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German Pages 84 [92] Year 1916
Die J u d e n im Zartum
Polen Ein geschichtlicher Überblick von
Dr. Josef Meisl
BONN A MARCUS UND E. WEBERS VERLAG (Dr. ALBERT AHN) 1916
Vorwort. Die vorliegende Schrift stellt ein Exzerpt aus einem Teil eines größeren Geschichtswerkes dar, das mich seit vielen Jahren beschäftigt. Sie war als Einleitung für eine Broschürensammlung über die polnischen Juden gedacht, die jedoch nicht zustande kam. Ich hoffe, daß bei der Aktualität des Themas auch diese Publikation einigem Interesse begegnen wird. Meine Aufgabe war, eine zusammenfassende Darstellung der Entwicklungsprozesse in der politischen, Wirtschaftsund Kulturgeschichte der polnischen Juden zu geben. Nur soweit dieser Zweck es erheischte, konnten Details berücksichtigt werden. Die Anführung der sehr umfangreichen Quellen und Literatur mußte aus Raumgründen unterbleiben. Berlin-Halensee im Dezember 1915. J. M.
Inhaltsverzeichnis. Seite
Vorbemerkung Einleitung
1 Erste
Periode
Von den fitesten Zeiten bis zur Katastrophe In der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. 1. Einwanderungen, wirtschaftliche Umgestaltungen, die deutsche Städtekolonisation, rechtliche Lage der Juden, das Boleslaw'sche Statut 2. Judenfeindschaft der Geistlichkeit und der Städte, Olesnicki, Capistrano, Widerruf der Judenprivilegien 3. Kampf der Städte gegen die Juden, Entstehung der Judengasse; Folgen der Niederlassung von Juden auf den privaten Qrundgütern 4. Die Reformation, die katholische Reaktion, die Jesuiten . . . . 5. Entstehung und Aufbau der inneren Organisation 6. Blüte der talmudischen Literatur . . . . Zweite
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Periode
Von den KosakenkSmpfen bis zur Zeit der Teilung des Reiches. 1. Verschlimmerung der wirtschaftlichen Verhältnisse; wirtschaftliche und politische Gegensätze in der Ukraine, die Ursachen des Kosakenaufstandes 2. Der Kosakenaufstand, die schwedisch-russische Invasion und deren Folgen 3. Wiederaufbau des sozialen und geistigen Lebens 4. Lage der Juden während der Epoche der Sachsenkönige . . . 5. Der Haidamakenaufstand 6. Sinken der Macht des Kahals. Zerrüttung der Gemeindefinanzen, separatistische Tendenzen, Untergang der Autonomie 7. Geistige Bewegungen: Rabbinismus, Mystizismus, Sabbatianismus, Frankismus, Chassidismus 8. Die Judenfrage während der Teilungen
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Dritte
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Periode
Vom Untergang des Reiches bis auf die Gegenwart. Seite
1. Die letzten Kämpfe; das Großherzogtum Warschau 2. Die Freiheitskriege; Kongreßpolen; verschiedene Reformprojekte 3. Ökonomische Erschütterungen und Kämpfe; innere Wandlungen, Aufhebung des Kahal; das Altgläubigenkomite, die Rabbinerschule in Warschau 4. Der Novemberaufstand 1830/31; Verstärkung und Vertiefung der Assimilätionsbestrebungen 5. Juden und Polen während der Freiheitsbewegungen 1860/63; die Reform des Marquis Wielopolski; Gewährung der Gleichberechtigung 6. Die Losung der „organischen Kulturarbeit"; antisemitische Regungen; der Pogrom in Warschau 1881 und seine Folgen . 7. Die Nationaldemokraten ; das Sturmjähr 1905 ; die Dumawahlen ; der Boykott Schlußwort . . .
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Die Juden Im Zartum Polen.
