigenen Hause bei Gesellschaften als «une liberto inusitee»; (801) also als ein Verhalten, das den Gepflogenheiten widerspricht: H s'y faict trefve de ceremonie, ({'assistance et convoietnents, et telles autres ordonnances penibles de nostre courtoisie (6 la servile et importune usance!); chacun s'y gouveme ä sä mode; y entretient qui veut ses pensies; je m'y tiens muet, resveur et enfermo, sans offence de mes hostes. (801 sq.)

Der Etikettezwang der Hofgesellschaft wird noch sehr viel eindeutiger kritisiert. Montaigne empfindet ihn als drückender als jenen Zwang, der von den von ihm ungeliebten öffentlichen Geschäften ausgeht: Je fiiis ä me submettre ä toute sorte d'obligation, mais sur tout ä celle qui m'attache par devoir dlionneur [...]. Le neud qui me tient par la loy dtionnesteta me semble bien plus pressant et plus poisant que n'est celuy de la contrainte civile. (944)

Montaigne spricht hier das charakteristische Moment des Zivilisationsprozesses aus: Er erkennt, daß die sozialen Zwänge verinnerlicht worden sind. Sie sind zum Verhaltenskodex geworden, der nicht mehr durch äußere Gewalt erzwungen werden muß, sondern Teil der eigenen Wertvorstellungen geworden ist, aber immer noch als ein Element der Fremdbestimmung erkennbar bleibt. Montaigne verfolgt diese Problematik recht differenziert weiter, wobei seine ambivalente Stellung zum «Zivilisationsprozeß» deutlich wird. In seiner Auseinandersetzung mit diesen Problemen spielt wiederum die Idee des honnete komme eine zentrale Rolle. Sie ist einerseits als Gegenbegriff zu den Zivilisationszwängen, als Ideal freier Selbstbestimmung konzipiert; andererseits steht sie aber im ständigen Konflikt mit diesen Zwängen, durch die sie erst ihre Konturen erhält und von denen sie insofern abhängig bleibt. Denn Montaignes Vorstellung des

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Schulte: Michel de Montaigne, p. 82.; cf. auch p. 84; zur Eitelkeit und Titelsucht Montaignes ibid., p. 97. Cf. Montaigne: Journal d'un voyage en Italic, p. 1066. 247

«honnete»233 erhält ihre Bestimmung erst durch den Gegenbegriff «utile»; diese Dichotomic wird wieder parallelisiert mit der Unterscheidung von «Moi prive» und «Moi public». So wird deutlich, daß der Begriff des «honnete» nicht nur als individuelle ethische oder charakterliche Kategorie verstanden werden darf, sondern daß in ihn auch soziale und politische Implikationen mit eingehen.234 Je nach Konstellation kann das «honnete» verschiedene Bedeutungen annehmen: «le sens de l'honnete glisse selon la perspective.»235 Montaignes Unterscheidung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Verhalten236 - etwa hinsichtlich der Korruption - läßt den schillernden Charakter des «honnete» erkennen: «Je me consolerois ayseement de cette corruption pour le regard de l'interest public, [...] mais pour le mien, non.» (933)237 Wenn Montaigne hier auch eindeutig Position bezieht, so finden sich in den Essais sehr viel öfter einander widersprechende Äußerungen darüber, was das «interest public» dem privaten Bereich abverlangen darf und was nicht. (769, 770, 773, 778, 781, 970, 983 sq., 989, 998) Nicht selten stellen für Montaigne die öffentlichen Pflichten, die das «utile» in den Vordergrund rücken, eine Einschränkung der individuellen Persönlichkeit dar: La plus part des reigles et preceptes du monde prennent ce train de nous pousser hors de nous et chasser en la place, l'usage de la societo publique. (983)

Prinzipiell neigt Montaigne wohl dazu, nicht nur das höfische Leben, sondern die Sphäre des Staates mit seinen administrativen Einrichtungen überhaupt als einen Bereich zu betrachten, der sich mit den Prinzipien der honnetete nicht in Einklang bringen läßt. Diese Aufgaben sind nach Montaigne von jenen Bürgern auszuführen Montaigne bezeichnet sie ironisch als die Stärkeren -, die den moralischen Regeln weniger verpflichtet und eher bereit sind, sich solchen Notwendigkeiten ohne Widerspruch zu unterwerfen:238 il faut laisser jouer cette partie aux citoyens plus vigoureux et moins craintifs qui sacrifient leur honneur et leur conscience, comrne les autres antiens sacrifierent leur vie pour le salut de leur pays; nous autres, plus foibles, prenons des rolles et plus aisez et moins hasardeux. Le bien public requiert qu'on trahisse et qu'on mente et qu'on massacre, resignons cette commission a gens plus obeissans et plus soupples. (768)

