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German Pages [220] Year 2011
Die Kunst des Überwinterns
KlangZeiten
Musik, Politik und Gesellschaft Band 8 Herausgegeben von
Detlef Altenburg Michael Berg Helen Geyer Albrecht von Massow
Die Kunst des Überwinterns Musik und Literatur um 1968
Herausgegeben von
Jörn Peter Hiekel
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Niederschlagung des Prager Frühlings. Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes auf dem Wenzelsplatz am 21.08.1968. Panzer und roter Mast. Aufnahme: Manfred Herman. © SLUB / Deutsche Fotothek. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Prime Rate Kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20650-5
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................................................
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Jörn Peter Hiekel Warum sich jetzt mit „1968“ befassen? Aspekte des Widerständigen in Musik ..........
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Walter Schmitz 1968 in der DDR. Wahrnehmungsspuren in einem „ruhigen Land“ .............................
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Klaus Mehner Kulturpolitische Tauwetterperioden und ihre Auswirkungen auf die Musik der DDR ......................................................................................................................................
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Marek Kopelent Erfahrungen als Komponist in Prag seit 1968 .....................................................................
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Albrecht von Massow Autonomieästhetik zwischen Ost und West ........................................................................
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Wilfried Krätzschmar Wie nun aber Autonomie klingen mag? – Reflexionen zu den Spuren gesellschaftlicher Verhältnisse im kompositorischen Schaffen .........................................
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Miloš Havelka Der Prager Frühling in einer Perspektive generationenspezifischer Erwartungen. Zur Diskussion zwischen Milan Kundera und Václav Havel im Winter 1968/69 ...... 103 Hans-Klaus Jungheinrich 1968 – Ästhetik des Aufbruchs? ............................................................................................. 117 Hartmut Lück Aufbruch – wohin? Die Musikentwicklung in Ungarn in den 1960er/1970er Jahren ............................................................................................................... 125 Utz Rachowski Der letzte Tag der Kindheit .................................................................................... 133
Vorwort
Jubiläen wie die des ereignisreichen Jahres 1968 rufen immer wieder eine Fülle von Aktivitäten hervor. Das war schon 1998 so – und zehn Jahre später nicht anders. Die darin zum Ausdruck kommenden Gewohnheiten unseres an runden Jubiläen interessierten Kulturlebens, die ja auch von Gedenktagen namhafter Komponisten oder Schriftsteller geläufig sind, werden nicht ohne Grund oft als äußerlich kritisiert. Doch trotz aller berechtigten Warnungen vor aktionistischem Rummel und den Vermarktungsstrategien des Kulturbetriebs steht außer Frage, dass Jubiläen auch echte Chancen bieten: die Möglichkeit, beflügelt von zusätzlicher Aufmerksamkeit zu gründlichen Neubesinnungen, Vertiefungen oder Differenzierungen zu gelangen und dabei neue Forschungsergebnisse, offene Fragen oder neue Verknüpfungen zu präsentieren, um so auch verfestigte Klischees zu überprüfen, die mit dem Gegenstand des Jubiläums zusammenhängen. Solche und ähnliche Erwägungen waren der Impuls für eine Tagung an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden im November 2008, deren Beiträge im vorliegenden Band veröffentlicht werden. Ausgetragen wurde diese Veranstaltung vom Institut für Neue Musik der Dresdner Hochschule gemeinsam mit dem Goethe-Institut Prag, dem Mitteleuropa-Zentrum der TU Dresden sowie der Sächsischen Akademie der Künste, also im länderübergreifenden Zusammenwirken von vier namhaften Institutionen. Ergänzt wurde sie durch Podiumsdiskussionen sowie durch ein Konzert mit Werken wichtiger tschechischer Komponisten wie etwa Marek Kopelent und Zbynĕk Vostřák, deren Schicksal untrennbar mit der Zeit um 1968 verbunden ist – wobei es außer Frage steht, dass beide Komponisten mit ihrem überaus reichhaltigen Schaffen auch unabhängig von historischen Anlässen wie diesen eine größere Beachtung verdienen. Ohnehin gilt, dass es bei jeder Beschäftigung mit den Ereignissen und Erfahrungen, die mit der Jahreszahl 1968 in Verbindung gebracht werden, unsinnig wäre, sich ausschließlich auf das Jahr 1968 zu beziehen: Manches von dem, was sich davor oder danach ereignete, steht mit den in diesem Jahr kulminierenden Auseinandersetzungen und Aufbruchsbewegungen in Verbindung. Zuweilen mag dieser Bezug sogar erst bei näherem Hinsehen deutlich werden. Ausgehend von den Ereignissen des „Prager Frühlings“ und seinen Folgen auch im Kulturbereich werden im vorliegenden Band verschiedene Facetten der Kunstentwicklung in den Jahren um 1968 erörtert, mit besonderer Fokussierung des musikalischen und literarischen Bereichs. Dabei geht es erstens um die im Titel annoncierte Möglichkeit des „Überwinterns“ mit und durch Kunst, die sich ihre Autonomie bewahrt und dabei als Kraftquelle eigener Art dient. Zweitens geht es – ganz besonders in den Beiträgen der Komponisten Marek Kopelent und Wilfried Krätzschmar – um bewusst persönlich gehaltene Schilde-
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Vorwort
rungen der damaligen Erfahrungen. Drittens aber wird diskutiert, inwieweit Musikwerke oder literarische Arbeiten in politisch prekären Situationen widerständige Potenziale zu entfalten versuchten und inwieweit dabei politische Ereignisse oder gesellschaftliche Strömungen wie jene um 1968 zu Bezugspunkten wurden. Gefragt wird, bis zu welchem Maße man an musikalischen und literarischen Werken Momente des „Aufbruchs“ diagnostizieren kann, die womöglich sogar auf bestimmte (gesellschaftliche) Entwicklungen zurückwirkten. Auch der vergleichende Blick nach Westdeutschland sowie nach Ungarn spielt in diesem Band eine Rolle, noch stärker fokussiert werden jedoch die Kunstentwicklungen und Reflexionen in der DDR sowie in der Tschechoslowakei. Einer der Beiträge, nämlich jener von Utz Rachowski, fällt insofern aus dem Rahmen, als er statt der wissenschaftlichen oder persönlichen Reflexion ein historisches Dokument bietet. Es handelt sich hierbei um eine literarische Verarbeitung der Ereignisse des „Prager Frühlings“ von 1983/84, die damals auch veröffentlicht wurde, aber seit langem vergriffen ist – und hier wieder zugänglich gemacht werden kann. Zu danken ist zunächst allen Autoren für die Überlassung und Einrichtung bzw. Erweiterung ihrer Vortragsmanuskripte. Besonderer Dank gebührt Stephan Nobbe (GoetheInstitut Prag) sowie Walter Schmitz (Mitteleuropa-Zentrum der TU Dresden) für ihren jeweils sehr großen Einsatz beim Planen und Zustandekommen einer intensiven Tagung, deren Lebendigkeit zumindest ansatzweise durch die hier vorliegenden Texte dokumentiert werden dürfte. Der Dresdner Hochschule für Musik ist für die Übernahme eines wesentlichen Teils der Druckkosten zu danken, der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar für die Übernahme eines weiteren Teils der Kosten, Claudia Miloschewski für ihre Mitarbeit beim Korrekturlesen und schließlich Albrecht von Massow für die Möglichkeit, diesen Band in der von ihm (mit-)begründeten „KlangZeiten“-Reihe erscheinen zu lassen. Dresden, Sommer 2010
Jörn Peter Hiekel
Jörn Peter Hiekel
Warum sich jetzt mit „1968“ befassen? – Aspekte des Widerständigen in Musik
1. Die Tücken des Themas Die magische Jahreszahl 1968 deutet auf einen kontroversen und durchaus heiklen Forschungsgegenstand. Das hat mit sehr unterschiedlichen Bewertungen der damaligen Ereignisse, aber gewiss auch mit manchen Verzerrungen der Darstellungen zu tun. Jedenfalls ist noch vierzig Jahre danach bei Betrachtungen dieser Zeit, insbesondere im journalistischen und halbwissenschaftlichen Kontext, zuweilen eine starke subjektive Färbung erkennbar. Dies betrifft wohl gerade den deutschsprachigen Raum – und gewiss ganz besonders die Deutung der Ereignisse in Westeuropa und den USA. Und so ist „1968“, wie es der Historiker Norbert Frei formulierte, auch heute noch „ein Assoziationsraum gesellschaftlicher Zuschreibungen und auktorialer Selbstdeutungen, eine beispiellos florierende Begegnungsstätte, in der die Aussagen der Akteure und die Entgegnungen ihrer Kritiker, die Wahrnehmungen der Zeitgenossen und die Beobachtungen der Nachgeborenen aufeinander treffen.“1 Für Frei liegt gerade hierin die „historiografische Tücke des Objekts“.2 Leidenschaftlich wird auch heute für oder gegen das argumentiert, was man als die „Generation der 68er“ und ihre Wirkungen bezeichnet. Dabei gehört zum breiten Spektrum der Diskussionen sowohl der Vorwurf des Naiven, des allzu Radikalen oder sogar des Totalitären als auch die nüchterne Feststellung, dass ohne „1968“ weder die Frauenbewegung noch die Ökologiebewegung noch auch eine Reform des Universitätswesens denkbar gewesen wären – und in Westdeutschland vielleicht auch nicht eine gründliche Reflexion der NS-Vergangenheit. Die Jahreszahl 1968 deutet überdies auf eine Zeit der Veränderungen in verschiedensten Regionen der Welt – außer in Europa vor allem auch in Amerika und Asien. Und es fällt nicht schwer, einige Stichworte wie etwa Vietnam-Krieg oder die Studentenproteste zu nennen, die an verschiedenen Orten, vor allem in einigen Metropolen der westlichen Welt, mit den Ereignissen zu tun hatten. Vieles von dem, was hier aufscheint und in den verschiedensten Diskussionen zu diesen Themenbereichen anklingt, ist dann, wenn es um Musik oder um andere Künste geht, kaum oder allenfalls am Rande relevant. Die Einsicht, dass es bei einem Thema wie diesem 1 2
Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 211. Ebd.
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verschiedene „historiografische Tücken“ gibt, nicht zuletzt jene, die aus der zeitlichen Nähe der Ereignisse resultieren, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Und zu diesen Tücken gehört wohl auch eine gewisse Abwehrhaltung, die immer dann sichtbar wird, wenn Musik im engeren oder weiteren Sinne politisch aufgeladen ist – nicht Wenigen erscheint dies bis heute als etwas Zeitgebundenes, eben auf das Umfeld von „1968“ Verweisendes, das man hinter sich gelassen zu haben glaubt. An diese Einsicht wird im Vorliegenden anzuknüpfen sein – mit dem Ziel, zumindest umrisshaft anzudeuten, welche künstlerischen Potenziale aufscheinen, wenn man sich jenseits der gängigen Simplifizierungen und Abwehrhaltungen bewegt. Der im Titel des Beitrags genannte Begriff des „Widerständigen“ mag dabei helfen, insofern er auf eine Haltung deutet, die auf konkrete politische Geschehnisse bezogen sein, aber sich auch unabhängig von diesen manifestieren kann. Ausgeklammert bleiben bei den nachfolgenden Betrachtungen indes einige ungewöhnliche künstlerische Darstellungsmöglichkeiten, die zwar mit „1968“ in Verbindung gebracht werden können, die aber wohl in einem globaleren und damit auch unspezifischeren Kontext als den im vorliegenden Text gewählten zu sehen sind. Ausdrücklich hervorgehoben sei daher, dass es nachfolgend insbesondere um den Bereich der Konzertmusik geht – und allenfalls am Rande um musikalische Darbietungsformen, die von diesem Bereich wegführen. Dass das Bedürfnis nach solchen anderen Darbietungsformen überhaupt entstand und intensiver wurde, mag indirekt mit „1968“ und der mit dieser Jahreszahl verbundenen Auflösung bestimmter Normen und Prägungen zusammenhängen – dieser Aspekt allerdings liegt in der vorliegenden Betrachtung außerhalb des Dargestellten.3
2. Der „Prager Frühling“ und seine Relevanz für die Künste Bei der Jahreszahl 1968 denkt man gewiss nicht bloß an den „Prager Frühling“ – doch ist mit diesem Begriff, der im Folgenden zunächst Ausgangs- und Referenzpunkt der Betrachtungen sein soll,4 eines der bekanntesten in diese Zeit fallenden Ereignisse bezeichnet. In gewisser Weise ist die Verkettung von Geschehnissen, die mit diesem Begriff zusammenhängen, im Gesamtspektrum dieser Zeit wohl singulär. Dies umfasst etwa die oft hervorgehobene Tatsache, dass es bei diesen Ereignissen nicht um einen Generationenkonflikt ging. Unzweifelhaft besitzen die Ereignisse des „Prager Frühling“ auch für die Künste Relevanz. Dies gilt einerseits mit Blick auf einige direkte künstlerische Reaktionen, aber es gilt vor allem angesichts der Entfaltungsmöglichkeiten der Künste und deren Beschränkung. 3 4
Hierzu sei verwiesen auf: Sabine Sanio, 1968 und die Avantgarde, Sinzig 2008. Diese Akzentuierung ergibt sich aus der Themenstellung unseres Symposions, welches den Bezug zum „Prager Frühling“ deutlich im Titel markierte.
Warum sich jetzt mit „1968“ befassen?
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Die tiefe Ambivalenz, die dem Begriff „Prager Frühling“ zumindest in Tschechien auch heute noch beigemessen wird, hängt mit einer charakteristischen Widersprüchlichkeit zusammen. In ihm klingt einerseits die aufkeimende Hoffnung an: die kurze Phase der Entfaltung politischer Reformideen, in der die schon ein paar Jahre länger praktizierte künstlerische Freiheit von höchster Stelle sanktioniert wurde. Aber diesen Begriff kann kaum ein Tscheche denken ohne den Blick auf jene noch deutlich längere Phase der Stagnation und Repression, nachdem dieser „Frühling“ durch die sowjetischen Besatzer und ihre Verbündeten niedergeschlagen wurde – was viele nicht für möglich gehalten hätten. Die mit dieser Niederschlagung einsetzende, äußerst düstere Phase, die das ganze Kulturleben überschattete, wurde von den Machthabern euphemistisch als „Normalisace“ (Normalisierung) bezeichnet. Wie viel, so sollte mit Blick auf die Gesellschaft wie auf die Entfaltung der Künste gefragt werden, wurde im Lande selbst von der einmal gefühlten Freiheit auch in diese düstere Zeit hinüber gerettet – als unerschütterliches Bewusstsein tief im Innern, als ferne Utopie und überlebenswichtiger Traum einer besseren Welt? Die Meinungen hierzu gehen auseinander. Norbert Frei schreibt hierzu: „Der Protest in Prag und andernorts hinter dem Eisernen Vorhang stand in der antistalinistischen Tradition des freiheitlichen Aufbegehrens gegen die Sowjetunion – und überlebte anno 1968 kaum länger als 1953 in Ost-Berlin und 1956 in Ungarn.“5
Unabhängig von der Frage, ob Frei mit dieser Diagnose Recht hat, erscheint es unstrittig, dass man den „Prager Frühling“ und seine Folgen nicht isoliert betrachten kann. Auch in den Künsten gibt es einige Ansätze dafür, diese Einsicht deutlich zu unterstreichen. Ich möchte zwei Beispiele hierfür nennen, die auf die Resonanz der Prager Ereignisse in beiden Teilen Deutschlands verweisen. Wolf Biermann ließ eines seiner damals bekanntesten Lieder mit den Zeilen „In Prag ist Pariser Kommune“ beginnen: In Prag ist Pariser Kommune, sie lebt noch! Die Revolution macht sich wieder frei Marx selber und Lenin und Rosa und Trotzki stehen den Kommunisten bei Der Kommunismus hält wieder im Arme Die Freiheit macht ihr ein Kind, das lacht das leben wird ohne Büroelephanten von Ausbeutung frei und Despotenmacht
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Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest (wie Anm. 1), S. 212.
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Die Pharisäer, die fetten, sie zittern, und wittern die Wahrheit. ES KOMMT SCHON DER TAG AM GRUNDE DER MOLDAU WANDERN DIE STEINE – es liegen vier Kaiser begraben in Prag Wir atmen wieder, Genossen. Wir lachen Mensch, wir sind stärker als Ratten und Drachen! Und hattens vergessen und immer gewußt. 6
Dieser Text diente als Grundlage für Flugblätter gegen die Okkupation der Tschechoslowakei durch die Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten. Biermanns Lied, das Anspielungen auf Brechts berühmte „Schweyk“-Dichtung und das Lied von den drei Kaisern in Prag enthält, war einer der Versuche, die Flamme des unbedingten Freiheitswillens, den man in Prag um 1968 spürte, auch außerhalb des Landes weiter zu tragen und zugleich die historische Dimension des Ganzen zu bekräftigen. Mein zweites Beispiel entstand auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs: es ist Bernd Alois Zimmermanns 1969 fertig gestelltes Requiem für einen jungen Dichter, das zu den bekanntesten oratorischen Werken des 20. Jahrhunderts zählt. Zimmermann hat darin ein zeitgeschichtliches Panorama entworfen, das von Goebbels berühmt-berüchtigter Sportpalast-Rede über Zeugnisse des Ungarn-Aufstandes 1956 bis hin zu Sätzen von Mao reicht. Bemerkenswert ausführlich wird in diesem Panorama gerade auf den „Prager Frühling“ angespielt: Dies geschieht einerseits mit Aufnahmen von Prager Demonstrationen, bei denen der Name des damaligen Hoffnungsträgers Alexander Dubček gerufen wurde, andererseits mit ausführlichen Originalton-Ausschnitten einer berühmten Rede von Dubček vom 27. August 1968. Das Thema dieses Musikwerkes von Zimmermann sind Momente der massiv aufkeimenden, aber letztlich gescheiterten Hoffnung. Und die Anspielungen auf die Prager Ereignisse sind unter diesem Aspekt von besonderer Eindringlichkeit. Beide Beispiele stehen dafür, dass die Ereignisse des „Prager Frühling“ in beiden Teilen Deutschlands sehr intensiv wahrgenommen wurden – was sich gewiss auch für viele andere europäische Länder sagen lässt. Biermanns Gedichtzeile mag hier stellvertretend für jene Impulse genannt werden, die man offenbar in der DDR durch den Freiheitswillen der Prager Demonstranten erhielt. Dabei stellt sich mit Blick auf die 70er Jahre die Frage, inwieweit sich dann endlich etwas von dem emphatischen Freiheitswillen, der in Prag 1968 spürbar war, auch in der DDR zu manifestieren vermochte. Hat es dazu beigetragen, dass gerade im Musikbereich, wie oft diagnostiziert wurde,7 manche ästhetische Fesseln gelockert wurden? Und inwieweit förderte die Niederschlagung des „Prager Frühling“ in der DDR 6 7
Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln 1991, S. 209. Näheres zu diesem Lied im Beitrag von Walter Schmitz im vorliegenden Band. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Klaus Mehner im vorliegenden Band.
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das Bewusstsein, in einem „besseren“ sozialistischen Staat zu leben? Fragen wie diese sind sicherlich nicht leicht zu beantworten. Stimmt man Norbert Freis These zu, dass der Prager Protest schnell verstummt sei, wird man vorsichtig sein, solche Fragen zu deutlich zu bejahen.
3. Jenseits von politischer Eindeutigkeit Das Beispiel Bernd Alois Zimmermanns steht andererseits dafür, dass in jenen Jahren gerade auch in Westeuropa – und besonders in Westdeutschland – die Konturen und Akzente politischer Musik und auch die Reflexionen über sie im Wandel begriffen waren. Hierzu trugen bestimmte interne Diskussionen bei, etwa die Auseinandersetzungen über die Konzepte von Luigi Nono und Hanns Eisler. Aber kaum weniger wichtig dürfte jene Tendenz zur Politisierung des Denkens gewesen sein, die sich im Zuge verschiedener mit 1968 verbundener Ereignisse entfaltete. Auch der „Prager Frühling“ konnte ja, pointiert gesagt, als Indiz dafür genommen werden, wie wichtig politisches Aufbegehren ist. Freilich wäre es verfehlt, diese Tendenz zur Politisierung mit einer eindeutigen Tendenz zur direkt eingreifenden, propagandistischen und klar Stellung beziehenden Kunst gleichzusetzen. Denn gewiss ereignete sich in jenen Jahren und auch im folgenden Jahrzehnt gerade im Bereich der Neuen Musik eine enorme Diversifizierung der im engeren oder weiteren Sinne als „politisch“ zu bezeichnenden Konzepte. Es lässt sich sogar die These vertreten, dass die Machtlosigkeit des direkten politischen Aufbegehrens, die man im Zuge des „Prager Frühling“ schmerzlich erkennen musste, zu diesem Wandel beigetragen hat. Schon das eben erwähnte Werk Bernd Alois Zimmermanns ist hierfür ein plastisches Beispiel, da es in seiner von Momenten der Erschütterung getragenen Komplexität die Widersprüchlichkeit der politischen Gegenwart aufzeigt und zugleich höchst eindringliche Mahnungen formuliert. Zimmermann hat mit seiner Ästhetik großen Einfluss auf den Schweizer Klaus Huber ausgeübt, jenen Komponisten, der im Spektrum der heutigen Gegenwartsmusik besonders bekannt ist für politische Tönungen mit plakativ deutlicher Ansprache. Doch ist gerade auch in Hubers Komponieren diese Tendenz in wachsendem Maße mit Momenten einer erheblichen Komplexität verschränkt. Aus dieser Verschränkung spricht, ähnlich wie bei Zimmermann, die Erkenntnis, dass das Verstehen der politischen Ereignisse und Botschaften keineswegs immer leicht ist und strenge politische Doktrinen sich als unbrauchbar erweisen können. Von politischen Tönungen in Musikwerken werden, ganz im Gegensatz zu solchen Erkenntnissen, meist klare Botschaften, eine eindeutige Haltung und ein entsprechender Tonfall erwartet. Dabei kann gerade Werken, die sich von den auf Einfachheit zielenden Gewohnheiten politischer Musik – also etwa der Einfachheit von Kriegs- oder Antikriegsliedern – bewusst entfernen und dabei auch tiefe Ambivalenzen oder Frage-Konstellatio-
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nen in sich tragen, eine ganz spezifische Eindringlichkeit zu eigen sein, zudem das Vermögen, das Nichtverstehbare adäquat zu vergegenwärtigen.8 Besonders lässt sich dies etwa an Helmut Lachenmanns 1997 uraufgeführter Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern ablesen, die als eines der wichtigsten Musiktheaterwerke des ausgehenden 20. Jahrhunderts gelten kann. In dem „Litanei“ überschriebenen 15. Teil dieses Werkes wird ein Text der Terroristin Gudrun Ensslin einbezogen und damit eine Perspektive ins Blickfeld gerückt, die mit dem Thema „1968“ ja recht viel zu tun hat, denken wir an die Diskussionen über den Zusammenhang der 68er-Ereignisse mit dem RAFTerrorismus der 70er Jahre. Der Text wird von den Vokalstimmen eindringlich geflüstert, beginnend mit den Worten „der kriminelle, der wahnsinnige, der selbstmörder – sie verkörpern diesen widerspruch“. Musikalisch dominieren in diesem Satz leise, sehr intensive Töne. Jede platte Äußerlichkeit wird vermieden. Platt äußerlich – und eher wie eine Entlarvung der Sprache der Terroristin und ihrer illusionistischen Sprache – wirken dagegen einige Stellen im collageartigen 10. Teil dieses Werkes, in dem ebenfalls Textpassagen von Gudrun Ensslin vorkommen. Ihr äußerlich Parolenhaftes, und damit eine erkennbare Distanz des Komponisten gegenüber der Stellungnahme von Gudrun Ensslin, wird dadurch herausgestellt, dass diese Textpassagen wie abgerissen wirken. Lachenmanns Werk hütet sich vor einseitiger Parteinahme. Immerhin aber greift es durch beide Ensslin-Stellen jene sozialkritische Dimension auf, die in dem Märchen von Hans Christian Andersen – das die wichtigste Textschicht der Oper darstellt – bereits angelegt ist. Es schreibt diese bis in die Gegenwart fort. Und es wirft bei alledem einige gegenwartsbezogene Fragen auf. Dabei rebelliert es auch gegen jenes Einverständnis, das bei der Beurteilung der bundesdeutschen Geschehnisse der 70er Jahre sonst weithin herrscht.
4. Die Ästhetik des Widerständigen Für viele seit den 60er Jahren entstandene Musikwerke scheint der Begriff der „politischen Musik“ angesichts der mit ihm verbundenen Vorerwartungen eher ungeeignet zu sein. Zu denken ist dabei außer an Helmut Lachenmann auch an Komponisten wie Nicolaus A. Huber, Rolf Riehm oder Mathias Spahlinger, bei denen das Politische immer wieder umrisshaft aufscheint, aber dabei in vielen Fällen gleichsam ins Innere der Musik hinein genommen wird. Als Alternativbegriff ist in diesem Zusammenhang der Begriff des Widerständigen zu bevorzugen: als Bezeichnung für ein Komponieren, das in sich eine im 8
Näheres hierzu in meinem Beitrag Überreden, Verstehen und Nichtverstehen. Politische Akzente im heutigen Komponieren, in: Erzeugen und Nachvollziehen von Sinn. Rationale, performative und mimetische Verstehensbegriffe in den Kulturwissenschaften, hrsg. von Martin Zenck und Markus Jüngling, München 2011.
Warum sich jetzt mit „1968“ befassen?
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weiteren Sinne politische Haltung trägt, ohne sich auf die Idee einer direkt eingreifenden Musik einzulassen oder sich weitgehend auf die Wirkung von Texten zu stützen. Dabei erscheint der Begriff des Widerständigen weniger verbraucht oder mit bestimmten Assoziationen behaftet als vergleichbare andere Begriffe, wie etwa die des „kritischen Komponierens“ oder der „Musica negativa“. Widerständige Musik des 20. Jahrhunderts ist in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass sie Momente der Brechung oder Infragestellung in sich aufnimmt, die offen sind für die Deutung als gleichsam seismographische Reflexion der Wirklichkeit. Wirklichkeit sollte in diesem Kontext allerdings nicht allzu eng als eine politische verstanden werden. Und auch die bewusste Abkoppelung im Sinne Friedrich Schillers kann ein Merkmal von Widerständigkeit sein. Mit Schiller ist einer jener Autoren genannt, in deren Theorie Kunstwerken die Fähigkeit zuerkannt wird, alternative Modelle gesellschaftlichen Handelns zu entfalten. Schillers Ästhetik ist ein Indiz dafür, dass im Selbstverständnis der Künste bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Verhältnis zur Gesellschaft eine zentrale Rolle spielte. Dies ist zu bedenken, wenn von Widerständigkeit die Rede ist. Der Begriff Widerständigkeit impliziert dabei gewiss keine bestimmte Sicht oder Deutung der Gesellschaft. Inwieweit sich Widerständigkeit mit der Möglichkeit zu kritischer Intervention oder zum direkten Widerstand verbindet, kann von Fall zu Fall diskutiert werden. Diese Möglichkeiten deuten jedoch auf Ausnahmefälle. Ein ernsthafter Diskurs über widerständige Aspekte komponierter Musik kann, so sei behauptet, der zuweilen bis zur Tabuisierung reichenden Distanz vieler Geisteswissenschaftler gegenüber kritischen Implikationen von Kunst entgegenwirken. Nicht allein Taten, sondern auch künstlerische Schöpfungen, und sogar begriffslose, können widerständige Potenziale enthalten – und dabei ein Erkenntnisinteresse mit der Gestaltung spezifischer künstlerischer Intensitäten verbinden. So weit dieser kurze Exkurs zu einem Begriff, den ich hier in der Überzeugung ins Spiel gebracht habe, dass er für die Diskussionen zu unserem Themenbereich hilfreich sein könnte. Es markiert eine schwierige Frage, inwieweit sich die Musik der eben genannten Komponisten deutscher Herkunft in spezifischer Weise auf jenen westdeutschen Kontext beziehen lässt, innerhalb dessen sie entstand. Komponisten wie Rolf Riehm oder Nicolaus A. Huber lassen in eigenen Kommentaren zu ihrem Schaffen keinen Zweifel daran, dass sich die politischen Aspekte neuerer Werke ganz allgemein auf die Wirklichkeit von heute beziehen – nicht allein in Deutschland, sondern auch deutlich darüber hinaus. Beide Komponisten jedoch haben sich in den Jahren nach 1968, als man in Deutschland neue Modelle politischer Musik erprobte, auch an direkt eingreifenden Konzepten beteiligt: Riehm tat dies in einer Frankfurter Formation mit dem schönen Namen „Das sogenannte linksradikale Blasorchester“, zu der seinerzeit auch Heiner Goebbels gehörte.9 Und Huber 9 Zu diesem Kontext vgl. auch den Beitrag von Hans-Klaus Jungheinrich im vorliegenden Band.
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komponierte Musik, die für Demonstrationen taugen sollte. Bei beiden Komponisten lässt sich davon sprechen, dass in ihren späteren Konzepten einer widerständigen Musik ohne deutliche politische Bezüge auch ein ferner Nachhall der offensiv politischen Musik steckt. Im Falle Lachenmanns und verschiedener anderer Komponisten ist das ganz anders: Seine Ästhetik schreibt sich eher von jener schon in den fünfziger Jahren entwickelten Ästhetik her, die allzu deutlicher oder gar mitreißender Momente bewusst enträt und sich damit jeder Vereinnahmung durch außermusikalische Strategien zu entziehen sucht. Der politische Überredungsgestus als solche ist Lachenmann suspekt – und darüber reflektieren auch seine Werke. Seine in den 70er Jahren entstandene Komposition Tanzsuite mit Deutschlandlied vor allem lässt in höchst kritischer Weise jenen Taumel der Begeisterung anklingen, der sich im 20. Jahrhundert so oft als politisch instrumentalisierbar erwies. Widerständig sucht Lachenmanns Musik auch darin zu sein, dass sie sich beharrlich von dem absetzt, was Musik nach der Vorstellung der großen Mehrheit von Konzertbesuchern und Musikern sein soll und wozu sie dienen müsse. Es geht Lachenmann, so schrieb er selbst, nicht um die „Erschließung weißer Flecken auf der Landkarte der Möglichkeiten, sondern [um die] Authentizität des Geistes, der – geprägt von innerer und äußerer Wirklichkeit – auf diese Wirklichkeit schöpferisch antwortet.“10
An dieser Stelle könnte nach der Wiederholbarkeit solcher kritischen oder widerständigen Motive innerhalb der Neuen Musik gefragt werden. Diese Frage müsste sich auf jene Verweigerung gegenüber Vorerwartungen oder Zwängen richten, von der gerade Lachenmann in seinen Kommentaren – angeregt nicht zuletzt von Herbert Marcuse, einem der meistgelesenen Autoren im Umfeld von „1968“ – zumindest eine Zeitlang ausdrücklich gesprochen hat.11 Zum maßgeblichen Kristallisationspunkt der neueren Musik konnte Lachenmann gerade deshalb werden, da einige seine Werke deutlich zeigen, dass ein widerständiges Komponieren in hohem Maße sinnliche Qualitäten besitzen kann. Ob diese Musik, die von den Ereignissen um 1968 gewiss nicht unberührt ist, einige Jahrzehnte später noch als komponierte Gesellschaftskritik wahrgenommen werden kann oder sogar muss, ist dabei gewiss Ermessenssache. Lachenmann selbst tendiert heute dazu, diesen Aspekt eher herunterzuspielen. Diese Einschätzung führt uns zur komplexen Frage nach der heutigen Resonanz auch anderer von kritischen Implikationen getragener Musik. 10 Helmut Lachenmann, Affekt und Aspekt, in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1996– 1995, hrsg. von Josef Häusler, Wiesbaden 22004, S. 63–72, hier S. 63. 11 Vgl. hierzu Jörn Peter Hiekel, Kritisches Komponieren, Glückserfahrungen und die Macht der Musik. Gespräch mit Helmut Lachenmann, Hans-Peter Jahn, Martin Kaltenecker, Ulrich Mosch und Isabel Mundry, in: Musik inszeniert. Vermittlung und Präsentation von zeitgenössischer Musik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel, Mainz 2006 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 46), S. 98–110.
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Resonanz meint hier zweierlei: zum einen meint es jene Impulse für eine sich auch bei den nachfolgenden Generationen zeigende widerständige Haltung gegenüber einer von Mainstream-Produkten beherrschten Kunstwelt, zum anderen die Wahrnehmung und Bewertung jener Kunst, die sich in solcher Weise oder aber auch mit direkteren politischen Bezügen als widerständig erweist.
5. Widerständigkeit in der DDR und der Tschechoslowakei In den gesamten Diskurs zum Widerständigen, den ich hier nur kurz andeuten kann, sollte natürlich auch jene Ästhetik des Widerstands genannte Schrift von Peter Weiss Berücksichtigung finden. Dieses im Untertitel als Roman bezeichnete Buch erschien zwar erst zwischen 1975 und 1981, kann aber doch auf viele in den 60er Jahren entfaltete Positionen politischer Kunst bezogen werden. Für Diskussionen zur Musik als der ungegenständlichsten aller Künste erscheint in diesem Buch vor allem jene Denkrichtung wichtig, die von direkt eingreifenden künstlerischen Konzepten wegführt. Weiss kennzeichnet die Kunst als Medium der Hoffnung auf Befreiung, lässt dabei aber die zentrale Romanfigur Heilmann für einen Kunstbegriff plädieren, der mit einer neuen, anspruchsvollen Ästhetik neue Wahrnehmungsweisen hervorrufen möchte. Nicht zufällig hat Weiss mit Luigi Nono zusammengearbeitet – bei dem als „Oratorium in elf Gesängen“ bezeichneten Bühnenwerk Die Ermittlung, das im Jahre 1965 parallel an 17 unterschiedlichen Bühnen uraufgeführt wurde und das in beiden Teilen Deutschlands einflussreich gewesen sein dürfte. In der DDR gab es Ansätze, die Formel „Ästhetik des Widerstands“ im Rekurs auf einige Überlegungen des Buches von Peter Weiss zu einer offiziellen Doktrin zu erheben. Dies wurde angeregt von Gedanken wie jenem, dass „erst auf den Boden des Proletariats gestellt und dort ausgedeutet [...] die Werke der Literatur, der Kunst, der Philosophie einen neuen Sinn erhalten [würden]“12. Dieses Denken schien mit wesentlichen Beiträgen der marxistischen Erbe-Diskussion innerhalb der DDR zu konvergieren. Daher versuchte man die Idee einer „Ästhetik des Widerstands“ als programmatisches Konzept für das zu instrumentalisieren, was in der DDR ohnehin beabsichtigt sei.13 Es kann bezweifelt werden, ob der damit formulierte Anspruch und die Wirklichkeit im Einklang standen, dies auch mit Blick auf vergleichbare Kunstdoktrinen in verschiedenen kommunistischen Bruderländern. Solche Versuche der Instrumentalisierung einer ästhetischen Position dürften 12 Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands, Bd. 1, Frankfurt am Main 1975, S. 188. 13 Vgl. Werner Mittenzwei, Ästhetik des Widerstands, Berlin 1979 (= Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR); vgl. zu diesem Aspekt auch: Manfred Haiduk, Zur Stellung der „Ästhetik des Widerstands“ im Werk von Peter Weiss, in: Peter Weiss, hrsg. von Rainer Gerlach, Frankfurt am Main, S. 147–181.
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sich umso mehr negativ auf die Akzeptanz und die Evidenz des gesamten Spektrums widerständiger Kunst-Positionen ausgewirkt haben, zudem auch auf die Neigung von Künstlern, Begriffe wie den des „Widerständigen“ zu verwenden. Doch weithin unabhängig von manchen offiziellen Doktrinen in der DDR, die auf Verständlichkeit zielten, zeichnen sich auch im Kontext der seit den 70er Jahren in der DDR entstandenen Musik tatsächlich widerständige Positionen ab. Ich denke hier etwa an Komponisten wie Paul-Heinz Dittrich oder Friedrich Schenker (wobei sicher noch viele andere Namen genannt werden könnten). Auch hier erweist sich, dass der Begriff „Widerständigkeit“ geeigneter ist als der des Widerstands, deutet er doch eher auf eine Haltung als auf konkrete Aktionen hin und ist daher auch für autonome Musik relevant. Noch dazu wäre das Wort „Widerstand“ wohl zu kräftig für jene Situation, der Komponisten in der DDR offenbar ausgesetzt waren. Friedrich Schenker steht für jene Komponisten, die in ihren Werken auch einige deutlich politische Akzente setzen, dabei raue, energisch aufbegehrende Gesten bevorzugen und damit eine deutlich antibürgerliche Tendenz erkennen lassen. Im Falle von Paul-Heinz Dittrich ist man geneigt, die obsessive Hinwendung zur existenziellen und tief verrätselten Lyrik Paul Celans auch als Reaktion auf jenen politischen Kontext zu deuten, innerhalb dessen Dittrichs Musik entstand. Musik wie diese ruft in besonderem Maße zu einer Denk- und Hörgenauigkeit auf. Sie enthält die Aufforderung, die existenziellen Inhalte der Kunst beharrlich zu entdecken und zu enträtseln. Und sie stemmt sich damit gegen jedes mutwillige Verschweigen oder gedankenlose Übertönen dieser Inhalte. Das macht auch diese Musik zu kritischer Musik par excellence, bei der die noch nicht hinreichend geklärte Frage gestellt werden kann, inwieweit sie typisch ist für eine Ästhetik, die in sich die Erfahrung mit politischen Willkürsystemen und mit einer doktrinären Idee wie der des Sozialistischen Realismus trägt.14 Dies gehört zu den vielen offenen Punkten einer substanziellen Diskussion zur Musik in der DDR, die bisher erst in Ansätzen stattgefunden hat. Einer dieser Ansätze geht in plausibler Weise aus von dem Begriff musikalischer Dekonstruktion und stützt sich auf die These, dass mit diesem Begriff ein Aufbegehren wider die Obrigkeit und das von ihr verordnete Einheitsdenken erläutert werden könne.15 Bei einigen Komponisten aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks fällt es nicht schwer, das Widerständige ihrer Musik mit Grundzügen ihrer künstlerischen Existenz zusammenzubringen. Dies gilt gewiss auch für Marek Kopelent, einen der bekanntesten und 14 Dagegen ließe sich, pointiert gesagt, gut aufbegehren – und dieses Aufbegehren setzte Kräfte frei, die an den Leonardo da Vinci zugeschriebenen Satz erinnern, dass der Mensch zur Erhaltung seiner Kreativität des Widerstands bedarf. 15 Vgl. Nina Noeske, Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 3), Köln u.a. 2007.
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wichtigsten tschechischen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kopelent konnte als Komponist in seinem Lande zwischen der Okkupation 1968 und der „Samtenen Revolution“ von 1989 praktisch nicht in Erscheinung treten – und er sprach davon, dass für ihn in dieser düsteren Zeit der Isolation die Kontakte mit westeuropäischen Institutionen „die einzige Rettung“ gewesen seien.16 Seine Musik reagiert auf die politische Wirklichkeit, der sie ausgesetzt war, in zumindest dreifacher Weise: erstens mit ironischen oder sarkastischen Tönungen, zweitens indem sie Andeutungen jener Religiosität enthält, die dem Denken der Machthaber ebenfalls zuwiderlief, drittens aber auch durch einige Anspielungen auf politisch relevante Ereignisse. Ein Beispiel für letzteres und zugleich eine Reaktion auf die Situation nach 1968 ist die 1982 in Basel unter der Leitung von Heinz Holliger uraufgeführte Sinfonie, in der die schwierige Situation eines Künstlers in totalitären Zeiten reflektiert wird. Kulminationspunkt dieses Werkes ist das markante Ende des ersten Satzes, wo es sich ausdrücklich gegenüber der damaligen politischen Wirklichkeit öffnet. Es bezieht sich auf den großen tschechischen Philosophen Jan Patočka, der eine Symbolfigur freiheitlichen Denkens war und der in den siebziger Jahren kurz nach einem Verhör durch die Staatspolizei im Krankenhaus gestorben ist. Kopelent bezieht sich in diesem Sinfonie-Satz auf die Ereignisse der Trauerfeier für Patočka, die zu einer stillen Solidaritätskundgebung werden sollte – und von den Machthabern durch großen Lärm empfindlich gestört wurde. „Man war so erschüttert, dass der Hass bis zum Grabe gehen kann. Ich kann mir kaum etwas Entsetzlicheres vorstellen. Und das habe ich mit diesem Satz zum Ausdruck gebracht“, merkte Kopelent selbst zu diesem Zusammenhang an. Er realisierte ihn durch einen Trauermarsch, der durch den Einsatz einer gewaltigen Schlagzeugbatterie gleichsam unter die Räder gerät. Es überrascht nicht, dass der Komponist diesen so wichtigen Bezug bei der Uraufführung verschwiegen hat und er sich erst seit 1989 traut, öffentlich davon zu reden. Die kritischen Zeitgenossen waren offenbar hellhörig für solche Bezüge. Nach der Okkupation von 1968 wurde in der Tschechoslowakei ein Kader mit angepassten Komponisten gegründet. Marek Kopelent und einige andere wichtige Komponisten, vor allem auch Zbynĕk Vostřák, blieben von öffentlichen Aufführungen ausgeschlossen und mussten eine Art innere Emigration wählen.
16 Alle Zitate entstammen Gesprächen Kopelents mit dem Verfasser im Jahre 2001. Vgl. zu alledem auch Kopelents eigenen Beitrag im vorliegenden Band.
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6. Kurzes Fazit Es ist für eine angemessene Auseinandersetzung mit der um 1968 entstandenen und von dieser Jahreszahl und ihren Ereignissen beeinflussten Musik wichtig zu betonen, dass Komponisten wie Kopelent – aber auch Dittrich, Schenker, Wilfried Krätzschmar17 und viele andere – in schwierigen Zeiten höchst eindringliche widerständige Musik komponiert haben. Freilich sollte man nicht den Fehler machen, solche Musik in dieser Haltung als etwas Zeitgebundenes, bloß auf die konkrete politische Situation Bezogenes zu etikettieren. Eine besondere, überzeitliche Kraft kann ihr, adäquate Aufführungen vorausgesetzt, noch heute innewohnen. Dies gilt gewiss in ähnlichem Maße wie für die von mir als ebenfalls widerständig bezeichnete Musik einiger Komponisten westdeutscher Provenienz, deren Ästhetik ebenfalls Impulse von den Ereignissen und Diskussionen der Jahre um 1968 in sich trägt. Die Verbindung mancher Musikwerke mit der sie umgebenden Wirklichkeit, die in den Jahren seit 1968 so markant hervortrat wie selten zuvor, wird in den Jahren seit 1989, in denen eine Entpolitisierung in den Künsten spürbar ist, oft eher als Polit-Folklore dargestellt oder sogar ganz verdrängt. Dabei stehen gerade Dittrich und Kopelent für einen Entwicklungsstrom in ihren Ländern, der in den 80er Jahren merklich wuchs und auch im Westen wahrgenommen wurde, der freilich nach 1989 kaum mehr wirklich Beachtung findet. Die Nichtbeachtung von Komponisten wie diesen verkennt jedoch, dass das Widerständige ihrer Musik sich keineswegs eindeutig oder gar ausschließlich auf jene konkrete Situation fokussiert, der sie als Künstler ausgesetzt waren. Im Schaffen beider Komponisten – und dasselbe gilt auch für einige andere – finden sich in ebenso nachdrücklicher wie origineller Weise kritische Potenziale und Intensitäten, die ihnen überzeitlichen Wert sichern. Man kann dennoch davon sprechen, dass diese Potenziale durch die konflikthafte Situation, der sich die Kunst in der DDR, der ČSSR und den anderen ehemaligen Ostblock-Staaten ausgesetzt sah, besonders herausgefordert wurden. Ohne einer durch und durch gesellschaftlichen Sichtweise von Musik das Wort reden zu wollen, kann deutlich unterstrichen werden, dass es hier – in der Musik aus beiden Teilen Deutschlands, der Tschechoslowakei, aber auch wohl aus anderen Ländern – vielerlei Intensitäten zu erleben und gewissermaßen zu entbergen gibt, die man heute nur unzureichend wahrnimmt, wie dies ja auch fast für die gesamte Musik aus der ehemaligen DDR gilt. Mit Blick auf so berühmte Werke wie Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter oder Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern sind die wesentlichen Reflexionen der politischen Wirklichkeiten längst weithin wahrgenommen worden. Aber auch in Werken vieler anderer Komponisten und natürlich auch vieler KünstlerInnen aus anderen Bereichen sind solche spezifischen Bezüge und die mit ihnen zusammenhän17 Vgl. hierzu den Beitrag von Wilfried Krätzschmar im vorliegenden Band.
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genden existenziellen Dimensionen noch zu entdecken. Nicht zuletzt dafür erscheint eine Auseinandersetzung mit „1968“ und den mit diesem Datum zusammenhängenden Kunstentwicklungen hilfreich.
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1968 in der DDR – Wahrnehmungsspuren in einem „ruhigen Land“ „Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, war auch in der Partei und hat dran geglaubt. Aber achtundsechzig war’s bei ihm vorbei, nach Dubček war ein für alle Mal Schluss.“ (Ingo Schulze, Adam und Evelyn, 2008)1
I. Eine verlorene Generation: Heiner Müller „Im Jahr der Panzer Neunzehnhundertachtundsechzig“ kam es für den Sprecher des abschließenden Textes in Heiner Müllers „Shakespeare factory“ Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling (1988) zum „Umzug von Berlin nach Bautzen“. Der Monolog rekapituliert die Anlässe dieses „Umzugs“ – und noch eines weiteren, bevorstehenden. In jenem Jahr 1968, als der „Kindertraum/Von einem Sozialismus ohne Panzer“ zuschanden wurde, hatte der Sprecher ein Flugblatt geschrieben:2 Gegen den Einmarsch der Bruderarmeen So heißt es doch Ich hab auch einen Bruder In Prag Das heißt ich hatte einen Bruder In Prag Ein Haufen Asche ist er jetzt Ein Knochenbündel und ein Brandgeruch Er hat sich selbst verbrannt in Prag mein Bruder
Den Umzug des Sprechers nach Bautzen hatte aber durch eine Anzeige bei den Behörden gerade jener bewirkt, der den Inhaftierten dann regelmäßig „fünf Jahre lang im Zuchthaus Bautzen“ besuchen und weiterhin „MIT MARXUNDENGELSZUNGEN“ predigen wird für „sein Arbeiterparadies“ – „seine Hölle die mein Paradies war“;3 die Botschaft dieses Paradieses verkündet dem inhaftierten Sohn eben, so wird im Fortgang des Monologes 1
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Ingo Schulze, Adam und Evelyn. Roman, Berlin 2008, S. 306. – Vgl. zur Thematik einführend Bernd Lindner, Enttäuschte Hoffnungen, in: Demokratie jetzt oder nie! Diktatur, Widerstand, Alltag, hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland / Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Leipzig 2008, S. 122–129. Vgl. auch Stefan Wolle, Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008. Heiner Müller, Wolokolamsker Chaussee I–V, in: Theatertexte, hrsg. von Peter Reichel, Berlin 1989, S. 227–263, hier S. 257. Ebd., S. 256.
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deutlich, sein DDR-gläubiger Vater. Und in einer doppelten Bewegung enthüllt der Monolog zum einen die Denunziation des Sohnes durch den Vater und verschränkt zum anderen diese Familiengeschichte mit der Genealogie einer verlorenen Generation in der DDR. Denn das Kind ist ein Findelkind, aufgenommen aus Zeugungsschwäche; der Vater war im KZ verstümmelt und der Zeugungsfähigkeit beraubt worden. Doch diese antifaschistische Geste, wie sie dem Gründungsmythos der DDR entspricht,4 erweist, wie es in der Überblendung von Biologie und Geschichte in Heiner Müllers theatralischem Modell deutlich wird, eben zugleich eine Unfähigkeit zur Stiftung von Geschichte und Geschlechterfolge. Der Antifaschismus ist gerade wegen seines historischen Verdienstes steril. Gegenüber der Phrasensprache von Familiarität werden die echten Kategorien der Menschengemeinschaft, die Brüderlichkeit vorab, artikuliert – „Ich hab auch einen Bruder / In Prag“ –, und die Artikulation wird geahndet mit Gefängnis. Jener zweite Umzug dann führt von einem Deutschland in das andere, nach Westen, meint das Verlassen des Gefängnisses, zu dem das ganze eingemauerte Land geworden war. „Das Bild“, so erläutert Heiner Müllers kurze Nachbemerkung diesen Abschnitt innerhalb seines Großprojektes einer „PROLETARISCHEN TRAGÖDIE IM ZEITALTER DER KONTERREVOLUTION“, zeigt einen anderen Findling als jenen, der in Kleists Erzählung zu sehen ist: „[D]er verwundete Mensch, der in der Zeitlupe seine Verbände sich abreißt, dem im Zeitraffer die Verbände wieder angelegt werden.“5 Müller praktiziert hier in satirisch zugespitzter Konsequenz jene „Kunst zu erben“ (Ernst Bloch), die grundlegend war für die Kulturpolitik in der DDR. Das Beste aus humanistischem Erbe sollte in diesem ‚anderen‘ Deutschland, dem ersten freien demokratischsozialistischen Staat auf deutschem Boden, aufgenommen und aufgehoben sein aus der Vergangenheit in eine schönere Zukunft, in seine künftige Vollendung. Von Ernst Bloch, von 1948 bis zu seinem ‚Umzug‘ in ‚den Westen‘ 1961 als Leiter des Lehrstuhls für Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig tätig, stammt die wirkungsmächtige Formulierung dieses Konzeptes. Umgesetzt hatte es – bis zu seiner Entmachtung nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 – vor allem Johannes R. Becher, Schriftsteller und erster Kulturminister der DDR. Müllers Strategie des Erbens allerdings radikalisiert, nach drei weiteren Jahrzehnten historischer Erfahrung mit diesem ersten ‚real existierenden’ sozialistischen deutschen Staat, das Modell der Zukunftszerstörung in Kleists Familienerzäh4
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Zum Gründungsmythos der DDR vgl. etwa Herfried Münkler, Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45 (1998), S. 16–29 sowie ders., Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR – Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen, in: Der missbrauchte Antifaschismus: DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, hrsg. von Manfred Agethen, Freiburg im Breisgau u.a. 2002, S. 79–99. Und ders., Antifaschistischer Widerstand, frühbürgerliche Revolution und Befreiungskriege, in: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 421–454. Müller, Wolokolamsker Chaussee (wie Anm. 2), S. 263.
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lung zum Modell eines zukunftslosen Systems. Denn diejenigen, die sich als Sachwalter des revolutionären Prinzips der Geschichte in den kommunistischen Staaten etablierten, betreiben die Konterrevolution. Offenkundig war für jedermann, dass Heiner Müllers Text auf den jungen Thomas Brasch anspielte, der 1976 ins Exil gegangen war, nachdem er seinen Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne nur im ‚Westen‘ hatte veröffentlichen können; jene illegale Flugblatt- und Maueraufschriftenaktion, die gegen die Besetzung der ČSSR Protest erhob, hatte in den Nächten zum 22. und 23. August 1968 stattgefunden. Thomas Brasch (damals 23 Jahre alt), seine Freundin Sandra Weigl (20 Jahre alt) Frank und Florian Havemann (19 bzw. 16jährig), Rosita Hunziker (18 Jahre alt), Erika-Dorothea Berthold und Hans-Jürgen Utzkoreit (beide 18jährig) waren die ‚Täter‘.6 Und daraufhin hatte Horst Brasch, verdienter Kommunist, aus Nazi-Deutschland ins Exil geflohen, hoher SED-Funktionär, seinen Sohn Thomas den Behörden der DDR angezeigt.
II. Unterbundene Öffentlichkeit Der Ablauf der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei am 21. August 1968 war auch in der DDR im Großen und Ganzen bekannt. Zumindest etliche wussten, dass etwas ‚im Gange war‘; Ungarn 1956 war unvergessen. Ein Momentbild aus der Phase der Vorbereitung, exemplarisch und pointiert zugleich, gibt Florian Havemann: „1968, es muß im Frühsommer gewesen sein, der sogenannte Prager Frühling hatte seinen Frühling gerade hinter sich, da kam Biermann raus zu uns nach Grünheide, und am Abend, er wurde ganz ernst, verkündete er uns, daß es eine Intervention geben würde, einen Einmarsch in die Tschechoslowakei, auf daß aus dem Prager Frühling nicht mehr werde als nur dieser Frühling, den wir aus der Ferne miterlebt hatten – diese Intervention sei geplant, es habe schon einen Termin für sie gegeben, dieser Termin sei nur noch einmal aufgeschoben worden, da die tschechischen Genossen, nach außen hin wenigstens, den Russen, den Sowjets, also Breschnew, bei einem Treffen noch einmal nachgegeben und versprochen hätten, für Ruhe in ihrem Machtbereich zu sorgen. Sie sei aber nur aufgeschoben, diese Intervention, der Einmarsch bleibe zu erwarten. So Wolf Biermann, und dies sollte sich ja auch als richtig erweisen.“7
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Vgl. Annette Simon, Kluge Kinder sterben früh. Die Achtundsechziger der DDR: Was verbindet, was trennt sie von jenen der Bundesrepublik?, in: Die Zeit, 6.6.1997; Wolle, Der Traum von der Revolte (wie Anm. 1), S. 168f. Florian Havemann, Havemann, Frankfurt am Main 2007, S. 325.
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Zwar werden sich die Truppen der Nationalen Volksarmee an der Operation Donau nicht beteiligen,8 wohl aber logistische Hilfestellungen in großem Ausmaß leisten; die Grenzgebiete der DDR zum Nachbarland dienten als Aufmarschbasis für die Invasionstruppen. Die DDR-Führung, namentlich Walter Ulbricht, hatte ein Eingreifen der sozialistischen Bruderstaaten schon nachdrücklich gefordert, als andere, wie etwa der ungarische Parteichef Kadar, noch zur Zurückhaltung mahnten und selbst der sowjetische Staats- und Parteichef Breschnew auf weitere Gespräche mit den Prager Genossen setzte. Die durch Zensur gelenkte DDR-Öffentlichkeit bot freilich für Nachrichten über diese Abläufe kein Forum. Ohne Information war man gleichwohl nicht. War auch das „Zeitschriftenangebot in der DDR [...] erbärmlich“, war deshalb auch das laut Bernd-Lutz Lange „interessanteste Magazin des Ostblocks“,9 die ‚Tschechoslowakische Monatsschrift‘ Im Herzen Europas, nicht ohne weiteres erhältlich – zugänglich war dieses Blatt doch. Und im Januar 1968 bekam diese Monatsschrift, wie Bernd-Lutz Lange als Leser in der DDR berichtet, einen „besonderen Schub [...] mit dem ZK-Plenum der kommunistischen Partei“, bei dem Alexander Dubček zum Ersten Sekretär des ZK der KPČ gewählt wurde. Nun sparte die Zeitschrift kein Thema, keinen Widerspruch und keinen Konflikt aus und rückte in ihren Beiträgen – noch einmal laut Bernd-Lutz Lange –„die sozialistische Welt zurecht“.10 Zudem gab es „deutschsprachige Sendungen des tschechischen Rundfunks, die in der DDR empfangen werden konnten;“ der Maler Peter Graf etwa berichtet, „wie er auf
8 Rüdiger Wenzke, Die NVA und der Prager Frühling 1968. Die Rolle Ulbrichts und die DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung, Berlin 1995. – Vgl. noch: Operation Donau, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.6.2008. 9 Bernd-Lutz Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling, Berlin 2006, S. 285. – Vgl. zudem Manfred Jäger, Die abwartende Hoffnung. Reiner Kunze, Wolf Biermann und andere 1968, in: „Es genügt nicht die einfache Wahrheit“. DDR-Literatur der sechziger Jahre in der Diskussion, hrsg. von Michael Hametner u. Kerstin Schilling, Leipzig 1995, S. 111–125, bes. S. 118. Künftig meine Studie: Mitteleuropäischer Ideenschmuggel. „Im Herzen Europas“, eine deutschsprachige ‚Revue‘ aus Prag 1967/68. (Vortrag beim Kongress des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes „Mittlerin aus Europas Mitte. Fundamente und Perspektiven der deutschen Sprache und ihrer Literatur im ostmittel- und südosteuropäischen Raum, Wien 2010). 10 Ebd. – Vgl. auch Hartmut Zwahr, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und Prager Frühling. Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970, Bonn 2007, S. 114 (22. August 1968). – Vgl. zu den Informationsmöglichkeiten auch den Bericht von Schorlemmer: „Mein Freundeskreis war durch die folgenden Ereignisse wie elektrisiert. Wir saugten alle zugänglichen Informationen auf, z.B. auf der Kurzwelle von Radio Prag. Das berühmte ‚Manifest der 2000 Worte‘ und der ‚1000 Worte‘ wurden [sic!] aus der Tschechoslowakei rübergeschmuggelt. Wir schrieben die systemkritischen Texte ab und verbreiteten die Durchschläge.“ (Friedrich Schorlemmer, „Das Land ist still. Noch.“ Meine Erinnerungen an 1968, in: Wohl dem, der Heimat hat, Berlin 2009, S. 146–159, hier S. 148.)
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diese Weise nahe an der Entwicklung und den Ereignissen gewesen“ sei.11 Urlauber aus der DDR aber hatten in Prag die Demonstrationen für Reformen miterlebt12 und waren dann auch zu Zeugen des Einmarschs geworden;13 Freunde und Verwandte berichteten. Die Truppenbewegungen im Vogtland waren zudem auffällig genug gewesen. „Es war“, so erinnert sich Gerald Zschorsch, „eine unheimlich aufgeheizte Situation in so einer Grenzstadt wie Plauen. Da standen an den ganz zentralen Punkten sowjetische Panzer, nachdem die anderen schon durchgefahren waren, Richtung Prag ...“14 Utz Rachowski, eben fünfzehnjährig, als sich im Vogtland, wo er zuhause war, die Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten zusammenzogen, erlebte damals den Einbruch der Politik in sein Leben. Sein älterer Bruder opponierte, freilich vergebens. Rachowski hat die Urszene, die seine literarische Arbeit bestimmen wird, mehrfach festgehalten, so in der Erzählung Der letzte Tag der Kindheit.15 Und die Leipziger Grafikerein Ursula Mattheuer-Neustädt, die sich damals im Vogtland aufhielt, schuf angesichts dieses Geschehens ihre Blattfolge Der schöne deutsche Wald.16 – Es gab stets, noch diesseits der Informationsverweigerung der offiziösen Medien, in einer paraöffentlichen Sphäre vielfältige Kontakte und Verbindungen, die Informationen ermöglichten, jeweils punktuell, in der Summe aber doch beachtlich. Die Artikel des SED-Parteiorgans Neues Deutschland dagegen waren als Symptome der Parteilinie zu entziffern, aber als zuverlässige Nachrichtenquelle waren sie gewiss nicht brauchbar. „Die Zeitungen“, so notiert Christa Wolf, „holen die Begründung für den Einmarsch in die ČSSR vornehmlich aus den Äußerungen der Westpresse (daß die DubčekLeute einen ‚Systemwechsel‘ vorbereitet hätten), wir kommentieren abends und tauschen 11 Gespräch Jörg Bernigs mit Peter Graf vom 27. Januar 2010 über das Bild Über das Malen im Jahr 68. Graf besitzt noch heute einige Minuten Mitschnitt, auf dem ein vom tschechoslowakischen Rundfunk mit Walter Ulbricht geführtes Interview zu hören ist. Ulbricht lobt darin u.a. die – quasi klassenabschaffende – Leistung der DDR, die sogar Nazi-Militärs nach entsprechender Umschulung in die NVA integriert habe. 12 Vgl. Schorlemmer, Das Land ist still (wie Anm. 10), S. 149. – Vgl. die bei Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 9), S. 301 überlieferten – und vielleicht schon im Blick auf 1989 pointierten – Reaktionen im Kreis der jungen Reisenden aus der DDR: „ ‚Sagenhaft!‘ ‚Stell Dir so etwas in Leipzig vor‘“. 13 Lindner schildert die Reaktion der 18jährigen Schülerin Silvia Marita Plath aus Leipzig: „Sie hatte nur noch einen Gedanken: ,Fotografiere, das glaubt Dir kein Mensch!‘ Binnen weniger Stunden machte sie über hundert Aufnahmen von der Besetzung Prags.“ (Lindner, Enttäuschte Hoffnungen [wie Anm. 1], S. 124.) 14 Gerald Zschorsch, Interview, in: Glaubt bloß nicht, daß ich traurig bin, Frankfurt am Main 1990, S. 197–212, hier S. 200. 15 Vgl. Utz Rachowski, Der letzte Tag der Kindheit, in: Der letzte Tag der Kindheit, Berlin 1987, S. 9–21. Wiederabdruck dieses Textes, dessen Originalausgabe vergriffen ist, im vorliegenden Band. 16 Vgl. die Abbildung bei Lindner, Enttäuschte Hoffnungen (wie Anm. 1), S. 125. – Ebd., S. 124 das Gemälde von Jürgen Schieferdecker (Dresden) Prager Sommer 68.
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Informationen aus.“17 Brigitte Reimann führte eine eigene Chronik über die politischen Ereignisse und Informationen.18 Reiner Kunze, der seit seiner Heirat mit Elisabeth Littnerová vielfältige Verbindungen zu der in der Tschechoslowakei immerhin geduldeten Kulturszene der ‚Moderne‘ aufgebaut hatte, „hat die tschechischen Zeitungen immer gelesen, daher jetzt die Möglichkeit, zu vergleichen. Fälschung über Fälschung in unseren Zeitungen, Sätze willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen, Lügen“, notiert Brigitte Reimann.19 Offiziell desinformiert und doch aus verschiedenen Quellen informiert blieb die Bevölkerung der DDR keineswegs so ‚ruhig‘, wie sich die Staatsorgane das wünschten; vielmehr regte sich Unmut allenthalben im Land, umfassend ausgespäht und protokolliert von den Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes.20 Vor allem junge Leute – allerdings nicht allzu viele – protestierten öffentlich,21 „brachten also“, wie Robert Havemann resümiert, „eine politische Meinung zum Ausdruck, die von der überwältigenden Mehrheit der europäischen Kommunisten geteilt wurde.“22 Späterhin – Thomas Brasch, einer aus dieser protestierenden jungen Generation, wird sich längst im westdeutschen Exil befinden – hat sein Freund Klaus Pohl ihn als Figur des Dichters in seiner szenischen Collage Wartesaal Deutschland auftreten und den damaligen Bruch noch einmal rekapitulieren lassen: Zum ersten Mal überfällt ein sozialistisches Land ein anderes und das is ne Situation wos losgeht. Und es war gar nichts. Absolute Ruhe. Die Stadt war leer. Das öffentliche Bewußtsein war gestorben.23 17 Christa Wolf, Ein Tag im Jahr. 1960–2000, Frankfurt am Main 2008, S. 129. Vgl. auch Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 21. August 1968, bes. S. 101–106. 18 Vgl. Brigitte Reimann, Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964–1970. Hrsg. von Angela Drescher, Berlin 1968, S. 218ff. (Tagebuchnotizen vom 1. und 13. November 1968). 19 Ebd., S. 218 (Tagebuchnotiz vom 13. November 1968). 20 Vgl. Stefan Wolle, Die versäumte Revolte: Die DDR und das Jahr 1968, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Bd. 22–23 (2001), S. 37–46, hier S. 42. – Monika Tantzscher, „Maßnahme Donau“ und „Einsatz Genesung“. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968/69 im Spiegel der MfS-Akten, in: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Reihe B: Analysen und Berichte, Nr. 1/94, Berlin 1994, S. 61–75. 21 Vgl. Ilko Sascha Kowalczuk, „Wer sich nicht in Gefahr begibt ...“ Protestaktionen gegen die Intervention in Prag und die Folgen von 1968 für die DDR-Opposition, in: Opposition und Widerstand in der DDR, hrsg. von Klaus-Dietmar Henke, Peter Steinbach u. Johannes Tuchel, Köln u.a. 1999, S. 257–274. 22 Robert Havemann, Fragen Antworten Fragen [1970], München 1990, S. 240. 23 Klaus Pohl, Meine einzige Chance ist zu schreiben. Dichter, in: Wartesaal Deutschland Stimmenreich. Eine Studie über den Charakter der Deutschen, Hamburg 1995, S. 39–53, hier, S. 51f.
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„[M]ein Vater hat gesagt“, so heißt es in dem poetischen Notat Gerald Zschorschs mit dem Titel Okkupation, „daß die ČSSR jetzt das einzige Land hier bei uns ist, wo man sagen kann, was man denkt. Und deshalb meinte er auch, daß die Russen kommen.“24 Und in der Tat: „Der Prager Frühling“, so bestätigt es Friedrich Schorlemmer rückblickend, sei auch „ein Kampf um Worte“ gewesen, ein Kampf „um das freie Wort“,25 um das Recht, ‚zu sagen, was man denkt‘. Bereits in seiner 1970 erschienenen Bilanz hat Robert Havemann gerade die Unterdrückung der Meinungsfreiheit insistierend hervorgehoben.26 Jeglicher Anspruch einer selbst bestimmten Öffentlichkeit wurde mit Härte unterdrückt, ohne dass die Forderungen und Zweifel, die auf dieses Forum drängten, damit noch zu ersticken gewesen wären. Am 23. August 1968 informierte Robert Havemann, der Vater Florian Havemanns, die Westpresse von der Verhaftung seiner Söhne27 und wählte damit jenen Weg zum öffentlichen Appell, der künftig zu einer zentralen Strategie der loyalen Kritiker und zunehmend auch der radikalen Gegner der DDR werden sollte.
III. 1968 – west-östlich Die Entgrenzung des ‚eingemauerten Landes‘ im Medienraum, wie sie Robert Havemann mit seinem Appell an die Westmedien vorgeführt hatte, integriert anscheinend auch eine besondere DDR-Konstellation von ‚1968‘ in den weltweiten Aufbruch der 1968er Bewegung. So hat man denn auch fragen können, ob es nicht genüge, „in Thomas Brasch einen veritablen 68er des Ostens zu erkennen?“28 So wie auch Florian Havemann rückblickend seine Generation als „die der Ost-68er“ bezeichnet, freilich sogleich einschränkend:
Gerald Zschorsch, Okkupation, in: Glaubt bloß nicht daß ich traurig bin (wie Anm. 14), S. 32. Schorlemmer, Das Land ist still (wie Anm. 10), S. 152. Vgl. Havemann, Fragen Antworten Fragen (wie Anm. 22), S. 238– 244. Havemann fasste diesen gesamten Komplex in den Schlusskapiteln seiner Biographie eines deutschen Marxisten zusammen, deren Haupttitel Fragen-Antworten-Fragen zugleich schon vom Ende der Gewissheiten kündet. Dass Fragen unerwünscht seien, exemplifiziert dann eben auch die Protestaktion der Jugendlichen und die folgenden Repressionen bis hin zum Prozess. Havemann verweist dagegen nachdrücklich und insistent auf die in der DDR garantierte Meinungsfreiheit. Vgl. allerdings Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 378, der dieses Verhalten seines Vaters ebenso als Entwendung einer Biographie deutet, letztlich also in Analogie zum Verhalten von Horst Brasch setzt. – Dazu Hermann Kuhn, Bruch mit dem Kommunismus, Münster 1990, S. 192ff., bes. S. 200 der Verweis auf die Kontinuität zur ‚Nazizeit’, wie sie Havemann gerade aus ihrer offiziellen Leugnung herausarbeitet. 28 Ulrich Zieger, Eins, zwei, drei: Kalte schwarze Platten, in: Das blanke Wesen. Thomas Brasch. Arbeitsbuch, hrsg. von Martina Hanf u. Kristin Schulz, Berlin 2004, S. 104–107, hier S. 105. – Zur
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„Vielleicht waren das insgesamt 200 Menschen, mehr nicht. Man kannte nicht alle, man kannte aber die meisten, kannte sie wenigstens vom Sehen und Hören, kannte sie von ihren Spitznamen her. [...] Das Medium dieser Ost-68er, das Medium ihres Austauschs, blieb das Gespräch, das allerdings dafür oft sehr intensive Gespräch in kleinen Grüppchen, die wohl nur informelle Gesprächskreise genannt werden können, das Medium größerer Zusammenkünfte war die Party. Diese kleine Gruppe versuchte alles zu sein, alles zu machen – alles das, was auch anderswo zu 68 dazugehörte: sie versuchte eine andere Kunst und Kultur, eine andere Art des Lebens und dann auch der Kindererziehung auszuprobieren, sie versuchte sich in der sexuellen Befreiung, in anderen Geschlechterverhältnissen, sie versuchte sich in anderen Räuschen, und sie versuchte auch, eine andere Art von Politik zu denken und zu praktizieren.“29
An Verbindungen fehlte es nicht. Der Osten nahm den Westen durchaus zur Kenntnis, wahrscheinlich sogar intensiver als umgekehrt,30 und auch in der DDR stellte „das Jahr 1968 [...] eine Zäsur“ des Lebensstils dar, inspirierte eine ‚linke Bewegung‘, die als Symptom einer ‚Verwestlichung‘ zu würdigen bleibt.31 Als einen Übergang von der revoltierenden Phantasie in die konkrete Utopie des Revolutionären hat Irmtraud Morgner in ihrem 1974 veröffentlichten Roman Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz diese Ost-West-Passage der 68er inszeniert und dabei zugleich die Möglichkeiten eines Transfers der 68er-Bewegung von West nach Ost erkundet – im Reich einer phantastischen Historie, die Wirklichkeit werden will.32 Am 6. Mai 1968, vorfristig, wird die provenzalische Trobadora Beatriz aus ihrem Zauberschlaf wiedererweckt, nach immerhin rund acht Jahrhunderten. Das erste, was sie hört, ist ein Dialog zwischen einem Ingenieur und einem Sprengmeister, die ihre von einer Rosenhecke umwachsene Schlafburg für einen Autobahnbau wegzuschaffen haben. Nachdem sie, die gleichsam zu früh gekommene, selbstbewusste Frau in der Kunst, ehedem die mittelalterliche Welt der Männer verlassen hatte, begegnet sie nun einer Welt technologi-
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Wirkung der 68er Studentenbewegung vgl. Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Leipzig 2002, S. 253ff. Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 857f. – Vgl. auch Simon, Kluge Kinder (wie Anm. 6). Vgl. Kowalczuk, Wer sich nicht in Gefahr begibt (wie Anm. 21), bes. S. 268. Etienne François, Annäherungsversuche an ein europäisches Jahr, in: 1968 – Ein europäisches Jahr? Hrsg. von dems. u.a., Leipzig 1997, S. 11–19, hier S. 16. Vgl. zudem Bernd Gehrke, Die neue Opposition nach dem Mauerbau. Zu Ursprüngen und Genesis oppositionell-politischer Artikulationsformen in der DDR der 1960er und 1970er Jahre, in: „Das Land ist still – noch!“ Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989), hrsg. von Leonore Ansorg u.a., Köln u.a. 2009, S. 203–225. Ich danke Albrecht von Massow, der in der Diskussion Morgners Roman in den Focus rückte. – Zitiert wird im folgenden mit Seitenzahlen in Klammern direkt im Text nach Irmtraud Morgner, Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz, Darmstadt/Neuwied 1976. – Vgl. auch Stephanie Hanel, Literarischer Widerstand zwischen Phantastischem und Alltäglichem. Das Romanwerk Irmtraud Morgners, Pfaffenweiler 1995, bes. die Abschnitte „Studentenbewegung in Frankreich, Mai 1968“ und „,Prager Fensterstürze‘, ‚Prager Frühling’“, S. 54–60.
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sierter Gewalt, bei der noch immer die Männer das Sagen haben. Doch sie hört zugleich in „südfranzösischem Dialekt“ von einer Gegenbewegung, von Straßenschlachten und Barrikaden, die Studenten bauen (S. 18). Beatriz kehrt in jenem 68er Mai zurück, in dem in Paris die Studenten „die Phantasie an die Macht“ bringen wollten,33 und sie hört im Radio von Straßenschlachten, Angriffen auf Polizeiwagen, von der Verhaftung linksorientierter Studenten und großen Demonstrationen. Das Fernsehen zeigt die Bilder: Beatriz konnte menschengefüllte Straßen erkennen, aufgerissene Straßen, von Wällen versperrte Straßen. Ein Wall wurde hauptsächlich von einem umgestürzten Bus gebildet. Hinterm Bus tauchten Köpfe auf. Auch Arme, die Steine schleuderten. Männer mit Helmen, Masken und Schildern warfen Stäbe vor und hinters Hindernis, die rauchten. Enthusiastische Stimmen kommentierten die bewegten Bilder. Die Kommentare wurden häufig durch Husten unterbrochen. Auch durch Lieder. „Dieser Ausbruch von Lebensfreude“, sagte eine Stimme, „dieser begeisterte Elan, diese brüderliche Atmosphäre. Die Straßen des Quartier Latin voller Menschen. Jeder spricht mit jedem, völlig enthemmt. Jeder hört jedem zu. Eine hoffnungsvolle, festliche Stimmung.“ (S. 31)
Bald schon hält man sie selbst, diese ungewöhnliche Frau, „für eine Studentin auf der Flucht“ (S. 21). Dass die Autorin Irmtraud Morgner ihrerseits sich selbst mit diesem Roman um eine Geschichtskorrektur bemüht, dass sie in der alten eine neue – utopische – Geschichte finden und erfinden will, dass sie damit die Historie, dieses „männliche Meer von Egoismus“ (S. 39) verlassen will – dies wird schließlich als erstes Resümee aus den Erfahrungen der wiedergeborenen Dichterin in den Roman integriert. Die Poesie der Straße soll ihr neues Dichten inspirieren: „Die Phantasie an die Macht“ (S. 71). Man soll eine „in Freiheit gesetzte utopische Sprache“ hören und lesen, und die Dichterin – als moderne Trobadora – soll „Arbeitern und Studenten singen.“ (S. 70) Freilich, als die Trobadora in Paris anfängt, entzieht sich ihr die Stadterfahrung: „Paris, aber was ist das?“ Die Straßen jedenfalls „gehörten keineswegs den Menschen, sondern den Autos“ (S. 72). Erst mit der begeisterten Schilderung des Reporters Uwe Parnitzke aus der DDR erhält Beatriz die Perspektive für ihren weiteren Lebensweg: „Der Mai 1968 in Frankreich“, so erklärt ihr dieser Gewährsmann, „war keine verratene oder verlorene Revolution. Er war der Versuch einer Revolution in ihren aufeinanderfolgenden Phasen: Zunächst die plötzliche Revolte einer einflußreichen Minderheit. Dann der Beginn eines gemeinsamen Kampfes. Dann, jedoch vor dem Sturz der Macht, während das Proletariat die Arbeit niedergelegt hatte, das Spiel der Gegensätze zwischen den Klassen und Schichten, die sich für die Revolution hätten verbinden können. Schließlich, eben
33 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, „Die Phantasie an die Macht“. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt am Main 1995.
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weil diese Gegensätze weder überwunden noch beseitigt werden konnten: die Entscheidung des intakt gebliebenen Machtapparates.“ (S. 100)
Und so reist sie denn „ins gelobte Land“ des Sozialismus, die DDR (S. 108). Irmtraud Morgner präsentiert damit eine Variante der DDR-‚Ankunftsliteratur‘, die deren Muster beibehält, aber es in die großen historischen Abläufe projiziert. Während die etablierte Ankunftsliteratur von den Schwierigkeiten Einzelner handelt, ihr historisch zurückgebliebenes Bewusstsein und Verhalten im neuen Staat DDR zu überwinden – und damit in diesem Staat wahrhaft anzukommen –, wird die Trobadora zu einer Figur der Kontrasterfahrung zwischen Feudalismus und Sozialismus. Dabei wird auch das kritische Potential, das dieser Thematisierung eines Übergangs ohnehin innewohnt, noch einmal deutlich vergrößert. Denn die ‚neue’ Welt erweist sich nicht in jeder Hinsicht als bessere. Die Berufstätigkeit und Emanzipation der Frau einerseits, das Eigenrecht des Poetischen andererseits, benennen Probleme, an denen Beatriz letztlich auch scheitert. Der euphorisierende Aufbruch von 1968 mündet für die Trobadora nicht in die Ankunft in eine neue Welt. Im Widerspruch zu der Imagination Irmtraud Morgners steht die biografische Erfahrung Florian Havemanns. Hebt Morgner die Gemeinsamkeiten des Aufbruchs in Ost und West hervor, so erfährt Havemann die Unterschiede, die freilich auch strukturell begründet sind.34 Als eine insbesondere von jungen Intellektuellen vorangetriebene Bewegung hat sich der Aufbruch von 1968 in den westlichen Industriestaaten zwar nicht zu einer Revolution gesteigert, wie dies einige Protagonisten erhofften; die 1968er hatten gleichwohl Erfolg: Sie erreichten einen Wandel der politischen Kultur, der weit in die Lebenswelt ausstrahlte.35 Für die Akteure bedeutete dies, dass ihnen die schroffe Oppo34 Heinz Bude vermutet in einer zugespitzten These, dass sich erst mit der unterschiedlichen Erfahrung von ‚1968‘ die beiden Teile Deutschlands vollends auseinanderentwickelt hätten: „Das Fehlen der Kulturrevolte ist dafür verantwortlich, daß die DDR in der deutschen Tradition des tragischen Ernstes verhaftet geblieben ist und den Anschluß an die westliche Kultur der ironischen Leichtigkeit verloren hat.“ (Heinz Bude, Das Altern einer Generation, Frankfurt am Main 1995, S. 2). Vgl. dazu das Zeugnis von Annette Simon in ihrer Besprechung Kluge Kinder (wie Anm. 6): „Denn wir glaubten an diese Linken [die ‚gleichaltrigen Westlinken‘], naiv und bewundernd, unsere Solidarität gehörte ihnen.“ In Klammern fügt Simon hinzu: „Im Rückblick kommt mir diese Bewunderung besonders merkwürdig vor, interessierte sich doch die Mehrheit dieser Linken fast gar nicht für uns und unser reales Leben in der DDR, von Solidarität ganz zu schweigen“. Vgl. dazu die Übersicht zu den Erfahrungen der aus der DDR exilierten dissidenten Schriftsteller mit den ‚Westlinken‘ in meiner Studie: Literatur „zwischen den Staaten“. Deutsch-deutsche Exilerfahrung nach 1945, in: Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik, hrsg. von Walter Schmitz u. Jörg Bernig, Dresden 2009, S. 7–100, hier S. 83. – Weiter dann auch unten zu ‚1989‘ als Einlösung von ‚1968‘. 35 Vgl. zur Diskussion Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, sowie Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung. Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums,
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sition gegen das ‚Establishment‘, wie sie es nannten, den Weg zu neuen Formen gesellschaftlicher Etablierung und gesellschaftlichen Erfolges bahnte. Dies alles war so in der regulierten Öffentlichkeit der DDR nicht möglich. Dort, so bilanziert Dunja Welk kurz und bündig die Ost-West-Differenz, „politische Bewegung, hier mit ästhetischen Mitteln vorgetragene Kritik an Stillstand und Stagnation“.36 Wer sich hingegen, so wie die Reformer in Prag, konsequent für einen sozialistischen Gesellschaftsentwurf einsetzte, sah sich mit einer Staatsmacht konfrontiert, deren Legitimation ja eben auf der vorgeblich bereits gelungenen Einlösung eines solchen Gesellschaftsentwurfs basierte. ‚1968‘ bedeutete in den Staaten des Warschauer Paktes den Weg in die Dissidenz. Dies wurde den 68ern im Westen – trotz zeitweilig heftiger Debatte um Berufsverbote in der Bundesrepublik – letztlich nicht abverlangt. Als Florian Havemann etwa im Jahr 1971 „in den Westen ging und dort auf die Reste von 68 und damit auf Leute traf, mit denen ich sehr wenig anfangen konnte (umgekehrt war das genauso), war das für mich eine wichtige Frage, herauszufinden, was denn dieses 68, zu dem ich mich in meiner kleinen DDR-Opposition bis dahin gezählt hatte, überhaupt gewesen sei. Mit den 68ern selbst war darüber wenig zu reden, ihre Selbstreflexion war gering“.37
Die Frage, „ob unser Ost-68 nur als Ausläufer, als Dependance des westlichen 68 zu gelten“ habe, lässt sich für Florian Havemann nicht entscheiden; er habe sich, wie er weiter ausführt, „auch gefragt, ob unser 68 nur zufällig mit dem westlichen 68 zusammenfiel und wir unser eigenes, originäres 68 vollzogen haben, das mit dem westlichen nicht viel zu tun hatte, oder ob hier wirklich gemeinsame Anliegen existierten, parallel wirkende Ursachen und Motive“.38 Mit der Okkupation der ČSSR jedenfalls splittert die 68er-Bewegung in der DDR, wenn es sie überhaupt so einheitlich gegeben hat, in heterogene Muster des
Frankfurt am Main , 1.5.–31.8.2008 , hrsg. von Andreas Schwab, Essen 2008 und 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, hrsg. von Ingrid Gilcher-Holtey, Göttingen 1998 (darin u.a. die Beiträge von Jakob Tanner, „The Times They are A-Changin’“ – Zur subkulturellen Dynamik der 68er Bewegungen, S. 207–223 und Kristina Schulz, Macht und Mythos von „1968“: Zur Bedeutung der 68er Protestbewegungen für die Formierung der neuen Frauenbewegung in Frankreich und Deutschland, S. 256–272). 36 Dunja Welke, „Jene Erschütterung im August“. 1968 in der DDR Literatur. Sendung von Deutschlandradio-Literatur 12.08.2008, in: http://www.dradio.de/download/88656/ S. 15. 37 Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 861. – Havemanns Zeugnis steht hier als ein, nicht einmal besonders repräsentatives, Beispiel für zahlreiche Zeugnisse von DDR-Dissidenten, die im bundesrepublikanischen Exil ihre Schwierigkeiten mit den ‚Westlinken‘ hatten, deren Sympathie eher dem sozialistischen Staat als seinen Widersachern gehörte; vgl. meine Studie: Literatur „zwischen den Staaten“ (wie Anm. 34), S. 43 u.ö. 38 Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 859f.