Einleitung. Wenn das Wort, daß die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens sei, jemals mehr als eine bloße Redensart gewesen ist, so muß es sich bei der Lösung jener politischen Probleme erproben, die heute für alle von dem Kriege in Mitleidenschaft gezogenen Staaten und Völker entstanden sind. In dieser Stunde geschichtlichen Werdens, in welcher das Schicksal ganzer Völker und Erdteile entschieden wird, und auf dem Hintergrunde des blutigroten Horizonts die Grenzen der geistigen und politischen Wirkungssphären der Völker neue, dem Blicke noch unsichtbare Gestaltung, zu gewinnen suchen, in dieser Stunde, in welcher die morschen Fundamente überkommener Staatengebilde ins Wanken geraten, die harte Eisrinde altersgrauer Knechtschaft zu bersten beginnt und die aufgehende Morgensonne einer neuen freien Kultur durch das dichte Gewölk sich Bahn brechen will, in dieser Stunde erscheint es heilige Pflicht jeder Gemeinschaft, sich die Frage nach ihrer Stellung in dem verwirrenden Chaos der gärenden Geschehnisse vorzulegen. In ruhig wägender, vorurteilsloser Prüfung soll sie die Distanz zu all den erschütternden Vorgängen zu finden trachten und von dem Platz, an welchen sie das Schicksal gestellt, das Maß ihrer Forderungen und Wünsche bestimmen. Aus dieser Betrachtungsweise soll hier der Werdegang und das Schicksal der Splitter des jüdischen Volkes dargestellt werden, welche seit Jahrhunderten auf dem Boden des einstigen polnisch-litauischen Reiches ansässig, in wechselvoller Entwicklung Glück und Ruhm genossen, herrliche Geistesschöpfungen erzeugt, furchtbare Leiden erduldet, aber doch mit der ganzen Kraft ihres feurigen Geistes und in unverwüstlichem Optimismus den Mut nicht sinken ließen und M e i s l , Die Jaden Im Zartam Polen.
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im Kampfe mit all den Götzen der Lüge und Niedertracht den Glauben und die Hoffnung auf lichtvollere Zeiten nicht verloren haben. Wenn dann vom Schlackenwerke altererbter Vorurteile befreit, das Bild der wirklichen Zustände erkannt sein wird, dann mag es Sache der praktischen Politik sein, der individuellen Entwicklung Rechnung zu tragen und jene Formen zu finden, in welchen das geschichtlich Gewordene im Einklänge mit seiner Eigenart sich ausleben kann.
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Erste
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Periode.
Von den ältesten Zeiten bis zur Katastrophe in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. 1. Einwanderungen, wirtschaftliche Umgestaltungen, die deutsche StSdtekolonlsation, rechtliche Lage der Juden, das Boleslawsche Statut. Das Zartum Polen gehört zu jenem Gebietskomplex, der unter dem Namen „Ansiedlungs-Rayon" (Czerta Osjedlosti) bekannt, im Laufe der Jahrhunderte kraft eigenartiger historischer Prozesse große Massen des jüdischen Volkes aufgenommen hat, sodaß heute in Polen unter 11935 318 Bewohnern 1 747 655 Juden, also etwa 14,7 o/o, ansässig sind. Zwei Wege standen den Juden offen, um nach dem slavischen Osten Europas zu gelangen. Zunächst über den Kaukasus, jene „Völkerpforte", durch welche Avaren, Hunnen, Chasaren, Bojaren, Petschenegen und Tataren sich den Weg nach Europa gebahnt hatten, und welche auch die ersten jüdischen Einwanderer wählten, die etwa im 8. und 9. Jahrhundert in das russische und weiterhin in das polnische Reich kamen, sei es aus freien Stücken, sei es durch die Macht nachdrängender Stämme geschoben. Sicherlich befanden sich unter ihnen Reste des zum Judentum bekehrten Teils des Chasarenvolkes, die in Polen und Litauen die ersten verstreuten Siedlungen gebildet haben mochten," bis sich ihnen der Zustrom aus den westeuropäischen Ländern zugesellte. Nicht durch die Gunst eines Fürsten, bei dem einer Legende nach die verfolgten Juden Deutschlands ein Asyl erflehten, war diese Wanderbewegung angeregt und gefördert worden und nicht „in Schwärm und Schwall", sondern ganz allmählich im Laufe von Jahrhunderten zogen die Juden nach dem polnischen Reich. Als sie dorthinkamen, war das Land bereits von sechs national geeinigten Stämmen besetzt, unter denen sich die Kujawen oder Polanen, „das Volk der Ebene", als die kräftigsten und politisch reifsten erwiesen und die ersten Grundlagen des künftigen Staatengebildes gelegt hatten. Die neuen Einwanderer nahmen, so gering ihre Zahl auch sein mochte, allem Anschein nach eine geachtete Stellung ein. Die Verfolgungen in dem benachbarten Deutschland und in den l»