Diese Problematik kehrt auch in Montaignes eigener Biographie wieder. Montaigne entkommt nur scheinbar dem Zwang öffentlicher Pflichten oder der Bindung an den Hof. Im Jahre 1571 zieht er sich, angewidert von den höfischen und öffentlichen

233

Zu dem semantischen Feld von «honneste» und der Häufigkeit dieser Wortfamilie cf. MathieuCastellani: «Le paysage de ("honneste»1 dans les Essais de Montaigne», pp. 255 sqq. 234 cf Xetel; «De ITionneste'» chez Montaigne», pp. 233 sq. Cf. zur unterschiedlichen Wertung von «honnete» und «utile» je nach öffentlichem oder privatem Gebrauch auch Mathieu-Castellani: «Le paysage de Thonneste' dans les Essais de Montaigne», pp. 258 sq. 235 Tetel: «De l"honneste' chez Montaigne», p. 242. 236 Cf. dazu Reiss: «Montaigne et le sujet du politique», vor allem pp. 127-130, pp. 142-149. 23 ^ Cf. zu der unterschiedlichen Bewertung öffentlichen und privaten Verhaltens auch Montaigne: Essais, p. 971. 238 Allerdings steht Montaigne diesen Verhaltensweisen selbst nicht sehr fern; er macht im politischen, gelegentlich auch im «privaten Bereich Konzessionen an den Nutzen auf Kosten der Moral» (Bück: «Montaigne und der Humanismus», p. 18). 248

Pflichten, auf sein Schloß zurück.239 Doch wird dieser Rückzug mehrmals erneut von der Übernahme höfischer und öffentlicher Pflichten in Paris und Bordeaux unterbrochen, denen er sich nicht zu entziehen vermag: Sans parier de son voyage en Italic, la mairie de Bordeaux, (es guerres, le service des rois de France et de Navarre lui feront quitter cet asile et la peste l'en chassera24^

Sein eigenes Leben ist von diesem Dualismus eines öffentlichen und privaten Lebens geprägt; aber der Verzicht auf eine normale Hofkarriere ist jedenfalls freiwillig erfolgt.241 Die biographische Spannung zwischen privatem und öffentlichem Leben schlägt sich auch in den Reflexionen seiner Essais nieder. Einerseits betont er die Notwendigkeit, über die Freiheit seiner Urteile zu wachen, (642) andererseits kann er aber nicht verhindern, daß er sich ständig in dem Dilemma befindet, zwischen öffentlichen Pflichten und eigenen Überzeugungen lavieren zu müssen. Montaigne versucht zwar, eine klare Unterscheidung zwischen seinen öffentlichen Funktionen als «maistre» und seiner eigenen Person (9S9)242 zu ziehen; er ist sich aber immer dessen bewußt, daß seine Individualität von den Anforderungen des öffentlichen Lebens beeinträchtigt wird. In dieser sozialen Spannung zwischen verschiedenen sozialen Rollen wiederholt sich die terminologische Unterscheidung von «honnete» und «utile». Die Vereinnahmung durch das «utile» hat Montaigne am Höfling beobachtet, der sich in eine Abhängigkeit vom Hof begibt: Un courtisan ne peut avoir ny loy, ny volontö de dire et penser que favorablement d'un maistre qui, parmi tant de milliers d'autres subjects, l'a choisi pour le nourrir et eslever de sä main. Gerte faveur et utiliti corrompent non sans quelque raison sä franchise, et l'esblouissent. (154)243

Montaigne hat eine individuelle Lösung dieses Konflikts im völligen Rückgang auf das eigene Ich gesehen: le veritable «honnete», dans la roalite1 quotidienne, se situe dans une vie privoe qui esquive tout engagement public — ou tout du moins, c'est ce que Montaigne protend, par moments, nous faire croire.244