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Verhaltens, der Wahrnehmung und der Verarbeitung dessen, was ‚68‘ weiterhin bedeuten sollte.
IV. Aufbruchshoffnungen Geeint hat die West- wie die Ost-68er eine Euphorie des Aufbruchs, die Emphase der Veränderung. „Prag wurde zum Synonym für Hoffnung“, resümiert Friedrich Schorlemmer.39 „In jenem Jahr blickten wir Ost-68er alle nach Prag. Dort keimte nicht nur, dort wuchs schon die Hoffnung.“40 So im Rückblick Bernd-Lutz Lange. Wolf Biermann erinnert sich an eines seiner Konzerte, erst im August 1976, in einer Kirche in Prenzlau, als er, der hier sein Auftrittsverbot brach, „halb besoffen von den Achtundsechziger Hoffnungen“ gewesen sei: „Es duftete mal wieder nach Prager Frühling, nach roter Freiheit. Und ich staunte nicht schlecht, als ich in die Kirche kam: Gerammelt voll! Ich sang mein Flori-Have-Lied [das den Mut des Aufbegehrenden preist, ihm freilich auch die spätere Flucht ‚in den Westen‘ vorwirft], las Gedichte vor. Ich redete gegen das Abhaun, predigte für das Dableiben, ich warb für einen wahren Sozialismus, und ich wetterte gegen den realen Antikommunismus unserer realistischen Kommunisten in der Parteiführung …“41
Im Prager Frühlingsjahr 1968 schuf Peter Graf, mit Biermann und dessen Kreis bekannt, sein Gemälde Übers Malen im Jahr 68. Graf war 1957 nach einer Kontroverse mit dem Kulturminister Johannes R. Becher von der Kunsthochschule Berlin-Weißensee exmatrikuliert worden: „Es ging um Kunst – nicht mehr, aber weniger auch nicht.“42 Der Maler Peter Graf hatte in der DDR seinen Weg als nicht vergesellschafteter Künstler gehen können und müssen und so vor allem Kontakte zu und Freundschaft mit jenen gewonnen, die sich als Künstler und Intellektuelle nicht mit diesem Staat identifizieren wollten.43 Sein 68er-Gemälde ist ein Atelierbild. Links, in halber Rückenansicht, der Maler vor einem Gemälde; rechts eine junge Frau in einem biedermeierlich anmutenden Kleid, die offenbar eingeschlafen ist und ihren Kopf mit dem Arm abstützt. Vor ihr auf dem Tisch liegt – wie Schorlemmer, Das Land ist still (wie Anm. 10), S. 149. Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 9), S. 285. Wolf Biermann, Wie man Verse macht und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen, Köln 1997, S. 241f. Jörg Bernig, Gevatter Tod, die Schöne und der Dickhäuter. Peter Graf zeigt in der Villa Eschebach die Schau „Überall ocker“ mit Gemälden und Plakaten, in: Sächsische Zeitung, 7. April 2009. 43 Ich danke Jörg Bernig für die Überlassung seines Manuskriptes Die Freiheit und das Blau. Zur Eröffnung der Ausstellung „Überall ocker“ von Peter Graf (am 7. April 2009 in der Villa Eschebach, Dresden). Alle folgenden einschlägigen Zitate stammen aus diesem Manuskript oder Jörg Bernigs Notizen eines Gesprächs über das Bild Über das Malen im Jahr 68 vom 27. Januar 2010 (wie Anm. 11). 39 40 41 42
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ein offenes Füllhorn – eine Farbtube. Der Maler arbeitet an einer Landschaft am Meer mit zwei Frauen. Es handelt sich um ein Bild, das Peter Graf dann tatsächlich um diese Zeit geschaffen hat. Das ist nicht das einzige Selbstzitat in Übers Malen im Jahr 68, sondern rechts oben wird auch sein Gemälde Mädchen mit Lupe von 1966 in die Atelierszene aufgenommen. Die Lupe hat Graf als optisches Verfremdungselement kennen gelernt, und die malerische Verfremdung wird zudem für ein weiteres Porträt genutzt, das sich im Bild Übers Malen im Jahr 68 findet, nicht jedoch im Œuvre-Katalog von Peter Graf. Es ist ein auf den Kopf gestelltes Porträt von Wolf Biermann, das es außerhalb der Atelierszene gar nicht gibt. „Peter Graf malte von früh auf und malt immer wieder“, so notiert Jörg Bernig aus einem Gespräch mit dem Künstler,44 „,verkehrt herum‘, stellt zum Betrachten seine Bilder während der Arbeit an ihnen auf den Kopf. Er meint, das hätten die Alten auch schon immer so gemacht. Durch das Auf-den-Kopf-Stellen bzw. -Malen werde aus dem Bild sogleich ein abstraktes. Dazu zitierte er sinngemäß aus einem Wilhelm-Busch-Gedicht [...]: Bilder die man aufhängt umgekehrt Ändern sich gar wunderlich im Wert … weil sie in das Reich der Phantasie erhoben.“
Auf diesem imaginären Porträt trägt Wolf Biermann, dessen Existenz offenbar eben ,auf den Kopf gestellt‘ wird, eine Elbseglermütze und eine Friedenstaube auf dem Kopf, die diejenige von Picasso zitiert. „Man muß wissen,“ so nochmals Jörg Bernig, „daß Graf stets ein großer Bewunderer von Picasso war und ist und daß Graf, wie er mir sagte, politische Aussagen nicht verschlüsseln wolle, weil sie dann ja nur von denen erkannt werden könnten, die sowieso schon um sie wüßten.“45 Mit der schlummernden Frau am Tisch, es ist Peter Grafs erste Frau, Jetty Graf, gelangt der Alltag der Grafs ins Bild. „Beide“, so Peter Graf zu Jörg Bernig, „seien sie ja von früh bis abends berufstätig gewesen (Peter Graf u.a. als Lastwagenfahrer) und an den Abenden oft völlig erschöpft. Im Angesicht und trotz der eigenen Erschöpfung aber habe Peter Graf dann doch wieder und wieder gemalt.“ Die Exmatrikulation von der Kunsthochschule im Jahr 1957 implizierte ja – frei nach dem Kästner-Vers: ‚Zählt die Arbeit zu den Strafen‘ – „auch die Bestrafung mit Arbeit. (Und entlarvte en passant und ungewollt einmal mehr das Verhältnis der Führer des Arbeiter- und Bauern-Staates zur Arbeit. Das hieß entweder ‚Bewährung in der Produktion‘ oder – beim Militär – ‚Arbeitsverrichtung außer der Reihe‘.) Es sollte Peter Grafs Freiheit beschnitten werden, indem man ihn in die Unfreiheit einer abhängigen Lohnar44 Aus dem Gespräch vom 27. Januar 2010 (wie Anm. 11). 45 Das Bild Übers Malen im Jahr 68 befindet sich heute in Privatbesitz; „Wolf Biermann gefiel Übers Malen im Jahr 68 derart, daß er sich ein Foto in Originalgröße anfertigen ließ. Dieses Foto hängt nach Peter Graf in Biermanns Wohnung.“
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beit preßte. Damit aber entging Peter Graf den Ketten des DDR-Kunstbetriebes, er befand sich außerhalb davon, er hatte von ihm nichts zu erwarten und so auch nichts zu verlieren. Peter Graf gelangte aber gerade auf diese Weise zu jener Freiheit, die ihm durch den verweigerten Eintritt in die offizielle Kunstwelt verwehrt werden sollte.“46
Unter das Zeichen der Freiheit stellt Graf dann diese Atelierszene Übers Malen im Jahr 68. Denn über allem schwebt hier eine nackte allegorische Figur, die den Blick auf das Bild des Malers – die Landschaft am Meer mit zwei Frauen – richtet. Das Haar der allegorischen Figur weht, und auch die Flagge, die sie trägt – es ist die der Tschechoslowakei – wird offenbar vom Wind bewegt. Diese „mit der tschechoslowakischen Trikolore ausgestatte Figur auf Grafs Übers Malen im Jahr 68 verdankt sich einem Bild Rousseaus“: „Die Freiheit begrüßt die Künstler zu einer Ausstellung der unabhängigen Künstler“.47 Die Freiheit trägt dort die französische Trikolore. Und diese weht nach fast einhundert Jahren wiederum in dem von Peter Graf, dem ‚freien’ Künstler in der DDR, 1966 geschaffenen Bild Über das Malen nach der Arbeit. Peter Graf spricht von ihr als einem „Musenengel“48; offenbar ist dies ein Modell der Inspiration. Von Über das Malen nach der Arbeit fliegt die allegorische Figur dann auf das Bild Übers Malen im Jahr 68. Und die historische Entwicklung verlangt in einer West-Ost-Passage nach jener Verwandlung der Trikolore der 1789er Revolution in die Staatsfahne der Tschechoslowakei von 1968. Anders als bei Rousseau sind aber auf Grafs Bild die Flügel der allegorischen Figur schwarz. Wohl verkörpert sie den Aufbruch im Nachbarland, gewiss als Allegorie der Freiheit – aber einer Freiheit, deren schwarze Flügel eher zu einem Todesengel passen würden. Für Peter Graf ist sie Ausdruck der Hoffnung und der Idee eines demokratischen Sozialismus, deren Faszination für ihn bis heute nichts verloren hat. Er sehe sie aber eher philosophisch und nicht ökonomisch, spezifizierte er im Gespräch mit Jörg Bernig. Vor der vom sozialistischen Alltag ermatteten Frau auf dem Tisch liegt „eine Farbtube, der die Spitze abgeschnitten ist. Es quillt rote Farbe heraus als Sinnbild eines möglichen Anfangs von etwas, und so schleicht sich auch von da ein wenig Hoffnung ein.“
46 Bernig, Die Freiheit und das Blau, Ms. (wie Anm. 43), S. 2. 47 Liberty Inviting Artists To Take Part In The 22nd Exhibition Of The Societé Des Artistes Independants 1905, oil/canvas 175 x 118 cm, The National Museum of Modern Art Tokyo. 48 Zum ersten Mal hat er das Rousseau-Bild Mitte der sechziger Jahre auf einem Plakat gesehen, das bei Winnie Dierske (ebenfalls Maler und Freund Grafs) hing. Es war ein Plakat zur Ausstellung Das naive Bild der Welt in Westdeutschland (Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt am Main, 16.9.–19.10.1961). Graf schrieb wegen des Plakats drei Ausstellungsorte an und erhielt das Plakat schließlich aus Hannover zugesandt. Seither hing es in Grafs Wohnung, wo er nach seinem Arbeitstag als LKW-Fahrer die allegorische Figur auf dem Rousseau-Bild für sich als „Musenengel“ interpretierte, der ihn einerseits (und wirklich) zum Malen inspirierte und andererseits als die Freiheit der Kunst erschien.
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Peter Graf: „Übers Malen im Jahr 68“ (1968), Öl auf Hartfaser, Sammlung Jetti Graf, Berlin, mit freundlicher Genehmigung
Dass man eine „höhere Stufe des Sozialismus“49 erreichen könne – und müsse –, davon war damals auch der junge Historiker an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Hartmut Zwahr, überzeugt; auch Thomas Brasch war 1968 noch „jemand, der sich wirklich für dieses Land interessierte, die DDR liebte.“50 Wolf Biermann hegte „die Illusion, es müßten sich innerhalb der SED-Führung Kräfte der Erneuerung versteckt halten, verkappte Reformatoren im Zentrum der Macht. Ich hoffte auf Ketzer wie Chruschtschow, wie Dubček, wie später Gorbatschow, also wahre Kommunisten [...].“51 In jenem 68er Sommer hatte er das Lied In Prag ist Pariser Kommune geschrieben, das dann die jungen Rebellen um Brasch und die Brüder Havemann mit ihrer Flugblattaktion publik machten:52
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Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 2. August 1968, S. 86. Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 235. Biermann, Wie man Verse macht (wie Anm. 41), S. 242. Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln 1991, S. 209; wieder abgedruckt in: Biermann, Wie man Verse macht (wie Anm. 41), S. 261f. – Vgl. Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 1010. – Zur Deutung und Wertung Jäger, Die abwartende Hoffnung (wie Anm. 9), S. 112f.
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In Prag ist Pariser Kommune, sie lebt noch! Die Revolution macht sich wieder frei Marx selber und Lenin und Rosa und Trotzki stehen den Kommunisten bei Der Kommunismus hält wieder im Arme Die Freiheit macht ihr ein Kind, das lacht das leben wird ohne Büroelephanten von Ausbeutung frei und Despotenmacht Die Pharisäer, die fetten, sie zittern, und wittern die Wahrheit. ES KOMMT SCHON DER TAG AM GRUNDE DER MOLDAU WANDERN DIE STEINE – es liegen vier Kaiser begraben in Prag Wir atmen wieder, Genossen. Wir lachen Mensch, wir sind stärker als Ratten und Drachen! Und hattens vergessen und immer gewußt.
Als die wahren Erben jenes revolutionären Geistes konnten sich kommunistische Intellektuelle in der DDR durchaus begreifen – zumindest so lange, bis die Warschauer Paktstaaten diese Neuauflage der ‚Pariser Kommune‘ in Prag beendeten. Marx, dessen Frühschriften in der DDR nur mit Verlegenheit zugelassen worden waren, wird als Urvater einer anderen undogmatischen Tradition berufen, die über Rosa Luxemburg bis zu Trotzki führt und schließlich als Vorgeschichte des Prager Aufbruchs kenntlich wird. Doch Biermann erweckt auch die Sprache der Kommune zu neuem Leben, so, wie er ihre Botschaft wiederkehren lässt. Die ‚Kunst, zu erben’ ist eine Kunst der Vergegenwärtigung. Und deren Medium ist nicht nur die Sprache schlechthin, sondern vor allem die Sprache der Poesie. Die Erotik des Politischen in der zweiten Strophe von Biermanns Lied schließt an die Metaphernsprache der politischen Lyrik Heinrich Heines an, zu dessen Nachfolge sich Biermann auch immer wieder bekannt hat. Die dritte Strophe schließlich führt diese Linie weiter, mit einem – leicht variierten – Zitat aus jenem 1968 oft zitierten Lied von der Moldau in Brechts Drama Schweyk im Zweiten Weltkrieg.
V. Protest – Repression – Enttäuschung „Der politische Orientierungspunkt für uns im Osten war“, so erinnert sich Anette Simon, „vor allem der Versuch, den Sozialismus in der ČSSR zu demokratisieren, das Trauma der Achtundsechziger der DDR war die Okkupation dieses Landes im August 1968.“53 53 Simon, Kluge Kinder (wie Anm. 6).
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Melancholische Bilder hatte Wolf Biermann 1968, während in Prag ein neuer Frühling des Sozialismus anbricht, in seinem eigenen Land heraufbeschworen – „eine schmutziggraue Idylle“, „Lethargie und Provinzialität“: 54 Fabrikschlote wuchern drüben am Hang Rauchnasen laufen den Windweg lang. [...] Die Schieferdächer schachteln sich wirr Geklammert an Essen mit Eisengeschirr Starrt das Antennengestrüpp nach West [...] [...] Das Land ist still Die Menschen noch immer wie tot Still. Das Land ist still. Noch.
Das schien die Stille vor dem Sturm zu sein. Aber auch, nachdem die vereinigten Armeen in Prag für ‚Ruhe und Ordnung‘ gesorgt hatten, war die Stille im Lande DDR nicht beruhigend. Der Refrain, der auf eine prärevolutionäre Situation zielt, bleibt als Fanal eines überfälligen neuen revolutionären Aufbruchs in der DDR bestehen.55 Offener Protest gegen die Okkupation allerdings war rar in der DDR – und galt den meisten als unmöglich. Aber die „Wut wuchs“, schildert Bernd-Lutz Lange die Stimmung damals: „Wie konnte man im Politbüro annehmen, daß wir diese in Funktionärsdeutsch abgefaßten Lügen glauben würden? Das durfte man sich doch nicht alles gefallen lassen! Man mußte etwas tun. Aber was?“56 „Unter der Oberfläche rollt eine Welle der Sympathie“, notiert der Historiker Hartmut Zwahr zum Zeitgeschehen, „bangt ein großer Teil der Jugend mit den Tschechen. Wie es in anderen Kreisen steht, ist schwer zu beurteilen.“57 Der junge Gerald Zschorsch hatte sich „1968 im Zentrum von Plauen mit einer Gitarre
54 Wolf Biermann, Noch, in: Mit Marx- und Engelszungen. Gedichte, Balladen, Lieder. Berlin 1968, S. 79. – Roger Mehlis führt diese Verse in der ‚Vorbemerkung‘ seiner Werkübersicht an: In einem stillen Land. Photographien 1965–1989, Leipzig 2007, S. 5–9, hier S. 9. Mit dem Mauerbau, so schreibt Roger Mehlis, sei „die Zeit endgültig zum Stehen“ gebracht worden (ebd., S. 5). – Vgl. nochmals Jäger, Die abwartende Hoffnung (wie Anm. 9). 55 Diese Formel wird häufig verwendet, so z.B. bei Schorlemmer, Das Land ist still (wie Anm. 10) und in „Das Land ist still – noch!“ (wie Anm. 31). 56 Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 9), S. 321. 57 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 17. Juli 1968, S. 68. – Vgl. aber noch die Einschätzung ebd., 16. Februar 1969 , S. 253: „Weil bei uns so viele für euch waren, mußten unsere marschieren.“
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hingestellt und selbstverfaßte Lieder vorgetragen.“58 Thomas Günther, ein Abiturient aus Schneeberg, hatte auf einem Literaturabend mit Gleichgesinnten Brechts Verse rezitiert:59 Am Grunde der Moldau wandern die Steine, es liegen drei Kaiser begraben in Prag. Das Grosse bleibt gross nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. Und gehen sie einher auch wie blutige Hähne, es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.
Günther wurde ein Jahr nach dem Einmarsch zu 27 Monaten Haft verurteilt, und zwar als Mitglied einer staatsfeindlichen Gruppe, Gerald Zschorsch wurde aufgrund des Vortrags seiner Gedichte im „Zuchthaus Cottbus“ interniert.60 Für Florian Havemann war mit seiner Protestaktion abrupt jene Lebensphase beendet, die er rückblickend resümiert: „ich werde im hochpolitisierten Osten groß, will Künstler werden, mische mich dann dort aber auch politisch ein, was zur Folge hat, dass ich 1968 wegen staatsfeindlicher Hetze ins Gefängnis komme.“61 Auch einige führende Genossen wurden gemaßregelt. Horst Brasch wurde all seiner Funktionen enthoben.62 „Das sei nur richtig,“ so hält Zwahr die Auffassung eines überzeugten Parteigenossen fest, „wer nicht in der Lage sei, in der eignen Familie Ordnung zu schaffen, könne nicht solche Funktionen inne haben.“63 Für die Intellektuellen insbesondere waren, dem Muster nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 gemäß, Repressionen zu erwarten. „Das Signal zum Aufbruch in das Jahr der großen Veränderungen“, so hatte es Hartmut Zwahr wahrgenommen, „ging von den Schriftstellern aus.“64 Mochten andere DDR-Bürger „den Einmarsch ‚gut f[i]n58 Zschorsch, Interview (wie Anm. 14), S. 199. 59 Vgl. Lindner, Enttäuschte Hoffnungen (wie Anm. 1), S. 127; laut Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 9), S. 337 seien diese Verse „wie eine Weissagung“ zu lesen. Zu dem ebenfalls zu Gefängnis verurteilten Bernd Eisenfeld vgl. wiederum Lindner, ebd.; eine weitere Fallstudie bietet Michael Hofmann, Das Ende des Eigen-Sinns. Leipziger Metallarbeiter und die Ereignisse des Jahres 1968, in: 1968 – Ein europäisches Jahr (wie Anm. 31), S. 89–94. 60 Zschorsch, Interview (wie Anm. 14), S. 199. – Vgl. Rudi Dutschke, Wenn Mütter sterben, müssen Kinder weiterleben – Aber wie? Vorwort, in: Zschorsch, Glaubt bloß nicht daß ich traurig bin (wie Anm. 14), S. 7–16, hier S. 11f.; außerdem zu den Repressionen auch die Übersicht bei Mittenzwei, Die Intellektuellen (wie Anm. 28), S. 251f. 61 Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 129. 62 Vgl. die Notiz bei Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 2. Dezember 1968, S. 214. 63 Ebd., S. 214. 64 Hartmut Zwahr, Rok šedesátý osmý. Das Jahr 1968. Zeitgenössische Texte und Kommentar, in: 1968 – Ein europäisches Jahr (wie Anm. 31), S. 111–123, hier S. 112.
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den‘“, weil diese Truppen „den Sozialismus und den Frieden gerettet haben“,65 mochte es gar eine „Flut von Zustimmungserklärungen“ geben,66 – gerade unter den Schriftstellern musste diese Okkupation für viele – laut Günter Kunert67 – doch „’ne ganz, ganz trostlose Geschichte“ sein, „eine ziemliche Katastrophe“. „Und welche Hoffnungen haben wir auf das ‚Modell’ ČSSR gesetzt!“68 sekundiert Brigitte Reimann. „Ein Schock“, heißt es in ihrem Tagebuch: „Den ganzen Vormittag klingelte das Telefon [...]. Habe den ganzen Tag am Radio gesessen und die Nachrichten gehört. DDR-Sender berichteten nichts, verlasen nur immer wieder die TASS-Erklärung und den SED-Aufruf an die Bürger – verlogenes Geschwätz von Freundschaft und Bruderhand und Liebe zum tschechischen Volk – während in Prag und Pilsen und allen Städten der ČSSR die Panzer rollen. [...]Dubček und die führenden Leute sind verhaftet oder verschleppt, wer weiß, man erfährt nichts über ihr Schicksal. [...] Unfaßbar, daß immer noch, immer wieder mit diesen Methoden des Stalinismus gearbeitet wird. [...] Wir sind so erbittert – kein Vertrauen mehr (falls wir jemals diese Sorte ‚Vertrauen‘ hatten). Geplante Reise nach N. aufgeschoben, bin wie gelähmt.“69
„Bedrückt und empört“ vergleicht Reimann das, was „die Schriftsteller in der ČSSR dazu beigetragen haben, daß man jetzt dort versucht, die Ideen einer sozialistischen Demokratie zu verwirklichen“, mit der „Lethargie und dem Desinteresse“ im Schriftstellerverband der DDR;70 nur wenige weigerten sich, dessen Ergebenheitsadresse an die Leitung von Staat und Partei zu unterschreiben.71 Zu ihnen gehörte Christa Wolf; sie veröffentlichte 65 Schorlemmer, Das Land ist still (wie Anm. 10), S. 154. 66 Reimann, Alles schmeckt nach Abschied (wie Anm. 18), S. 214 (Tagebuchnotiz vom 21. August 1968). – Vgl. auch Zwahr, Rok šedesátý osmý (wie Anm. 64), S. 119f. 67 Günter Kunert, zit. n. Welke, Jene Erschütterung im August (wie Anm. 36), S. 2. 68 Reimann, Alles schmeckt nach Abschied (wie Anm. 18), S. 214 (Tagebuchnotiz vom 21. August 1968). 69 Ebd. 70 Ebd., S. 215 (Tagebuchnotiz vom 15. September 1968); Jäger, Die abwartende Hoffnung (wie Anm. 9), S. 123. Des weiteren vgl. auch die Zustimmungserklärungen aus der Leipziger Universität, sowie weitere Zeugnisse bei Zwahr, Rok šedesátý osmý (wie Anm. 64), bes. S. 119f. 71 Vgl. Abdruck: Schriftstellerverband der DDR, in: Die Zeit, 30.8.1968; Jäger, Die abwartende Hoffnung (wie Anm. 9), S. 122ff. – Noch 1987 erscheint der letzte Band von Erik Neutschs Tetralogie Der Friede im Osten. Nahe der Grenze (Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1987), dessen erster Satz lautet: „Wir schrieben das Jahr 1968.“ Im Folgenden schwenkt die Erzählung immer wieder auf „Das Lager im Gebirge“, wo der Schriftsteller Achim Steinhauer mit den dort, an der Grenze zum Nachbarland, in Wartestellung liegenden NVA-Soldaten weilt. Die Ereignisse vom August 1968 und auch brisante Themen werden nicht vermieden: „Weil es erneut wir Deutschen sind, die die Tschechoslowakei besetzen. Und genau das gießt Wasser auf die Mühlen jener, die uns nicht mögen, die uns verachten.“ (S. 175) Die Wirren lösen sich; der Schriftsteller kehrt zu seinem früheren Metier, der Biologie zurück: „Eingriff in die Gene. Vielleicht sogar den Menschen ändern, in jedem Fall die Welt. Ein weites Feld tat sich vor ihm auf.“ (S. 338)
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eine eigene Stellungnahme im Neuen Deutschland. Dort bekennt sie sich zum Sozialismus als einziger Lösung in „all den erbitterten Kämpfe[n], in denen die Widersprüche unseres Jahrhunderts sich ausdrücken“, rekapituliert in einem zweiten Punkt die Standardvorwürfe der DDR-Propaganda gegen den Westen und äußert drittens und abschließend ihre „Wünsche für die sozialistische Tschechoslowakei“, die den Status quo zwar anerkennen, aber zugleich bekräftigen: „Es besteht Hoffnung, dass die Vernunft sich durchsetzen lässt.“72 Heikel war jede Äußerung, stand doch seit dem Bau der Mauer und besonders eben seit der Okkupation der ČSSR für intellektuelle Dissidenten durchaus „das Gefängnis zur Debatte“.73 Wolf Biermann versteckte sich denn auch vorsorglich in Dresden bei Freunden.74 Günter Kunert erläutert stellvertretend für viele die vorsichtige Zurückhaltung in der Öffentlichkeit: „das heißt, ich hätte mich dann mit anderen in Bautzen wiedergefunden, z.B. mit Thomas Brasch. Das Risiko war einfach zu groß und hätte keinem genutzt.“75 Wohl hatten etliche unter den „Schriftstellern und Intellektuellen in der DDR [...] wider alle Vernunft die Illusion“ gehegt, „es würde ein bisschen etwas vom ‚Prager Frühling‘ auch nach Ost-Berlin dringen.“ Nicht gerechnet aber hatten diese Zuversichtlichen damit, „dass auf eine so barbarische Art diese Reformbewegung abgewürgt würde.“76
72 Zit. n. Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, Reinbek b. Hamburg 2003, S. 207, dort S. 206ff. – Vgl. zudem Horst Domdey, Konflikt zwischen Reform und Machtsicherung. Christa Wolf und ‚Prag 68’, in: Es genügt nicht die einfache Wahrheit, S. 101–110; Domdeys These – „Aber unsinnig im reformsozialistischen Sinn war es nicht, die Reform in der ČSSR zu vernichten. Es kam 1968 auf kleine Schritte an, auf die Dosierung der Reform.“ (ebd., S. 110) – scheint mir einer kritischen Überprüfung zu bedürfen. 73 Dutschke, Wenn Mütter sterben (wie Anm. 60), S. 11. 74 Aus dem Gespräch von Jörg Bernig mit Peter Graf, 27. Januar 2010 (wie Anm. 11). 75 Günter Kunert, zit. n. Welke, Jene Erschütterung im August (wie Anm. 36), S. 17. – Gelegentlich wird der Roman Sechs Tage Sylvester von Joachim Walter (bei Elke Mehnert, Keine Ersatzöffentlichkeit. Die Spuren von Prag 1968 in der DDR-Literatur, in: Horch und Guck 16 [2007], H. 2, S. 20– 23, hier S. 20 u. bei Welke, Jene Erschütterung im August [wie Anm. 36], S. 20) ebenfalls in diesem Kontext genannt, aber zu unrecht. Die Handlungszeit sind sechs Tage im Jahr 1967; der Prager Frühling als Thema und Motiv spielt keine Rolle. Der Roman stellt sich in die Nachfolge von Hermann Kant und die Erzählhaltung der Anrede an die Hauptfigur ist von derselben Funktionärsbonhomie geprägt; es handelt sich um ein Werk der Ankunftsliteratur. Allerdings würde sich diese Ankunft wohl 1968 ereignen, also gleichsam, wenn man die Deutung so weit treiben will, eine DDR-Alternative zur 1968er Bewegung im Nachbarland oder andernorts bilden. Abzuleiten ist dies aus dem komplizierten Namenscherz: Sylvester, das hier sechs Tage dauert. „Sylvester“ ist nicht nur der Name der Hauptfigur, deren Entwicklung nach dem Studium in der sozialistischen Wirklichkeit (samt sozialistischer Eheschließung auf Hiddensee) geschildert wird, sondern eben auch die Vorbereitung auf Neujahr, das dann 1968 einleitet (vgl. Joachim Walter, Sechs Tage Sylvester, Berlin 1970, S. 46), . 76 Günter Kunert, zit. n. Welke, Jene Erschütterung im August (wie Anm. 36), S. 3.
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Die Zweifel an der Heimatlichkeit der sozialistischen Heimat wuchsen angesichts der Brutalität dieses neuerlichen Eingreifens der Staatsmacht gegen das Volk – nach 1953 in Berlin, nach 1956 in Ungarn. Für einen Autor wie Franz Fühmann, dessen Tochter Bärbel zudem mit Frank Havemann und Wolf Biermann befreundet und die daher den entsprechenden Repressionen an ihrer Ost-Berliner Oberschule ausgesetzt war, wuchs die Einsicht, dass sich jene Theorie eines „Heimatfindens“, von der sein Schreiben bislang ausging, „als eine Fiktion erwiesen“ habe: „ich weiß jetzt mehr denn je, daß Böhmen meine Heimat ist.“77 „Das Jahr 1968 wurde für mich und meine gesamte Generation“, so resümiert Friedrich Schorlemmer, „zu einem geistig-politischen Schlüsseljahr.“78 Jener 20. August 1968 hatte – so heißt es weiterführend im Fazit von Siegmar Faust – „nicht nur für die Menschen in der ČSSR die Welt“ verändert: „Auch in der DDR starben mit dem Kettenrasseln der sowjetischen Panzer, die den Prager Frühling niederwalzten, viele Hoffnungen.“79 In dieser lapidaren Bilanz bündelt sich ein ganzes Spektrum von Reaktionsweisen und Lebensläufen, die sich dann, nachdem sie in diesem einen Punkt zusammengezwungen waren, freilich bald wieder diversifizierten. Siegmar Faust selbst hat gelegentlich auch die unterschiedlichen Akteure namhaft gemacht: „Unter dem aufblühen und vielmehr noch unter den folgen des PRAGER FRÜHLINGS veränderten sich ab 1968 für viele, besonders für künstlerisch ambitionierte bürger der Deutschen Demo... die biografien. Wolf Biermann bangte in diesen tagen um sein leben und versteckte sich; Reiner Kunze trat demonstrativ aus der SED aus; Bettina Wegner, Sandra Weigel, Thomas Brasch, Florian und Frank Havemann und an anderer Stelle Gerald Zschorsch verteilten flugblätter gegen den einmarsch der Warschauer pakttruppen in die ČSSR und wurden prompt verhaftet. Auch das reifer gewordene wunderkind der deutschen lyrik, Andreas Reimann, geriet während dieser zeit in die fänge des ministeriums für staatssicherheit. Andere, wie privilegierte studenten des Instituts für Literatur ‚Johannes R. Becher‘ in Leipzig: Heide Härtl, Gerti Tetzner, Klaus Bourguin, Paul Gratzik, Gert Neumann, Odwin Quast, Martin Stade und ich fielen einer lagebedingten säuberungswelle zum opfer. Trotzdem setzten sich die meisten der
77 Fühmann-Archiv (Akademie der Künste zu Berlin-Ost) Nr. 176: Fontane I. Neuruppin, S. 175. – Vgl. auch Hans Richter, Franz Fühmann – Ein deutsches Dichterleben, Berlin/Weimar 1992, S. 232f., sowie Welke, Jene Erschütterung im August (wie Anm. 36), S. 8. 78 Friedrich Schorlemmer, Schlüsseldaten, Schlüsselpersonen und Schlüsselorte von 1968, in: Ders., Wohl dem, der Heimat hat (wie Anm. 10), S. 145f., hier S. 145. Aber auch Werner Mittenzwei, der zum führenden Brecht-Forscher im Wissenschaftssystem der DDR aufsteigt, erhebt das Jahr 1968 rückblickend zu einem ‚Schicksalsjahr‘ und konstatiert, es sei damals „zu einer tiefen Zäsur im Denken der DDR-Intelligenz“ gekommen; „die politische Einstellung vieler Menschen“ hätte sich verändert. Mittenzwei, Die Intellektuellen (wie Anm. 28), S. 249. 79 Siegmar Faust, Vom Arbeiterdichter zum politischen Gefangenen, in: Die vergessenen Opfer der DDR. 13 erschütternde Berichte mit Original-Stasi-Akten, hrsg. von Jürgen Aretz u. Wolfgang Stock, Bergisch Gladbach 1997, S. 84–94, hier S. 84.
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aufgezählten dennoch als schriftsteller durch, teils nur im westen. Der bruch mit dem SEDregime war für die meisten perfekt, doch einige, ich eingeschlossen, glaubten noch immer, trotz parteiausschluß, daß nach den lehren von Marx und Engels ein sozialismus ‚mit menschlichem antlitz‘ möglich sei.“80
So beginnt das ‚erste Stadium‘ einer 1983 vorgelegten Textsammlung von „ÜberlebensDokumente[n] und Freiheits-Zeugnisse[n] bekannter und unbekannter Menschen, die in der eindeutigen Welt des ‚alltäglichen Sozialismus‘ aufwuchsen, den dort herrschenden Verhältnissen zum Trotz aber nicht zu feigen Realisten und angepaßten Geisteskrüppeln verkamen.“81 Ich will hier raus lautet der Titel dieser Sammlung als Fazit der Hoffnungslosigkeit. Das Nachwort schrieb Ulrich Schacht, der 1976 aus DDR-Haft in die Bundesrepublik entlassen worden war, und vorgelegt wurde das Buch – wie es auf dem Titelblatt heißt – „von Siegmar Faust, dem weit nach rechts abgedrifteten hochstapler und scharlatan / wie er sich auf eine bewandte zeit dem kommunismus verschrieben [...] bis er endlich seinen wohlverdienten lohn empfangen / und nach dem westen abgeschoben wurde“.82 Ullrich Schacht, dessen Mutter – wegen staatsfeindlicher Hetze verhaftet – ihn im Gefängnis geboren hatte, war gewiss kein loyales Kind der DDR. Dennoch ist laut einem Bericht des IM „Karl Heinz“ zu Ulrich Schacht vom 24.11.1972 der damalige Rostocker Student in seiner „Einstellung zur DDR [...] sehr wesentlich beeinflußt von den 68er ČSSR-Ereignissen. Er hält unseren Staat für einen Unrechtsstaat, eine überholte Hierarchie und plädiert für einen ‚demokratischen‘ Sozialismus.“83 Als exemplarisch erweist sich jene Wendung von Siegmar Fausts Biographie, die ihn ins Exil führt; exemplarisch ist für viele aber auch seine frühere Entscheidung, weiterhin dem Sozialismus zu vertrauen, und zumindest nicht singulär ist die Abfolge von jener früheren zu einer späteren Position, die als konservativ oder gar ‚rechts‘ etikettiert wird und vor allem von den Verwerfungen zeugt, die entstehen, wenn man DDR-Erfahrungen auf 80 81 82 83
Siegmar Faust, 1. stadium, in: Ich will hier raus, Berlin 1983, S. 15f. Ulrich Schacht, Nachwort, in: Faust, Ich will hier raus (wie Anm. 80), 4. Umschlagseite. Faust, Ich will hier raus (wie Anm. 80), Titelblatt. Ulrich Schacht, Versteinerte „Quellen“. Fragmente zu einer politischen Fossilienkunde im Fundhorizont des Elbe-Oder-Gebietes, in: Aktenkundig. Hrsg. von Hans Joachim Schädlich, Berlin 1992, S. 195–220, hier S. 214. – Vgl. ebd., S. 212: Bericht des IM „Karl Heinz“ zu Ulrich Schacht, 27.04.1971: „SCH. erzählte mir auch, daß er im August 1970 aus der ČSSR ausgewiesen wurde und in Dresden kurze Zeit bei der Staatssicherheit, er sagt in Einzelhaft, war, weil er demonstrativ am Grabmal von Jan Palach Blumen niedergelegt hat. / Mir ist in Erinnerung, daß er 1968 z.Zt. der Ereignisse in der ČSSR mit einem Abzeichen, das die tschechische Nationalfahne im Trauerrand zeigte, demonstrativ vor dem Gebäude des MfS in Schwerin am Demmlerplatz aufgetreten ist, ohne aufzufallen. Er hatte aber die Absicht, aufzufallen und zu provozieren – hier mischen sich die Gefühle eines Märtyrers und eines Abenteurers. / Als er mir vor längerer Zeit diese Geschichte erzählte, sagte er, daß das Abzeichen wohl zu klein gewesen sei, um am Demmlerplatz bei den Genossen des MfS bemerkt zu werden bzw. Aufsehen zu erregen.“
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westdeutsche politische Lager verbal abzubilden versucht. – Reiner Kunze allerdings, seit 1951 Student an der höchst staatstreuen Journalistischen Fakultät der Leipziger Karl Marx Universität, hat in einem Interview auf die Frage, wann er denn gänzlich mit dem System gebrochen habe, die Stationen resümiert:84 „Das Jahr 1959 war meine Stunde Null. Ich habe die Universität verlassen und bin Hilfsschlosser geworden. Zwar bin ich noch Mitglied der SED geblieben, aber das war schon eine taktische Entscheidung. Ich hätte den Menschen, die mir geholfen haben, existentiell geschadet, wäre ich auch noch demonstrativ aus der SED ausgetreten. Das habe ich 1968 getan, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. Da war es unumgänglich geworden.“
Manfred Bieler, der den Schikanen wegen seines Buches Das Kaninchen bin ich schon 1965/66 in eine Art ‚Exil‘ in der ČSSR ausgewichen war, zog 1968 die Konsequenz einer Übersiedlung in die Bundesrepublik. Wolfgang Hegewald schließlich erinnert sich, wie der Bruch mit „der offiziellen Politik oder auch nur dem in der DDR gelehrten ML [...] ganz früh“ losgegangen war, wie sich aber dann in einer, wie er noch rückblickend sagt, „bestürzenden Gleichzeitigkeit [...] die Begegnung mit den alten Texten“ des Evangeliums „und die Erfahrung mit Prag 68“ überlagerten.85 Für den Schriftsteller und Theologen Hegewald bleibt es bei dieser Verbindung von Gegenwartserfahrung und „soziale[m] Impetus“ des Evangeliums. Das Tagebuch von Einar Schleef bietet im Jahr 1968, nachdem der Diarist seit der knappen Erwähnung eines Weimarbesuches im März 1968 fast fünf Monate pausiert hatte, dann am 21.8.1968 nur die drei Worte „Einmarsch in Prag“. Es folgt jedoch ein ausführlicher „Kommentar 99“ unter dem Titel „Kunst und Verrat“. Der Text überblendet zwei Zeitebenen an einem Ort, in dem deutsches Verbrechen kumuliert, und zwar in Theresienstadt. Dort ist der Diarist zunächst involviert in selbstverständliches politisches Handeln: „Für Dubček!“.86 Wie benommen reist er nach Berlin mit einer Alltagsaufgabe, wie benommen verschiebt er seinen Auftrag – „nein, gelähmt, saß ich in meinem Weißenseer Zimmer [...], saß auf dem Bett und flennte“. Eine „Agonie“ angesichts des vollzogenen ‚Einmarschs der Truppen’, der „Siegmeldungen“. Und noch bis in den „Kommentar 84 Reiner Kunze, Wo Freiheit ist … Gespräche 1977–1993, Frankfurt am Main 1994, S. 185. Vgl. auch Jäger, Die abwartende Hoffnung (wie Anm. 9), S. 118f. sowie Reiner Kunze, Materialien zu Leben und Werk, hrsg. von Heiner Feldkamp, Frankfurt am Main 1987. 85 Vgl. Wolfgang Hegewald, Ein Zustand der Vogelfreiheit, in: Mein Leben. Teil Zwei. Ehemalige DDR-Bürger in der Bundesrepublik, hrsg. von Martin Ahrends, Köln 1989, S. 137–148, hier S. 142f. 86 Einar Schleef: Tagebuch 1964–1976. Ostberlin, hrsg. v. Winfried Mennighaus, Sandra Janßen u. Johannes Windrich. Frankfurt am Main 2006, S. 258. – „[...] plötzlich bin ich nicht 1968 in Theresienstadt sondern in dem davor, bin einer der Wachmänner, der den Hof kontrolliert, plötzlich verschieben sich die Zeiten, was in mir vorging, weiß ich nicht, ich kippte nach vorne [...]“. Die folgenden Zitate ebd., S. 258–261.
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99“ wirkt das Verlangen nach Gedächtnislöschung nach. Am 1.9.1968 schon vermerkt das Tagebuch: „eindeutig sich fortsetzende Aufzeichnungen bestehen in diesem Jahr bis jetzt nicht, nur Arbeitsnotizen und Briefe.“ Der Kommentar mündet in ein Gedicht, zwei Strophen und noch eine weitere, beginnend mit dem großgeschriebenen, zeilenfüllenden Wort ‚REGEN‘, darauf eine Szenerie der Traurigkeit, dann dreifach der Einsatz für größere Versgruppen ‚HAT DIE SCHLACHTUNG BEGONNEN‘ (I bis III), und daran anschließend jeweils: „Moskau birkenblättrig, die Wolga blutet“. Die drei Strophen schließlich, deren Eingangswort ‚SCHLUSS’ lautet, vollstrecken die Traurigkeit und Schlachtung in einer Szenerie des Todes: „Die alte Welt ist längst gestorben / die neue windet sich im Todeskampf “ – zuletzt dann zerfällt für das sprechende Ich die Sprache – „Klamauk der Worte / [...] und wache niemals auf / gestorben an dem Gift der Welt“. Vom ‚Gift der Worte‘ hatte der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing 200 Jahre vorher geschrieben, die Okkupation Prags markiert für den Diaristen Einar Schleef das Ende einer Epoche, die man optimistisch als ‚Moderne‘ bezeichnet hatte. Die früheren Antworten der Literatur auf den Schock der Okkupation waren spärlich geblieben. Erst allmählich war wieder eine Hoffnung auf den ‚menschlichen Sozialismus‘ erwacht – und oft genug artikuliert sie sich einzig in der Negation. Einige Texte junger Autoren – Gedichte der Lyriker Peter Will und Günter Ullmann, ein Stückentwurf von Georg Seidel – konnten nicht erscheinen.87 Erich Arendt, der älteren Generation angehörig und in einem Nachruf gar zum „Doyen der DDR-Literatur“ ernannt,88 beginnt die Arbeit an einem Großgedicht. In der Erstfassung heißt es: „es läutet, Prag – fern – auch hier in den Dünen – Tod.89 Volker Braun hatte unmittelbar nach der Besetzung der ČSSR ein Soldatenlied verfasst: Wir ziehen in den Böhmerwald Mit Kugeln im Tornister Und tränken lieber euer Bier, Mit euch, liebe Geschwister.90
Saloppe Verse, die in der Umgangssprache der Leute aus dem Volk die offizielle Phraseologie sozialistischer Brüderlichkeit mit der Realität eines ‚geschwisterlichen' Umgangs kontrastieren,91 das Stereotyp vom guten tschechischen Bier nutzen und die Absurdität
87 Welke, Jene Erschütterung im August (wie Anm. 36), teilt Proben mit. 88 Günter Kunert, Der Doyen der DDR-Literatur ist tot, in: Die Zeit, 5.10.1984. 89 Erich Arendt, Łeba. Erstfassung aus dem Archiv der Akademie der Künste, Berlin, zit. n. Welke, Jene Erschütterung im August (wie Anm. 36), S. 13. 90 Volker Braun, Soldatenlied, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Bd. 3, Halle/Leipzig 1990, S. 106. 91 Vgl. den bei Zwahr überlieferten Spott: Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 20. Juli 1968, S. 75.
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der Verwandlung von ‚Brüdern‘ in Soldaten aufzeigen: „Zirkus ist reine Logik dagegen“ lautet der Schlussvers bei Braun.92 „Mitte August“, so beginnt der Prosatext Die Bühne, den Volker Braun 1968 geschrieben hatte, „war die Arbeit im entscheidenden Zustand“.93 Der Ich-Erzähler arbeitet in einem Theaterkollektiv, seine Freundin Susanne ist in einer anderen Stadt, dort leitet sie eine Gruppe, die „die Produktionsprozesse neu durchrechnen sollte, um sie im System zu optimieren.“ (S. 15) – „Dann kam der 21. August. Schon in den Straßen war ein sonderbares Gesumm; wenige Schritte vor dem Theater eine Ansammlung, aus der ich mehrere wüste Sätze schnappte, im Theater hörte ich’s auf der Treppe, von dreien zugleich. Die Truppen der sozialistischen Länder hatten nachts die Grenzen der ČSSR überschritten und bewegten sich landeinwärts. Genaueres wußte keiner, auch nicht, ob es Kämpfe gab und wie sich die Prager Führung verhielt. Das Ziel der Kampagne war klar, und ich hatte mit ihr gerechnet, und sie bestürzte mich; mein erster Gedanke war, wie sich diese äußerste Aktion auf das Bewußtsein des betroffenen Volkes auswirke. Die Schauspieler waren in verschiednem Maß erregt, D. ließ ohne weiteres die Arbeit beginnen und die entscheidenden Szenen der zweiten Hälfte hochholen.“ (S. 17f.)
Allmählich wird Volker Brauns Text kenntlich als ein Gegenentwurf zu jenem Stück, das Günter Grass im Jahr 1966 als Schlüsselwerk über Bertolt Brechts Theaterarbeit im Berliner Ensemble veröffentlich hatte: Die Plebejer proben den Aufstand. – Grass’ polemischer Vorwurf an Brecht, dieser habe am 17. Juni 1953 über der Revolution, die im Theater stattfand, die Revolution des Volkes draußen auf der Straße gleichsam vergessen – ein theaterkritischer Topos in deutscher Dramatik seit Büchners Dantons Tod –, hatte damals Empörung und Skandal ausgelöst bei allen, die sich als Erben Brechts sahen, Zustimmung bei jenen, die Brechts Positionen schon seit jeher nicht teilten.94 Auf eben jene kritisch-polemische Prämisse von Grass’ Theaterstück repliziert der Erzähler der Bühne: „Es war mir klar: Die Arbeit konnte nicht unbefangen, nach eigenem Zweck weitergehen, sie wurde hineingezogen in diesen Tag.“ (S. 19) Zunächst freilich scheint die Meinung des Volkes in der DDR gespalten, die veröffentlichte Meinung unzuverlässig: „Meldungen, von denen gut ein Drittel wahr sein konnte, 92 Braun, Soldatenlied (wie Anm. 90), S. 106. – Das Kennwort ‚Zirkus‘ wurde auch unten hervorgehoben im Zitat aus dem Prosaband Die Bühne. 93 Volker Braun, Die Bühne, in: Braun, Texte in zeitlicher Folge, Bd. 3 (wie Anm. 90), S. 7–42, hier S. 9 (künftig im laufenden Text unter Angabe der Seitenzahl zitiert.) 94 Vgl. Günter Grass, Die Plebejer proben den Aufstand [1966], in: Ders., Theaterspiele. Werkausgabe in zehn Bänden, Band VIII, hrsg. von Angelika Hille-Sandvoss, Darmstadt u. Neuwied 1987, S. 397–477 (mit Kommentar), sowie den Hinweis auf den Pastiche- und Exempelcharakter des Stückes im „Nachwort“ der Herausgeberin: „Das Scheitern des Ästheten, der seine Kunst nicht in den Dienst der Tagespolitik stellen wollte, wird vorgeführt“ (S. 563); damit ist Volker Brauns Ansatzpunkt markiert.
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ich ließ den Zirkus über mich ergehen.“ (S. 19, Hervorhebung W.S.) Der Ich-Erzähler verharrt unbetroffen: „Das geschieht da nebenan, fast an meiner Haut, aber ich hör und seh nichts davon, ich kann mir kein Bild machen, und: es geschieht durch u n s mit, aber wir (wenigstens viele) sind in unseren Gefühlen und Erwartungen überrollt. Es gibt noch Vorgänge, und noch für einige Zeit, die wir nicht als unsere eignen erkennen, da wir nicht beansprucht sind. Es sind nicht unsere eignen.“ (S. 20)
Susanne, die an diesem Abend kommt, verstrickt ihn jedoch ins Geschehen, denn sie war Zeugin: „[...] sie war durch die Transporte gefahren, der Bus inmitten endloser Panzerkolonnen, die Straßen dröhnten, die Leute schauten hinter den Fenstern, Benzinwolken. Und und und.“ (S. 21)
Die zu erwartende Liebesnacht findet nicht statt; die sich nicht nur ‚nebenan‘ ereignende Geschichte bringt die Liebesgeschichte zwischen Zweien durcheinander. Dass Susanne gleichzeitig ihre für den Staat DDR wichtige Arbeit aufkündigte, komplettiert diese Konstellation einer stockenden Geschichte. Damit setzt die Gegenhandlung ein. Nun geht es auch auf der Bühne nicht mehr nur darum, „das Richtige mitzutun“, sondern jetzt gelte: „das Richtige lasse sich nur noch gemeinsam finden.“ (S. 24) Nun müsse man auf der Bühne das konfliktträchtige Geschehen im Sozialismus nicht als bloßes Rollenspiel darstellen, sondern so, „als geschähe es heute und hier.“ (S. 25) Volker Brauns Prosa inszeniert das Experiment einer Veröffentlichung von Politik in dem Theater als Medium, das private Existenz und öffentliche Repräsentativität verschränkt, das Theater wird „zur Praxis im Versuchsstadium“ (S. 32), eine Brechtsche Antwort Volker Brauns auf die Kritik am Theater als ästhetischem Rollenspiel, wie Grass sie vorgebracht hatte. Skandiert wird der Lernvorgang im Theater von den Meldungen aus Prag, die von Beruhigung und Rückkehr sprechen. Während die Niederschlagung der Revolution als ‚Schicksalsschlag‘ dort allmählich hingenommen werden muss,95 findet jetzt die Revolution in der Tat im Theater statt, und zwar als Vorgriff auf die Zukunft: „Wenn es auf der Bühne g e s p i e l t wird – zeigen wir uns sofort als schon andere.“ (S. 38). So kommt man dem ‚Wunder des Sozialismus‘ näher96, nachdem zu Beginn noch das Thema mit der konträren These eingeführt worden war: „Es gibt keine Wunder“ (S. 9). Zunächst hatte man sich eben an den ‚Helden’ des Sozialismus orientiert, die in eine Frühphase gehörten, als der Sozialismus noch nicht die Sache aller war, das ‚Wunder‘ also notwendig die Leistung einzelner. Die Hauptfigur im theatralischen Lernprozess aber entscheidet sich frei zu ihrer 95 Vgl. Braun, Die Bühne (wie Anm. 93), S. 35. 96 Ebd., S. 40.
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eigenen Geschichte – „in dem Anspruch, etwas aus sich zu machen“ – und analog kehrt Susanne zu ihrem Projekt der Arbeit an der Zukunft zurück. Sozialistischer Realismus sei, wie Volker Braun dazu 1968 notierte, noch nicht möglich, die Utopie des Sozialismus in der Kunst hingegen nötig – alle Tage und gerade jetzt. Allerdings ist Die Bühne nur der dritte von insgesamt vier Teilen, die in dem Band Das ungezwungene Leben Kasts 1972 zusammengefasst wurden. Es ist der Entwurf eines sozialistischen Bildungsromans, und diese Bildung gipfelt, wie eh und je im deutschen Bildungsroman, in der Praxis des Theaters. Sie wird vorbereitet ‚im Hörsaal', und die erste Station zuvor ist Schlamm überschrieben und führt mitten in die Produktion. Dies ist der Weg des sozialistischen Helden, von der Erfahrung im Kollektiv über die Aneignung des Erbes – bezeichnenderweise Goethes Faust – zu einer neuen ästhetischen Praxis, die schließlich im Schlussteil Die Tribüne in politische Praxis mündet. Sein Weg führt von der ‚Bühne’ konsequent auf die ‚Tribüne‘ der Öffentlichkeit. Freilich, die Verführungstragödie Gretchens in Goethes Faust relativiert den Bildungsweg Kasts, dessen Phasen von Liebesbeziehungen markiert werden.97 Die persönliche Geschichte und die Geschichte aller wollen noch nicht glücklich-harmonisch in eins fallen. So rundet sich die Prosa auch nicht zur epischen Großform des Romans, sondern die Rückkehr des Intellektuellen in den Betrieb, als Parteisekretär, scheitert: „Ich bin auf den Bau gegangen, ich habe mich der Wissenschaft ergeben, habe ich mich in die Kunst geflüchtet“, resümiert Kast in Reminiszenzen an die berühmte Eröffnungsszene des Faust; denn so wie jenem dies alles nicht genügte, so ist auch ihm dies alles zu „beschränkt“.98 Und „nach der Lektüre von Brechts ‚Bericht vom 1. Mai 1905‘“99 wiederum wird ihm die Fortdauer der Isolation der Funktionäre von der kämpfenden Arbeiterklasse überdeutlich. Von nun an ist sein Bericht bruchstückhaft, seine Lebensgeschichte zersplittert in die Simultanität von Notizen, mit einem Parteiverfahren brechen auch die ab. Eine Erzählinstanz berichtet, ähnlich wie in den Leiden des jungen Werther, von der letzten Krise, die Schlussnotiz berichtet von einem rätselhaften Autounfall Kasts: „Das Genick war gebrochen, das Gesicht unkenntlich“ – als habe den sozialistischen Faust der Teufel geholt. Das private Leben ist ruiniert: „Susanne lag mit schwerem Fieber nieder“; die wirklich brüderliche Verbindung, die Kast hatte leben
97 Vgl. etwa aus der gründlichen Arbeit von Katrin Bothe, die sich allen vier Kast-Berichten widmet und eine grundlegende Analyse der Intertextualität zu Goethe und Büchner vorgelegt hat, hier nur den Abschnitt zur „Verlagerung des vitalistischen Diskurses auf die Frauenfiguren“: Katrin Bothe, Die imaginierte Natur des Sozialismus. Eine Biographie des Schreibens und der Texte Volker Brauns (1959–1974), Würzburg 1997, S. 280ff. 98 Volker Braun, Die Tribüne, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Bd. 5. Halle/Leipzig 1990, S. 7–56, hier S. 12. 99 Ebd., S. 40.
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und beschreiben wollen, verflüchtigt sich in medialer Scheinrealität: „In der Zeitung stand die übliche Notiz“, so lautet der Schlusssatz.100 Nur noch verraten und geschändet erscheinen alle Hoffnungszeichen in Brauns Gedicht Prag, erstmals 1974 in seinem Gedichtband Gegen die symmetrische Welt im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienen: 101 Goldene Stadt Die wir uns versprachen Häuser, die auf die Straße gehen Bunt bemalt, und Brücken Die tönenden Ufer spannend Wo die Schiffe trieben aus feinem Papier: Durchdröhnt Aber von schwarzen Panzern wo wir lagen, die Luft riß ab Vor dem Mund. Eisenketten knirschen Über die Galerien. Die Eingeborenen wie Wachsfiguren, blicken Aus der Wäsche, bleich, auf Bajonette – Böhmen Am Meer? Von Blut?
Für eine jüngere Generation kritischer DDR-Autoren formuliert Volker Braun die Zerstörung einer Utopie, zugleich den Bruch zwischen poetischer Imagination und Realpolitik in einer bestürzenden Variante des von Shakespeare formulierten Topos ‚Böhmen am Meer‘. Und zugleich wird damit die Wiedererweckung des Topos eben im Jahr 1968 – im Zeichen einer seltenen west-östlichen Gemeinsamkeit des Aufbruchs – dementiert: Damals war in dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuch Ingeborg Bachmanns schon 1964 entstandenes Gedicht Böhmen liegt am Meer vorgelegt worden: „Liegt Böhmen denn am Meer / Trau ich den Meeren wieder...“ – so lauteten die Anfangs-
100 Braun, Tribüne (wie Anm. 98), S. 55 (kursiv im Original). Man wird sich an den Tod des Nationalschriftstellers Gustav von Aschenbach erinnern, den die Zeitungen ebenfalls – laut dem Schlusssatz von Thomas Manns ‚Novelle‘ Tod in Venedig – medial verbrämen, allerdings ‚respektvoll‘. 101 Volker Braun, Prag, in: Ders., Gegen die symmetrische Welt, Halle/Leipzig 1985, S. 48ff., hier S. 48. Volker Braun hat diesen Topos des Utopieverrats nach 1989 gegen die Vereinigung Deutschlands gerichtet; vgl. dazu sein Theaterstück: Böhmen am Meer. Frankfurt am Main 1992.
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verse, mit der immer schon utopischen Bedingung des Vertrauens auf das ‚Meer‘.102 Wenn aber die Utopie in Böhmen zur Wirklichkeit würde, dann wäre die Freiheit des Meeres auch von jedem anderen Ort aus erreichbar. Drei Jahre dann nach dem scheiternden sozialistischen Bildungsroman, der 1968 noch eine Zuflucht für die Utopie im Theater hatte finden wollen, zwei Jahre nach jenem PragGedicht Volker Brauns, das den Schock der Okkupation in Worte zu fassen sucht, im Jahr 1975, erscheint – wenn auch nicht als Buch sondern nur in der Zeitschrift Sinn und Form – Brauns Prosatext Unvollendete Geschichte: eine Bestandsaufnahme des Lebens in der DDR-Wirklichkeit, eine, wie Robert Havemann im westdeutschen Nachrichtenblatt Der Spiegel schreibt „ungeschminkte Schilderung der DDR-Wirklichkeit ohne jede provokative Hervorhebung von Tatbeständen [...], die einfache Beschreibung von Vorgängen, die jeder kennt.“103 Es ist die Geschichte vom Scheitern einer Liebe unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus. Sie nimmt das Faustische Scheitern Kasts wieder auf; Karin, die Hauptfigur, ist, wie man angemerkt hat, gleichsam ein „,Kast‘-Doppel“.104 Die Geschichte endet mit einer Bestätigung, dass die Zukunft des Sozialismus in der DDR zwar begonnen habe, aber nicht überall; die DDR wird zum Palimpsest von Ungleichzeitigem. Doch damit eröffnet sich ihr zugleich eine utopische Dimension105 – und so „begannen, während die eine nicht zuende war, andere Geschichten“.106 Dass sich für die noch nicht vollendete Geschichte einmal ein guter Schluss finden ließe, für diese Hoffnung hatte wiederum Bertolt Brecht ein, diesmal freilich paradoxes, Stichwort gegeben, und zwar mit seinem Stück Der gute Mensch von Sezuan. Da die Geschichte für den Einzelnen, der in das Dilemma gestellt ist, für die richtigen Ziele nicht gut handeln zu dürfen, einen guten Schluss im theatralischen Modell nicht erlaubt – weil sich die Götter ohnmächtig von der Bühne des Welttheaters verabschiedet haben – bleibt nur der Appell an das Publikum: 102 Vgl. künftig meine Studie: „Böhmen liegt am Meer...“. Eine utopische Region in der Kulturgeschichte Mitteleuropas. [i.V.]. – Außerdem sei auf die Bezüge zu Bachmanns „Böhmen liegt am Meer“ verwiesen bei Joachim Hoell: der „literarische Realitätenvermittler“. Die „Liegenschaften“ in Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“. Berlin: Van Bremen 1995; weiteres zu einem hier ansetzenden Heimatentwurf bei Bettina Bannasch, Von vorletzten Dingen. Schreiben nach „Malina“: Ingeborg Bachmanns „Simultan“-Erzählungen, Würzburg 1997, S. 131–138. 103 Robert Havemann, „Sehr vieles stimmt hier nicht.“ Robert Havemann über die inneren Widersprüche des SED-Sozialismus, in: Der Spiegel 42/1976, S. 67–75, hier S. 67. 104 Bothe, Die imaginierte Natur des Sozialismus (wie Anm. 97), S. 363. 105 Zum Glauben an die Utopie vgl. etwa die Interpretationsskizze bei Theo Reucher, Volker Braun: Unvollendete Geschichte, in: Erzählen erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart, interpretationen, hrsg. von Herbert Kaiser u. Georg Köpf, Frankfurt am Main 1992, S. 149–171, hier S. 154–159 als eine nützliche Übersicht. 106 Volker Braun, Unvollendete Geschichte, in: Ders., Texte in zeitlicher Folge, Bd. 4. Halle/Leipzig 1990, S. 7–70, hier S. 70.
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Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!107
Dieser, mal mehr mal weniger verzweifelten Hoffnung, mochte dann die DDR „wie die Skizze für einen sozialistischen Staat […], nach der das richtige Bild erst gemalt werden muß“, erscheinen;108 um diese Utopie zu bewahren, musste der ständige Konflikt mit dem ‚real existierenden‘ Staat notfalls in Kauf genommen, der vollständige Bruch jedoch nach Möglichkeit vermieden werden. Es zeigt sich, dass Utopie hier noch eine gradweise Annäherung zulässt, dass die Utopie selbst derart auf paradoxe Weise in den Geschichtsprozess hineingenommen wird. Dass konträr dazu mit der Niederschlagung des Prager Frühlings eine utopische Möglichkeit aus der deutsch-deutschen Geschichte verschwindet, hat so radikal nur Uwe Johnson, längst ein Exilant aus der DDR, der sich deshalb freilich keineswegs zur ‚Heimat‘ im Westen bekennen wollte, in seinem Erzählexperiment Jahrestage konstatieren müssen. Die Hauptfigur, Gesine Cresspahl, geht mit der Hoffnung auf einen dritten Weg nach Prag und verschwindet in den Wirren der Niederschlagung des Prager Frühlings; die ‚Jahrestage' des Erzählens brechen mit dem 20. August 1968 ab. Die Erinnerungsarbeit, und damit die persönliche Annahme der deutschen Schuldgeschichte in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, mündet nicht in einen auf die Utopie sich hinbewegenden Geschichtsprozess des ‚dritten Weges‘. In jenem Konzept einer loyal kritischen, auf die Entwicklungsfähigkeit des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden hartnäckig vertrauenden Autorschaft, wie es vor allem Christa Wolf vorbildlich für viele ihrer Schriftstellerkolleginnen und -kollegen in der DDR vertritt, ist hingegen eine politische Rolle, die den Intellektuellen aufgegeben sei, stets mitgedacht. Die Haltung wird trotz aller Rückschläge bestimmt vom Vertrauen auf einen dritten Weg, auf eine bessere DDR, den ‚wahren Sozialismus‘ – ein Vertrauen, das viele aus dieser Gruppierung bis zum Jahr 1989 bewahren sollten.109 In der Auswertung der Pressemeldungen von einem geplanten ‚Systemwechsel‘ – „wir kommentieren abends, tauschen Informationen aus“ – suchte man im Kreis um Christa Wolf „vor allem den ‚pro107 Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht u.a. Bd. VI, Berlin/Weimar 1988, S. 175–281, hier S. 278f. 108 Jurek Becker in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (6.9.1977), zit. nach: „Ihr Unvergleichlichen“. Jurek Becker. Briefe. Ausgewählt u. hrsg. von Christine Becker u. Joanna Obruśnik. Frankfurt am Main 2004, S. 353. 109 Vgl. Jäger, Die abwartende Hoffnung (wie Anm. 9), S. 121, der festhält, „daß für die Mehrheit der reformsozialistischen Autoren in der DDR trotz ihrer Opposition gegenüber Ulbrichts Apparatherrschaft der Gedanke an eine Sozialdemokratisierung der kommunistischen Partei, und die lag immerhin in der ČSSR nahe, und erst recht der Gedanke an die Übernahme der Spielregeln der bürgerlichen Demokratie außerhalb des Wünschbaren und außerhalb des Denkbaren blieben.“
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duktiven Punkt‘, von dem aus man noch arbeiten kann. Gemeinsam ist uns das Bestreben, sich nicht vollkommen ins Abseits drängen zu lassen.“110 Ihr zweiter Roman Nachdenken über Christa T. – nach 1968 erschienen, allerdings schon vorher begonnen – verblüfft „mit seiner asynchronen Darstellung der politischen und kulturellen Geschichte der DDR. Der Prager Frühling und seine gewaltsame Niederwerfung werden als gespenstischer Nachhall des berühmten 11. Plenums des ZK der SED empfunden, das 1965 radikal antidemokratische Maßnahmen beschlossen hatte.“111 Der Tod von Christa T., dem die Erzählerin nachspürt, steht für die Auslöschung der Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus. Christa Wolf verstand, dass ihr 1967 beendetes Manuskript Nachdenken über Christa T. in ganz besonderer Weise in einen politischen Kontext 1968 gehöre: „Und das ist eben interessant, dass in der selben Zeit, in der im Westen alles öffentlich wurde, immer öffentlicher, immer öffentlicher und mit Recht, denn waren ganz bestimmte Krisen und Widersprüche, die genau das erforderten, so waren bei uns anderen nicht eben weniger tiefe Widersprüche, die eine Besinnung darauf erforderten, was ist überhaupt menschlich? Was ist überhaupt human? Wozu machen wir das eigentlich alles? Und das war so die Zeit, in der diese Fragen uns sehr dringlich beschäftigten. Und ich hab die also in diesem Buch gestellt. Es wurde dadurch ein politisches Buch.“112
Und in ihrem langjährigen Tagebuch- Projekt Ein Tag im Jahr berichtet Christa Wolf von der Konsequenz von ‚1968‘ für ihre Autorschaft: „Das ‚große‘ Buch, wieder einmal spinnen wir darüber. Offen nach allen Seiten müßte es sein. Das Jahr ’68, das Jahr der endgültigen Ernüchterung, vielleicht als Gerüst. So könnte es direkt heißen: Das Jahr. Ein Motto: Allein mit unserer Zeit. Ein anderes: Die Wunde offenhalten.“113
V. „Das Land ist still – noch“: Unruhe der Erinnerung Für viele war ‚die Wunde‘ unheilbar, gab es „kein Aufatmen in der 60ern; als das Dezennium zuende ging, war die Idee von einem menschlichen Sozialismus plattgewalzt.“114 Vielleicht steht deshalb, wie Stefan Wolle pointiert formuliert, ‚1968‘ in der DDR für eine ‚versäumte Revolution‘.115 Doch welche Revolution hätte stattfinden sollen? Viele in 110 Wolf, Ein Tag im Jahr (wie Anm. 17), S. 129. 111 Julia Hell, 21. August 1968 – Der Sozialismus mit menschlichem Antlitz stirbt auf den Straßen von Prag, in: Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Hrsg. von David E. Wellbery u.a., Berlin 2007, S. 1100–1106, hier S. 1101. – Vgl. außerdem Magenau, Christa Wolf (wie Anm. 72), S. 204ff. 112 Christa Wolf, zit. n. Welke, Jene Erschütterung im August (wie Anm. 36), S. 17. 113 Wolf, Ein Tag im Jahr (wie Anm. 17), S. 156. Christa Wolfs Formulierung gemahnt an den Topos von der ‚Wunde Deutschland‘, dessen Tradition bis zu Heinrich Heine zurückreicht. 114 Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 9), S. 336. 115 Vgl. Wolle, Die versäumte Revolte (wie Anm. 20).
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der DDR hatten sich gerade damals, sieben Jahre nach dem Mauerbau, mit diesem Staat abgefunden. Viele waren noch nicht bereit, gegen das eine Deutschland zu optieren und damit für das andere, eine Situation, zumindest in der Entscheidung schwieriger und prekärer als in den Nachbarstaaten Mitteleuropas. Dort war die Opposition gegen das System aus Patriotismus möglich; ob die Opposition in der DDR aber ein anderes Deutschland in deren Grenzen schaffen sollte, oder die Vereinigung mit dem Westen, bei der viele die Version der Wiedervereinigung als Rückfall in die deutsche Unheilsgeschichte fürchteten – das machte vorerst einen gravierenden Unterschied. Da eine öffentliche Diskussion nicht zugelassen wurde, blieb das Thema in den Zirkeln der privaten Öffentlichkeit umso eindringlicher präsent. Florian Havemann etwa will mit Heiner Müller zum ersten Mal nach Zufallsbegegnungen „auf irgendwelchen Ost-Berliner Dissidentenpartys“116 ein ernsthaftes, ‚stundenlanges‘ Gespräch über „alles, was oppositionelle Sozialisten, sozialistische Oppositionelle damals in dieser Zeit nach 68 zu bereden hatten“ geführt haben, also „über den Einmarsch in Prag zunächst und vor allem“.117 Die unterschwelligen Wirkungen des Schocks von ‚1968‘ sind denn auch sehr viel mannigfaltiger und stärker, als die scheinbare Ruhe im Land, das Ausbleiben offenen Protestes vermuten lassen. Wie unter einem bösen Zauber – so die metaphorische Übersetzung in Versen von Gerald Zschorsch – sei das Leben erstarrt: „Kenn ein Land, wo die Blumen aus Glas, / wo die Bäume versteinert sind.“118 Es ist das Dunkelland DDR.119 Eine Revolution in der DDR hatte nicht stattgefunden. Real waren Repression und Resignation. Die „anschließende[...] ideologische[...] Verhärtung“ und der Wille der Machthaber, hart durchzugreifen, dokumentierten sich in schroffer Symbolpolitik – etwa der von vielen als Fanal begriffenen Sprengung der Universitätskirche zu Leipzig120 – wie auch in strukturellen Maßnahmen, vor allem der Hochschulreform, die von kritischen Universitätsangehörigen als Hochschuldisziplinierung begriffen wurde. Wenn, wie Hartmut Zwahr meint, die „Hinwendung zur tschechoslowakischen Alternative“ ebenfalls „an den Universitäten der DDR“ begonnen hatte,121 so fassten viele – und wohl abermals zu 116 Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 812. 117 Ebd., S. 812f. 118 Gerald Zschorsch, Expression, in: Ders., Glaubt bloß nicht daß ich traurig bin (wie Anm. 14), S. 111. 119 Vgl. Roger Loewig, Dunkelland. Zeichnungen 1965 bis 1972, hrsg. aus Anlass der ersten Retrospektive von Roger Loewig in der BRD August/September 1972. [Red. u. Zusammenstellung: Dieter Brusberg], Hannover 1972. 120 Vgl. Katrin Löffler, Die Zerstörung. Dokumente und Erinnerungen zum Fall der Universitätskirche Leipzig, Leipzig 1993 sowie Christian Winter, Gewalt gegen Geschichte. Der Weg zur Sprengung der Universitätskirche Leipzig, Leipzig 1998. 121 Zwahr, Rok šedesátý osmý (wie Anm. 64), S. 115; Zwahr führt zur Begründung seiner These vor allem an, an den Universitäten seien die Sprachbarrieren leichter zu überwinden gewesen. Vgl. bei Zwahr zitierte Dokumente, ebd., S. 114f.
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Recht122 – die radikale Umgestaltung des Universitätswesens nach sowjetischem Vorbild als direkte Antwort des Regimes auf. Zudem wurde damit nur institutionell das verschlechterte Verhältnis der Generationen in dem ‚ummauerten‘ Land demonstriert. Verstärkt wurden Bruchlinien, die bereits angelegt waren – so der Entfremdung zwischen den Generationen: der älteren, die die DDR als ihre historische Leistung betrachtete, und einer jüngeren, die sich von den alten Genossen abwandte. „Setzt Eurem Werk eine gutes Ende“ so hieß es in Biermanns Lied An die alten Genossen aus dem Band Drahtharfe, aus dem Jahre 1965, „In dem ihr uns / Den Anfang laßt!“123 Wahrgenommen hatte man ja auch die Berliner Protestaktion von Thomas Brasch, Florian Havemann und ihren Freunden durchaus,124 zumal auch der folgende Prozess nicht völlig unbemerkt bleiben konnte. Am 24. Oktober notierte in Leipzig der junge Historiker Hartmut Zwahr zu der Anklage gegen „die beiden Söhne von Robert Havemann“: „sie hatten den Mut, zu sagen, was die große Masse unserer Menschen am 21. und danach empfand.“125 Und damit gewinnt nun auch jene Aktion, die Heiner Müller fast zwei Jahrzehnte später noch zum Anlass seiner dramatischen Szene Der Findling nehmen sollte, ihren exemplarischen Rang. Dass die jungen Leute, die hier opponierten, „lauter Prominenten-Kinder“ waren, 126 aus dem ‚roten Adel‘ stammten, von Eltern aufgezogen, die – wie Horst Brasch – loyal zum innersten Kreis der staatstragenden Schicht gehörten,127dies hätte – aus Sicht der Machthaber – doch gewiss auch besondere Einsicht in die historische Notwendigkeit erwarten lassen müssen, auf der die DDR und die Entwicklung hin zu Sozialismus und Kommunismus laut Parteidoktrin beruhen. Die Protestaktion gewann daher eine geradezu schmerzhafte Schärfe, wurde doch Loyalität hier aus einer privilegierten Situation heraus aufgekündigt. Die jugendlichen ‚Täter‘ brachten mit ihrer Aktion nicht nur ihr Missfallen an der Politik ihres Staates zum Ausdruck, sondern sie erhoben damit die grundsätzliche Forderung nach einer freien Öffentlichkeit. Und dass
122 Auch wenn Middell in der Fixierung der Hochschulreform auf das Jahr 1968 „teilweise eine nachträgliche[] Korrelation mit den symbolischen Daten West- und Ostmitteleuropas“ erblickt, so ändert die lange Vorbereitungszeit nichts an der faktischen Koinzidenz der Durchführung. Matthias Middell, 1968 in der DDR. Das Beispiel der Hochschulreform, in: 1968 – Ein europäisches Jahr (wie Anm. 31), S. 125–146, hier S. 135. 123 Wolf Biermann, An die alten Genossen, in: Die Drahtharfe, Berlin 1965, S. 67. 124 Vgl. bei Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), S. 59, schon am 19. Juni 1968 den Hinweis auf Robert Havemann. 125 Ebd., 24. Oktober 1968, S. 167. 126 Reimann, Alles Schmeckt nach Abschied (wie Anm. 18), S. 218 (Tagebuchnotiz vom 1. November 1968). 127 Erika Bertholds Vater war Direktor des Institutes für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED; vgl. Simon, Kluge Kinder (wie Anm. 6).
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„sie so gut wie allein blieben, ist eines der ernstesten Probleme, das uns unsere Geschichte der letzten fünfzig Jahre aufgibt, fünfzig Jahre nach dem großen revolutionären Anlauf, der durch Verrat ein blutiges Ende nahm. Warum suchen wir alle der echten Entscheidung auszuweichen? Jeder zieht sich in seine vier Wände zurück.“128
Die Jugend aber stand geradezu unter Verdacht, galt in der Erziehungsdiktatur des Staates als ‚innerer Feind‘;129 die „Partei fürchtet die Jugend, das Produkt ihrer 25jährigen Erziehung. Sie fürchtet die Kinder der Republik. Sie zeigt äußerstes Mißtrauen“. Denn die „ganze Lebensart“ dieser Jugend „ist ein massiver Protest gegen das totale Verplantwerden, die totale Erfassung, gegen die Lenkung und Verwurstung. [...] Die Partei zwingt die FDJ ins Blauhemd, immer wieder, sie verschenkt Anoraks und läßt die Jugend Gelöbnisse sprechen, damit die Jugend nicht aus den Fesseln und der Partei an den Hals springt.“130
Reiner Kunze schaltet in sein 1976 in der nächsten Repressionswelle erschienenes Buch Die wunderbaren Jahre, Prosaminiaturen, die genau die Situation der Jugend in der Diktatur offenlegen, auch einen Text Handschellen ein, den Bericht eines Jugendlichen, der Flugblätter gegen die Okkupation verbreitet hatte: „Das Urteil lautete auf eineinhalb Jahre Jugendgefängnis. Das ist nicht Werkhof, sondern schärfer. Aber in der Begründung hieß es, das Gericht habe mein Alter berücksichtigt und deshalb sei die Strafe so mild ausgefallen. Ich war 15.“131
Dass diese DDR, auch wenn – oder gerade weil – im Jahr 1971 der ehemalige FDJ-Vorsitzende, Erich Honecker, an die Macht gelangte, nicht mehr das Land des Aufbruchs und der Jugend war, sondern dass die antifaschistische Elterngeneration versagt und der jungen zugleich jede Perspektive geraubt hatte, das wird zum Gemeinplatz einer zunehmend desillusionierten Literatur in und aus der DDR: „Die faschistische Vergangenheit bedeutete für uns etwas anderes: unsere Eltern gehörten zu den Widerstandskämpfern, den Opfern auch der Nazis, sie hatten im Gefängnis, im KZ gesessen, waren im Exil gewesen – wir hatten unseren Eltern ihre Vergangenheit nicht vorzuwerfen, was uns beschäftigte, war etwas anderes, war die Frage, was von dem in der DDR geblieben war, was unsere Eltern einst gewollt hatten, ob uns das, was uns unsere Eltern als Verpflichtung vermittelt hatten, nun nicht in einen dem ihren gegen die Nazis gerichteten analogen Widerstand zwang.“132 128 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 24. Oktober 1968, S. 167. 129 Dorothee Wierling, Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in der Erziehungsliteratur der sechziger Jahre, in: Sozialgeschichte der DDR, hrsg. von Hartmut Kaebler, Jürgen Kocka u. Hartmut Zwahr, Stuttgart 1994, S. 404–425. 130 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 6. Dezember 1969, S. 303. 131 Reiner Kunze, Die wunderbaren Jahre, Frankfurt am Main 1976, S. 99. 132 Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 860.