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österreichischen Erbländern weckten in weiteren Schichten der jüdischen Bevölkerung die Sehnsucht nach einem neuen gastlichen Heim und lenkten ihr Augenmerk auf den Osten, wo sich ihrer Energieentfaltung ein weiter Spielraum eröffnete. Das milde Regime der Polenfürsten zog immer größere Scharen von Juden herbei, welche die Möglichkeiten einer durch das Fehlen aller zünftigen Beschränkungen noch ungehemmter Expansion von Handel und Handwerk zu nutzen wußten, dem Grundeigentum und Kapital neue Lebensfunken entlockten, als Träger des Großhandels die Massenproduktion belebten, ganze Handelszweige (Salz und Gewürzhandel) zur Blüte brachten, Magazine in den Städten errichteten und den Umschwung von der Natural- zur Tausch- und Geldwirtschaft vorbereiten halfen. Ganz Polen mit Ausnahme von Masowien (Warschau), das ihnen noch verschlossen blieb, ward so von den segensreichen Früchten ihrer Arbeit überschwemmt. Als die vornehmsten Träger des Handels und des Geldgeschäfts, das infolge des für die Christen bestehenden Zinsverbots auf dem Umwege der sogenannten Wiederkaufskontrakte Verbreitung fand, hatten einzelne Juden es zu einem gewissen Wohlstande gebracht. Mit schlelenl Blicken sahen Bürger und Geistlichkeit auf ihre wachsende Macht, und nur die schützende Hand der Fürsten, welche ihnen durch schwere Strafandrohungen die körperliche Unantastbarkeit verbürgten, bot ein wirksames Gegengewicht gegen jeden tätlichen Angriff ihrer Neider und Hasser. Die damaligen polnischen Juden erschöpften ihre Energie lediglich in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit. Geistige Leistungen hatten sie noch nicht aufzuweisen, jüdische Gemeinden waren nur spärlich gesät und zu schwach oder zu arm, um Stützen eines kräftigen nationalen Lebens zu sein. Als ein unveräußerliches Kulturgut, das bis heute seine geschichtliche Bedeutung nicht eingebüßt hat, brachten die Juden aus den westlichen Ländern nach Polen und Litauen die Mundart mit, welche aus der deutschen Sprache erwachsen, durch Verbindung mit slavischen und hebräischen Elementen jene eigentümliche nationale Note erhielt, in welcher sie, eine der eigenartigsten Schöpfungen des jüdischen Volksgenius, als
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Jüdisch-Deutsch (fälschlich und verächtlich auch als Jargon bezeichnet) bekannt geworden ist. Das ganze 13. und 14. Jahrhundert hindurch vollzog sich in Polen ein wirtschaftlicher und politischer Umwandlungsprozeß, der als „Organisation des Volkskörpers auf Grund von Sonderprivilegien" bezeichnet worden ist. Während dadurch auf der einen Seite Adel und Großfürsten immer mächtiger wurden, wuchs auf der anderen Seite die wirtschaftliche Belastung des gemeinen Mannes in erschreckendem Maße. Die sch,were Gefahr, die da dem Lande drohte, hätte unfehlbar zur Katastrophe ausarten müssen, wenn nicht rechtzeitig duch die Förderung autochtoner Bauern, vor allem aber durch Heranziehung fremder, namentlich deutscher Kolonisten dem Wirtschaftsorganismus frische Lebenskräfte zugeführt worden wären. Hand in Hand mit dieser Entwickelung wurden die Fundamente des polnischen Städtewesens geschaffen; in rascher Folge blühten die neuen Städte a'us dem Boden, die mit dem magdeburgischen Rechte in seinen mannigfaltigen Formen bewidmet, Pflanzstätten deutscher Kultur und deutschen Wesens im slavischen Osten wurden, der durch sie aus der primitiven Stufe seiner Wirtschaftsordnung zu herrlicher Blüte sich erhob. Diese deutsche Einwanderung war von einem ständig anschwellenden Strom jüdischer Zuwanderer begleitet. Während der deutsche Kolonist seine Tatkraft in der Belebung des Landes „mit Karst und Pflug, mit Kelle und Spaten" aufs wunderbarste erprobte, sorgte der Jude für die Entwicklung des Tauschprozesses und des Geldhandels, die Hebung der Kaufkraft aller Stände, die Ausdehnung und Entfaltung des Warenhandels und die Mehrung der fürstlichen Einnahmequellen. Nicht aus edelmütiger Toleranz, wie eine ruhmredige Geschichtsschreibung zur Verherrlichung des polnischen Nationalstolzes glauben machen will, sondern aus nüchterner Erkenntnis der überragenden Bedeutung der Juden für Land und Krone breiteten die Polenfürsten über diesen jüdischen Zustrom ihre schützenden Fittiche. Und nicht nur als Förderer des Handels und der Städte, sondern auch, um etwaigen Aspirationen des Bürgerstandes auf politische Vorherrschaft ein loyal gesinntes Element entgegensetzen zu können, schätz-