Die lateinische Inschrift in der Mauer des Arbeitszimmers im Schloß «Montaigne» läßt erkennen, daß Montaignes Rückzug aus dem Überdruß höfischer und öffentlicher Pflichten resultiert: «ANN CHRisti 1571 AET. 38. PRIDIE CAL. MÄRT. DIE SVO NAT ALI MICH. MONTANVS SERVITII AVLICI ET MVNERVM PVBLICORVM IAMDVDVM PERTAESVS DVM SE INTEGER IN DOCTARVM VIRGINVM» (Feytaud: «Une visite a Montaigne», p. 43). Cf. zu dieser Inschrift auch Plattard: Montaigne et son temps, pp. 85 sq. Cf. weiter Montaigne: Essais, p. 972. 240 Feytaud: «Une visite ä Montaigne», p. 44. Montaigne verweist in den Essais darauf, daß er das Bürgermeisteramt habe ablehnen wollen, was ihm aber vom König nicht gewährt wurde. (982) Cf. dazu auch Aulotte: Montaigne: Essais, p. 47. Nach Feytaud ist Montaigne zwar «Fatiguö de la servitude des cours et des charges publiques»; trotzdem glaubt er, daß Montaigne sowohl die Ernennung zum «gentilhomme de sä chambre» durch Henri de Navarre als auch das Insistieren von Henri III, das Bürgermeisteramt anzunehmen, geschmeichelt habe. (Feytaud: «Une visite ä Montaigne», p. 18) 241 Cf. Strowski: Montaigne, p. 65. 242 Zu Montaignes Schwanken zwischen öffentlichen Pflichten und privatem Bereich cf. auch Montaigne: Essais, p. 980, p. 985. 243 Zu einer ahnlichen Einschätzung des Konflikts zwischen «honnete» und «utile» kommt Montaigne auch in seinen Überlegungen zur Kindererziehung. (154) 244 Tetel; «De T'honneste'» chez Montaigne», p. 234. 249

Der Rückzug in seinen Bibliotheksturm verkörperte «un prelude aux Essais et ä l'avenement du Moi.»245 Da die Möglichkeit einer absoluten Isolation in seiner Zeit wie Montaigne selbst erfahren hat - jedoch real nicht mehr gegeben ist,246 stand auch Montaigne vor der Aufgabe, einen Kompromiß zu finden zwischen dem «honnete» und dem «utile». Ein Vorbild findet er dabei in dem griechischen Feldherrn Epaminondas, dem die angestrebte Verbindung von «honnete» und «utile» gelingt: en fait, les deux [l'utile, Itionnete —A. E.] sont vraiment interchangeables sur ce plan, car justice, bonte", humanity ocriture se rapportent tout autant ä l'utile qu'a l'honnete.247

Die «union de rhomme d'action et du poete», die Epaminondas verkörpert,248 dürfte Montaignes Ideal entsprochen haben. Montaigne sieht für sich die Lösung darin, daß er sich nicht nur physisch weitgehend aus dem sozialen Leben zurückzieht, sondern im Schreiben seiner Essais auch eine eigene geistige Welt aufbaut. Die Möglichkeit dem «vain utile public et son instabilite1» zu entkommen, bietet «l'honnete de l'ecriture qui trouve egalement son analogic dans un utile , represento par 249 l'amitie, la famille, l'integrito d'une promesse». Daß es sich bei dem Ideal der «ecriture» um eine von äußeren Zwecken freie Tätigkeit handelt, zeigt an anderer Stelle Montaignes Verurteilung von Schriftstellern, die zum Broterwerb schreiben; (140) in diesem Sinn ist wohl auch sein Ideal einer arbeitsfreien Gesellschaft der Indianer zu sehen. Die häufig daraus resultierende unparteiische Haltung, in die sich Montaigne gerne flüchtete und die dazu führte, daß er im öffentlichen Bereich gerne von verschiedenen Parteien in Beschlag genommen wurde, (989, 990 sq.) haben ihm seine Zeitgenossen übel genommen: «Je fus pelaude ä toutes mains: au Gibelin j'estois Guelphe, au Guelphe Gibelin». (1021) Gerade die Bürgerkriege, die Frankreich und auch seine eigene Familie in zwei Lager gespalten haben, verstärkten wohl Montaignes Unentschiedenheit zwischen «son loyalisme envers le roi qu'ä son desir toujours decu de voir cesser les guerres civiles.»250 Dieser Konflikt dürfte Montaigne umso mehr beschäftigt haben, als er sich verpflichtet fühlte, als Adeliger loyaler Diener des Fürsten oder Königs zu sein.251 Es ist offensichtlich, daß Montaigne das Ideal der Unparteiischkeit und Zurückgezogenheit nur als Fiktion aufgestellt hat. Er war sich dessen bewußt, daß es zumindest in der sozialen Realität seiner Zeit auch nicht unter den günstigsten biographischen Voraussetzungen realisiert werden konnte. Er sieht das Ideal bedroht durch die Zwänge der höfischen Gesellschaft und des öffentlichen Lebens. Aus den entsprechenden Überlegungen in Montaignes Essais läßt sich ersehen, daß nicht erst 245