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Der Tod der Christa T., dem das ‚Nachdenken‘ der Erzählerin in Christa Wolfs Roman gilt, beinhaltet „auch das Ende des antifaschistischen Subjekts der DDR, der ‚neuen Frau‘, die fest daran glaubte, mit der Nazivergangenheit nichts mehr zu tun zu haben.“133 Thomas Braschs erster Prosaband Vor den Vätern sterben die Söhne zieht bereits im Titel das Fazit einer Generation der Chancen- und Hoffnungslosigkeit. Das Buch war noch im Land geschrieben worden, konnte aber nur im Westen erscheinen; Brasch verließ die DDR.134 Die Angst vor einer ‚antifaschistischen‘ Gründungslüge war 1968 geweckt worden und nicht mehr auszurotten. Vielleicht, so stand zu befürchten, war diese DDR gar nicht das ‚bessere Land‘, ja nicht einmal der legitime Erbe eines ‚anderen Deutschland‘. „Wieder mal deutsche Uniformen in Prag“, notiert Brigitte Reimann in bezeichnendem Irrtum – und voller Entsetzen.135 „Deutsche Panzer wieder in der Tschechoslowakei – das wagte man doch nicht!“136 – so lautet die Korrektur, die immerhin mit der Möglichkeit rechnet. Und der Text Okkupation von Gerald Zschorsch endet: „Du weißt doch noch, im Jahre achtunddreißig ...“.137 Der Bruch mit dem Dritten Reich hatte auch einen Bruch mit dessen Sprache, der – von Viktor Klemperer in seinem berühmten Buch so benannten und beschriebenen – Lingua tertii imperii bedeutet. Jenes Vertrauen in die Sprache aber, das konstitutiv für die frühe DDR-Kultur gewesen war,138 wurde spätestens 1968 irreparabel erschüttert. „Sonntag-Ausgabe des Neuen Deutschland. Faschistische Redeweise. LTI reinsten Wassers“, notiert Hartmut Zwahr,139 der nicht ahnen konnte, dass Klemperer selbst sich bereits aus seinen Erfahrungen in der frühen DDR Notizen zu einem Folgeband Lingua quartae imperii gemacht hatte. Der Historiker als Zeitzeuge erkennt jenes Zentrum der Erfahrung, von dem her sich auch künftig literarisch-politische Zweifel und Nachfragen bestimmen lassen werden, die Verselbständigung der Phrase: „Sie wüten hier in Worten wie die Faschisten“;140 „Phrasen und Ideologie behaupten das Feld“; „Wort und
133 Hell, 21. August 1968 (wie Anm. 111), S. 1101. 134 Vgl. meine Studie: Thomas Brasch. Entgrenzte Autorschaft, in: Deutsch-deutsches Literaturexil (wie Anm. 34), S. 326–384, bes. S. 334ff. 135 Brigitte Reimann, Alles schmeckt nach Abschied (wie Anm. 18), S. 214 (Tagebuchnotiz vom 21. August 1968). Vgl. auch oben Anm. 27; sowie S. 45f. 136 Lange, Mauer, Jeans und Prager Frühling (wie Anm. 9), S. 321. 137 Zschorsch, Okkupation (wie Anm. 24). 138 Vgl. meine Studie: Johannes R. Becher – der ,klassische Nationalautor‘ der DDR, in: Literatur in der Diktatur: Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, hrsg. von Günther Rüther, Paderborn [u.a.] 1997, S. 303–342, hier S. 324f. 139 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 25. August 1968, S. 130. Vgl. ebd., 21.Oktober 1969, S. 296. – Analoge Zeugnisse wären aus dem Vogtländischen Kreis junger Intellektueller um Jürgen Fuchs anzuführen, vgl. Holger Ehrhardt, Unbehagen. Exilerfahrungen im Werk von Jürgen Fuchs, in: Deutsch-deutsches Literaturexil (wie Anm. 34), S. 426–436, bes. S. 426f. 140 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 23. August, S. 125.
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Tat fallen auseinander“;141 „Alle Großtaten, alle großen Worte und Traditionen werden zu Schaum.“142 Zwahr ist keineswegs ein Kritiker der sozialistischen Ideale; doch diese werden verraten: „Die Worte“ nehmen „einen neuen Inhalt“ an, doch eben dies werde verschwiegen, so kommt es zu einer bloß „[verbalen] Demokratie“.143 Zwahr wünscht sich keineswegs „westliche Verhältnisse“; doch er fordert einen Sozialismus der Wahrheit, „eine sozialistische Politik zur Erhaltung der DDR“: [...] „wir müssen Bedingungen schaffen, daß sich das Wort nicht zur Phrase verwandelt, die proklamierte sozialistische Menschengemeinschaft auch zu einer solchen werden kann.“144 Was als Erkundungen einer Utopie literarisch formuliert wird, drängt auch in den politischen Raum. Pragmatisch konstatiert Zwahr: „Die politischen Rückwirkungen werden nicht ausbleiben [...] Die Staaten, die nachfolgen werden, haben ein Beispiel. Die Konturen des demokratischen Sozialismus sind nicht verschwunden [...]. Die Zeit ist für die Reformer.“
Robert Havemann und Rudolf Bahro aber entwickeln diesen ‚Sozialismus des dritten Weges‘ mit programmatischem Anspruch weiter – und halten als Provokation der Staatsgewalt einen Reformappell an den ‚real existierenden Sozialismus‘ auf der Agenda. Mit den Schriftstellern – wie Biermann, wie Volker Braun – bleiben sie in engem Kontakt.145 Bahro hatte in einer Reihe von Erklärungen, deren jede vom Ministerium für Staatssicherheit sorgfältig in seiner Akte festgehalten wurde, die Entwicklung in der ČSSR stets positiv beurteilt. „Der Einmarsch war ein Schlag, der mich so persönlich betroffen hat wie irgendeinen der engagiertesten tschechischen Akteure. [...] In den ersten Stunden und Tagen nach der Intervention hat sich für immer etwas in mir verändert. Jedenfalls wollte ich ihnen nun eine Antwort liefern, gegen die sie ideell so ohnmächtig sein sollten, wie wir es waren gegen ihre Panzer.“146
Das programmatische Manifest Die Alternative ist, wie Bahro 1989/90 in einem Nachwort zur Neuausgabe festhält, „entstanden auf dem Weg von meinem Haßausbruch am frühen Morgen des 21. August 1968 zu dem Aufstieg Michail Gorbatschows in der 141 142 143 144 145
Ebd., 23. März 1968, S. 22. Ebd., 21. Januar 1969, S. 234. Ebd., 7. April 1968, S. 47. Ebd., 23. März 1968, S. 22: das folgende Zitat ebd., 27. August 1968, S. 136. Ebd., 27. August 1968, S. 136. – Braun konnte für den Alltag der DDR-Wirtschaft höchst aufschlussreiches Material, das ihm Rudolf Bahro überließ, verwenden; vgl. Guntolf Herzberg/Kurt Seifert, Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 104. 146 Selbstinterview, in: Herzberg/Seifert, Bahro (wie Anm. 145), S. 102. Die Formulierung vom ‚Schicksaljahr‘1968 wählen auch Guntholf Herzberg und Kurt Seifert für das einschlägige Kapitel ihrer Bahro-Biographie, S. 98. – Auch Bahro übrigens vollzieht die Absage an die Sprache des ‚anderen Deutschland’ DDR nach; und seine Gedichte wenden sich nun von der ‚Becherei‘ also dem programmatisch-aufbauenden Ton der Lyrik Johannes R. Bechers, hin zu Brechtschem Zweifel.
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Perestroika.“147 Robert Havemann war sich sicher, dass „jener Frühling in Prag eine entscheidende Wende in der Entwicklung der gesamten revolutionären Bewegung in der Welt herbeiführen wird, und zwar nicht nur gegen die Sowjetunion sondern auch in der Sowjetunion.“148 Den größten Teil des Kapitels Der Prager Frühling in seiner 1970 erschienenen ersten Lebensbilanz widmet Havemann allerdings einer Skizze des USImperialismus und seiner Zweifel an der Politik der friedlichen Koexistenz. Dass sich die imperialistische Aggression allerdings auch auf Seiten der Sowjetunion finden könne, war eine Schlussfolgerung, die im Jahr 1970, dem Erscheinungsjahr des Buches, leicht zu ziehen war. „Leidenschaftliche Empörung“, so resümiert Havemann, „war deshalb die unmittelbare Reaktion auf die militärische Intervention der fünf Warschauer-Pakt-Staaten, die ganz offensichtlich kein anderes Ziel verfolgten, als dieser neuen, hoffnungsvollen Entwicklung des Sozialismus den Garaus zu machen.“149 „Ich denke immer noch an das, was in der ČSSR war, und andere haben es auch nicht vergessen“,150 notiert Hartmut Zwahr mehr als ein Jahr nach der Okkupation in seinem Tagebuch. Zwahrs Tagebuch mit seinen beiden Polen – dem Milieu der Leipziger KarlMarx-Universität und der Leipziger SED, in der Zwahr ein widerwilliges Mitglied war, auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Wahrnehmungen, das Miterleben des Prager Frühlings aus der Distanz, die ständige Suche nach Nachrichten, die Gespräche, die Hoffnungen und Enttäuschungen – bezeugt schließlich, dass auch diese Historiker, der an der zeitgenössischen DDR-Literatur wenig Interesse hat – einzig Wolf Biermann wird in seinem Tagebuch einige Male erwähnt –, allmählich das Signal erkennt, „daß es keinen Sinn mehr mache, in der DDR für einen besseren Sozialismus zu kämpfen“.151 Und diese „tiefe [...] Depression nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt Truppen“152 wirkte lange nach; vielleicht konnte 1968 ein Aufstand in der DDR nicht stattfinden, aber jedenfalls entwickelte sich, so hat selbst die Zeitgeschichtsforschung konstatiert, das traumatisierende Bewusstsein einer versäumten Revolution.153 147 Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Berlin 1979, S. 548, vgl. auch ebd. S. 545. – Vgl. Zur Entstehung nach 1968 auch Herzberg/Seifert, Bahro (wie Anm. 145), S. 135ff. 148 Havemann, Fragen Antworten Fragen (wie Anm. 22), S. 234. Vgl. hier und im folgenden Clemens Vollnhals, Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, 2. Aufl., Berlin 2000, S. 15 u.ö. 149 Havemann, Fragen Antworten Fragen (wie Anm. 22), S. 237. 150 Zwahr, Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), 21. Oktober 1969, S. 296. 151 Havemann, Havemann (wie Anm. 7), S. 376, hier allerdings im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit Biermanns Lied Flori Have. 152 Schorlemmer, Schlüsseldaten (wie Anm. 78), S. 145. 153 Vgl. Mary Fulbrook, Anatomy of a Dictatorship, inside the GDR 1949–1949, New York 1995, S. 193ff.: The revolution, which did not take place. – Vgl. auch den Abschnitt „Der Prager Frühling und die DDR“ in Wolle, Die versäumte Revolte (wie Anm. 20), S. 43ff. sowie oben Anm. 114.
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Zwanzig Jahre nach dem Prager Frühling wird Christoph Hein in einem Buch des Gedenkens, Der Tangospieler, die Pathographie gesamtgesellschaftlicher Lähmung in der DDR, deren Diagnose Hein mit seiner Novelle Der fremde Freund 1982 begonnen hatte,154 gleichsam für vollendet erklären; sie resultierte aus dem Prager Desaster des Staatssozialismus, für den Autor damals ein herber „Illusionsverlust“.155 Dallow, Assistent am Historischen Institut, war ins Visier der Staatssicherheit geraten. Er hatte bei einer Kabarett-Aufführung, ohne auf den Text zu achten, die Musikbegleitung gespielt; dies bringt ihm zwei Jahre Haft ein – wegen „Verächtlichmachung führender Persönlichkeiten des Staates“.156 Nach seiner Entlassung weigert Dallow sich, am Leben des Staates, der ihn ungerecht behandelt hat, weiter teilzunehmen. Er will gleichsam als ein Zeichen dieses Unrechts leben. Da während der Haftjahre die ihm zustehende Beförderung seinem Konkurrenten zuteil wurde, kehrt er nicht ans Historische Institut zurück. Er verbringt seine Zeit mit wechselnden Frauenbekanntschaften, lässt in ziellosen Besuchen die heiklen Stationen seiner Vergangenheit – die Beziehung zu den Eltern, zu den Protagonisten des Studenten-Kabaretts, zum Richter seines Prozesses – wieder aufleben. Doch die Stationen seines eigenen Lebens wecken bei ihm keinerlei Teilnahme. Dallow „hatte eine Freiheit gewonnen, die er zu nutzen nicht fähig war.“157 Und ebenso wenig ist er zur elementaren und wahrhaft menschlichen Form von Gemeinschaft fähig – zur Liebe.158 Frauen bieten ihm einen bedeutungslosen Zeitvertreib. – Während er „unverwandt auf die Brüste einer Barfrau starrt“, diskutierten „die beiden Männer [neben ihm am Tresen] noch immer über Prag und Dubček. Sie sprachen so laut miteinander, daß sich Dallow beim Betrachten der Brüste gestört fühlte.“ Ähnlich beziehungslos, aber hartnäckig, durchziehen weitere Hinweise auf die Prager Ereignisse den Text.159 Die sich steigernde Serie von Dallows Bekundungen von Desinteresse gipfelt schließlich bei der Nachricht „von dem Einmarsch der Truppen in Prag“,160 der für ihn dann doch eine – vom Erzähler sarkastisch plazierte – Lebenswende 154 Vgl. zu diesem Themenkomplex bei Hein: Joachim Lehmann, Christoph Hein – Chronist und historischer Materialist, in: Christoph Hein. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1991, S. 44–56; außerdem vgl. den entsprechenden Abschnitt bei Bernd Fischer, Christoph Hein: Drama und Prosa im letzten Jahrzehnt der DDR, Heidelberg 1990, S. 132–141. 155 Christoph Hein, Über Erwartungen und Illusionen sowie das Schicksal der DDR-Literatur, in: Leipziger Volkszeitung, 2.6.1993. 156 Christoph Hein, Der Tangospieler. Erzählung, Berlin/Weimar 1989, S. 71. 157 Ebd., S. 109. 158 Friedrich Dieckmann zieht die Folgerung aus dieser repräsentativen Ich-Losigkeit des DDRBürgers: „Da sie ich zu sagen nicht gelernt haben, können sie auch nicht du sagen.“ – Friedrich Dieckmann, Christoph Hein, Thomas Mann und der Tangospieler, in: Chronist ohne Botschaft – Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Hrsg. von Klaus Hammer, Berlin/Weimar 1992, S. 153–157, hier S. 157. 159 Vgl. etwa Hein, Tangospieler (wie Anm. 156), S. 106, 146, 151, 158ff., 179, 198f. 160 Ebd., S. 198.
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bedeutet. Seine damalige Bettpartnerin, „eine Studentin [...], ein etwas fülliges, sehr kleines Mädchen“, bricht auf diese Nachricht hin in Tränen aus und reagiert mit entsetztem Unverständnis auf Dallows Abwiegeln, da er doch immerhin „ein lebendiger Mensch“ sei.161 Dallows Selbstbeschreibungen erweisen sich in ihrer Summe als Rollennegationen, die jedoch nicht auf ein Ich jenseits der Rollen verweisen. Herausgefordert als Historiker, sich der Zeitgeschichte zu stellen, erklärt er: „[...] was da in Prag passiert, kümmert mich so viel [...] und außerdem arbeite ich nicht mehr als Historiker.“162 „Wo das Subjekt zur Freiheit nicht fähig ist,“ so hat man resümiert, „kann Geschichte nicht entstehen.“163 Dallows Bekenntnis schließlich, das auf die junge Studentin wie Spott wirkt – „‚Ich bin Pianist. […] Tangospieler‘“164 – gewinnt nun seine ganze Bedeutung: Er hat, als DDR-Bürger und ZeitHistoriker der DDR immer nur die ‚Begleitmusik‘ zu Texten übernommen, die ihn gerade in ihren politischen Folgen nicht interessierten, und seine Kränkung beruht darauf, dass er, obschon ein genuiner ‚unpolitischer‘ Mitläufer, für diese Folgen haftbar gemacht und in Haft gesetzt wurde, von seinem eigenen Staat. Gleichwohl wendet sich jetzt sein Leben; denn der konturierende, keineswegs unpolitische, sondern höchst linientreue Kollege von einst weist in einer Vorlesung die Okkupationsnachricht, die ihn noch nicht erreicht hatte, „als eine erneute westliche Provokation“ zurück, „berief sich dabei auf ältere Zeitungsmeldungen und Kommentare von Staat und Partei“, die ja völliges Vertrauen verlangten und verdienten, „da aus politischer und geschichtlicher Verantwortung niemals deutsche Soldaten an einem Einmarsch in Prag teilnehmen könnten.“165 Solch überzeugte Idealisten, die an den Staat und seine Ideologie glauben, sind für die real existierende DDR noch lästiger als die unpolitischen Mitläufer. So wird der Dozent aus dem Amt geworfen, und Dallow schwenkt in die nur unterbrochene Laufbahn wieder ein. Zum Schluss betrachtet er im Fernsehen die Bilder der Propaganda: „Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm warfen Blumen zu den auf ihren Panzern sitzenden Soldaten, andere Bilder zeigten Prager Bürger in freundschaftlichen Gesprächen mit den Soldaten.“166 Der DDR-Historiker folgt dem Takt der DDR-Zeit; er 161 Ebd., S. 199. 162 Ebd., S. 151. – Vgl. Martin Sabrow, Die DDR-Geschichtswissenschaft und ihre Zeithistorie, in: Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, hrsg. von Alexander Nützenadel u. Wolfgang Schieder, Göttingen 2004, S. 257–282; Sabrow beginnt seine informative Abhandlung mit der Thematisierung des Unbehagens an der Zeitgeschichte und ermöglicht damit eine künftige Verknüpfung von literarischen Verhandlungen (etwa bei Christoph Hein oder auch Günter de Bruyn) und der Entwicklung des Faches in der DDR. 163 Zur Thematisierung von Schopenhauers Philosophie der ‚Willenlosigkeit‘ vgl. Fischer, Christoph Hein (wie Anm. 154), S. 137. 164 Hein, Tangospieler (wie Anm. 156), S. 159. 165 Ebd., S. 202. 166 Ebd., S. 206. – Auch die versäumte Entscheidung wird in ein Bild der Okkupation gefasst. Dallow, dem auf der Rückreise in sein früheres Leben einer der zur Okkupationslogistik gehörenden
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wird „am nächsten Morgen pünktlich im Institut sein.“167 Er ist ein Gefangener in Freiheit: „Die Zelle“, so resümiert Friedrich Dieckmann, „in die der Held zurückfindet, ist nicht die des Gefängnisses, von dem er nicht loskommt, sondern die seines alten, komfortablen Lebenslaufes.“168 – „Sind die Handelnden Unpersonen, wird dies auch ihr Opfer.“169
VI. Der Kalender der ‚Revolution‘: Von 1953 bis 1989 Nach dem Schock von 1968 hatte sich auch bei Wolf Biermann die Verzweiflung erst langsam durchgesetzt. Emphatisch wie stets hatte er sein schon seit 1965 verhängtes Auftrittsverbot noch mit vielfältigen Aktionen unterlaufen: „Alles in allem war ich nach dem Verbot freier und effektiver als vorher. Den Liedern wuchsen Flügel. Es begann eine lebenspralle Phase meines Lebens, eine mehr lustige als traurige Zeit, trotz all der Schikanen, trotz großer Ängste, ja, sogar trotz der Verzweiflung und der Ratlosigkeit, die nach dem blutigen Ende des Prager Frühlings über uns hereinbrach.“170
Und erst allmählich stellt er fest: „[...] in Wirklichkeit waren solche Hoffnungen schon damals Illusionen, ein verzweifelter Selbstbetrug.“171 Ähnlich schildert Klaus Schlesinger sein Verlangen nach einer solidarischen Gesellschaft noch im Rückblick:
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Armeetransporte begegnete, erlebt eine nächtliche Vision: „Er stellte sich vor, der Junge würde die Gewalt über den Panzerwagen verlieren. Er sah, wie der Eisenkoloß plötzlich aus der Reihe brach und sich mit schlingernden Bewegungen auf ihn zu bewegte.“ (ebd., S. 204) Nur in dieser Vision begreift Dallow, dass die Geschichte ihn angeht und die Brutalität der Okkupation auch ihn zermalmen könnte. Hein, Tangospieler (wie Anm. 156), S. 206. Dieckmann, Christoph Hein (wie Anm. 158), S. 155. Ebd., S. 156. – Der Mensch aber ist auch für Hartmut Zwahr, den Leipziger Historiker, der Maßstab des gelingenden Sozialismus; vgl. den Eintrag vom 29. Januar 1969: „Wenn der Mensch nicht besser wird, ist alles für die Katze.“ (Zwahr, Flügel der Schwalbe [wie Anm. 10], 29. Januar 1969, S. 240). Zwahrs Analyse des Unterschiedes lautet wie folgt: „ Im deutschen Volk hat der zweite Krieg, wo eine ganze Generation für den Teufel ins Feuer ging, anscheinend alle moralische Kraft aufgezehrt. Wir lassen uns alles gefallen. Die 1945 wirklich befreite Nation hat das Selbstbewußtsein freier Würde nie wiedererlangt. Die Manipulierung der beiden Staatsvölker war und ist total.“ (ebd., 21. Januar 1969, S. 234). – Dem Menschen des ‚entwickelten Systems‘, wie es sich in der DDR allmählich etabliere, widmet Zwahr einen großen Abschnitt seines Tagebuchs; vgl. Zwahr, Flügel der Schwalbe, vom 1. Oktober bis zum Ende des Jahres 1968, S. 151–226. Der Mensch wird „im entwickelten System“ (ebd., 24. Oktober 1968, S. 167) deformiert. Freilich, die moderne Technik habe „die Möglichkeiten zum Widerstand“ auch „stark eingeschränkt“ (ebd., 19. März 1970, S. 338). Biermann, Wie man Verse macht (wie Anm. 41), S. 236. Ebd., S. 241f.
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„Ich wollte ja nie in den Westen, das ist ja nicht meine Idealgesellschaft. Ich habe vieles geschätzt, aber ich wollte doch mehr eine solidarische Gesellschaft als eine auf Konkurrenz beruhende. [...] Also Gorbatschow: Ich habe die ganze Zeit gehofft, daß so etwas wie achtundsechzig wieder möglich wird – ich meine jetzt Prag. Daß also die Mehrheit des Volkes einen sozialistischen Weg unterstützt, demokratisch – darauf habe ich immer gehofft.“172
Im Jahr 1976 war Biermann aus der DDR ausgebürgert worden, Schlesinger war 1980 freiwillig ins Exil gegangen, und eben in dieser Phase ‚nach 1976‘ kommt nun offenbar auch ein Prozess zu Ende, der 1968 anhob. Die Erfahrungen und enttäuschten Hoffnungen von 1968 bündeln bisher ganz unterschiedlich angelegte Lebensläufe und lenken nicht wenige von ihnen bis zum radikalen Bruch mit dem sozialistischen Vaterland und zum Exil. Ob nun, wie Biermann und Schlesinger, ein loyaler Kritiker der DDR, ob distanziert, wie aus unterschiedlichen Biographien heraus. – Rachowski, Schacht und Kunze – gemeinsam ist ihnen und vielen anderen, dass sie nach 1976 gleichsam eben die Konsequenz aus ihrer 1968er Erfahrung zogen, die der Maler Roger Loewig einmal in einem Gedicht fixiert hat:173 Zugedacht denen Die nicht mehr sind Und die einst waren [...] darauf heute gestoßen wie immer wie jeden tag 25 jahre nach auschwitz am ende des jahrs 69 des jahrs biafras des jahrs griechenlands des jahrs irlands des jahrs vietnams des jahrs von harlem des jahrs von jerusalem des todesjahrs von prag
[...] des jahrs der gelungenen flucht von y des jahrs...
172 Klaus Schlesinger, „Deshalb ist Literatur immer eine Form der Freiheit…“. Gespräch mit Jürgen Krätzer, in: Die Seele der Männer. Die Erzählungen, Berlin 2003, S. 331–366, hier S. 356. 173 Roger Loewig, Zugedacht denen, in: Ewig rauchende Kältezeit. Gedichte, Berlin 1979, S. 7f.
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Roger Loewig hat – von seiner jüdischen Herkunft her – die Schrecken des Jahrhunderts aufgereiht, die immer neu in die Flucht der Verfolgten münden – eine Kontinuität der Gewalt, mit Kennchiffren, die in der DDR-Propaganda gerne verwendet wurden, wie Biafra etwa, Vietnam, oder auch das schwarze Ghetto Harlem; dann standen aber, dem Antizionismus der DDR wenig willkommen, etwa Jerusalem – und dann auch Prag in dieser Reihe. Loewig spricht nicht von Hoffnungen. Doch entsteht in anderen Kontexten der DDR allmählich eine engere Reihe von Kenndaten der enttäuschten Hoffnungen, die – literarisch vielfältig variiert – ebenso zu einem Erfahrungstopos der DDR-Bürger wurden. Die Erinnerung an jeden „gewaltsam unterdrückten Aufbruch blieb in allen späteren Phasen lebendig.“174 Uwe Johnsons Werkchronologie etwa bildet bereits eine Folge der Unterdrückung ab – von 1953 in Berlin, über Ungarn 1956 bis 1968 in der ČSSR. So verdichtet sich die Abfolge zu einer düsteren Geschichte, der „Versteinerung einer Hoffnung“ unter kommunistischer Herrschaft; dies die Lesart Heiner Müllers.175 Exilanten wie Bernd Jentzsch freilich sahen ohnehin keinen Anlass mehr zur Hoffnung im Kommunismus; in seinem Gedicht Irrwisch werden die sich auftürmenden Tabus der öffentlichen Sphäre der DDR – also etwa die Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz 1976 – der Reihe nach benannt und gleichsam besiegelt:176 Gegeben zu Berlin, den siebzehnten Juni, und immer, Gegeben zu Prag, den einundzwanzigsten August, Immer haben sie es uns gegeben in dieser lieben Sommerszeit.
Der deutsche Frühling, ein Gedicht von Gerald Zschorsch – 24 Jahre nach dem 17. Juni, also 1977 geschrieben –, reiht die Schlüsseldaten 1953 „im roten Ostberlin“, dann, 1956, als man in Budapest „schon wieder Arbeiter“ totschoß, und schließlich 1968: Zwölf Jahre später dann, im guten alten Prag da standen schon wieder Mütter vor ihrer Kinder Sarg [...] Daß endlich Kommunisten, mit Arbeitern vereint den Sozialismus bauen da griff der Breschnew ein als Konterrevoluzzer und Hahn in Stalins Nest ließ er die Panzer rollen, daß ihr das nie vergeßt.
Der Sozialismus aber, so lautet Zschorschs Resümee, siegt: „trotz Stalin und der Pest / bald kommt ein Deutscher Frühling, daß ihr das nie / vergeßt.“177 Statt mit einem Deutschen 174 Wolfgang Engler, Konträr und parallel: 1968 im Osten. Thesen, in: 1968 – Ein europäisches Jahr (wie Anm. 31), S. 105–109, hier S. 106. 175 Heiner Müller, Hamletmaschine, in: Heiner Müller: Stücke, hrsg. von Joachim Fiebach, Berlin 1988 im Abschnitt Die Pest in Buda zur Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956. 176 Bernd Jentzsch, Irrwisch. Ein Gedicht, Pfaffenweiler 1985, S. 18. 177 Gerald Zschorsch, Der deutsche Frühling, in: Ders., Glaubt bloß nicht daß ich traurig bin (wie Anm. 14), S. 127f., hier S. 128.
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Frühling zu enden, wird zunächst diese Reihe im Jahr 1976 mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann fortgesetzt, welche zugleich das zweite Motiv der Desillusion abermals bewusst macht – den abermaligen Verrat am DDR-Gründungsmythos des antifaschistischen Staates. Biermann selbst machte darauf aufmerksam: „Die Nazis haben nach Herzenslust ausgebürgert, einzelne Bürger und ganze Gruppen: Juden, Kommunisten.“178 Ganz offenkundig hatte man sich, wie Andreas Öhler anmerkt, bereits „mit dem Begriff Ausbürgerung in der Wortwahl vergriffen, denn unschöne Assoziationen wurden dadurch geweckt: Die Nationalsozialisten handhabten die Ausbürgerung einst als wirkungsvolles Repressionsmittel – bis dato als erste und einzige Staatsmacht […].“179
So spiegelte 1976 die Aggression des Staates DDR gegen den Staatsbürger Biermann die Okkupation der ‚sozialistischen Bruderstaaten’ gegen die unbotmäßige ČSSR. Die enttäuschten Hoffnungen des Jahres 1968 hatten jedenfalls für viele den Anfang in einer nicht mehr systemkonformen Politisierung bedeutet, deren Resultate – bis hin zum offenen Bruch – sich dann im Jahre 1976 zeigen. Katalysator ist eben die Ausbürgerung Wolf Biermanns, ein neuerlicher Schock, der immerhin heftig genug erschütterte, um – nach Robert Havemanns Vorgang – nun geschlossen den Weg über die Grenze in den Medienraum des Westens zu suchen. Die Biermann-Petition der Intellektuellen vom 17. November 1976 wird noch am selben Abend in den „Hauptnachrichten des West-Fernsehens als erste Meldung“ gesendet.180 Anders als 1968, als die traditionellen Repressionen – Verhaftung, Einschüchterung, vielleicht Verurteilung und Gefängnis – im Großen und Ganzen noch gefruchtet und jene DDR-typische Kombination von „conformity and grumbling“181 unter der Bevölkerung stabilisiert hatten, wird jetzt das, was bei den Aktionen etwa der jugendlichen Opponenten nur vereinzelt gelungen war, zur breiten Strategie: Die Intellektuellen, die gegen Biermanns Ausbürgerung Protest erheben, reichen ihn nicht pflichtgetreu bei der DDR-Presse, also dem Neuen Deutschland, ein, sondern übergeben ihn gleich den ‚Westmedien‘. So formiert sich insgesamt 1976 jener Protest, der sich 1968 kaum hatte artikulieren können. Die Vorbehalte gegenüber dieser Protestwelle, wie sie schon von damaligen His178 Wolf Biermann, Das Kaninchen frißt die Schlange. Die Stasi-Debatte und das Drehbuch meiner Ausbürgerung, in: Der Sturz des Dädalus oder Eizes für die Eingeborenen der Fidschi-Inseln über den IM Judas Ischariot und den Kuddelmuddel in Deutschland seit dem Golfkrieg, Köln 1992, S. 149. Biermann selbst gehört beiden von ihm benannten Gruppen Verfolgter an. 179 Andreas Karl Öhler, Tiefbesorgte Feinde, in: Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR, hrsg. von Fritz Pleitgen, Berlin 2001, S. 330–344, hier S. 333. – „Einen zahlenmäßig vergleichbaren Exodus hat es in Deutschland nur nach 1933 gegeben“, hielt Erich Loest 1981 noch einmal fest; Erich Loest, Als wir in den Westen kamen. Gedanken eines literarischen Grenzgängers, Leipzig 1997, S. 23. 180 Susanne Beyer, Der Schatten des Herbstes, in: Der Spiegel 44 (30.10.2006), S. 198. 181 Fulbrook, Anatomy of a Dictatorship (wie Anm. 153), S. 139.
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torikern wie Timothy Garton Ash geäußert werden,182 greifen deshalb zu kurz. Gewiss kommt es nicht zu einem Aufstand, aber es wird die Möglichkeit von Opposition demonstriert, und das über enge intellektuelle Zirkel hinaus. Was 1968 nur versucht wurde, ist jetzt etabliert: Eine doppelte Öffentlichkeit, in der der Medienraum des Westens jenen nicht mehr abzuschirmenden der DDR überlagert. Zudem erscheinen jetzt „autobiografische Berichte [...] über länger zurückliegende Verfolgungswellen“,183 so gegen die Unterstützer des Prager Frühlings in der DDR. – Es zeigt sich hier, dass die Ereignisse in der ČSSR 1968 für die oppositionellen Strömungen der siebziger Jahre eine langandauernde und wirkende Initialzündung darstellten. Gleichwohl: Erst im Jahr 1989 wird der Reihenzwang jenes Kalenders unterdrückten Aufbegehrens gebrochen. Für Wolf Biermann ist in der 1978 publizierten Gedichtsammlung Preußischer Ikarus auch die Wiedervereinigung der ‚beiden Deutschland’ an die 1968er Erfahrung geknüpft: „Erst muß sich innerhalb der DDR eine Art Prager Frühling durchsetzen, der nicht mit Panzern niederdiskutiert werden kann.“184 Mit dem Verschwinden der Hoffnungen des Prager Frühlings hatte eben doch, „bei allem politischen Lärmen, die Selbstzerstörung des Systems [begonnen], bevor die DDR unterging.“185 So bilanziert der Historiker Hartmut Zwahr seine erlebte Zeitgeschichte. Denn der ‚Offenbarungseid des Staatssozialismus‘ umfasste ja die brutale militärische Gewaltaktion zum einen, zum anderen aber eine anachronistische Hilflosigkeit gegenüber der 1968er Revolution des Lebensstils.186 Unterhalb der institutionalisierten Großgruppierungen der Gesellschaft waren, so wurde plausibel gemacht, die Resultate von 1968 im Westen in gleichsam subversive Prozesse im Osten eingebracht worden: „Statt der Übernahme dominierte die ‚Übersetzung‘, die auf dem Wege phänotypischen Lernens geschah.“187 Und hinzuzufügen bleibt, dass dieses Lernen wohl von der tiefsitzenden Enttäuschung über den bornierten Dogmatismus des eigenen Systems, wie er sich mit der Prager Okkupation gezeigt hatte, angetrieben wurde.188 Gewiss lässt sich 1989 nicht geradlinig
182 Vgl. Timothy Garton Ash, „Und willst du nicht mein Bruder sein…“. Die DDR heute, Hamburg 1981. – Hermann Kuhn (Bruch mit dem Kommunismus [wie Anm. 27], S. 267) wertet sie als Beleg. 183 Kuhn, Bruch mit dem Kommunismus (wie Anm. 27), S. 267. – „1977/78 erscheinen autobiographische Skizzen von Gerald Zschorsch, in deren Mittelpunkt die Gefängniserfahrung steht, nachdem er sich 1968 offen für die Prager Reformer und gegen den Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten geäußert hatte.“ (Ebd.) 184 Wolf Biermann, Preußischer Ikarus. Lieder/Balladen/Gedichte/Prosa, Köln 1978, S. 217. 185 Hartmut Zwahr, Vorbemerkung, in: Flügel der Schwalbe (wie Anm. 10), S. 7ff., hier S. 7. 186 Vgl. Gehrke, Die neue Opposition (wie Anm. 31). 187 Engler, Konträr und parallel (wie Anm. 174), S. 108. 188 Vgl. zu diesem Verhältnis von reformsozialistischen Gruppierungen der alten DDR zu den Impulsen der 1968er Bewegung auch den Hinweis ebd.
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„als Fortsetzung und Erfüllung von 1968“ betrachten,189 aber die „ostdeutschen 68er haben deutlich erkennbar in die demokratische Revolution, so, wie sie begann, eingegriffen;“190 Im Jahr 1989 kehrt die Geschichte, die in der Serie von Interventionen der kommunistischen Staatsmacht gegen die Aufbegehrenden seit 1953 gleichsam stillgestellt war, nach Mitteleuropa zurück – und ‚1968‘ wird zum Kalenderdatum gemeinsamen Gedenkens.
189 François, Annäherungsversuche (wie Anm. 31), S. 14. 190 Zwahr, Rok šedesátý osmý (wie Anm. 64), S. 116; Zwahr verweist auf Friedrich Schorlemmer, Christoph Hein, Heinz Eggert und den Germanisten Eberhart Haufe. Zwahr bietet auch Texte aus den Montagsdemonstrationen zu Leipzig, die auf 1968 zurückverweisen. – Vgl. Ders., 1989 und 1968. eine Rückbesinnung, in: Vorwärts und nicht vergessen nach dem Ende der Gewißheit. 56 Texte für Dietrich Mühlberg zum Sechzigsten. [=] MKF. Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 19 (1996), H. 37 (Februar 1996), S. 362–369.
Klaus Mehner
Kulturpolitische Tauwetterperioden und ihre Auswirkungen auf die Musik der DDR
Über jüngere und jüngste Geschichte zu sprechen oder zu schreiben, ist immer ein riskantes Unternehmen. Man erfährt dabei hier, aber nicht nur hier sehr deutlich, dass eine vermeintlich angestrebte Objektivität etwas ist, was sich so nicht erreichen lässt. Zudem scheint das Verhältnis zu jüngerer Geschichte dadurch deutlich erschwert zu werden, dass viele der Prozesse noch nicht abgeschlossen sind, sondern weit in die jeweilige Gegenwart reichen. Geschichte, das sind eben nicht nur Faktensammlungen, die sicher mit der Zeit immer vollständiger und genauer gestaltet werden können; Geschichte, das sind auch die Verbindungen zwischen den Fakten und ihre Bewertung und demnach auch die Menschen, Organisationen und Gesellschaften, die diese Verbindungen erkennen und herstellen und entsprechend auch bewerten. Besonders kompliziert erweist sich eine solche Annäherung, wenn es sich um eine Zeit der Diktatur handelt, in der zum Beispiel Musik als zentraler Untersuchungsgegenstand fungiert. Damit rücken politische und vor allem auch ideologische Fragen stark in den Vordergrund und beeinflussen Bewertungsprozesse in starkem Maße, ja lassen eigentliche Untersuchungsgegenstände manchmal sogar in den Hintergrund treten. Solches gilt für die Jahre, die in der vorliegenden Publikation im Zentrum des Interesses stehen, ganz genauso. Begriffliche Feststellungen, wie sie mit der Bezeichnung „ruhiges Land“ getroffen oder wie sie in meiner Überschrift mit „Kulturpolitische Tauwetterperioden“ versehen sind, spiegeln dies deutlich wider. Sie sind in der Regel Fixierungen von besonders auffälligen Erscheinungen oder vorläufigen Gesamteindrücken, die häufig noch genauerer Erklärung bedürfen. Doch bevor ich in diese Thematik direkt einsteigen und damit mehr oder weniger auch einen Bericht über eigenes Erleben abgeben will, möchte ich Ihnen für diesen Zustand ein äußerst plastisches musikalisches Beispiel aus den 60er Jahren vorstellen, eines, das heute nur noch wenig bekannt ist, nämlich Wolfgang Lessers Lied Du liebes Land auf einen Text von Heinz Kahlow Sowohl Text als auch Musik malen das Bild eines friedlichen, eben lieben Landes, in dem man sich eingerichtet hat. Ein Paradies ist es noch nicht, aber vielleicht auf dem Weg dahin. Der Text des Kehrreims mag dieses Bild noch ein wenig verdeutlichen: Du liebes Land zwischen Meiningen und Kap Arkona, gewiss, ein Paradies bist du noch nicht, du hast so ein Klima, ich finde dich prima, du bist real und trotzdem ein Gedicht.
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Für nicht wenige Bürger, und darunter auch für Intellektuelle, war das durchaus Ausdruck der Zeit in den 60er Jahren. Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag erst knapp zwanzig Jahre zurück; die Jahre danach waren geprägt von starkem Aufbauwillen, aber auch von weltweiten Auseinandersetzungen, was sich nicht zuletzt im so genannten Kalten Krieg zwischen Ost und West zeigte. Einen der Höhepunkte dieser Entwicklung stellte sicher der Mauerbau von 1961 dar, und zwar als eine merkwürdige doppeldeutige Konstruktion: Einerseits sollte er den „kalten Kriegern“ auf der westlichen Seite ihre Grenzen zeigen, andererseits konnte er aber auch nicht verheimlichen, dass der Staat damit zugeben musste, seinen eigenen Bürgern zu misstrauen. Der bedrohliche Ausmaße zeitigende Abwanderungsstrom sollte und konnte damit zunächst gestoppt werden, allerdings fragt sich, um welchen Preis. Die für die meisten Bürger praktisch nicht vorhandene Möglichkeit, das Land auf legalem Wege – und sei es nur besuchsweise – zu verlassen, blieb bis zum Ende der DDR ein entscheidender Reibungspunkt zwischen Regierenden und Regierten und hatte bekanntlich eine unnötige Zahl von Opfern zur Folge. Trotz dieser Tatsachen waren nicht wenige Bürger der DDR davon überzeugt, dass nunmehr ein wesentlich erfolgreicherer Auf- und Ausbau ihres Landes möglich sei. Materielle und geistige Ressourcen würden ab jetzt dem Land erhalten bleiben. Und einiges davon hat sich ja auch bewahrheitet. Im Folgenden sei nun auf zwei Punkte eingegangen, die nach meiner Meinung die späten 60er und die frühen 70er Jahre mitbestimmt haben. Sie sind – um dies noch einmal zu betonen – sehr stark an persönliches Erleben gebunden, allerdings auch geprägt durch mehrfach nicht zuletzt von „außen“ erwarteter oder angeforderter Reflexion.1 Zunächst und erstens zu dem spezifischen Verhältnis von Kunst und Politik, speziell auch in diesem Zeitraum. Generell scheint für Diktaturen zu gelten, dass sich Politik in besonderer Weise um Kunst bemüht, ihr große Aufmerksamkeit zukommen lässt und oftmals überaus hohe Erwartungen – wahrscheinlich sogar zu hohe – an sie hat. Bei deren Nichterfüllung aber konnte es Kunstschaffende ziemlich hart treffen; die Skala der Möglichkeiten reichte von öffentlicher Kritik und persönlichen Sanktionen bis zu totalen Verbreitungs- und Aufführungsverboten. Ein frühes Beispiel dafür betraf auch die Musik, als sich das Zentralkomitee der SED 1953 unter anderem mit der Oper Das Verhör des Lukullus (so der ursprüngliche Name) von Bertolt Brecht und Paul Dessau befasste; 1966 waren es vor allem die Filmschaffenden, die insbesondere durch Aufführungsverbote kräftig abgestraft wurden. Der Einfluss von Partei und Regierung reichte freilich bis in die Ebene der jeweiligen Künstlerverbände hinein, und das auch personell, wie sich am Beispiel des Komponisten, 1
Siehe z.B. Klaus Mehner, Artikel Deutschland, IV. 2: Die Musik in der DDR, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, Kassel/Stuttgart 1995, Band 2, Sp. 1188-1192; oder auch ders., Jahre der Entscheidung. Vom deutschen Nachkriegsklang zur sozialistisch-realistischen Musik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 27 (1996), S. 13–18.
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Musikwissenschaftlers und Musikpolitikers Ernst Hermann Meyer zeigen lässt. Der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR, dem Meyer als Mitglied des Zentralvorstandes und seit 1968 als Präsident angehörte, war Träger einer ganzen Reihe von Veranstaltungen, die sich thematisch der gesamten Breite des Musikschaffens, der Entwicklung von Musikwissenschaft und Musikpädagogik sowie der Populärwissenschaft widmeten.2 Besondere Bedeutung erlangten der I. Musikkongress der DDR 1964 mit dem 1966 veröffentlichten Folgedokument Unsere neue Musik – Widerspiegelung des Neuen und die 3. Theoretische Konferenz des Komponistenverbandes zu Fragen des sozialistischen Realismus in der Musik. Gerade die Dokumente der Realismus-Konferenz, und hier speziell das Hauptreferat des Berliner Musikwissenschaftlers Heinz Alfred Brockhaus, haben die Diskussionen um das Musikschaffen bis weit in die 80er Jahre ziemlich doktrinär geprägt.3 Insgesamt jedoch kann man feststellen, dass auch Kunstschaffende sich in dieser Republik „eingerichtet“ hatten und in einer Mischung von Duldung und Anpassung – und dies oft sehr pragmatisch – ihr künstlerisches und persönliches Leben organisierten. Den Komponisten stand freilich ein Mittel zur Verfügung, das für andere Künste in solcher Weise nicht einsetzbar war: die Verlegung quasi widerständigen Potenzials4 hauptsächlich in die Materialebene der Musik. So erklären sich auch die zum Teil heftig geführten Diskussionen um Fragen des musikalischen Materials, seine konkrete Verwendung und seine mögliche ideologische Umfunktionierung. Mit Beginn der 70er Jahre scheint sich so etwas wie eine von mir so benannte Tauwetterperiode abzuzeichnen. Eine Grundlage dafür waren politische Entwicklungen, die der DDR mehr und mehr internationale Anerkennung brachten – durch die UNO und in Folge davon durch eine große Zahl westlicher Staaten. Hinzu kam der Abschluss wichtiger internationaler Verträge bis hin zur Schlussakte von Helsinki, die das erwünschte Bewusstsein von der Existenz zweier gleichberechtigter deutscher Staaten stärken konnte. Auch schon davor konnte ein von vielen Künstlern an den Tag gelegtes Wohlverhalten gegenüber entscheidenden gesellschaftlichen Entwicklungen sowie ihre künstlerische Anteilnahme daran beobachtet werden. Zwei musikalische Beispiele mögen das belegen: zwei Sinfonien, geschrieben zum 20. Jahrestag der DDR-Gründung 1969 – Günter Kochans 2. Sinfonie und Fritz Geißlers 5. Sinfonie. Während Kochan sein Werk generell der Republik auf den Gabentisch legte 2
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Bei allen Überlegungen ist zu bedenken, dass grundsätzlich alle Bereiche der Musik im Blickfeld der verantwortlichen Funktionäre standen, also neben sog. „ernster Musik“ auch das volkskünstlerische Schaffen und die Chormusik, Blas- und Militärmusik, Tanz- und Unterhaltungsmusik sowie die Musik im Film. Das Hauptreferat von Heinz Alfred Brockhaus mit dem Thema Probleme der Realismustheorie ist erschienen in Band II der Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. von Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann, Berlin 1971, S. 24-76. Vgl. hierzu Jörn Peter Hiekels Beitrag im vorliegenden Band.
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und – wie Hörer in der sich an die Uraufführung anschließenden Diskussion bemerkten – den Weg der zwanzig Jahre mit seinen Erfolgen und Schwierigkeiten musikalisch gestalten wollte, widmete Geißler sein Stück der Stadt Leipzig. In beiden Fällen sind die politischen Bezüge mehr als plakativ, und die insbesondere bei Geißler auftrumpfende musikalische Haltung bleibt in ihrer Wirkung doch recht oberflächlich. Argumente für eine scheinbar gelockerte, durch Partei- und Staatsführung geförderte Kultur- und Kunstpolitik finden sich in entsprechenden Dokumenten, zum Beispiel in Protokollen von Sitzungen des SED-Zentralkomitees. Nach dem VIII. Parteitag der SED, auf dem der offizielle Machtwechsel an der Parteispitze zwischen Walter Ulbricht und Erich Honecker stattfand, bekräftigte der für Kultur und Kunst zuständige Sekretär Kurt Hager die Parteilinie folgendermaßen: „Unsere sozialistische Gesellschaft braucht alle Künste und ihre verschiedenen Genres. Sozialistische Kunst wendet sich an alle Werktätigen. Das einzelne Werk wird dabei natürlich immer ganz bestimmten Interessen, Erwartungen und Bedürfnissen begegnen. Nur die Kunst in ihrer Gesamtheit vermag die wachsenden Bedürfnisse differenziert zu befriedigen. Es bedeutet kein Urteil über den sozialen Wert von Kunst, wenn sich Millionen ein Fernsehspiel ansehen, Tausende eine Opernaufführung und wenn sich über eine Zeichnung vielleicht ‚nur‘ die Arbeiter eines Betriebes freuen oder die Familie, in deren Wohnzimmer sie hängt. Keine Kunstform kann eine andere an den Rand drängen oder gar überflüssig machen: das Fernsehen nicht den Kinofilm, der Roman nicht die Kurzgeschichte. Wir brauchen das Hörspiel und das Drama, große lyrische Dichtung und das Epigramm, die Sinfonie, das Kunstlied und den Schlager, die Monumentalplastik, das Gruppenbild, das Historiengemälde, das Stilleben, das Aktbild ebenso wie das Landschaftsbild – alle Möglichkeiten.“5
Man muss zugeben, dass solche Worte in offiziellen Dokumenten bis dahin sehr selten zu lesen waren. Gerade die damit verbundene Wertschätzung der einzelnen Künste fiel bei einer ganzen Reihe von Künstlern auf fruchtbaren Boden. Doch wie schnell vermeintliches Tauwetter in Frost umschlagen kann, zeigte sich dann 1976 mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Der zweite Punkt, zu dem ich mich noch äußern will, hat mit dem sich nachdrücklich vollziehenden Generationswechsel zu tun, einem Wechsel, bei dem eine zweite, jüngere Generation von Komponisten auf den Plan trat, die es vermochte, der Musik aus der DDR vermehrt in- und vor allem ausländische Beachtung zu verschaffen. Auch dieser Wechsel stand in gewisser Verbindung zu der angesprochenen politischen Situation der Zeit: Unter den gegebenen Prämissen war es durchaus möglich, manche bis dahin fast tabuisierten Fragen aufzugreifen. Dazu gehörten zum Beispiel die Möglichkeiten des Umgangs mit Kompositionsprinzipien, die noch kurz zuvor als dekadent oder auch als formalistisch einge5
Kurt Hager, Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Referat auf der 6. Tagung des ZK der SED, in: ders., Beiträge zur Kulturpolitik, Reden und Aufsätze 1972 bis 1981, Berlin 1981, S. 50.
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stuft und damit für eine sozialistisch-realistische Musik als ungeeignet betrachtet wurden. Genannt sein sollen nur die Dodekaphonie, der Serialismus oder die Aleatorik; ähnliche Vorbehalte gab es aber auch gegen die Entwicklung elektroakustischer Musik. Hier nun fand diese jüngere Generation unter anderem ihr Arbeitsfeld, freilich nicht im Sinne eines einfachen Anknüpfens an vorliegende kompositorische Ergebnisse oder gar des puren Nachholens, sondern viel eher mit einem Anspruch des Nutzbarmachens sinnvoll erscheinender Elemente. Diese Komponisten hatten die internationale musikalische Entwicklung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt – ganz im Gegensatz übrigens zu zahlreichen Vertretern der bundesdeutschen Seite, bei denen die Kenntnisse über das kompositorische Schaffen auf der östlichen Seite eher bruchstückhaft geblieben sind. Und sie haben fast alle bei hervorragenden Lehrern – und dies zumeist als Meisterschüler an der „Akademie der Künste der DDR“ – Unterstützung und Kritik gefunden, so etwa bei Hanns Eisler, Paul Dessau oder Rudolf Wagner-Régeny. Ein hörbares Zeichen für Kompositionen aus diesem Umfeld ist ihr deutlich selbstbewusstes musikalisches Auftreten. Die Komponisten scheuen sich nicht, sehr markante Gestaltungen zu erfinden, die fast immer einen sicheren Umgang mit zeitgenössischen Möglichkeiten des musikalischen Materials demonstrieren. Auch die denkbaren Bezüge zur Tradition werden nicht verkrampft gesehen, sondern genutzt, wenn sie sich anbieten. So äußerte sich Friedrich Goldmann einmal, freilich eher scherzhaft, wenn alle nur noch dodekaphon oder seriell komponieren würden, wäre das für ihn ein Grund, wieder in CDur zu schreiben. Überhaupt standen direkte Auseinandersetzungen mit Musik und Musikern der Vergangenheit sicher nicht nur in der DDR – aber aufgrund ihres immer wieder betonten Traditionsverständnisses hier besonders – auf der Tagesordnung. Musikerjubiläen wie die „runde“ Wiederkehr von Geburtstagen oder auch Todestage boten sich dafür an. Dass dabei Persönlichkeiten wie Schütz, Händel und Bach stark ins Blickfeld rückten, verstand sich merkwürdigerweise nicht nur aus Berühmtheitsgründen, sondern auch aus der Tatsache heraus, dass sie alle auf dem Territorium der späteren DDR zur Welt gekommen sind. Doch der wichtigste Traditionsbezug blieb eigentlich über die ganzen Jahre ihrer staatlichen Existenz der zu Ludwig van Beethoven. Schon nach der großen Bach-Ehrung 1950 war es 1952 der 125. Todestag, der Anlass zur Beschäftigung damit bot; 1970 und 1977 sollten weitere Ehrungen – musikpraktisch wie -wissenschaftlich – folgen. In Beethoven sahen vor allem einige Kulturfunktionäre gar so etwas wie einen Vorläufer sozialistischer Musikkultur. Reiner Bredemeyers Komposition Bagatellen für B. ist zur Feier des 200. Geburtstags Beethovens im Jahre 1970 entstanden. Sie stellt insofern einen besonderen Fall dar, als sie sich dem Genius in spezifisch heiterer Weise zu nähern versucht – für die so genannte ernste Musik generell und auch für die der damaligen Zeit durchaus nicht typisch. Der Komponist, einer der Älteren in dieser Generation, benutzt Beethovensche Musik fast wie Versatzstücke; er montiert Ausschnitte aus zwei Bagatellen für Klavier mit den charakteristischen
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Orchesterschlägen des Beginns der Eroica. Das dabei entstehende Wechselspiel zwischen den Grundtönen „Es“ und „D“ trägt ebenso zu dem heiteren Eindruck bei wie die Wechsel zwischen großer Eroica-Geste und intimem Klavierspiel. Dass die Streicher zum Schluss auf den Ton „B“ einstimmen und verschiedene Beethovensche Rhythmen dazu den Untergrund bilden, verleiht dem Ganzen den letzten Schliff. Die vielfach überraschten Zuhörer der Uraufführung des knapp fünfminütigen Stückes haben die Doppelbödigkeit dieser BeethovenEhrung durchaus verstanden und mit Heiterkeit und demonstrativem Beifall belohnt. Einer der interessantesten Vertreter dieser Komponistengeneration war der Berliner Friedrich Goldmann. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs geboren, erhielt er seine Ausbildung als Komponist und Musikwissenschaftler vor allem in Dresden und Berlin und wurde als Meisterschüler an der Berliner Akademie durch Rudolf Wagner-Régeny gefördert. Schon frühzeitig hatte er Kontakt zu bedeutenden Zentren neuer Musik im Westen unseres Landes und nahm dort für sein späteres Komponieren wichtige Anregungen mit. In den Jahren um 1970 konnte Goldmann eine ganze Reihe neuer Orchesterwerke vorlegen, die das Bild der DDR-Musik nachhaltig geprägt haben. Dazu gehören neben vielfältiger Kammermusik insbesondere die drei Orchesteressays und die 1. Sinfonie (1972/73). Speziell mit dieser Sinfonie erschließt er sich Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, die ihn auch späterhin auszeichnen, wie etwa dichteste motivische Arbeit, stark aphoristische Verarbeitung und Strukturbildung, die Erfahrungen aus dodekaphonem, seriellem und aleatorischem Denken einbeziehen. Zudem findet Goldmann in diesem Werk einen Bezug zur Gattung Sinfonie, der sich so gut wie nicht an dem viersätzigen, oftmals dialektisch gemeinten, klassischen Modell orientiert, sondern vor allem an der frühklassischen dreisätzigen Form. Insofern treffen wir hier auf keine finale Lösung im 3. Satz, sondern eher auf ein nochmaliges Freisetzen aller vorgefundenen Gegensätze. Diese beiden Beispiele mögen für eine ganze Reihe von Werken stehen, die in den frühen 70er Jahren entstanden sind. Die beteiligten Komponisten wie etwa Paul-Heinz Dittrich, Christfried Schmidt, Siegfried Matthus, Georg Katzer, Friedrich Schenker, Wilfried Krätzschmar oder Gerd Domhardt schufen damit ein breites Spektrum musikalischer Handschriften und Gestaltungsweisen, die die Musikkultur in der DDR nachhaltig geprägt haben, aber auch vermehrt im sozialistischen wie kapitalistischen Ausland Anerkennung fanden. Bemerkenswert an dieser Zeit ist aber auch, dass von da an ein intensiver Austausch zwischen den Komponisten jener zweiten Generation und in etwa gleichaltrigen Musikwissenschaftlern einsetzte, der erheblich zum Verständnis für deren Musik und zur Auseinandersetzung mit ihr beigetragen hat. Dies schlug sich nieder in Analysen zu einzelnen Werken wie auch in zusammenfassenden Darstellungen – etwa bei Frank Schneider in dessen Momentaufnahme.6 6
Frank Schneider, Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 785)
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Wie schon festgestellt, erwies sich das Jahr 1976 schließlich als ziemlich entscheidender Einschnitt in das künstlerische Leben der DDR. Die Partei- und Staatsführung war sich offenbar über die Tragweite der Entscheidung, den Liedermacher Wolf Biermann anlässlich eines Gastspiels in der damaligen Bundesrepublik Deutschland auszubürgern, nicht völlig im Klaren. Die massiven Proteste von Künstlern aller Sparten führten letztlich zu entsprechend drastischen Reaktionen der politisch Verantwortlichen; von nun an war klar, dass kritisches Verhalten dieser Art auf keinen Fall geduldet werden würde. Aber auch in der Bevölkerung insgesamt traf dieser Schritt auf wenig Verständnis. Aus heutiger Sicht kann man feststellen, dass die hier angesprochene ,Tauwetterperiode‘ damit zu Ende ging. Nicht zu Ende jedoch war der positive Aufbruch, der durch eben diese zweite Generation ausgelöst worden war. Fragen der erreichten künstlerischen Qualität blieben künftig entscheidende Maßstäbe für das Komponieren.
Marek Kopelent
Erfahrungen als Komponist in Prag seit 1968
Zur Situation insgesamt Ich verstehe die freundliche Einladung zu dieser Veranstaltung so, dass ich als Zeuge der damaligen Zeit und Ereignisse in der Tschechoslowakei gefragt wurde, nicht also als Analytiker dieser Ereignisse im Bereich Politik oder Kunst. Ebenso möchte ich unterstreichen, dass ich mich nur auf das Jahr 1968 und dessen Auswirkungen in der damaligen Tschechoslowakei beschränken, und darauf, was im westlichen Europa in jenem Jahr geschah, verzichten möchte. Während die Opposition im Westen offensichtlich auf radikale Weise nach links steuerte, fand die Opposition in der Tschechoslowakei allmählich – um nicht zu ersticken – aus der Dunkelheit zum Licht, dies besonders innerhalb der kommunistischen Partei. Ich wage keinen Vergleich zwischen beiden gesellschaftlichen Strömungen. Denn ich bin überzeugt davon, dass die Zusammenhänge zwischen den beiden Ereignissen nicht relevant genug sind. Auch muss ich hier ganz offen sagen, dass alle meine Schilderungen der Situation von der Zeit um 1968 in der Tschechoslowakei dadurch beeinflusst sind, dass ich einfach nie Kommunist war, dass mein Leben in der totalitären Zeit 40 Jahre lang eigentlich nur parallel zum Regime verlief. Wenn man von der Geschichte des tschechischen Volkes nach 1948 spricht, so muss man zunächst sehen, dass die Gesellschaft im kommunistischen Regime in zwei Schichten geteilt war: oben die dünne Schicht der kommunistischen Partei und ihrer Mitglieder, unten dann der Rest – diejenigen, die abseits stehen geblieben sind. Das Verhältnis war also ungefähr 10 % zu 90%. Die dünnere Schicht war jedoch durch die gut organisierten Schutzkräfte (Polizei, Armee) gesichert. Auf dem so gestalteten Boden floss also das alltägliche Leben des Bürgers. Die kommunistische Macht beruhte auf dem folgenden System: Von oben bis zu den einzelnen Parteiorganisationen in den Betrieben, Ämtern, Schulen usw. fielen die Entscheidungen aller Art zuerst in den Parteiorganisationen – und wurden erst dann dem Rest der Angestellten mitgeteilt oder angeordnet. Ich persönlich habe ein Jahr nach dem Ende des Studiums an der Prager Akademie den Posten eines Redakteurs für zeitgenössische Musik im Staatlichen Verlag für Literatur, Bildende Kunst und Musik übernommen. Wir ,minderwertige‘, ,parteilose‘ Arbeiter und Angestellte hatten uns daran gewöhnt, dass unsere Stimme nur dann etwas bedeutete, wenn es den Parteigenossen passte. Ich halte es für notwendig, das zu erwähnen, auch wenn alle, die in der DDR lebten, Ähnliches gut kennen und die oben beschriebene Lebensweise auch für die Schilderung der Lage noch kurz vor dem Jahre 1968 ganz selbstverständlich war.
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Parallel zu der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation (paradoxerweise nachdem die Tschechoslowakei im Jahre 1960 zur Sozialistischen Republik ausgerufen wurde) hatte sich der Druck der Intellektuellen innerhalb der Partei gesteigert, auch nach der Lockerung der rigiden Politik. Der erste offensichtliche Schritt in diesem Sinne war die berühmte Kafka-Konferenz im Jahre 1963. Kaum hatten sich die Fenster und Türen zur freien Welt etwas geöffnet, brachte die Strömung frischer Luft und neuer Ideen schon ihre Früchte. Literatur, Film (man sprach sogar von einer „tschechischen Welle“), Bildende Kunst, Theater, humanistische Bereiche der Wissenschaft usw. haben sich in Bewegung gesetzt und uns in der Welt langsam auch zur Geltung gebracht. Trotzdem funktionierte das Verhältnis zwischen Partei und Volk weiter im gleichen Stil wie bisher, selbst wenn eine gewisse Lockerung zu spüren war. Alles, was für die gesellschaftliche und ökonomische Lage des Staates maßgebend war, hat sich innerhalb der Partei abgespielt und wurde dort entschieden. So war die Situation auch Anfang des Jahres 1968. Wir, verschiedene Parteilose, hatten am Rande des alltäglichen Geschehens gemerkt, dass ein Brežněv plötzlich nach Prag kam, oder dass später ein unbekannter Slowake namens Alexander Dubček zum Parteisekretär bestimmt wurde, dass der Präsident Novotný plötzlich seinen Posten verlor usw. Was sich aber nachfolgend merkwürdigerweies einstellte, waren die Anzeichen für einen offeneren Blick auf die kommunistische Vergangenheit, ganz konkret auf die kriminellen Aktivitäten des Regimes und der Partei in den 50er Jahren. Plötzlich wurde Stück für Stück offenkundig, dass Leute in den 50er Jahren aus politischen Gründen hingerichtet, in KZ-Lager geschickt und zur Zwangsarbeit in den Uran-Gruben verurteilt worden waren. Ich erinnere mich, wie ich Anfang April 1968 anlässlich einer Sitzung der Prager Komponisten die Versammlung forderte, die Verfolgung der Bürger aus politischen Gründen in den 50er Jahren zu verurteilen. Das kulturelle Leben lief auf Hochtouren weiter, gleichzeitig vermehrten sich verschiedene, bisher undenkbare bürgerliche Aktivitäten, darunter auch einige, die einfach die Änderung des Systems im Sinne der Demokratisierung verlangten. Das Verhältnis zwischen Partei und Bürgern hatte sich umgestaltet in eine mehr oder weniger homogene Bewegung, die jedoch der Parteiführung über die Köpfe gewachsen war. Wo konnte man den Grund dafür finden? Die Wurzeln der Demokratie aus der Zeit der Ersten Republik waren trotz zweier Diktaturen, die dicht aufeinander folgten und die Tschechoslowakei überwälzt hatten, nicht ganz verdorrt. Besonders die treuen Anhänger der Ideale des ersten Präsidenten T. G. Masaryk unter der Generation unserer Eltern haben das demokratische Erbe weiter getragen. Ein paar Tropfen der lebensspendenden demokratischen Impulse hatten das ganze Volk aus der Lethargie geweckt und das Bedürfnis nach freiem Leben hervorgerufen. Fast alle Leute waren berauscht, sogar Václav Havel hat sich rückblickend zu einem ähnlichen Gefühl bekannt. Dass um unser Gebiet herum sich die Rote Armee mit ihren Alliierten zum Überfall auf die Republik vorbereitete, wollten selbst die Kommunis-
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ten nicht glauben („dies können uns unsere Brüder doch nicht antun“), und die Parteilosen wollten es nicht akzeptieren, dass der Westen eine solche Gewalt politisch dulden könnte. Es gab trotzdem Leute unter uns, die eine Invasion befürchteten und nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen mit einer Okkupation von mindestens 20 Jahren rechneten. Das wollten die Idealisten – wie ich zum Beispiel – nicht glauben. Paradoxerweise musste man bald aus den berauschenden Ereignissen, die auf der Hoffnung auf einen Übergang zu einer freien Gesellschaft und später auch vielleicht auf eine verbesserte ökonomische Lage beruhten, eine ganz traurige Schlussfolgerung ziehen: Die Parteiführung hätte die bürgerliche Bewegung bremsen müssen, statt an ihrem Schweif ratlos zu pendeln. Das Jahr 1968 war nicht das einzige in der tschechischen Geschichte, bei dem die Tschechen vorzeitig zur Änderung der Machtverhältnisse in Europa drängten. Denken wir an Jan Hus, Luthers Vorgänger, und später an die hussitische Bewegung, die eine neue gesellschaftliche Ordnung einzuführen hoffte. Das Jahr 1968 war insofern auch eine deutliche Warnung davor, was bis heute gültig bleibt: Tschechen, vergesst nicht, dass es um euch herum in Europa große Mächte gibt, die ihre eigenen Interessen immer wieder hart zu schützen wissen werden.
Zur Musik Die berühmten 60er Jahre wurden im Bereich der Kunstmusik durch die Jahre 1959/60 eingeleitet. Für mich bleibt das Jahr 1960 ein fast mystisch wirkender Zeitpunkt in der neueren tschechischen Musikgeschichte: Die Komponisten Šrámek, Vostřák, Klusák, Komorous, Kopelent hatten sich, jeder auf eigene Faust und Weise, der im Westen existierenden Avantgarde zugewandt. Es war gar nicht leicht, sich über Neue Musik Informationen zu besorgen, geschweige denn Aufnahmen oder Noten. Trotzdem wurde im Jahre 1961 das Ensemble Musica Viva Pragensis durch den jungen Flötisten Petr Kotík gegründet. Gleichzeitig existierte schon das Ensemble Kammerphilharmonie mit Libor Pešek im Theater „Am Geländer“. Eine wichtige, unvergessliche Rolle spielte das Novák-Quartett mit seinem Spiritus Agens Dušan Pandula. Das Festival „Warschauer Herbst“ entfaltete sich als Mekka der Neuen Musik für Leute aus dem Ostblock. Polnische Kollegen realisierten eine kluge Kulturpolitik und vermochten dabei alle neuesten Strömungen der Neuen Musik nach Warschau zu bringen. Dieses Festival war für uns eine lebendige Schule und allmählich auch der ersehnte Ort von Aufführungen unserer Musik. Ich persönlich habe das Festival in den Jahren zwischen 1961 und 1986 insgesamt 13 Mal besucht – mit 11 Aufführungen, darunter auch einigen Uraufführungen. Nicht unbedeutend war zudem die Möglichkeit, dort Kollegen aus aller Welt kennen zu lernen. Nachdem eine Gruppe kommunistischer Komponisten aus der Tschechoslowakei die Darmstädter Ferienkurse besucht hatte, ist es im Jahre 1965 auch uns, verschiedenen Komponisten aus Prag, Brünn und Bratislava, ge-
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lungen, nach Darmstadt zu kommen. Außerdem bekam ich von Heinrich Strobel, dem damaligen Chef der Musikabteilung des Südwestfunks Baden-Baden, den Auftrag, ein Werk für Kammerorchester für das Festival in Donaueschingen 1966 zu schreiben. Bald danach, im Jahre 1968, trat das Ensemble Musica Viva Pragensis auf demselben Festival auf. Die künstlerische Leitung dieses Ensembles hatte ich mit Zbynek Vostřák, der als Dirigent tätig war, im Jahre 1965 übernommen. Das Ensemble war in diesen Jahren im Europa hoch geschätzt und besuchte mehrere Staaten Europas. Im Programm befanden sich Werke tschechischer Komponisten, aber 1967 in Venedig etwa wurde auch ein neues Werk mit dem Titel Etwas ruhiger im Ausdruck von Franco Donatoni uraufgeführt. Am Vorabend des fatalen Jahres 1968, als das Kulturleben das Niveau der Freiheit scheinbar erreicht hatte, griff die Partei entschlossen ein: gegen den Schriftstellerverband und gegen einige Zeitschriften. Zur selben Zeit fand das IGNM-Festival erstmals nach 34 Jahren wieder in Prag statt. Doch tschechische Komponisten der Neuen Musik waren nicht vertreten. So organisierte ich schnell ein Gegenkonzert mit dem Ensemble Musica Viva Pragensis im Prager Rudolfinum (so etwas war damals immer noch möglich!): Ich bin in meinem Wagen zu den Hotels gefahren, in denen die Gäste untergebracht waren, um die Einladungskarten zu verteilen. Der Saal war voll und alle Kritiken im Ausland kommentierten das Konzert und lobten es. Die heimische Kritik blieb stumm. Nach sowjetischem Muster waren die Künstler im Ostblock in Verbänden organisiert. Der Verband hatte die Aufgabe, die Kunst und die Künstler ideologisch zu bewachen, Geld zu verteilen, Kontakte zur Welt unter Kontrolle zu bringen usw. In den 60er Jahren hat sich manches allmählich geändert, nicht aber im Komponistenverband. Der ist eine Festung des Konservatismus geblieben – mit der Ausnahme der letzten Jahre 1969/70, als man endlich Neue Musik zur Kenntnis nahm. Insgesamt wurde die Tätigkeit von Komponisten, die sich der Avantgarde zugewandt hatten (Warschau, Darmstadt), in den 60er Jahren zunächst ironisiert und ausgelacht: Neue Musik und die Avantgarde galten als identisch mit der feindlichen westlichen Ideologie und deswegen als suspekt. Darmstadt war zum Symbol der gekünstelten Musik geworden. Doch da das Ensemble Musica Viva Pragensis erfolgreich in der internationalen Musikszene wirkte, lebten wir, Komponisten der Prager Gruppe Neuer Musik, im Wirbel der fieberhaften kompositorischen, organisatorischen und (ab und zu) auch der Reise-Tätigkeit. Ich persönlich war außerdem immer noch im Verlag angestellt. Der mächtige Komponistenverband stand so bloß am Rande unserer Interessen. Daran hatte sich eigentlich auch im Jahre 1968 nichts geändert. Mehr dagegen habe ich in dieser Zeit im Verlag erlebt. Zum Beispiel wohnte ich zum ersten Mal in meinem Leben einer öffentlichen Sitzung der Parteiorganisation bei und übte in der Diskussion Kritik – wofür ich später zahlen musste. Es ist zu erwähnen, dass aufgrund des allgemeinen ,Tauwetters‘ das Ensemble Musica Viva Pragensis in den Jahren 1969–71 im Rahmen der so genannten „Woche neuer Musik“, die der Verband organisierte, auftreten konnte.
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Nach der Okkupation Es ist allgemein bekannt, was dem Einmarsch der sowjetischen Armee folgte. Manche der viel versprechenden künstlerischen Projekte konnten Dank großer Beharrlichkeit noch zustande kommen, andere waren schon gleich gestoppt worden. Ich persönlich konnte ab Januar 1969 als Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms ein Jahr in West-Berlin verbringen. Sonst aber waren die Folgen des merkwürdigen Aufschwungs des nationalen Bewusstseins in der ČSSR vernichtend. Der Komponistenverband wurde (wie auch die anderen Künstlerverbände) aufgelöst. Den neuen bildeten nur etwa 100 Musiker aller Musikgenres. Unter den Komponisten befanden sich nur Kommunisten, doch als Beweis der scheinbaren Großzügigkeit hatte man zwei parteilose Komponisten zugelassen: Petr Eben und Viktor Kalabis. Über das Ensemble Musica Viva Pragensis wurde ein Urteil verkündet: Man würde seine weitere Tätigkeit nur garantieren, wenn Vostřák und Kopelent austreten. Die Mitglieder des Ensembles lehnten dies ab, und so nahm dessen Existenz ein Ende. Wir, Vostřák und ich, gerieten derweil in einen kleinen Haufen von Komponisten, denen die öffentliche Tätigkeit verboten wurde: keine Sendung, keine öffentliche Aufführung, für lange Zeit auch keine Ausreisemöglichkeit, nichts. Ich verlor zudem meine Stelle im Verlag Supraphon im Rahmen der allgemeinen Säuberungen als der einzige Parteilose. Unter den verbannten Komponisten befanden sich ältere Kollegen, die breite Anerkennung gefunden hatten, wie etwa Milos Kabeláč, Klement Slavický oder Jan Kapr, aber auch jüngere wie Jan Klusák, Luboš Fišer, Alois Piňos usw. Diejenigen, die sich zuvor schrittweise, ganz vorsichtig der Neuen Musik angenähert hatten, sind Anfang der 70er Jahre schnell davon abgekommen und beteuerten laut, dass sie nur verständliche Musik schaffen wollen. Bald danach startete der Komponistenverband eine teuflische Politik: jedes Jahr, und zwar bis 1984, wurde eine mehr oder weniger umfangreiche Handvoll von Musikern wieder in den neuen Verband aufgenommen. (Ich zählte zu den letzten im Jahre 1984). Für mich haben die Unannehmlichkeiten in der Beziehung zu diesem Verband bis zum Jahre 1989 nie aufgehört. In der zweiten Dekade wurde die feindliche Politik gegen die Verbannten etwas gemildert, es gab auch einige Aufführungen und am Ende sogar offizielle Reisemöglichkeiten. Die düstere Zeit der 70er und 80er Jahre wird allgemein „Normalisace“ (Normalisierung) genannt: Ich habe sie nach 1976 für 15 Jahre als Korrepetitor der Tanzabteilung an einer Musikschule für Kinder überstanden. Endlich war das Jahr 1989 da: eine Befreiung von dieser Misere, der Übergang aus der Dunkelheit zum Licht, die Brücke zu einem neuen Weg, der, wie wir es erleben, oft durch Steine bestreut und durch dornige Sträuche gerahmt wird.
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Resümee Heute weiß ich, dass man die Bedeutung des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei nicht überschätzen sollte. Es war eine kurze Zeit des ganz unerwarteten Aufschwungs des seit langen Jahren schon fast bedrückenden Nationalbewusstseins, eine Zeit der allgemeinen Berauschung durch das Trugbild der möglichen Freiheit, Höhepunkt der phantastischen Lockerung der Totalität in der Kunst und in der Wissenschaft usw. Die Bevölkerung hatte in den Tagen nach dem Einmarsch der ausländischen Armeen eine überraschende Einheit bewiesen. Ansonsten kann man behaupten, dass das Jahr 1968 aus historischer Sicht ein Fehlschlag war: Es wurde bestätigt, dass der Kommunismus nicht reformfähig ist, dass die Großmächte jederzeit bereit sind, ihre Interessen zu schützen, weil ein fast animalisches Prinzip überlebt – nach dem gültig bleibt, dass der Große und auch Mächtige das Recht hat, die Überlegenheit über die Kleineren geltend zu machen, sogar im Rahmen der sonst freundlichen Verhältnisse, die zwischen den Staaten glücklicherweise herrschen. Die Auswirkung der Okkupation auf die tschechische Bevölkerung war fatal: Es kam zum Exodus von vielen Intellektuellen, zur Dezimierung der intellektuellen Schicht der Nation. Es führte zur allmählichen Demoralisierung der gesamten Population, es kam zur Flucht ins Private und dadurch auch zum Verzicht auf die Beteiligung am öffentlichen Leben in der Republik. Der Zusammenbruch der politischen Verhältnisse nach der Okkupation führte auch zum Rückschlag in der Entwicklung innerhalb der Musikszene, zur Rückkehr der Ideologie der ,verständlichen Kunst‘, zur allgemeinen Resignation. Die Künstler, die unter Verbote gestellt waren, wurden allmählich aus dem Gesichtsfeld der kulturell orientierten Bevölkerung verdrängt. Die Spuren dieser Verbannung sind ab und zu noch heute spürbar …
Albrecht von Massow
Autonomieästhetik zwischen Ost und West
Eine der kulturpolitischen Kontroversen des Ost-West-Konflikts, die aus der Zeit vor und nach 1968 in Deutschland übrig geblieben und mit dem Wandel nach 1989 obsolet geworden scheint, ist die Diskussion um die Autonomie der Musik. Weil diese Kontroverse in ihrer historisch-politischen Motivation jener Zeit auch hinsichtlich der ihr zu Grunde gelegten Kriterien in erster Linie historisch angegangen wurde – nämlich mit der Frage, ab wann in der Musikgeschichte von Autonomie gesprochen wird und bezüglich welcher Kunstrichtungen von Autonomie gesprochen werden sollte –,7 ist die systematische Frage, inwieweit man von Autonomie als einem anthropologischen Vermögen sprechen kann, stets im Hintergrund geblieben oder gar ausgeblendet worden. Ohne diese Frage historisch – etwa mit der Angabe menschheitsgeschichtlicher Phasen, in denen solches Vermögen sich herausgebildet haben kann – beantworten zu können, verweist der vorliegende Text gleichwohl auf Denkhorizonte und Sachverhalte aus unterschiedlichen Phasen der Geistesgeschichte, welche Aspekte von Autonomie offenbaren und die Aufrechterhaltung der Argumente zur Einschränkung ihrer historischen Geltung in Frage stellen.
Autonomie jeglicher Musik Kritisch zu betrachten sind solche Ideologien, die in ihren systematisch oft nur impliziten Prämissen Autonomie als Vermögen des Subjekts in Abrede stellen, dabei dogmatisierend einen reduktionistischen Subjektbegriff voraussetzen, anstatt ihn deduktiv anhand subjektspezifischer Vermögen überhaupt erst zu erschließen: a) Glaube an die Gottesgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie b) Glaube an die Naturgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie c) Glaube an die gesellschaftliche Geprägtheit des Subjekts ohne Autonomie Diesen Ideologien ist bei allem Bedenkenswerten, was sie bieten, in dem Punkt zu begegnen, wo sie Verantwortlichkeit als Autonomie aus Freiheit dem menschlichen Subjekt als dessen Vermögen aberkennen, um solches Vermögen stattdessen anderen Instanzen jenseits des Subjekts – wie Gott, Natur oder Gesellschaft – zuzuerkennen, um nur als 7
Vgl. hierzu Albrecht v. Massow, Art. Autonome Musik, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, 22. Auslieferung Stuttgart 1994.
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deren Resultat das Subjekt überhaupt erst gelten zu lassen. Musikwissenschaft hat diesen Ideologien dort entgegenzutreten, wo sie Musik zum ästhetisch evidenten ‚Beweis‘ für jene angeblich alternativlose Heteronomie des menschlichen Subjekts verkürzen, etwa in einer Inspirations- oder Milieuästhetik. Nicht ist an jenen Auffassungen ihr Ideologiecharakter an sich zu kritisieren. Denn ein ideologiefreies Denken scheint gar nicht möglich; es scheint nur ein ideologiekritisches Denken möglich, welches seinerseits wieder Ideologie ist, die gleichwohl – hoffentlich – größere Plausibilität für sich beanspruchen kann.
a) Glaube an die Gottesgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie Im Streit zwischen Martin Luther (De servo arbitrio [1525]) und Erasmus von Rotterdam (De libero arbitrio diatribae sive collatio [1524]) steht die Auffassung von der alternativlosen Gottesgelenktheit des Subjekts ohne Willensfreiheit der Auffassung von der Alternativen erlaubenden Gottesbegleitetheit des Subjekts mit Willensfreiheit gegenüber. Auch ohne die in beiden Streitschriften verwendeten Begriffe bzw. die mit ihnen konnotierten Kategorien umstandslos auf spätere Kontroversen um Autonomie zu übertragen, kann man hier gleichwohl den für die Frage nach dem Vermögen der Autonomie wichtigen Aspekt der menschlichen Willensfreiheit thematisiert finden. Diese Kontroverse hat bis heute gravierende Auswirkungen auf die Auslegungen der christlichen Prädestinationslehre wie auch ihrer Äquivalente in anderen Kulturen, nämlich bezüglich der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Luther folgert aus dem Hervorgehen des menschlichen Subjekts aus Gott die Heteronomie des menschlichen Subjekts. Erasmus hingegen sieht zwar ebenso wie Luther das menschliche Subjekt aus Gott hervorgehen, aber von Gott mit dem Vermögen der freien Willensentscheidung in von Gott gesetzten Grenzen begabt. Für ihn ist daher das menschliche Subjekt nicht ausschließlich durch Gott gelenkt, somit heteronom, sondern in seiner Entscheidungsfreiheit durch Gott begleitet – wobei es sich für oder gegen ihn entscheiden kann –, somit autonom. Erasmus traut Gott mehr zu, nämlich die Souveränität, sich ein Lebewesen zu schaffen, welches frei entscheidet, ob es Gottes Gesetze befolgt oder nicht. Hierzu verweist Erasmus in seiner Zusammenstellung (collatio) und Erörterung (diatribae) auf entsprechende Stellen in der Bibel, wo Menschen Gottes Gesetz nicht befolgen. Zumindest von diesem Punkt seiner Argumentation ist der Schritt nicht mehr weit zum Anspruch des Menschen, sich auch oder gar ausschließlich selbst Gesetze zu geben. Erasmus geht diesen Schritt gleichwohl nicht. Luther sieht genau genommen die Gefahr solcher Autonomie ebenso, kleidet aber seine Aversion gegen sie in eine Argumentation, der zu Folge solche Autonomie gar nicht im Vermögen des Menschen läge, so dass die andere Möglichkeit nicht mehr in den Blick rückt: nämlich, dass solche Autonomie im Vermögen des Menschen liegt, von ihm gleichwohl gerade auch im
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Vermögen der Selbstbeschränkung durch Moral im Umgang mit sich selbst verantwortet werden kann. Der Tendenz der Theologie, das Vermögen der Musik als ‚Donum Dei‘ heteronom herzuleiten, müsste Musikwissenschaft im Sinne von Erasmus entgegenhalten, dass solches Vermögen vom menschlichen Subjekt autonom verwirklicht wird und dessen freier Entscheidung bedarf, ob es sich als autonomes Vermögen in den Dienst heteronomer Zwecke stellt oder nicht. Die Musikgeschichte ist Ausdruck dieser immer wieder so oder so gefällten Entscheidung des menschlichen Subjekts. Dabei zeigt die Naturgebundenheit in der Verwirklichung von Musik – etwa durch die Gegebenheit von Stimmbändern, naturalen Stoffen zur Herstellung von Instrumenten etc. –, dass es sich hierbei stets nur um relative Autonomie handelt, die gleichwohl wegen des durch sie bekundeten Vermögens des menschlichen Subjekts, seinem Umgang mit sich und der Natur Gesetze zu geben – etwa durch Tonselektion oder Tonsysteme –, nicht auf bloße Heteronomie verkürzt werden kann. In diesem Sinne also, nämlich als ‚relative‘, kann von ‚Autonomie‘ gesprochen werden, und – insofern es sich in der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus um Aspekte im Rahmen einer Wesensbestimmung des Menschen handelt – somit von einer Kategorie mit systematisch bzw. anthropologisch noch einzulösenden Postulaten, die über den Zeitraum einer historischen Einschränkung hinaus – etwa mit der reinen Instrumentalmusik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – Geltung beanspruchen.
b) Glaube an die Naturgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie Im Streit zwischen den Vertretern einer empiristischen Hirnforschung und ihren Kritikern steht die Auffassung von der Naturherkunft des Subjekts ohne Willensfreiheit der Auffassung von der Naturherkunft des Subjekts mit Willensfreiheit gegenüber. Diese Kontroverse hat bis heute gravierende Auswirkungen auf die Auslegungen der darwinistischen Evolutionstheorie bezüglich der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Die empiristische Hirnforschung folgert aus dem Hervorgehen des menschlichen Subjekts aus Natur die Heteronomie des menschlichen Subjekts, weil sie als Gesetz des Hervorgehens nur eine Kausalität gelten lässt, in deren Rahmen ausschließlich Heteronomie entstehen könne. Ein gegenüber der empiristischen Hirnforschung kritischer Standpunkt hingegen sieht zwar ebenso wie jene das menschliche Subjekt aus Natur hervorgehen, aber von ihr mit dem Vermögen der Autonomie begabt. Aus der Sicht dieses kritischen Standpunkts ist daher das menschliche Subjekt nicht ausschließlich durch Natur gelenkt, somit heteronom, sondern mit der Entscheidungsfreiheit begabt, mit sich als Natur in dieser oder jener Weise umgehen zu können, somit autonom. So gesehen erscheint die Natur als das eigentlich Rätselhafte, indem sie nämlich sowohl empirisch Fremdverursachung wie Selbstverursachung als auch nicht-empirisch Zwangsbestimmtheit wie auch Selbstbestimmtheit
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hervorbringt. Und selbst wenn dieser letzte der vier Fälle rein empirischer Herkunft wäre, so handelte es sich um hochkomplexe, spezifische Empirie, nämlich das Subjekt als Gehirn, welches offenbar auch über solches Vermögen der Selbstbestimmung verfügt. Die Kritiker der empiristischen Hirnforschung trauen der Natur mehr zu, nämlich die Produktivität, Lebewesen zu schaffen, welche nicht nur Natur sind, sondern zudem mit sich als Natur in freier Entscheidung umgehen können. Dieser Sichtweise gilt gerade die Kunst als evidenter Beweis für das Vermögen des menschlichen Subjekts, sich im Rahmen, in Kenntnis und unter Ausnutzung der Naturgesetze selbst weitere Gesetze geben zu können. Der Tendenz der empiristischen Hirnforschung, das Vermögen der Musik als ‚Donum Naturae‘ heteronom herzuleiten, müsste Musikwissenschaft im Sinne dieser Kritik entgegenhalten, dass solches Vermögen vom menschlichen Subjekt autonom verwirklicht wird und dessen freier Entscheidung bedarf, ob es sich als autonomes Vermögen in den Dienst heteronomer Zwecke stellt oder nicht. Die Musikgeschichte ist Ausdruck dieser immer wieder so oder so gefällten Entscheidung des menschlichen Subjekts.
c) Glaube an die gesellschaftliche Geprägtheit des Subjekts ohne Autonomie Im Streit zwischen materialistischen oder systemtheoretischen Gesellschaftsbildern einerseits und dissens- bzw. konsenstheoretischen Gesellschaftsbildern andererseits steht die Auffassung von der ,gesellschaftlichen Geprägtheit‘ des Subjekts ohne Autonomie der Auffassung vom Vermögen des Subjekts zur Auseinandersetzung zwischen sich als Autonomie und sich als gesellschaftliche Geprägtheit gegenüber – ein Vermögen, aus dem heraus das Subjekt Gesellschaft mitkonstituiert, so dass ‚Gesellschaft‘ nichts jenseits der sie konstituierenden Subjekte ist. Diese Kontroverse hat bis heute gravierende Auswirkungen auf die Auslegungen der sozialdarwinistischen oder marxistischen Prädestinationslehre bezüglich der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Deterministische oder systemtheoretische Gesellschaftsbilder setzen ein Hervorgehen des menschlichen Subjekts aus Gesellschaft voraus und folgern daraus die Heteronomie des menschlichen Subjekts. Dissens- bzw. konsenstheoretische Gesellschaftsbilder hingegen sehen zwar ebenso wie deterministische oder systemtheoretische Gesellschaftsbilder das menschliche Subjekt durch Gesellschaft geprägt, aber zugleich aus sich heraus mit dem Vermögen begabt, Gesellschaft überhaupt mitzukonstituieren und somit mindestens zu der freien Entscheidung befähigt, wie bzw. in welchen Formen es gesellschaftliche Prägung zulässt und wie bzw. in welchen Formen es Gesellschaft mitkonstituiert. Für dissens- bzw. konsenstheoretische Gesellschaftsbilder ist daher das menschliche Subjekt nicht ausschließlich durch Gesellschaft geprägt und gelenkt, somit heteronom, sondern in seiner Entscheidungsfreiheit durch Gesellschaft begleitet – wobei es sich für oder gegen sie entscheiden kann –, somit autonom. Dissens- oder konsenstheoretische Gesellschaftsbilder setzen Gesellschaft nicht
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a priori voraus, sondern verweisen auf ein Vermögen des Subjekts, Gesellschaft produktiv zu rezipieren, ferner Gesellschaft zu konstituieren, nämlich mit der Entscheidungsfreiheit, ob es sich vergesellschaftet, und – wenn ja – mit der Entscheidungsfreiheit, wie es sich vergesellschaftet. Der Tendenz der deterministischen oder systemtheoretischen Gesellschaftsbilder, das Vermögen der Musik als ‚Donum Societatis‘ heteronom herzuleiten, müsste Musikwissenschaft im Sinne der dissens- bzw. konsenstheoretischen Gesellschaftsbilder entgegenhalten, dass solches Vermögen vom menschlichen Subjekt autonom verwirklicht wird und dessen freier Entscheidung bedarf, ob es sich als autonomes Vermögen in den Dienst heteronomer Zwecke stellt oder nicht. Die Musikgeschichte ist auch Ausdruck dieser immer wieder so oder so gefällten Entscheidung des menschlichen Subjekts. Wieder vorauszusetzen als grundlegende Erkenntnis- und Handlungsinstanz ist das Subjekt. In dem Maße, wie die Auffassung von der alternativlosen Heteronomie des Subjekts, radikalisiert zur postmodernen Theorie von der Abschaffung des Subjekts, sich als unplausibel, weil systematisch nicht belastbar erweist, ist eine theoretische Grundlage, die die Formen des Erkennens und Handelns des Subjekts näher als autonome Formen ersichtlich werden lässt, erneut geltend zu machen. Dabei kann man nicht das Subjekt sich zum Gegenstand in der Art eines naturwissenschaftlichen Objekts machen, wie die Hirnforschung es suggeriert, sondern man kann nur von bestimmten Handlungsweisen des Subjekts auf Vermögen schließen, die mit dem Gesetz der Kausalität nicht aus einer Ursache jenseits des Subjekts bzw. seines Entscheiden-Könnens plausibel hergeleitet werden können. Als wichtigstes Kennzeichen hierfür kann das Vermögen des Subjekts gelten, seinem Erkennen und Handeln Systeme zu verleihen, und zwar solche Systeme, die, gerade weil sie nicht jenseits des Subjekts in der naturalen Empirie existieren oder ersichtlich sind, somit – weil nicht von solcher Empirie herrührend oder verursacht – nicht als Heteronomie des Subjekts geltend gemacht werden können, also ausschließlich seiner Autonomie entspringen. ,Systemdenken‘ ist aber nicht etwa die nur als rein deterministisch zu denkende Auswirkung einer rein deterministisch verstandenen Gehirnfunktion, welche als deterministische sozusagen gar nicht anders könne, als deterministisch zu denken. Denn wenn einer empiristischen Hirnforschung eben jene Gehirnfunktion als deterministische Ursache für Wahrnehmung und Erkenntnis gilt, dann kann sie nicht erklären, warum das Denken sich offenkundig frei entscheiden kann, ob es als systematisches Denken oder als nicht-systematisches Denken zu Wahrnehmung und Erkenntnis und auch Kritik gelangt. Verlangt doch der Wahrnehmungs- und Erkenntnisgegenstand seinerseits – nämlich die Empirie als Natur bzw. Welt, somit im Falle der Musik als deren Voraussetzung die unendliche Vielzahl möglicher Frequenzen – gar keine Festlegung hierüber, hat vielmehr gar nicht das Vermögen, irgendetwas zu verlangen, insofern er nicht als Subjekt begegnet. Als dieses Empirische ist Natur bzw. Welt von je her vielmehr gerade nicht als System wahr-
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nehmbar, sondern sein Systemcharakter, so er denn besteht, wird erschlossen qua Reflexion oder aber in ihn hineingedeutet. Systemdenken jedoch, nämlich als Reflexions- und Deutungskriterium, ist eine autonome Leistung des Subjekts. Ihm aber kann der Normalfall der Natur bzw. Welt, nämlich als oft unvorhersehbare Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Erscheinungen, gerade nicht als ,zwingender‘ Anlass gelten, Wahrnehmung und Erkenntnis in Systemen zu denken. Vielmehr liegt das Wesen des grundlegenden Systems schlechthin – nämlich der Mathematik – in seiner völligen Verschiedenheit von Empirie, welche zwar zählbar ist, in welcher das System der Zahlen aber nicht vorkommt. Dieses System entspringt vielmehr dem Vermögen des Subjekts, seine Formen – Zeit und Raum – rational oder nicht-rational zu verwirklichen: „Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande ... Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen ..., denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis. Das Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleitung geben. Denn dieses eine Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute, und dann auch Reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt.“8
Zwar verwirklichen sich Zeit und Raum als Vermögen des Subjekts nicht ausschließlich mathematisch; aber Mathematik als eine autonome Form der Verwirklichung von Zeit und Raum, die nicht der Natur entnommen werden kann, demonstriert das Vermögen des Subjekts, aus sich heraus, d.h. als Autonomem, Systeme bzw. weitere Autonomie zu erzeugen. Geeignet, Empirie als System aufzufassen oder in ein System zu bringen, lässt nämlich Mathematik darauf schließen, dass das Bedürfnis nach ihr gerade der unbefriedigenden Wahrnehmung einer systemlos erscheinenden Empirie entsprang und immer wieder entspringt. Systemdenken ist eine Fähigkeit des Subjekts trotz Empirie und frei insofern, als es entgegen dem Augenschein von Empirie dazu übergeht, jene Empirie zu unterteilen in das Wahrnehmbare als Augenscheinliches und in dessen Systematisierung als NichtAugenscheinliches. Zum Systemdenken nötigt daher gerade nicht eine empirische Erfahrung; vielmehr ist Systemdenken eine Selbstnötigung des Subjekts aus Freiheit, welches entscheidet, ob es sich dazu nötigt oder nicht. Weder Theologie als Kosmologie – auch wenn sie nach wie vor den Charakter solcher Selbstnötigung als Fremdnötigung, nämlich durch Gott bzw. durch die ‚Harmonie des Universums‘, auszugeben trachtet – noch empiristische Hirnforschung – wenn sie Systemdenken als ein durch Empirie, nämlich die der Gehirnströme, veranlasstes auszugeben trachtet – können uns weismachen, wir seien 8
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1. u. 2. Originalausgabe, neu hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 149a f.
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durch etwas außerhalb von uns zum Systemdenken genötigt. Wenn, dann nötigen wir uns dazu selbst, und sei es, um uns gegenseitig unsere Verfügungsgewalt über Empirisches zu demonstrieren. Nötigen wir uns gegenseitig dazu, so ist solche gegenseitige Nötigung eine der Formen, in denen wir Gesellschaft, z.B. musikalisch, überhaupt erst konstituieren. Wir nötigen Empirie in ein System – nicht nötigt Empirie uns zum Systemdenken. Solche Fähigkeit aber entsteht aus der Freiheit eines Systemdenkens gegenüber Natur sowie – als Ordnungsmodell für den Umgang mit Naturalem, nämlich Schall – aus Freiheit im Umgang mit Natur. So gesehen ist jegliches musikalisches Denken – egal ob vokales oder instrumentales, egal ob als Kunstmusik oder als Muzak –, insofern es als Umgang mit Akustisch-Naturalem irgendeine Systemgrundlage – etwa die eines artifiziell typisierten Sprachtonfalls, die einer Harmonik oder die einer Sounddramaturgie – aufweist, zugleich Ausdruck eines autonomen Vermögens des Subjekts, solche Systemgrundlagen zu erfinden und zu verwenden. Und ebenso ist eine Kritik an gesellschaftlich, also intersubjektiv normiertem artifiziellem Umgang mit Naturalem ein Vermögen des Subjekts, aus dem heraus es Gesellschaft mitkonstituiert und gegebenenfalls auch zu verändern suchen kann. Auch solche Kritik an Normen – erst recht, wenn mit ihnen gesellschaftliche Repräsentationszwecke verbunden sind und gegebenenfalls zwecks Machterhalt nötigend durchgesetzt werden – ist als Motiv innerhalb der Musikgeschichte, insbesondere in ihren innovativen Strömungen immer wieder belegt.
Autonomie in Ost und West Die Unterscheidung zwischen einer autonomen Musik und einer heteronomen Musik innerhalb der DDR bliebe systematisch ungenau, wenn sie mit ‚heteronom‘ bloß ‚nicht-autonom‘ meinte: somit etwa die Symphonie in B von Ernst Herrmann Meyer als ‚heteronom‘ verkürzte, während diese Musik in Wahrheit Ausdruck einer Autonomie ist, die sich in den Dienst einer Heteronomie stellt.9 Zu unterscheiden ist daher grundsätzlich innerhalb der 9
Möglicherweise diesbezüglich in systematischer Hinsicht noch missverständlich bzw. als unpräzise aufzufassen ist meine Abhandlung Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus, in: Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 1), hrsg. von Michael Berg, Albrecht von Massow u. Nina Noeske, Köln u.a. 2004, S. 157– 164; ich sehe hier eine systematische Ungenauigkeit, die sich auch in der Kritik von Anne Shreffler fortsetzt, die nämlich ihrerseits Autonomie als historisierbare Eigenart bestimmter Musik ansieht, so auch im Sinne eines für die westliche Neue Musik nach 1950 geltenden ästhetischen Konzepts, und daher an meinem Text kritisiert, dass er dieses Konzept nun auch als ein für bestimmte Musik innerhalb der DDR geltendes Beurteilungskriterium in die DDR-Musikgeschichtsschreibung einführen wolle, um die ästhetisch polarisierenden Konzepte des Ost-West-Konflikts ein weiteres mal zu zementieren (vgl. Shrefflers Rezension von vier Büchern zur Musikgeschichte im Ost-
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Musikgeschichte nicht zwischen Autonomie und Heteronomie, sondern – immer unter der Voraussetzung eines wie auch immer in sich syntaktisch zunächst selbstbezüglich intendierten musikalischen Materials – zwischen bei sich verbleibender Autonomie, etwa als rein instrumentale Musik um 1800, und sich heteronom verwendender Autonomie, etwa als text- oder ritusgebundene Musik um 900 oder aber als Muzak. Sowie eine musikalische Syntax vorliegt, der aus intersubjektiver Entscheidung im Zuge von intersubjektiven Normierungsprozessen oder aus individuell subjektiver Entscheidung Systemgesetzlichkeit – in welcher Form auch immer – zu Grunde liegt, kann dies als Beweis für das Vermögen des menschlichen Subjekts zur Selbstgesetzgebung angesehen werden. Und ebenso ist Musik nicht bloßer Ausdruck gesellschaftlicher Gehalte, somit von ihnen her heteronom geprägt, sondern sie ist der autonome, artifizielle Umgang mit gesellschaftlichen Gehalten. Systemgesetzlichkeit als ein Vermögen aus Freiheit zu demonstrieren – also nicht mehr als Fremdnötigung auszugeben, sondern als Autonomie zu beanspruchen –, kann möglicherweise das Interesse eines musikalischen Systemdenkens auch im Umgang mit Anderem als Natur, nämlich mit Gesellschaft, erklären. Denn so, wie Systemdenken als Autonomie des Subjekts gegenüber Empirie die Ideologie des Empirismus zu widerlegen vermag, so vermag Systemdenken als Autonomie des Subjekts gegenüber Gesellschaft die Ideologie der Vergesellschaftung zu widerlegen: nämlich deren Glaube, Kunst sei – in Fortsetzung eines empiristisch, nämlich deterministisch verstandenen Vorgangs von Wahrnehmung und Erkenntnis – ausschließlich ein Vorgang von Widerspiegelung, zurückführbar auf gesellschaftliche Prägungen. Denn gesellschaftliche Repräsentationsformen, wie sie auch musikalisch möglich sind, müssen ein musikalisches System ihrer Darbietung nicht zwangsläufig auf die Widerspiegelung des gesellschaftlichen Systems als Kontext reduzieren; vielmehr sind schon musikalische Repräsentationsformen ein artifiziell-autonomer Umgang mit gesellschaftlichen Repräsentationsformen und können darüber hinaus ihrerseits zum Material eines weiteren artifiziell-autonomen Kompositionsprozesses bestimmt werden, und zwar als Ausdruck einer Verfügungsgewalt und Reflexion des Subjekts im Umgang mit gesellschaftlichen Repräsentationsformen und deren musikalischer Transformation. – Und genau dies scheint die Kompositionsstrategie mancher Werke der Neuen Musik in der DDR gewesen zu sein. So sind beispielsweise musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation – etwa zeremonieller Gestus, Fanfare, Signal oder RepräsentationsgattunWest-Konflikt, in: Journal of the American Musicological Society, Bd. 60, Heft 2, 2007, S. 456). Zu kritisieren ist an meinem Text vielmehr, dass er Meyers Wahl tonalen und formal traditionellen Materials als heteronom verursacht nahe legt, dem gegenüber das Material der Atonalität Goldmanns als autonom erscheint, während die systematische Konsequenz, welche Heteronomie näher als eine sich in außermusikalische Dienste stellende Autonomie bestimmt, Meyers wie Goldmanns Material als genuin autonom anerkennen müsste, um erst den Umgang damit als entweder heteronom verwendet oder als autonom verbleibend bzw. heteronome Verwendbarkeit verweigernd zu kennzeichnen.
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gen wie Hymne, Symphonie oder Kantate, oder aber Normgrundlagen wie Tonalität – in Friedrich Goldmanns 2. Sinfonie oder in Georg Katzers D-Dur-Maschine zum Material eines sie karikierenden, verfremdenden und transformierenden Kompositionssystems und Kompositionsmediums bestimmt – nämlich durch mathematische Materialorganisation, Klangtransformation sowie instrumentale Formdramaturgie. Dass hier Gesellschaft als Systeme bildende Intersubjektivität zum Gegenstand eines reflektierenden und kritischen Systemdenkens bestimmt wird, zeigt die Freiheit bzw. Autonomie jenes Systemdenkens als Bestimmendes, nämlich als Vermögen eines Subjekts. Zumindest ist zwischen gesellschaftlichem System und einem es reflektierenden kompositorischen Systemdenken, gerade weil beide nicht miteinander identisch sind, kein Widerspiegelungsverhältnis zu konstruieren, so wenig, wie zwischen Systemdenken und Empirie ein empirisches Entsprechungsverhältnis konstruiert werden kann, weil Systemdenken nicht-empirisch ist. Theologie, Empirismus sowie ein deterministisches oder systemtheoretisches Gesellschaftsbild haben miteinander gemeinsam, dass sie Systemdenken als Fremdnötigung ausgeben, um sich auf sie als Grundlage für politische Machtausübung oder wissenschaftliche Deutungshoheit berufen zu können und damit das Subjekt als jene Instanz zu umgehen, die intersubjektiv allein jene Nötigung zu verantworten hat und, wenn sie jene Nötigung als Vermögen aus Freiheit erkennt, allein im Stande ist, Fremdnötigung als Legitimation für politische Machtausübung und wissenschaftliche Deutungshoheit zu widerlegen. Dies ermöglicht eine neue Sicht auf die verschiedenen Beweggründe für den Umgang mit Kompositionssystemen in der Neuen Musik nach 1950. Dabei lassen sich zwei Formen der Systemkritik unterscheiden: erstens eine generelle Kritik am Systemdenken, etwa der Modalnotation, der Tonalität, der Materialselektion regelmäßiger und diskreter Frequenzen, des chromatischen Tonsystems, der Zwölftontechnik, des Serialismus etc.; solche Kritik sucht sich vom Systemdenken unabhängig zu machen – etwa in der Musik Edgar Varèses, John Cages oder Wolfgang Rihms – und hat zugleich zur Voraussetzung, dass sich das Subjekt frei entscheiden kann, ob es überhaupt in einem System denken will oder nicht; zweitens eine Kritik am gesellschaftlichen Systemdenken durch Systemreflexion. Dies ist als Fall einer Kritik an musikalischen Formen gesellschaftlicher Repräsentation seltener in den Blick gerückt worden. Doch liegt hierin möglicherweise ein spezifischer Beweggrund für die Verwendung autonomer Kompositionssysteme – etwa durch mathematische Materialorganisation – in Neuer Musik der DDR, indem nämlich musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation, in denen sich das politische System zu repräsentieren suchte, zum Material eines sie reflektierenden und kritisierenden kompositorischen Systems wurden, welches – als Ausdruck autonomer kompositorischer Verfügungsgewalt – mit ihnen umgeht, wie es will, und sie damit in ihrer gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung paralysiert bzw. dekonstruiert. Es handelt sich also um Autonomie durch Systemdenken, welches – etwa als musikalische Materialorganisation – wiederum Verfügungsgewalt als Ausdruck des freien Willens demonstriert.
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Friedrich Goldmann lässt so gesehen in seiner 2. Sinfonie Systemreflexion als Mittel der Systemkritik offenkundig werden, über welches er frei verfügt, und welches er auch nicht aus Fremdnötigung verschleiern muss, sondern als Systemkritik inszeniert, aus einer Perspektive heraus, die – quasi von außen – sich in einer Position sieht, der auch die Alternative – nämlich ein musikalischer Raum frei von Systemzwängen – als möglich gilt: zumindest als Ausdruck von Narrenfreiheit mit dem karnevalesken Mittelteil seiner Sinfonie. Aber auch die Systemgrundlage Goldmanns ist nicht etwa nur Widerspiegelung gesellschaftlichen Systemdenkens, sondern legt als ästhetisch erfahrbare Systembeschränkung gerade den Charakter gesellschaftlicher Selbstbeschränkung offen, dies aber von einer mathematischen Position aus, die sich ihre Gesetze selbst gibt10 – was man als Differenz zum ästhetischen System der von Goldmann kritisierten Gesellschaft auch daran sieht, dass letztere in ihrem sozialistischen Selbstbild sich gerade von mathematischen Kompositionsweisen wie denen Goldmanns deutlich distanzierte. Denn gerade von einer sozialistischen Ästhetik, die vorrangig einem klassischen Pathosbegriff sich verpflichtet fühlte,11 wurde kompositorisches Systemdenken wie das Goldmanns als ‚formalistisch‘ abgelehnt. Zwar schlösse das noch nicht aus, dass Goldmanns Systemdenken trotzdem Widerspiegelung eines zwar nicht ästhetisch, aber um so mehr politisch sich repräsentierenden Systemdenkens gewesen wäre; aber Goldmanns Autonomie zeigt sich zumindest schon innerhalb des ästhetischen Diskurses der DDR durch die gezielte Abgrenzung seines individuellen Systemdenkens vom Pathos-Postulat der offiziellen Kulturpolitik. Es kann ferner sein, dass Goldmann der Autonomie seines Komponierens bewusst einen Impetus verliehen hat, der zum einen Werken der Neuen Musik nach 1950 wie auch in der BRD allgemein die Einschätzung als ‚gesellschaftsfern‘ eingebracht hat, der daher aber zum anderen genau deshalb innerhalb der DDR nicht als gegen deren spezifische gesellschaftliche Repräsentationsformen gerichtet denunziert werden konnte. So gesehen hätte sein Schaffen zwar einen für die Zeit nach 1950 charakteristischen Impetus innerhalb der Neuen Musik, ohne aber sich als einen spezifisch an die Kulturpolitik der DDR und deren musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation adressierter Akt der Reflexion und Kritik angreifbar zu machen. Mathias Spahlinger wiederum reflektiert in seinem Orchesterstück morendo Systemverhalten als Zwang. Jedes der Instrumente folgt einem Verhaltenshabitus, welchen es in der Art eingefahrener Gewohnheit permanent wiederholt und der als Teil eines selbst10 Zur Systemgrundlage in Goldmanns 2. Sinfonie vgl. Frank Schneider, Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern der DDR, Leipzig 1979, S. 228, sowie v. Massow, Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus (wie Anm. 3), S. 160 f. 11 Vgl. hierzu Victoria Piel, ‚Sym-Pathie‘ und Monumentalität. Pathos im frühen DEFA-Film, in: Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst – Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 2), hrsg. von Michael Berg, Knut Holtsträter u. Albrecht von Massow, Köln u. a. 2007, S. 143–162.
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referenziellen Systems aller beteiligten Bewegungen erscheint. Indem aber schon in der Anlage wie auch in der Konsequenz eines solchen Bewegungshabitus Merkmale existieren oder sich herausbilden, die einer reibungslosen Wiederholung zunehmend entgegenstehen, zerfällt auch der systemische Zwang. Man möchte Spahlingers Stück als abstrakte Parabel auf gesellschaftliche Systemzwänge wie auch als Kritik an ihnen hören, wobei die Instrumente den zunächst eingefahrenen, dann aber zunehmend verunsicherten Verhaltenshabitus von Subjekten darstellen. Je mehr die System erhaltende Kraft der Subjekte nachlässt, desto mehr tritt ihr Stärke und Dummheit verbreitender Charakter zurück und ihr fast Mitleid erregender Charakter hervor. Als zunehmend auf sich gestellte, ihre erlernten Rituale nur noch bruchstückhaft beherrschende Subjekte gewährt Spahlinger ihnen fast etwas, was man mit seiner Musik am allerwenigsten in Verbindung bringt: mitfühlende Anteilnahme. Zugleich verweist er im kompositorischen Umgang mit Systemzwängen auf die Fähigkeit der Reflexion, solche Zwänge aufzulösen in Richtung eines Möglichkeitsraums, wie er im Verlauf des Stücks durch die zunehmenden Pausen sich eröffnet. Spahlinger belässt diesen Möglichkeitsraum offen, so dass Zeit gewonnen ist zu entscheiden, wie man diesen Möglichkeitsraum gestaltet, ob in erneuertem oder reformiertem Systemzwang oder aber frei, ohne Systemzwang. Indem Spahlinger als kompositorisches Subjekt Heteronomie von Subjekten reflektiert, hebt er sie als Schein auf. Denn die Frage bleibt, wie es überhaupt zu dem gekommen ist, was den Subjekten als ihre ausschließlich heteronome Bestimmtheit erschien. Handelte es sich um eine faktische oder um eine eingeredete Heteronomie?
Wilfried Krätzschmar
Wie nun aber Autonomie klingen mag? – Reflexionen zu den Spuren gesellschaftlicher Verhältnisse im kompositorischen Schaffen
Die Unterzeile im Titel meines Beitrags hätte auch lauten können: Reflexionen zu den Möglichkeiten von Spuren gesellschaftlicher Verhältnisse im kompositorischen Schaffen; das tut sie aber nicht. Als ich die Anfrage erhielt, im Rahmen des Symposions zu den Aspekten Autonomie und Funktionalisierung zu sprechen, fiel mir die Antwort nicht leicht – ob der Dinge, die im Zusammenhang mit der Jahreszahl, die ja den Anlass für diese Veranstaltung gibt, ungut im Gedächtnis aufspringen.
1968 Der Bogen von da nach jetzt umfasst so kongruent die Spanne meines Tätigseins, dass dies den Ausschlag gab, mich dem Thema doch auch öffentlich reflektierend zu stellen. 1968 schloss ich mein Studium mit Diplom ab und trat in die Berufspraxis ein. Mein erstes Engagement war die Leitung der Schauspielmusik am Meininger Theater. Im Sommer verließ ich mein Elternhaus in Dresden und stand mit meinem Gepäck an der Bushaltestelle Richtung Hauptbahnhof, um in den neuen, eigenen Lebensabschnitt zu reisen. Während ich da so am Morgen wartete, rollten eine Haltestelle weiter die Panzerkolonnen aus der nahe gelegenen Sowjet-Kaserne, um im Erzgebirgsraum Aufstellung Richtung Prag zu beziehen. Sie sollten ja pünktlich sein, sobald der Hilferuf der tschechischen Genossen beim Weltbeschützer in Moskau eintreffen würde. Das martialische Geräusch dieser Kriegsmaschinen verbindet sich bis heute in meinem Erinnern an den Beginn meiner Berufslaufbahn als Komponist; und auch die Wut und das Gefühl der Ohnmacht sind genauso gegenwärtig. Dazu die zynische Verlogenheit der SED-Propaganda, mit ihrem beleidigenden Effekt, die ihr Ausgelieferten für dumm zu verkaufen beziehungsweise ihnen ihre Ausgeliefertheit vorzuführen – so dass der Blick in die westliche Richtung, wo zur gleichen Zeit die Nicht-Dummen und Nicht-Ausgelieferten Mao-Bibeln schwingend ihre Freiheit verfluchten, ratlos hängen blieb an der Frage, was denn die, angesichts des gewaltsam betonierten Ostblocks, mit ihrer Weltläufigkeit für Sorgen hätten. Eines Morgens kam die Vermieterin in mein möbliertes, aber medienfreies Meininger Zimmer, und sagte: „Sie sind einmarschiert.“ Auch das vergisst man nicht. Der Tonfall in der Stimme der alten Frau – alles aussprechend, was man nicht so einfach mit Wörtern
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Wilfried Krätschmar
sagt; gleich gar nicht, wenn man noch nicht weiß, welche Form von Bürger man mit dem neuen Insassen vor sich hat. – Ironie des Daseins (oder: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins): die erste Inszenierung, die ich zu betreuen hatte, war Feuerwerk von Paul Burkhard.
I. Versuch der Beschreibung von Stattgefundenem Die Umstände, unter denen im östlichen Teil Deutschlands Kindheit und Schulzeit abliefen, erzogen zu einer sehr differenzierten und hoch ausgeprägten Empfindlichkeit der für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendigen persönlichen Antennen. Man lernte, Gehörtes doppelt zu prüfen, weil es möglicherweise doppelt angelegt war; man erfuhr, dass das Nachsprechen vorgestanzter Hülsen Anerkennung brachte, während das Formulieren eigener Ideen und Standpunkte, ja schon das Fragen nach Dingen außerhalb der Hülsen, mindestens Verdächtigung nach sich zog; man konnte beobachten, wie Karrierefördernde Bekenntnisse auszuführen waren; und man machte frühzeitig Bekanntschaft mit dem peinigenden Auf-sich-gestellt-sein, wo Geradlinigkeit und das Bezogensein auf das Gewissen in jedem Moment uneingeschränkt gelten sollten, oder wenn es darum ging, seine Entscheidungen in diesem so grundsätzlichen Bereich zu finden. So war schon der Entschluss, nach dem Abitur Musik zu studieren, nicht einfach ein Nachgehen bloßer Neigung, sondern eine in einem vielfältig vernetzten Komplex von Erwägungen eingehängte Angelegenheit. Die Idee, sich in Köln zum Jazzpianisten ausbilden zu lassen, hatte sich im Sommer 1961 zwischen 11. und 12. Klasse über Nacht erledigt. Ein bisschen amüsiert, aber hauptsächlich mit Schauder erinnere ich, welche abenteuerlichen Überlegungen wir Gymnasiasten anstellten, wie man nach dem Abitur noch „rauskommen“ könnte! Die Idee, Komposition zu studieren, erschien, bei aller Faszination und allen bisherigen Erprobungen, ziemlich anmaßend. Als die Entscheidung unaufschiebbar wurde, glückte der Sprung über die Hürde der Aufnahmeprüfung, und ich wähnte mich – einen Augenblick lang – glücklich: jetzt Gefilde betreten zu können, die für Höheres bestimmt sind. Eine heute einzugestehende Phase der Naivität, die sich schnell verlor; die Annahme, den gesellschaftlichen Inquisitionen zu entkommen; mit der Musik in einem politikfernen und ideologiefreien Raum geborgen zu sein, an reiner Leistung gefordert zu sein und nach Bewährung streben zu können in nichts als der künstlerischen Materie. Das verflog sofort bei Studienbeginn. Binnen kurzem wurde klar, wie politisch verortet Musikmachen war, und wie Komponieren regelrecht im Brennpunkt der aufgestellten ideologischen Okulare stattfand. Ich wurde während des Studiums dreimal nach dem Aufführen von Kompositionen vor ein Hochschulleitungstribunal geladen. Das erste Mal ziemlich zu Beginn des Studiums: man verdächtigte das kleine Stück für Flöte und Klavier,
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zwölftönig geschrieben zu sein; vermutete an mir Affinitäten zur in England aufgekommenen Bewegung der „zornigen jungen Männer“, weil die Musik nichts von dem Optimismus und der Perspektivenbejahung hören lasse, wie sie jemandem, der hier studieren dürfe, doch anstünden. Das zweite Mal hatte ich falsche Texte gewählt – obwohl die hier gedruckte Lyrik hier im Laden gekauft war. Nach dem dritten Mal riet mir mein Lehrer, mir dringend etwas Neues zu suchen, da die Idee, meine Studien in einem Aufbaustudium fortzusetzen, keine Chance habe. Ich erlebte die Maßregelung eines der besten, von den Studenten hoch geschätzten jungen Dozenten, der vom Warschauer Herbst mitgebrachte neuartige Partituren – wohlgemerkt polnischer Komponisten (wie z.B. Bogusław Schaeffer) – in der Vorlesung gezeigt hatte. Es war ihm fortan untersagt, in musikwissenschaftlichen und -theoretischen Gebieten zu lehren; die Gesuche der Studenten, ihn weiter hören zu können, wurden abgebügelt. Ich erlebte die Maßregelung von Kommilitonen, aber auch die schönredenden Studenten, die windschlüpfrigen Karrieren mit den dazu gehörenden Parteieintritten. Es wäre falsch, dieser Beschreibung von Stattgefundenem – die um ein unangenehmes Vielfaches der hier angesprochenen Beispiele fortsetzbar ist – einen Mitleid heischenden oder wie auch immer gearteten Klageton zuzubilligen. Auch die zynische Sicht auf diese Materie, aus verschiedenen Blickwinkeln möglich, darf keinen Raum bekommen. Die Vorstellung, was gewesen wäre, wenn es anders gewesen wäre, zeitigt kaum Ansätze, die es wert sind, weiterverfolgt zu werden. Ergiebiger ist die Fragestellung, was zu lernen war für die künftigen Forderungen, an Behauptung, an Wachheit, an Kommunikationsfähigkeit – auch wenn man es nicht unbedingt so hätte lernen wollen.
II. Gewichtungen, Befindlichkeiten und Ambivalenzen in der Zeitgebundenheit einer gewesenen Aktualität Die Erfahrungen des Studiums wurden von der darauffolgenden Lebenspraxis des Komponistendaseins sowie des eigenen Lehrens nicht aufgehoben, sondern fortgesetzt, verfestigt und gesteigert. Dass Kunstmachen von Grund auf nur widerständig sein kann, war keine Frage einer Standortfindung, dem Ermessen persönlicher Selbstbestimmung freigestellt, sondern es fand, unabweisbar und unabkehrbar, statt. Wo sich die Musikherstellung vom beherrschenden Apparat benutzen ließ – funktionalisiert in den verschiedenen Tönungen vom Angepassten über das Schmückende bis hin zum Huldigenden oder gar doktrinär und militant Auftrumpfenden – entfernte sie sich aus dem Bezirk der als ernsthafte Kunst wahrgenommenen Äußerungen.
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Wilfried Krätschmar
Innerhalb dieses Bezirks war es zentraler Bestandteil künstlerischen Selbstverständnisses, im Widerspruch zu stehen. Und zwar nicht lediglich auf der simplen Ebene querständiger Sujets, sondern man war es grundsätzlich, von vornherein, mit der Art Kunst, die man erstrebte und die mit dem propagierten offiziellen Beglückungskanon keine Gemeinsamkeiten haben konnte. 1986 wurde meine 4. Sinfonie uraufgeführt – in einer Zeit, in der die Hochrüstung akutes Thema war, Konfrontation war Doktrin, und die angebliche Notwendigkeit, die Gesellschaft militärisch durchzuformieren, wurde tonangebend allen Lebensbereichen oktroyiert. Im ersten Satz der Sinfonie, überschrieben „Geschwind“, verläuft ein Prozess, der von Leichtfertigkeit zunächst unmerklich, dann immer mächtiger, in ein uniformes Ausgerichtetsein führt und im brutal militanten Auftrumpfen endet. Eine andere Welt, als stiller poetischer Streicherklang dazwischen aufscheinend, zerfällt in Ohnmacht gegenüber dieser Gewalt.* Es war in jedem Moment des Arbeitens klar, dass jeder Note, so wie sie an die Öffentlichkeit gelangen würde, die allgegenwärtige Aufmerksamkeit von sich verantwortlich Fühlenden zuteil werden würde; dass, selbst wenn man sich eine Autonomie hätte zurechtmachen wollen, um sie wenigstens für sich in Anspruch zu nehmen, man sich in der Wirklichkeit des zur Zeit anwesenden Gefüges in dessen Bewertungskoordinaten bewegte, sobald man sich bewegte. Selbst das harmloseste Stück Albumblatt war nicht aus dem Koordinatensystem herauszuillusionieren – dies als verinnerlichte SchreibWirklichkeit festzustellen bedeutete, dass es, vom Schreiber aus gesehen, harmlose Albumblätter nicht gab. Diese Befindlichkeit hatte jedoch keinesfalls etwas Beeinträchtigendes. Sie war im Gegenteil von befeuernder Spannung; eine Reibung, die bei allem Kraftverschleiß die Pflugschar blank hielt. Sie wurde als der Kunst gemäß, einer verpflichtenden Tradition verhaftet und durchaus unaustauschbar begriffen. Verluste entstanden hingegen auf einer ganz anderen Ebene, nämlich aus der Überlagerung von Verstehen und Missverstehen in der für dieses Gesellschaftsgebilde so charakteristischen diffizilen Vermengung. Zeitgenössische Musik konnte aufgrund der Tatsache ihrer öffentlichen Aufführung ohne Zutun von der Aura des Offiziösen ummantelt werden und rückte in der Optik des Rezipienten dabei leicht in die Nähe des offiziellen Apparates. Sein Misstrauen diesem gegenüber verband das Unbehagen an den neuen Klängen mit dem Unbehagen an den ideologischen Verlautbarungen, die ständig von dem Glück der neuen Zeit psalmodierten. So konnte der Komponist zwischen alle Fronten geraten; die Kulturhoheit misstraute ihm (zu Recht), weil seine Töne nicht dem entsprachen, was sie für das Volk vorgesehen *
Hier wie bei allen weiteren in diesem Beitrag betrachteten Werken wurden im Vortrag erläuternde Musikbeispiele ergänzt (Anmerkung d. Herausgebers)
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hatte; die Hörer misstrauten ihm zu Unrecht, wo sie seine Töne für den Ausdruck der von der Kulturhoheit verordneten neuen Seligkeit hielten. Selbst ein kleines Bläserquintett für die Eröffnung der Dresdner Musikfestspiele 1980 war nicht frei von solcherart hereindrängenden Gemengelagen; der 4. Satz, überschrieben „Feroce“, möge für sich sprechen – genauso wie der Titel des Quintetts „rests“ mit seinen zahlreichen Übersetzungsmöglichkeiten.
III. Gewichtungen, Vermutungen und Positionen im heutigen Zusammenfassen Einerseits scheint die Frage nach der Existenz von Spuren hinlänglich beantwortbar zu sein. Allerdings nähert sie sich andererseits den wesentlichen Befunden nur gering. Denn die sind in der Frage nach der Bewertung solcher Spuren enthalten; in der Beurteilung, mit welchem Gewicht die festgehaltenen Tatsachen in einem größeren Zusammenhang Bedeutung erweisen oder nicht. Erst in der Projektion der persönlichen Erfahrungen in einen größer angelegten Rahmen ist das Relevante aus der eigenen Biographie in die geschichtlichen Dimensionen hinein, und umgekehrt, abzuwägen. Zum einen hat der Alltag in der DDR bzw. in dem sich sozialistisch nennenden System wesentliche Phasen meiner Schaffenszeit als Lebensumfeld bestimmt. Gleichwohl ist aber heute schon abzusehen, mit welcher Marginalität diese Episode in die größeren Zusammenhänge europäischer Geschichte eintauchen wird. Man wirft den jungen Leuten von heute gern vor, dass sie zu wenig von dieser jüngsten Vergangenheit zur Kenntnis nähmen, sich zu wenig mit ihr verhaftet fühlten. Ist es aber nicht ein Zeichen für die Entwicklung in die Normalität? Kann man es nicht mit Erleichterung registrieren, dass diesem Unfall deutscher Nachkriegsgeschichte nicht mehr Bedeutung eingeräumt wird als angemessen? Dass für mich persönlich ein so großer Teil meiner Lebensspanne diesem Unfall einverleibt war, darf nicht zum verallgemeinernden Maßstab stilisiert werden. Die Tatsachen sind einzufügen in die übergeordneten Einsichten zu gesellschaftlichen Entwicklungen, wo deutlich wird, wie das Konflikthafte im Kräftespiel menschlichen Zusammenlebens in immer neuen Konstellationen zu den immer gleichen Modellen sich verfügt. Was bedeutet, dass auch das Wechselspiel von Autonomie und Funktionalisierung sich immer neu als Problemfeld generiert. Von 1968 als einem Wendepunkt zu sprechen, erscheint überzogen. Wie überhaupt das Strapazieren so genannter Wendepunkte mit sorgfältiger Skepsis betrachtet werden sollte. 1989 wird auch viel mit diesem Attribut versehen; und wir haben es danach erlebt, wie die, die gerade noch vorn gesessen hatten, schon wieder vorn saßen oder sogar immer noch; eine präsidiale Spezies, für die es unverzichtbar ist, vorn zu sitzen, und die das für ihre Unverzichtbarkeit hält. Was unterm Strich recht wenig für Umbrüche im Künst-
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Wilfried Krätschmar
lerischen taugt. – Spuren, die sich in der Kunst entdecken lassen, führen, gleichviel von welchen Konkretheiten ausgelöst, immer über diese hinaus, um an Umfassenderes und Allgemeingültiges zu rühren. Ein ärmlicher Ansatz, wo Kunst sich in ihrer Thematik mit der Ärmlichkeit eines Gebildes wie etwa der DDR hätte begnügen wollen. Alle persönlich verbundenen Ausgangspunkte gehen in größer gefassten Anliegen auf – was den Grad an Tröstlichkeit nicht hebt, im Gegenteil. Der Anlauf auf meine 1983 uraufgeführten Heine-Szenen nahm längere Jahre in Anspruch; die grundlegende Bitternis der Konzeption wurde dann im direkten Umfeld der Ausarbeitung hautnah zur Realität, als ich 35-jährig zum Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee der DDR eingezogen wurde. Aber es wäre nicht nur verengend, sondern grundsätzlich unangebracht, quasi das körperliche Erleben von Stumpfheit und Rechthaberei als Gegenstand musikalischer Gestaltung zu verstehen; es ging um die Einsicht in die überdauernde Kraft der Niedrigkeit in der menschlichen Existenz.
IV. Versuch der persönlichen Ortsbestimmung Autonomie ist ein trügerischer Begriff. Das schlackenfreie Ideal, das er zu postulieren scheint, verbietet jede Relativierung. Weil schon der kleinste Spaltbreit einer Öffnung dieses Begriffs ihn als orientierungsfähige Kategorie im Ganzen verfallen ließe. Also muss alles, was nicht von ihm umfasst wird, als „funktionalisiert“ übrig bleiben. Das führt zu der Frage, inwieweit Autonomie und Funktionalisierung als sich ausschließende oder gegensätzliche oder in ihrer Gegensätzlichkeit sich bedingende Kategorien, oder wenigstens Pole in einem Spannungsfeld, überhaupt taugen? Für mich besteht der zentrale Sinn in meinem Leben darin, Musik zu machen. Er besteht nicht darin, Spuren, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen in meine Biografie gegraben werden, in Töne zu übersetzen, damit ich anderen diese Spuren klingend vorführen kann. Das ist ein wichtiger Unterschied. Denn: immer, wenn ich Musik mache, sind die Spuren mit zu hören – ob ich will oder nicht. Dabei sind sie in der Regel sogar von außen her deutlicher wahrzunehmen als in der Selbstreflexion – welcher man auch nicht zu gutgläubig trauen sollte, vor allem, wenn sie öffentlich vorgenommen wird. So bleibt am Ende die Möglichkeit, auf beides mit Hochachtung zu verweisen: entweder, dass ein Komponist unberührt vom Spülicht der Zeitläufte an seinem Lebenswerk schafft, „über den Dingen stehend“ – wobei diese volkstümliche Metapher das Widersprüchliche ihres Bildes unweigerlich auf den Plan ruft; oder aber, dass der Komponist, den Lebensbewegungen seiner Lebenszeit verbunden, seismographisch Kunde gibt von den Erschütterungen, die durch die Gesellschaft, und ihn, hindurchgehen. Beiden Entwürfen eines Schaffenskonzeptes kann man Attribute der Ehrenwertigkeit anheften, oder des Unausweichlichen; aber ebenso die der Verstiegenheit oder der Narretei.
Wie nun aber Autonomie klingen mag?
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In der letzten Konsequenz erscheinen diese Kategorisierungen zu kurz gegriffen, auf zu kleiner Stufe angesetzt, um den Phänomenen der künstlerischen Standortfindung Genüge zu leisten. „Funktionalisierung“ entsteht ja nicht nur in der Weise, dass fragwürdige Systeme willfährig austapeziert werden und wo die offensichtliche Kongruenz als Maxime des Schaffens herhält. Auch unter umgekehrten Vorzeichen, wo der Bezug zum System sich in der Verweigerung herstellt, hat man es letztlich mit einer funktionalen Relation zu tun. So dass der Begriff im umfassenden Sinne aufgehoben wird und zur simplen Abtrennung nicht mehr zu gebrauchen ist. Die Idee der „Autonomie“ wäre damit nur noch als Schimäre der reinen Torheit, außerhalb aller denkbaren Bezogenheiten, auffindbar – wo ein Schaffen darauf angelegt sein müsste, jegliche Relation zu Existierendem zu ignorieren. Ich denke, dass die Begriffe außer in ihrer gegenseitigen Ambivalenz auch in ihrer jeweiligen eigenen, inneren Ambivalenz anzunehmen sind. Und dass ebenso das Wesen von Kunst in dieser Ambivalenz besteht: dass sie immer nur autonom sein kann bezüglich ihrer Genesis, und dass sie es nie sein kann bezüglich ihrer Realität. Vielleicht sind das sogar die eigentlichen Indikatoren: dass diese beiden Aussagen zutreffen, wo es sich um Kunst handelt.
Miloš Havelka
Der Prager Frühling in einer Perspektive generationenspezifischer Erwartungen. Zur Diskussion zwischen Milan Kundera und Václav Havel im Winter 1968/69
I. Meine Ausführungen gehen aus von zwei Vorbemerkungen, die mir eine These zu formulieren erlauben. Zunächst möchte ich betonen, dass – soziologisch und politologisch gesehen – der tschechische Reformsozialismus des Jahres 1968 nicht die Hoffnung der ganzen tschechischen Gesellschaft darstellte. Es gab eine Menge von Bürgern, die Petr Pithart später als „die Anderen“ bezeichnete, – d.h. politische Verlierer, eine potenzielle, nichtkommunistische Opposition (z.B. überzeugte Sozialdemokraten und Liberale) und soziale losers des Klassenkampfes nach dem Februar 1948 und dem folgenden Sozialismusaufbau –,1 die beides, Klassenkampf und Sozialismusaufbau, sowie auch die vagen Proklamationen des Prager Frühlings nicht als Aufstieg und authentische geschichtliche Entwicklungsperspektive wahrnahmen, sondern eher als eine nur leicht veränderte Verlängerung des bestehenden Zustandes, manchmal sogar als Bestätigung einer retrograden Bewegung der nationalen Geschichte. Sie fühlten sich auch weiterhin aus dem damaligen politischen Leben ausgeschlossen. Daneben existierte eine relativ breite Schicht von Parteiaktivisten, die alle Reformversuche mit Misstrauen beobachteten, weil sie sich dadurch direkt bedroht fühlten, und die eigentlich mit der Kritik am „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“, die von Seiten der so genannten Bruderstaaten des Warschauer Paktes geäußert wurde, mehr oder weniger einverstanden waren. In gewissem Sinne darf man sogar das Reformsozialismusprogramm und die bürgerliche Bewegung des Jahres 1968 gegeneinander stellen, also die Situation so beschreiben, dass der Reformsozialismus nur ein Teil der Entwicklungshoffnungen einer breiteren Öffentlichkeit war, die ihn eher als einen Durchgangspunkt verstand, der vielleicht zu einem anderen politischen System westlicher Prägung führen könnte. Das hängt allgemein mit der Tatsache zusammen, dass der sozialistische Staat politisch auch nach der Aufdeckung des Stalinschen Personenkults mit deutlichen moralischen 1
Vgl. Petr Pithart, Osmašedesátý [Das Jahr achtundsechzig], Praha 1990. Viele solche Schicksale hat der Schriftsteller Bohumil Hrabal auf seine typisch humorvolle, zugleich weise und bittere Art in seinen Romanen und Geschichten (z.B. in Skřivánci na niti [Lerchen aus einer Schnur]) geschildert.
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Defiziten lebte, die er nicht einzugestehen imstande war. Eine große Zahl der nach 1948 unschuldig Verurteilten und gesellschaftlich Ausgegrenzten wurde nie oder nur teilweise rehabilitiert. Niemand entschuldigte sich bei ihnen, und ihr privates Eigentum bekamen diese Menschen nie zurück. Zugleich pflegte das Regime immer wieder in wirtschaftliche Produktions- und Versorgungskrisen zu geraten. Dies wurde von politischen Machtkämpfen innerhalb der kommunistischen Partei begleitet (einer der bekanntesten entflammte Anfang der 60er Jahre zwischen dem Präsidenten Antonín Novotný und dem Innenminister Rudolf Barák), zudem auch durch eine immer deutlicher nationalistisch gefärbte Spannung zwischen Tschechen und Slowaken. Ein bürokratisch autoritäres Verhalten auf allen Stufen der Staatsführung und -verwaltung, ein Argwohn des Parteiapparats gegenüber jeder Form der Kritik usw. erweckten dann ein allgemeines Misstrauen gegenüber dem Regime. Dies gilt nicht nur für den (aus verschiedenen Quellen) informierten Teil der Bevölkerung, besonders der technischen Intelligenz, die oft den sog. „sozialistischen Aufbau“ für eine Kräftevergeudung hielt, sondern auch für die breitere Parteiöffentlichkeit, deren Erwartungen wiederholt auf den Unwillen des Parteiapparats stießen. Meine zweite Vorbemerkung bezieht sich auf die Tatsache, dass nach einer Phase des klassenkämpferisch ausgerichteten Terrors in den Jahren 1948–1956 sich langsam eine neue nachrevolutionäre sozialistische Gesellschaft durchzusetzen begann, die durch neue Bedürfnisse und Interessen gekennzeichnet war. Konsumorientierung und Ausreisemöglichkeiten, Bildungs- und Kompetenzansprüche an die Führung, Forschungsfreiheit und Unabhängigkeit des künstlerischen Schaffens, Respekt gegenüber intellektuellen Leistungen und deren nichtegalitäre Belohnung usw. – das waren die Themen, die man etwa vom ersten Drittel der 60er-Jahre an auch öffentlich, oft gegen den Willen der Parteiobrigkeit, diskutierte und die während des „Prager Frühlings“ zur Entstehung einer zwar am Anfang schwächeren, doch authentischen Civil Society führte. Nach dem rebellischen Schriftstellerkongress am Ende des Frühlings 1967 und nach der folgenden Ausschließung seiner Hauptredner aus der Partei sowie dem Verbot ihres Organs Literární noviny [Literarische Zeitung], eskalierten auch nationale Spannungen zwischen Tschechen und Slowaken. Anfang des Jahres 1968 wurde dann der Slowake Alexander Dubček als eine Kompromisspersönlichkeit zum Generalsekretär der Partei gewählt, doch mit ihm haben sich auch Reformkräfte durchgesetzt. Im Verlauf der ersten Hälfte des Jahres geriet das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in ein immer deutlicheres Spannungsverhältnis zu den Erwartungen einer sich inzwischen herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Das sog. ,Aktionsprogramm‘ wurde nicht nur mit Verspätung ausgearbeitet, sondern die von ihm vorgeschlagenen Reformen schienen auch mit Blick auf die Erwartungen in der Bevölkerung in mancher Hinsicht (bleibende Führungsrolle der Partei, beschränkte Rolle der kritischen Öffentlichkeit und der anderen Parteien, politischer Zentralismus,
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unklare Demokratisierung von Machtmechanismen, inkonsequente Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit usw.) ungenügend. Die damit verbundene Unzufriedenheit mit der Demokratisierung auf lokaler und regionaler Ebene führte dann zur bekannten Herausforderung durch Ludvík Vaculíks Zweitausend Worte – ein Text, den man sogar als Manifest einer sozialistischen Civil Society und einer von unten aufgebauten Demokratie lesen kann. Die gesellschaftliche Stärke und kulturpolitische Produktivität dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft zeigte sich meiner Meinung nach besonders überzeugend in der ersten Woche nach der sowjetischen Okkupation im August 1968. Damit hängt meine These zusammen, dass für das Verständnis der ganzen Entwicklung des Jahres 1968 in Tschechien eigentlich der „Prager Herbst“ wichtiger ist als der „Frühling“. Zivilgesellschaftliche Handlungsnormen in den breiten Bevölkerungsschichten hatten nämlich eine gewisse Zeit das resignative Verhalten der politischen Repräsentation überlebt. Es entstand eine patriotische Solidarität von Bürgern, sozusagen über parteiliche Zugehörigkeiten hinweg. Die zu Kompromissen mit der Okkupationsmacht gezwungene oder sich auf ihre Anforderungen einlassende Führung der Kommunistischen Partei verlor langsam das Vertrauen der Öffentlichkeit. Diese Entzweiung gipfelte wahrscheinlich in verschiedenen, freilich bald verdrängten Versuchen der Studentenschaft, nach Jan Palachs Tod mit der Arbeiterschaft politisch zu kooperieren. Vor diesem allgemeinen Hintergrund möchte ich auf einen spezifischen Zug der damaligen Situation aufmerksam machen: Divergente politische Erwartungen wurden im Verlauf des ganzen Jahres stark von verschiedenen generationell bedingten Werten, Überzeugungen und Entwicklungserwartungen beeinflusst. Ganz allgemein möchte ich vorausschicken, dass die generationenbezogene Erklärungsperspektive allgemein nicht nur zum Verständnis verschiedener innerer Parteikonflikte und zur ideologischen Einordnung verschiedenartiger Reformvorstellungen in spezifische soziale Erfahrungshorizonte konkreter Generationen bzw. unterschiedlicher Interessengruppen beitragen kann, sondern darüber hinaus auch zur geistesgeschichtlichen und politikgeschichtlichen Bearbeitung einzelner Reformversuche überhaupt hinführen kann – und am Ende auch ein besseres Verständnis der mannigfaltigen Positionen verschiedener Dissidentengruppen ermöglicht. Nur am Rande bemerkt: es zeigt sich dabei wiederholt, dass – ein wenig vereinfachend formuliert – in Regimen, die durch einen politischen Umsturz entstanden sind, immer sozusagen die „Kinder“ der Revolutionäre eine spezifische Rolle spielen: in der „Samtenen Revolution“2, im Jahre 1968 und in der ersten Hälfte des Jahres 1969, und in jüngerer Zeit z.B. auch in den Unruhen in Teheran. Revolutionärer Aktivismus stützt sich am Ende immer auf die allgemeine Sehnsucht, das eigene Leben frei 2
Vgl. Ivo Mozný, Proč tak snadno … Některé rodinné důvody sametové revoluce [Warum so lässig… Einige Familiengründe der Samtenen Revolution], Praha 1991.
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zu gestalten, die materielle und intellektuelle Mangelgesellschaft zu beseitigen und eine entsprechende Lebensqualität in materiellem und geistigem Sinne zu ermöglichen, was sich logisch mit bürgerlichen Freiheitsbedürfnissen zu verbinden pflegt.
II. Die tschechische Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, genauer: zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des Kommunismus, wurde durch das Nach- und Nebeneinander von drei größeren Generationsgruppierungen3 beeinflusst, deren Koexistenz und Konflikte mit der Differenz ihrer spezifischen Erfahrungshorizonte zusammenhängen, d.h. mit historischen Ereignissen, die ihre Werte und Lebensvorstellungen prägten. Diese verschiedenen Horizonte, die durch generationsbildende Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise, der deutschen Okkupation und der stalinistischen Phase des Sozialismusaufbaus markiert wurden, begegnet man spezifisch bearbeitet z.B. in Themen und Motiven der Literatur und selbstverständlich auch der bildenden Künste. (A) Hier kann zunächst die sog. Generation der Weltwirtschaftskrise beschrieben werden, die nach dem Publizisten Julius Fučík4 auch Fučíksgeneration genannt wird. Sie hat sich von der vorangehenden sog. Aufbaugeneration der Ersten Republik5 besonders durch ihre bolschewistische Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und durch ihre Kritik an der parlamentarischen Demokratie unterschieden und spielte besonders zwischen den Jahren 1938 (Münchner Abkommen) und 1956 (Chruschtschows „Geheim3
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Die nächste (vierte) sozial-demografische Gruppe, die man vielleicht als eine „Normalisierungsgeneration“ ansehen könnte, ist im Vergleich zu diesen drei vorangehenden weniger im Sinne einer Altersgruppe ausgeprägt und auch nicht so spezifisch aufgrund ihrer privatisierten Lebensweise, die in den 1970er und 1980er Jahren einen allgemeineren Charakter hatte, der das Ganze der Gesellschaft bestimmte. Soziologen sprechen deswegen lieber von einer generationsunspezifischen „grauen Zone“ zwischen Nomenklatura und Dissidenten. Die Generation der „Samtenen Revolution“ hat sich erst Ende der 1990er Jahre durchgesetzt. Interessant dabei eine demographisch starke Gruppierung von sog. „Husákskindern“ , das heißt jene starke Gruppe der zwischen 1974 und 1977 Geborenen, die freilich erst nach der Wende ins öffentliche Leben eingetreten sind. Julius Fučík ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einem Symbol des antifaschistischen Kampfes geworden. Danach wurde er freilich als Ikone missbraucht, mit deren Hilfe die kommunistische Führung des Staates versuchte, die Bedeutung des im Westen (in England) tätigen Widerstandes zu schwächen. Zu dieser gehörten z.B. die Schriftsteller Karel Čapek, Josef Kodíček und František Langer, die Publizisten Ferdinand Peroutka und Eduard Bass, die Soziologen Inocenc Arnošt Bláha, Otakar Machotka, Antonín Boháč und Josef Luvík Fischer, die Nationalökonomen Karel Engliš und Josef Macek, der Theologe Josef Lukl Hromádka, die Historiker Kamil Krofta, Josef Šusta, Jan Slavík, Otakar Odložilík, die Philosophen Karel Vorovka, Emanuel Rádl, František Krejčí, Ferdinand Pelikán und viele andere.
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rede“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU), eine große politisch führende Rolle, in einer Zeitspanne also, die man als „totalitäre Periode“ der modernen tschechischen Geschichte bezeichnen kann.6 Von außen gesehen war diese Gruppierung ideologisch ziemlich homogen. Ihre wesentlichen Diskussionspunkte waren einerseits Probleme einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft und andererseits die Faschismusgefahr. Beides wurde immer deutlicher herausgestellt, vor allem von einer relativ kleinen Gruppe kommunistischer Aktivisten und „Vorkriegsparteifunktionäre“, deren wichtigste Vertreter dann während des Krieges im Moskauer Exil lebte, meistens auch Komintern-Erfahrungen hatten und zu den eigentlichen „Machern der kommunistischen Machtergreifung“ nach dem Zweiten Weltkrieg wurde. Diese bildeten lange Zeit die Kaderschicht der Partei. Dazu sollte man auch einen wesentlichen Teil der Repräsentanten der tschechischen modernistischen, eindeutig linksorientierten Kultur der 1920er und 1930er Jahre zählen, die sich in der Nachkriegszeit in politischen, propagandistischen und administrativen Funktionen durchsetzten.7 (B) Die folgende, demographisch breitere und in mancher Hinsicht untypische Gruppierung der Generation des ,Totaleinsatzes‘ umfasste die Jahrgänge der zwischen 1918 und 1931 Geborenen. Sie wird oft nach dem Dramatiker als Pavel-Kohout-Generation bezeichnet, womit man auf ihre widersprüchliche innere Entwicklung von unkritischen Stalinbewunderern zu entschiedenen Kommunismus-Reformern hinweisen will. Ihr Erfahrungshorizont wurde besonders durch die Okkupationserlebnisse der Jahre 1938–45 geprägt: durch die Schließung der tschechischen Hochschulen im Jahre 1939, durch den daran anknüpfenden Terror der Besatzungsmacht, durch die Erlebnisse des sog. „Totaleinsatzes“ (im „Reich“ bzw. in der „Kriegsproduktion“ im Protektorat wurden mehr als 400.000 junge Männer und Frauen zur Zwangsarbeit geschickt8) und durch Befreiungskämpfe am Ende des Krieges. Dies alles radikalisierte die meisten Angehörigen dieser Generation politisch, sozial und auch nationalistisch, und sie übertrugen ihre Radikalität auch auf die etwas jüngeren Kollegen, mit denen sie sich nach 1945 an den Hochschulen, in Berufen und bei verschie-
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Vgl. dazu Miloš Havelka, Tschechische Republik – Migrationen, Vertreibungen, Interventionen in die Sozialstruktur, in: Migrationsprozesse. Probleme von Abwanderungsregionen, Identitätsfragen, hrsg. von A. Sterbling, Hamburg 2006, S. 143–151. Die meisten von ihnen mussten freilich bald nach der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948 ihre Positionen – manchmal auf tragische Weise (Záviš Kalandra wurde im ersten politischen Prozess zum Tode verurteilt, Konstantin Biebl hat Selbstmord begangen) – verlassen bzw. ideologische „Selbstkritik“ üben. Vgl. J. Kořalka, Evropské myšlení v novodobé české společnosti [Europäisches Denken in der neuzeitlichen tschechischen Gesellschaft], in: Dějiny a současnost, 1997, Nr. 3, S. 7.
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denen politischen Aktionen trafen.9 Mit diesen gemeinsam bildeten sie eine relativ homogene Gruppe von begeisterten „Erbauern“ des Sozialismus10, die erst mit dem Programm eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und mit den Reformversuchen 1968 völlig auseinander fiel. Eine Parole, die diese beiden Gruppierungen, die „Fučíksgeneration“ mit der des „Totaleinsatzes“ für gewisse Zeit verband, hieß etwa: „Nie wieder Weltwirtschaftskrise, nie wieder Münchner Abkommen“, und mit dieser Parole haben sie in den ersten Jahren nach dem Krieg breite politische Unterstützung in der nationalen Öffentlichkeit gefunden. Daraus erwuchs dann auch die Überzeugung, dass ausschließlich die Sowjetunion die nationale und staatliche Selbstständigkeit der Tschechen und Slowaken garantieren könne. Die ursprüngliche Einheit dieser beiden Generationsgruppierungen begann erst in der Zeit nach 1956 innenpolitisch gesehen zu bröckeln. Die geheime Chruschtschow-Rede mit ihren ersten Enthüllungen über den Stalinismus, die Ereignisse in Polen und Ungarn, sowie die Schriftstellerkongresse, wo zum ersten Mal Fragen nach dem Schicksal verbotener und eingesperrter tschechoslowakischer Schriftsteller gestellt wurden, trugen nicht nur zu einer inter-generationellen Spannung zur Fučíksgeneration, sondern auch zur Klärung kontroverser intra-generationeller Positionen bei. Einerseits formierte sich ein eher konservativ-traditioneller und andererseits ein deutlich reformistisch-modern orientierter Flügel der Pavel-Kohout-Generation.11 Im Herbst 1957 wurde zwar die erste intellektuelle Tribüne dieser Generation, die Monatszeitschrift Květen (nach dem Frühlingsmonat Mai benannt), deren Name symbolisch auf die Befreiung im Jahre 1945 und zugleich auf den Eintritt dieser Generation in das öffentliche Leben hinwies, verboten, doch die schon herausgebildeten kritischen Positionen haben auf informelle Weise überlebt.
9 Die dieser Pavel-Kohout-Generation angehörenden jungen Akademiker und Studenten führten z.B. nach 1948 die Säuberungen an allen Hochschulen durch und halfen dabei auch die sog. „bürgerlichen Wissenschaften“ (Logik, Genetik, Relativitätstheorie usw. und daneben auch die Soziologie, die als bürgerliche, angeblich gegen den sog. wissenschaftlichen Kommunismus gerichtete Wissenschaft in der Tschechoslowakei bis 1964 verboten war) zu liquidieren. 10 Am Rande könnte man hier die Erinnerungen des Literaturwissenschaftlers Vaclav Černý erwähnen, in denen plastisch geschildert wird, welche Rolle z.B. die Senkung des Wahlalters im öffentlichen Leben nach dem Kriege spielte (Vaclav Černý, Paměti, III, [Erinnerungen], Brno 1993, S. 330). 11 Doch die Anfänge der Auseinandersetzungen innerhalb dieser Generation muss man schon mit den sog. „Pamphlet-Ereignissen“ im Jahre 1952 verbinden, bei denen es sich um eine Persiflage des offiziell propagierten sozialistischen Realismus und der darauffolgenden ideologisch-pädagogischen Diskussionen handelte. (Nur am Rande sei angedeutet, dass die damals entstandene ideologisch-politische intragenerationelle Spannung sich in ihren Grundpositionen gewissermaßen bis in die Zeit der großen Parteisäuberungen nach dem Jahre 1970 fortgeschrieben hat).
Milan Kundera und Václav Havel
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In den 60er Jahren setzte sich der Prozess einer ideologischen Verselbständigung des reformistisch-modern orientierten Flügels dieser Generation fort; ihre Bühne wurde die Wochenzeitschrift Literární noviny. Hier sind auch die meisten kulturpolitischen Themen der damaligen Zeit (beginnend mit der Kritik am sog. „Personenkult“, über die Entfremdung, den „jungen Marx“, den „westlichen Marxismus“, Franz Kafka, Fragen nach der Bedeutung der nationalen Geschichte und des kulturellen Erbes der Nation, Strukturalismus und Avantgarde usw. bis zum Manifest Zweitausend Worte vom August 1968) behandelt worden und die intellektuellen Repräsentanten der Gruppe um die Literární noviny haben sich immer deutlicher als weltanschauliche Akteure des „Prager Frühling“ profiliert. Interessant dabei war das Aufscheinen der Mitteleuropaproblematik (z.B. beim Philosophen Karel Kosík), die später, Anfang der 1980er Jahre, von Milan Kundera zu einem international vieldiskutierten Thema gemacht wurde. In den sechziger Jahren diente das Kulturkonzept „Mitteleuropa“ zur Legitimierung der Sozialismusreformen: Durch Hinweise auf die unterschiedlichen kulturellen und zivilisatorischen Entwicklungen in Mitteleuropa und auf die – besonders zum Osten – differenten politischen Erfahrungen der hier lebenden Völker sollte das Recht auf einen eigenen Weg zum Sozialismus, der seiner ursprünglich humanistischen Intention eher gerecht würde, begründet werden.12 Nur am Rande möchte ich hier daran erinnern, dass mit dieser Generation die bekanntesten Werke der tschechischen Kultur der 60er Jahre verbunden sind. (C) Eine relativ homogene Gruppe der Nachkriegsgeneration war die dritte, die sog. Generation der Zeitschrift „Tvář“ (Antlitz), manchmal auch Václav-Havel-Generation genannt. Sie umfasste insbesondere die zwischen 1935 und 1945 Geborenen, und ihre Angehörigen haben den Stalinismus meistens als Objekte entsprechender Maßnahmen erlebt. Die Havel-Generation ist allgemein durch ihre sehr differenzierte Beziehung zum Sozialismus überhaupt und durch einen kritischen Standpunkt zur tschechischen sozialistischen Wirklichkeit insbesondere zu charakterisieren. Dazu gehört auch der Versuch, einige allgemeine tschechische nationale Mythen und Stereotypen zu problematisieren. Der Erfahrungshorizont dieser Generation wurde vor allem durch totalitäre („klassenkämpferisch“ argumentierende) Interventionen in die Sozialstruktur der tschechischen Gesellschaft nach dem Jahre 1948 und deren Folgen geprägt, insbesondere durch die Kollektivierung
12 Nach Kosík ist es nämlich „ein Unterschied, ob man die ‚tschechische Frage‘ (d.h. die Frage nach der politischen und kulturellen Identität des Tschechentums – M.H.) als Frage einer zwischen Ost und West lebenden kleinen Nation, oder als Problem einer politischen Nation in Mitteleuropa stellt. Im ersten Falle will man wissen, wie es in diesem exponierten Raum überleben kann, im zweiten fragt man, was für eine Beziehung zwischen Mitteleuropa und einer politischen Nation besteht […]“. Anders gesagt: für Kosík sind die Tschechen eine „politische Nation nur in dem Ausmaß, in welchem sie Mitteleuropa mitgestalten“. (Vgl. Karel Kosík, Iluze a realismus [Illusionen und Realismus], in: L, [Literární noviny], Jg. I, (1968), Nr. 1, S. 1.
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der Landwirtschaft, durch politische Prozesse und durch die ideologische Gleichschaltung der Kultursphäre. Diese Generation ist etwas später ins Blickfeld geraten13, nämlich Mitte der 1960er Jahre, dass heißt in der Zeit einer deutlichen Lockerung des Systems. Die damalige Begründung der Zeitschrift Tvář und ihre weltanschauliche Orientierung wurden von politisch und publizistisch tätigen Repräsentanten der Pavel Kohout-Generation misstrauisch gesehen und als unverantwortliche Störung der eigenen Sozialismusreformkonzepte kritisch kommentiert.14 Die Zeitschrift Tvář, zu deren Autoren mehrere der späteren Politiker und Politologen aus der ersten Zeit nach der „samtenen Revolution“ wie Václav Havel, Václav Klaus, Milan Uhde, Emanuel Mandler, Bohumír Doležal u.a. gehörten, wurde damals nach zwei Jahren mit Hilfe der Reformisten eingestellt und 1968/69 verboten. Die Tvář-Generation versuchte neben einer breiteren Orientierung an modernen europäischen Geistesströmungen auch ein ganz anderes Verhältnis zur tschechischen Kultur der Ersten Republik aufzubauen. Für sie war die linksorientierte tschechische Avantgarde nicht so wichtig und interessant (wie dies für die Kohout-Generation galt), sie hoben eher andere künstlerische Strömungen der Zwischenkriegszeit hervor, wie zum Beispiel die tschechische katholische Moderne und insbesondere die ästhetischen Einzelgänger der Literatur der Ersten Republik wie Ladislav Klíma, Richard Weiner oder Jakub Deml. Auch Georg Lukács’ Ästhetik und seine Auffassung der modernen Kunst, die z.B. damals entscheidend für Milan Kundera war15, schien für die Tvář-Generation in ihren klas13 Als ein verspätetes Manifest dieser Generation, in dem die Schriftsteller Jiří Gruša, Petr Král, Karel Hvížďala, Václav Bělohradský, Markéta Brousková, Antonín Brousek, Ivan Binar, Petr Kabeš, Eda Kriseová, Andrej Stankovič, Věra Jirousová, Jaroslav Hutka, Pavel Šrut, Karel Kryl, Petr Podhrázský, Jaroslav Vejvoda, Sylvie Richterová a Tomáš Frýbort aufgetreten sind, kann man den Sammelband Generace 35–45 [Generation 35–45], München 1986, betrachten. Dieser nach 1968 in manchem uneinheitlichen Generation, deren Mitglieder teilweise im Exil wirkten, sind auch eine Reihe anderer Dissidentenautoren zuzurechnen, die aus verschiedenen Gründen an diesem Sammelband nicht mitwirken konnten, wie Václav Havel, Milan Uhde, Jan Sokol, Petr Pithart, Václav Klaus, Jan Beneš, Jaroslav Kořán, Bohumír Doležal, Jan Lopatka, Emanuel Mandler, Ivan Wernisch, Jaroslav Střítecký, Pavel Švanda, Ilja Srubar u.a., wie auch einige weitere aus der sog. „grauen Zone“ der „Normalisierung“, die sich erst nach der „Samtenen Revolution“ intellektuell durchgesetzt haben. 14 Doch nur wenige Mitglieder der Kohout-Generation, wie z.B. der Publizist und Sartre-Übersetzer Antonín J. Liehm, der Emigrant und Herausgeber der Zeitschrift Lettre International war, sahen schon damals deutlich, was sich später noch verstärkte, nämlich, dass Václav Havel „Gefühle der eigenen Generation ungemein genau [ausdrückt], sozusagen quer durch ihre politischen und anderen Zugehörigkeiten. Er drückt sogar Gefühle einer folgenden Generation aus. Wer das nicht versteht, hat in diesem Land alles verloren, und zwar ein für allemal …“ (Antonín J.Liehm, Generace [Generationen], Praha 1990, S. 320). 15 Vgl. dazu insbesondere die erste Fassung von Milan Kunderas Essay Die Kunst des Romans, die Anfang der 1960er Jahre in tschechischer Sprache erschien.
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sizistischen Neigungen völlig unbedeutend. Philosophisch wurden führende Mitglieder der Tvář-Generation stark durch das Werk von Jan Patočka und durch dessen Interpretationen der Werke von Edmund Husserl und Martin Heidegger sowie teilweise auch durch den Literaturhistoriker Václav Černý beeinflusst.
III. Die Auseinandersetzung dieser beiden Generationen gipfelte nach der sowjetischen Okkupation im Winter des Jahres 1968 in einem Streit zwischen Milan Kundera und Václav Havel – den man auch als Streit über das sog. „tschechische Schicksal“ („český úděl“) bezeichnet –, in dem die beiden Protagonisten (und weitere Mitdiskutierende) über die Bedeutung und das Schicksal des „Prager Frühling“, über die Anfänge „politischer und gesellschaftlicher Normalisierung“ und über eine Zukunft des Sozialismus im Land überhaupt leidenschaftlich polemisierten.16 Die Diskussion über das tschechische Geschick entflammte nach Erscheinen des gleichnamigen Essays von Milan Kundera in der Weihnachtsausgabe der Wochenzeitschrift Literární noviny17, die damals unter dem Kürzel „L“ erschien. Václav Havel reagierte dann in der Zeitschrift Dnešek [Heute] unter dem Titel Ein tschechisches Geschick?18. Die ganze Diskussion setzte sich sodann in den Brünner Monatsheften Host do domu [Gast im Hause] fort, wo Kundera mit dem Aufsatz Radikalismus und Exhibitionismus auf Havels Kritik antwortete19 und wo danach noch weitere Publizisten (die wichtigsten Beiträge wa16 Für ein besseres Verständnis dieses Streites wie auch der ganzen Entwicklung zwischen dem „August 68“ und dem Auftreten Husáks scheint es nützlich, drei alternative Konzepte einer möglichen politischen Weiterentwicklung zu erwähnen: ein sog. „Normalisierungskonzept“ und daneben ein „realistisches“ und ein „radikales“ Konzept (vgl. L. Kosík, Iluze a realismus, wie Anm. 12). Für keines von ihnen hatte man sich damals, im Herbst 1968, entschieden und jedes von ihnen zeigte – idealtypisch gesehen – die damalige Okkupationsrealität und ihre weiteren Perspektiven von einer anderen politischen Position und mit differenten weltanschaulichen Erwartungen verbunden. In allen drei spielten neben Fragen nach den ökonomischen Perspektiven des sozialistischen Systems die damit zusammenhängenden Probleme des Verhältnisses zwischen Nation und Sozialismus eine wichtige Rolle – wobei dies freilich in den 60er Jahren ein immer wiederkehrendes Thema mehrerer Diskussionen unter kommunistischen Intellektuellen war. Man kann es als ein Kompensationselement gegenüber den Folgen der imperial russisch ausgelegten Lehre des „proletarischen Internationalismus“ betrachten. 17 Milan Kundera, Český úděl, [Ein tschechisches Geschick] in: L [Literární noviny], Jg. 1 (1968), Nr. 7–8, S. 1. 18 Václav Havel, Český úděl? [Ein tschechisches Geschick?], in: Dnešek, Jg. I (1969), Nr. 1, S. 1; hier arbeite ich mit der Fassung in: Host do domu, Jg. 16, (1969), Nr. 15, S. 20–23. 19 Milan Kundera, Radikalismus a exhibicionismus [Radikalismus und Exhibitionismus], in: Host do domu, Jg. 16, (1969), Nr. 15, S. 24–29.