Charpentier: Essais, p. 19. > So konstatiert Montaigne für seine Zeit die klaren Forderungen der Fürsten, die vom Einzelnen alles verlangen: «Mais les Princes qui n'acceptent pas les hommes ä moytie et mesprisent les services limitez et conditionnez.» (772) Entsprechend duldet man auch nicht Montaignes ablehnende Haltung gegenüber dem Bürgermeisteramt. (982) 247 Tetel: «De Thonneste' chez Montaigne», p. 240. 248 Ibid., p. 240. 249 Ibid., p. 238. 2 ^0 Tournon: Montaigne en toutes lettres, p. 36. 2 ^1 Cf. zu der Pflicht der Loyalität des Adeligen gegenüber seinem Fürsten Feytaud: «Valet de trifles ou l'Honneur des Armes», BSAM 5-6, 1981, p. 68.

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Register Abbeville, Claude d' 125 Adhomar, Jean 119, 129, 163, ISOsq., 187sq., 202 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius 214 Aldrovandi, Ulisse 153 Alembert, Jean Le Rond 156 Alewyn, Richard 28,202 Alexander der Große 231 Alexander VI. 17sq. Almagro, Diego de 38 Amyot, Jacques 217 Anakreon 245 Anders, Ferdinand 42sq. Apian, Petrus 23 Arens, William 10, 125 Aristoteles 86 Amoldsson, Sverker 34sq. Atabalipa38,61 Atkinson, Geoffrey 4,7-9, 13, 14-16,22, 24, 28, 32, 35sq., 64, 82-85, 89,98, 100, 112, 124,138,186,199,225 Auerbach, Erich 242 Augustinus 32, 137sq. Aulotte, Robert 243,249 Babelon, Jean 193 Half, Jean Antoine de 120 Baird, Charles W. 19sq. Ballesteros-Gaibrois, Manuel 18 Ballesteros-Gaibrois, Miguel 231 Baronius, Caesar 20 Barrau, Jacques 130 Barrt, Nicolas 8 Bataillon, Marcel 47, 108, 200 Baudry, Jean 68-70, 178 Beaume, Jacques de 37 Beck,Hannol5, 159 Becker, Felix 86, 108 Bellay, Joachim du 37, 120 Belleforest 23-28, 45, 52-54,67, 71, 97, 131, 160, 199, 257 Bellenger, Yvonne 41,201,207 Benavente, Toribio de 119 Bendelac, Alegria 197 Benzoni, Girolamo 16,21,23,28, 33-36,4244,48-53, 56-58, 139, 182, 187, 199,213, 218,221,224sq. ,233 Berg, Eberhard 125, 146, 168 Bernouilli, Reno 208 Bideaux, Michel 203 Bitterli, Urs 15, 17, 88, 101, 103sq., 153, 168, 173