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ren Antlitz der Verwandlung und Geschick der Selbsttäuschung von Jaroslav Střítecký20 und Metakritik der Krise von Lubomír Nový21) ihre Stellungnahmen formulierten. Polemische Texte konnte man zu dieser Zeit auch in anderen Periodika finden. Im Spätfrühling des Jahres 1969 wurde diese Diskussion von der erneuerten Zensur gestoppt, genauer gesagt: verboten. Ich kann hier aus Platzgründen nicht alle Kontexte der Auseinandersetzung Milan Kunderas mit der damaligen Situation aufzeigen. Unter der pathetischen Parole eines „tschechischen Schicksals“, das nach Kundera darin besteht, dass die tschechischen kulturellen und politischen Aufschwünge immer durch äußere Feinde unterbunden wurden, versuchte er, die kulturgeschichtliche Rolle „kleiner Nationen“ in der Ideengeschichte aufzuzeigen – mit der zentralen Überzeugung, dass diese immer den Machtspielen der Großmächte ausgesetzt gewesen seien. An Kunderas Reflexionen scheinen vor allem drei Motive interessant und einer Diskussion wert zu sein. Vor allem gilt dies für seinen Versuch, die Ereignisse des Jahres 1968 in einen breiteren Kontext der tschechischen Nationalgeschichte einzuordnen; nach Kundera handelte es sich nur um eine neue Version der alten, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts diskutierten „tschechischen Frage“, dass heißt der Frage nach der tschechischen Identität als einer kleinen Nation, nach ihren historischen Existenzrechten und ihrer kulturellen Produktivität. Überdies versuchte Kundera den Begriff des Sozialismus national-patriotisch zu präzisieren. Ihm zufolge darf nicht mehr gelten, dass das nationale Leben einer unitaristischen Sozialismusvorstellung untergeordnet wird, sondern umgekehrt sei zu fragen, wie der Sozialismus zu den Traditionen der nationalen Kultur und Politik passt und was seine Idee für die Nation gegenwärtig bedeuten kann. Und schließlich war seine These, dass trotz der russischen Okkupation die Grundprinzipien des tschechischen Reformsozialismus überlebt und sich erhalten hätten.22 Václav Havel bezeichnete das Ganze in seiner Polemik als einen „provinziellen Messianismus“, der „das hervorhebt, was anderswo als normal gilt“, und als Versuch, die historische Verantwortung der eigenen Generation auf einen äußeren Feind zu übertragen. Besonders lehnte er die letzte These Kunderas zum Weiterleben des „Prager Frühling“ ab, 20 Jaroslav Střítecký, Úděl proměny a tvář sebeklamu [Geschick der Verwandlung und Antlitz der Selbsttäuschung], in: Host do domu, Jg. 17, (1969), č. 5, S.16–22. 21 Lubomír Nový, Metakritika krize [Metakritik einer Krise], in: Host do domu, Jg. 17, (1969), č. 9, S. 15–20; hier arbeite ich mit einem seinerzeit vom Zensuramt konfiszierten Exemplar. 22 „Die Bedeutung der neuen tschechischen Politik war zu weitreichend, als dass sie auf keinen Widerstand stoßen könnte. Der Konflikt war freilich drastischer, als wir ahnen konnten, und die Prüfung, der die Politik ausgesetzt wurde, war brutal. Doch ich lehne ab, es als eine nationale Katastrophe zu bezeichnen, wie es heute unsere gewissermaßen weinerliche Öffentlichkeit macht.“ (Kundera 1968, S. 1).
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die Havel als Indiz dafür zu entlarven versuchte, dass Kundera die beginnende „Normalisierung“ nach sowjetischen Vorstellungen nicht wahrnehme. Und viele hätten damals hinzugefügt, dass Kundera die Tatsache nicht sehen will, dass die sowjetische Okkupation die politischen Machtpositionen und ideologischen Überzeugungen der älteren, deutlich antireformistisch geprägten „Wirtschaftskrisengeneration“ stabilisierte und im Lande eine neo-stalinistische Situation schuf. In seiner Antwort versuchte Milan Kundera die eigenen Argumente weiter zu entwickeln, wobei er die europäische Bedeutung des tschechoslowakischen Reformsozialismusversuchs hervorhob und Václav Havel als einen Menschen bezeichnete, der zum Sozialismus nur eine äußere Beziehung habe. Havels „ursprünglich moralische Haltung“ verwandele sich – so Kundera – in einen „reinen moralischen Exhibitionismus.“23 Milan Kundera ließ sich hier auf eine politische Polemik ein, die niemals seine Stärke war, und versuchte das zu retten, was damals vielen anderen, besonders den Jüngeren, bereits als ausgehöhlt, missbraucht und zusammengebrochen erschien, und was insofern auch deutlich in entsprechenden Generationsvorstellungsmustern verankert war, nämlich die Idee des Sozialismus selbst. Einen kritischen Standpunkt Kundera gegenüber nahm sodann der Brünner Musikologe Jaroslav Střítecký ein, der Havels Recht, den Aufbau des Sozialismus von außen zu sehen, als ein authentisches Recht seiner eigenen Generation gegen Kundera verteidigte. Kunderas Argumenten warf er vor, in generationsbedingten Illusionen über den Aufbau des Sozialismus und seine historische Notwendigkeit verhaftet zu sein, in Illusionen, die in der aktuellen Situation immer deutlicher mit einem Stereotyp des tschechisch-nationalen Schicksals verbunden würden. Die Sozialismusvorstellungen der Kohout-Generation würden so von ihren konkret historischen Formen getrennt werden und drohten sich dadurch in eine neue „nationale Ersatzideologie“ umzuwandeln.24 Die Kohout-Generation hat sich nach Střítecký sozusagen „von Karl Marx zu František Palacký“25 zurückgezogen, vom Klassenkampf zur Nation, was nicht nur das „restaurativkonstruktive Vergessen“ der eigenen, politisch kompromittierten Jugendzeit ermögliche, sondern auch, sich zugleich erneut als eine politische Avantgarde zu verstehen. Eine vermittelnde Zwischenposition versuchte der Brünner Masaryk-Forscher Lubomír Nový einzunehmen26, wobei er diese durch eine Abschwächung von Havels und Stříteckýs Generationsperspektive zugunsten der Position einer breiteren historischen So23 Kundera, Radikalismus a exhibicionismus (wie Anm. 19), S. 27. 24 „Ein romantischer Begriff der Nation […] wurde erneut zu einem flexiblen Instrument, das die fiktive Vereinigung eines neuen, nachrevolutionären „Wir“ ermöglichte, [...] die freilich nur eine Selbsttäuschung ist, die dieser Generation helfen sollte, sich noch immer als eine Tête der historischen Bewegung zu sehen.“ (Střítecký, wie Anm. 20, S. 19.) 25 Ebd., S. 21. 26 Wie Anm. 21.
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zialismusbewegung untermauerte. So konnte er Stříteckýs moralische Ansprüche an jede Politik zwar akzeptieren, doch dessen Ausgangspunkt von Generationsunterschieden, die bei Střítecký in der These gipfelten, dass es sich bei der Reformsozialismusbewegung um eine „Odyssee der Mystifikatoren und Mystifikationen … handelt, […] die nur ein Moment dessen sind, was sie zu reformieren versuchten“, lehnte er prinzipiell ab. Nach Nový ist Stříteckýs Generationskonzept, besonders hinsichtlich der historischen Wandlungen der Sozialismus- und auch Nationalismusideen, soziologisch schwach und eigentlich nur als ein entmythologisierender Mythos zu verstehen. Daher sprach er mit Blick auf die diskutierten Probleme von einer „vereinheitlichenden Idee“ der allgemein gefühlten „Krise der modernen Welt“. Und in diesem Sinne waren für ihn die Reformversuche im Frühling des Jahres 1968 keine Erscheinung irgendeines vereinfachenden und naiven „Liberalkommunismus“, sondern das natürliche Ergebnis der langen Entwicklung eines „authentischen“ (d.h. nichtdogmatischen) Marxismus: „Die Ideologie der Erneuerung […] war der Versuch einer marxistischen Lösung neuer Probleme moderner Gesellschaften im Geiste einer sozialistischen Alternative.“
IV. Die Diskussion der Probleme, die diese Polemiken aufwarfen und damit zu einer deutlichen Verfestigung von intergenerationellen Stellungnahmen führten, fand in der breiten Öffentlichkeit kein großes Echo, zumal diese inzwischen von der politischen Moral der kommunistischen Parteifunktionäre und von der Politik überhaupt immer stärker enttäuscht war. Deswegen ist Kunderas Antwort auf Havels Kritik nicht als Formulierung irgendeines politischen Programms für die Zukunft zu verstehen, wie man sie in Tschechien zu lesen versucht, sondern eher nur als Aufforderung zu bürgerlicher Anständigkeit, patriotischer Einheit und Erhaltung des eigenen moralischen Charakters – Tugenden, die sich so gut in den ersten Tagen der Okkupation bewährt hatten. Und es zeigte sich immer deutlicher, dass die Generation, die folgen sollte, die sozusagen daran gehindert wurde, sich von einer „An-sich“- in eine „Für-sich-Generation“ zu verwandeln, und die sich dann in eine generationsunspezifische „graue Zone“ zwischen Nomenklatura und Dissidenz auflöste, gänzlich die sozialistische Perspektive ablehnte, die bei der Tvář-Generation noch eine gewisse Rolle spielte. Das kann man schon aus den Beiträgen der damaligen jüngsten Publizisten herauslesen27, bei denen sich die Enttäuschung über die Politik mit der Enttäuschung am Sozialismus prinzipiell verband. Vielleicht auch deswegen konnte man der sozialistischen 27 Vgl. dazu z.B. die mit „ned“ ( J. Nedvěd) signierten Kommentare Praktické poučení [Praktische Belehrung], in: Tvář, (Příloha), 1969, č. 5, S. I oder „M.Š.“, Rozhovor se Slavomírem Větrovcem, stu-
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Geschichts- und Gesellschaftsperspektive (und den Ideen des „Prager Frühling“) während der „Samtenen Revolution“ nur am Rande der ansonsten heftig diskutierten politischen Programme begegnen.
dentem filosofické fakulty [Gespräch mit Slavomír Větrovec, einem Studenten der Philosophischen Fakultät], in: Tvář, (Příloha),1969, č. 3, S. V.
Hans-Klaus Jungheinrich
1968 – Ästhetik des Aufbruchs?
I. Aufbruch, Anbruch, Durchbruch, Abbruch: Es gab Risse und Brüche im Gebälk des deutschen Adenauerlandes und der halbautoritär gaullistischen ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, und zerrissen war ebenso die amerikanische Gesellschaft infolge der imperialistischen Ambitionen in Vietnam und des Versuchs, antikommunistische Positionen im petrifizierten Kalten Krieg vorwärtsstrategisch auszubauen. (In den Memoiren von Henry Kissinger erscheint Vietnam als entscheidende Etappe eines männlichen Zweikampfs, in dem der absehbare Verlierer, also Amerika, um jeden Preis sein Gesicht zu wahren habe, also auch um den Preis vieler weiterer Toter und Krüppel.) Spiegelbildlich dazu sicherte die Sowjetunion ihren Einflussbereich dadurch, dass sie mit Truppenkontingenten des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei einmarschierte, um das dort ein halbes Jahr lang praktizierte Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ zu ersticken. Aufbrüche, die nicht sonderlich weit zu reichen schienen: Willy Brandt, nach 1969 Kanzler einer sozialliberalen Regierung in Bonn, erreichte mit seiner „neuen Ostpolitik“ zwar internationale Entspannung, aber keine Erosion des realsozialistischen Systemblocks. Aufbrüche, die ins Scheitern führten, mithin zu Abbrüchen wurden: Prag 1968 und Chile 1973. Aufbruch als Zusammenbruch: die Mutation radikaldemokratischer Studenten zu Terroristen. Der orthodoxe Kathederkommunismus, der sich gerade in den sowjetisch gegängelten Ländern behaglich in den Sesseln seiner Gelehrsamkeit zurücklehnte, konstatierte angesichts der Beunruhigungen des bleiernen „deutschen Herbstes“ bei den RAF-Aktivisten die Verdrehtheit eines mit aller Gewalt das Sein bestimmen wollenden Bewusstseins. Das Schockierende bei einer Persönlichkeit wie Ulrike Meinhof war ja ein moralischer Rigorismus, so unkorrumpierbar und konsequent, dass er in Inhumanität, in Barbarei mündete. Der tragische Lebensirrweg Ulrike Meinhofs spielte die Schicksale existentialistischer Helden und Antihelden von Sartre oder Camus mit einer Schraubendrehung ins Absurde durch, diesmal aber in der Realität. Absurdes Theater einer Revolution. Als theatralisierte Bilder ästhetisierter politischer Radikalität gehören die RAF-Kämpfer zum zwielichtigen Hausschatz der Utopie; zu Gestaltern von Wirklichkeit taugen sie offenbar nicht. Realitätsgehalt gewönnen sie nur unter Verhältnissen, die tatsächlich so barbarisch wären, wie die Welt von 1968 wahnhaft von ihnen eingeschätzt wurde, wo ein schrecklicher Unfall – der Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei einem Schahbesuch in Berlin im
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Juni 1967 – als Indiz schrankenloser staatlicher Gewaltbereitschaft eine fatale Überinterpretation erfuhr. Aufbruch und Anbruch: In der Sphäre des Ästhetischen hat die triftige, aber immer wieder auch einem erstarrten Denken dienliche, wenn nicht gar als Totschlagargument verwendete Formel „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ keine Gültigkeit ohne die dialektische Kehrseite eines Bewusstseins, das das Sein antizipiert. Bis zu Ernst Blochs Geist der Utopie und Prinzip Hoffnung, gewaltigen Entwürfen, die sich heute wie Märchenbücher verlorener möglicher Weltverbesserung lesen, vermochte sich das – durchaus auf materialistische Seinsentfaltung bezogene – visionäre Bewusstsein an positiven Utopien zu nähren. Heute begründet sich ein die Tendenzen des Faktischen erkennendes und sie als konkrete Bedrohungsphantasie fortschreibendes Bewusstsein eher negativ in der Sorge um den Bestand unserer Seinsgrundlage und die Erhaltung knapp gewordener natürlicher Ressourcen. Das wache Bewusstsein als lebensrettende Instanz in einer technologisch hochgerüsteten Zivilisation, in der das in sich ruhende Sein der natürlichen Instinkte zu unangepasst und „antiquiert“ ist, um aktuelle Gefahren wie etwa radioaktive Strahlenbelastung spontan zu spüren wie einen Schlag mit der Holzkeule – das war das Thema von Günter Anders. Die Jahre um 1968 waren gewissermaßen eine Kammlinie zwischen diesen beiden kontroversen Bewusstseinsorientierungen. Ohne schon die Perspektive einer ökologischen Erschöpfung zu kennen, probte der Zeitgeist damals die Erfüllungsarbeit an den konkreten Utopien Blochs, aber auch den vielleicht überfälligen Bruch mit etlichen sexuellen Normen und Tabus. Scheinbar unpolitisch hatte in Westdeutschland ein zum Medienstar avancierter reformerischer Berater wie Oswalt Kolle der Prüderie der Adenauerrepublik die Leviten gelesen, aber die Lektüre von Wilhelm Reich belehrte wenig später die Studentengeneration darüber, wie sehr sexuelle Bevormundung und politischer Paternalismus zusammenhingen. Gleichsam eine Kammlinie im kollektiven Bewusstsein der Industrieländer war die Zeit um 1968 auch deshalb, weil sie von einer ungefährdeten wirtschaftlichen Prosperität geprägt war. Vom Kalten Krieg profitierten in den westlichen Ländern auch die „kleinen Leute“, indem das „Gespenst des Kommunismus“ hier eine zumindest halbwegs „soziale“ Marktwirtschaft ermöglichte, eine Rücksicht, die der nach dem Zerbruch des Realsozialismus endlich fessellose Kapitalismus der New Economy nicht mehr zu nehmen brauchte. Und es ist durchaus fraglich, ob seine derzeitige Krise wirklich schon sein Desaster bedeutet, wie es der stets schrill dem Zeitgeist voranfackelnde FAZ-Feuilletonist Schirrmacher weismachen will, weshalb diese Zeitung kürzlich gar den erfrischenden Satirikertitel „Frankfurter Arbeiter Zeitung“ zuerkannt bekam. Sozusagen ein Großvater des eifernd prophetischen Vorausstolperers Frank Schirrmacher war um 1968 Hans Magnus Enzensberger in einer der ersten Nummern der von ihm gegründeten Kulturzeitschrift Kursbuch, wo er zwar ahnungsvoll einen argumentativen „Baukasten“ für künftig anstehende ökologische Probleme bestückte, dabei aber in
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der Prognose bizarr falsch lag: Den Siegerplatz im Systemwettkampf um die ökologische Weltrettung sprach er ausgerechnet dem maoistischen China zu, den immerhin zweiten Rang dem Moskauer Imperium; der Kapitalismus der sogenannten „freien Welt“ musste sich als Schlusslicht sehen. Diese seltsame Rangordnung resultierte natürlich nicht aus vernunftgeleiteter Analyse, sondern war opportunistischer Ausfluss der seinerzeit in linken Intellektuellenzirkeln gängigen ideologischen Präferenzen. Wahrscheinlich war Enzensbergers Haltung, eine Variante von „Das Bewusstsein bestimmt das Sein“, damals nicht allzu weit vom studentischen Sektierertum entfernt; freilich hatte Enzensberger das für ihn bekömmliche Talent, seine Ansichten, so schroff sie sich darstellen mochten, immer wieder auch rasch und modegerecht wechseln zu können. „Das Bewusstsein bestimmt das Sein“ – als unausgesprochene und uneingestandene Devise war das aber wohl bei allen dem Geist von 1968 Nahestehenden, mit dem undogmatischen Marxismus Sympathisierenden, wirksam. Das Gefühl, Aufbruch müsse sein, das Bedürfnis eines Anbruchs von, eines Durchbruchs zu Neuem, eine oft vage, ungerichtete chiliastische Begeisterung, waren übermächtig. Damit verknüpfte sich Ungeduld. Am ungeduldigsten waren die eisernen und blutigen Moralisten der RAF.
II. War 1968, abzüglich der späteren sektiererischen und terroristischen Auswüchse, nicht überhaupt ein ästhetisches Phänomen? (Aber was heißt da abzüglich: Misst sich der Terror nicht seine eigene Schönheit zu? Geriet nicht die RAF zum eigentlichen Mythos der deutschen Achtundsechziger-Revolutionsenergie? Wurden ihre Akteure nicht im Untergang Helden – wie die als Engel des Scheiterns im Kollektivbewusstsein lebendigen Filmgangster?) Die deutsche Revolution finde in der Musik statt, meinte einst Kurt Tucholsky. Um 1968 kam es auch in der deutschen Bundesrepublik zu revolutionsähnlichen Erscheinungen, die zwar den kulturellen „Überbau“ betrafen, die ökonomische „Basis“ aber nicht tangierten. Die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt war abwesend, wenn sie nicht, als Gefolgsmasse der Bild-Zeitung, bei den Straßenkämpfen auf der anderen Seite der Barrikade stand. Es ging 1968 nicht um Geld und Brot, in der Hauptsache nicht einmal um bessere Studienmodalitäten, sondern um Schärferes, Idealeres: um freie Liebe, um die Machtergreifung der Phantasie, um die Abdankung angemaßter Autoritäten, um ehrliche Aufarbeitung des Faschismus, um echtes revolutionäres Denken und dergleichen. Um Musik ging es am allerwenigsten; die Konzertskandale Schönbergs und Hindemiths aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg oder den zwanziger Jahren, an die Tucholsky dachte, flackerten bis in die späten fünfziger Jahre und zur Berliner Erstaufführung von Schönbergs Moses und Aron in gemäßigter Virulenz zwar nochmals auf, aber in den Sechzigern hatte sich das mehr und mehr segmentierte, keinem konsistenten abendländischen
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Bildungsfundus mehr verpflichtete Musikpublikum mit der Existenz radikal-hermetischer „revolutionärer“ Musikarten abgefunden. Der typische Achtundsechziger hatte mit avancierter Musik nichts im Sinn; ob Student oder sonstwie „alternativ“ angehaucht, befriedigte er seine musikalischen Bedürfnisse gewöhnlich bei Bob Dylan, der als der größte Sänger aller Zeiten ausgerufen wurde, oder in der griechischen Eckkneipe. Bei Rembetiko- oder Theodorakis-Beschallung hatte er wohlfeil seine populäre Gemütserwärmung, demokratisch legitimiert und vom kämpferischen Geist in fernen Landen durchweht. Mit solchem Proviant bedurfte man eskapistischer Genüsse nicht; ihre eventuellen épater le bourgeois-Qualitäten waren unsichtbar geworden. Das Verächtliche am musikkulturell Gehobenen wurde damals sogar von den Kulturarbeitenden selbst verkündet, etwa von der langjährigen Wiener FAZ-Korrespondentin und Dichterin Hilde Spiel, die Herbert von Karajan, den Leuchtturm der Musikklassik, arrogant als „Inbild elitärer und kapitalistischer Hochkultur“ apostrophierte. Als eine Spielart von Kulturrevolution hatte die Achtundsechziger-Bewegung mit ihrer Hochkultur-Idiosynkrasie eine ungute Langzeitwirkung. Ihre Kader, beim „Marsch durch die Institutionen“ vielfach an kultur- und bildungspolitischen Machthebeln angelangt, trafen dann häufig kunstfeindliche, den vermeintlichen Luxus der Opernhäuser und Symphonieorchester drastisch beschneidende Entscheidungen – ganz im Gegensatz zur rührend-rührigen Kulturgläubigkeit im Realsozialismus und der dort üppigen, freilich immer offiziell observierten Kunstpflege. Besonders in sozialdemokratisch dominierten Kontexten – sie waren für die kulturelle Entwicklung in den letzten vier Jahrzehnten zumeist wirksamer als konservative – wurde klassische Musik ohne Skrupel aus dem allgemeinen Bildungsfundus eliminiert, ganz im Gegensatz zu den angeblich demokratischeren und aus der Popkultur hervorgehenden Musikarten, deren kommerzielle Affinitäten ironischerweise von den (einstigen) Antikapitalisten übersehen wurden. Partiturkenntnis und Instrumentalspiel gerieten zur Angelegenheit von Spezialisten. Eine derzeit modisch propagierte Wiederbelebung solcher Fertigkeiten unter dem Einfluss der Hirnforschung ist, wie die mit Wirtschaftsförderung argumentierende kulturelle „Standort“-Debatte, ein trauriger Witz: Die allgemein als Notwendigkeit gesehene Unterstützung von Musikalität entspringt dabei keinem primären ästhetischen Bedürfnis, sondern wird „instrumentalisiert“ als Kompensationsmittel gegen zivilisatorische Defizite (gutmütiger könnte man freilich auch meinen: So arbeitet die umwegige „List der Vernunft“).
III. Aufbruch, Anbruch, Umbruch, Durchbruch, Ausbruch – diese leuchtenden Vokabeln und ihr Phantasiegehalt werden sicherlich nicht ganz von dem öden Alltagslicht verschlungen, in das die Achtundsechziger-Morgenröte unweigerlich einmündete. Einige Komponisten
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reagierten deutlich auf die 68er-Strömungen; Hans Werner Henze spricht in diesem Zusammenhang sogar von seiner „politischen Bewusstwerdung“. Er stand in Verbindung mit Rudi Dutschke, den er nach dem Attentat im Frühjahr 1968 für einige Monate als Rekonvaleszenten in seiner Villa bei Rom beherbergte. Henzes Gäste waren auch Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und andere spätere RAF-Prominente, bevor sie in die Kriminalität und Illegalität abtauchten. (Eine Jugendfreundschaft zwischen den württembergischen Pfarrerskindern Gudrun Ensslin und Helmut Lachenmann grundiert die thematisch vielsträngig-hintergründige Lachenmannoper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern). Sektiererei und politische Gewalt blieben Henze jedoch fremd; eine Weile neigte er – wie Martin Walser – dazu, der DKP beizutreten, doch blieb er schließlich in der Nähe linkssozialdemokratischer Positionen. Seine Werke aus dieser Zeit könnte man der art engagée zurechnen: Im Recital El Cimarròn wird die dramatische Lebensgeschichte eines schwarzen Sklaven in Kuba musikalisiert; auch die 6. Symphonie ist erfüllt von den multiethnischen Stimmen dieser Tropeninsel, deren Atmosphäre Henze beflügelte, wenngleich zwei längere Aufenthalte im Lande Fidel Castros auch Enttäuschungen mit sich brachten. Am deutlichsten prägte sich Henzes politisierte Ästhetik aus in der 1975 uraufgeführten Oper Wir erreichen den Fluss (We Come to the River, nach einem Text von Edward Bond), in der Henze seine Tonsprache und seine dramaturgischen Vorstellungen analog zu den Avantgardisten am weitesten vorantrieb. Henzes kompositorischer Ort zwischen den beiden kontroversen Polen oder Orientierungsmarken des Darmstädter Serialismus und der „politischen Parteinahme mit ästhetischen Mitteln“ war damals zweifellos ein ganz besonderer – und umso reizvoller und faszinierender für viele aus der jüngeren Generation. Henze, deutlich traumatisiert von seiner Ungleichzeitigkeit, seiner Nichtintegriertheit in die strenge Gemeinschaft der Darmstädter Serialisten (Boulez, Nono und andere wortführende Insider verließen demonstrativ eine Aufführung des König Hirsch während der Ferienkurse), spürte gewissermaßen einen kreativen Nachholbedarf hinsichtlich des avancierten kompositorischen Materials; „1968“ gab ihm den Mut und den Elan, diese alte „Schuld“ einzulösen. Er verhalf avantgardistischen Konzepten, die in seinem Gesamtschaffen dennoch nur eine längere Episode darstellen, zu einer Nachblüte in einer Phase, als der Zenit etwa des „instrumentalen Theaters“ von Schnebel und Kagel bereits überschritten war und sich mit den durch das Fluidum von „1968“ sozialisierten Komponisten Wolfgang Rihm und Manfred Trojahn eine dezidierte Abkehr von Darmstadt anbahnte.
IV. Als politischer und ästhetischer Avantgardist reinsten Wassers war Luigi Nono für Henze zumeist ebenso Vorbild wie Antipode. Henzes Komponieren blieb jedoch ungleich mehr als das Nonos durchschossen von Traditionselementen, erfüllt von der Idee einer der
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Materialstimmigkeit sich widersetzenden „musica impura“. Mit seinen „revolutionären“ Sujets wurde Henze im bundesdeutschen Musikbetrieb um 1970 immer unbeliebter, was den Zuspruch einer linksintellektuellen Anhängerschaft nur noch vergrößerte. Ähnlich erging es Nono, der vorher und auch in den politisch beruhigteren achtziger Jahren in Deutschland mindestens ebenso erfolgreich war wie in Italien (in der DDR galt der Eurokommunist zwar ideologisch als genehm, doch tat sich der verspießerte reguläre Musikbetrieb hier schwer mit Nonos kompromisslosen klanglichen Realitäten). Zu den Aufgaben, die sich auch etablierte Berufskomponisten wie Henze nach 1968 stellten, gehört die bewegliche, sozusagen operative Handhabung des Metiers, also auch das Schreiben von einfacher, eingängiger „Gebrauchsmusik“ für bestimmte Anlässe (wie Demonstrationen) und für Laien. Auch die alte Idee der „Kollektivkomposition“ wurde dabei revitalisiert, etwa mit der recht bekannt gewordenen Kantate Streik bei Mannesmann, bei der Henze als primus inter pares in einem Team jüngerer Kollegen mitgearbeitet hatte. Viele Anregungen fanden die Henze oder Nono nahestehenden Komponisten in der Praxis und den theoretischen Schriften des Schönbergschülers Hanns Eisler, der zum Ansporn und Vorbild wurde und auch zum Namenspatron zahlreicher Laienchorgründungen aus dem Studentenmilieu. Linke Intellektuelle konnten sich in West und Ost einig fühlen mit ihrer Hochschätzung Eislers, zumal letztere den Zwiespalt sahen zwischen der offiziellen Gerühmtheit des Autors der DDR-Hymnenmelodie und den Vorbehalten, die die Kulturvögte gegen Eislers Ästhetik anmeldeten. Wie im Falle Brechts, handelte es sich dabei um eine generelle Aversion gegen die künstlerische Moderne und gegenüber Eislers nachdrücklichem Festhalten an poetologischen Errungenschaften der Schönbergschule. Eislers zweigleisigem Komponieren fielen Überbrückungen zwischen esoterischer Dodekaphonie dort und agitatorischer Arbeiterlied-Schlichtheit hier äußerst schwer – die Inhomogenität einer gleichsam mit avantgardistischem Bewusstsein politisch engagierten ästhetischen Praxis wurde dadurch evident. Entspannter um einige Grade zeigt sich diese Diskrepanz in Henzes Pragmatismus, einerseits gesellschaftlich „nützlich zu sein“ und andererseits unbeirrt dem flimmernden Stern der privaten Obsessionen zu folgen. Am heroischsten scheint Nonos Methode, die Inkommensurabilität der klingenden Rätselgestalten unverkürzt durchzuhalten und das politische Engagement zuvörderst oder gar ausschließlich als Element der „Beschriftung“ oder als mehr oder weniger der Wahrnehmung entzogene Materialbasis einzusetzen. Als Vademecum für geistig anspruchsvolle Achtundsechziger erwies sich die vom Suhrkamp-Verlag in drei Lieferungen veröffentlichte Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss: einzigartig schon in ihrer zwischen Roman und Großessay fluktuierenden Form, ebenso singulär als Fundgrube eines von der künstlerischen Moderne durchdrungenen antifaschistischen Bewusstseins; leider misst der der Bildenden Kunst und der Dichtung zugewandte Weiss der Musik nur eine marginale Rolle zu. Der Text von Weiss stellte klar, dass eine „Ästhetik des Aufbruchs“ stets auch aus ästhetischem Widerstand schöpft und
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sich legitimiert – in Erinnerung an Widerstandstraditionen, in eigener Unbeugsamkeit – jener Haltung, die Oskar Negt und Alexander Kluge, ebenfalls Lehrmeister der Achtundsechziger, mit dem schönen Wort „Eigensinn“ charakterisierten. Für Kenner des linken Zeitgeistes bedeutete es eine fast skurrile Travestie, dass Hans Magnus Enzensberger den „Eigensinn“ Negts und Kluges klaute und ihn im neuen Jahrtausend biographisierend auf einen adligen deutschen Militaristen namens von Winterstein applizierte, der so geschickt war, in den Nazijahren sich nach jeder Seite hin unauffällig zu machen.
V. Manches und sehr Unterschiedliches mag man dem kulturreformerischen, dem nachgerade auch kulturrevolutionären Geist von 1968 zuschlagen. Eine literarische oder subliterarisch-trivialkünstlerische Strömung jener Zeit bildete sich in Frankfurt am Main um die Satirezeitschriften Pardon und Titanic, und sie nannte sich, nicht ohne vielleicht allzu stolzen Verweis, „Zweite Frankfurter Schule“. Die erste, authentische wurde bekanntlich nicht zu Unrecht als Kern und Brutstätte des 68er Aufbruchs namhaft gemacht. Demgegenüber waren die Frankfurter Zeichner und Literaten Gernhardt, Wächter, Traxler, Henscheid und wie sie alle hießen stämmige Plebejer mit aufmüpfigem Habitus und einem mitunter kaum zu verbergenden kleinbürgerlichen Ressentiment. Immerhin veranstalteten sie schon in den frühen Sechzigern ein Happening, das an öffentlichem Erregungspotential die späteren Provokationen der Kommune 1 antizipierte. Der ganze Spaß bestand darin, dass sich die Pardon-Mannschaft zu einem feierlichen Kondukt formierte mit der Absicht, in der „Walhalla“ nahe Regensburg unerlaubterweise eine Büste des juvenilen Dichteridols Günter Grass aufzustellen – eine Ehre, die an diesem Platz nur bemoosten und längstverstorbenen Häuptern zukommt. Ebenfalls in Frankfurt gründete sich das „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“, schon in der Namensgebung eine Ohrfeige für Sprachregelungen à la Axel Springer (der bekanntlich immer nur die Formulierung „sogenannte DDR“ passieren ließ). Für das Blasorchester schrieben Musiker vom Range eines Rolf Riehm und Heiner Goebbels. Das Schillern zwischen Profi-Brillanz und haarsträubender Dilettanten-Emphase machte die Truppe zu einer ästhetischen Attraktion sui generis. Wollte man, im Zeichen einer Ästhetik des Aufbruchs, eine paradigmatisch-repräsentative Musikerscheinung der Achtundsechziger-Bewegung nennen, dann wäre das „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“ dafür geeignet wie kaum ein anderes Phänomen. Hier fand tatsächlich eine Versöhnung von scheinbar Unvereinbarem statt: opaker Konstruktivismus ließ sich neben simplen, gar schlagerhaften Liedmodellen hören, die Anarchie wetteiferte mit solidem musikalischen Ordnungsdenken, das Streben nach Schönklang mit der kindlichen Freude am lärmenden Bruitismus. Doch solchem ästhetischen Aufbruch war das Verfallsdatum offenbar unweigerlich eingeschrieben. Beim
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Blasorchester wie beim verwandten, vom Frankfurter SDSler und Cellisten Frank Wolff geschaffenen „Frankfurter Kurorchester“ (eigentlich einem Kammerensemble) wurde allmählich so etwas merklich wie eine selbstgenügsame, nestwarm auf ein ganz bestimmtes Publikumssegment zugeschnittene Sonderkultur, gleichsam eine Vergartenzwergisierung kulturkritischer Impulse. Die Veranstaltungen sonnten sich in einer bedenklichen Aura von Gemütlichkeit. Eine insbesondere in Westdeutschland flagrante Verarbeitungsdynamik des 68er-Impakts war somit die Verharmlosung des Widerstands gegen Autoritäten zu drolligen und putzigen, womöglich kabarettreifen Gesten des Andersseins und des Ungehorsams: Revolution als Biedermeier-Farce. Das traf sich mit einer zunächst wohl erfrischenden, später eher lästigen Respektlosigkeit vor der Hochkultur, deren Geltungsverlust damit vorprogrammiert war. Im halbdunklen Hintergrund solcher Tendenzen und Entwicklungen gab es, vor allem in den Ländern des damaligen Ostblocks, die Ahnung einer anderen, besseren politischen Wirklichkeit, die 1968 in der Tschechoslowakei und vor 1973 in Chile für kurze Zeit aufschien. In beiden Fällen handelte es sich um einen Sozialismus, der aus freien Wahlen hervorging bzw. die volle demokratische Legitimierung vorsah und das Wort „Demokratie“ endlich mit Leben zu füllen trachtete. In Prag waren es vor allem Künstler, Literaten, die diesen „Menschheitstraum“ hochhielten – auch in folgenden Zeiten der politischen Stagnation. Für sie war Kunst während dieser Periode nicht glaubwürdig ohne politisches Engagement. So waren die Jahre um 1968 in ihrem gesamten Spektrum und samt ihren betrogenen politischen Hoffnungen auch eine Zeit der ästhetischen Beunruhigung. Rebellisches Bewusstsein erwuchs damals – zumindest im Westen – eher aus dem Überfluss als aus unmittelbarer Not. Dieser Umstand trug zum spielerischen, auf sozusagen antiästhetische Art ästhetischen Charakter der Bewegung bei. Vierzig Jahre später sind die Voraussetzungen ganz anders; die 68er Erfahrungen ermöglichen jedenfalls keine zuverlässige Prognose. Zuverlässig nur die Einsicht, dass sich heute weniger denn je das Ende der Geschichte proklamieren lässt. Aufbrüche werden sein, An-, Um- und Durchbrüche vielleicht, in und trotz allen wahrscheinlicheren Einbrüchen, Zusammenbrüchen.
Hartmut Lück
Aufbruch – wohin? Die Musikentwicklung in Ungarn in den 1960er/1970er Jahren
Der Prager Frühling und die militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 waren europaweit, ja weltweit tagesaktuelle Ereignisse. Die Reaktion darauf in den sozialistischen Ländern selbst, vor allem die Reaktion auf die Intervention, war schon viel weniger erkennbar. Dabei können wir die ‚offizielle‘ Reaktion, d.h. die mehr oder weniger erzwungene Solidarisierung mit der Politik der Sowjetunion, hier außer Betracht lassen, und ebenso die scharfe Kritik an der Intervention aus solch ‚abtrünnigen‘ Ländern wie Jugoslawien oder Rumänien. Es gab in allen Ländern des Warschauer Paktes Gruppierungen, die mit dem Prager Frühling sympathisierten und folglich logischerweise die Intervention ablehnten; in der veröffentlichten Meinung konnte sich dies aus bekannten Gründen nicht widerspiegeln. Was jetzt die spezielle Situation in Ungarn betrifft, so gelten diese allgemeinen Voraussetzungen hier natürlich auch; zusätzlich aber ist Folgendes zu berücksichtigen: In Ungarn hatte eine Revolution – wenn man es so nennen will – und deren Niederschlagung bereits 1956 stattgefunden. Danach erfolgte zwar im Stillen eine blutige Abrechnung mit den Köpfen des Umsturzes, vordergründig aber lancierte der Parteichef János Kádár sehr geschickt eine vorsichtige Liberalisierung der Innen- und Kulturpolitik, ohne Provokationen des „Großen Bruders“, aber spürbar für die Menschen im Lande, die sich – um den Volksmund zu zitieren – nach der Devise „Wir sind die lustigste Baracke im Lager“ mit der Situation einrichteten. Zudem wusste man in Ungarn aus den Erfahrungen von 1956, dass vollmundig unterstützende Worte aus dem Westen keinen Heller wert waren: Radio Free Europe tönte damals „Haltet durch! Wir kommen euch zu Hilfe!“, aber es geschah natürlich nichts. So konnte man mit den kulturellen Verlautbarungen des „Prager Frühling“ zwar freundlich sympathisieren, da man in Ungarn eine vergleichbare kulturelle Liberalisierung ja ohnehin, wenigstens in Ansätzen, schon hatte. Nach der Intervention in Prag aber legten sich anfängliche Furcht und bänglicher Schrecken doch relativ bald. Man war ja selbst noch einmal davongekommen. Dass es im uns hier interessierenden Bereich der Musik zu keinen dezidierten Reaktionen auf „Frühling“ und Intervention gab, war aufgrund der allgemeinen Situation kaum anders zu erwarten; aber auch von geheimen, subkutanen Reaktionen, verborgenen Botschaften ist bisher nichts bekannt geworden. Ein Dmitrij Schostakowitsch veröffentlichte 1953 seine 10. Sinfonie eben als pure „Sinfonie“; das geheime antistalinistische Programm des Werkes wurde erst nach seinem Tode bekannt, obgleich man annehmen kann, dass
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die symbolisch gedachten Klangkonstellationen damals, quasi als Kassiber, die „Wissenden“ durchaus erreichten.1 Dergleichen, bezogen auf die Prager Ereignisse, scheint es in der ungarischen Musikszene nicht gegeben zu haben. Dass es trotzdem zu gewissen unkonventionellen, gegen Dogmatismus gerichteten Gruppierungen und später zumindest zu ansatzweisen Solidarisierungen mit der Prager Opposition kam, hatte wiederum spezifisch ungarische Voraussetzungen, die im Folgenden darzustellen sind. Die Durchsetzung der Ästhetik des Sozialistischen Realismus Ždanovscher Prägung fand in Ungarn nach 1948 günstige Voraussetzungen, da der Übervater folkloristischen Komponierens, Zoltán Kodály (1882-1967), hier die überragende und einflussreichste Musikerpersönlichkeit war. Inwieweit Kodály diese Übereinstimmung tolerierte oder gar beförderte und inwieweit zwischen 1948 und 1956 das Totschweigen der revolutionären Werke des „mittleren“ Béla Bartók von Kodály lediglich geduldet oder sogar mit betrieben wurde, sind Probleme, deren Lösung einer Generation von Forschern aufgegeben ist, die nicht dem devoten Schüler- und Enkelschülerkreis Kodálys angehören. Wie dem auch sei: in der vorsichtigen Liberalisierung der späten 50er Jahre setzten sich in der Neuen Musik Ungarns2 nach und nach kompositionstechnische Errungenschaften in der Nachfolge Darmstadts und Warschaus durch, angefangen mit den Sechs Orchesterstücken (1959) von Endre Szervánszky (1911–1977) und dem Streichquartett op. 1 (1959) von György Kurtág (geb. 1926), der zuvor ein Jahr in Paris verbracht und bei Olivier Messiaen studiert hatte. In den 1960er Jahren folgten auf diesem Weg Komponisten wie Zsolt Durkó (1934–1997) mit Werken wie Altamira oder Una rapsodia ungherese, Rudolf Maros (1917–1982) mit dem Orchesterzyklus Eufonia, Attila Bozay (1939–1999) oder Miklós Kocsár (geb. 1933); serielles Komponieren, wie streng oder frei auch immer, war als Facette mit zunehmendem Einfluss akzeptiert und etabliert. Ein Impuls aus Prag für eine kulturpolitische ‚Öffnung’ war also im Bereich der Musik praktisch nicht notwendig. Komponisten wie Zsolt Durkó oder der jüngere Zoltán Jeney konnten problemlos in Italien bei Goffredo Petrassi studieren, internationale Kontakte waren, wenn auch in bescheidenem Rahmen, möglich.
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2
Vgl. dazu Hartmut Lück, Psychogramm eines Überlebenden. Zu Semantik und Struktur der Zehnten Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch, in: Kunstwerk und Biographie. Gedenkschrift Harry Goldschmidt, hrsg. von Hanns-Werner Heister, Berlin 2002 (= Zwischen/Töne. Neue Folge, Bd.1), S. 375–392. Zur Musiksituation in Ungarn seit 1945 vgl. György Kroó: Ungarische Musik – gestern und heute, Budapest 1980. – János Breuer: Negyven év magyar zenekultúrája [Vierzig Jahre ungarische Musikkultur], Budapest 1985. – Hartmut Lück, Vom Bauernlied zur Reihentechnik. Die ungarische Musik heute, in: Europäische Begegnung, 8. Jahrgang, Heft 12, Dezember 1968, S. 606-611. – Éva Pintér und Hartmut Lück, Ungarn. VI: Das 20. Jahrhundert, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearbeitete Ausgabe, Sachteil Band 9, Kassel-Stuttgart 1998, Sp. 1144–1149.
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Eine wohl eher unfreiwillige Reaktion auf die Prager Ereignisse stellte die Uraufführung der Oper Hamlet von Sándor Szokolay (geb. 1931) am 19. Oktober 1968 in der Budapester Staatsoper dar; Szokolays Streichung der Shakespeareschen Schlussszene mit Fortinbras, dem neuen Herrscher aus dem Ausland, bekam demonstrativen Beifall, weil man dies als versteckte Anspielung verstand, und die tragische Figur des Helden ebenfalls, wohl deswegen, weil man glaubte, sie mit dem tragischen Prager Helden Alexander Dubček identifizieren zu können3 – was von Szokolay, so wie man die künstlerische Physiognomie dieses Komponisten kennt, wohl kaum beabsichtigt war. Es ist ein bekanntes Phänomen der Rezeptionsgeschichte, dass sich manche Wirkung gleichsam hinter dem Rücken des Schöpfers einstellt. Diese Art Liberalität bedeutete jedoch durchaus nicht ein „anything goes“. Die Wünsche und Vorstellungen einer jüngeren Generation waren radikaler und gingen über den Nachtrab des Darmstädter Serialismus weit hinaus. Diese Bestrebungen konkretisierten sich im Jahre 1970 mit der Gründung des „Új zenei stúdió“ („Studio der Neuen Musik“)4 durch die Komponisten Zoltán Jeney (geb. 1943), László Sáry (geb. 1940), László Vidovszky (geb. 1944), den Pianisten Zoltán Kocsis (geb. 1952) und den Musikwissenschaftler András Wilheim (geb. 1949); später kamen weitere Komponisten wie Barnabás Dukay (geb. 1950) und Zsolt Serei (geb. 1954) dazu. Als quasi externes Mitglied fühlte sich der schon früh im Westen tätige Dirigent und Komponist Péter Eötvös (geb. 1944) dem „Studio“ verbunden, und als sympathisierende Figur der vorhergehenden Generation wirkte im Hintergrund György Kurtág (geb. 1926), der nicht nur neue Werke in den Konzerten des „Studios“ aufführen ließ, sondern sich beispielsweise in verschiedenen Stücken seines sukzessive entstehenden Klavierzyklus Játékok („Spiele“) explizit in Titeln und Widmungen auf Musiker des „Studios“ bezog und deren stilistische Positionen musikalisch reflektierte. Das „Studio der Neuen Musik“ wandte sich gegen eine gewissermaßen satt etablierte Neue Musik und propagierte die Ästhetik und die Werke von John Cage, Morton Feldman sowie die der amerikanischen Minimalisten Steve Reich und Terry Riley. Frederic Rzewski kam zu einem Gastspiel und präsentierte seine Klaviervariationen El pueblo unido jamas sera vencido; Herbert Henck spielte die ungarische Erstaufführung der beiden Klaviersonaten von Charles Ives. Die Musiker des „Studios“ gaben Konzerte mit Gruppenimprovisationen und Happenings wie z.B. dem Autokoncert (1972) von László Vidovszky – verschiedene Alltagsgegenstände vom Kochtopf bis zur Spieluhr fal3 4
Vgl. dazu Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert III. Ost- und Nordeuropa. Nebenstränge am Hauptweg. Interkontinentale Verbreitung. Kassel 2006, zu Szokolay S. 249–251. – Vgl. auch Lück (wie Anm. 2), S. 611. Ein Rückblick auf Selbstverständnis und Arbeit des „Studios der Neuen Musik“ findet sich bei András Wilheim, „Rottenbiller utca 16–22“. Zwanzig Jahre „Studio für Neue Musik“ in Budapest, in: MusikTexte 38, Februar 1991, S. 68.
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len nacheinander von einem Gerüst und erzeugen dadurch Klänge, eben „Selbst“-Klänge, ohne ausübende Musiker – oder Schroeders Tod, ebenfalls von Vidovszky (1975; benannt nach der Klavier spielenden Figur aus der Comic-Serie „Peanuts“), worin während des Spiels das Klavier präpariert wird, so dass man immer weniger Töne hört. Zoltán Jeney berechnete in Endspiel für Klavier (1973) eine monotone Tonfolge nach den Zügen eines Schachspiels. In einer Musiklandschaft des klassisch-romantischen und auch klassischmodernen Werkbegriffs wirkte all dies als Provokation; selbst ein Gastspiel des „Studios der Neuen Musik“ beim „Warschauer Herbst“ im Jahre 1976 führte zu lärmend abwehrenden Reaktionen im Publikum. Obwohl das „Studio der Neuen Musik“ vom Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes „KISZ“ („Kommunista Ifjúsági Szövetség“) gefördert wurde, ließ die Kritik von dogmatisch-staatstragender Seite nicht lange auf sich warten. Der Musikwissenschaftler und Musikjournalist János Breuer mäkelte in Zeitungskritiken an den Produktionen des „Studios“ herum, wo er die Spezifika der ungarischen Musikkultur – was immer darunter zu verstehen sein mag – vermisste; so verriss er in der Tageszeitung Népszabadság (15. Januar 1973) das Orchesterwerk Alef – Hommage à Schoenberg von Zoltán Jeney. Noch 1985 äußerte er sich in einer Buchpublikation über die neuere Musikgeschichte Ungarns verklausuliert abfällig, und zwar gleichermaßen über die damals auch in Ungarn sich ausbreitende historische Aufführungspraxis wie über das „Studio der Neuen Musik“ und andere Gruppierungen junger Komponisten: „Das ‚Új zenei stúdió‘ hat den wohlklingenden Anspruch auf sein Banner gesetzt, die Trennwände zwischen Schöpfern, Interpreten und Rezipienten der Neuen Musik zu stürzen. Eine Wand hat das ‚Stúdió‘ tatsächlich gestürzt, indem seine Komponisten regelmäßig bei den Wiedergaben ihrer Werke mitwirken. Es ist ein unvergängliches Verdienst dieser Gruppierung, daß sie viele wichtige Werke und Komponisten bekannt machte; ihre begabten Mitglieder bereicherten mit einigen bemerkenswerten – wenn auch nicht zahlreichen – Werken die neue ungarische Musik, wenngleich gerade in den Werken des ‚Stúdió‘ die Tradition der spezifisch ungarischen Intonation unseres Jahrhunderts unterbrochen wurde. Deshalb haben wir am Anfang vehement über die Existenzberechtigung des ‚Új zenei stúdió‘ diskutiert – dies erwähne ich hiermit durchaus selbstkritisch –; im Laufe der Jahre wurde allerdings klar, daß der Wirkungskreis dieses Unternehmens so bescheiden ist, daß es eigentlich verlorene Mühe war, die Existenzberechtigung aufgrund von richtigen oder eben falschen ästhetischen Gründen in Frage zu stellen. Nach der ‚Heldenzeit‘ in der Rottenbiller-Straße hat das ‚Stúdió‘ sein Außenseitertum zwar bewahrt, institutionalisierte sich aber allmählich. Seine – von Lektoren nicht eingesehenen – Werke werden bei den Konzerten der Nationalphilharmonie aufgeführt, seine führenden Komponisten (Zoltán Jeney, László Sáry, László Vidovszky) haben zwar nicht in dieser Zeit, aber danach durchaus schon ihre ‚Erkel-Preise‘ erhalten können. Indessen genießen sie immer noch unverändert die Aura eines ‚Fremdkörpers‘ (deshalb war es schade, sie zum Fremdkörper zu erklären). Die Lage der ‚Gruppe Junger Komponisten‘ ist unvergleichlich schwerer, da sie scheinbar unter der schützenden Macht des Ungarischen Tonkünstlerverbandes steht. Diese Gruppe ist durch Lebensalter und nicht durch Tendenzen geprägt; einige Mitglieder waren auch im ‚Stúdió‘ ver-
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treten. Zahlreiche von ihnen erwiesen sich als ‚richtige‘ Komponisten (Miklós Csemiczky, Lajos Huszár, István Mártha, Balázs Szunyogh, János Vajda usw.); indes erwartet die öffentliche Meinung seltsamerweise, daß diese Gruppe lauter junge Beethoven präsentieren soll. Das konnte freilich selbst die Zeit von Beethoven nicht vollbringen, geschweige denn unsere Epoche. Unser Musikleben brachte nun den merkwürdigen Querstand, daß der staatliche Veranstalter [= die Nationalphilharmonie, HL] mit Vorliebe unbesehen die Konzerte des ‚Új Zenei Stúdió‘ übernimmt, d.h. das Außenseitertum institutionalisiert, während die Konzertreihen der ‚Gruppe Junger Komponisten‘ erst durch zartes oder eben nicht unbedingt mehr ganz sanftes Zureden überhaupt ermöglicht werden. Hier findet keineswegs ein Kampf zwischen Qualität und Niveaulosigkeit statt, denn beide Gruppen boten einige akzeptable und wiederum zahlreiche nicht überlebensfähige Werke.“5
Die drei wichtigsten Vertreter des „Studios der Neuen Musik“, László Vidovszky, László Sáry und Zoltán Jeney, seien hier kurz charakterisiert. László Vidovszky ist in den ersten Jahren des „Studios“ vor allem durch szenische, dem Happening nahe Werke wie die erwähnten Autokoncert und Schroeders Tod hervorgetreten. Im Abwenden von der Tradition und dem traditionellen Werkbegriff war er sicher der radikalste unter den „Studio“-Mitgliedern und erregte entsprechend das meiste Aufsehen – eine konsequente Haltung, die aber wiederum einem internationalen Bekanntwerden im Wege stand. László Sáry6 galt lange als der „Lyriker“ im „Studio“, er verwendete ähnlich wie John Cage häufig Zufallsoperationen, etwa in der Art von dessen Atlas Eclipticalis, bewies in den merkwürdig in sich selbst kreisenden und rotierenden Klangwelten aber ausgesprochenen Sinn für Farben und eine in diesem Rahmen vielleicht nicht erwartete Expressivität. Eines seiner umfangreicheren Werke in diesem Stil ist A Continuity of Rotative Chords für zwei Klaviere und zwei Flöten (1975). Andererseits hat sich Sáry von klassischen bzw. klassischmodernen Formen auch wiederum nicht völlig losgesagt, wie etwa seine Drei Madrigale (1966) oder die Sonata grande für Klavier (1980), im Stile von Charles Ives, beweisen. Zoltán Jeney legte nach der Rückkehr aus Rom, wo er an der Accademia di Santa Cecilia Schüler von Goffredo Petrassi war, ein Werk für großes Orchester ohne Schlagzeug vor: Alef – Hommage à Schoenberg (1971–72). In diesem Werk versuchte er, das berühmte Stück Farben aus den Fünf Orchesterstücken op. 16 von Arnold Schönberg „neu zu denken“: ein über mehrere Oktaven gespreizter Akkord aus allen zwölf Halbtönen der chromatischen Skala wird ständig wiederholt, dabei aber in der Zusammensetzung, den Detailklangfarben, der Dynamik und den Ein- und Ausschwingvorgängen ebenso ständig geringfügig verändert. Es ist also kein Komponieren nach dem Prinzip der „entwickelnden Variation“ mehr, sondern ein statischer Klang kehrt immer wieder, wobei er gleichzeitig
5 6
János Breuer, Negyven év... (wie Anm. 2), S. 443–444 (Übersetzung: Éva Pintér). Nicht zu verwechseln mit seinem fünf Jahre älteren Bruder József Sári, ebenfalls Komponist; die unterschiedliche Namensschreibung ist Absicht.
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gleich und ungleich ist, oder „Dasselbe ist nicht dasselbe“, um hier einen Werktitel von Nicolaus A. Huber zu zitieren (Dasselbe ist nicht dasselbe für Kleine Trommel). Jeney entwickelte später Werke aus einem möglichst geringen Tonvorrat – eine manchmal geradezu asketische Konsequenz, etwa im schon erwähnten Klavierstück Endspiel oder in Kato NK 300 (1980) für ein beliebiges Soloinstrument, das die nur zwei Töne eines japanischen Baukrans nachahmt. Eine bewusste Kargheit der Mittel, in Entsprechung zu den literarischen Vorlagen, zeigen die Twelve Songs für Mezzosopran, Violine und Klavier (1975-83); im ersten Lied „May I feel said he“ nach einem Gedicht von E. E. Cummings ist der Refrain jeder Textzeile „said he“ bzw. „said she“ immer gleich, und jeder Melodieton erhält einen Begleitakkord des Klaviers. Eine musikalische Entwicklung oder Entfaltung findet nicht statt.7 „May I feel said he I’ll squeal said she Just once said he It’s fun said she May I touch said he How much said she A lot said he Why not said she...“
Besonders gepflegt wurden im „Studio der Neuen Musik“ Gruppenimprovisationen und Gemeinschaftskompositionen. Auch dies war ein Abschied vom traditionellen Werkbegriff, näherte sich den Klangvorstellungen von John Cage, aber auch des Free Jazz an. So entstand 1975 eine Gemeinschaftskomposition Hommage à Kurtág zum bevorstehenden 50. Geburtstag von György Kurtág (am 19. Februar 1976), an der sich Péter Eötvös, Zoltán Jeney, Zoltán Kocsis, László Sáry und László Vidovszky beteiligten. Jeder komponierte unabhängig von den anderen einen teils durchlaufenden, teils in Episoden aufgespaltenen Part; diese Teile wurden dann in den Proben zusammengesetzt. Da sich die Musiker untereinander natürlich gut kannten, ist das Ergebnis nicht völlig zufällig und beliebig, sondern offenbart durchaus einen gewissen Konzeptcharakter.8 Ist das „Studio der Neuen Musik“ somit im Wesentlichen eine innerungarische Erscheinung, so existierte es wiederum auch nicht völlig abgeschottet von anderen Ereignissen, nicht zuletzt durch seine internationalen Beziehungen und auch durch einen stilvoll gepflegten Nonkonformismus. Es passt zu dieser Rolle einer wenngleich nur kulturellen 7 8
Hartmut Lück, Zustand, Kreis und Continuum – drei Aspekte der Stille. Über den ungarischen Komponisten Zoltán Jeney, in: MusikTexte 10, Juli 1985, S. 17–21. Dies lässt sich anhand einer CD-Veröffentlichung (Budapest Music Center BMC CD 116) aus Anlass des 70. Geburtstages von György Kurtág und der 35. Wiederkehr der Gründung des „Studios“ im Jahre 2005 überprüfen; der Booklettext, wiederum von András Wilheim, enthält weitere Informationen über das „Studio“.
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inneren Opposition, dass im Jahre 1977 Zoltán Kocsis als prominentes Mitglied des „Studios“ – er machte damals immerhin schon international Karriere als Pianist – die auch außerhalb der ČSSR verbreitete „Charta 77“ unterschrieb; bei einem weiteren Aufruf 1979 folgten Unterschriften u.a. von Zoltán Jeney und dem Musikwissenschaftler János Malina. Dies blieb jedoch ohne Folgen: sowohl in Form eventuell zu befürchtender Sanktionen wie auch in Hinsicht des eigenen politischen Standpunktes, so weit sich dieser in irgendeiner Weise künstlerisch hätte artikulieren können oder wollen. Zoltán Jeney hatte sich zwar mit seinem Werk Cantos para todos (1983) an einer internationalen Solidaritätsbewegung mit den chilenischen Künstlern und den Opfern des faschistischen Militärputsches des Generals Augusto Pinochet beteiligt, verneinte allerdings ausdrücklich jegliche etwa politisch zu interpretierende Oppositionsrolle des „Studios“ wie auch einen dezidiert politischen Inhalt seiner eigenen Werke. Es ist natürlich nicht auszuschließen, ja es spricht sogar manches dafür, dass sich ein um das „Studio“ bildender Kreis von Musikern und Sympathisanten nicht nur als nonkonformistisch, sondern auch als in einem allgemeineren Sinne oppositionell empfand und dass manche hasserfüllte kritische Reaktion sowohl von der konservativen Partei-Seite wie auch aus der Ecke des dumpfen ungarischen Nationalismus und Chauvinismus eine politische Bewertung nahe legte – was wiederum, wie auch in vergleichbaren Konstellationen im Westen, innerhalb der selbsternannten Nonkonformisten als „schick“ empfunden wurde. Der im Westen gebräuchliche und zuweilen durchaus abfällig gemeinte Begriff des „Kultur-Linken“ mochte mutatis mutandis auch auf die Szene des ungarischen Nonkonformismus zutreffen, wenn auch in sehr viel bescheidenerem Rahmen und natürlich in den Grenzen dessen, was ohne Gefährdung der eigenen beruflichen Existenz möglich und tolerabel erschien. Eine politische Opposition war dies aber auf gar keinen Fall; eine gewisse Politisierung der künstlerischen Szene setzte erst nach der ‚Wende’ von 1989 ein, als eine nationalistische und chauvinistische Richtung sowohl in der Politik als auch in der Kultur Oberwasser bekam. Auch Komponisten wie etwa Zsolt Durkó oder Sándor Balassa (geb. 1935) entdeckten plötzlich ihre nationalen Neigungen und polemisierten gegen „internationalistische“ und „kosmopolitische“ Strömungen in der Szene der Neuen ungarischen Musik. So polterte Balassa schon 1989 in einem Artikel Gedanken über die nationale Musik: „Der Modernismus als in linksgerichteter Kleidung erscheinende, westeuropäische AvantgardeIdeologie ernährte sich aus mehreren Quellen, von denen keine zur Pflege der nationalen Kultur diente. Dazu gehörten zum Beispiel die wissenschaftliche und technische Revolution oder der Geschmack des in internationalen Verbindungen starken, doch der ungarischen Seele fremden städtischen Bürgertums sowie die internationalistisch geprägte kommunistische Bewegung.“9 9
Sándor Balassa, Gondolatok a nemzeti zenéröl [Gedanken über die nationale Musik], in: Hitel [Kredit], Jahrgang II, Nr. 24 vom 29. November 1989, S. 34, zitiert und übersetzt bei: Éva Pin-
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Bezeichnenderweise entspricht diese Terminologie, wie sie Balassa hemmungslos verwendet, nicht nur dem Vokabular des westlichen Rechtskonservativismus, sondern auch den Kampfschriften des Stalinismus gegen trotzkistische und andere Abweichler, wobei „internationalistisch“ und „kosmopolitisch“ als Synonyme für „jüdisch“ zu verstehen sind. Wenig später verzichteten die nach der ‚Wende‘ in Ungarn herrschenden Kreise10 sogar auf diesen Umweg und pflegten in aller Öffentlichkeit eine antisemitische Stimmungsmache, als deren Folge viele jüdische Kulturschaffende einzig und allein aus diesem Grund ihre Stellen verloren. Dass die selbsternannten Retter des nationalen Ungarntums, gerade im Musikbereich, selbst zu den Privilegierten des Sozialistischen Systems gehört hatten, wurde wohlweislich verschwiegen. Es erschiene somit als Überinterpretation, bestimmte Äußerungen, Proklamationen oder Verhaltensweisen aus dem weiteren Umkreis des „Studios der Neuen Musik“ als politische Opposition oder auch als Sympathiebewegung mit dem Prager Frühling und den Unterdrückten der Intervention zu verstehen. Ob und inwieweit aber auch die Vorstellungen und Verlautbarungen aus dem Umkreis des „Prager Frühlings“ selbst als illusionär, utopisch, idealistisch oder aus heutiger Sicht als rein nostalgisch einzustufen sind, ist eine Frage, die sicher noch weiterer Erforschung und kontroverser Erörterung bedarf.
tér, Ungarn: Neuverteilung von Subventionen. Serie über Komponistenförderung (Folge 3), in: Neue Zeitschrift für Musik 3 / 1991, März 1991, S. 10–14, hier S. 14. 10 Zur politischen Situation in Ungarn seit der „Wende“ bis heute vgl. ApuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament) Nr. 29-30 / 2009, 13. Juli 2009, mit Schwerpunkt Ungarn.
Utz Rachowski
Der letzte Tag der Kindheit1
„Wir sind allein bis sich die Zeiten ändern und jene die verraten wurden wie Pilger zurückkommen zu diesem Augenblick als wir uns nicht fügten und dieses Dunkel Dichtung nannten.“ (Leonard Cohen)
Die Straße. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Wo die Randstreifen enden, beginnen Felder. Wo die Felder enden, steht ein Ortsschild. Auf ihm steht: Reichenbach im Vogtland. Von diesem Schild aus sind es etwa noch hundert Meter bis zu einer Siedlung, die Stern-Siedlung heißt und hell am Himmel meiner Kindheit steht.
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Für die (seit langem vergriffene) Erstausgabe dieser Erzählung, die Utz Rachowski seinem Bruder widmete, schrieb Hans Sahl folgendes Vor wort: „Utz Rachowskis Erzählung gibt zum Nachdenken Anlass. Hier ist ein junger Autor, der die Konflikte unserer Zeit am eigenen Leibe erfahren hat und sich trotzdem nicht abschrecken lässt, ein Deutsch zu schreiben, das an die beste Tradition deutscher Prosa anknüpft. Utz Rachowski kennt die Probleme des Erzählens, er weicht ihnen nicht aus, er hat den Mut zu jener viel sagenden Einfachheit, die man Dichtung nennt. Die Beschreibung der Natur, die Schilderung von Menschen in einem ländlichen Milieu ist zugleich behutsam und präzise. Hier geht es um gute handwerkliche Arbeit. Utz Rachowski zeichnet mit fester Hand ein Gesicht, eine Haltung, eine Stimmung – die Stimmung einer Kindheit im Vogtland, voll von Erinnerungen an bestimmte Gerüche, Farben, Worte, Sätze: den Geruch von Flieder und blühenden Obstbäumen und den Geschmack von Eingemachtem im Keller der Großmutter, übrigens eine Figur, die man nicht mehr vergisst. Utz Rachowski hat die Fähigkeit, in der Idylle auch das Unheil, das ihr droht, anzudeuten, den Krieg im Frieden. Visionen von großer Eindringlichkeit tauchen auf, etwa die eines toten Offiziers, der mit gespaltenem Schädel, auf seinem Pferde liegend, vorbeireitet. Dies alles gesehen aus der Perspektive eines Kindes, das noch keine Zusammenhänge erkennen kann, sondern nur Einzelheiten, die sich einprägen, wie z.B. der schwarze Badeanzug eines Mädchens, das Martina heißt, oder die kleine bucklige Frau, vor der das Kind ausreißt, weil sie Leichen wäscht… Der letzte Tag der Kindheit ist ein Stück Prosa, von dem man sich ungern trennt. Es hat die Qualität eines vergilbten Familienalbums, in das man sich vertieft, als ob man es noch nie vorher gesehen hätte.“
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Durch sie führen drei Wege, die jedoch nicht Milchstraßen heißen, wie man vielleicht denken könnte, sondern Randweg, Mittelweg und Erich-Mühsam-Straße; nach der letzten schließt sich eine Häusergruppe an, die die Erwachsenen meiner Kindheit „die SA-Siedlung“ nannten, ein Name, der, wie ich mir dachte, wohl mit ihrer Kindheit zu tun hatte. Aber ich wohnte in der Stern-Siedlung. Der Mittelweg teilte sie in zwei Teile und führte, wie sein Name besagt, mitten hindurch. Gärten zu beiden Seiten, Wiesen, die grün im Schatten hoher Apfel- und Birnbäume lagen, vielfarbige Zäune und dicht gewachsene Sträucher, Johannisbeere, schwarz oder rot und Stachelbeerbüsche ermutigten, über die kleinen, niedrigen Zäune zu langen. Blumenbeete, Astern, Tulpen, Löwenmaul, und auf den Wiesen vereinzelte Krokusse und Schneeglöckchen begleiteten den Blick durch die kurze Jahreszeit meiner Kindheit. Und es gab eine Vielzahl kleinerer Hunde; Foxe, Pudel und langhaarige Dackel, die laut bellend an der Innenseite der bunten Zäune entlangliefen, um am Ende der Gärten, wo der Zaun jeweils einen Knick machte, dem Vorübergehenden wehmütig und schwanzwedelnd nachzuheulen, als wollten sie sich bei ihm für ihr wildes Gebell entschuldigen oder begreiflich machen, dies sei lediglich als freundliches Geleit in eine paradiesische Gegend zu verstehen gewesen. Vom Mittelweg ab, zwei Meter nach rechts, der dritte Garten, der mit dem gelben Ginsterstrauch und dem Pflaumenbaum an der Ecke, gehörte meiner Großmutter. Ein rotes Gartentor aus zusammengeschweißtem Metallrohr, an dessen Klang, wenn es von mir zugeschlagen wurde, ich mich genau erinnere, führte hinein. Der Weg aus Steinplatten, doppelreihig, dann rechts wieder Blumenbeete, ein Fliederbaum, zwei Büsche Pfingstrosen, dahinter ein Holzschuppen, dunkelbraun gefirnist, der anliegende Hühnerstall, ein Kirschbaum, die Wiese, Apfelbaum, Astern, Tulpen, Löwenmaul, vielleicht ein weißer Krokus im März; wer jetzt über den Zaun nach außen stiege, würde auf dem Mittelweg stehen und wäre im Kreis gegangen. Also erneut durchs rote Gartentor, der metallische Klang einer Kindheit, die ins Schloss fiel. Der Plattenweg, der Holzschuppen, Fliederbaum, aber jetzt nach links, einmeterfünfzig, drei Schritte. Die Tür zum Haus meiner Großmutter war nie verschlossen; man konnte unbemerkt eintreten. Im Vorsaal zwei Türen, eine nach links und eine nach rechts, gerade nach oben die steile Holztreppe in den zweiten Stock, von dort durch ein Zimmer weiter bis zum Dachboden. Aber die rechte Tür führt in die Küche. Wer sie öffnet, sieht meine Großmutter am Küchentisch stehen, links der Kohleherd, dessen Eisenplatten im Winter glühen und vor denen es sich zu hüten gilt. Also nehmen wir lieber an, es ist Sommer, das Licht ein wenig dunkel, weil im Hof der braune Holzschuppen die Sicht aus dem Fenster verdeckt. Ich sitze unter dem Fensterbrett auf einer Eckbank, daneben die Nähmaschine mit dem gefährlichen, zum Hineingreifen auffordernden Schwungrad, das jetzt jedoch stillsteht.
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Ich sitze auf der Bank, meine Großmutter steht am Tisch. Ich packe meine Schultasche für den nächsten Tag, Großmutter rührt Kuchenteig oder Mohnsemmeln. Mohnsemmeln gab es im Dezember, zum Jahreswechsel. Im Sommer Kirschschale. Manchmal, wenn ich von der Schule kam, mich schnell an den Tisch setzte, nachdem ich die Schultasche unter die Eckbank geworfen hatte, servierte meine Großmutter eine ihrer Spezialitäten. Kirschschale zum Beispiel: Gestampfte Kirschen mit Milch und rotem Zucker. Oder Mohnsemmeln, das Geheimrezept: Wasser und Mohn in einem Steintopf. Mit einem Holzstößel lange und kraftvoll verreiben, bis sich auf der Oberfläche des Breis eine milchige Schicht bildet. Dann gab meine Großmutter einige Weißbrotstücke in den Topf und stellte ihn auf die Kellertreppe; dort musste er noch einen Tag lang stehen. Ich sitze am Fenster auf der Bank. Ich kann, wenn ich hinausschaue, eine Ecke vom Garten sehen, den Fliederbaum, die beiden Büsche, an denen Ende Mai die Pfingstrosen blühen. Dahinter die Johannisbeersträucher, Tulpen, Astern, Löwenmaul sehe ich nicht, aber ein Stück vom Zaun, dahinter den Mittelweg, auf dem vielleicht gerade Herr Schimmack spaziert. Schimmack mit kurzen, grauen Haaren und einer Brille. Im offenen Hemd, in knielangen, grünen Lederhosen, Knickerbockern und langen, großgemusterten, schwarzroten Strümpfen, die in ebenfalls grünen Sandalen stecken. Auf offener Straße. „Ist die Kacke noch so locker, nichts geht durch die Knickerbocker“ – ist mir verboten zu rufen. Auf offener Straße und Schimmack nach. Der Schneider, sagt meine Großmutter. Und ich weiß, einmal hat Schimmack eine Hose für meinen Großvater gemacht, ein Großvater, zu dem ich nie „Opa“ sagte und der tot ist, gestorben nach einer Operation, an einem „Blutgerinnsel“, wie meine Großmutter sagt. Ich habe keine Erinnerung mehr an ihn, aber ein handtellergroßes Stück einer graugrünen Kreide, mit dem Schneider Schimmack einst bei meinem Großvater Maß genommen, verwahre ich noch auf dem Grund meiner Schultasche. Und weiß eigentlich nicht, wem ich dieses stumme Relikt zu danken habe, ob dieses Stück graugrüner Kreide eher meinem Großvater oder dem Schneider Schimmack zuzurechnen ist. Diese beiden, mit ihren unklaren Geschichten. Blutgerinnsel. Und bei Schimmack etwas von einem Beil, mit dem er gegen die Polizei aufgetreten sein soll und anschließendem Gefängnis. Wie gesagt, unklare Geschichten. Aber Schimmack, von dem meine Großmutter „der Schneider“ sagt, geht jetzt auf dem Mittelweg hinter den Johannisbeersträuchern entlang. Wozu, weiß ich nicht, vielleicht um ein Schneider zu sein. Großmutter mit ihren Geschichten. Klarer dann schon die über meinen Ur-Großvater, der vor sehr langer Zeit (da waren meine Mutter und mein Vater noch Quark im Schaufenster, wie meine Großmutter sagt), der also damals in einem Land, das Polen heißt, nachts auf einen riesigen Schornstein gestiegen sein soll, um dort oben eine rote Fahne zu hissen. Ganz allein. Und beim Runtersteigen hat er die Stufen der Eisenleiter mit Schmierseife eingerieben, um zu verhindern, daß die Polizei die Fahne wieder abreißt. Solche Geschichten erzählt meine Großmutter und rührt Kirschschale oder Mohnsemmeln. Die rote Fahne hat meinem Ur-Großvater damals einen fünfjäh-
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rigen Aufenthalt in einem – nun wieder ganz anderen Land, das Sibirien heißt, eingebracht. Doch an dieser Stelle wird meine Großmutter immer ganz still und sagt etwas von „verstehst du sowieso nicht“. Und zuerst dächte ich, daß das wohl mit diesem anderen Land zusammenhängen würde, aber einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen meinem Vater und der Großmutter, aus dem ich entnahm, dass mein Großvater zur Zeit der großen russischen Revolution im Februar 1917 – nicht zu verwechseln mit dem Oktoberputsch – von einigen Bekannten in Petersburg gesehen worden war. Er musste also vorzeitig aus diesem Land Sibirien entlassen worden sein, war aber nicht zurückgekommen. Die Bekannten berichteten, wie er am hellen Tag durch Petersburg geschlendert sei, laut pfeifend, sagten sie, dazu noch an jedem Arm eine Dame. Nutten, wie meine Großmutter sagt. Ob er jedoch deshalb in Petersburg geblieben war oder wegen dieser Revolution dort, sagte sie nicht. Das scheint auch für meine Großmutter unklar zu sein. Ich konnte lauschen, soviel ich wollte, mit dieser Frage endete jedes Gespräch über meinen Ur-Großvater. Klar blieb nur, dass er nie wieder nach Hause kam, auch wenn, wie ich erfuhr, „zu Hause“ damals Polen war. Noch eine Geschichte? Die von dem Vater meiner Mutter, meinem anderen Großvater? Den ich zwar, genau wie die Beiden in meinem Leben nie gesehen habe, der aber ein lustiger Mensch gewesen sein muss. Als lustiger Mensch war er Mitglied bei einem Stammtisch in einer Kneipe seiner Straße und nahm jeden Abend einen zur Brust. Und jeden Abend ließ die Stammrunde eines ihrer Mitglieder sterben, um daraufhin dessen Tod ausgiebig zu begießen. Mein Großvater kam in der Nacht dann jedes Mal weinend nach Hause und berichtete von einem großen Unglück, das geschehen sei: Der Tod eines nahen Freundes. Worauf sich auch bei meiner Mutter tiefe Betroffenheit eingestellt hätte, wäre ihr nicht eben jener totgesagte Freund am nächsten Tag leicht verkatert über den Weg gelaufen. Auch ist das Ende dieses Großvaters besser überliefert als das meines Ur-Großvaters. Eines Tages nämlich kaufte er sich ein nagelneues Motorrad mit Seitengespann, fuhr, ohne viel Umstände zu machen, auf Hitlers soeben neu erbauter Autobahn und überschlug sich im Vollrausch. Klarer Fall, dass seine Stammtischrunde eine Mammut-Sitzung ansagte. Das sind jedenfalls bessere Geschichten, als am Mittag grundlos den Mittelweg in grünen Sandalen und Knickerbockern heraufzukommen und Schimmack zu heißen! Aber vielleicht nicht besser als Mohnsemmeln rühren und Geschichten erzählen zu können, wie meine Großmutter. Während ich auf die Straße blicke und die zwei alten Frauen aus dem Haus gegenüber entlangkommen sehe, die „Umsiedlerinnen“ heißen, übrigens wieder so ein Wort meiner Großmutter, von dem ich nicht weiß, was es bedeutet. Die kleinere Frau, die einen Buckel hat und gekrümmt geht, arbeitet auf- dem Friedhof, der am äußeren Ende des „Randweges“, an der Grenze der Stern-Siedlung zu den Feldern liegt. Dort wäscht sie Leichen, sagt meine Großmutter, und ich renne jedes Mal, wenn die Bucklige den Mittelweg entlangkommt, schnell ins Haus oder verstecke mich hinter dem
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dunkelbraunen Holzschuppen oder sitze, wenn ich gerade auf den Fliederbaum geklettert bin, ganz still. Die andere Frau, draußen auf dem Mittelweg, geht aufrecht, scheint kräftiger als die Bucklige und ist Köchin in einer Betriebskantine. Von ihr nehme ich gern jedes Wort entgegen und die dazu gereichten Süßigkeiten, Schokolade und Pudding, die sie aus ihrer Kantine mitbringt. Und einmal, als abends ein Gewitter aufkam und meine Großmutter im Garten die Wäsche von der Leine nahm, kam diese alte Frau ins Zimmer, bis an mein Bett, in dem ich lag und mir die Augen zuhielt, setzte sich und brachte mir einen großen Teller Götterspeise. Die ersten Blitze, das Trommeln der Regentropfen auf dem Blech des geöffneten Fensters, die grün schillernde Götterspeise, die mir die „Umsiedlerin“ brachte, die mit einer Frau zusammenlebte, die Leichen wusch, diesen Geschmack sollte ich für immer auf meiner Zunge bewahren. Aber nun ist ein heller Sommertag, die beiden Frauen gehen den Mittelweg entlang, erreichen, nachdem sie an drei Gärten vorbeigegangen sind, an Zäunen, Wiesen und Hunden, eine größere Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Dort, nach hundert Metern das Ortsschild: Reichenbach im Vogtland. Die Straße. Die Straße meiner Kindheit führt von Zwickau nach Plauen. Und es ist eine vogtländische Straße. Das Vogtland. Das Vogtland ist ein kleiner Landstrich im Süden des östlichen Teils von Deutschland. Jenes Deutschland, das heute auf der Landkarte rechts liegt und dessen geographische Physiognomie einem zu Scherzen aufgelegten Betrachter wie ein vertrockneter Zwerg erscheint, mit dem es sich schlecht scherzen lässt. Das Vogtland im Süden grenzt im Norden an Sachsen, zu dem es jedoch keineswegs zählt, was im besonderen aus den auffahrenden Gesten seiner Bewohner hervorgeht, wenn man ihnen sagt, sie seien Sachsen. Vogtland ist Vogtland. Bitte sehr! Es wird im Westen von Thüringen, im Osten vom Erzgebirge und im Süden von Bayern und Böhmen eingeschlossen. Das Vogtland ist meine Heimat, was nichts anderes heißt, als dass Wälder, Flüsse, Flüsschen, Seen, Dörfer und sonnenüberflutete Marktplätze mit den deutlichen Bildern meiner Erinnerung abwechseln. Und Wege führen durch alle Erinnerungen, auf den Wegen ich. Mit den Eltern und allein. Allein und mit dem Bruder. Mit dem Fahrrad, dann mit einer Zuckertüte. Und später mit den verständnislosen Gesichtern der Altersgenossen und Schulkameraden, die verständnislose Fragen aufwarfen: Was lässt sich dieser Walther von der Vogelweide mit dem Papst ein? Fragen und Gesichter, zu denen ich früh schwieg und die Antwort wusste. Allein war. Auf den Marktplätzen und Schulbänken. In die Wälder ging und die Wege wusste. Denn es gibt dort, neben der bereits erwähnten Autobahn, die dem Vater meiner Mutter zum Verhängnis wurde, oder ihn vielleicht vor einem elenden und weißen Tod bei Pe-
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tersburg und Stalingrad bewahrte, oder vor einem ganz anderen Tod im Land Sibirien, dort gibt es neben dieser Autobahn, die, wie ich hörte, von Hitler allein erbaut wurde, nur noch eine einzige Nord-Süd-Trasse. Das ist, diese allein, die Straße meiner Kindheit. Die Straße. Zwischen Reichenbach und Zwickau heißt sie Zwickauer Straße, nach Reichenbach, Richtung Plauen, Plauensche Straße, und kurz vor Plauen Reichenbacher Straße. Von dort führt sie weiter bis Bad Brambach. Dann fängt Böhmen an. Die Straße. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sagt meine Großmutter und rührt Mohnsemmeln. Jeden früh ritt die Kavallerie dort hinaus. Eine endlose Schlange von Wagen und Reitern, die in den Krieg zogen. Da war ich ein junges Mädchen. Meine Großmutter erzählt. Ich sitze am Tisch und schaue in den Garten. Der braune Holzschuppen, der die Sicht behindert. Aber ich sehe die Pfingstrosen. Ich sehe ein Mädchen. Am Fliederbaum vorbei. Durchs rote Gartentor. Der metallische Klang. Ein paar Meter. Ein anderer Zaun. Ein anderer Garten. Andere Büsche. Wieder ein Fliederbaum. Hier wohnt der Großvater von Martina. Der Fische züchtet und seine Nächte bei ihnen verbringt. lm Sommer kommt Martina zu Besuch. Wenn der Sommer gelb ist, hat Martina blondes Haar. Dann gehen wir baden. Durch die Felder am Rand der Siedlung. die Stern-Siedlung heißt. Dann steht der Raps hoch. Dann hat Martina einen schwarzen Badeanzug. Dann blüht der Raps gelb. Wenn der Sommer blond ist, schlägt unser Herz rot, und weiß blühen die Brüste des ersten Mädchens. Ich war dreizehn. Ich möchte nicht noch einmal zwanzig sein. Ich möchte nicht singen. Darüber nicht. Dann zog Martina ihr Kleid an. Adieu. Wir gingen zurück zur Siedlung, die SternSiedlung heißt. An beiden Bäumen blühte der Flieder. Adieu. Dann sagte ich ihr vor dem roten Gartentor: Bis bald. Dann blühte der Flieder wild. Adieu. Dann zog Martina in eine andere Stadt. Im nächsten Sommer, dem ein endloser Herbst vorausgegangen war, mit einem Mädchen aus meiner Klasse, das Karin hieß, blond war und einen schwarzen Badeanzug trug, versuchte ich, etwas von dem zu wiederholen, was mit Martina weggezogen war. Aber ich habe es nicht mehr gefunden. Und später hießen die Mädchen Ulrike, Beate und wieder Karin. Ihre Haare waren braun, blond oder rot. Da waren es schon zehn Jahre. Und dann hieß ein Mädchen Maria. Aber die hatte schwarzes Haar. An fröhlichen Tagen Zöpfe. Das interessiert dich nicht, sagt meine Großmutter und schüttet noch Wasser in den Steintopf. Erzähl nur, sage ich und schaue weiter auf die Straße. Jeden Morgen, und ihre Worte scheinen den Rhythmus zu bestimmen, mit dem ihre Arme Mohnsemmeln reiben, jeden Morgen sind sie hinaus geritten. Aber da war ich noch ein junges Mädchen. Kavallerie. Die Soldaten ritten damals auf Pferden, musst du wissen, weil es kaum Autos oder Panzerwagen gab. Selbst die Kanonen wurden von Pferden gezogen. Jeden Morgen an unserem Haus vorbei. Warte mal, sagt sie, ich muss in den Keller, noch Mohn holen. Ich sitze in der Küche und schaue in den Garten. Martina. Deshalb war ich jeden Abend die
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Holztreppe bis zum Dachboden hinaufgestiegen und hatte mit einem Fernglas die Sterne betrachtet. Deshalb mein unbezwingbares Interesse für Astronomie. Das nie seine Erfüllung fand, weil ich später nach der achten Klasse auf die Oberschule wechselte, also den Astronomie-Unterricht in der Zehnten der Grundschule verpasste und den in der Zwölften der Oberschule nicht miterlebte, weil ich ein Jahr vorher wegen allseitiger Renitenz gefeuert wurde. Beleidigung von Armeeoffizieren. Weil ich nicht Offizier werden wollte. Zersetzung des Klassenkollektivs. Mit dem Unterricht fremden Stoffen. Den Geschichten meiner Großmutter und denen meiner eigenen Augen. Von Kavallerie und betrunkenen Motorradfahrern. Von roten Fahnen und Nutten in Petersburg. Von zwei Fliederbäumen. Mein unwissenschaftlicher Blick zu den Sternen. In einer Siedlung, die Stern-Siedlung heißt, weil ihre Häuser immer zu dritt, sternförmig aneinander gebaut waren. Die schwarzen Badeanzüge. Mein Bruder, der Student, mit Geschichten über rebellierende Studenten. Der schwarze Johannisbeer-Schnaps, selbstgemacht, den wir heimlich im Keller tranken. Die Umsiedlerinnen. Die Blitze. Götterspeise. Der Teufel. Rudi Dutschke. Schimmack. Die Silvesterraketen im Schnee. Mein Bruder, der sie abschoss und lachte. Was war jeden Morgen? frage ich meine Großmutter, die aus dem Keller zurück ist. Nachdem die Sonne aufgegangen ist, sagt sie, sind sie hinausgezogen, hinaus auf die Felder, wo Krieg war. Unser Haus stand genau an der Straße, und ich konnte alles sehen. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sie sagt nicht: Leokadya Amalia. Das sind meine Vornamen, das Land hieß Polen, das war eine polnische Straße, und der Ort mit diesem Haus an der Straße hieß Sdunska Wola und liegt zweihundert Kilometer von Warschau entfernt. Dort wurde dein Vater geboren. Das sagt sie nicht. Sie sagt nur: Da war ich ein junges Mädchen. Die Offiziere in ihren glänzenden Uniformen, jeder auf einem Schimmel. Dann der Tambourmajor. Der seinen Stab schwang und den Rhythmus für die nächsten Reihen der Reiter bestimmte. Die Musik. Die Soldaten. Mit Säbeln an der Seite, die den Gang ihrer stolzen Pferde mitschwangen. Zuletzt dann Gespanne. Wagen mit Proviant, Kanonen, Feldküchen. Vorbei an unserem Haus. Jeden Morgen. Und dann am Abend, und es waren immer warme Abende dort im Sommer, musst du wissen, und wir Mädchen standen barfuss vor den Häusern am Straßenrand, warteten wir auf die Soldaten. Und einmal, das weiß ich noch genau, war am Morgen ein großer blonder Leutnant auf einem herrlichen Schimmel allen voran geritten. Abends war ich als erste von den Mädchen an der Straße. Dann kamen die Soldaten. Ich sah den Leutnant. Er lag quer über dem Sattel seines stolzen Pferdes und war tot. Die Uniform voll Erde und Blut. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr erkennen. Sie hatten ihm den Schädel gespalten. Am Morgen war er allen voran geritten. Er war mutig, aber es war sinnlos, denn es war Krieg. Dann kamen andere Gespanne mit toten Reitern. In Haufen lagen sie übereinander. Meine Mutter lief aus dem Haus und zog mich an der Hand fort. Das ist der Krieg, sagte
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sie. Und seit diesem Abend bin ich nie wieder an diese Straße gegangen. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sagt meine Großmutter. Und rührt Mohnsemmeln. Sie atmet jetzt schwer, hört für einen Moment auf und gießt noch etwas Wasser in den Steintopf. Ich schaue wieder aus dem Fenster, sehe den Holzschuppen, den Fliederbaum, die Johannisbeersträucher, die Blumen vor dem Zaun. Es ist Abend geworden. Der Pfingstrosenstrauch hat seine blutroten Knospen geschlossen. Ein heller Stern leuchtet über dem Haus der Umsiedlerinnen. Meine Großmutter stellt die Tonschüssel mit dem fertigen Mohn auf die Kellertreppe. Der Weg, der, geht man an drei paradiesischen Gärten vorbei, auf die große Pflastersteinstraße führt, die hier Zwickauer Straße heißt und von mir benannt wurde: meine Kindheit, ist jetzt leer. Und später, ich weiß nicht, wie viele Tage oder Jahre vergangen waren, denn Kindheit ist eine Zeit ohne inneres Maß, hörte ich am Morgen ein Geräusch, das schon in der Nacht aufgekommen war und auch jetzt nicht mehr zu enden scheinen wollte. Ich fand das Bett meines Bruders leer, und als ich nachsah, auch den braunen Holzschuppen, wo sonst sein Motorrad stand. Ich zog mich an und lief auf die Straße, meine Großmutter hatte mich zum Bäcker geschickt, um Brötchen zu holen. Und ich war glücklich, denn es waren Ferien, und die noch flach stehende Sonne versprach einen heißen Tag. Ich rannte den Mittelweg entlang, einer der Hunde aus den drei Gärten vollzog sein gewöhnliches Ritual und blieb dann winselnd hinter dem Zaun zurück. Ich kam an die Straße meiner Kindheit, die Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen – und blieb stehen. Denn alles war stehen geblieben. Schimmack stand dort. Die Umsiedlerinnen waren stehen geblieben. Der Raps stand gelb, aber anderswo. Der Sommer war nicht mehr blond. Die Badeanzüge blieben an einer Erinnerung hängen und standen fest. Und etwas anderes stand fest, blieb zurück und war stehen geblieben, dort an der Straße, an diesem Tag, etwas, was von nun an Kindheit heißen und hinter mir liegen würde. Denn sie allein bewegten sich. Auf meiner Straße. Rollten weiter. Fuhren fort: Panzer mit aufgepflanzten Maschinengewehren, Lastwagen und Geschütze, Schützenpanzer und Feldküchen. Sie waren ein endloser Strom, der schleppend unter einer gelben Glocke aus Staub vorwärts kroch. Ich stand noch eine Weile still, ging dann aber langsam weiter, an Häusern vorbei, immer an dieser Straße entlang. Zwei Mädchen aus meiner Klasse, Sonja und Ruth, sahen mich und liefen mir entgegen. Was ist denn los, riefen sie, durften wir deshalb in den Wäldern keine Pilze suchen, obwohl wir Ferien haben?