Blanchard, Marc E.: 9, 124, 167sq. 175,201, 203 Blum, Claude 79, 254 Blumenberg, Hans 31, 137sq., 149,207sq., 210 Bodin, Jean 196,204,214sq., 232,258 Böhme, Günther 32 Boemus, Joannes 23 Burner, Klaus H. 63, 82 Bonnet, Pierre 10 Bordel, s. Dubordel Brantome, Pierre de Bourdeille, Sieur de 41, 241 Braudel, Fernand 64, 161 Brenner, Peter J. 5-7, 10-12,28sq., 65, 86, 137sq., 149,211,214,252 Briesemeister, Dietrich 37,41 Broc, Numa 18,21,24, 37, 107, 195,216 Bry, Theodore de 21, 53, 92,245 Bucher, Bernadette 9, 53,92,108, 191 Buck, August 14, 31, 198,209,211, 215sq., 219,235,248 Burckhardt, Jacob 2, 162sq., 165, 193 Calvin, Johannes 70, 73, 78, 122, 140-142, 156 Canedo, R. P. 108 Cantino, Alberto 18 Caprariis, Vittorio de 35 Carder, Jacques 40, 154, 196 Castiglione, Baldassarre 236sq., 242-244 Castro, Vacca de 38 Catharina von Medici 108 Coard, Jean 178, 181,197,205 Certeau, Michel de 9,201,225 Chalcondylus 182 Charles IX 20, 50, 201 sq. Charpentier, Francoise 250sq., 255 Chateaubriand, Francois Reno Vicomte de 116, 193 Chaunu, Huguette 17 Chaunu, Pierre 15-18, 34 Chauveton, Urbain 16,20sq., 23,27sq., 3336, 38-40, 42-45,48-50, 52sq., 55-59, 67, 97, 182,199,213,221 Chinard, Gilbert 7-11,28, 34-37,42-44, 56, 57,60, 88, 98sq., 103, 106sq., 117, 119, 130,139,178,200,216,221,233 Chirol, Elisabeth 202 Cicero 198 Cioranesco, Alexandre 13sq., 21sq. Clastres, Helene 104, 123 Clerc, Charly 9, 11, 7sq., 76, 82, 89, 154, 155

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Cocchiara, Guiseppe 55,82,85, 89 Cointac, Jean 80 Coligny, Francois de 19,21, 72-74,109,144 Columbus, Christoph 10,25, 27, 37-39, 59, 85, 131, 133sq., 139, 152, 193,210 Cortes, Heraan 17,36-38,46,48,61 Cortesao, Jaime 18 Cousin, Jean 107 Cravaliz, Augustin de 41 Cremona 244 Crespin,Jean71,79,81,91 Crouzet, Denis 26sq., 91,96,257 Curtius, Valentin 214 Curtius, Ernst Robert 192-194 Daele, Wolfgang van den 188sq. Dainville, Francois de 14sq., 23,63 Davis, Natalie Zemon 91, 256 Defaux, Gerard 9, 204,224 Delegue, Yves 229 Delgado, Mariano 119 De Hospital 258 Delpech, Sophie 70,73, 81,211 Deltel, Danielle 85 Delumeau, Jean 63, 195,216, 253,254 Demerson, Guy 180 Demonet, Marie-Luce 200,253 Demonet-Launay, Marie-Luce 30-32,155 Des Periers, Bonaventure 214 Diaz del Castillo, Bemal 62 Diderot, Denis 156 Diez del Corral, Luis 14 Dorat 120 Dreyer-Eimbcke, Oswald 28 Du Bartas 220 Dubordel, Jean 81 Duchet, Michele 21, 87-89 DOlmen, Richard van 256 Dürer, Albrecht 188 Duerr, Hans Peter 98,252 Du Pinet 23 du Pont 143 Dupront, A. 138 Durant, Will 116 Duval, Edwin M. 213 Duviols, Jean-Paul 13,33sq., 36,146 Ehrlich, H61ene-Hedy 234 Eliade, Mircea 82sq. Elias, Norbert 12,243,252,253 Epaminondas 250 Epikur233 Erdheim, Mario 36, 62, 219 Estete, Miguel de 61 Evreux, Yves d' 125 Eyquem, Pierre 242 Fairchild, Hoxie Neale 59, 87 Febvre, Lucien 24, 31,47, 68, 69, 167, 194

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Fenelon, Paul 56 Ferdinand von Österreich 247 Ferdinand, König 49,232 Fernändez-Santamaria, J. A. 17 Feytaud, Jacques de 197,238,240sq., 243sq., 249sq. Flake, Otto 212 Flavius, Joseph 182 Foisil, Madeleine 241 Forge, Jacques 245 Fournier, Pierre-Francois 164 Francois 140, 163 Fran9on, Marcel 197, 199, 202,204, 218-221, 256 Frank, Erwin 54, 182 Freiesleben, Hans-Christian 150 Friede, Juan 108 Friedrich, Hugo 10, 196, 212,215, 219,242, 254 Fumöe, Martin 71, 199, 206, 15,28 Funke, Hans-Günter 2, 5, 15,67,83, 85,94, 98, 101, 117sq., 191,223,232,237 Gabotto, Giovanni 39 Gadol, Joan 150 Gaffarel, Paul 19,20-22,68-71, 81, 106sq., 154 Gagnon, Francois 245 Galilei, Galileo 150sq. Gandia, Enrique de 103 Garcilaso della Vega 83 Gasco, Pierre de la 38 Gastaldi, Giacomo 24 Gauna, Max213 Gerl, Hanna-Barbara 153, 155 Gewecke, Frauke 10, 17,20, 41, 68sq., 71, 79, 81, 82, 90-92, 95, 96sq., 100, 107, 112, 117, 123-126, 178-180, 187,213 Gierczyinski, Zbigniew 197 Gilbert, Felix 14,43 Glassner Gordon, Amy 100 Gmelin, Hermann 203,210,232,243 Gomara, Lopez de 11, 15, 23, 28-33, 36-40, 42sq., 46-48, 51-65,67, 97, 102, 182, 183, 184, 199sq. ,206,213 Gomez-G^raud, Manie-Christine 17, 167,202 Gonnard, Reni 82-85, 107, 112 Gonneville, Paulmierde 107 Gottierez, Diego 38 Goulaine de Laudonniere, Rene" 19,21 Gourgues, Dominique de Gracian y Morales, Baltasar 236sq,, 243 Granderoute, Robert 68 Gruenter, Rainer 193 Grundmann, H. 98 Guönin, Eugene 19sq., 73, 78sq. Guhrauer, G.-E. 214

Guidi, JosS 236 Guthwirth, Marcel 206 Hamann, G nther 3 Hanke, Lewis 17, 86sq. Hassauer, Friederike 188sq. Hassinger, Erich 13, 69, 71, 177 Hauser, Arnold 213 Hayer, Horst Dieter 37 Heidelberger, Michael 138, 141, ISOsq. Heine, Hartmut 86 Heninger, S. K.Jr. 210 Henri II 69, 108, 113,120,202 Henri III 249 Henri IV 242sq., 249 Heret, Mathurin 164, 175 Heulhard, Arthur 72,174 Heydorn, Hans-Joachim 233 Hillach,Ansgarl50 Hobbes, Thomas 233 Hoeges, Dirk 11 H fer, Anette 242 H sle, Johannes 138 Honour, Hugh 34, 84, 92,99 Hooykaas,R. 184 Horkheimer, Max 1 Isq., 235 Huck, Gerhard 6 Huizinga, Johan 1 Humboldt, Alexander v. 1,29 Hus, Jan 124 Ishigami-Iagolnitzer, Mitchiko 208 Jacob, Annie 46, 133 Jacquemin, Jeanine 19 Jannaz, Rachel 70 Jantz, Harold 84 Jeanneret, Michel 121,123, 185 Jodelle, Etienne 120 Johann HUttich von Mainz 185 Julien, Andrt 8, 16, 19sq., 40sq., 71, 73, 82, 107, 117, 119-122, 125, 175, 178, 199sq., 202,204,213,220,223sq. Kappler, Claude 149 Karl V. 40, 108 Karl VIII. 163 Keen, Benjamin 33sq. Kellenbenz, Hermann 17, 19, 36 Ke ler, Eckhard 14 Kilgour, Maggie 9 Kingdon, Robert M. 71, 91 Kohl, Karl-Heinz 12,246sq. Kohut, Karl 164 Konetzke, Richard 3, 17sq., 39,48,61, 106, 110,119 Kopernikus, Nikolaus 30,210 Koselleck, Reinhart 26sq. Kottenkamp, Franz 36,61,62 Krafft, Fritz 138