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Nein, diese Soldaten waren heute nicht freundlich und wollten keine Adressen tauschen, ganz anders als die von der Pateneinheit unserer Schule, die mittwochs manchmal zum Gruppennachmittag gekommen waren und russische Lieder sangen. Da lachte ich und ging weiter, denn etwas war vor ein paar Augenblicken stehengeblieben, und ich hatte mich umgedreht und wußte seither den Namen. Ich ging weiter und kam an einem Haus vorbei, in dem der Direktor unserer Schule wohnte; ich sah ihn im weit geöffneten Fenster in der zweiten Etage des Hauses stehen, in jeder Hand ein rotes Papierfähnchen, die er wie wild schwenkte. Rufe der Begeisterung mussten aus seinem Mund gekommen sein, die jedoch sogleich vom Klirren der Panzerketten verschluckt wurden. Ich ging eng an der Hauswand entlang, so, dass mich der Direktor nicht sehen konnte, und als ich nach oben blickte, sah ich nur noch seine Arme und Hände mit den roten Fähnchen und wie sie sich dem Strom und der gelben Staubglocke entgegenstreckten. Andere Hände müssen es gewesen sein, dachte ich, und eine andere Fahne, die mein Ur-Großvater einst in schwindelnder Höhe befestigt hatte. Nicht diese Schulkreidefinger, nicht dieses Zensurenrot. Das nicht, das wusste ich jetzt, seit ich mich nach dem umgewandt hatte, was meine Kindheit gewesen ist. Aber ich ging weiter, noch an zwei Häusern vorbei und öffnete dann die Tür zum Bäkkerladen. Außer einer Verkäuferin und mir war niemand sonst in diesem Geschäft, denn alle waren sie stehen geblieben. Ich kaufte fünf Brötchen und drei Stück Mohnkuchen, für meine Großmutter, meinen Bruder und mich, bezahlte und verließ den Laden. Auf der Treppe der Bäckerei geriet ich wieder unter die Wolke aus gelbem Staub, roch den schwarzen verbrannten Diesel, sah zu den Fahrzeugen hinüber und – wäre beinahe gestürzt. Ich sah ihn! Er saß auf dem schwarzen Motorrad, mitten in dieser unendlichen Panzerkette, mitten auf der Straße. Ich sah in das Gesicht meines Bruders, sah die schwarzen Haare, den Bart und die Augen, seinen Mund, um den ein Ausdruck zwischen Entsetzen und Freude lag; sein rotes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, als würde eine schwere Arbeit zu verrichten sein. War das die Fahne? Fuhr mein Bruder deshalb hier, oder wollte er sich nur einen Spaß machen. Und unter welcher Fahne fuhren die Panzer? Hatte er deshalb sein rotes Hemd angezogen, wollte er sich lustig machen über sie oder mit ihr diesen Vormarsch aufhalten, der der Krieg war? Und ich sah, wie zwischen meinem Bruder und dem Panzer, der vor ihm über das Pflaster schlug, bereits ein größerer Abstand entstanden war. Der nachfolgende Panzer blieb jetzt schon fünfzig Meter zurück. Ich sah, wie mein Bruder seinen Oberkörper aufrichtete und sich zu dem Panzer hinter sich umwandte, dessen Kommandant in einer unverständlichen Sprache schrie. Ich sah, wie der Kommandant seine Pistole aus dem Gurt riss und einen Be-
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fehl gab. Wie der Panzer anzog und auf meinen Bruder zusprang. Wie mein Bruder Gas gab und nach fünf Metern eine Vollbremsung machte. Wie Sand aufflog und die Ketten auf dem Pflaster kreischten. Wie der Panzer ins Leere stieß und mein Bruder lachte. Wie Kommandos ausgeführt wurden von unsichtbaren Fahrern. Wie eine sichtbare Fahne gegen eine graue Schlange aus Metall kämpfte, die unter einer Fahne fuhr, die unsichtbar blieb. Wie mein Bruder unter der Staubglocke verschwand. Wie die graue Schlange weiterrollte. Wie die Fahne von ihr gejagt wurde und nicht mehr zu sehen war. Wie sie besiegt schien. Wie die Panzer erneut zum Stehen kamen und Motoren leer liefen, als hätte einer Sand in sie geschüttet. Ich griff mein Netz mit den Brötchen fester und lief, so schnell ich konnte, die Straße hinab zur Stern-Siedlung, zum Mittelweg, zum Haus meiner Großmutter. Die Fenster des Direktors standen noch immer offen. Ich sah nach oben. Er ragte im Fenster, noch immer mit weit ausgestreckten Armen, seine Hände hielten die Fähnchen aus Papier, die nicht mehr flatterten, herabhingen, als gäbe es dort oben eine Windstille. Sein Blick war leer und auf die Straße gerichtet. Die beiden Mädchen aus meiner Klasse traf ich nicht mehr, und auch alle anderen waren verschwunden. Keiner hatte gewartet, niemand war stehen geblieben, keiner würde dabei gewesen sein, als die Fahne zu sehen war. Meine Großmutter kam mir ein paar Schritte entgegengelaufen und hatte sich wegen meines langen Ausbleibens Sorgen gemacht. Ich lief auf sie zu und rief: Großmutter, er hat die Panzer aufgehalten! Verstehst du, mit dem Motorrad! Ich sah, wie meine Großmutter weiß wurde wie die Wand ihres Hauses, vor dem wir standen. Auf die von der Sonne dieses heißen Tages beschienene Mauer fielen jetzt zwei Schatten von unterschiedlicher Größe, die sich aneinandergelehnt hatten. Mein Bruder kam am Abend wieder. Wir hörten sein Motorrad, dann schlug das Gartentor zu. Mit unvergesslichem Klang. Mein Bruder ließ seine Maschine gegen den Holzschuppen fallen. Wir sahen ihn ins Haus kommen. Er stürzte in die Küche, schwankte ein wenig und riss sich das Hemd über der Brust auf. Sein Gesicht war schwarz. Wir sahen drei Wunden auf seiner Brust, aus denen Blut lief. Draußen auf der Straße schwoll das Klirren der Panzerketten wieder stärker an. Die Brust meines Bruders war von drei Stichen bedeckt. Eine verirrte Wespe musste, während er zwischen den Panzern fuhr, unter sein Hemd geflogen sein. Denn es war Sommer, ein heißer Tag, an dem meine Kindheit zu Ende ging. Es war Dienstag, der zwanzigste August neunzehnhundertachtundsechzig. In der darauf folgenden Nacht überschritten, unter anderem in der Höhe von Vogtland und Erzgebirge, 500 000 ausländische Soldaten die tschechoslowakische Grenze. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen und geht zu beiden Seiten in Feld über. Westberlin, Dezember 1983–Mai 1984
KLANGZEITEN
Band 5:
MUSIK, POLITIK UND GESELLSCHAFT
DIE »POLNISCHE SCHULE« IN DER NEUEN MUSIK
Herausgegeben von Detlef Altenburg, Michael Berg, Helen Geyer und Albrecht von Massow
Band 1: Michael Berg, Nina Noeske, Albrecht von Massow (Hg.)
Ruth Seehaber
BEFRAGUNG EINES MUSIKHISTORISCHEN TOPOS
2009. 346 S. Mit zahlr. Notenbeispielen. Br. ISBN 978-3-412-20430-3
ZWISCHEN MACHT UND FREIHEIT NEUE MUSIK IN DER DDR
2004. VIII, 198 S. mit 2 Audio-CDs. Br. ISBN 978-3-412-10804-5
Band 2: Michael Berg, Knut Holtsträter, Albrecht von Massow (Hg.) DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DER KUNST ÄSTHETISCHES UND POLITISCHES HANDELN IN DER DDR
Band 6:
Matthias Tischer
KOMPONIEREN FÜR UND WIDER DEN STAAT PAUL DESSAU IN DER DDR
2007. XIV, 205 S. Br. ISBN 978-3-412-00906-9
2009. VIII, 344 S. Mit zahlr. Notenbeispielen. Br. ISBN 978-3-412-20459-4
Band 3:
Band 7: Nina Noeske, Matthias Tischer (Hg.)
Nina Noeske
MUSIKALISCHE DEKONSTRUKTION NEUE INSTRUMENTALMUSIK IN DER DDR
MUSIKWISSENSCHAFT UND KALTER KRIEG DAS BEISPIEL DDR
ISBN 978-3-412-20045-9
2010. V. 195 S. Mit 2 s/w Abb. Br. ISBN 978-3-412-20586-7
Band 4:
Band 8:
2007. XII, 435 S. Mit 2 Audio-CDs. Br.
Matthias Nöther
Jörn Peter Hiekel (Hg.)
»ALS BÜRGER LEBEN, ALS HALBGOTT SPRECHEN«
DIE KUNST DES ÜBERWINTERNS
MELODRAM, DEKLAMATION UND SPRECHGESANG IM WILHELMINISCHEN REICH
2010. Ca. 160 S. Br. ISBN 978-3-412-20650-5
2008. X, 328 S. Mit einer Audio-CD. Br. ISBN 978-3-412-20097-8
MUSIK UND LITERATUR UM 1968
Band 9:
Irmgard Jungmann
KALTER KRIEG IN DER MUSIK EINE GESCHICHTE DEUTSCH-DEUTSCHER MUSIKIDEOLOGIEN
TT167
2011. Ca. 200 S. Br. ISBN 978-3-412-20761-8
böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
Klaus Mehner
Kulturpolitische Tauwetterperioden und ihre Auswirkungen auf die Musik der DDR
Über jüngere und jüngste Geschichte zu sprechen oder zu schreiben, ist immer ein riskantes Unternehmen. Man erfährt dabei hier, aber nicht nur hier sehr deutlich, dass eine vermeintlich angestrebte Objektivität etwas ist, was sich so nicht erreichen lässt. Zudem scheint das Verhältnis zu jüngerer Geschichte dadurch deutlich erschwert zu werden, dass viele der Prozesse noch nicht abgeschlossen sind, sondern weit in die jeweilige Gegenwart reichen. Geschichte, das sind eben nicht nur Faktensammlungen, die sicher mit der Zeit immer vollständiger und genauer gestaltet werden können; Geschichte, das sind auch die Verbindungen zwischen den Fakten und ihre Bewertung und demnach auch die Menschen, Organisationen und Gesellschaften, die diese Verbindungen erkennen und herstellen und entsprechend auch bewerten. Besonders kompliziert erweist sich eine solche Annäherung, wenn es sich um eine Zeit der Diktatur handelt, in der zum Beispiel Musik als zentraler Untersuchungsgegenstand fungiert. Damit rücken politische und vor allem auch ideologische Fragen stark in den Vordergrund und beeinflussen Bewertungsprozesse in starkem Maße, ja lassen eigentliche Untersuchungsgegenstände manchmal sogar in den Hintergrund treten. Solches gilt für die Jahre, die in der vorliegenden Publikation im Zentrum des Interesses stehen, ganz genauso. Begriffliche Feststellungen, wie sie mit der Bezeichnung „ruhiges Land“ getroffen oder wie sie in meiner Überschrift mit „Kulturpolitische Tauwetterperioden“ versehen sind, spiegeln dies deutlich wider. Sie sind in der Regel Fixierungen von besonders auffälligen Erscheinungen oder vorläufigen Gesamteindrücken, die häufig noch genauerer Erklärung bedürfen. Doch bevor ich in diese Thematik direkt einsteigen und damit mehr oder weniger auch einen Bericht über eigenes Erleben abgeben will, möchte ich Ihnen für diesen Zustand ein äußerst plastisches musikalisches Beispiel aus den 60er Jahren vorstellen, eines, das heute nur noch wenig bekannt ist, nämlich Wolfgang Lessers Lied Du liebes Land auf einen Text von Heinz Kahlow Sowohl Text als auch Musik malen das Bild eines friedlichen, eben lieben Landes, in dem man sich eingerichtet hat. Ein Paradies ist es noch nicht, aber vielleicht auf dem Weg dahin. Der Text des Kehrreims mag dieses Bild noch ein wenig verdeutlichen: Du liebes Land zwischen Meiningen und Kap Arkona, gewiss, ein Paradies bist du noch nicht, du hast so ein Klima, ich finde dich prima, du bist real und trotzdem ein Gedicht.
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Klaus Mehner
Für nicht wenige Bürger, und darunter auch für Intellektuelle, war das durchaus Ausdruck der Zeit in den 60er Jahren. Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag erst knapp zwanzig Jahre zurück; die Jahre danach waren geprägt von starkem Aufbauwillen, aber auch von weltweiten Auseinandersetzungen, was sich nicht zuletzt im so genannten Kalten Krieg zwischen Ost und West zeigte. Einen der Höhepunkte dieser Entwicklung stellte sicher der Mauerbau von 1961 dar, und zwar als eine merkwürdige doppeldeutige Konstruktion: Einerseits sollte er den „kalten Kriegern“ auf der westlichen Seite ihre Grenzen zeigen, andererseits konnte er aber auch nicht verheimlichen, dass der Staat damit zugeben musste, seinen eigenen Bürgern zu misstrauen. Der bedrohliche Ausmaße zeitigende Abwanderungsstrom sollte und konnte damit zunächst gestoppt werden, allerdings fragt sich, um welchen Preis. Die für die meisten Bürger praktisch nicht vorhandene Möglichkeit, das Land auf legalem Wege – und sei es nur besuchsweise – zu verlassen, blieb bis zum Ende der DDR ein entscheidender Reibungspunkt zwischen Regierenden und Regierten und hatte bekanntlich eine unnötige Zahl von Opfern zur Folge. Trotz dieser Tatsachen waren nicht wenige Bürger der DDR davon überzeugt, dass nunmehr ein wesentlich erfolgreicherer Auf- und Ausbau ihres Landes möglich sei. Materielle und geistige Ressourcen würden ab jetzt dem Land erhalten bleiben. Und einiges davon hat sich ja auch bewahrheitet. Im Folgenden sei nun auf zwei Punkte eingegangen, die nach meiner Meinung die späten 60er und die frühen 70er Jahre mitbestimmt haben. Sie sind – um dies noch einmal zu betonen – sehr stark an persönliches Erleben gebunden, allerdings auch geprägt durch mehrfach nicht zuletzt von „außen“ erwarteter oder angeforderter Reflexion.1 Zunächst und erstens zu dem spezifischen Verhältnis von Kunst und Politik, speziell auch in diesem Zeitraum. Generell scheint für Diktaturen zu gelten, dass sich Politik in besonderer Weise um Kunst bemüht, ihr große Aufmerksamkeit zukommen lässt und oftmals überaus hohe Erwartungen – wahrscheinlich sogar zu hohe – an sie hat. Bei deren Nichterfüllung aber konnte es Kunstschaffende ziemlich hart treffen; die Skala der Möglichkeiten reichte von öffentlicher Kritik und persönlichen Sanktionen bis zu totalen Verbreitungs- und Aufführungsverboten. Ein frühes Beispiel dafür betraf auch die Musik, als sich das Zentralkomitee der SED 1953 unter anderem mit der Oper Das Verhör des Lukullus (so der ursprüngliche Name) von Bertolt Brecht und Paul Dessau befasste; 1966 waren es vor allem die Filmschaffenden, die insbesondere durch Aufführungsverbote kräftig abgestraft wurden. Der Einfluss von Partei und Regierung reichte freilich bis in die Ebene der jeweiligen Künstlerverbände hinein, und das auch personell, wie sich am Beispiel des Komponisten, 1
Siehe z.B. Klaus Mehner, Artikel Deutschland, IV. 2: Die Musik in der DDR, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, Kassel/Stuttgart 1995, Band 2, Sp. 1188-1192; oder auch ders., Jahre der Entscheidung. Vom deutschen Nachkriegsklang zur sozialistisch-realistischen Musik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 27 (1996), S. 13–18.
Kulturpolitische Tauwetterperioden
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Musikwissenschaftlers und Musikpolitikers Ernst Hermann Meyer zeigen lässt. Der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR, dem Meyer als Mitglied des Zentralvorstandes und seit 1968 als Präsident angehörte, war Träger einer ganzen Reihe von Veranstaltungen, die sich thematisch der gesamten Breite des Musikschaffens, der Entwicklung von Musikwissenschaft und Musikpädagogik sowie der Populärwissenschaft widmeten.2 Besondere Bedeutung erlangten der I. Musikkongress der DDR 1964 mit dem 1966 veröffentlichten Folgedokument Unsere neue Musik – Widerspiegelung des Neuen und die 3. Theoretische Konferenz des Komponistenverbandes zu Fragen des sozialistischen Realismus in der Musik. Gerade die Dokumente der Realismus-Konferenz, und hier speziell das Hauptreferat des Berliner Musikwissenschaftlers Heinz Alfred Brockhaus, haben die Diskussionen um das Musikschaffen bis weit in die 80er Jahre ziemlich doktrinär geprägt.3 Insgesamt jedoch kann man feststellen, dass auch Kunstschaffende sich in dieser Republik „eingerichtet“ hatten und in einer Mischung von Duldung und Anpassung – und dies oft sehr pragmatisch – ihr künstlerisches und persönliches Leben organisierten. Den Komponisten stand freilich ein Mittel zur Verfügung, das für andere Künste in solcher Weise nicht einsetzbar war: die Verlegung quasi widerständigen Potenzials4 hauptsächlich in die Materialebene der Musik. So erklären sich auch die zum Teil heftig geführten Diskussionen um Fragen des musikalischen Materials, seine konkrete Verwendung und seine mögliche ideologische Umfunktionierung. Mit Beginn der 70er Jahre scheint sich so etwas wie eine von mir so benannte Tauwetterperiode abzuzeichnen. Eine Grundlage dafür waren politische Entwicklungen, die der DDR mehr und mehr internationale Anerkennung brachten – durch die UNO und in Folge davon durch eine große Zahl westlicher Staaten. Hinzu kam der Abschluss wichtiger internationaler Verträge bis hin zur Schlussakte von Helsinki, die das erwünschte Bewusstsein von der Existenz zweier gleichberechtigter deutscher Staaten stärken konnte. Auch schon davor konnte ein von vielen Künstlern an den Tag gelegtes Wohlverhalten gegenüber entscheidenden gesellschaftlichen Entwicklungen sowie ihre künstlerische Anteilnahme daran beobachtet werden. Zwei musikalische Beispiele mögen das belegen: zwei Sinfonien, geschrieben zum 20. Jahrestag der DDR-Gründung 1969 – Günter Kochans 2. Sinfonie und Fritz Geißlers 5. Sinfonie. Während Kochan sein Werk generell der Republik auf den Gabentisch legte 2
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Bei allen Überlegungen ist zu bedenken, dass grundsätzlich alle Bereiche der Musik im Blickfeld der verantwortlichen Funktionäre standen, also neben sog. „ernster Musik“ auch das volkskünstlerische Schaffen und die Chormusik, Blas- und Militärmusik, Tanz- und Unterhaltungsmusik sowie die Musik im Film. Das Hauptreferat von Heinz Alfred Brockhaus mit dem Thema Probleme der Realismustheorie ist erschienen in Band II der Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. von Heinz Alfred Brockhaus und Konrad Niemann, Berlin 1971, S. 24-76. Vgl. hierzu Jörn Peter Hiekels Beitrag im vorliegenden Band.
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Klaus Mehner
und – wie Hörer in der sich an die Uraufführung anschließenden Diskussion bemerkten – den Weg der zwanzig Jahre mit seinen Erfolgen und Schwierigkeiten musikalisch gestalten wollte, widmete Geißler sein Stück der Stadt Leipzig. In beiden Fällen sind die politischen Bezüge mehr als plakativ, und die insbesondere bei Geißler auftrumpfende musikalische Haltung bleibt in ihrer Wirkung doch recht oberflächlich. Argumente für eine scheinbar gelockerte, durch Partei- und Staatsführung geförderte Kultur- und Kunstpolitik finden sich in entsprechenden Dokumenten, zum Beispiel in Protokollen von Sitzungen des SED-Zentralkomitees. Nach dem VIII. Parteitag der SED, auf dem der offizielle Machtwechsel an der Parteispitze zwischen Walter Ulbricht und Erich Honecker stattfand, bekräftigte der für Kultur und Kunst zuständige Sekretär Kurt Hager die Parteilinie folgendermaßen: „Unsere sozialistische Gesellschaft braucht alle Künste und ihre verschiedenen Genres. Sozialistische Kunst wendet sich an alle Werktätigen. Das einzelne Werk wird dabei natürlich immer ganz bestimmten Interessen, Erwartungen und Bedürfnissen begegnen. Nur die Kunst in ihrer Gesamtheit vermag die wachsenden Bedürfnisse differenziert zu befriedigen. Es bedeutet kein Urteil über den sozialen Wert von Kunst, wenn sich Millionen ein Fernsehspiel ansehen, Tausende eine Opernaufführung und wenn sich über eine Zeichnung vielleicht ‚nur‘ die Arbeiter eines Betriebes freuen oder die Familie, in deren Wohnzimmer sie hängt. Keine Kunstform kann eine andere an den Rand drängen oder gar überflüssig machen: das Fernsehen nicht den Kinofilm, der Roman nicht die Kurzgeschichte. Wir brauchen das Hörspiel und das Drama, große lyrische Dichtung und das Epigramm, die Sinfonie, das Kunstlied und den Schlager, die Monumentalplastik, das Gruppenbild, das Historiengemälde, das Stilleben, das Aktbild ebenso wie das Landschaftsbild – alle Möglichkeiten.“5
Man muss zugeben, dass solche Worte in offiziellen Dokumenten bis dahin sehr selten zu lesen waren. Gerade die damit verbundene Wertschätzung der einzelnen Künste fiel bei einer ganzen Reihe von Künstlern auf fruchtbaren Boden. Doch wie schnell vermeintliches Tauwetter in Frost umschlagen kann, zeigte sich dann 1976 mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Der zweite Punkt, zu dem ich mich noch äußern will, hat mit dem sich nachdrücklich vollziehenden Generationswechsel zu tun, einem Wechsel, bei dem eine zweite, jüngere Generation von Komponisten auf den Plan trat, die es vermochte, der Musik aus der DDR vermehrt in- und vor allem ausländische Beachtung zu verschaffen. Auch dieser Wechsel stand in gewisser Verbindung zu der angesprochenen politischen Situation der Zeit: Unter den gegebenen Prämissen war es durchaus möglich, manche bis dahin fast tabuisierten Fragen aufzugreifen. Dazu gehörten zum Beispiel die Möglichkeiten des Umgangs mit Kompositionsprinzipien, die noch kurz zuvor als dekadent oder auch als formalistisch einge5
Kurt Hager, Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Referat auf der 6. Tagung des ZK der SED, in: ders., Beiträge zur Kulturpolitik, Reden und Aufsätze 1972 bis 1981, Berlin 1981, S. 50.
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stuft und damit für eine sozialistisch-realistische Musik als ungeeignet betrachtet wurden. Genannt sein sollen nur die Dodekaphonie, der Serialismus oder die Aleatorik; ähnliche Vorbehalte gab es aber auch gegen die Entwicklung elektroakustischer Musik. Hier nun fand diese jüngere Generation unter anderem ihr Arbeitsfeld, freilich nicht im Sinne eines einfachen Anknüpfens an vorliegende kompositorische Ergebnisse oder gar des puren Nachholens, sondern viel eher mit einem Anspruch des Nutzbarmachens sinnvoll erscheinender Elemente. Diese Komponisten hatten die internationale musikalische Entwicklung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt – ganz im Gegensatz übrigens zu zahlreichen Vertretern der bundesdeutschen Seite, bei denen die Kenntnisse über das kompositorische Schaffen auf der östlichen Seite eher bruchstückhaft geblieben sind. Und sie haben fast alle bei hervorragenden Lehrern – und dies zumeist als Meisterschüler an der „Akademie der Künste der DDR“ – Unterstützung und Kritik gefunden, so etwa bei Hanns Eisler, Paul Dessau oder Rudolf Wagner-Régeny. Ein hörbares Zeichen für Kompositionen aus diesem Umfeld ist ihr deutlich selbstbewusstes musikalisches Auftreten. Die Komponisten scheuen sich nicht, sehr markante Gestaltungen zu erfinden, die fast immer einen sicheren Umgang mit zeitgenössischen Möglichkeiten des musikalischen Materials demonstrieren. Auch die denkbaren Bezüge zur Tradition werden nicht verkrampft gesehen, sondern genutzt, wenn sie sich anbieten. So äußerte sich Friedrich Goldmann einmal, freilich eher scherzhaft, wenn alle nur noch dodekaphon oder seriell komponieren würden, wäre das für ihn ein Grund, wieder in CDur zu schreiben. Überhaupt standen direkte Auseinandersetzungen mit Musik und Musikern der Vergangenheit sicher nicht nur in der DDR – aber aufgrund ihres immer wieder betonten Traditionsverständnisses hier besonders – auf der Tagesordnung. Musikerjubiläen wie die „runde“ Wiederkehr von Geburtstagen oder auch Todestage boten sich dafür an. Dass dabei Persönlichkeiten wie Schütz, Händel und Bach stark ins Blickfeld rückten, verstand sich merkwürdigerweise nicht nur aus Berühmtheitsgründen, sondern auch aus der Tatsache heraus, dass sie alle auf dem Territorium der späteren DDR zur Welt gekommen sind. Doch der wichtigste Traditionsbezug blieb eigentlich über die ganzen Jahre ihrer staatlichen Existenz der zu Ludwig van Beethoven. Schon nach der großen Bach-Ehrung 1950 war es 1952 der 125. Todestag, der Anlass zur Beschäftigung damit bot; 1970 und 1977 sollten weitere Ehrungen – musikpraktisch wie -wissenschaftlich – folgen. In Beethoven sahen vor allem einige Kulturfunktionäre gar so etwas wie einen Vorläufer sozialistischer Musikkultur. Reiner Bredemeyers Komposition Bagatellen für B. ist zur Feier des 200. Geburtstags Beethovens im Jahre 1970 entstanden. Sie stellt insofern einen besonderen Fall dar, als sie sich dem Genius in spezifisch heiterer Weise zu nähern versucht – für die so genannte ernste Musik generell und auch für die der damaligen Zeit durchaus nicht typisch. Der Komponist, einer der Älteren in dieser Generation, benutzt Beethovensche Musik fast wie Versatzstücke; er montiert Ausschnitte aus zwei Bagatellen für Klavier mit den charakteristischen
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Orchesterschlägen des Beginns der Eroica. Das dabei entstehende Wechselspiel zwischen den Grundtönen „Es“ und „D“ trägt ebenso zu dem heiteren Eindruck bei wie die Wechsel zwischen großer Eroica-Geste und intimem Klavierspiel. Dass die Streicher zum Schluss auf den Ton „B“ einstimmen und verschiedene Beethovensche Rhythmen dazu den Untergrund bilden, verleiht dem Ganzen den letzten Schliff. Die vielfach überraschten Zuhörer der Uraufführung des knapp fünfminütigen Stückes haben die Doppelbödigkeit dieser BeethovenEhrung durchaus verstanden und mit Heiterkeit und demonstrativem Beifall belohnt. Einer der interessantesten Vertreter dieser Komponistengeneration war der Berliner Friedrich Goldmann. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs geboren, erhielt er seine Ausbildung als Komponist und Musikwissenschaftler vor allem in Dresden und Berlin und wurde als Meisterschüler an der Berliner Akademie durch Rudolf Wagner-Régeny gefördert. Schon frühzeitig hatte er Kontakt zu bedeutenden Zentren neuer Musik im Westen unseres Landes und nahm dort für sein späteres Komponieren wichtige Anregungen mit. In den Jahren um 1970 konnte Goldmann eine ganze Reihe neuer Orchesterwerke vorlegen, die das Bild der DDR-Musik nachhaltig geprägt haben. Dazu gehören neben vielfältiger Kammermusik insbesondere die drei Orchesteressays und die 1. Sinfonie (1972/73). Speziell mit dieser Sinfonie erschließt er sich Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, die ihn auch späterhin auszeichnen, wie etwa dichteste motivische Arbeit, stark aphoristische Verarbeitung und Strukturbildung, die Erfahrungen aus dodekaphonem, seriellem und aleatorischem Denken einbeziehen. Zudem findet Goldmann in diesem Werk einen Bezug zur Gattung Sinfonie, der sich so gut wie nicht an dem viersätzigen, oftmals dialektisch gemeinten, klassischen Modell orientiert, sondern vor allem an der frühklassischen dreisätzigen Form. Insofern treffen wir hier auf keine finale Lösung im 3. Satz, sondern eher auf ein nochmaliges Freisetzen aller vorgefundenen Gegensätze. Diese beiden Beispiele mögen für eine ganze Reihe von Werken stehen, die in den frühen 70er Jahren entstanden sind. Die beteiligten Komponisten wie etwa Paul-Heinz Dittrich, Christfried Schmidt, Siegfried Matthus, Georg Katzer, Friedrich Schenker, Wilfried Krätzschmar oder Gerd Domhardt schufen damit ein breites Spektrum musikalischer Handschriften und Gestaltungsweisen, die die Musikkultur in der DDR nachhaltig geprägt haben, aber auch vermehrt im sozialistischen wie kapitalistischen Ausland Anerkennung fanden. Bemerkenswert an dieser Zeit ist aber auch, dass von da an ein intensiver Austausch zwischen den Komponisten jener zweiten Generation und in etwa gleichaltrigen Musikwissenschaftlern einsetzte, der erheblich zum Verständnis für deren Musik und zur Auseinandersetzung mit ihr beigetragen hat. Dies schlug sich nieder in Analysen zu einzelnen Werken wie auch in zusammenfassenden Darstellungen – etwa bei Frank Schneider in dessen Momentaufnahme.6 6
Frank Schneider, Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 785)
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Wie schon festgestellt, erwies sich das Jahr 1976 schließlich als ziemlich entscheidender Einschnitt in das künstlerische Leben der DDR. Die Partei- und Staatsführung war sich offenbar über die Tragweite der Entscheidung, den Liedermacher Wolf Biermann anlässlich eines Gastspiels in der damaligen Bundesrepublik Deutschland auszubürgern, nicht völlig im Klaren. Die massiven Proteste von Künstlern aller Sparten führten letztlich zu entsprechend drastischen Reaktionen der politisch Verantwortlichen; von nun an war klar, dass kritisches Verhalten dieser Art auf keinen Fall geduldet werden würde. Aber auch in der Bevölkerung insgesamt traf dieser Schritt auf wenig Verständnis. Aus heutiger Sicht kann man feststellen, dass die hier angesprochene ,Tauwetterperiode‘ damit zu Ende ging. Nicht zu Ende jedoch war der positive Aufbruch, der durch eben diese zweite Generation ausgelöst worden war. Fragen der erreichten künstlerischen Qualität blieben künftig entscheidende Maßstäbe für das Komponieren.
Marek Kopelent
Erfahrungen als Komponist in Prag seit 1968
Zur Situation insgesamt Ich verstehe die freundliche Einladung zu dieser Veranstaltung so, dass ich als Zeuge der damaligen Zeit und Ereignisse in der Tschechoslowakei gefragt wurde, nicht also als Analytiker dieser Ereignisse im Bereich Politik oder Kunst. Ebenso möchte ich unterstreichen, dass ich mich nur auf das Jahr 1968 und dessen Auswirkungen in der damaligen Tschechoslowakei beschränken, und darauf, was im westlichen Europa in jenem Jahr geschah, verzichten möchte. Während die Opposition im Westen offensichtlich auf radikale Weise nach links steuerte, fand die Opposition in der Tschechoslowakei allmählich – um nicht zu ersticken – aus der Dunkelheit zum Licht, dies besonders innerhalb der kommunistischen Partei. Ich wage keinen Vergleich zwischen beiden gesellschaftlichen Strömungen. Denn ich bin überzeugt davon, dass die Zusammenhänge zwischen den beiden Ereignissen nicht relevant genug sind. Auch muss ich hier ganz offen sagen, dass alle meine Schilderungen der Situation von der Zeit um 1968 in der Tschechoslowakei dadurch beeinflusst sind, dass ich einfach nie Kommunist war, dass mein Leben in der totalitären Zeit 40 Jahre lang eigentlich nur parallel zum Regime verlief. Wenn man von der Geschichte des tschechischen Volkes nach 1948 spricht, so muss man zunächst sehen, dass die Gesellschaft im kommunistischen Regime in zwei Schichten geteilt war: oben die dünne Schicht der kommunistischen Partei und ihrer Mitglieder, unten dann der Rest – diejenigen, die abseits stehen geblieben sind. Das Verhältnis war also ungefähr 10 % zu 90%. Die dünnere Schicht war jedoch durch die gut organisierten Schutzkräfte (Polizei, Armee) gesichert. Auf dem so gestalteten Boden floss also das alltägliche Leben des Bürgers. Die kommunistische Macht beruhte auf dem folgenden System: Von oben bis zu den einzelnen Parteiorganisationen in den Betrieben, Ämtern, Schulen usw. fielen die Entscheidungen aller Art zuerst in den Parteiorganisationen – und wurden erst dann dem Rest der Angestellten mitgeteilt oder angeordnet. Ich persönlich habe ein Jahr nach dem Ende des Studiums an der Prager Akademie den Posten eines Redakteurs für zeitgenössische Musik im Staatlichen Verlag für Literatur, Bildende Kunst und Musik übernommen. Wir ,minderwertige‘, ,parteilose‘ Arbeiter und Angestellte hatten uns daran gewöhnt, dass unsere Stimme nur dann etwas bedeutete, wenn es den Parteigenossen passte. Ich halte es für notwendig, das zu erwähnen, auch wenn alle, die in der DDR lebten, Ähnliches gut kennen und die oben beschriebene Lebensweise auch für die Schilderung der Lage noch kurz vor dem Jahre 1968 ganz selbstverständlich war.
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Parallel zu der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation (paradoxerweise nachdem die Tschechoslowakei im Jahre 1960 zur Sozialistischen Republik ausgerufen wurde) hatte sich der Druck der Intellektuellen innerhalb der Partei gesteigert, auch nach der Lockerung der rigiden Politik. Der erste offensichtliche Schritt in diesem Sinne war die berühmte Kafka-Konferenz im Jahre 1963. Kaum hatten sich die Fenster und Türen zur freien Welt etwas geöffnet, brachte die Strömung frischer Luft und neuer Ideen schon ihre Früchte. Literatur, Film (man sprach sogar von einer „tschechischen Welle“), Bildende Kunst, Theater, humanistische Bereiche der Wissenschaft usw. haben sich in Bewegung gesetzt und uns in der Welt langsam auch zur Geltung gebracht. Trotzdem funktionierte das Verhältnis zwischen Partei und Volk weiter im gleichen Stil wie bisher, selbst wenn eine gewisse Lockerung zu spüren war. Alles, was für die gesellschaftliche und ökonomische Lage des Staates maßgebend war, hat sich innerhalb der Partei abgespielt und wurde dort entschieden. So war die Situation auch Anfang des Jahres 1968. Wir, verschiedene Parteilose, hatten am Rande des alltäglichen Geschehens gemerkt, dass ein Brežněv plötzlich nach Prag kam, oder dass später ein unbekannter Slowake namens Alexander Dubček zum Parteisekretär bestimmt wurde, dass der Präsident Novotný plötzlich seinen Posten verlor usw. Was sich aber nachfolgend merkwürdigerweies einstellte, waren die Anzeichen für einen offeneren Blick auf die kommunistische Vergangenheit, ganz konkret auf die kriminellen Aktivitäten des Regimes und der Partei in den 50er Jahren. Plötzlich wurde Stück für Stück offenkundig, dass Leute in den 50er Jahren aus politischen Gründen hingerichtet, in KZ-Lager geschickt und zur Zwangsarbeit in den Uran-Gruben verurteilt worden waren. Ich erinnere mich, wie ich Anfang April 1968 anlässlich einer Sitzung der Prager Komponisten die Versammlung forderte, die Verfolgung der Bürger aus politischen Gründen in den 50er Jahren zu verurteilen. Das kulturelle Leben lief auf Hochtouren weiter, gleichzeitig vermehrten sich verschiedene, bisher undenkbare bürgerliche Aktivitäten, darunter auch einige, die einfach die Änderung des Systems im Sinne der Demokratisierung verlangten. Das Verhältnis zwischen Partei und Bürgern hatte sich umgestaltet in eine mehr oder weniger homogene Bewegung, die jedoch der Parteiführung über die Köpfe gewachsen war. Wo konnte man den Grund dafür finden? Die Wurzeln der Demokratie aus der Zeit der Ersten Republik waren trotz zweier Diktaturen, die dicht aufeinander folgten und die Tschechoslowakei überwälzt hatten, nicht ganz verdorrt. Besonders die treuen Anhänger der Ideale des ersten Präsidenten T. G. Masaryk unter der Generation unserer Eltern haben das demokratische Erbe weiter getragen. Ein paar Tropfen der lebensspendenden demokratischen Impulse hatten das ganze Volk aus der Lethargie geweckt und das Bedürfnis nach freiem Leben hervorgerufen. Fast alle Leute waren berauscht, sogar Václav Havel hat sich rückblickend zu einem ähnlichen Gefühl bekannt. Dass um unser Gebiet herum sich die Rote Armee mit ihren Alliierten zum Überfall auf die Republik vorbereitete, wollten selbst die Kommunis-
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ten nicht glauben („dies können uns unsere Brüder doch nicht antun“), und die Parteilosen wollten es nicht akzeptieren, dass der Westen eine solche Gewalt politisch dulden könnte. Es gab trotzdem Leute unter uns, die eine Invasion befürchteten und nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen mit einer Okkupation von mindestens 20 Jahren rechneten. Das wollten die Idealisten – wie ich zum Beispiel – nicht glauben. Paradoxerweise musste man bald aus den berauschenden Ereignissen, die auf der Hoffnung auf einen Übergang zu einer freien Gesellschaft und später auch vielleicht auf eine verbesserte ökonomische Lage beruhten, eine ganz traurige Schlussfolgerung ziehen: Die Parteiführung hätte die bürgerliche Bewegung bremsen müssen, statt an ihrem Schweif ratlos zu pendeln. Das Jahr 1968 war nicht das einzige in der tschechischen Geschichte, bei dem die Tschechen vorzeitig zur Änderung der Machtverhältnisse in Europa drängten. Denken wir an Jan Hus, Luthers Vorgänger, und später an die hussitische Bewegung, die eine neue gesellschaftliche Ordnung einzuführen hoffte. Das Jahr 1968 war insofern auch eine deutliche Warnung davor, was bis heute gültig bleibt: Tschechen, vergesst nicht, dass es um euch herum in Europa große Mächte gibt, die ihre eigenen Interessen immer wieder hart zu schützen wissen werden.
Zur Musik Die berühmten 60er Jahre wurden im Bereich der Kunstmusik durch die Jahre 1959/60 eingeleitet. Für mich bleibt das Jahr 1960 ein fast mystisch wirkender Zeitpunkt in der neueren tschechischen Musikgeschichte: Die Komponisten Šrámek, Vostřák, Klusák, Komorous, Kopelent hatten sich, jeder auf eigene Faust und Weise, der im Westen existierenden Avantgarde zugewandt. Es war gar nicht leicht, sich über Neue Musik Informationen zu besorgen, geschweige denn Aufnahmen oder Noten. Trotzdem wurde im Jahre 1961 das Ensemble Musica Viva Pragensis durch den jungen Flötisten Petr Kotík gegründet. Gleichzeitig existierte schon das Ensemble Kammerphilharmonie mit Libor Pešek im Theater „Am Geländer“. Eine wichtige, unvergessliche Rolle spielte das Novák-Quartett mit seinem Spiritus Agens Dušan Pandula. Das Festival „Warschauer Herbst“ entfaltete sich als Mekka der Neuen Musik für Leute aus dem Ostblock. Polnische Kollegen realisierten eine kluge Kulturpolitik und vermochten dabei alle neuesten Strömungen der Neuen Musik nach Warschau zu bringen. Dieses Festival war für uns eine lebendige Schule und allmählich auch der ersehnte Ort von Aufführungen unserer Musik. Ich persönlich habe das Festival in den Jahren zwischen 1961 und 1986 insgesamt 13 Mal besucht – mit 11 Aufführungen, darunter auch einigen Uraufführungen. Nicht unbedeutend war zudem die Möglichkeit, dort Kollegen aus aller Welt kennen zu lernen. Nachdem eine Gruppe kommunistischer Komponisten aus der Tschechoslowakei die Darmstädter Ferienkurse besucht hatte, ist es im Jahre 1965 auch uns, verschiedenen Komponisten aus Prag, Brünn und Bratislava, ge-
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lungen, nach Darmstadt zu kommen. Außerdem bekam ich von Heinrich Strobel, dem damaligen Chef der Musikabteilung des Südwestfunks Baden-Baden, den Auftrag, ein Werk für Kammerorchester für das Festival in Donaueschingen 1966 zu schreiben. Bald danach, im Jahre 1968, trat das Ensemble Musica Viva Pragensis auf demselben Festival auf. Die künstlerische Leitung dieses Ensembles hatte ich mit Zbynek Vostřák, der als Dirigent tätig war, im Jahre 1965 übernommen. Das Ensemble war in diesen Jahren im Europa hoch geschätzt und besuchte mehrere Staaten Europas. Im Programm befanden sich Werke tschechischer Komponisten, aber 1967 in Venedig etwa wurde auch ein neues Werk mit dem Titel Etwas ruhiger im Ausdruck von Franco Donatoni uraufgeführt. Am Vorabend des fatalen Jahres 1968, als das Kulturleben das Niveau der Freiheit scheinbar erreicht hatte, griff die Partei entschlossen ein: gegen den Schriftstellerverband und gegen einige Zeitschriften. Zur selben Zeit fand das IGNM-Festival erstmals nach 34 Jahren wieder in Prag statt. Doch tschechische Komponisten der Neuen Musik waren nicht vertreten. So organisierte ich schnell ein Gegenkonzert mit dem Ensemble Musica Viva Pragensis im Prager Rudolfinum (so etwas war damals immer noch möglich!): Ich bin in meinem Wagen zu den Hotels gefahren, in denen die Gäste untergebracht waren, um die Einladungskarten zu verteilen. Der Saal war voll und alle Kritiken im Ausland kommentierten das Konzert und lobten es. Die heimische Kritik blieb stumm. Nach sowjetischem Muster waren die Künstler im Ostblock in Verbänden organisiert. Der Verband hatte die Aufgabe, die Kunst und die Künstler ideologisch zu bewachen, Geld zu verteilen, Kontakte zur Welt unter Kontrolle zu bringen usw. In den 60er Jahren hat sich manches allmählich geändert, nicht aber im Komponistenverband. Der ist eine Festung des Konservatismus geblieben – mit der Ausnahme der letzten Jahre 1969/70, als man endlich Neue Musik zur Kenntnis nahm. Insgesamt wurde die Tätigkeit von Komponisten, die sich der Avantgarde zugewandt hatten (Warschau, Darmstadt), in den 60er Jahren zunächst ironisiert und ausgelacht: Neue Musik und die Avantgarde galten als identisch mit der feindlichen westlichen Ideologie und deswegen als suspekt. Darmstadt war zum Symbol der gekünstelten Musik geworden. Doch da das Ensemble Musica Viva Pragensis erfolgreich in der internationalen Musikszene wirkte, lebten wir, Komponisten der Prager Gruppe Neuer Musik, im Wirbel der fieberhaften kompositorischen, organisatorischen und (ab und zu) auch der Reise-Tätigkeit. Ich persönlich war außerdem immer noch im Verlag angestellt. Der mächtige Komponistenverband stand so bloß am Rande unserer Interessen. Daran hatte sich eigentlich auch im Jahre 1968 nichts geändert. Mehr dagegen habe ich in dieser Zeit im Verlag erlebt. Zum Beispiel wohnte ich zum ersten Mal in meinem Leben einer öffentlichen Sitzung der Parteiorganisation bei und übte in der Diskussion Kritik – wofür ich später zahlen musste. Es ist zu erwähnen, dass aufgrund des allgemeinen ,Tauwetters‘ das Ensemble Musica Viva Pragensis in den Jahren 1969–71 im Rahmen der so genannten „Woche neuer Musik“, die der Verband organisierte, auftreten konnte.
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Nach der Okkupation Es ist allgemein bekannt, was dem Einmarsch der sowjetischen Armee folgte. Manche der viel versprechenden künstlerischen Projekte konnten Dank großer Beharrlichkeit noch zustande kommen, andere waren schon gleich gestoppt worden. Ich persönlich konnte ab Januar 1969 als Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms ein Jahr in West-Berlin verbringen. Sonst aber waren die Folgen des merkwürdigen Aufschwungs des nationalen Bewusstseins in der ČSSR vernichtend. Der Komponistenverband wurde (wie auch die anderen Künstlerverbände) aufgelöst. Den neuen bildeten nur etwa 100 Musiker aller Musikgenres. Unter den Komponisten befanden sich nur Kommunisten, doch als Beweis der scheinbaren Großzügigkeit hatte man zwei parteilose Komponisten zugelassen: Petr Eben und Viktor Kalabis. Über das Ensemble Musica Viva Pragensis wurde ein Urteil verkündet: Man würde seine weitere Tätigkeit nur garantieren, wenn Vostřák und Kopelent austreten. Die Mitglieder des Ensembles lehnten dies ab, und so nahm dessen Existenz ein Ende. Wir, Vostřák und ich, gerieten derweil in einen kleinen Haufen von Komponisten, denen die öffentliche Tätigkeit verboten wurde: keine Sendung, keine öffentliche Aufführung, für lange Zeit auch keine Ausreisemöglichkeit, nichts. Ich verlor zudem meine Stelle im Verlag Supraphon im Rahmen der allgemeinen Säuberungen als der einzige Parteilose. Unter den verbannten Komponisten befanden sich ältere Kollegen, die breite Anerkennung gefunden hatten, wie etwa Milos Kabeláč, Klement Slavický oder Jan Kapr, aber auch jüngere wie Jan Klusák, Luboš Fišer, Alois Piňos usw. Diejenigen, die sich zuvor schrittweise, ganz vorsichtig der Neuen Musik angenähert hatten, sind Anfang der 70er Jahre schnell davon abgekommen und beteuerten laut, dass sie nur verständliche Musik schaffen wollen. Bald danach startete der Komponistenverband eine teuflische Politik: jedes Jahr, und zwar bis 1984, wurde eine mehr oder weniger umfangreiche Handvoll von Musikern wieder in den neuen Verband aufgenommen. (Ich zählte zu den letzten im Jahre 1984). Für mich haben die Unannehmlichkeiten in der Beziehung zu diesem Verband bis zum Jahre 1989 nie aufgehört. In der zweiten Dekade wurde die feindliche Politik gegen die Verbannten etwas gemildert, es gab auch einige Aufführungen und am Ende sogar offizielle Reisemöglichkeiten. Die düstere Zeit der 70er und 80er Jahre wird allgemein „Normalisace“ (Normalisierung) genannt: Ich habe sie nach 1976 für 15 Jahre als Korrepetitor der Tanzabteilung an einer Musikschule für Kinder überstanden. Endlich war das Jahr 1989 da: eine Befreiung von dieser Misere, der Übergang aus der Dunkelheit zum Licht, die Brücke zu einem neuen Weg, der, wie wir es erleben, oft durch Steine bestreut und durch dornige Sträuche gerahmt wird.
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Resümee Heute weiß ich, dass man die Bedeutung des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei nicht überschätzen sollte. Es war eine kurze Zeit des ganz unerwarteten Aufschwungs des seit langen Jahren schon fast bedrückenden Nationalbewusstseins, eine Zeit der allgemeinen Berauschung durch das Trugbild der möglichen Freiheit, Höhepunkt der phantastischen Lockerung der Totalität in der Kunst und in der Wissenschaft usw. Die Bevölkerung hatte in den Tagen nach dem Einmarsch der ausländischen Armeen eine überraschende Einheit bewiesen. Ansonsten kann man behaupten, dass das Jahr 1968 aus historischer Sicht ein Fehlschlag war: Es wurde bestätigt, dass der Kommunismus nicht reformfähig ist, dass die Großmächte jederzeit bereit sind, ihre Interessen zu schützen, weil ein fast animalisches Prinzip überlebt – nach dem gültig bleibt, dass der Große und auch Mächtige das Recht hat, die Überlegenheit über die Kleineren geltend zu machen, sogar im Rahmen der sonst freundlichen Verhältnisse, die zwischen den Staaten glücklicherweise herrschen. Die Auswirkung der Okkupation auf die tschechische Bevölkerung war fatal: Es kam zum Exodus von vielen Intellektuellen, zur Dezimierung der intellektuellen Schicht der Nation. Es führte zur allmählichen Demoralisierung der gesamten Population, es kam zur Flucht ins Private und dadurch auch zum Verzicht auf die Beteiligung am öffentlichen Leben in der Republik. Der Zusammenbruch der politischen Verhältnisse nach der Okkupation führte auch zum Rückschlag in der Entwicklung innerhalb der Musikszene, zur Rückkehr der Ideologie der ,verständlichen Kunst‘, zur allgemeinen Resignation. Die Künstler, die unter Verbote gestellt waren, wurden allmählich aus dem Gesichtsfeld der kulturell orientierten Bevölkerung verdrängt. Die Spuren dieser Verbannung sind ab und zu noch heute spürbar …
Albrecht von Massow
Autonomieästhetik zwischen Ost und West
Eine der kulturpolitischen Kontroversen des Ost-West-Konflikts, die aus der Zeit vor und nach 1968 in Deutschland übrig geblieben und mit dem Wandel nach 1989 obsolet geworden scheint, ist die Diskussion um die Autonomie der Musik. Weil diese Kontroverse in ihrer historisch-politischen Motivation jener Zeit auch hinsichtlich der ihr zu Grunde gelegten Kriterien in erster Linie historisch angegangen wurde – nämlich mit der Frage, ab wann in der Musikgeschichte von Autonomie gesprochen wird und bezüglich welcher Kunstrichtungen von Autonomie gesprochen werden sollte –,7 ist die systematische Frage, inwieweit man von Autonomie als einem anthropologischen Vermögen sprechen kann, stets im Hintergrund geblieben oder gar ausgeblendet worden. Ohne diese Frage historisch – etwa mit der Angabe menschheitsgeschichtlicher Phasen, in denen solches Vermögen sich herausgebildet haben kann – beantworten zu können, verweist der vorliegende Text gleichwohl auf Denkhorizonte und Sachverhalte aus unterschiedlichen Phasen der Geistesgeschichte, welche Aspekte von Autonomie offenbaren und die Aufrechterhaltung der Argumente zur Einschränkung ihrer historischen Geltung in Frage stellen.
Autonomie jeglicher Musik Kritisch zu betrachten sind solche Ideologien, die in ihren systematisch oft nur impliziten Prämissen Autonomie als Vermögen des Subjekts in Abrede stellen, dabei dogmatisierend einen reduktionistischen Subjektbegriff voraussetzen, anstatt ihn deduktiv anhand subjektspezifischer Vermögen überhaupt erst zu erschließen: a) Glaube an die Gottesgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie b) Glaube an die Naturgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie c) Glaube an die gesellschaftliche Geprägtheit des Subjekts ohne Autonomie Diesen Ideologien ist bei allem Bedenkenswerten, was sie bieten, in dem Punkt zu begegnen, wo sie Verantwortlichkeit als Autonomie aus Freiheit dem menschlichen Subjekt als dessen Vermögen aberkennen, um solches Vermögen stattdessen anderen Instanzen jenseits des Subjekts – wie Gott, Natur oder Gesellschaft – zuzuerkennen, um nur als 7
Vgl. hierzu Albrecht v. Massow, Art. Autonome Musik, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, 22. Auslieferung Stuttgart 1994.
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deren Resultat das Subjekt überhaupt erst gelten zu lassen. Musikwissenschaft hat diesen Ideologien dort entgegenzutreten, wo sie Musik zum ästhetisch evidenten ‚Beweis‘ für jene angeblich alternativlose Heteronomie des menschlichen Subjekts verkürzen, etwa in einer Inspirations- oder Milieuästhetik. Nicht ist an jenen Auffassungen ihr Ideologiecharakter an sich zu kritisieren. Denn ein ideologiefreies Denken scheint gar nicht möglich; es scheint nur ein ideologiekritisches Denken möglich, welches seinerseits wieder Ideologie ist, die gleichwohl – hoffentlich – größere Plausibilität für sich beanspruchen kann.
a) Glaube an die Gottesgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie Im Streit zwischen Martin Luther (De servo arbitrio [1525]) und Erasmus von Rotterdam (De libero arbitrio diatribae sive collatio [1524]) steht die Auffassung von der alternativlosen Gottesgelenktheit des Subjekts ohne Willensfreiheit der Auffassung von der Alternativen erlaubenden Gottesbegleitetheit des Subjekts mit Willensfreiheit gegenüber. Auch ohne die in beiden Streitschriften verwendeten Begriffe bzw. die mit ihnen konnotierten Kategorien umstandslos auf spätere Kontroversen um Autonomie zu übertragen, kann man hier gleichwohl den für die Frage nach dem Vermögen der Autonomie wichtigen Aspekt der menschlichen Willensfreiheit thematisiert finden. Diese Kontroverse hat bis heute gravierende Auswirkungen auf die Auslegungen der christlichen Prädestinationslehre wie auch ihrer Äquivalente in anderen Kulturen, nämlich bezüglich der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Luther folgert aus dem Hervorgehen des menschlichen Subjekts aus Gott die Heteronomie des menschlichen Subjekts. Erasmus hingegen sieht zwar ebenso wie Luther das menschliche Subjekt aus Gott hervorgehen, aber von Gott mit dem Vermögen der freien Willensentscheidung in von Gott gesetzten Grenzen begabt. Für ihn ist daher das menschliche Subjekt nicht ausschließlich durch Gott gelenkt, somit heteronom, sondern in seiner Entscheidungsfreiheit durch Gott begleitet – wobei es sich für oder gegen ihn entscheiden kann –, somit autonom. Erasmus traut Gott mehr zu, nämlich die Souveränität, sich ein Lebewesen zu schaffen, welches frei entscheidet, ob es Gottes Gesetze befolgt oder nicht. Hierzu verweist Erasmus in seiner Zusammenstellung (collatio) und Erörterung (diatribae) auf entsprechende Stellen in der Bibel, wo Menschen Gottes Gesetz nicht befolgen. Zumindest von diesem Punkt seiner Argumentation ist der Schritt nicht mehr weit zum Anspruch des Menschen, sich auch oder gar ausschließlich selbst Gesetze zu geben. Erasmus geht diesen Schritt gleichwohl nicht. Luther sieht genau genommen die Gefahr solcher Autonomie ebenso, kleidet aber seine Aversion gegen sie in eine Argumentation, der zu Folge solche Autonomie gar nicht im Vermögen des Menschen läge, so dass die andere Möglichkeit nicht mehr in den Blick rückt: nämlich, dass solche Autonomie im Vermögen des Menschen liegt, von ihm gleichwohl gerade auch im
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Vermögen der Selbstbeschränkung durch Moral im Umgang mit sich selbst verantwortet werden kann. Der Tendenz der Theologie, das Vermögen der Musik als ‚Donum Dei‘ heteronom herzuleiten, müsste Musikwissenschaft im Sinne von Erasmus entgegenhalten, dass solches Vermögen vom menschlichen Subjekt autonom verwirklicht wird und dessen freier Entscheidung bedarf, ob es sich als autonomes Vermögen in den Dienst heteronomer Zwecke stellt oder nicht. Die Musikgeschichte ist Ausdruck dieser immer wieder so oder so gefällten Entscheidung des menschlichen Subjekts. Dabei zeigt die Naturgebundenheit in der Verwirklichung von Musik – etwa durch die Gegebenheit von Stimmbändern, naturalen Stoffen zur Herstellung von Instrumenten etc. –, dass es sich hierbei stets nur um relative Autonomie handelt, die gleichwohl wegen des durch sie bekundeten Vermögens des menschlichen Subjekts, seinem Umgang mit sich und der Natur Gesetze zu geben – etwa durch Tonselektion oder Tonsysteme –, nicht auf bloße Heteronomie verkürzt werden kann. In diesem Sinne also, nämlich als ‚relative‘, kann von ‚Autonomie‘ gesprochen werden, und – insofern es sich in der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus um Aspekte im Rahmen einer Wesensbestimmung des Menschen handelt – somit von einer Kategorie mit systematisch bzw. anthropologisch noch einzulösenden Postulaten, die über den Zeitraum einer historischen Einschränkung hinaus – etwa mit der reinen Instrumentalmusik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – Geltung beanspruchen.
b) Glaube an die Naturgelenktheit des Subjekts ohne Autonomie Im Streit zwischen den Vertretern einer empiristischen Hirnforschung und ihren Kritikern steht die Auffassung von der Naturherkunft des Subjekts ohne Willensfreiheit der Auffassung von der Naturherkunft des Subjekts mit Willensfreiheit gegenüber. Diese Kontroverse hat bis heute gravierende Auswirkungen auf die Auslegungen der darwinistischen Evolutionstheorie bezüglich der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Die empiristische Hirnforschung folgert aus dem Hervorgehen des menschlichen Subjekts aus Natur die Heteronomie des menschlichen Subjekts, weil sie als Gesetz des Hervorgehens nur eine Kausalität gelten lässt, in deren Rahmen ausschließlich Heteronomie entstehen könne. Ein gegenüber der empiristischen Hirnforschung kritischer Standpunkt hingegen sieht zwar ebenso wie jene das menschliche Subjekt aus Natur hervorgehen, aber von ihr mit dem Vermögen der Autonomie begabt. Aus der Sicht dieses kritischen Standpunkts ist daher das menschliche Subjekt nicht ausschließlich durch Natur gelenkt, somit heteronom, sondern mit der Entscheidungsfreiheit begabt, mit sich als Natur in dieser oder jener Weise umgehen zu können, somit autonom. So gesehen erscheint die Natur als das eigentlich Rätselhafte, indem sie nämlich sowohl empirisch Fremdverursachung wie Selbstverursachung als auch nicht-empirisch Zwangsbestimmtheit wie auch Selbstbestimmtheit
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hervorbringt. Und selbst wenn dieser letzte der vier Fälle rein empirischer Herkunft wäre, so handelte es sich um hochkomplexe, spezifische Empirie, nämlich das Subjekt als Gehirn, welches offenbar auch über solches Vermögen der Selbstbestimmung verfügt. Die Kritiker der empiristischen Hirnforschung trauen der Natur mehr zu, nämlich die Produktivität, Lebewesen zu schaffen, welche nicht nur Natur sind, sondern zudem mit sich als Natur in freier Entscheidung umgehen können. Dieser Sichtweise gilt gerade die Kunst als evidenter Beweis für das Vermögen des menschlichen Subjekts, sich im Rahmen, in Kenntnis und unter Ausnutzung der Naturgesetze selbst weitere Gesetze geben zu können. Der Tendenz der empiristischen Hirnforschung, das Vermögen der Musik als ‚Donum Naturae‘ heteronom herzuleiten, müsste Musikwissenschaft im Sinne dieser Kritik entgegenhalten, dass solches Vermögen vom menschlichen Subjekt autonom verwirklicht wird und dessen freier Entscheidung bedarf, ob es sich als autonomes Vermögen in den Dienst heteronomer Zwecke stellt oder nicht. Die Musikgeschichte ist Ausdruck dieser immer wieder so oder so gefällten Entscheidung des menschlichen Subjekts.
c) Glaube an die gesellschaftliche Geprägtheit des Subjekts ohne Autonomie Im Streit zwischen materialistischen oder systemtheoretischen Gesellschaftsbildern einerseits und dissens- bzw. konsenstheoretischen Gesellschaftsbildern andererseits steht die Auffassung von der ,gesellschaftlichen Geprägtheit‘ des Subjekts ohne Autonomie der Auffassung vom Vermögen des Subjekts zur Auseinandersetzung zwischen sich als Autonomie und sich als gesellschaftliche Geprägtheit gegenüber – ein Vermögen, aus dem heraus das Subjekt Gesellschaft mitkonstituiert, so dass ‚Gesellschaft‘ nichts jenseits der sie konstituierenden Subjekte ist. Diese Kontroverse hat bis heute gravierende Auswirkungen auf die Auslegungen der sozialdarwinistischen oder marxistischen Prädestinationslehre bezüglich der Verantwortlichkeit menschlichen Handelns. Deterministische oder systemtheoretische Gesellschaftsbilder setzen ein Hervorgehen des menschlichen Subjekts aus Gesellschaft voraus und folgern daraus die Heteronomie des menschlichen Subjekts. Dissens- bzw. konsenstheoretische Gesellschaftsbilder hingegen sehen zwar ebenso wie deterministische oder systemtheoretische Gesellschaftsbilder das menschliche Subjekt durch Gesellschaft geprägt, aber zugleich aus sich heraus mit dem Vermögen begabt, Gesellschaft überhaupt mitzukonstituieren und somit mindestens zu der freien Entscheidung befähigt, wie bzw. in welchen Formen es gesellschaftliche Prägung zulässt und wie bzw. in welchen Formen es Gesellschaft mitkonstituiert. Für dissens- bzw. konsenstheoretische Gesellschaftsbilder ist daher das menschliche Subjekt nicht ausschließlich durch Gesellschaft geprägt und gelenkt, somit heteronom, sondern in seiner Entscheidungsfreiheit durch Gesellschaft begleitet – wobei es sich für oder gegen sie entscheiden kann –, somit autonom. Dissens- oder konsenstheoretische Gesellschaftsbilder setzen Gesellschaft nicht
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a priori voraus, sondern verweisen auf ein Vermögen des Subjekts, Gesellschaft produktiv zu rezipieren, ferner Gesellschaft zu konstituieren, nämlich mit der Entscheidungsfreiheit, ob es sich vergesellschaftet, und – wenn ja – mit der Entscheidungsfreiheit, wie es sich vergesellschaftet. Der Tendenz der deterministischen oder systemtheoretischen Gesellschaftsbilder, das Vermögen der Musik als ‚Donum Societatis‘ heteronom herzuleiten, müsste Musikwissenschaft im Sinne der dissens- bzw. konsenstheoretischen Gesellschaftsbilder entgegenhalten, dass solches Vermögen vom menschlichen Subjekt autonom verwirklicht wird und dessen freier Entscheidung bedarf, ob es sich als autonomes Vermögen in den Dienst heteronomer Zwecke stellt oder nicht. Die Musikgeschichte ist auch Ausdruck dieser immer wieder so oder so gefällten Entscheidung des menschlichen Subjekts. Wieder vorauszusetzen als grundlegende Erkenntnis- und Handlungsinstanz ist das Subjekt. In dem Maße, wie die Auffassung von der alternativlosen Heteronomie des Subjekts, radikalisiert zur postmodernen Theorie von der Abschaffung des Subjekts, sich als unplausibel, weil systematisch nicht belastbar erweist, ist eine theoretische Grundlage, die die Formen des Erkennens und Handelns des Subjekts näher als autonome Formen ersichtlich werden lässt, erneut geltend zu machen. Dabei kann man nicht das Subjekt sich zum Gegenstand in der Art eines naturwissenschaftlichen Objekts machen, wie die Hirnforschung es suggeriert, sondern man kann nur von bestimmten Handlungsweisen des Subjekts auf Vermögen schließen, die mit dem Gesetz der Kausalität nicht aus einer Ursache jenseits des Subjekts bzw. seines Entscheiden-Könnens plausibel hergeleitet werden können. Als wichtigstes Kennzeichen hierfür kann das Vermögen des Subjekts gelten, seinem Erkennen und Handeln Systeme zu verleihen, und zwar solche Systeme, die, gerade weil sie nicht jenseits des Subjekts in der naturalen Empirie existieren oder ersichtlich sind, somit – weil nicht von solcher Empirie herrührend oder verursacht – nicht als Heteronomie des Subjekts geltend gemacht werden können, also ausschließlich seiner Autonomie entspringen. ,Systemdenken‘ ist aber nicht etwa die nur als rein deterministisch zu denkende Auswirkung einer rein deterministisch verstandenen Gehirnfunktion, welche als deterministische sozusagen gar nicht anders könne, als deterministisch zu denken. Denn wenn einer empiristischen Hirnforschung eben jene Gehirnfunktion als deterministische Ursache für Wahrnehmung und Erkenntnis gilt, dann kann sie nicht erklären, warum das Denken sich offenkundig frei entscheiden kann, ob es als systematisches Denken oder als nicht-systematisches Denken zu Wahrnehmung und Erkenntnis und auch Kritik gelangt. Verlangt doch der Wahrnehmungs- und Erkenntnisgegenstand seinerseits – nämlich die Empirie als Natur bzw. Welt, somit im Falle der Musik als deren Voraussetzung die unendliche Vielzahl möglicher Frequenzen – gar keine Festlegung hierüber, hat vielmehr gar nicht das Vermögen, irgendetwas zu verlangen, insofern er nicht als Subjekt begegnet. Als dieses Empirische ist Natur bzw. Welt von je her vielmehr gerade nicht als System wahr-
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nehmbar, sondern sein Systemcharakter, so er denn besteht, wird erschlossen qua Reflexion oder aber in ihn hineingedeutet. Systemdenken jedoch, nämlich als Reflexions- und Deutungskriterium, ist eine autonome Leistung des Subjekts. Ihm aber kann der Normalfall der Natur bzw. Welt, nämlich als oft unvorhersehbare Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Erscheinungen, gerade nicht als ,zwingender‘ Anlass gelten, Wahrnehmung und Erkenntnis in Systemen zu denken. Vielmehr liegt das Wesen des grundlegenden Systems schlechthin – nämlich der Mathematik – in seiner völligen Verschiedenheit von Empirie, welche zwar zählbar ist, in welcher das System der Zahlen aber nicht vorkommt. Dieses System entspringt vielmehr dem Vermögen des Subjekts, seine Formen – Zeit und Raum – rational oder nicht-rational zu verwirklichen: „Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande ... Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zueinander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen ..., denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis. Das Wort Begriff könnte uns schon von selbst zu dieser Bemerkung Anleitung geben. Denn dieses eine Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute, und dann auch Reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt.“8
Zwar verwirklichen sich Zeit und Raum als Vermögen des Subjekts nicht ausschließlich mathematisch; aber Mathematik als eine autonome Form der Verwirklichung von Zeit und Raum, die nicht der Natur entnommen werden kann, demonstriert das Vermögen des Subjekts, aus sich heraus, d.h. als Autonomem, Systeme bzw. weitere Autonomie zu erzeugen. Geeignet, Empirie als System aufzufassen oder in ein System zu bringen, lässt nämlich Mathematik darauf schließen, dass das Bedürfnis nach ihr gerade der unbefriedigenden Wahrnehmung einer systemlos erscheinenden Empirie entsprang und immer wieder entspringt. Systemdenken ist eine Fähigkeit des Subjekts trotz Empirie und frei insofern, als es entgegen dem Augenschein von Empirie dazu übergeht, jene Empirie zu unterteilen in das Wahrnehmbare als Augenscheinliches und in dessen Systematisierung als NichtAugenscheinliches. Zum Systemdenken nötigt daher gerade nicht eine empirische Erfahrung; vielmehr ist Systemdenken eine Selbstnötigung des Subjekts aus Freiheit, welches entscheidet, ob es sich dazu nötigt oder nicht. Weder Theologie als Kosmologie – auch wenn sie nach wie vor den Charakter solcher Selbstnötigung als Fremdnötigung, nämlich durch Gott bzw. durch die ‚Harmonie des Universums‘, auszugeben trachtet – noch empiristische Hirnforschung – wenn sie Systemdenken als ein durch Empirie, nämlich die der Gehirnströme, veranlasstes auszugeben trachtet – können uns weismachen, wir seien 8
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1. u. 2. Originalausgabe, neu hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 149a f.
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durch etwas außerhalb von uns zum Systemdenken genötigt. Wenn, dann nötigen wir uns dazu selbst, und sei es, um uns gegenseitig unsere Verfügungsgewalt über Empirisches zu demonstrieren. Nötigen wir uns gegenseitig dazu, so ist solche gegenseitige Nötigung eine der Formen, in denen wir Gesellschaft, z.B. musikalisch, überhaupt erst konstituieren. Wir nötigen Empirie in ein System – nicht nötigt Empirie uns zum Systemdenken. Solche Fähigkeit aber entsteht aus der Freiheit eines Systemdenkens gegenüber Natur sowie – als Ordnungsmodell für den Umgang mit Naturalem, nämlich Schall – aus Freiheit im Umgang mit Natur. So gesehen ist jegliches musikalisches Denken – egal ob vokales oder instrumentales, egal ob als Kunstmusik oder als Muzak –, insofern es als Umgang mit Akustisch-Naturalem irgendeine Systemgrundlage – etwa die eines artifiziell typisierten Sprachtonfalls, die einer Harmonik oder die einer Sounddramaturgie – aufweist, zugleich Ausdruck eines autonomen Vermögens des Subjekts, solche Systemgrundlagen zu erfinden und zu verwenden. Und ebenso ist eine Kritik an gesellschaftlich, also intersubjektiv normiertem artifiziellem Umgang mit Naturalem ein Vermögen des Subjekts, aus dem heraus es Gesellschaft mitkonstituiert und gegebenenfalls auch zu verändern suchen kann. Auch solche Kritik an Normen – erst recht, wenn mit ihnen gesellschaftliche Repräsentationszwecke verbunden sind und gegebenenfalls zwecks Machterhalt nötigend durchgesetzt werden – ist als Motiv innerhalb der Musikgeschichte, insbesondere in ihren innovativen Strömungen immer wieder belegt.