Kritzman, Lawrence D. 203sq. ,213 Krohn, Wolfgang 184 Kugler, Hartmut 203 La Boetie, Etienne de 233, 258 Labhardt, Απατέ 137 Lachenmann, E. 72 Lahontan, Louis Armand de 94 Landucci, Sergio 8 Isq. Lapp, John C. 224,229 La Ronciere, Charles de 16, 19, 69,202 La Roque, Jean-Francois de, Seigneur de Roberval 40 Larma, Jean 240 Las Casas, Bartolom£ de 36, 85sq., 108,163, 200,213 Launay, Mathieu de 77 Lazard, Madeleine 99 Le Challeux, Nicolas 20sq., 28,35sq., 42 Le Huenen 67 Le Moyne de Morgues, Jacques 21 Le Testu, Guillaume 69sq. Lebegue, Raymond 235 Lebel, Roland 116, 196 Ledwige, Renee 193 Leeker, Joachim 237 Lehmann, Henri 230 Lelievre, Matthieu 71,81 Lemaire de Beiges, Jean 37 Lepenies, Wolf 29, 150 Lery, Jean de 4-8, 11, 22, 67-82, 87-117, 119, 121-134, 138-160, 162,165-185, 187-194, 196sq., 199sq., 213, 217-220,224-227, 234,245, 256 Lestringant, Frank 8sq., 53, 68-70, 78, 118sq., 124sq., 129, 133, 134sq., 154, 160, 164, 175, 178, 182, 187, 190, 195,202sq., 213, 215,223sq.,227,233,255sq. Levi-Strauss, Claude 73, 81, 87, 144, 157sq., 193 Loewenich, W.v. 81 Lohmeier, Dieter 139 Loiskandl, Helmut 83, 85 Lopez Fanego, Otilia 209 Loti, Pierre 116 Louis XIV 243 Ludwig XII. 163 Lussagnet, Suzanne 9,69,77, 107,125,183, 187,22 Isq. Luther, Martin 17 Lutri, Joseph R. de 202sq. Lutz, Heinrich 77 Machiavelli, Niccolo 105 Magellan, Femao de 38 Mahn-Lot, Marianne 17, 60, 108 Maimbourg, Louis 22 Manson, Michel 244

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Maravall, Jose Antonio 14,40 Marcu, Eva 11 Margolin, Jean-Claude 33,73, 146,156, 163 Martin, Daniel 9 Martyr d'Anghiera, Pietro 61, 94 Mathieu-Castellani, Gisele 248 Manager, Daniel 245 Mendieta, Geronimo de 17, 119 Mennndez de Avilis, Pedro 19sq., 43 Menke-Glückert, E. 20,40 Mermier, Guy 204,213 Merton, Robert K. 142 Mesme, Pierre de 30 Mitraux, Alfred 93, 123, 125, 176, 177, 227 Michel, Pierre 201,204 Michelet, Jules 2 Moctezuma 38,46,60sq. Mollat, Michel 1, 2, 151, 152, 202 Mollat du Jourdin, Michel 166, 168, 180 Monegal, Emir Rodrigez 82, 112 Montaigne, Michel Eyquem de 3, 4-8, 10-12, 30, 33,41 sq., 60, 69, 82, 89, 178, 195251,253-260 Montesino 108 Morales Padron, F. 18 Moravia, Sergio 182sq. Morison, Samuel Eliot 107 Morisot, Jean-Claude 70sq., 76, 151sq., 154, 158, 168, 181sq.,185, 188sq. ,193 Mouralis, Bernard 200,212 Moureau, Francois 69,203,211,231, 242, 255 Mousnier, Roland 37,41 198,236 MUnster, Sebastian 18, 24, 185 MUnzel, Mark 110 Nakam, Geralde 9, 91, 197,201,203, 225, 239,245 Nebenzahl, Kenneth 16, 18,24 Neuber, Wolfgang 3, 5, 143, 144 Neveux, Hugues 131 Nicot, Jean 109 Nippold, W. 94 Niquesa, Diego de 38 Nunez, Alphonse 38 O'Gormann, Edmundo 28 Oberman, Heiko 137 Olschki, Leonardo 139 Opitz, Heidrun 134 Osorio 182 Oviedo y Valdos, Gonzalo Fernandez de 163 Panofsky, Erwin l Panquiaco 59sq., 64sq., 233 Parkman, Francis 43, 72sq., 77, 132 Pasquier, Estienne 51sq., 201,215, 223 Pastoureau, Mireille 16 Pellegrin, Nicole 98