Autonomie in Ost und West Die Unterscheidung zwischen einer autonomen Musik und einer heteronomen Musik innerhalb der DDR bliebe systematisch ungenau, wenn sie mit ‚heteronom‘ bloß ‚nicht-autonom‘ meinte: somit etwa die Symphonie in B von Ernst Herrmann Meyer als ‚heteronom‘ verkürzte, während diese Musik in Wahrheit Ausdruck einer Autonomie ist, die sich in den Dienst einer Heteronomie stellt.9 Zu unterscheiden ist daher grundsätzlich innerhalb der 9
Möglicherweise diesbezüglich in systematischer Hinsicht noch missverständlich bzw. als unpräzise aufzufassen ist meine Abhandlung Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus, in: Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 1), hrsg. von Michael Berg, Albrecht von Massow u. Nina Noeske, Köln u.a. 2004, S. 157– 164; ich sehe hier eine systematische Ungenauigkeit, die sich auch in der Kritik von Anne Shreffler fortsetzt, die nämlich ihrerseits Autonomie als historisierbare Eigenart bestimmter Musik ansieht, so auch im Sinne eines für die westliche Neue Musik nach 1950 geltenden ästhetischen Konzepts, und daher an meinem Text kritisiert, dass er dieses Konzept nun auch als ein für bestimmte Musik innerhalb der DDR geltendes Beurteilungskriterium in die DDR-Musikgeschichtsschreibung einführen wolle, um die ästhetisch polarisierenden Konzepte des Ost-West-Konflikts ein weiteres mal zu zementieren (vgl. Shrefflers Rezension von vier Büchern zur Musikgeschichte im Ost-
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Musikgeschichte nicht zwischen Autonomie und Heteronomie, sondern – immer unter der Voraussetzung eines wie auch immer in sich syntaktisch zunächst selbstbezüglich intendierten musikalischen Materials – zwischen bei sich verbleibender Autonomie, etwa als rein instrumentale Musik um 1800, und sich heteronom verwendender Autonomie, etwa als text- oder ritusgebundene Musik um 900 oder aber als Muzak. Sowie eine musikalische Syntax vorliegt, der aus intersubjektiver Entscheidung im Zuge von intersubjektiven Normierungsprozessen oder aus individuell subjektiver Entscheidung Systemgesetzlichkeit – in welcher Form auch immer – zu Grunde liegt, kann dies als Beweis für das Vermögen des menschlichen Subjekts zur Selbstgesetzgebung angesehen werden. Und ebenso ist Musik nicht bloßer Ausdruck gesellschaftlicher Gehalte, somit von ihnen her heteronom geprägt, sondern sie ist der autonome, artifizielle Umgang mit gesellschaftlichen Gehalten. Systemgesetzlichkeit als ein Vermögen aus Freiheit zu demonstrieren – also nicht mehr als Fremdnötigung auszugeben, sondern als Autonomie zu beanspruchen –, kann möglicherweise das Interesse eines musikalischen Systemdenkens auch im Umgang mit Anderem als Natur, nämlich mit Gesellschaft, erklären. Denn so, wie Systemdenken als Autonomie des Subjekts gegenüber Empirie die Ideologie des Empirismus zu widerlegen vermag, so vermag Systemdenken als Autonomie des Subjekts gegenüber Gesellschaft die Ideologie der Vergesellschaftung zu widerlegen: nämlich deren Glaube, Kunst sei – in Fortsetzung eines empiristisch, nämlich deterministisch verstandenen Vorgangs von Wahrnehmung und Erkenntnis – ausschließlich ein Vorgang von Widerspiegelung, zurückführbar auf gesellschaftliche Prägungen. Denn gesellschaftliche Repräsentationsformen, wie sie auch musikalisch möglich sind, müssen ein musikalisches System ihrer Darbietung nicht zwangsläufig auf die Widerspiegelung des gesellschaftlichen Systems als Kontext reduzieren; vielmehr sind schon musikalische Repräsentationsformen ein artifiziell-autonomer Umgang mit gesellschaftlichen Repräsentationsformen und können darüber hinaus ihrerseits zum Material eines weiteren artifiziell-autonomen Kompositionsprozesses bestimmt werden, und zwar als Ausdruck einer Verfügungsgewalt und Reflexion des Subjekts im Umgang mit gesellschaftlichen Repräsentationsformen und deren musikalischer Transformation. – Und genau dies scheint die Kompositionsstrategie mancher Werke der Neuen Musik in der DDR gewesen zu sein. So sind beispielsweise musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation – etwa zeremonieller Gestus, Fanfare, Signal oder RepräsentationsgattunWest-Konflikt, in: Journal of the American Musicological Society, Bd. 60, Heft 2, 2007, S. 456). Zu kritisieren ist an meinem Text vielmehr, dass er Meyers Wahl tonalen und formal traditionellen Materials als heteronom verursacht nahe legt, dem gegenüber das Material der Atonalität Goldmanns als autonom erscheint, während die systematische Konsequenz, welche Heteronomie näher als eine sich in außermusikalische Dienste stellende Autonomie bestimmt, Meyers wie Goldmanns Material als genuin autonom anerkennen müsste, um erst den Umgang damit als entweder heteronom verwendet oder als autonom verbleibend bzw. heteronome Verwendbarkeit verweigernd zu kennzeichnen.
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gen wie Hymne, Symphonie oder Kantate, oder aber Normgrundlagen wie Tonalität – in Friedrich Goldmanns 2. Sinfonie oder in Georg Katzers D-Dur-Maschine zum Material eines sie karikierenden, verfremdenden und transformierenden Kompositionssystems und Kompositionsmediums bestimmt – nämlich durch mathematische Materialorganisation, Klangtransformation sowie instrumentale Formdramaturgie. Dass hier Gesellschaft als Systeme bildende Intersubjektivität zum Gegenstand eines reflektierenden und kritischen Systemdenkens bestimmt wird, zeigt die Freiheit bzw. Autonomie jenes Systemdenkens als Bestimmendes, nämlich als Vermögen eines Subjekts. Zumindest ist zwischen gesellschaftlichem System und einem es reflektierenden kompositorischen Systemdenken, gerade weil beide nicht miteinander identisch sind, kein Widerspiegelungsverhältnis zu konstruieren, so wenig, wie zwischen Systemdenken und Empirie ein empirisches Entsprechungsverhältnis konstruiert werden kann, weil Systemdenken nicht-empirisch ist. Theologie, Empirismus sowie ein deterministisches oder systemtheoretisches Gesellschaftsbild haben miteinander gemeinsam, dass sie Systemdenken als Fremdnötigung ausgeben, um sich auf sie als Grundlage für politische Machtausübung oder wissenschaftliche Deutungshoheit berufen zu können und damit das Subjekt als jene Instanz zu umgehen, die intersubjektiv allein jene Nötigung zu verantworten hat und, wenn sie jene Nötigung als Vermögen aus Freiheit erkennt, allein im Stande ist, Fremdnötigung als Legitimation für politische Machtausübung und wissenschaftliche Deutungshoheit zu widerlegen. Dies ermöglicht eine neue Sicht auf die verschiedenen Beweggründe für den Umgang mit Kompositionssystemen in der Neuen Musik nach 1950. Dabei lassen sich zwei Formen der Systemkritik unterscheiden: erstens eine generelle Kritik am Systemdenken, etwa der Modalnotation, der Tonalität, der Materialselektion regelmäßiger und diskreter Frequenzen, des chromatischen Tonsystems, der Zwölftontechnik, des Serialismus etc.; solche Kritik sucht sich vom Systemdenken unabhängig zu machen – etwa in der Musik Edgar Varèses, John Cages oder Wolfgang Rihms – und hat zugleich zur Voraussetzung, dass sich das Subjekt frei entscheiden kann, ob es überhaupt in einem System denken will oder nicht; zweitens eine Kritik am gesellschaftlichen Systemdenken durch Systemreflexion. Dies ist als Fall einer Kritik an musikalischen Formen gesellschaftlicher Repräsentation seltener in den Blick gerückt worden. Doch liegt hierin möglicherweise ein spezifischer Beweggrund für die Verwendung autonomer Kompositionssysteme – etwa durch mathematische Materialorganisation – in Neuer Musik der DDR, indem nämlich musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation, in denen sich das politische System zu repräsentieren suchte, zum Material eines sie reflektierenden und kritisierenden kompositorischen Systems wurden, welches – als Ausdruck autonomer kompositorischer Verfügungsgewalt – mit ihnen umgeht, wie es will, und sie damit in ihrer gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung paralysiert bzw. dekonstruiert. Es handelt sich also um Autonomie durch Systemdenken, welches – etwa als musikalische Materialorganisation – wiederum Verfügungsgewalt als Ausdruck des freien Willens demonstriert.
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Friedrich Goldmann lässt so gesehen in seiner 2. Sinfonie Systemreflexion als Mittel der Systemkritik offenkundig werden, über welches er frei verfügt, und welches er auch nicht aus Fremdnötigung verschleiern muss, sondern als Systemkritik inszeniert, aus einer Perspektive heraus, die – quasi von außen – sich in einer Position sieht, der auch die Alternative – nämlich ein musikalischer Raum frei von Systemzwängen – als möglich gilt: zumindest als Ausdruck von Narrenfreiheit mit dem karnevalesken Mittelteil seiner Sinfonie. Aber auch die Systemgrundlage Goldmanns ist nicht etwa nur Widerspiegelung gesellschaftlichen Systemdenkens, sondern legt als ästhetisch erfahrbare Systembeschränkung gerade den Charakter gesellschaftlicher Selbstbeschränkung offen, dies aber von einer mathematischen Position aus, die sich ihre Gesetze selbst gibt10 – was man als Differenz zum ästhetischen System der von Goldmann kritisierten Gesellschaft auch daran sieht, dass letztere in ihrem sozialistischen Selbstbild sich gerade von mathematischen Kompositionsweisen wie denen Goldmanns deutlich distanzierte. Denn gerade von einer sozialistischen Ästhetik, die vorrangig einem klassischen Pathosbegriff sich verpflichtet fühlte,11 wurde kompositorisches Systemdenken wie das Goldmanns als ‚formalistisch‘ abgelehnt. Zwar schlösse das noch nicht aus, dass Goldmanns Systemdenken trotzdem Widerspiegelung eines zwar nicht ästhetisch, aber um so mehr politisch sich repräsentierenden Systemdenkens gewesen wäre; aber Goldmanns Autonomie zeigt sich zumindest schon innerhalb des ästhetischen Diskurses der DDR durch die gezielte Abgrenzung seines individuellen Systemdenkens vom Pathos-Postulat der offiziellen Kulturpolitik. Es kann ferner sein, dass Goldmann der Autonomie seines Komponierens bewusst einen Impetus verliehen hat, der zum einen Werken der Neuen Musik nach 1950 wie auch in der BRD allgemein die Einschätzung als ‚gesellschaftsfern‘ eingebracht hat, der daher aber zum anderen genau deshalb innerhalb der DDR nicht als gegen deren spezifische gesellschaftliche Repräsentationsformen gerichtet denunziert werden konnte. So gesehen hätte sein Schaffen zwar einen für die Zeit nach 1950 charakteristischen Impetus innerhalb der Neuen Musik, ohne aber sich als einen spezifisch an die Kulturpolitik der DDR und deren musikalische Formen gesellschaftlicher Repräsentation adressierter Akt der Reflexion und Kritik angreifbar zu machen. Mathias Spahlinger wiederum reflektiert in seinem Orchesterstück morendo Systemverhalten als Zwang. Jedes der Instrumente folgt einem Verhaltenshabitus, welchen es in der Art eingefahrener Gewohnheit permanent wiederholt und der als Teil eines selbst10 Zur Systemgrundlage in Goldmanns 2. Sinfonie vgl. Frank Schneider, Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern der DDR, Leipzig 1979, S. 228, sowie v. Massow, Autonomieästhetik im Sozialistischen Realismus (wie Anm. 3), S. 160 f. 11 Vgl. hierzu Victoria Piel, ‚Sym-Pathie‘ und Monumentalität. Pathos im frühen DEFA-Film, in: Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst – Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 2), hrsg. von Michael Berg, Knut Holtsträter u. Albrecht von Massow, Köln u. a. 2007, S. 143–162.
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referenziellen Systems aller beteiligten Bewegungen erscheint. Indem aber schon in der Anlage wie auch in der Konsequenz eines solchen Bewegungshabitus Merkmale existieren oder sich herausbilden, die einer reibungslosen Wiederholung zunehmend entgegenstehen, zerfällt auch der systemische Zwang. Man möchte Spahlingers Stück als abstrakte Parabel auf gesellschaftliche Systemzwänge wie auch als Kritik an ihnen hören, wobei die Instrumente den zunächst eingefahrenen, dann aber zunehmend verunsicherten Verhaltenshabitus von Subjekten darstellen. Je mehr die System erhaltende Kraft der Subjekte nachlässt, desto mehr tritt ihr Stärke und Dummheit verbreitender Charakter zurück und ihr fast Mitleid erregender Charakter hervor. Als zunehmend auf sich gestellte, ihre erlernten Rituale nur noch bruchstückhaft beherrschende Subjekte gewährt Spahlinger ihnen fast etwas, was man mit seiner Musik am allerwenigsten in Verbindung bringt: mitfühlende Anteilnahme. Zugleich verweist er im kompositorischen Umgang mit Systemzwängen auf die Fähigkeit der Reflexion, solche Zwänge aufzulösen in Richtung eines Möglichkeitsraums, wie er im Verlauf des Stücks durch die zunehmenden Pausen sich eröffnet. Spahlinger belässt diesen Möglichkeitsraum offen, so dass Zeit gewonnen ist zu entscheiden, wie man diesen Möglichkeitsraum gestaltet, ob in erneuertem oder reformiertem Systemzwang oder aber frei, ohne Systemzwang. Indem Spahlinger als kompositorisches Subjekt Heteronomie von Subjekten reflektiert, hebt er sie als Schein auf. Denn die Frage bleibt, wie es überhaupt zu dem gekommen ist, was den Subjekten als ihre ausschließlich heteronome Bestimmtheit erschien. Handelte es sich um eine faktische oder um eine eingeredete Heteronomie?
Wilfried Krätzschmar
Wie nun aber Autonomie klingen mag? – Reflexionen zu den Spuren gesellschaftlicher Verhältnisse im kompositorischen Schaffen
Die Unterzeile im Titel meines Beitrags hätte auch lauten können: Reflexionen zu den Möglichkeiten von Spuren gesellschaftlicher Verhältnisse im kompositorischen Schaffen; das tut sie aber nicht. Als ich die Anfrage erhielt, im Rahmen des Symposions zu den Aspekten Autonomie und Funktionalisierung zu sprechen, fiel mir die Antwort nicht leicht – ob der Dinge, die im Zusammenhang mit der Jahreszahl, die ja den Anlass für diese Veranstaltung gibt, ungut im Gedächtnis aufspringen.
1968 Der Bogen von da nach jetzt umfasst so kongruent die Spanne meines Tätigseins, dass dies den Ausschlag gab, mich dem Thema doch auch öffentlich reflektierend zu stellen. 1968 schloss ich mein Studium mit Diplom ab und trat in die Berufspraxis ein. Mein erstes Engagement war die Leitung der Schauspielmusik am Meininger Theater. Im Sommer verließ ich mein Elternhaus in Dresden und stand mit meinem Gepäck an der Bushaltestelle Richtung Hauptbahnhof, um in den neuen, eigenen Lebensabschnitt zu reisen. Während ich da so am Morgen wartete, rollten eine Haltestelle weiter die Panzerkolonnen aus der nahe gelegenen Sowjet-Kaserne, um im Erzgebirgsraum Aufstellung Richtung Prag zu beziehen. Sie sollten ja pünktlich sein, sobald der Hilferuf der tschechischen Genossen beim Weltbeschützer in Moskau eintreffen würde. Das martialische Geräusch dieser Kriegsmaschinen verbindet sich bis heute in meinem Erinnern an den Beginn meiner Berufslaufbahn als Komponist; und auch die Wut und das Gefühl der Ohnmacht sind genauso gegenwärtig. Dazu die zynische Verlogenheit der SED-Propaganda, mit ihrem beleidigenden Effekt, die ihr Ausgelieferten für dumm zu verkaufen beziehungsweise ihnen ihre Ausgeliefertheit vorzuführen – so dass der Blick in die westliche Richtung, wo zur gleichen Zeit die Nicht-Dummen und Nicht-Ausgelieferten Mao-Bibeln schwingend ihre Freiheit verfluchten, ratlos hängen blieb an der Frage, was denn die, angesichts des gewaltsam betonierten Ostblocks, mit ihrer Weltläufigkeit für Sorgen hätten. Eines Morgens kam die Vermieterin in mein möbliertes, aber medienfreies Meininger Zimmer, und sagte: „Sie sind einmarschiert.“ Auch das vergisst man nicht. Der Tonfall in der Stimme der alten Frau – alles aussprechend, was man nicht so einfach mit Wörtern
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Wilfried Krätschmar
sagt; gleich gar nicht, wenn man noch nicht weiß, welche Form von Bürger man mit dem neuen Insassen vor sich hat. – Ironie des Daseins (oder: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins): die erste Inszenierung, die ich zu betreuen hatte, war Feuerwerk von Paul Burkhard.
I. Versuch der Beschreibung von Stattgefundenem Die Umstände, unter denen im östlichen Teil Deutschlands Kindheit und Schulzeit abliefen, erzogen zu einer sehr differenzierten und hoch ausgeprägten Empfindlichkeit der für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendigen persönlichen Antennen. Man lernte, Gehörtes doppelt zu prüfen, weil es möglicherweise doppelt angelegt war; man erfuhr, dass das Nachsprechen vorgestanzter Hülsen Anerkennung brachte, während das Formulieren eigener Ideen und Standpunkte, ja schon das Fragen nach Dingen außerhalb der Hülsen, mindestens Verdächtigung nach sich zog; man konnte beobachten, wie Karrierefördernde Bekenntnisse auszuführen waren; und man machte frühzeitig Bekanntschaft mit dem peinigenden Auf-sich-gestellt-sein, wo Geradlinigkeit und das Bezogensein auf das Gewissen in jedem Moment uneingeschränkt gelten sollten, oder wenn es darum ging, seine Entscheidungen in diesem so grundsätzlichen Bereich zu finden. So war schon der Entschluss, nach dem Abitur Musik zu studieren, nicht einfach ein Nachgehen bloßer Neigung, sondern eine in einem vielfältig vernetzten Komplex von Erwägungen eingehängte Angelegenheit. Die Idee, sich in Köln zum Jazzpianisten ausbilden zu lassen, hatte sich im Sommer 1961 zwischen 11. und 12. Klasse über Nacht erledigt. Ein bisschen amüsiert, aber hauptsächlich mit Schauder erinnere ich, welche abenteuerlichen Überlegungen wir Gymnasiasten anstellten, wie man nach dem Abitur noch „rauskommen“ könnte! Die Idee, Komposition zu studieren, erschien, bei aller Faszination und allen bisherigen Erprobungen, ziemlich anmaßend. Als die Entscheidung unaufschiebbar wurde, glückte der Sprung über die Hürde der Aufnahmeprüfung, und ich wähnte mich – einen Augenblick lang – glücklich: jetzt Gefilde betreten zu können, die für Höheres bestimmt sind. Eine heute einzugestehende Phase der Naivität, die sich schnell verlor; die Annahme, den gesellschaftlichen Inquisitionen zu entkommen; mit der Musik in einem politikfernen und ideologiefreien Raum geborgen zu sein, an reiner Leistung gefordert zu sein und nach Bewährung streben zu können in nichts als der künstlerischen Materie. Das verflog sofort bei Studienbeginn. Binnen kurzem wurde klar, wie politisch verortet Musikmachen war, und wie Komponieren regelrecht im Brennpunkt der aufgestellten ideologischen Okulare stattfand. Ich wurde während des Studiums dreimal nach dem Aufführen von Kompositionen vor ein Hochschulleitungstribunal geladen. Das erste Mal ziemlich zu Beginn des Studiums: man verdächtigte das kleine Stück für Flöte und Klavier,
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zwölftönig geschrieben zu sein; vermutete an mir Affinitäten zur in England aufgekommenen Bewegung der „zornigen jungen Männer“, weil die Musik nichts von dem Optimismus und der Perspektivenbejahung hören lasse, wie sie jemandem, der hier studieren dürfe, doch anstünden. Das zweite Mal hatte ich falsche Texte gewählt – obwohl die hier gedruckte Lyrik hier im Laden gekauft war. Nach dem dritten Mal riet mir mein Lehrer, mir dringend etwas Neues zu suchen, da die Idee, meine Studien in einem Aufbaustudium fortzusetzen, keine Chance habe. Ich erlebte die Maßregelung eines der besten, von den Studenten hoch geschätzten jungen Dozenten, der vom Warschauer Herbst mitgebrachte neuartige Partituren – wohlgemerkt polnischer Komponisten (wie z.B. Bogusław Schaeffer) – in der Vorlesung gezeigt hatte. Es war ihm fortan untersagt, in musikwissenschaftlichen und -theoretischen Gebieten zu lehren; die Gesuche der Studenten, ihn weiter hören zu können, wurden abgebügelt. Ich erlebte die Maßregelung von Kommilitonen, aber auch die schönredenden Studenten, die windschlüpfrigen Karrieren mit den dazu gehörenden Parteieintritten. Es wäre falsch, dieser Beschreibung von Stattgefundenem – die um ein unangenehmes Vielfaches der hier angesprochenen Beispiele fortsetzbar ist – einen Mitleid heischenden oder wie auch immer gearteten Klageton zuzubilligen. Auch die zynische Sicht auf diese Materie, aus verschiedenen Blickwinkeln möglich, darf keinen Raum bekommen. Die Vorstellung, was gewesen wäre, wenn es anders gewesen wäre, zeitigt kaum Ansätze, die es wert sind, weiterverfolgt zu werden. Ergiebiger ist die Fragestellung, was zu lernen war für die künftigen Forderungen, an Behauptung, an Wachheit, an Kommunikationsfähigkeit – auch wenn man es nicht unbedingt so hätte lernen wollen.
II. Gewichtungen, Befindlichkeiten und Ambivalenzen in der Zeitgebundenheit einer gewesenen Aktualität Die Erfahrungen des Studiums wurden von der darauffolgenden Lebenspraxis des Komponistendaseins sowie des eigenen Lehrens nicht aufgehoben, sondern fortgesetzt, verfestigt und gesteigert. Dass Kunstmachen von Grund auf nur widerständig sein kann, war keine Frage einer Standortfindung, dem Ermessen persönlicher Selbstbestimmung freigestellt, sondern es fand, unabweisbar und unabkehrbar, statt. Wo sich die Musikherstellung vom beherrschenden Apparat benutzen ließ – funktionalisiert in den verschiedenen Tönungen vom Angepassten über das Schmückende bis hin zum Huldigenden oder gar doktrinär und militant Auftrumpfenden – entfernte sie sich aus dem Bezirk der als ernsthafte Kunst wahrgenommenen Äußerungen.
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Wilfried Krätschmar
Innerhalb dieses Bezirks war es zentraler Bestandteil künstlerischen Selbstverständnisses, im Widerspruch zu stehen. Und zwar nicht lediglich auf der simplen Ebene querständiger Sujets, sondern man war es grundsätzlich, von vornherein, mit der Art Kunst, die man erstrebte und die mit dem propagierten offiziellen Beglückungskanon keine Gemeinsamkeiten haben konnte. 1986 wurde meine 4. Sinfonie uraufgeführt – in einer Zeit, in der die Hochrüstung akutes Thema war, Konfrontation war Doktrin, und die angebliche Notwendigkeit, die Gesellschaft militärisch durchzuformieren, wurde tonangebend allen Lebensbereichen oktroyiert. Im ersten Satz der Sinfonie, überschrieben „Geschwind“, verläuft ein Prozess, der von Leichtfertigkeit zunächst unmerklich, dann immer mächtiger, in ein uniformes Ausgerichtetsein führt und im brutal militanten Auftrumpfen endet. Eine andere Welt, als stiller poetischer Streicherklang dazwischen aufscheinend, zerfällt in Ohnmacht gegenüber dieser Gewalt.* Es war in jedem Moment des Arbeitens klar, dass jeder Note, so wie sie an die Öffentlichkeit gelangen würde, die allgegenwärtige Aufmerksamkeit von sich verantwortlich Fühlenden zuteil werden würde; dass, selbst wenn man sich eine Autonomie hätte zurechtmachen wollen, um sie wenigstens für sich in Anspruch zu nehmen, man sich in der Wirklichkeit des zur Zeit anwesenden Gefüges in dessen Bewertungskoordinaten bewegte, sobald man sich bewegte. Selbst das harmloseste Stück Albumblatt war nicht aus dem Koordinatensystem herauszuillusionieren – dies als verinnerlichte SchreibWirklichkeit festzustellen bedeutete, dass es, vom Schreiber aus gesehen, harmlose Albumblätter nicht gab. Diese Befindlichkeit hatte jedoch keinesfalls etwas Beeinträchtigendes. Sie war im Gegenteil von befeuernder Spannung; eine Reibung, die bei allem Kraftverschleiß die Pflugschar blank hielt. Sie wurde als der Kunst gemäß, einer verpflichtenden Tradition verhaftet und durchaus unaustauschbar begriffen. Verluste entstanden hingegen auf einer ganz anderen Ebene, nämlich aus der Überlagerung von Verstehen und Missverstehen in der für dieses Gesellschaftsgebilde so charakteristischen diffizilen Vermengung. Zeitgenössische Musik konnte aufgrund der Tatsache ihrer öffentlichen Aufführung ohne Zutun von der Aura des Offiziösen ummantelt werden und rückte in der Optik des Rezipienten dabei leicht in die Nähe des offiziellen Apparates. Sein Misstrauen diesem gegenüber verband das Unbehagen an den neuen Klängen mit dem Unbehagen an den ideologischen Verlautbarungen, die ständig von dem Glück der neuen Zeit psalmodierten. So konnte der Komponist zwischen alle Fronten geraten; die Kulturhoheit misstraute ihm (zu Recht), weil seine Töne nicht dem entsprachen, was sie für das Volk vorgesehen *
Hier wie bei allen weiteren in diesem Beitrag betrachteten Werken wurden im Vortrag erläuternde Musikbeispiele ergänzt (Anmerkung d. Herausgebers)
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hatte; die Hörer misstrauten ihm zu Unrecht, wo sie seine Töne für den Ausdruck der von der Kulturhoheit verordneten neuen Seligkeit hielten. Selbst ein kleines Bläserquintett für die Eröffnung der Dresdner Musikfestspiele 1980 war nicht frei von solcherart hereindrängenden Gemengelagen; der 4. Satz, überschrieben „Feroce“, möge für sich sprechen – genauso wie der Titel des Quintetts „rests“ mit seinen zahlreichen Übersetzungsmöglichkeiten.
III. Gewichtungen, Vermutungen und Positionen im heutigen Zusammenfassen Einerseits scheint die Frage nach der Existenz von Spuren hinlänglich beantwortbar zu sein. Allerdings nähert sie sich andererseits den wesentlichen Befunden nur gering. Denn die sind in der Frage nach der Bewertung solcher Spuren enthalten; in der Beurteilung, mit welchem Gewicht die festgehaltenen Tatsachen in einem größeren Zusammenhang Bedeutung erweisen oder nicht. Erst in der Projektion der persönlichen Erfahrungen in einen größer angelegten Rahmen ist das Relevante aus der eigenen Biographie in die geschichtlichen Dimensionen hinein, und umgekehrt, abzuwägen. Zum einen hat der Alltag in der DDR bzw. in dem sich sozialistisch nennenden System wesentliche Phasen meiner Schaffenszeit als Lebensumfeld bestimmt. Gleichwohl ist aber heute schon abzusehen, mit welcher Marginalität diese Episode in die größeren Zusammenhänge europäischer Geschichte eintauchen wird. Man wirft den jungen Leuten von heute gern vor, dass sie zu wenig von dieser jüngsten Vergangenheit zur Kenntnis nähmen, sich zu wenig mit ihr verhaftet fühlten. Ist es aber nicht ein Zeichen für die Entwicklung in die Normalität? Kann man es nicht mit Erleichterung registrieren, dass diesem Unfall deutscher Nachkriegsgeschichte nicht mehr Bedeutung eingeräumt wird als angemessen? Dass für mich persönlich ein so großer Teil meiner Lebensspanne diesem Unfall einverleibt war, darf nicht zum verallgemeinernden Maßstab stilisiert werden. Die Tatsachen sind einzufügen in die übergeordneten Einsichten zu gesellschaftlichen Entwicklungen, wo deutlich wird, wie das Konflikthafte im Kräftespiel menschlichen Zusammenlebens in immer neuen Konstellationen zu den immer gleichen Modellen sich verfügt. Was bedeutet, dass auch das Wechselspiel von Autonomie und Funktionalisierung sich immer neu als Problemfeld generiert. Von 1968 als einem Wendepunkt zu sprechen, erscheint überzogen. Wie überhaupt das Strapazieren so genannter Wendepunkte mit sorgfältiger Skepsis betrachtet werden sollte. 1989 wird auch viel mit diesem Attribut versehen; und wir haben es danach erlebt, wie die, die gerade noch vorn gesessen hatten, schon wieder vorn saßen oder sogar immer noch; eine präsidiale Spezies, für die es unverzichtbar ist, vorn zu sitzen, und die das für ihre Unverzichtbarkeit hält. Was unterm Strich recht wenig für Umbrüche im Künst-
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Wilfried Krätschmar
lerischen taugt. – Spuren, die sich in der Kunst entdecken lassen, führen, gleichviel von welchen Konkretheiten ausgelöst, immer über diese hinaus, um an Umfassenderes und Allgemeingültiges zu rühren. Ein ärmlicher Ansatz, wo Kunst sich in ihrer Thematik mit der Ärmlichkeit eines Gebildes wie etwa der DDR hätte begnügen wollen. Alle persönlich verbundenen Ausgangspunkte gehen in größer gefassten Anliegen auf – was den Grad an Tröstlichkeit nicht hebt, im Gegenteil. Der Anlauf auf meine 1983 uraufgeführten Heine-Szenen nahm längere Jahre in Anspruch; die grundlegende Bitternis der Konzeption wurde dann im direkten Umfeld der Ausarbeitung hautnah zur Realität, als ich 35-jährig zum Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee der DDR eingezogen wurde. Aber es wäre nicht nur verengend, sondern grundsätzlich unangebracht, quasi das körperliche Erleben von Stumpfheit und Rechthaberei als Gegenstand musikalischer Gestaltung zu verstehen; es ging um die Einsicht in die überdauernde Kraft der Niedrigkeit in der menschlichen Existenz.
IV. Versuch der persönlichen Ortsbestimmung Autonomie ist ein trügerischer Begriff. Das schlackenfreie Ideal, das er zu postulieren scheint, verbietet jede Relativierung. Weil schon der kleinste Spaltbreit einer Öffnung dieses Begriffs ihn als orientierungsfähige Kategorie im Ganzen verfallen ließe. Also muss alles, was nicht von ihm umfasst wird, als „funktionalisiert“ übrig bleiben. Das führt zu der Frage, inwieweit Autonomie und Funktionalisierung als sich ausschließende oder gegensätzliche oder in ihrer Gegensätzlichkeit sich bedingende Kategorien, oder wenigstens Pole in einem Spannungsfeld, überhaupt taugen? Für mich besteht der zentrale Sinn in meinem Leben darin, Musik zu machen. Er besteht nicht darin, Spuren, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen in meine Biografie gegraben werden, in Töne zu übersetzen, damit ich anderen diese Spuren klingend vorführen kann. Das ist ein wichtiger Unterschied. Denn: immer, wenn ich Musik mache, sind die Spuren mit zu hören – ob ich will oder nicht. Dabei sind sie in der Regel sogar von außen her deutlicher wahrzunehmen als in der Selbstreflexion – welcher man auch nicht zu gutgläubig trauen sollte, vor allem, wenn sie öffentlich vorgenommen wird. So bleibt am Ende die Möglichkeit, auf beides mit Hochachtung zu verweisen: entweder, dass ein Komponist unberührt vom Spülicht der Zeitläufte an seinem Lebenswerk schafft, „über den Dingen stehend“ – wobei diese volkstümliche Metapher das Widersprüchliche ihres Bildes unweigerlich auf den Plan ruft; oder aber, dass der Komponist, den Lebensbewegungen seiner Lebenszeit verbunden, seismographisch Kunde gibt von den Erschütterungen, die durch die Gesellschaft, und ihn, hindurchgehen. Beiden Entwürfen eines Schaffenskonzeptes kann man Attribute der Ehrenwertigkeit anheften, oder des Unausweichlichen; aber ebenso die der Verstiegenheit oder der Narretei.
Wie nun aber Autonomie klingen mag?
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In der letzten Konsequenz erscheinen diese Kategorisierungen zu kurz gegriffen, auf zu kleiner Stufe angesetzt, um den Phänomenen der künstlerischen Standortfindung Genüge zu leisten. „Funktionalisierung“ entsteht ja nicht nur in der Weise, dass fragwürdige Systeme willfährig austapeziert werden und wo die offensichtliche Kongruenz als Maxime des Schaffens herhält. Auch unter umgekehrten Vorzeichen, wo der Bezug zum System sich in der Verweigerung herstellt, hat man es letztlich mit einer funktionalen Relation zu tun. So dass der Begriff im umfassenden Sinne aufgehoben wird und zur simplen Abtrennung nicht mehr zu gebrauchen ist. Die Idee der „Autonomie“ wäre damit nur noch als Schimäre der reinen Torheit, außerhalb aller denkbaren Bezogenheiten, auffindbar – wo ein Schaffen darauf angelegt sein müsste, jegliche Relation zu Existierendem zu ignorieren. Ich denke, dass die Begriffe außer in ihrer gegenseitigen Ambivalenz auch in ihrer jeweiligen eigenen, inneren Ambivalenz anzunehmen sind. Und dass ebenso das Wesen von Kunst in dieser Ambivalenz besteht: dass sie immer nur autonom sein kann bezüglich ihrer Genesis, und dass sie es nie sein kann bezüglich ihrer Realität. Vielleicht sind das sogar die eigentlichen Indikatoren: dass diese beiden Aussagen zutreffen, wo es sich um Kunst handelt.
Miloš Havelka
Der Prager Frühling in einer Perspektive generationenspezifischer Erwartungen. Zur Diskussion zwischen Milan Kundera und Václav Havel im Winter 1968/69
I. Meine Ausführungen gehen aus von zwei Vorbemerkungen, die mir eine These zu formulieren erlauben. Zunächst möchte ich betonen, dass – soziologisch und politologisch gesehen – der tschechische Reformsozialismus des Jahres 1968 nicht die Hoffnung der ganzen tschechischen Gesellschaft darstellte. Es gab eine Menge von Bürgern, die Petr Pithart später als „die Anderen“ bezeichnete, – d.h. politische Verlierer, eine potenzielle, nichtkommunistische Opposition (z.B. überzeugte Sozialdemokraten und Liberale) und soziale losers des Klassenkampfes nach dem Februar 1948 und dem folgenden Sozialismusaufbau –,1 die beides, Klassenkampf und Sozialismusaufbau, sowie auch die vagen Proklamationen des Prager Frühlings nicht als Aufstieg und authentische geschichtliche Entwicklungsperspektive wahrnahmen, sondern eher als eine nur leicht veränderte Verlängerung des bestehenden Zustandes, manchmal sogar als Bestätigung einer retrograden Bewegung der nationalen Geschichte. Sie fühlten sich auch weiterhin aus dem damaligen politischen Leben ausgeschlossen. Daneben existierte eine relativ breite Schicht von Parteiaktivisten, die alle Reformversuche mit Misstrauen beobachteten, weil sie sich dadurch direkt bedroht fühlten, und die eigentlich mit der Kritik am „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“, die von Seiten der so genannten Bruderstaaten des Warschauer Paktes geäußert wurde, mehr oder weniger einverstanden waren. In gewissem Sinne darf man sogar das Reformsozialismusprogramm und die bürgerliche Bewegung des Jahres 1968 gegeneinander stellen, also die Situation so beschreiben, dass der Reformsozialismus nur ein Teil der Entwicklungshoffnungen einer breiteren Öffentlichkeit war, die ihn eher als einen Durchgangspunkt verstand, der vielleicht zu einem anderen politischen System westlicher Prägung führen könnte. Das hängt allgemein mit der Tatsache zusammen, dass der sozialistische Staat politisch auch nach der Aufdeckung des Stalinschen Personenkults mit deutlichen moralischen 1
Vgl. Petr Pithart, Osmašedesátý [Das Jahr achtundsechzig], Praha 1990. Viele solche Schicksale hat der Schriftsteller Bohumil Hrabal auf seine typisch humorvolle, zugleich weise und bittere Art in seinen Romanen und Geschichten (z.B. in Skřivánci na niti [Lerchen aus einer Schnur]) geschildert.
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Defiziten lebte, die er nicht einzugestehen imstande war. Eine große Zahl der nach 1948 unschuldig Verurteilten und gesellschaftlich Ausgegrenzten wurde nie oder nur teilweise rehabilitiert. Niemand entschuldigte sich bei ihnen, und ihr privates Eigentum bekamen diese Menschen nie zurück. Zugleich pflegte das Regime immer wieder in wirtschaftliche Produktions- und Versorgungskrisen zu geraten. Dies wurde von politischen Machtkämpfen innerhalb der kommunistischen Partei begleitet (einer der bekanntesten entflammte Anfang der 60er Jahre zwischen dem Präsidenten Antonín Novotný und dem Innenminister Rudolf Barák), zudem auch durch eine immer deutlicher nationalistisch gefärbte Spannung zwischen Tschechen und Slowaken. Ein bürokratisch autoritäres Verhalten auf allen Stufen der Staatsführung und -verwaltung, ein Argwohn des Parteiapparats gegenüber jeder Form der Kritik usw. erweckten dann ein allgemeines Misstrauen gegenüber dem Regime. Dies gilt nicht nur für den (aus verschiedenen Quellen) informierten Teil der Bevölkerung, besonders der technischen Intelligenz, die oft den sog. „sozialistischen Aufbau“ für eine Kräftevergeudung hielt, sondern auch für die breitere Parteiöffentlichkeit, deren Erwartungen wiederholt auf den Unwillen des Parteiapparats stießen. Meine zweite Vorbemerkung bezieht sich auf die Tatsache, dass nach einer Phase des klassenkämpferisch ausgerichteten Terrors in den Jahren 1948–1956 sich langsam eine neue nachrevolutionäre sozialistische Gesellschaft durchzusetzen begann, die durch neue Bedürfnisse und Interessen gekennzeichnet war. Konsumorientierung und Ausreisemöglichkeiten, Bildungs- und Kompetenzansprüche an die Führung, Forschungsfreiheit und Unabhängigkeit des künstlerischen Schaffens, Respekt gegenüber intellektuellen Leistungen und deren nichtegalitäre Belohnung usw. – das waren die Themen, die man etwa vom ersten Drittel der 60er-Jahre an auch öffentlich, oft gegen den Willen der Parteiobrigkeit, diskutierte und die während des „Prager Frühlings“ zur Entstehung einer zwar am Anfang schwächeren, doch authentischen Civil Society führte. Nach dem rebellischen Schriftstellerkongress am Ende des Frühlings 1967 und nach der folgenden Ausschließung seiner Hauptredner aus der Partei sowie dem Verbot ihres Organs Literární noviny [Literarische Zeitung], eskalierten auch nationale Spannungen zwischen Tschechen und Slowaken. Anfang des Jahres 1968 wurde dann der Slowake Alexander Dubček als eine Kompromisspersönlichkeit zum Generalsekretär der Partei gewählt, doch mit ihm haben sich auch Reformkräfte durchgesetzt. Im Verlauf der ersten Hälfte des Jahres geriet das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in ein immer deutlicheres Spannungsverhältnis zu den Erwartungen einer sich inzwischen herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Das sog. ,Aktionsprogramm‘ wurde nicht nur mit Verspätung ausgearbeitet, sondern die von ihm vorgeschlagenen Reformen schienen auch mit Blick auf die Erwartungen in der Bevölkerung in mancher Hinsicht (bleibende Führungsrolle der Partei, beschränkte Rolle der kritischen Öffentlichkeit und der anderen Parteien, politischer Zentralismus,
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unklare Demokratisierung von Machtmechanismen, inkonsequente Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit usw.) ungenügend. Die damit verbundene Unzufriedenheit mit der Demokratisierung auf lokaler und regionaler Ebene führte dann zur bekannten Herausforderung durch Ludvík Vaculíks Zweitausend Worte – ein Text, den man sogar als Manifest einer sozialistischen Civil Society und einer von unten aufgebauten Demokratie lesen kann. Die gesellschaftliche Stärke und kulturpolitische Produktivität dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft zeigte sich meiner Meinung nach besonders überzeugend in der ersten Woche nach der sowjetischen Okkupation im August 1968. Damit hängt meine These zusammen, dass für das Verständnis der ganzen Entwicklung des Jahres 1968 in Tschechien eigentlich der „Prager Herbst“ wichtiger ist als der „Frühling“. Zivilgesellschaftliche Handlungsnormen in den breiten Bevölkerungsschichten hatten nämlich eine gewisse Zeit das resignative Verhalten der politischen Repräsentation überlebt. Es entstand eine patriotische Solidarität von Bürgern, sozusagen über parteiliche Zugehörigkeiten hinweg. Die zu Kompromissen mit der Okkupationsmacht gezwungene oder sich auf ihre Anforderungen einlassende Führung der Kommunistischen Partei verlor langsam das Vertrauen der Öffentlichkeit. Diese Entzweiung gipfelte wahrscheinlich in verschiedenen, freilich bald verdrängten Versuchen der Studentenschaft, nach Jan Palachs Tod mit der Arbeiterschaft politisch zu kooperieren. Vor diesem allgemeinen Hintergrund möchte ich auf einen spezifischen Zug der damaligen Situation aufmerksam machen: Divergente politische Erwartungen wurden im Verlauf des ganzen Jahres stark von verschiedenen generationell bedingten Werten, Überzeugungen und Entwicklungserwartungen beeinflusst. Ganz allgemein möchte ich vorausschicken, dass die generationenbezogene Erklärungsperspektive allgemein nicht nur zum Verständnis verschiedener innerer Parteikonflikte und zur ideologischen Einordnung verschiedenartiger Reformvorstellungen in spezifische soziale Erfahrungshorizonte konkreter Generationen bzw. unterschiedlicher Interessengruppen beitragen kann, sondern darüber hinaus auch zur geistesgeschichtlichen und politikgeschichtlichen Bearbeitung einzelner Reformversuche überhaupt hinführen kann – und am Ende auch ein besseres Verständnis der mannigfaltigen Positionen verschiedener Dissidentengruppen ermöglicht. Nur am Rande bemerkt: es zeigt sich dabei wiederholt, dass – ein wenig vereinfachend formuliert – in Regimen, die durch einen politischen Umsturz entstanden sind, immer sozusagen die „Kinder“ der Revolutionäre eine spezifische Rolle spielen: in der „Samtenen Revolution“2, im Jahre 1968 und in der ersten Hälfte des Jahres 1969, und in jüngerer Zeit z.B. auch in den Unruhen in Teheran. Revolutionärer Aktivismus stützt sich am Ende immer auf die allgemeine Sehnsucht, das eigene Leben frei 2
Vgl. Ivo Mozný, Proč tak snadno … Některé rodinné důvody sametové revoluce [Warum so lässig… Einige Familiengründe der Samtenen Revolution], Praha 1991.
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zu gestalten, die materielle und intellektuelle Mangelgesellschaft zu beseitigen und eine entsprechende Lebensqualität in materiellem und geistigem Sinne zu ermöglichen, was sich logisch mit bürgerlichen Freiheitsbedürfnissen zu verbinden pflegt.
II. Die tschechische Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, genauer: zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des Kommunismus, wurde durch das Nach- und Nebeneinander von drei größeren Generationsgruppierungen3 beeinflusst, deren Koexistenz und Konflikte mit der Differenz ihrer spezifischen Erfahrungshorizonte zusammenhängen, d.h. mit historischen Ereignissen, die ihre Werte und Lebensvorstellungen prägten. Diese verschiedenen Horizonte, die durch generationsbildende Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise, der deutschen Okkupation und der stalinistischen Phase des Sozialismusaufbaus markiert wurden, begegnet man spezifisch bearbeitet z.B. in Themen und Motiven der Literatur und selbstverständlich auch der bildenden Künste. (A) Hier kann zunächst die sog. Generation der Weltwirtschaftskrise beschrieben werden, die nach dem Publizisten Julius Fučík4 auch Fučíksgeneration genannt wird. Sie hat sich von der vorangehenden sog. Aufbaugeneration der Ersten Republik5 besonders durch ihre bolschewistische Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und durch ihre Kritik an der parlamentarischen Demokratie unterschieden und spielte besonders zwischen den Jahren 1938 (Münchner Abkommen) und 1956 (Chruschtschows „Geheim3
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Die nächste (vierte) sozial-demografische Gruppe, die man vielleicht als eine „Normalisierungsgeneration“ ansehen könnte, ist im Vergleich zu diesen drei vorangehenden weniger im Sinne einer Altersgruppe ausgeprägt und auch nicht so spezifisch aufgrund ihrer privatisierten Lebensweise, die in den 1970er und 1980er Jahren einen allgemeineren Charakter hatte, der das Ganze der Gesellschaft bestimmte. Soziologen sprechen deswegen lieber von einer generationsunspezifischen „grauen Zone“ zwischen Nomenklatura und Dissidenten. Die Generation der „Samtenen Revolution“ hat sich erst Ende der 1990er Jahre durchgesetzt. Interessant dabei eine demographisch starke Gruppierung von sog. „Husákskindern“ , das heißt jene starke Gruppe der zwischen 1974 und 1977 Geborenen, die freilich erst nach der Wende ins öffentliche Leben eingetreten sind. Julius Fučík ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einem Symbol des antifaschistischen Kampfes geworden. Danach wurde er freilich als Ikone missbraucht, mit deren Hilfe die kommunistische Führung des Staates versuchte, die Bedeutung des im Westen (in England) tätigen Widerstandes zu schwächen. Zu dieser gehörten z.B. die Schriftsteller Karel Čapek, Josef Kodíček und František Langer, die Publizisten Ferdinand Peroutka und Eduard Bass, die Soziologen Inocenc Arnošt Bláha, Otakar Machotka, Antonín Boháč und Josef Luvík Fischer, die Nationalökonomen Karel Engliš und Josef Macek, der Theologe Josef Lukl Hromádka, die Historiker Kamil Krofta, Josef Šusta, Jan Slavík, Otakar Odložilík, die Philosophen Karel Vorovka, Emanuel Rádl, František Krejčí, Ferdinand Pelikán und viele andere.
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rede“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU), eine große politisch führende Rolle, in einer Zeitspanne also, die man als „totalitäre Periode“ der modernen tschechischen Geschichte bezeichnen kann.6 Von außen gesehen war diese Gruppierung ideologisch ziemlich homogen. Ihre wesentlichen Diskussionspunkte waren einerseits Probleme einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft und andererseits die Faschismusgefahr. Beides wurde immer deutlicher herausgestellt, vor allem von einer relativ kleinen Gruppe kommunistischer Aktivisten und „Vorkriegsparteifunktionäre“, deren wichtigste Vertreter dann während des Krieges im Moskauer Exil lebte, meistens auch Komintern-Erfahrungen hatten und zu den eigentlichen „Machern der kommunistischen Machtergreifung“ nach dem Zweiten Weltkrieg wurde. Diese bildeten lange Zeit die Kaderschicht der Partei. Dazu sollte man auch einen wesentlichen Teil der Repräsentanten der tschechischen modernistischen, eindeutig linksorientierten Kultur der 1920er und 1930er Jahre zählen, die sich in der Nachkriegszeit in politischen, propagandistischen und administrativen Funktionen durchsetzten.7 (B) Die folgende, demographisch breitere und in mancher Hinsicht untypische Gruppierung der Generation des ,Totaleinsatzes‘ umfasste die Jahrgänge der zwischen 1918 und 1931 Geborenen. Sie wird oft nach dem Dramatiker als Pavel-Kohout-Generation bezeichnet, womit man auf ihre widersprüchliche innere Entwicklung von unkritischen Stalinbewunderern zu entschiedenen Kommunismus-Reformern hinweisen will. Ihr Erfahrungshorizont wurde besonders durch die Okkupationserlebnisse der Jahre 1938–45 geprägt: durch die Schließung der tschechischen Hochschulen im Jahre 1939, durch den daran anknüpfenden Terror der Besatzungsmacht, durch die Erlebnisse des sog. „Totaleinsatzes“ (im „Reich“ bzw. in der „Kriegsproduktion“ im Protektorat wurden mehr als 400.000 junge Männer und Frauen zur Zwangsarbeit geschickt8) und durch Befreiungskämpfe am Ende des Krieges. Dies alles radikalisierte die meisten Angehörigen dieser Generation politisch, sozial und auch nationalistisch, und sie übertrugen ihre Radikalität auch auf die etwas jüngeren Kollegen, mit denen sie sich nach 1945 an den Hochschulen, in Berufen und bei verschie-
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Vgl. dazu Miloš Havelka, Tschechische Republik – Migrationen, Vertreibungen, Interventionen in die Sozialstruktur, in: Migrationsprozesse. Probleme von Abwanderungsregionen, Identitätsfragen, hrsg. von A. Sterbling, Hamburg 2006, S. 143–151. Die meisten von ihnen mussten freilich bald nach der kommunistischen Machtergreifung im Februar 1948 ihre Positionen – manchmal auf tragische Weise (Záviš Kalandra wurde im ersten politischen Prozess zum Tode verurteilt, Konstantin Biebl hat Selbstmord begangen) – verlassen bzw. ideologische „Selbstkritik“ üben. Vgl. J. Kořalka, Evropské myšlení v novodobé české společnosti [Europäisches Denken in der neuzeitlichen tschechischen Gesellschaft], in: Dějiny a současnost, 1997, Nr. 3, S. 7.
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denen politischen Aktionen trafen.9 Mit diesen gemeinsam bildeten sie eine relativ homogene Gruppe von begeisterten „Erbauern“ des Sozialismus10, die erst mit dem Programm eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und mit den Reformversuchen 1968 völlig auseinander fiel. Eine Parole, die diese beiden Gruppierungen, die „Fučíksgeneration“ mit der des „Totaleinsatzes“ für gewisse Zeit verband, hieß etwa: „Nie wieder Weltwirtschaftskrise, nie wieder Münchner Abkommen“, und mit dieser Parole haben sie in den ersten Jahren nach dem Krieg breite politische Unterstützung in der nationalen Öffentlichkeit gefunden. Daraus erwuchs dann auch die Überzeugung, dass ausschließlich die Sowjetunion die nationale und staatliche Selbstständigkeit der Tschechen und Slowaken garantieren könne. Die ursprüngliche Einheit dieser beiden Generationsgruppierungen begann erst in der Zeit nach 1956 innenpolitisch gesehen zu bröckeln. Die geheime Chruschtschow-Rede mit ihren ersten Enthüllungen über den Stalinismus, die Ereignisse in Polen und Ungarn, sowie die Schriftstellerkongresse, wo zum ersten Mal Fragen nach dem Schicksal verbotener und eingesperrter tschechoslowakischer Schriftsteller gestellt wurden, trugen nicht nur zu einer inter-generationellen Spannung zur Fučíksgeneration, sondern auch zur Klärung kontroverser intra-generationeller Positionen bei. Einerseits formierte sich ein eher konservativ-traditioneller und andererseits ein deutlich reformistisch-modern orientierter Flügel der Pavel-Kohout-Generation.11 Im Herbst 1957 wurde zwar die erste intellektuelle Tribüne dieser Generation, die Monatszeitschrift Květen (nach dem Frühlingsmonat Mai benannt), deren Name symbolisch auf die Befreiung im Jahre 1945 und zugleich auf den Eintritt dieser Generation in das öffentliche Leben hinwies, verboten, doch die schon herausgebildeten kritischen Positionen haben auf informelle Weise überlebt.
9 Die dieser Pavel-Kohout-Generation angehörenden jungen Akademiker und Studenten führten z.B. nach 1948 die Säuberungen an allen Hochschulen durch und halfen dabei auch die sog. „bürgerlichen Wissenschaften“ (Logik, Genetik, Relativitätstheorie usw. und daneben auch die Soziologie, die als bürgerliche, angeblich gegen den sog. wissenschaftlichen Kommunismus gerichtete Wissenschaft in der Tschechoslowakei bis 1964 verboten war) zu liquidieren. 10 Am Rande könnte man hier die Erinnerungen des Literaturwissenschaftlers Vaclav Černý erwähnen, in denen plastisch geschildert wird, welche Rolle z.B. die Senkung des Wahlalters im öffentlichen Leben nach dem Kriege spielte (Vaclav Černý, Paměti, III, [Erinnerungen], Brno 1993, S. 330). 11 Doch die Anfänge der Auseinandersetzungen innerhalb dieser Generation muss man schon mit den sog. „Pamphlet-Ereignissen“ im Jahre 1952 verbinden, bei denen es sich um eine Persiflage des offiziell propagierten sozialistischen Realismus und der darauffolgenden ideologisch-pädagogischen Diskussionen handelte. (Nur am Rande sei angedeutet, dass die damals entstandene ideologisch-politische intragenerationelle Spannung sich in ihren Grundpositionen gewissermaßen bis in die Zeit der großen Parteisäuberungen nach dem Jahre 1970 fortgeschrieben hat).
Milan Kundera und Václav Havel
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In den 60er Jahren setzte sich der Prozess einer ideologischen Verselbständigung des reformistisch-modern orientierten Flügels dieser Generation fort; ihre Bühne wurde die Wochenzeitschrift Literární noviny. Hier sind auch die meisten kulturpolitischen Themen der damaligen Zeit (beginnend mit der Kritik am sog. „Personenkult“, über die Entfremdung, den „jungen Marx“, den „westlichen Marxismus“, Franz Kafka, Fragen nach der Bedeutung der nationalen Geschichte und des kulturellen Erbes der Nation, Strukturalismus und Avantgarde usw. bis zum Manifest Zweitausend Worte vom August 1968) behandelt worden und die intellektuellen Repräsentanten der Gruppe um die Literární noviny haben sich immer deutlicher als weltanschauliche Akteure des „Prager Frühling“ profiliert. Interessant dabei war das Aufscheinen der Mitteleuropaproblematik (z.B. beim Philosophen Karel Kosík), die später, Anfang der 1980er Jahre, von Milan Kundera zu einem international vieldiskutierten Thema gemacht wurde. In den sechziger Jahren diente das Kulturkonzept „Mitteleuropa“ zur Legitimierung der Sozialismusreformen: Durch Hinweise auf die unterschiedlichen kulturellen und zivilisatorischen Entwicklungen in Mitteleuropa und auf die – besonders zum Osten – differenten politischen Erfahrungen der hier lebenden Völker sollte das Recht auf einen eigenen Weg zum Sozialismus, der seiner ursprünglich humanistischen Intention eher gerecht würde, begründet werden.12 Nur am Rande möchte ich hier daran erinnern, dass mit dieser Generation die bekanntesten Werke der tschechischen Kultur der 60er Jahre verbunden sind. (C) Eine relativ homogene Gruppe der Nachkriegsgeneration war die dritte, die sog. Generation der Zeitschrift „Tvář“ (Antlitz), manchmal auch Václav-Havel-Generation genannt. Sie umfasste insbesondere die zwischen 1935 und 1945 Geborenen, und ihre Angehörigen haben den Stalinismus meistens als Objekte entsprechender Maßnahmen erlebt. Die Havel-Generation ist allgemein durch ihre sehr differenzierte Beziehung zum Sozialismus überhaupt und durch einen kritischen Standpunkt zur tschechischen sozialistischen Wirklichkeit insbesondere zu charakterisieren. Dazu gehört auch der Versuch, einige allgemeine tschechische nationale Mythen und Stereotypen zu problematisieren. Der Erfahrungshorizont dieser Generation wurde vor allem durch totalitäre („klassenkämpferisch“ argumentierende) Interventionen in die Sozialstruktur der tschechischen Gesellschaft nach dem Jahre 1948 und deren Folgen geprägt, insbesondere durch die Kollektivierung
12 Nach Kosík ist es nämlich „ein Unterschied, ob man die ‚tschechische Frage‘ (d.h. die Frage nach der politischen und kulturellen Identität des Tschechentums – M.H.) als Frage einer zwischen Ost und West lebenden kleinen Nation, oder als Problem einer politischen Nation in Mitteleuropa stellt. Im ersten Falle will man wissen, wie es in diesem exponierten Raum überleben kann, im zweiten fragt man, was für eine Beziehung zwischen Mitteleuropa und einer politischen Nation besteht […]“. Anders gesagt: für Kosík sind die Tschechen eine „politische Nation nur in dem Ausmaß, in welchem sie Mitteleuropa mitgestalten“. (Vgl. Karel Kosík, Iluze a realismus [Illusionen und Realismus], in: L, [Literární noviny], Jg. I, (1968), Nr. 1, S. 1.
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der Landwirtschaft, durch politische Prozesse und durch die ideologische Gleichschaltung der Kultursphäre. Diese Generation ist etwas später ins Blickfeld geraten13, nämlich Mitte der 1960er Jahre, dass heißt in der Zeit einer deutlichen Lockerung des Systems. Die damalige Begründung der Zeitschrift Tvář und ihre weltanschauliche Orientierung wurden von politisch und publizistisch tätigen Repräsentanten der Pavel Kohout-Generation misstrauisch gesehen und als unverantwortliche Störung der eigenen Sozialismusreformkonzepte kritisch kommentiert.14 Die Zeitschrift Tvář, zu deren Autoren mehrere der späteren Politiker und Politologen aus der ersten Zeit nach der „samtenen Revolution“ wie Václav Havel, Václav Klaus, Milan Uhde, Emanuel Mandler, Bohumír Doležal u.a. gehörten, wurde damals nach zwei Jahren mit Hilfe der Reformisten eingestellt und 1968/69 verboten. Die Tvář-Generation versuchte neben einer breiteren Orientierung an modernen europäischen Geistesströmungen auch ein ganz anderes Verhältnis zur tschechischen Kultur der Ersten Republik aufzubauen. Für sie war die linksorientierte tschechische Avantgarde nicht so wichtig und interessant (wie dies für die Kohout-Generation galt), sie hoben eher andere künstlerische Strömungen der Zwischenkriegszeit hervor, wie zum Beispiel die tschechische katholische Moderne und insbesondere die ästhetischen Einzelgänger der Literatur der Ersten Republik wie Ladislav Klíma, Richard Weiner oder Jakub Deml. Auch Georg Lukács’ Ästhetik und seine Auffassung der modernen Kunst, die z.B. damals entscheidend für Milan Kundera war15, schien für die Tvář-Generation in ihren klas13 Als ein verspätetes Manifest dieser Generation, in dem die Schriftsteller Jiří Gruša, Petr Král, Karel Hvížďala, Václav Bělohradský, Markéta Brousková, Antonín Brousek, Ivan Binar, Petr Kabeš, Eda Kriseová, Andrej Stankovič, Věra Jirousová, Jaroslav Hutka, Pavel Šrut, Karel Kryl, Petr Podhrázský, Jaroslav Vejvoda, Sylvie Richterová a Tomáš Frýbort aufgetreten sind, kann man den Sammelband Generace 35–45 [Generation 35–45], München 1986, betrachten. Dieser nach 1968 in manchem uneinheitlichen Generation, deren Mitglieder teilweise im Exil wirkten, sind auch eine Reihe anderer Dissidentenautoren zuzurechnen, die aus verschiedenen Gründen an diesem Sammelband nicht mitwirken konnten, wie Václav Havel, Milan Uhde, Jan Sokol, Petr Pithart, Václav Klaus, Jan Beneš, Jaroslav Kořán, Bohumír Doležal, Jan Lopatka, Emanuel Mandler, Ivan Wernisch, Jaroslav Střítecký, Pavel Švanda, Ilja Srubar u.a., wie auch einige weitere aus der sog. „grauen Zone“ der „Normalisierung“, die sich erst nach der „Samtenen Revolution“ intellektuell durchgesetzt haben. 14 Doch nur wenige Mitglieder der Kohout-Generation, wie z.B. der Publizist und Sartre-Übersetzer Antonín J. Liehm, der Emigrant und Herausgeber der Zeitschrift Lettre International war, sahen schon damals deutlich, was sich später noch verstärkte, nämlich, dass Václav Havel „Gefühle der eigenen Generation ungemein genau [ausdrückt], sozusagen quer durch ihre politischen und anderen Zugehörigkeiten. Er drückt sogar Gefühle einer folgenden Generation aus. Wer das nicht versteht, hat in diesem Land alles verloren, und zwar ein für allemal …“ (Antonín J.Liehm, Generace [Generationen], Praha 1990, S. 320). 15 Vgl. dazu insbesondere die erste Fassung von Milan Kunderas Essay Die Kunst des Romans, die Anfang der 1960er Jahre in tschechischer Sprache erschien.
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sizistischen Neigungen völlig unbedeutend. Philosophisch wurden führende Mitglieder der Tvář-Generation stark durch das Werk von Jan Patočka und durch dessen Interpretationen der Werke von Edmund Husserl und Martin Heidegger sowie teilweise auch durch den Literaturhistoriker Václav Černý beeinflusst.
III. Die Auseinandersetzung dieser beiden Generationen gipfelte nach der sowjetischen Okkupation im Winter des Jahres 1968 in einem Streit zwischen Milan Kundera und Václav Havel – den man auch als Streit über das sog. „tschechische Schicksal“ („český úděl“) bezeichnet –, in dem die beiden Protagonisten (und weitere Mitdiskutierende) über die Bedeutung und das Schicksal des „Prager Frühling“, über die Anfänge „politischer und gesellschaftlicher Normalisierung“ und über eine Zukunft des Sozialismus im Land überhaupt leidenschaftlich polemisierten.16 Die Diskussion über das tschechische Geschick entflammte nach Erscheinen des gleichnamigen Essays von Milan Kundera in der Weihnachtsausgabe der Wochenzeitschrift Literární noviny17, die damals unter dem Kürzel „L“ erschien. Václav Havel reagierte dann in der Zeitschrift Dnešek [Heute] unter dem Titel Ein tschechisches Geschick?18. Die ganze Diskussion setzte sich sodann in den Brünner Monatsheften Host do domu [Gast im Hause] fort, wo Kundera mit dem Aufsatz Radikalismus und Exhibitionismus auf Havels Kritik antwortete19 und wo danach noch weitere Publizisten (die wichtigsten Beiträge wa16 Für ein besseres Verständnis dieses Streites wie auch der ganzen Entwicklung zwischen dem „August 68“ und dem Auftreten Husáks scheint es nützlich, drei alternative Konzepte einer möglichen politischen Weiterentwicklung zu erwähnen: ein sog. „Normalisierungskonzept“ und daneben ein „realistisches“ und ein „radikales“ Konzept (vgl. L. Kosík, Iluze a realismus, wie Anm. 12). Für keines von ihnen hatte man sich damals, im Herbst 1968, entschieden und jedes von ihnen zeigte – idealtypisch gesehen – die damalige Okkupationsrealität und ihre weiteren Perspektiven von einer anderen politischen Position und mit differenten weltanschaulichen Erwartungen verbunden. In allen drei spielten neben Fragen nach den ökonomischen Perspektiven des sozialistischen Systems die damit zusammenhängenden Probleme des Verhältnisses zwischen Nation und Sozialismus eine wichtige Rolle – wobei dies freilich in den 60er Jahren ein immer wiederkehrendes Thema mehrerer Diskussionen unter kommunistischen Intellektuellen war. Man kann es als ein Kompensationselement gegenüber den Folgen der imperial russisch ausgelegten Lehre des „proletarischen Internationalismus“ betrachten. 17 Milan Kundera, Český úděl, [Ein tschechisches Geschick] in: L [Literární noviny], Jg. 1 (1968), Nr. 7–8, S. 1. 18 Václav Havel, Český úděl? [Ein tschechisches Geschick?], in: Dnešek, Jg. I (1969), Nr. 1, S. 1; hier arbeite ich mit der Fassung in: Host do domu, Jg. 16, (1969), Nr. 15, S. 20–23. 19 Milan Kundera, Radikalismus a exhibicionismus [Radikalismus und Exhibitionismus], in: Host do domu, Jg. 16, (1969), Nr. 15, S. 24–29.
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ren Antlitz der Verwandlung und Geschick der Selbsttäuschung von Jaroslav Střítecký20 und Metakritik der Krise von Lubomír Nový21) ihre Stellungnahmen formulierten. Polemische Texte konnte man zu dieser Zeit auch in anderen Periodika finden. Im Spätfrühling des Jahres 1969 wurde diese Diskussion von der erneuerten Zensur gestoppt, genauer gesagt: verboten. Ich kann hier aus Platzgründen nicht alle Kontexte der Auseinandersetzung Milan Kunderas mit der damaligen Situation aufzeigen. Unter der pathetischen Parole eines „tschechischen Schicksals“, das nach Kundera darin besteht, dass die tschechischen kulturellen und politischen Aufschwünge immer durch äußere Feinde unterbunden wurden, versuchte er, die kulturgeschichtliche Rolle „kleiner Nationen“ in der Ideengeschichte aufzuzeigen – mit der zentralen Überzeugung, dass diese immer den Machtspielen der Großmächte ausgesetzt gewesen seien. An Kunderas Reflexionen scheinen vor allem drei Motive interessant und einer Diskussion wert zu sein. Vor allem gilt dies für seinen Versuch, die Ereignisse des Jahres 1968 in einen breiteren Kontext der tschechischen Nationalgeschichte einzuordnen; nach Kundera handelte es sich nur um eine neue Version der alten, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts diskutierten „tschechischen Frage“, dass heißt der Frage nach der tschechischen Identität als einer kleinen Nation, nach ihren historischen Existenzrechten und ihrer kulturellen Produktivität. Überdies versuchte Kundera den Begriff des Sozialismus national-patriotisch zu präzisieren. Ihm zufolge darf nicht mehr gelten, dass das nationale Leben einer unitaristischen Sozialismusvorstellung untergeordnet wird, sondern umgekehrt sei zu fragen, wie der Sozialismus zu den Traditionen der nationalen Kultur und Politik passt und was seine Idee für die Nation gegenwärtig bedeuten kann. Und schließlich war seine These, dass trotz der russischen Okkupation die Grundprinzipien des tschechischen Reformsozialismus überlebt und sich erhalten hätten.22 Václav Havel bezeichnete das Ganze in seiner Polemik als einen „provinziellen Messianismus“, der „das hervorhebt, was anderswo als normal gilt“, und als Versuch, die historische Verantwortung der eigenen Generation auf einen äußeren Feind zu übertragen. Besonders lehnte er die letzte These Kunderas zum Weiterleben des „Prager Frühling“ ab, 20 Jaroslav Střítecký, Úděl proměny a tvář sebeklamu [Geschick der Verwandlung und Antlitz der Selbsttäuschung], in: Host do domu, Jg. 17, (1969), č. 5, S.16–22. 21 Lubomír Nový, Metakritika krize [Metakritik einer Krise], in: Host do domu, Jg. 17, (1969), č. 9, S. 15–20; hier arbeite ich mit einem seinerzeit vom Zensuramt konfiszierten Exemplar. 22 „Die Bedeutung der neuen tschechischen Politik war zu weitreichend, als dass sie auf keinen Widerstand stoßen könnte. Der Konflikt war freilich drastischer, als wir ahnen konnten, und die Prüfung, der die Politik ausgesetzt wurde, war brutal. Doch ich lehne ab, es als eine nationale Katastrophe zu bezeichnen, wie es heute unsere gewissermaßen weinerliche Öffentlichkeit macht.“ (Kundera 1968, S. 1).
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die Havel als Indiz dafür zu entlarven versuchte, dass Kundera die beginnende „Normalisierung“ nach sowjetischen Vorstellungen nicht wahrnehme. Und viele hätten damals hinzugefügt, dass Kundera die Tatsache nicht sehen will, dass die sowjetische Okkupation die politischen Machtpositionen und ideologischen Überzeugungen der älteren, deutlich antireformistisch geprägten „Wirtschaftskrisengeneration“ stabilisierte und im Lande eine neo-stalinistische Situation schuf. In seiner Antwort versuchte Milan Kundera die eigenen Argumente weiter zu entwickeln, wobei er die europäische Bedeutung des tschechoslowakischen Reformsozialismusversuchs hervorhob und Václav Havel als einen Menschen bezeichnete, der zum Sozialismus nur eine äußere Beziehung habe. Havels „ursprünglich moralische Haltung“ verwandele sich – so Kundera – in einen „reinen moralischen Exhibitionismus.“23 Milan Kundera ließ sich hier auf eine politische Polemik ein, die niemals seine Stärke war, und versuchte das zu retten, was damals vielen anderen, besonders den Jüngeren, bereits als ausgehöhlt, missbraucht und zusammengebrochen erschien, und was insofern auch deutlich in entsprechenden Generationsvorstellungsmustern verankert war, nämlich die Idee des Sozialismus selbst. Einen kritischen Standpunkt Kundera gegenüber nahm sodann der Brünner Musikologe Jaroslav Střítecký ein, der Havels Recht, den Aufbau des Sozialismus von außen zu sehen, als ein authentisches Recht seiner eigenen Generation gegen Kundera verteidigte. Kunderas Argumenten warf er vor, in generationsbedingten Illusionen über den Aufbau des Sozialismus und seine historische Notwendigkeit verhaftet zu sein, in Illusionen, die in der aktuellen Situation immer deutlicher mit einem Stereotyp des tschechisch-nationalen Schicksals verbunden würden. Die Sozialismusvorstellungen der Kohout-Generation würden so von ihren konkret historischen Formen getrennt werden und drohten sich dadurch in eine neue „nationale Ersatzideologie“ umzuwandeln.24 Die Kohout-Generation hat sich nach Střítecký sozusagen „von Karl Marx zu František Palacký“25 zurückgezogen, vom Klassenkampf zur Nation, was nicht nur das „restaurativkonstruktive Vergessen“ der eigenen, politisch kompromittierten Jugendzeit ermögliche, sondern auch, sich zugleich erneut als eine politische Avantgarde zu verstehen. Eine vermittelnde Zwischenposition versuchte der Brünner Masaryk-Forscher Lubomír Nový einzunehmen26, wobei er diese durch eine Abschwächung von Havels und Stříteckýs Generationsperspektive zugunsten der Position einer breiteren historischen So23 Kundera, Radikalismus a exhibicionismus (wie Anm. 19), S. 27. 24 „Ein romantischer Begriff der Nation […] wurde erneut zu einem flexiblen Instrument, das die fiktive Vereinigung eines neuen, nachrevolutionären „Wir“ ermöglichte, [...] die freilich nur eine Selbsttäuschung ist, die dieser Generation helfen sollte, sich noch immer als eine Tête der historischen Bewegung zu sehen.“ (Střítecký, wie Anm. 20, S. 19.) 25 Ebd., S. 21. 26 Wie Anm. 21.
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zialismusbewegung untermauerte. So konnte er Stříteckýs moralische Ansprüche an jede Politik zwar akzeptieren, doch dessen Ausgangspunkt von Generationsunterschieden, die bei Střítecký in der These gipfelten, dass es sich bei der Reformsozialismusbewegung um eine „Odyssee der Mystifikatoren und Mystifikationen … handelt, […] die nur ein Moment dessen sind, was sie zu reformieren versuchten“, lehnte er prinzipiell ab. Nach Nový ist Stříteckýs Generationskonzept, besonders hinsichtlich der historischen Wandlungen der Sozialismus- und auch Nationalismusideen, soziologisch schwach und eigentlich nur als ein entmythologisierender Mythos zu verstehen. Daher sprach er mit Blick auf die diskutierten Probleme von einer „vereinheitlichenden Idee“ der allgemein gefühlten „Krise der modernen Welt“. Und in diesem Sinne waren für ihn die Reformversuche im Frühling des Jahres 1968 keine Erscheinung irgendeines vereinfachenden und naiven „Liberalkommunismus“, sondern das natürliche Ergebnis der langen Entwicklung eines „authentischen“ (d.h. nichtdogmatischen) Marxismus: „Die Ideologie der Erneuerung […] war der Versuch einer marxistischen Lösung neuer Probleme moderner Gesellschaften im Geiste einer sozialistischen Alternative.“
IV. Die Diskussion der Probleme, die diese Polemiken aufwarfen und damit zu einer deutlichen Verfestigung von intergenerationellen Stellungnahmen führten, fand in der breiten Öffentlichkeit kein großes Echo, zumal diese inzwischen von der politischen Moral der kommunistischen Parteifunktionäre und von der Politik überhaupt immer stärker enttäuscht war. Deswegen ist Kunderas Antwort auf Havels Kritik nicht als Formulierung irgendeines politischen Programms für die Zukunft zu verstehen, wie man sie in Tschechien zu lesen versucht, sondern eher nur als Aufforderung zu bürgerlicher Anständigkeit, patriotischer Einheit und Erhaltung des eigenen moralischen Charakters – Tugenden, die sich so gut in den ersten Tagen der Okkupation bewährt hatten. Und es zeigte sich immer deutlicher, dass die Generation, die folgen sollte, die sozusagen daran gehindert wurde, sich von einer „An-sich“- in eine „Für-sich-Generation“ zu verwandeln, und die sich dann in eine generationsunspezifische „graue Zone“ zwischen Nomenklatura und Dissidenz auflöste, gänzlich die sozialistische Perspektive ablehnte, die bei der Tvář-Generation noch eine gewisse Rolle spielte. Das kann man schon aus den Beiträgen der damaligen jüngsten Publizisten herauslesen27, bei denen sich die Enttäuschung über die Politik mit der Enttäuschung am Sozialismus prinzipiell verband. Vielleicht auch deswegen konnte man der sozialistischen 27 Vgl. dazu z.B. die mit „ned“ ( J. Nedvěd) signierten Kommentare Praktické poučení [Praktische Belehrung], in: Tvář, (Příloha), 1969, č. 5, S. I oder „M.Š.“, Rozhovor se Slavomírem Větrovcem, stu-
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Geschichts- und Gesellschaftsperspektive (und den Ideen des „Prager Frühling“) während der „Samtenen Revolution“ nur am Rande der ansonsten heftig diskutierten politischen Programme begegnen.
dentem filosofické fakulty [Gespräch mit Slavomír Větrovec, einem Studenten der Philosophischen Fakultät], in: Tvář, (Příloha),1969, č. 3, S. V.
Hans-Klaus Jungheinrich
1968 – Ästhetik des Aufbruchs?
I. Aufbruch, Anbruch, Durchbruch, Abbruch: Es gab Risse und Brüche im Gebälk des deutschen Adenauerlandes und der halbautoritär gaullistischen ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, und zerrissen war ebenso die amerikanische Gesellschaft infolge der imperialistischen Ambitionen in Vietnam und des Versuchs, antikommunistische Positionen im petrifizierten Kalten Krieg vorwärtsstrategisch auszubauen. (In den Memoiren von Henry Kissinger erscheint Vietnam als entscheidende Etappe eines männlichen Zweikampfs, in dem der absehbare Verlierer, also Amerika, um jeden Preis sein Gesicht zu wahren habe, also auch um den Preis vieler weiterer Toter und Krüppel.) Spiegelbildlich dazu sicherte die Sowjetunion ihren Einflussbereich dadurch, dass sie mit Truppenkontingenten des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei einmarschierte, um das dort ein halbes Jahr lang praktizierte Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ zu ersticken. Aufbrüche, die nicht sonderlich weit zu reichen schienen: Willy Brandt, nach 1969 Kanzler einer sozialliberalen Regierung in Bonn, erreichte mit seiner „neuen Ostpolitik“ zwar internationale Entspannung, aber keine Erosion des realsozialistischen Systemblocks. Aufbrüche, die ins Scheitern führten, mithin zu Abbrüchen wurden: Prag 1968 und Chile 1973. Aufbruch als Zusammenbruch: die Mutation radikaldemokratischer Studenten zu Terroristen. Der orthodoxe Kathederkommunismus, der sich gerade in den sowjetisch gegängelten Ländern behaglich in den Sesseln seiner Gelehrsamkeit zurücklehnte, konstatierte angesichts der Beunruhigungen des bleiernen „deutschen Herbstes“ bei den RAF-Aktivisten die Verdrehtheit eines mit aller Gewalt das Sein bestimmen wollenden Bewusstseins. Das Schockierende bei einer Persönlichkeit wie Ulrike Meinhof war ja ein moralischer Rigorismus, so unkorrumpierbar und konsequent, dass er in Inhumanität, in Barbarei mündete. Der tragische Lebensirrweg Ulrike Meinhofs spielte die Schicksale existentialistischer Helden und Antihelden von Sartre oder Camus mit einer Schraubendrehung ins Absurde durch, diesmal aber in der Realität. Absurdes Theater einer Revolution. Als theatralisierte Bilder ästhetisierter politischer Radikalität gehören die RAF-Kämpfer zum zwielichtigen Hausschatz der Utopie; zu Gestaltern von Wirklichkeit taugen sie offenbar nicht. Realitätsgehalt gewönnen sie nur unter Verhältnissen, die tatsächlich so barbarisch wären, wie die Welt von 1968 wahnhaft von ihnen eingeschätzt wurde, wo ein schrecklicher Unfall – der Tod des Studenten Benno Ohnesorg bei einem Schahbesuch in Berlin im
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Juni 1967 – als Indiz schrankenloser staatlicher Gewaltbereitschaft eine fatale Überinterpretation erfuhr. Aufbruch und Anbruch: In der Sphäre des Ästhetischen hat die triftige, aber immer wieder auch einem erstarrten Denken dienliche, wenn nicht gar als Totschlagargument verwendete Formel „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ keine Gültigkeit ohne die dialektische Kehrseite eines Bewusstseins, das das Sein antizipiert. Bis zu Ernst Blochs Geist der Utopie und Prinzip Hoffnung, gewaltigen Entwürfen, die sich heute wie Märchenbücher verlorener möglicher Weltverbesserung lesen, vermochte sich das – durchaus auf materialistische Seinsentfaltung bezogene – visionäre Bewusstsein an positiven Utopien zu nähren. Heute begründet sich ein die Tendenzen des Faktischen erkennendes und sie als konkrete Bedrohungsphantasie fortschreibendes Bewusstsein eher negativ in der Sorge um den Bestand unserer Seinsgrundlage und die Erhaltung knapp gewordener natürlicher Ressourcen. Das wache Bewusstsein als lebensrettende Instanz in einer technologisch hochgerüsteten Zivilisation, in der das in sich ruhende Sein der natürlichen Instinkte zu unangepasst und „antiquiert“ ist, um aktuelle Gefahren wie etwa radioaktive Strahlenbelastung spontan zu spüren wie einen Schlag mit der Holzkeule – das war das Thema von Günter Anders. Die Jahre um 1968 waren gewissermaßen eine Kammlinie zwischen diesen beiden kontroversen Bewusstseinsorientierungen. Ohne schon die Perspektive einer ökologischen Erschöpfung zu kennen, probte der Zeitgeist damals die Erfüllungsarbeit an den konkreten Utopien Blochs, aber auch den vielleicht überfälligen Bruch mit etlichen sexuellen Normen und Tabus. Scheinbar unpolitisch hatte in Westdeutschland ein zum Medienstar avancierter reformerischer Berater wie Oswalt Kolle der Prüderie der Adenauerrepublik die Leviten gelesen, aber die Lektüre von Wilhelm Reich belehrte wenig später die Studentengeneration darüber, wie sehr sexuelle Bevormundung und politischer Paternalismus zusammenhingen. Gleichsam eine Kammlinie im kollektiven Bewusstsein der Industrieländer war die Zeit um 1968 auch deshalb, weil sie von einer ungefährdeten wirtschaftlichen Prosperität geprägt war. Vom Kalten Krieg profitierten in den westlichen Ländern auch die „kleinen Leute“, indem das „Gespenst des Kommunismus“ hier eine zumindest halbwegs „soziale“ Marktwirtschaft ermöglichte, eine Rücksicht, die der nach dem Zerbruch des Realsozialismus endlich fessellose Kapitalismus der New Economy nicht mehr zu nehmen brauchte. Und es ist durchaus fraglich, ob seine derzeitige Krise wirklich schon sein Desaster bedeutet, wie es der stets schrill dem Zeitgeist voranfackelnde FAZ-Feuilletonist Schirrmacher weismachen will, weshalb diese Zeitung kürzlich gar den erfrischenden Satirikertitel „Frankfurter Arbeiter Zeitung“ zuerkannt bekam. Sozusagen ein Großvater des eifernd prophetischen Vorausstolperers Frank Schirrmacher war um 1968 Hans Magnus Enzensberger in einer der ersten Nummern der von ihm gegründeten Kulturzeitschrift Kursbuch, wo er zwar ahnungsvoll einen argumentativen „Baukasten“ für künftig anstehende ökologische Probleme bestückte, dabei aber in
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der Prognose bizarr falsch lag: Den Siegerplatz im Systemwettkampf um die ökologische Weltrettung sprach er ausgerechnet dem maoistischen China zu, den immerhin zweiten Rang dem Moskauer Imperium; der Kapitalismus der sogenannten „freien Welt“ musste sich als Schlusslicht sehen. Diese seltsame Rangordnung resultierte natürlich nicht aus vernunftgeleiteter Analyse, sondern war opportunistischer Ausfluss der seinerzeit in linken Intellektuellenzirkeln gängigen ideologischen Präferenzen. Wahrscheinlich war Enzensbergers Haltung, eine Variante von „Das Bewusstsein bestimmt das Sein“, damals nicht allzu weit vom studentischen Sektierertum entfernt; freilich hatte Enzensberger das für ihn bekömmliche Talent, seine Ansichten, so schroff sie sich darstellen mochten, immer wieder auch rasch und modegerecht wechseln zu können. „Das Bewusstsein bestimmt das Sein“ – als unausgesprochene und uneingestandene Devise war das aber wohl bei allen dem Geist von 1968 Nahestehenden, mit dem undogmatischen Marxismus Sympathisierenden, wirksam. Das Gefühl, Aufbruch müsse sein, das Bedürfnis eines Anbruchs von, eines Durchbruchs zu Neuem, eine oft vage, ungerichtete chiliastische Begeisterung, waren übermächtig. Damit verknüpfte sich Ungeduld. Am ungeduldigsten waren die eisernen und blutigen Moralisten der RAF.