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Penrose, Boies 36-38 Pereyra, Carlos 200 PeYouse, Gabriel A. 242 Peschel, Oskar 2,3 Petrarca, Francesco 137 Philipp II. 19sq. Pietschmann, Horst 18, 108, 119 Pizarro, Francisco 38, 54, 61 Platon 39,223 Plattard, Jean 11,30, 200sq., 210, 224, 234, 241,249,254 Plinius 189 Plutarch 182,204,217,231 Pochat, Götz 69, 132, 180, 185, 188, 191 Pollmann, Leo 163 Ponce de Leon, Juan 19,39 Possevino, Antonio 23 Postel, Guillaume 162 Quoniambec 118sq., 121sq. Rabelais, Francois 228 Racault, Jean-Michel 224 Rachum, Ilan 79 Ramus, Petrus 149, 185 Rangel, Carlos 82 Rat, Maurice 206 Ratzel, Friedrich 67, 110 Raymond, Marcel 69, 83, 116, 202, 204, 255 Rech, Bruno 86, 164 Reichardt, Rolf 242 Reiss, Timothy J. 248 Reverdin, Olivier 89, 97, 102 Rey, Alain 153, 156, 169sq. Ribault, Jean 18-20,35,43sq. Ricard, R. 46 Richer, Pierre 22,71, 157 Richter, Bodo L. O. 257 Riese, Alexander 224 Riesz, Janos 86, 167 Rigolot, Franfois 238 Robert, Sohn von Franz I. 153 Romano, Ruggiero 16,45,62 Ronsard, Pierre 120, 195sq. ,216, 223 Ronsin, Albeit 24,28 Roth, Oskar 242,251 Rouillard, Clarence Dana 88, 161sq. Si, Mem de 21 Sahagun, Bernardino de 119 Saint-Lu, Andr6 108 Salmon, J. H. M. 198,258 Samaras, Zoo 223 Saussure, Ferdinand de 87 Sayce, R. A. 201sq., 238 Schivelbusch, Wolfgang 228 Schmid, Marion 28,68 Schultz, Uwe 211,247 Seilliere, Ernest 217sq., 222

Seilliere, Ernest 217sq., 222 Seneca 165,219 Sepulveda 86, 87 Signot 23 Sixl, Friedrich W. 149 Skalweit, Stephan l sq. Soustelle, Jacques 230sq. Soutet, Olivier 3, 196,235, 257sq. Stackelberg, J rgen 207,211 Staden, Hans 125, 168,176,213 Stagl, Justin 29, 149, 156, 185 Starobinski, Jean 10,209,235,243 Staza Majer, Irma 87, 181 Stegmann, Andre" 16, 56, 58, 196,220 Stierte, Karlheinz 195,206, 210,240 Strabon 32, 165 Strowski, Fortunat 249,254 Tacitus 198,258 Tenenti, Alberto 16,45,62 Terrasse, Jean 206 Tertullian214 Tetel, Marcel 248-251 Thelemann, D. 72 Th rien, Gilles 16 Thevet, Andrd 4-9, 11,43,67-73, 75-77, 81, 87sq.,94sq., 107-109, 111, 117-125, 127135, 138, 141, 144sq., 147, 151, 153sq., 160-166, 168, 175-181, 183-194, 197, 199, 201, 213, 222,224-228,232, 237-239, 244sq. Thiessen, Sigum 138, 141, 150sq. Thomas v. Aquin 86, 137 Thomsen 54 Thou, Auguste de 71 Todorov, Tzvetan 9, 12,45sq., 48sq., 60,61, 133,213

Tournon, Αηατέ 206,242sq., 250 Touzaud, Daniel 71, 153, 190 Trafton, Dain A. 229sq., 240 Truyol, Antonio 108 Vaillancourt, Pierre-Lois 37 Valboa 38 Vasari, Giorgio l Vasoli, Cesare 85 Vaucheret, Etienne 74,109 Vega Carpio, Lope Felix de 37 Velazquez, Diego 203 Veragua38 Verazzano, Giovanni da 16, 40 Versiegen, Richard 255 Vigarello, Georges 243 Villegagnon, Nicolas Durand de 21 sq., 68-81, 88, 90,92, 96,99sq., 102sq., 106, 109, 111,113sq., 132sq., 140, 156-158, 164, 167, 195,200,220 Villey, Pierre 11, 33, 199sq., 204,214, 219, 236 Vitoria, Francisco de 17 Vo ler, Karl 236 Vries, J. de 93 Waters, D. W. 151 Weber, Max 142, 157 Weigand, Wilhelm 3 Weinberg, Bernard 8 White, Hayden 10 Winklehner, Brigitte 209,219,238,241,244 Wuthenow, Ralph-Rainer 211 sq. Yardeni, Myriam 109,257, 258 Zacher, Christian K. 137 Zinn, Karl Georg 251-254

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