II. War 1968, abzüglich der späteren sektiererischen und terroristischen Auswüchse, nicht überhaupt ein ästhetisches Phänomen? (Aber was heißt da abzüglich: Misst sich der Terror nicht seine eigene Schönheit zu? Geriet nicht die RAF zum eigentlichen Mythos der deutschen Achtundsechziger-Revolutionsenergie? Wurden ihre Akteure nicht im Untergang Helden – wie die als Engel des Scheiterns im Kollektivbewusstsein lebendigen Filmgangster?) Die deutsche Revolution finde in der Musik statt, meinte einst Kurt Tucholsky. Um 1968 kam es auch in der deutschen Bundesrepublik zu revolutionsähnlichen Erscheinungen, die zwar den kulturellen „Überbau“ betrafen, die ökonomische „Basis“ aber nicht tangierten. Die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt war abwesend, wenn sie nicht, als Gefolgsmasse der Bild-Zeitung, bei den Straßenkämpfen auf der anderen Seite der Barrikade stand. Es ging 1968 nicht um Geld und Brot, in der Hauptsache nicht einmal um bessere Studienmodalitäten, sondern um Schärferes, Idealeres: um freie Liebe, um die Machtergreifung der Phantasie, um die Abdankung angemaßter Autoritäten, um ehrliche Aufarbeitung des Faschismus, um echtes revolutionäres Denken und dergleichen. Um Musik ging es am allerwenigsten; die Konzertskandale Schönbergs und Hindemiths aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg oder den zwanziger Jahren, an die Tucholsky dachte, flackerten bis in die späten fünfziger Jahre und zur Berliner Erstaufführung von Schönbergs Moses und Aron in gemäßigter Virulenz zwar nochmals auf, aber in den Sechzigern hatte sich das mehr und mehr segmentierte, keinem konsistenten abendländischen
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Bildungsfundus mehr verpflichtete Musikpublikum mit der Existenz radikal-hermetischer „revolutionärer“ Musikarten abgefunden. Der typische Achtundsechziger hatte mit avancierter Musik nichts im Sinn; ob Student oder sonstwie „alternativ“ angehaucht, befriedigte er seine musikalischen Bedürfnisse gewöhnlich bei Bob Dylan, der als der größte Sänger aller Zeiten ausgerufen wurde, oder in der griechischen Eckkneipe. Bei Rembetiko- oder Theodorakis-Beschallung hatte er wohlfeil seine populäre Gemütserwärmung, demokratisch legitimiert und vom kämpferischen Geist in fernen Landen durchweht. Mit solchem Proviant bedurfte man eskapistischer Genüsse nicht; ihre eventuellen épater le bourgeois-Qualitäten waren unsichtbar geworden. Das Verächtliche am musikkulturell Gehobenen wurde damals sogar von den Kulturarbeitenden selbst verkündet, etwa von der langjährigen Wiener FAZ-Korrespondentin und Dichterin Hilde Spiel, die Herbert von Karajan, den Leuchtturm der Musikklassik, arrogant als „Inbild elitärer und kapitalistischer Hochkultur“ apostrophierte. Als eine Spielart von Kulturrevolution hatte die Achtundsechziger-Bewegung mit ihrer Hochkultur-Idiosynkrasie eine ungute Langzeitwirkung. Ihre Kader, beim „Marsch durch die Institutionen“ vielfach an kultur- und bildungspolitischen Machthebeln angelangt, trafen dann häufig kunstfeindliche, den vermeintlichen Luxus der Opernhäuser und Symphonieorchester drastisch beschneidende Entscheidungen – ganz im Gegensatz zur rührend-rührigen Kulturgläubigkeit im Realsozialismus und der dort üppigen, freilich immer offiziell observierten Kunstpflege. Besonders in sozialdemokratisch dominierten Kontexten – sie waren für die kulturelle Entwicklung in den letzten vier Jahrzehnten zumeist wirksamer als konservative – wurde klassische Musik ohne Skrupel aus dem allgemeinen Bildungsfundus eliminiert, ganz im Gegensatz zu den angeblich demokratischeren und aus der Popkultur hervorgehenden Musikarten, deren kommerzielle Affinitäten ironischerweise von den (einstigen) Antikapitalisten übersehen wurden. Partiturkenntnis und Instrumentalspiel gerieten zur Angelegenheit von Spezialisten. Eine derzeit modisch propagierte Wiederbelebung solcher Fertigkeiten unter dem Einfluss der Hirnforschung ist, wie die mit Wirtschaftsförderung argumentierende kulturelle „Standort“-Debatte, ein trauriger Witz: Die allgemein als Notwendigkeit gesehene Unterstützung von Musikalität entspringt dabei keinem primären ästhetischen Bedürfnis, sondern wird „instrumentalisiert“ als Kompensationsmittel gegen zivilisatorische Defizite (gutmütiger könnte man freilich auch meinen: So arbeitet die umwegige „List der Vernunft“).
III. Aufbruch, Anbruch, Umbruch, Durchbruch, Ausbruch – diese leuchtenden Vokabeln und ihr Phantasiegehalt werden sicherlich nicht ganz von dem öden Alltagslicht verschlungen, in das die Achtundsechziger-Morgenröte unweigerlich einmündete. Einige Komponisten
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reagierten deutlich auf die 68er-Strömungen; Hans Werner Henze spricht in diesem Zusammenhang sogar von seiner „politischen Bewusstwerdung“. Er stand in Verbindung mit Rudi Dutschke, den er nach dem Attentat im Frühjahr 1968 für einige Monate als Rekonvaleszenten in seiner Villa bei Rom beherbergte. Henzes Gäste waren auch Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und andere spätere RAF-Prominente, bevor sie in die Kriminalität und Illegalität abtauchten. (Eine Jugendfreundschaft zwischen den württembergischen Pfarrerskindern Gudrun Ensslin und Helmut Lachenmann grundiert die thematisch vielsträngig-hintergründige Lachenmannoper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern). Sektiererei und politische Gewalt blieben Henze jedoch fremd; eine Weile neigte er – wie Martin Walser – dazu, der DKP beizutreten, doch blieb er schließlich in der Nähe linkssozialdemokratischer Positionen. Seine Werke aus dieser Zeit könnte man der art engagée zurechnen: Im Recital El Cimarròn wird die dramatische Lebensgeschichte eines schwarzen Sklaven in Kuba musikalisiert; auch die 6. Symphonie ist erfüllt von den multiethnischen Stimmen dieser Tropeninsel, deren Atmosphäre Henze beflügelte, wenngleich zwei längere Aufenthalte im Lande Fidel Castros auch Enttäuschungen mit sich brachten. Am deutlichsten prägte sich Henzes politisierte Ästhetik aus in der 1975 uraufgeführten Oper Wir erreichen den Fluss (We Come to the River, nach einem Text von Edward Bond), in der Henze seine Tonsprache und seine dramaturgischen Vorstellungen analog zu den Avantgardisten am weitesten vorantrieb. Henzes kompositorischer Ort zwischen den beiden kontroversen Polen oder Orientierungsmarken des Darmstädter Serialismus und der „politischen Parteinahme mit ästhetischen Mitteln“ war damals zweifellos ein ganz besonderer – und umso reizvoller und faszinierender für viele aus der jüngeren Generation. Henze, deutlich traumatisiert von seiner Ungleichzeitigkeit, seiner Nichtintegriertheit in die strenge Gemeinschaft der Darmstädter Serialisten (Boulez, Nono und andere wortführende Insider verließen demonstrativ eine Aufführung des König Hirsch während der Ferienkurse), spürte gewissermaßen einen kreativen Nachholbedarf hinsichtlich des avancierten kompositorischen Materials; „1968“ gab ihm den Mut und den Elan, diese alte „Schuld“ einzulösen. Er verhalf avantgardistischen Konzepten, die in seinem Gesamtschaffen dennoch nur eine längere Episode darstellen, zu einer Nachblüte in einer Phase, als der Zenit etwa des „instrumentalen Theaters“ von Schnebel und Kagel bereits überschritten war und sich mit den durch das Fluidum von „1968“ sozialisierten Komponisten Wolfgang Rihm und Manfred Trojahn eine dezidierte Abkehr von Darmstadt anbahnte.
IV. Als politischer und ästhetischer Avantgardist reinsten Wassers war Luigi Nono für Henze zumeist ebenso Vorbild wie Antipode. Henzes Komponieren blieb jedoch ungleich mehr als das Nonos durchschossen von Traditionselementen, erfüllt von der Idee einer der
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Materialstimmigkeit sich widersetzenden „musica impura“. Mit seinen „revolutionären“ Sujets wurde Henze im bundesdeutschen Musikbetrieb um 1970 immer unbeliebter, was den Zuspruch einer linksintellektuellen Anhängerschaft nur noch vergrößerte. Ähnlich erging es Nono, der vorher und auch in den politisch beruhigteren achtziger Jahren in Deutschland mindestens ebenso erfolgreich war wie in Italien (in der DDR galt der Eurokommunist zwar ideologisch als genehm, doch tat sich der verspießerte reguläre Musikbetrieb hier schwer mit Nonos kompromisslosen klanglichen Realitäten). Zu den Aufgaben, die sich auch etablierte Berufskomponisten wie Henze nach 1968 stellten, gehört die bewegliche, sozusagen operative Handhabung des Metiers, also auch das Schreiben von einfacher, eingängiger „Gebrauchsmusik“ für bestimmte Anlässe (wie Demonstrationen) und für Laien. Auch die alte Idee der „Kollektivkomposition“ wurde dabei revitalisiert, etwa mit der recht bekannt gewordenen Kantate Streik bei Mannesmann, bei der Henze als primus inter pares in einem Team jüngerer Kollegen mitgearbeitet hatte. Viele Anregungen fanden die Henze oder Nono nahestehenden Komponisten in der Praxis und den theoretischen Schriften des Schönbergschülers Hanns Eisler, der zum Ansporn und Vorbild wurde und auch zum Namenspatron zahlreicher Laienchorgründungen aus dem Studentenmilieu. Linke Intellektuelle konnten sich in West und Ost einig fühlen mit ihrer Hochschätzung Eislers, zumal letztere den Zwiespalt sahen zwischen der offiziellen Gerühmtheit des Autors der DDR-Hymnenmelodie und den Vorbehalten, die die Kulturvögte gegen Eislers Ästhetik anmeldeten. Wie im Falle Brechts, handelte es sich dabei um eine generelle Aversion gegen die künstlerische Moderne und gegenüber Eislers nachdrücklichem Festhalten an poetologischen Errungenschaften der Schönbergschule. Eislers zweigleisigem Komponieren fielen Überbrückungen zwischen esoterischer Dodekaphonie dort und agitatorischer Arbeiterlied-Schlichtheit hier äußerst schwer – die Inhomogenität einer gleichsam mit avantgardistischem Bewusstsein politisch engagierten ästhetischen Praxis wurde dadurch evident. Entspannter um einige Grade zeigt sich diese Diskrepanz in Henzes Pragmatismus, einerseits gesellschaftlich „nützlich zu sein“ und andererseits unbeirrt dem flimmernden Stern der privaten Obsessionen zu folgen. Am heroischsten scheint Nonos Methode, die Inkommensurabilität der klingenden Rätselgestalten unverkürzt durchzuhalten und das politische Engagement zuvörderst oder gar ausschließlich als Element der „Beschriftung“ oder als mehr oder weniger der Wahrnehmung entzogene Materialbasis einzusetzen. Als Vademecum für geistig anspruchsvolle Achtundsechziger erwies sich die vom Suhrkamp-Verlag in drei Lieferungen veröffentlichte Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss: einzigartig schon in ihrer zwischen Roman und Großessay fluktuierenden Form, ebenso singulär als Fundgrube eines von der künstlerischen Moderne durchdrungenen antifaschistischen Bewusstseins; leider misst der der Bildenden Kunst und der Dichtung zugewandte Weiss der Musik nur eine marginale Rolle zu. Der Text von Weiss stellte klar, dass eine „Ästhetik des Aufbruchs“ stets auch aus ästhetischem Widerstand schöpft und
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sich legitimiert – in Erinnerung an Widerstandstraditionen, in eigener Unbeugsamkeit – jener Haltung, die Oskar Negt und Alexander Kluge, ebenfalls Lehrmeister der Achtundsechziger, mit dem schönen Wort „Eigensinn“ charakterisierten. Für Kenner des linken Zeitgeistes bedeutete es eine fast skurrile Travestie, dass Hans Magnus Enzensberger den „Eigensinn“ Negts und Kluges klaute und ihn im neuen Jahrtausend biographisierend auf einen adligen deutschen Militaristen namens von Winterstein applizierte, der so geschickt war, in den Nazijahren sich nach jeder Seite hin unauffällig zu machen.
V. Manches und sehr Unterschiedliches mag man dem kulturreformerischen, dem nachgerade auch kulturrevolutionären Geist von 1968 zuschlagen. Eine literarische oder subliterarisch-trivialkünstlerische Strömung jener Zeit bildete sich in Frankfurt am Main um die Satirezeitschriften Pardon und Titanic, und sie nannte sich, nicht ohne vielleicht allzu stolzen Verweis, „Zweite Frankfurter Schule“. Die erste, authentische wurde bekanntlich nicht zu Unrecht als Kern und Brutstätte des 68er Aufbruchs namhaft gemacht. Demgegenüber waren die Frankfurter Zeichner und Literaten Gernhardt, Wächter, Traxler, Henscheid und wie sie alle hießen stämmige Plebejer mit aufmüpfigem Habitus und einem mitunter kaum zu verbergenden kleinbürgerlichen Ressentiment. Immerhin veranstalteten sie schon in den frühen Sechzigern ein Happening, das an öffentlichem Erregungspotential die späteren Provokationen der Kommune 1 antizipierte. Der ganze Spaß bestand darin, dass sich die Pardon-Mannschaft zu einem feierlichen Kondukt formierte mit der Absicht, in der „Walhalla“ nahe Regensburg unerlaubterweise eine Büste des juvenilen Dichteridols Günter Grass aufzustellen – eine Ehre, die an diesem Platz nur bemoosten und längstverstorbenen Häuptern zukommt. Ebenfalls in Frankfurt gründete sich das „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“, schon in der Namensgebung eine Ohrfeige für Sprachregelungen à la Axel Springer (der bekanntlich immer nur die Formulierung „sogenannte DDR“ passieren ließ). Für das Blasorchester schrieben Musiker vom Range eines Rolf Riehm und Heiner Goebbels. Das Schillern zwischen Profi-Brillanz und haarsträubender Dilettanten-Emphase machte die Truppe zu einer ästhetischen Attraktion sui generis. Wollte man, im Zeichen einer Ästhetik des Aufbruchs, eine paradigmatisch-repräsentative Musikerscheinung der Achtundsechziger-Bewegung nennen, dann wäre das „Sogenannte Linksradikale Blasorchester“ dafür geeignet wie kaum ein anderes Phänomen. Hier fand tatsächlich eine Versöhnung von scheinbar Unvereinbarem statt: opaker Konstruktivismus ließ sich neben simplen, gar schlagerhaften Liedmodellen hören, die Anarchie wetteiferte mit solidem musikalischen Ordnungsdenken, das Streben nach Schönklang mit der kindlichen Freude am lärmenden Bruitismus. Doch solchem ästhetischen Aufbruch war das Verfallsdatum offenbar unweigerlich eingeschrieben. Beim
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Blasorchester wie beim verwandten, vom Frankfurter SDSler und Cellisten Frank Wolff geschaffenen „Frankfurter Kurorchester“ (eigentlich einem Kammerensemble) wurde allmählich so etwas merklich wie eine selbstgenügsame, nestwarm auf ein ganz bestimmtes Publikumssegment zugeschnittene Sonderkultur, gleichsam eine Vergartenzwergisierung kulturkritischer Impulse. Die Veranstaltungen sonnten sich in einer bedenklichen Aura von Gemütlichkeit. Eine insbesondere in Westdeutschland flagrante Verarbeitungsdynamik des 68er-Impakts war somit die Verharmlosung des Widerstands gegen Autoritäten zu drolligen und putzigen, womöglich kabarettreifen Gesten des Andersseins und des Ungehorsams: Revolution als Biedermeier-Farce. Das traf sich mit einer zunächst wohl erfrischenden, später eher lästigen Respektlosigkeit vor der Hochkultur, deren Geltungsverlust damit vorprogrammiert war. Im halbdunklen Hintergrund solcher Tendenzen und Entwicklungen gab es, vor allem in den Ländern des damaligen Ostblocks, die Ahnung einer anderen, besseren politischen Wirklichkeit, die 1968 in der Tschechoslowakei und vor 1973 in Chile für kurze Zeit aufschien. In beiden Fällen handelte es sich um einen Sozialismus, der aus freien Wahlen hervorging bzw. die volle demokratische Legitimierung vorsah und das Wort „Demokratie“ endlich mit Leben zu füllen trachtete. In Prag waren es vor allem Künstler, Literaten, die diesen „Menschheitstraum“ hochhielten – auch in folgenden Zeiten der politischen Stagnation. Für sie war Kunst während dieser Periode nicht glaubwürdig ohne politisches Engagement. So waren die Jahre um 1968 in ihrem gesamten Spektrum und samt ihren betrogenen politischen Hoffnungen auch eine Zeit der ästhetischen Beunruhigung. Rebellisches Bewusstsein erwuchs damals – zumindest im Westen – eher aus dem Überfluss als aus unmittelbarer Not. Dieser Umstand trug zum spielerischen, auf sozusagen antiästhetische Art ästhetischen Charakter der Bewegung bei. Vierzig Jahre später sind die Voraussetzungen ganz anders; die 68er Erfahrungen ermöglichen jedenfalls keine zuverlässige Prognose. Zuverlässig nur die Einsicht, dass sich heute weniger denn je das Ende der Geschichte proklamieren lässt. Aufbrüche werden sein, An-, Um- und Durchbrüche vielleicht, in und trotz allen wahrscheinlicheren Einbrüchen, Zusammenbrüchen.
Hartmut Lück
Aufbruch – wohin? Die Musikentwicklung in Ungarn in den 1960er/1970er Jahren
Der Prager Frühling und die militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 waren europaweit, ja weltweit tagesaktuelle Ereignisse. Die Reaktion darauf in den sozialistischen Ländern selbst, vor allem die Reaktion auf die Intervention, war schon viel weniger erkennbar. Dabei können wir die ‚offizielle‘ Reaktion, d.h. die mehr oder weniger erzwungene Solidarisierung mit der Politik der Sowjetunion, hier außer Betracht lassen, und ebenso die scharfe Kritik an der Intervention aus solch ‚abtrünnigen‘ Ländern wie Jugoslawien oder Rumänien. Es gab in allen Ländern des Warschauer Paktes Gruppierungen, die mit dem Prager Frühling sympathisierten und folglich logischerweise die Intervention ablehnten; in der veröffentlichten Meinung konnte sich dies aus bekannten Gründen nicht widerspiegeln. Was jetzt die spezielle Situation in Ungarn betrifft, so gelten diese allgemeinen Voraussetzungen hier natürlich auch; zusätzlich aber ist Folgendes zu berücksichtigen: In Ungarn hatte eine Revolution – wenn man es so nennen will – und deren Niederschlagung bereits 1956 stattgefunden. Danach erfolgte zwar im Stillen eine blutige Abrechnung mit den Köpfen des Umsturzes, vordergründig aber lancierte der Parteichef János Kádár sehr geschickt eine vorsichtige Liberalisierung der Innen- und Kulturpolitik, ohne Provokationen des „Großen Bruders“, aber spürbar für die Menschen im Lande, die sich – um den Volksmund zu zitieren – nach der Devise „Wir sind die lustigste Baracke im Lager“ mit der Situation einrichteten. Zudem wusste man in Ungarn aus den Erfahrungen von 1956, dass vollmundig unterstützende Worte aus dem Westen keinen Heller wert waren: Radio Free Europe tönte damals „Haltet durch! Wir kommen euch zu Hilfe!“, aber es geschah natürlich nichts. So konnte man mit den kulturellen Verlautbarungen des „Prager Frühling“ zwar freundlich sympathisieren, da man in Ungarn eine vergleichbare kulturelle Liberalisierung ja ohnehin, wenigstens in Ansätzen, schon hatte. Nach der Intervention in Prag aber legten sich anfängliche Furcht und bänglicher Schrecken doch relativ bald. Man war ja selbst noch einmal davongekommen. Dass es im uns hier interessierenden Bereich der Musik zu keinen dezidierten Reaktionen auf „Frühling“ und Intervention gab, war aufgrund der allgemeinen Situation kaum anders zu erwarten; aber auch von geheimen, subkutanen Reaktionen, verborgenen Botschaften ist bisher nichts bekannt geworden. Ein Dmitrij Schostakowitsch veröffentlichte 1953 seine 10. Sinfonie eben als pure „Sinfonie“; das geheime antistalinistische Programm des Werkes wurde erst nach seinem Tode bekannt, obgleich man annehmen kann, dass
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die symbolisch gedachten Klangkonstellationen damals, quasi als Kassiber, die „Wissenden“ durchaus erreichten.1 Dergleichen, bezogen auf die Prager Ereignisse, scheint es in der ungarischen Musikszene nicht gegeben zu haben. Dass es trotzdem zu gewissen unkonventionellen, gegen Dogmatismus gerichteten Gruppierungen und später zumindest zu ansatzweisen Solidarisierungen mit der Prager Opposition kam, hatte wiederum spezifisch ungarische Voraussetzungen, die im Folgenden darzustellen sind. Die Durchsetzung der Ästhetik des Sozialistischen Realismus Ždanovscher Prägung fand in Ungarn nach 1948 günstige Voraussetzungen, da der Übervater folkloristischen Komponierens, Zoltán Kodály (1882-1967), hier die überragende und einflussreichste Musikerpersönlichkeit war. Inwieweit Kodály diese Übereinstimmung tolerierte oder gar beförderte und inwieweit zwischen 1948 und 1956 das Totschweigen der revolutionären Werke des „mittleren“ Béla Bartók von Kodály lediglich geduldet oder sogar mit betrieben wurde, sind Probleme, deren Lösung einer Generation von Forschern aufgegeben ist, die nicht dem devoten Schüler- und Enkelschülerkreis Kodálys angehören. Wie dem auch sei: in der vorsichtigen Liberalisierung der späten 50er Jahre setzten sich in der Neuen Musik Ungarns2 nach und nach kompositionstechnische Errungenschaften in der Nachfolge Darmstadts und Warschaus durch, angefangen mit den Sechs Orchesterstücken (1959) von Endre Szervánszky (1911–1977) und dem Streichquartett op. 1 (1959) von György Kurtág (geb. 1926), der zuvor ein Jahr in Paris verbracht und bei Olivier Messiaen studiert hatte. In den 1960er Jahren folgten auf diesem Weg Komponisten wie Zsolt Durkó (1934–1997) mit Werken wie Altamira oder Una rapsodia ungherese, Rudolf Maros (1917–1982) mit dem Orchesterzyklus Eufonia, Attila Bozay (1939–1999) oder Miklós Kocsár (geb. 1933); serielles Komponieren, wie streng oder frei auch immer, war als Facette mit zunehmendem Einfluss akzeptiert und etabliert. Ein Impuls aus Prag für eine kulturpolitische ‚Öffnung’ war also im Bereich der Musik praktisch nicht notwendig. Komponisten wie Zsolt Durkó oder der jüngere Zoltán Jeney konnten problemlos in Italien bei Goffredo Petrassi studieren, internationale Kontakte waren, wenn auch in bescheidenem Rahmen, möglich.
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2
Vgl. dazu Hartmut Lück, Psychogramm eines Überlebenden. Zu Semantik und Struktur der Zehnten Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch, in: Kunstwerk und Biographie. Gedenkschrift Harry Goldschmidt, hrsg. von Hanns-Werner Heister, Berlin 2002 (= Zwischen/Töne. Neue Folge, Bd.1), S. 375–392. Zur Musiksituation in Ungarn seit 1945 vgl. György Kroó: Ungarische Musik – gestern und heute, Budapest 1980. – János Breuer: Negyven év magyar zenekultúrája [Vierzig Jahre ungarische Musikkultur], Budapest 1985. – Hartmut Lück, Vom Bauernlied zur Reihentechnik. Die ungarische Musik heute, in: Europäische Begegnung, 8. Jahrgang, Heft 12, Dezember 1968, S. 606-611. – Éva Pintér und Hartmut Lück, Ungarn. VI: Das 20. Jahrhundert, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearbeitete Ausgabe, Sachteil Band 9, Kassel-Stuttgart 1998, Sp. 1144–1149.
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Eine wohl eher unfreiwillige Reaktion auf die Prager Ereignisse stellte die Uraufführung der Oper Hamlet von Sándor Szokolay (geb. 1931) am 19. Oktober 1968 in der Budapester Staatsoper dar; Szokolays Streichung der Shakespeareschen Schlussszene mit Fortinbras, dem neuen Herrscher aus dem Ausland, bekam demonstrativen Beifall, weil man dies als versteckte Anspielung verstand, und die tragische Figur des Helden ebenfalls, wohl deswegen, weil man glaubte, sie mit dem tragischen Prager Helden Alexander Dubček identifizieren zu können3 – was von Szokolay, so wie man die künstlerische Physiognomie dieses Komponisten kennt, wohl kaum beabsichtigt war. Es ist ein bekanntes Phänomen der Rezeptionsgeschichte, dass sich manche Wirkung gleichsam hinter dem Rücken des Schöpfers einstellt. Diese Art Liberalität bedeutete jedoch durchaus nicht ein „anything goes“. Die Wünsche und Vorstellungen einer jüngeren Generation waren radikaler und gingen über den Nachtrab des Darmstädter Serialismus weit hinaus. Diese Bestrebungen konkretisierten sich im Jahre 1970 mit der Gründung des „Új zenei stúdió“ („Studio der Neuen Musik“)4 durch die Komponisten Zoltán Jeney (geb. 1943), László Sáry (geb. 1940), László Vidovszky (geb. 1944), den Pianisten Zoltán Kocsis (geb. 1952) und den Musikwissenschaftler András Wilheim (geb. 1949); später kamen weitere Komponisten wie Barnabás Dukay (geb. 1950) und Zsolt Serei (geb. 1954) dazu. Als quasi externes Mitglied fühlte sich der schon früh im Westen tätige Dirigent und Komponist Péter Eötvös (geb. 1944) dem „Studio“ verbunden, und als sympathisierende Figur der vorhergehenden Generation wirkte im Hintergrund György Kurtág (geb. 1926), der nicht nur neue Werke in den Konzerten des „Studios“ aufführen ließ, sondern sich beispielsweise in verschiedenen Stücken seines sukzessive entstehenden Klavierzyklus Játékok („Spiele“) explizit in Titeln und Widmungen auf Musiker des „Studios“ bezog und deren stilistische Positionen musikalisch reflektierte. Das „Studio der Neuen Musik“ wandte sich gegen eine gewissermaßen satt etablierte Neue Musik und propagierte die Ästhetik und die Werke von John Cage, Morton Feldman sowie die der amerikanischen Minimalisten Steve Reich und Terry Riley. Frederic Rzewski kam zu einem Gastspiel und präsentierte seine Klaviervariationen El pueblo unido jamas sera vencido; Herbert Henck spielte die ungarische Erstaufführung der beiden Klaviersonaten von Charles Ives. Die Musiker des „Studios“ gaben Konzerte mit Gruppenimprovisationen und Happenings wie z.B. dem Autokoncert (1972) von László Vidovszky – verschiedene Alltagsgegenstände vom Kochtopf bis zur Spieluhr fal3 4
Vgl. dazu Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters. Das 20. Jahrhundert III. Ost- und Nordeuropa. Nebenstränge am Hauptweg. Interkontinentale Verbreitung. Kassel 2006, zu Szokolay S. 249–251. – Vgl. auch Lück (wie Anm. 2), S. 611. Ein Rückblick auf Selbstverständnis und Arbeit des „Studios der Neuen Musik“ findet sich bei András Wilheim, „Rottenbiller utca 16–22“. Zwanzig Jahre „Studio für Neue Musik“ in Budapest, in: MusikTexte 38, Februar 1991, S. 68.
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len nacheinander von einem Gerüst und erzeugen dadurch Klänge, eben „Selbst“-Klänge, ohne ausübende Musiker – oder Schroeders Tod, ebenfalls von Vidovszky (1975; benannt nach der Klavier spielenden Figur aus der Comic-Serie „Peanuts“), worin während des Spiels das Klavier präpariert wird, so dass man immer weniger Töne hört. Zoltán Jeney berechnete in Endspiel für Klavier (1973) eine monotone Tonfolge nach den Zügen eines Schachspiels. In einer Musiklandschaft des klassisch-romantischen und auch klassischmodernen Werkbegriffs wirkte all dies als Provokation; selbst ein Gastspiel des „Studios der Neuen Musik“ beim „Warschauer Herbst“ im Jahre 1976 führte zu lärmend abwehrenden Reaktionen im Publikum. Obwohl das „Studio der Neuen Musik“ vom Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes „KISZ“ („Kommunista Ifjúsági Szövetség“) gefördert wurde, ließ die Kritik von dogmatisch-staatstragender Seite nicht lange auf sich warten. Der Musikwissenschaftler und Musikjournalist János Breuer mäkelte in Zeitungskritiken an den Produktionen des „Studios“ herum, wo er die Spezifika der ungarischen Musikkultur – was immer darunter zu verstehen sein mag – vermisste; so verriss er in der Tageszeitung Népszabadság (15. Januar 1973) das Orchesterwerk Alef – Hommage à Schoenberg von Zoltán Jeney. Noch 1985 äußerte er sich in einer Buchpublikation über die neuere Musikgeschichte Ungarns verklausuliert abfällig, und zwar gleichermaßen über die damals auch in Ungarn sich ausbreitende historische Aufführungspraxis wie über das „Studio der Neuen Musik“ und andere Gruppierungen junger Komponisten: „Das ‚Új zenei stúdió‘ hat den wohlklingenden Anspruch auf sein Banner gesetzt, die Trennwände zwischen Schöpfern, Interpreten und Rezipienten der Neuen Musik zu stürzen. Eine Wand hat das ‚Stúdió‘ tatsächlich gestürzt, indem seine Komponisten regelmäßig bei den Wiedergaben ihrer Werke mitwirken. Es ist ein unvergängliches Verdienst dieser Gruppierung, daß sie viele wichtige Werke und Komponisten bekannt machte; ihre begabten Mitglieder bereicherten mit einigen bemerkenswerten – wenn auch nicht zahlreichen – Werken die neue ungarische Musik, wenngleich gerade in den Werken des ‚Stúdió‘ die Tradition der spezifisch ungarischen Intonation unseres Jahrhunderts unterbrochen wurde. Deshalb haben wir am Anfang vehement über die Existenzberechtigung des ‚Új zenei stúdió‘ diskutiert – dies erwähne ich hiermit durchaus selbstkritisch –; im Laufe der Jahre wurde allerdings klar, daß der Wirkungskreis dieses Unternehmens so bescheiden ist, daß es eigentlich verlorene Mühe war, die Existenzberechtigung aufgrund von richtigen oder eben falschen ästhetischen Gründen in Frage zu stellen. Nach der ‚Heldenzeit‘ in der Rottenbiller-Straße hat das ‚Stúdió‘ sein Außenseitertum zwar bewahrt, institutionalisierte sich aber allmählich. Seine – von Lektoren nicht eingesehenen – Werke werden bei den Konzerten der Nationalphilharmonie aufgeführt, seine führenden Komponisten (Zoltán Jeney, László Sáry, László Vidovszky) haben zwar nicht in dieser Zeit, aber danach durchaus schon ihre ‚Erkel-Preise‘ erhalten können. Indessen genießen sie immer noch unverändert die Aura eines ‚Fremdkörpers‘ (deshalb war es schade, sie zum Fremdkörper zu erklären). Die Lage der ‚Gruppe Junger Komponisten‘ ist unvergleichlich schwerer, da sie scheinbar unter der schützenden Macht des Ungarischen Tonkünstlerverbandes steht. Diese Gruppe ist durch Lebensalter und nicht durch Tendenzen geprägt; einige Mitglieder waren auch im ‚Stúdió‘ ver-
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treten. Zahlreiche von ihnen erwiesen sich als ‚richtige‘ Komponisten (Miklós Csemiczky, Lajos Huszár, István Mártha, Balázs Szunyogh, János Vajda usw.); indes erwartet die öffentliche Meinung seltsamerweise, daß diese Gruppe lauter junge Beethoven präsentieren soll. Das konnte freilich selbst die Zeit von Beethoven nicht vollbringen, geschweige denn unsere Epoche. Unser Musikleben brachte nun den merkwürdigen Querstand, daß der staatliche Veranstalter [= die Nationalphilharmonie, HL] mit Vorliebe unbesehen die Konzerte des ‚Új Zenei Stúdió‘ übernimmt, d.h. das Außenseitertum institutionalisiert, während die Konzertreihen der ‚Gruppe Junger Komponisten‘ erst durch zartes oder eben nicht unbedingt mehr ganz sanftes Zureden überhaupt ermöglicht werden. Hier findet keineswegs ein Kampf zwischen Qualität und Niveaulosigkeit statt, denn beide Gruppen boten einige akzeptable und wiederum zahlreiche nicht überlebensfähige Werke.“5
Die drei wichtigsten Vertreter des „Studios der Neuen Musik“, László Vidovszky, László Sáry und Zoltán Jeney, seien hier kurz charakterisiert. László Vidovszky ist in den ersten Jahren des „Studios“ vor allem durch szenische, dem Happening nahe Werke wie die erwähnten Autokoncert und Schroeders Tod hervorgetreten. Im Abwenden von der Tradition und dem traditionellen Werkbegriff war er sicher der radikalste unter den „Studio“-Mitgliedern und erregte entsprechend das meiste Aufsehen – eine konsequente Haltung, die aber wiederum einem internationalen Bekanntwerden im Wege stand. László Sáry6 galt lange als der „Lyriker“ im „Studio“, er verwendete ähnlich wie John Cage häufig Zufallsoperationen, etwa in der Art von dessen Atlas Eclipticalis, bewies in den merkwürdig in sich selbst kreisenden und rotierenden Klangwelten aber ausgesprochenen Sinn für Farben und eine in diesem Rahmen vielleicht nicht erwartete Expressivität. Eines seiner umfangreicheren Werke in diesem Stil ist A Continuity of Rotative Chords für zwei Klaviere und zwei Flöten (1975). Andererseits hat sich Sáry von klassischen bzw. klassischmodernen Formen auch wiederum nicht völlig losgesagt, wie etwa seine Drei Madrigale (1966) oder die Sonata grande für Klavier (1980), im Stile von Charles Ives, beweisen. Zoltán Jeney legte nach der Rückkehr aus Rom, wo er an der Accademia di Santa Cecilia Schüler von Goffredo Petrassi war, ein Werk für großes Orchester ohne Schlagzeug vor: Alef – Hommage à Schoenberg (1971–72). In diesem Werk versuchte er, das berühmte Stück Farben aus den Fünf Orchesterstücken op. 16 von Arnold Schönberg „neu zu denken“: ein über mehrere Oktaven gespreizter Akkord aus allen zwölf Halbtönen der chromatischen Skala wird ständig wiederholt, dabei aber in der Zusammensetzung, den Detailklangfarben, der Dynamik und den Ein- und Ausschwingvorgängen ebenso ständig geringfügig verändert. Es ist also kein Komponieren nach dem Prinzip der „entwickelnden Variation“ mehr, sondern ein statischer Klang kehrt immer wieder, wobei er gleichzeitig
5 6
János Breuer, Negyven év... (wie Anm. 2), S. 443–444 (Übersetzung: Éva Pintér). Nicht zu verwechseln mit seinem fünf Jahre älteren Bruder József Sári, ebenfalls Komponist; die unterschiedliche Namensschreibung ist Absicht.
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gleich und ungleich ist, oder „Dasselbe ist nicht dasselbe“, um hier einen Werktitel von Nicolaus A. Huber zu zitieren (Dasselbe ist nicht dasselbe für Kleine Trommel). Jeney entwickelte später Werke aus einem möglichst geringen Tonvorrat – eine manchmal geradezu asketische Konsequenz, etwa im schon erwähnten Klavierstück Endspiel oder in Kato NK 300 (1980) für ein beliebiges Soloinstrument, das die nur zwei Töne eines japanischen Baukrans nachahmt. Eine bewusste Kargheit der Mittel, in Entsprechung zu den literarischen Vorlagen, zeigen die Twelve Songs für Mezzosopran, Violine und Klavier (1975-83); im ersten Lied „May I feel said he“ nach einem Gedicht von E. E. Cummings ist der Refrain jeder Textzeile „said he“ bzw. „said she“ immer gleich, und jeder Melodieton erhält einen Begleitakkord des Klaviers. Eine musikalische Entwicklung oder Entfaltung findet nicht statt.7 „May I feel said he I’ll squeal said she Just once said he It’s fun said she May I touch said he How much said she A lot said he Why not said she...“
Besonders gepflegt wurden im „Studio der Neuen Musik“ Gruppenimprovisationen und Gemeinschaftskompositionen. Auch dies war ein Abschied vom traditionellen Werkbegriff, näherte sich den Klangvorstellungen von John Cage, aber auch des Free Jazz an. So entstand 1975 eine Gemeinschaftskomposition Hommage à Kurtág zum bevorstehenden 50. Geburtstag von György Kurtág (am 19. Februar 1976), an der sich Péter Eötvös, Zoltán Jeney, Zoltán Kocsis, László Sáry und László Vidovszky beteiligten. Jeder komponierte unabhängig von den anderen einen teils durchlaufenden, teils in Episoden aufgespaltenen Part; diese Teile wurden dann in den Proben zusammengesetzt. Da sich die Musiker untereinander natürlich gut kannten, ist das Ergebnis nicht völlig zufällig und beliebig, sondern offenbart durchaus einen gewissen Konzeptcharakter.8 Ist das „Studio der Neuen Musik“ somit im Wesentlichen eine innerungarische Erscheinung, so existierte es wiederum auch nicht völlig abgeschottet von anderen Ereignissen, nicht zuletzt durch seine internationalen Beziehungen und auch durch einen stilvoll gepflegten Nonkonformismus. Es passt zu dieser Rolle einer wenngleich nur kulturellen 7 8
Hartmut Lück, Zustand, Kreis und Continuum – drei Aspekte der Stille. Über den ungarischen Komponisten Zoltán Jeney, in: MusikTexte 10, Juli 1985, S. 17–21. Dies lässt sich anhand einer CD-Veröffentlichung (Budapest Music Center BMC CD 116) aus Anlass des 70. Geburtstages von György Kurtág und der 35. Wiederkehr der Gründung des „Studios“ im Jahre 2005 überprüfen; der Booklettext, wiederum von András Wilheim, enthält weitere Informationen über das „Studio“.
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inneren Opposition, dass im Jahre 1977 Zoltán Kocsis als prominentes Mitglied des „Studios“ – er machte damals immerhin schon international Karriere als Pianist – die auch außerhalb der ČSSR verbreitete „Charta 77“ unterschrieb; bei einem weiteren Aufruf 1979 folgten Unterschriften u.a. von Zoltán Jeney und dem Musikwissenschaftler János Malina. Dies blieb jedoch ohne Folgen: sowohl in Form eventuell zu befürchtender Sanktionen wie auch in Hinsicht des eigenen politischen Standpunktes, so weit sich dieser in irgendeiner Weise künstlerisch hätte artikulieren können oder wollen. Zoltán Jeney hatte sich zwar mit seinem Werk Cantos para todos (1983) an einer internationalen Solidaritätsbewegung mit den chilenischen Künstlern und den Opfern des faschistischen Militärputsches des Generals Augusto Pinochet beteiligt, verneinte allerdings ausdrücklich jegliche etwa politisch zu interpretierende Oppositionsrolle des „Studios“ wie auch einen dezidiert politischen Inhalt seiner eigenen Werke. Es ist natürlich nicht auszuschließen, ja es spricht sogar manches dafür, dass sich ein um das „Studio“ bildender Kreis von Musikern und Sympathisanten nicht nur als nonkonformistisch, sondern auch als in einem allgemeineren Sinne oppositionell empfand und dass manche hasserfüllte kritische Reaktion sowohl von der konservativen Partei-Seite wie auch aus der Ecke des dumpfen ungarischen Nationalismus und Chauvinismus eine politische Bewertung nahe legte – was wiederum, wie auch in vergleichbaren Konstellationen im Westen, innerhalb der selbsternannten Nonkonformisten als „schick“ empfunden wurde. Der im Westen gebräuchliche und zuweilen durchaus abfällig gemeinte Begriff des „Kultur-Linken“ mochte mutatis mutandis auch auf die Szene des ungarischen Nonkonformismus zutreffen, wenn auch in sehr viel bescheidenerem Rahmen und natürlich in den Grenzen dessen, was ohne Gefährdung der eigenen beruflichen Existenz möglich und tolerabel erschien. Eine politische Opposition war dies aber auf gar keinen Fall; eine gewisse Politisierung der künstlerischen Szene setzte erst nach der ‚Wende’ von 1989 ein, als eine nationalistische und chauvinistische Richtung sowohl in der Politik als auch in der Kultur Oberwasser bekam. Auch Komponisten wie etwa Zsolt Durkó oder Sándor Balassa (geb. 1935) entdeckten plötzlich ihre nationalen Neigungen und polemisierten gegen „internationalistische“ und „kosmopolitische“ Strömungen in der Szene der Neuen ungarischen Musik. So polterte Balassa schon 1989 in einem Artikel Gedanken über die nationale Musik: „Der Modernismus als in linksgerichteter Kleidung erscheinende, westeuropäische AvantgardeIdeologie ernährte sich aus mehreren Quellen, von denen keine zur Pflege der nationalen Kultur diente. Dazu gehörten zum Beispiel die wissenschaftliche und technische Revolution oder der Geschmack des in internationalen Verbindungen starken, doch der ungarischen Seele fremden städtischen Bürgertums sowie die internationalistisch geprägte kommunistische Bewegung.“9 9
Sándor Balassa, Gondolatok a nemzeti zenéröl [Gedanken über die nationale Musik], in: Hitel [Kredit], Jahrgang II, Nr. 24 vom 29. November 1989, S. 34, zitiert und übersetzt bei: Éva Pin-
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Bezeichnenderweise entspricht diese Terminologie, wie sie Balassa hemmungslos verwendet, nicht nur dem Vokabular des westlichen Rechtskonservativismus, sondern auch den Kampfschriften des Stalinismus gegen trotzkistische und andere Abweichler, wobei „internationalistisch“ und „kosmopolitisch“ als Synonyme für „jüdisch“ zu verstehen sind. Wenig später verzichteten die nach der ‚Wende‘ in Ungarn herrschenden Kreise10 sogar auf diesen Umweg und pflegten in aller Öffentlichkeit eine antisemitische Stimmungsmache, als deren Folge viele jüdische Kulturschaffende einzig und allein aus diesem Grund ihre Stellen verloren. Dass die selbsternannten Retter des nationalen Ungarntums, gerade im Musikbereich, selbst zu den Privilegierten des Sozialistischen Systems gehört hatten, wurde wohlweislich verschwiegen. Es erschiene somit als Überinterpretation, bestimmte Äußerungen, Proklamationen oder Verhaltensweisen aus dem weiteren Umkreis des „Studios der Neuen Musik“ als politische Opposition oder auch als Sympathiebewegung mit dem Prager Frühling und den Unterdrückten der Intervention zu verstehen. Ob und inwieweit aber auch die Vorstellungen und Verlautbarungen aus dem Umkreis des „Prager Frühlings“ selbst als illusionär, utopisch, idealistisch oder aus heutiger Sicht als rein nostalgisch einzustufen sind, ist eine Frage, die sicher noch weiterer Erforschung und kontroverser Erörterung bedarf.
tér, Ungarn: Neuverteilung von Subventionen. Serie über Komponistenförderung (Folge 3), in: Neue Zeitschrift für Musik 3 / 1991, März 1991, S. 10–14, hier S. 14. 10 Zur politischen Situation in Ungarn seit der „Wende“ bis heute vgl. ApuZ – Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament) Nr. 29-30 / 2009, 13. Juli 2009, mit Schwerpunkt Ungarn.
Utz Rachowski
Der letzte Tag der Kindheit1
„Wir sind allein bis sich die Zeiten ändern und jene die verraten wurden wie Pilger zurückkommen zu diesem Augenblick als wir uns nicht fügten und dieses Dunkel Dichtung nannten.“ (Leonard Cohen)
Die Straße. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Wo die Randstreifen enden, beginnen Felder. Wo die Felder enden, steht ein Ortsschild. Auf ihm steht: Reichenbach im Vogtland. Von diesem Schild aus sind es etwa noch hundert Meter bis zu einer Siedlung, die Stern-Siedlung heißt und hell am Himmel meiner Kindheit steht.
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Für die (seit langem vergriffene) Erstausgabe dieser Erzählung, die Utz Rachowski seinem Bruder widmete, schrieb Hans Sahl folgendes Vor wort: „Utz Rachowskis Erzählung gibt zum Nachdenken Anlass. Hier ist ein junger Autor, der die Konflikte unserer Zeit am eigenen Leibe erfahren hat und sich trotzdem nicht abschrecken lässt, ein Deutsch zu schreiben, das an die beste Tradition deutscher Prosa anknüpft. Utz Rachowski kennt die Probleme des Erzählens, er weicht ihnen nicht aus, er hat den Mut zu jener viel sagenden Einfachheit, die man Dichtung nennt. Die Beschreibung der Natur, die Schilderung von Menschen in einem ländlichen Milieu ist zugleich behutsam und präzise. Hier geht es um gute handwerkliche Arbeit. Utz Rachowski zeichnet mit fester Hand ein Gesicht, eine Haltung, eine Stimmung – die Stimmung einer Kindheit im Vogtland, voll von Erinnerungen an bestimmte Gerüche, Farben, Worte, Sätze: den Geruch von Flieder und blühenden Obstbäumen und den Geschmack von Eingemachtem im Keller der Großmutter, übrigens eine Figur, die man nicht mehr vergisst. Utz Rachowski hat die Fähigkeit, in der Idylle auch das Unheil, das ihr droht, anzudeuten, den Krieg im Frieden. Visionen von großer Eindringlichkeit tauchen auf, etwa die eines toten Offiziers, der mit gespaltenem Schädel, auf seinem Pferde liegend, vorbeireitet. Dies alles gesehen aus der Perspektive eines Kindes, das noch keine Zusammenhänge erkennen kann, sondern nur Einzelheiten, die sich einprägen, wie z.B. der schwarze Badeanzug eines Mädchens, das Martina heißt, oder die kleine bucklige Frau, vor der das Kind ausreißt, weil sie Leichen wäscht… Der letzte Tag der Kindheit ist ein Stück Prosa, von dem man sich ungern trennt. Es hat die Qualität eines vergilbten Familienalbums, in das man sich vertieft, als ob man es noch nie vorher gesehen hätte.“
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Durch sie führen drei Wege, die jedoch nicht Milchstraßen heißen, wie man vielleicht denken könnte, sondern Randweg, Mittelweg und Erich-Mühsam-Straße; nach der letzten schließt sich eine Häusergruppe an, die die Erwachsenen meiner Kindheit „die SA-Siedlung“ nannten, ein Name, der, wie ich mir dachte, wohl mit ihrer Kindheit zu tun hatte. Aber ich wohnte in der Stern-Siedlung. Der Mittelweg teilte sie in zwei Teile und führte, wie sein Name besagt, mitten hindurch. Gärten zu beiden Seiten, Wiesen, die grün im Schatten hoher Apfel- und Birnbäume lagen, vielfarbige Zäune und dicht gewachsene Sträucher, Johannisbeere, schwarz oder rot und Stachelbeerbüsche ermutigten, über die kleinen, niedrigen Zäune zu langen. Blumenbeete, Astern, Tulpen, Löwenmaul, und auf den Wiesen vereinzelte Krokusse und Schneeglöckchen begleiteten den Blick durch die kurze Jahreszeit meiner Kindheit. Und es gab eine Vielzahl kleinerer Hunde; Foxe, Pudel und langhaarige Dackel, die laut bellend an der Innenseite der bunten Zäune entlangliefen, um am Ende der Gärten, wo der Zaun jeweils einen Knick machte, dem Vorübergehenden wehmütig und schwanzwedelnd nachzuheulen, als wollten sie sich bei ihm für ihr wildes Gebell entschuldigen oder begreiflich machen, dies sei lediglich als freundliches Geleit in eine paradiesische Gegend zu verstehen gewesen. Vom Mittelweg ab, zwei Meter nach rechts, der dritte Garten, der mit dem gelben Ginsterstrauch und dem Pflaumenbaum an der Ecke, gehörte meiner Großmutter. Ein rotes Gartentor aus zusammengeschweißtem Metallrohr, an dessen Klang, wenn es von mir zugeschlagen wurde, ich mich genau erinnere, führte hinein. Der Weg aus Steinplatten, doppelreihig, dann rechts wieder Blumenbeete, ein Fliederbaum, zwei Büsche Pfingstrosen, dahinter ein Holzschuppen, dunkelbraun gefirnist, der anliegende Hühnerstall, ein Kirschbaum, die Wiese, Apfelbaum, Astern, Tulpen, Löwenmaul, vielleicht ein weißer Krokus im März; wer jetzt über den Zaun nach außen stiege, würde auf dem Mittelweg stehen und wäre im Kreis gegangen. Also erneut durchs rote Gartentor, der metallische Klang einer Kindheit, die ins Schloss fiel. Der Plattenweg, der Holzschuppen, Fliederbaum, aber jetzt nach links, einmeterfünfzig, drei Schritte. Die Tür zum Haus meiner Großmutter war nie verschlossen; man konnte unbemerkt eintreten. Im Vorsaal zwei Türen, eine nach links und eine nach rechts, gerade nach oben die steile Holztreppe in den zweiten Stock, von dort durch ein Zimmer weiter bis zum Dachboden. Aber die rechte Tür führt in die Küche. Wer sie öffnet, sieht meine Großmutter am Küchentisch stehen, links der Kohleherd, dessen Eisenplatten im Winter glühen und vor denen es sich zu hüten gilt. Also nehmen wir lieber an, es ist Sommer, das Licht ein wenig dunkel, weil im Hof der braune Holzschuppen die Sicht aus dem Fenster verdeckt. Ich sitze unter dem Fensterbrett auf einer Eckbank, daneben die Nähmaschine mit dem gefährlichen, zum Hineingreifen auffordernden Schwungrad, das jetzt jedoch stillsteht.
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Ich sitze auf der Bank, meine Großmutter steht am Tisch. Ich packe meine Schultasche für den nächsten Tag, Großmutter rührt Kuchenteig oder Mohnsemmeln. Mohnsemmeln gab es im Dezember, zum Jahreswechsel. Im Sommer Kirschschale. Manchmal, wenn ich von der Schule kam, mich schnell an den Tisch setzte, nachdem ich die Schultasche unter die Eckbank geworfen hatte, servierte meine Großmutter eine ihrer Spezialitäten. Kirschschale zum Beispiel: Gestampfte Kirschen mit Milch und rotem Zucker. Oder Mohnsemmeln, das Geheimrezept: Wasser und Mohn in einem Steintopf. Mit einem Holzstößel lange und kraftvoll verreiben, bis sich auf der Oberfläche des Breis eine milchige Schicht bildet. Dann gab meine Großmutter einige Weißbrotstücke in den Topf und stellte ihn auf die Kellertreppe; dort musste er noch einen Tag lang stehen. Ich sitze am Fenster auf der Bank. Ich kann, wenn ich hinausschaue, eine Ecke vom Garten sehen, den Fliederbaum, die beiden Büsche, an denen Ende Mai die Pfingstrosen blühen. Dahinter die Johannisbeersträucher, Tulpen, Astern, Löwenmaul sehe ich nicht, aber ein Stück vom Zaun, dahinter den Mittelweg, auf dem vielleicht gerade Herr Schimmack spaziert. Schimmack mit kurzen, grauen Haaren und einer Brille. Im offenen Hemd, in knielangen, grünen Lederhosen, Knickerbockern und langen, großgemusterten, schwarzroten Strümpfen, die in ebenfalls grünen Sandalen stecken. Auf offener Straße. „Ist die Kacke noch so locker, nichts geht durch die Knickerbocker“ – ist mir verboten zu rufen. Auf offener Straße und Schimmack nach. Der Schneider, sagt meine Großmutter. Und ich weiß, einmal hat Schimmack eine Hose für meinen Großvater gemacht, ein Großvater, zu dem ich nie „Opa“ sagte und der tot ist, gestorben nach einer Operation, an einem „Blutgerinnsel“, wie meine Großmutter sagt. Ich habe keine Erinnerung mehr an ihn, aber ein handtellergroßes Stück einer graugrünen Kreide, mit dem Schneider Schimmack einst bei meinem Großvater Maß genommen, verwahre ich noch auf dem Grund meiner Schultasche. Und weiß eigentlich nicht, wem ich dieses stumme Relikt zu danken habe, ob dieses Stück graugrüner Kreide eher meinem Großvater oder dem Schneider Schimmack zuzurechnen ist. Diese beiden, mit ihren unklaren Geschichten. Blutgerinnsel. Und bei Schimmack etwas von einem Beil, mit dem er gegen die Polizei aufgetreten sein soll und anschließendem Gefängnis. Wie gesagt, unklare Geschichten. Aber Schimmack, von dem meine Großmutter „der Schneider“ sagt, geht jetzt auf dem Mittelweg hinter den Johannisbeersträuchern entlang. Wozu, weiß ich nicht, vielleicht um ein Schneider zu sein. Großmutter mit ihren Geschichten. Klarer dann schon die über meinen Ur-Großvater, der vor sehr langer Zeit (da waren meine Mutter und mein Vater noch Quark im Schaufenster, wie meine Großmutter sagt), der also damals in einem Land, das Polen heißt, nachts auf einen riesigen Schornstein gestiegen sein soll, um dort oben eine rote Fahne zu hissen. Ganz allein. Und beim Runtersteigen hat er die Stufen der Eisenleiter mit Schmierseife eingerieben, um zu verhindern, daß die Polizei die Fahne wieder abreißt. Solche Geschichten erzählt meine Großmutter und rührt Kirschschale oder Mohnsemmeln. Die rote Fahne hat meinem Ur-Großvater damals einen fünfjäh-
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rigen Aufenthalt in einem – nun wieder ganz anderen Land, das Sibirien heißt, eingebracht. Doch an dieser Stelle wird meine Großmutter immer ganz still und sagt etwas von „verstehst du sowieso nicht“. Und zuerst dächte ich, daß das wohl mit diesem anderen Land zusammenhängen würde, aber einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen meinem Vater und der Großmutter, aus dem ich entnahm, dass mein Großvater zur Zeit der großen russischen Revolution im Februar 1917 – nicht zu verwechseln mit dem Oktoberputsch – von einigen Bekannten in Petersburg gesehen worden war. Er musste also vorzeitig aus diesem Land Sibirien entlassen worden sein, war aber nicht zurückgekommen. Die Bekannten berichteten, wie er am hellen Tag durch Petersburg geschlendert sei, laut pfeifend, sagten sie, dazu noch an jedem Arm eine Dame. Nutten, wie meine Großmutter sagt. Ob er jedoch deshalb in Petersburg geblieben war oder wegen dieser Revolution dort, sagte sie nicht. Das scheint auch für meine Großmutter unklar zu sein. Ich konnte lauschen, soviel ich wollte, mit dieser Frage endete jedes Gespräch über meinen Ur-Großvater. Klar blieb nur, dass er nie wieder nach Hause kam, auch wenn, wie ich erfuhr, „zu Hause“ damals Polen war. Noch eine Geschichte? Die von dem Vater meiner Mutter, meinem anderen Großvater? Den ich zwar, genau wie die Beiden in meinem Leben nie gesehen habe, der aber ein lustiger Mensch gewesen sein muss. Als lustiger Mensch war er Mitglied bei einem Stammtisch in einer Kneipe seiner Straße und nahm jeden Abend einen zur Brust. Und jeden Abend ließ die Stammrunde eines ihrer Mitglieder sterben, um daraufhin dessen Tod ausgiebig zu begießen. Mein Großvater kam in der Nacht dann jedes Mal weinend nach Hause und berichtete von einem großen Unglück, das geschehen sei: Der Tod eines nahen Freundes. Worauf sich auch bei meiner Mutter tiefe Betroffenheit eingestellt hätte, wäre ihr nicht eben jener totgesagte Freund am nächsten Tag leicht verkatert über den Weg gelaufen. Auch ist das Ende dieses Großvaters besser überliefert als das meines Ur-Großvaters. Eines Tages nämlich kaufte er sich ein nagelneues Motorrad mit Seitengespann, fuhr, ohne viel Umstände zu machen, auf Hitlers soeben neu erbauter Autobahn und überschlug sich im Vollrausch. Klarer Fall, dass seine Stammtischrunde eine Mammut-Sitzung ansagte. Das sind jedenfalls bessere Geschichten, als am Mittag grundlos den Mittelweg in grünen Sandalen und Knickerbockern heraufzukommen und Schimmack zu heißen! Aber vielleicht nicht besser als Mohnsemmeln rühren und Geschichten erzählen zu können, wie meine Großmutter. Während ich auf die Straße blicke und die zwei alten Frauen aus dem Haus gegenüber entlangkommen sehe, die „Umsiedlerinnen“ heißen, übrigens wieder so ein Wort meiner Großmutter, von dem ich nicht weiß, was es bedeutet. Die kleinere Frau, die einen Buckel hat und gekrümmt geht, arbeitet auf- dem Friedhof, der am äußeren Ende des „Randweges“, an der Grenze der Stern-Siedlung zu den Feldern liegt. Dort wäscht sie Leichen, sagt meine Großmutter, und ich renne jedes Mal, wenn die Bucklige den Mittelweg entlangkommt, schnell ins Haus oder verstecke mich hinter dem
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dunkelbraunen Holzschuppen oder sitze, wenn ich gerade auf den Fliederbaum geklettert bin, ganz still. Die andere Frau, draußen auf dem Mittelweg, geht aufrecht, scheint kräftiger als die Bucklige und ist Köchin in einer Betriebskantine. Von ihr nehme ich gern jedes Wort entgegen und die dazu gereichten Süßigkeiten, Schokolade und Pudding, die sie aus ihrer Kantine mitbringt. Und einmal, als abends ein Gewitter aufkam und meine Großmutter im Garten die Wäsche von der Leine nahm, kam diese alte Frau ins Zimmer, bis an mein Bett, in dem ich lag und mir die Augen zuhielt, setzte sich und brachte mir einen großen Teller Götterspeise. Die ersten Blitze, das Trommeln der Regentropfen auf dem Blech des geöffneten Fensters, die grün schillernde Götterspeise, die mir die „Umsiedlerin“ brachte, die mit einer Frau zusammenlebte, die Leichen wusch, diesen Geschmack sollte ich für immer auf meiner Zunge bewahren. Aber nun ist ein heller Sommertag, die beiden Frauen gehen den Mittelweg entlang, erreichen, nachdem sie an drei Gärten vorbeigegangen sind, an Zäunen, Wiesen und Hunden, eine größere Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Dort, nach hundert Metern das Ortsschild: Reichenbach im Vogtland. Die Straße. Die Straße meiner Kindheit führt von Zwickau nach Plauen. Und es ist eine vogtländische Straße. Das Vogtland. Das Vogtland ist ein kleiner Landstrich im Süden des östlichen Teils von Deutschland. Jenes Deutschland, das heute auf der Landkarte rechts liegt und dessen geographische Physiognomie einem zu Scherzen aufgelegten Betrachter wie ein vertrockneter Zwerg erscheint, mit dem es sich schlecht scherzen lässt. Das Vogtland im Süden grenzt im Norden an Sachsen, zu dem es jedoch keineswegs zählt, was im besonderen aus den auffahrenden Gesten seiner Bewohner hervorgeht, wenn man ihnen sagt, sie seien Sachsen. Vogtland ist Vogtland. Bitte sehr! Es wird im Westen von Thüringen, im Osten vom Erzgebirge und im Süden von Bayern und Böhmen eingeschlossen. Das Vogtland ist meine Heimat, was nichts anderes heißt, als dass Wälder, Flüsse, Flüsschen, Seen, Dörfer und sonnenüberflutete Marktplätze mit den deutlichen Bildern meiner Erinnerung abwechseln. Und Wege führen durch alle Erinnerungen, auf den Wegen ich. Mit den Eltern und allein. Allein und mit dem Bruder. Mit dem Fahrrad, dann mit einer Zuckertüte. Und später mit den verständnislosen Gesichtern der Altersgenossen und Schulkameraden, die verständnislose Fragen aufwarfen: Was lässt sich dieser Walther von der Vogelweide mit dem Papst ein? Fragen und Gesichter, zu denen ich früh schwieg und die Antwort wusste. Allein war. Auf den Marktplätzen und Schulbänken. In die Wälder ging und die Wege wusste. Denn es gibt dort, neben der bereits erwähnten Autobahn, die dem Vater meiner Mutter zum Verhängnis wurde, oder ihn vielleicht vor einem elenden und weißen Tod bei Pe-
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tersburg und Stalingrad bewahrte, oder vor einem ganz anderen Tod im Land Sibirien, dort gibt es neben dieser Autobahn, die, wie ich hörte, von Hitler allein erbaut wurde, nur noch eine einzige Nord-Süd-Trasse. Das ist, diese allein, die Straße meiner Kindheit. Die Straße. Zwischen Reichenbach und Zwickau heißt sie Zwickauer Straße, nach Reichenbach, Richtung Plauen, Plauensche Straße, und kurz vor Plauen Reichenbacher Straße. Von dort führt sie weiter bis Bad Brambach. Dann fängt Böhmen an. Die Straße. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sagt meine Großmutter und rührt Mohnsemmeln. Jeden früh ritt die Kavallerie dort hinaus. Eine endlose Schlange von Wagen und Reitern, die in den Krieg zogen. Da war ich ein junges Mädchen. Meine Großmutter erzählt. Ich sitze am Tisch und schaue in den Garten. Der braune Holzschuppen, der die Sicht behindert. Aber ich sehe die Pfingstrosen. Ich sehe ein Mädchen. Am Fliederbaum vorbei. Durchs rote Gartentor. Der metallische Klang. Ein paar Meter. Ein anderer Zaun. Ein anderer Garten. Andere Büsche. Wieder ein Fliederbaum. Hier wohnt der Großvater von Martina. Der Fische züchtet und seine Nächte bei ihnen verbringt. lm Sommer kommt Martina zu Besuch. Wenn der Sommer gelb ist, hat Martina blondes Haar. Dann gehen wir baden. Durch die Felder am Rand der Siedlung. die Stern-Siedlung heißt. Dann steht der Raps hoch. Dann hat Martina einen schwarzen Badeanzug. Dann blüht der Raps gelb. Wenn der Sommer blond ist, schlägt unser Herz rot, und weiß blühen die Brüste des ersten Mädchens. Ich war dreizehn. Ich möchte nicht noch einmal zwanzig sein. Ich möchte nicht singen. Darüber nicht. Dann zog Martina ihr Kleid an. Adieu. Wir gingen zurück zur Siedlung, die SternSiedlung heißt. An beiden Bäumen blühte der Flieder. Adieu. Dann sagte ich ihr vor dem roten Gartentor: Bis bald. Dann blühte der Flieder wild. Adieu. Dann zog Martina in eine andere Stadt. Im nächsten Sommer, dem ein endloser Herbst vorausgegangen war, mit einem Mädchen aus meiner Klasse, das Karin hieß, blond war und einen schwarzen Badeanzug trug, versuchte ich, etwas von dem zu wiederholen, was mit Martina weggezogen war. Aber ich habe es nicht mehr gefunden. Und später hießen die Mädchen Ulrike, Beate und wieder Karin. Ihre Haare waren braun, blond oder rot. Da waren es schon zehn Jahre. Und dann hieß ein Mädchen Maria. Aber die hatte schwarzes Haar. An fröhlichen Tagen Zöpfe. Das interessiert dich nicht, sagt meine Großmutter und schüttet noch Wasser in den Steintopf. Erzähl nur, sage ich und schaue weiter auf die Straße. Jeden Morgen, und ihre Worte scheinen den Rhythmus zu bestimmen, mit dem ihre Arme Mohnsemmeln reiben, jeden Morgen sind sie hinaus geritten. Aber da war ich noch ein junges Mädchen. Kavallerie. Die Soldaten ritten damals auf Pferden, musst du wissen, weil es kaum Autos oder Panzerwagen gab. Selbst die Kanonen wurden von Pferden gezogen. Jeden Morgen an unserem Haus vorbei. Warte mal, sagt sie, ich muss in den Keller, noch Mohn holen. Ich sitze in der Küche und schaue in den Garten. Martina. Deshalb war ich jeden Abend die
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Holztreppe bis zum Dachboden hinaufgestiegen und hatte mit einem Fernglas die Sterne betrachtet. Deshalb mein unbezwingbares Interesse für Astronomie. Das nie seine Erfüllung fand, weil ich später nach der achten Klasse auf die Oberschule wechselte, also den Astronomie-Unterricht in der Zehnten der Grundschule verpasste und den in der Zwölften der Oberschule nicht miterlebte, weil ich ein Jahr vorher wegen allseitiger Renitenz gefeuert wurde. Beleidigung von Armeeoffizieren. Weil ich nicht Offizier werden wollte. Zersetzung des Klassenkollektivs. Mit dem Unterricht fremden Stoffen. Den Geschichten meiner Großmutter und denen meiner eigenen Augen. Von Kavallerie und betrunkenen Motorradfahrern. Von roten Fahnen und Nutten in Petersburg. Von zwei Fliederbäumen. Mein unwissenschaftlicher Blick zu den Sternen. In einer Siedlung, die Stern-Siedlung heißt, weil ihre Häuser immer zu dritt, sternförmig aneinander gebaut waren. Die schwarzen Badeanzüge. Mein Bruder, der Student, mit Geschichten über rebellierende Studenten. Der schwarze Johannisbeer-Schnaps, selbstgemacht, den wir heimlich im Keller tranken. Die Umsiedlerinnen. Die Blitze. Götterspeise. Der Teufel. Rudi Dutschke. Schimmack. Die Silvesterraketen im Schnee. Mein Bruder, der sie abschoss und lachte. Was war jeden Morgen? frage ich meine Großmutter, die aus dem Keller zurück ist. Nachdem die Sonne aufgegangen ist, sagt sie, sind sie hinausgezogen, hinaus auf die Felder, wo Krieg war. Unser Haus stand genau an der Straße, und ich konnte alles sehen. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sie sagt nicht: Leokadya Amalia. Das sind meine Vornamen, das Land hieß Polen, das war eine polnische Straße, und der Ort mit diesem Haus an der Straße hieß Sdunska Wola und liegt zweihundert Kilometer von Warschau entfernt. Dort wurde dein Vater geboren. Das sagt sie nicht. Sie sagt nur: Da war ich ein junges Mädchen. Die Offiziere in ihren glänzenden Uniformen, jeder auf einem Schimmel. Dann der Tambourmajor. Der seinen Stab schwang und den Rhythmus für die nächsten Reihen der Reiter bestimmte. Die Musik. Die Soldaten. Mit Säbeln an der Seite, die den Gang ihrer stolzen Pferde mitschwangen. Zuletzt dann Gespanne. Wagen mit Proviant, Kanonen, Feldküchen. Vorbei an unserem Haus. Jeden Morgen. Und dann am Abend, und es waren immer warme Abende dort im Sommer, musst du wissen, und wir Mädchen standen barfuss vor den Häusern am Straßenrand, warteten wir auf die Soldaten. Und einmal, das weiß ich noch genau, war am Morgen ein großer blonder Leutnant auf einem herrlichen Schimmel allen voran geritten. Abends war ich als erste von den Mädchen an der Straße. Dann kamen die Soldaten. Ich sah den Leutnant. Er lag quer über dem Sattel seines stolzen Pferdes und war tot. Die Uniform voll Erde und Blut. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr erkennen. Sie hatten ihm den Schädel gespalten. Am Morgen war er allen voran geritten. Er war mutig, aber es war sinnlos, denn es war Krieg. Dann kamen andere Gespanne mit toten Reitern. In Haufen lagen sie übereinander. Meine Mutter lief aus dem Haus und zog mich an der Hand fort. Das ist der Krieg, sagte
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sie. Und seit diesem Abend bin ich nie wieder an diese Straße gegangen. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sagt meine Großmutter. Und rührt Mohnsemmeln. Sie atmet jetzt schwer, hört für einen Moment auf und gießt noch etwas Wasser in den Steintopf. Ich schaue wieder aus dem Fenster, sehe den Holzschuppen, den Fliederbaum, die Johannisbeersträucher, die Blumen vor dem Zaun. Es ist Abend geworden. Der Pfingstrosenstrauch hat seine blutroten Knospen geschlossen. Ein heller Stern leuchtet über dem Haus der Umsiedlerinnen. Meine Großmutter stellt die Tonschüssel mit dem fertigen Mohn auf die Kellertreppe. Der Weg, der, geht man an drei paradiesischen Gärten vorbei, auf die große Pflastersteinstraße führt, die hier Zwickauer Straße heißt und von mir benannt wurde: meine Kindheit, ist jetzt leer. Und später, ich weiß nicht, wie viele Tage oder Jahre vergangen waren, denn Kindheit ist eine Zeit ohne inneres Maß, hörte ich am Morgen ein Geräusch, das schon in der Nacht aufgekommen war und auch jetzt nicht mehr zu enden scheinen wollte. Ich fand das Bett meines Bruders leer, und als ich nachsah, auch den braunen Holzschuppen, wo sonst sein Motorrad stand. Ich zog mich an und lief auf die Straße, meine Großmutter hatte mich zum Bäcker geschickt, um Brötchen zu holen. Und ich war glücklich, denn es waren Ferien, und die noch flach stehende Sonne versprach einen heißen Tag. Ich rannte den Mittelweg entlang, einer der Hunde aus den drei Gärten vollzog sein gewöhnliches Ritual und blieb dann winselnd hinter dem Zaun zurück. Ich kam an die Straße meiner Kindheit, die Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen – und blieb stehen. Denn alles war stehen geblieben. Schimmack stand dort. Die Umsiedlerinnen waren stehen geblieben. Der Raps stand gelb, aber anderswo. Der Sommer war nicht mehr blond. Die Badeanzüge blieben an einer Erinnerung hängen und standen fest. Und etwas anderes stand fest, blieb zurück und war stehen geblieben, dort an der Straße, an diesem Tag, etwas, was von nun an Kindheit heißen und hinter mir liegen würde. Denn sie allein bewegten sich. Auf meiner Straße. Rollten weiter. Fuhren fort: Panzer mit aufgepflanzten Maschinengewehren, Lastwagen und Geschütze, Schützenpanzer und Feldküchen. Sie waren ein endloser Strom, der schleppend unter einer gelben Glocke aus Staub vorwärts kroch. Ich stand noch eine Weile still, ging dann aber langsam weiter, an Häusern vorbei, immer an dieser Straße entlang. Zwei Mädchen aus meiner Klasse, Sonja und Ruth, sahen mich und liefen mir entgegen. Was ist denn los, riefen sie, durften wir deshalb in den Wäldern keine Pilze suchen, obwohl wir Ferien haben?
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Nein, diese Soldaten waren heute nicht freundlich und wollten keine Adressen tauschen, ganz anders als die von der Pateneinheit unserer Schule, die mittwochs manchmal zum Gruppennachmittag gekommen waren und russische Lieder sangen. Da lachte ich und ging weiter, denn etwas war vor ein paar Augenblicken stehengeblieben, und ich hatte mich umgedreht und wußte seither den Namen. Ich ging weiter und kam an einem Haus vorbei, in dem der Direktor unserer Schule wohnte; ich sah ihn im weit geöffneten Fenster in der zweiten Etage des Hauses stehen, in jeder Hand ein rotes Papierfähnchen, die er wie wild schwenkte. Rufe der Begeisterung mussten aus seinem Mund gekommen sein, die jedoch sogleich vom Klirren der Panzerketten verschluckt wurden. Ich ging eng an der Hauswand entlang, so, dass mich der Direktor nicht sehen konnte, und als ich nach oben blickte, sah ich nur noch seine Arme und Hände mit den roten Fähnchen und wie sie sich dem Strom und der gelben Staubglocke entgegenstreckten. Andere Hände müssen es gewesen sein, dachte ich, und eine andere Fahne, die mein Ur-Großvater einst in schwindelnder Höhe befestigt hatte. Nicht diese Schulkreidefinger, nicht dieses Zensurenrot. Das nicht, das wusste ich jetzt, seit ich mich nach dem umgewandt hatte, was meine Kindheit gewesen ist. Aber ich ging weiter, noch an zwei Häusern vorbei und öffnete dann die Tür zum Bäkkerladen. Außer einer Verkäuferin und mir war niemand sonst in diesem Geschäft, denn alle waren sie stehen geblieben. Ich kaufte fünf Brötchen und drei Stück Mohnkuchen, für meine Großmutter, meinen Bruder und mich, bezahlte und verließ den Laden. Auf der Treppe der Bäckerei geriet ich wieder unter die Wolke aus gelbem Staub, roch den schwarzen verbrannten Diesel, sah zu den Fahrzeugen hinüber und – wäre beinahe gestürzt. Ich sah ihn! Er saß auf dem schwarzen Motorrad, mitten in dieser unendlichen Panzerkette, mitten auf der Straße. Ich sah in das Gesicht meines Bruders, sah die schwarzen Haare, den Bart und die Augen, seinen Mund, um den ein Ausdruck zwischen Entsetzen und Freude lag; sein rotes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, als würde eine schwere Arbeit zu verrichten sein. War das die Fahne? Fuhr mein Bruder deshalb hier, oder wollte er sich nur einen Spaß machen. Und unter welcher Fahne fuhren die Panzer? Hatte er deshalb sein rotes Hemd angezogen, wollte er sich lustig machen über sie oder mit ihr diesen Vormarsch aufhalten, der der Krieg war? Und ich sah, wie zwischen meinem Bruder und dem Panzer, der vor ihm über das Pflaster schlug, bereits ein größerer Abstand entstanden war. Der nachfolgende Panzer blieb jetzt schon fünfzig Meter zurück. Ich sah, wie mein Bruder seinen Oberkörper aufrichtete und sich zu dem Panzer hinter sich umwandte, dessen Kommandant in einer unverständlichen Sprache schrie. Ich sah, wie der Kommandant seine Pistole aus dem Gurt riss und einen Be-
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fehl gab. Wie der Panzer anzog und auf meinen Bruder zusprang. Wie mein Bruder Gas gab und nach fünf Metern eine Vollbremsung machte. Wie Sand aufflog und die Ketten auf dem Pflaster kreischten. Wie der Panzer ins Leere stieß und mein Bruder lachte. Wie Kommandos ausgeführt wurden von unsichtbaren Fahrern. Wie eine sichtbare Fahne gegen eine graue Schlange aus Metall kämpfte, die unter einer Fahne fuhr, die unsichtbar blieb. Wie mein Bruder unter der Staubglocke verschwand. Wie die graue Schlange weiterrollte. Wie die Fahne von ihr gejagt wurde und nicht mehr zu sehen war. Wie sie besiegt schien. Wie die Panzer erneut zum Stehen kamen und Motoren leer liefen, als hätte einer Sand in sie geschüttet. Ich griff mein Netz mit den Brötchen fester und lief, so schnell ich konnte, die Straße hinab zur Stern-Siedlung, zum Mittelweg, zum Haus meiner Großmutter. Die Fenster des Direktors standen noch immer offen. Ich sah nach oben. Er ragte im Fenster, noch immer mit weit ausgestreckten Armen, seine Hände hielten die Fähnchen aus Papier, die nicht mehr flatterten, herabhingen, als gäbe es dort oben eine Windstille. Sein Blick war leer und auf die Straße gerichtet. Die beiden Mädchen aus meiner Klasse traf ich nicht mehr, und auch alle anderen waren verschwunden. Keiner hatte gewartet, niemand war stehen geblieben, keiner würde dabei gewesen sein, als die Fahne zu sehen war. Meine Großmutter kam mir ein paar Schritte entgegengelaufen und hatte sich wegen meines langen Ausbleibens Sorgen gemacht. Ich lief auf sie zu und rief: Großmutter, er hat die Panzer aufgehalten! Verstehst du, mit dem Motorrad! Ich sah, wie meine Großmutter weiß wurde wie die Wand ihres Hauses, vor dem wir standen. Auf die von der Sonne dieses heißen Tages beschienene Mauer fielen jetzt zwei Schatten von unterschiedlicher Größe, die sich aneinandergelehnt hatten. Mein Bruder kam am Abend wieder. Wir hörten sein Motorrad, dann schlug das Gartentor zu. Mit unvergesslichem Klang. Mein Bruder ließ seine Maschine gegen den Holzschuppen fallen. Wir sahen ihn ins Haus kommen. Er stürzte in die Küche, schwankte ein wenig und riss sich das Hemd über der Brust auf. Sein Gesicht war schwarz. Wir sahen drei Wunden auf seiner Brust, aus denen Blut lief. Draußen auf der Straße schwoll das Klirren der Panzerketten wieder stärker an. Die Brust meines Bruders war von drei Stichen bedeckt. Eine verirrte Wespe musste, während er zwischen den Panzern fuhr, unter sein Hemd geflogen sein. Denn es war Sommer, ein heißer Tag, an dem meine Kindheit zu Ende ging. Es war Dienstag, der zwanzigste August neunzehnhundertachtundsechzig. In der darauf folgenden Nacht überschritten, unter anderem in der Höhe von Vogtland und Erzgebirge, 500 000 ausländische Soldaten die tschechoslowakische Grenze. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen und geht zu beiden Seiten in Feld über. Westberlin, Dezember 1983–Mai 1984
KLANGZEITEN
Band 5:
MUSIK, POLITIK UND GESELLSCHAFT
DIE »POLNISCHE SCHULE« IN DER NEUEN MUSIK
Herausgegeben von Detlef Altenburg, Michael Berg, Helen Geyer und Albrecht von Massow
Band 1: Michael Berg, Nina Noeske, Albrecht von Massow (Hg.)
Ruth Seehaber
BEFRAGUNG EINES MUSIKHISTORISCHEN TOPOS
2009. 346 S. Mit zahlr. Notenbeispielen. Br. ISBN 978-3-412-20430-3
ZWISCHEN MACHT UND FREIHEIT NEUE MUSIK IN DER DDR
2004. VIII, 198 S. mit 2 Audio-CDs. Br. ISBN 978-3-412-10804-5
Band 2: Michael Berg, Knut Holtsträter, Albrecht von Massow (Hg.) DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DER KUNST ÄSTHETISCHES UND POLITISCHES HANDELN IN DER DDR
Band 6:
Matthias Tischer
KOMPONIEREN FÜR UND WIDER DEN STAAT PAUL DESSAU IN DER DDR
2007. XIV, 205 S. Br. ISBN 978-3-412-00906-9
2009. VIII, 344 S. Mit zahlr. Notenbeispielen. Br. ISBN 978-3-412-20459-4
Band 3:
Band 7: Nina Noeske, Matthias Tischer (Hg.)
Nina Noeske
MUSIKALISCHE DEKONSTRUKTION NEUE INSTRUMENTALMUSIK IN DER DDR
MUSIKWISSENSCHAFT UND KALTER KRIEG DAS BEISPIEL DDR
ISBN 978-3-412-20045-9
2010. V. 195 S. Mit 2 s/w Abb. Br. ISBN 978-3-412-20586-7
Band 4:
Band 8:
2007. XII, 435 S. Mit 2 Audio-CDs. Br.
Matthias Nöther
Jörn Peter Hiekel (Hg.)
»ALS BÜRGER LEBEN, ALS HALBGOTT SPRECHEN«
DIE KUNST DES ÜBERWINTERNS
MELODRAM, DEKLAMATION UND SPRECHGESANG IM WILHELMINISCHEN REICH
2010. Ca. 160 S. Br. ISBN 978-3-412-20650-5
2008. X, 328 S. Mit einer Audio-CD. Br. ISBN 978-3-412-20097-8
MUSIK UND LITERATUR UM 1968
Band 9:
Irmgard Jungmann
KALTER KRIEG IN DER MUSIK EINE GESCHICHTE DEUTSCH-DEUTSCHER MUSIKIDEOLOGIEN
TT167
2011. Ca. 200 S. Br. ISBN 978-3-412-20761-8
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