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ten und förderten sie die Juden und neigten ihnen ihre Gunst zu. Trotzdem war das Leben der Juden in Polen damals durchaus nicht eitel Freude und Lust. Bald umschmeichelte und umwarb man sie, öffnete ihnen die Pforte der Gnade und nahm sie willkommen auf. Bedurfte man aber ihrer nicht mehr, so stieß man sie wieder in Elend und Finsternis und gab sie all den Schrecken der Wahngebilde von Pesterzeugung, Hostienschändung, Kinderermordung und Blutgenuß preis. Während des ganzen 13. und 14. Jahrhunderts überwog allerdings die Neigung zur Toleranz. Bis auf einen Teil der Geistlichkeit und der deutschen Kolonisten, welche die wirtschaftliche Entfaltung des jüdischen Elements mit schelen Blicken betrachteten und nach Kräften den Samen der Feindschaft in der slavischen Umwelt auszustreuen suchten, war der Judenhaß dem Lande noch fast fremd. Die dem Cistercienser-Kloster in Koprzywnic verliehene Immunität, in welcher u. a. die Ansiedlung von Juden auf gewissen Ländereien untersagt wurde (1262), kann nicht, wie von manchen angenommen wurde, als Ausdruck einer bewußten Judenfeindschaft gedeutet werden, sondern war nur ein Symptom dafür, wie sehr die Stellung der Juden von der Willkür der Fürsten, welche, um sich ihre Einnahmen zu sichern, die Niederlassung auf den Gütern anderer Grundherren verbieten konnten, abhing und sich der der deutschen Kammerknechte (servi camerae regalis) näherte. Aus der Erkenntnis von dem hohen Werte der Juden f ü r den Wohlstand und die gedeihliche Entwicklung des Landes resultierte auch das Grundgesetz aller späteren Vergünstigungen, welche den Juden im Polenreich züteil wurden, nämlich das Privilegium Boleslaw des Frommen vom Jahre 1264, das sich im wesentlichen als eine Kompilation aus den österreichischen, böhmischen und ungarischen Judenprivilegien darstellt. Das Maß der Rechte, das den Juden darin gewährt wird, war recht bescheiden, und ohne daß sie ausdrücklich als Kammerknechte bezeichnet wurden, so liefen doch alle diese Bestimmungen nur auf das Ziel der Mehrung der fiskalischen Einkünfte hinaus. Immerhin war der Umstand, daß der Fürst als Patron der Juden sie vor Unbill und Rechtsbeugung zu behüten sich
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mühte, in eigener Person ihr Gerichtsherr war und ihre körperliche und wirtschaftliche Unantastbarkeit zu garantieren bestrebt blieb, ein Gewinn. Das Privilegium, welches später unter Kasimir dem Großen (1333—1370) eine Erweiterung erfuhr, räumte den Juden eine beschränkte Autonomie in inneren Angelegenheiten ein, schützte ihre Synagogen und Kultuseinrichtungen, ordnete die prozessualen Verhältnisse und zog den Rahmen für ihre wirtschaftliche Betätigung. Einen beträchtlichen Raum nahmen die Bestimmungen über die Pfandoperationen und hypothekarischen Verbindlichkeiten ein, was wohl auf die Verbreitung des Hypothekengeschäftes unter den Juden zurückzuführen ist. Der polnische Adel, welcher gegen den deutschen Händler und Geldverleiher eine unverhohlene Antipathie empfand, ging lieber zum Juden, um von ihm die nötigen Mittel gegen das Unterpfand seiner Grundbesitzungen zu erhalten. Die auffällige Tatsache, daß die ersten Judengesetze in Polen keine näheren Bestimmungen über das Ausmaß des Zinsfusses enthielten, erklärt sich leicht daraus, daß das allgemeine Interesse die Belebung der Geldzirkulation erheischte und ihr möglichst wenig Hindernisse in den Weg zu legen trachtete. 2. Jndenfeindschaft der Geistlichkeit and der Stidte, Olesaicki, Capistrano, Widerruf der Judenprivilegien. Obschon die emsige und hingebende Betätigung der Juden zur Hebung der Wirtschaft des Landes ihnen selbst keineswegs reiche Früchte eingebracht hatte und nur wenige zu bedeutenderem Wohlstande gelangt waren, so ließen auch die sehr bescheidenen Lorbeeren, welche sich die Juden erworben hatten und die ihnen von fürstlicher Gnade zuteil gewordenen Vergünstigungen die Kirche nicht ruhen. Weniger um das Seelenheil und die Wohlfahrt ihrer Anhänger als um den eigenen Einfluß bekümmert, erhob sie ihre warnende Stimme gegen die verderblichen Wirkungen des Aberglaubens und der Unsitten der Juden in den polnischen Gebietsteilen, in welchen das Christentum noch nicht allzufeste Wurzeln gefaßt hatte, und arbeitete mit aller ihr zu Gebote stehenden Autorität auf die möglichste Isolierung
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der Juden von ihrer Unfgebung hin. Aus den SynodaiVersammlungen von Breslau (1267), Ofen (1269) und Lenczyce (1285), welche die Bestimmungen früherer Kirchenkonzile über das Verbot der öffentlichen Ausübung des jüdischen Kultus, das Tragen unterscheidender Abzeichen, den Verkehr zwischen Juden und Christen erneuerten, klang die deutliche Warnung heraus, daß die Kirche wachsamen Auges das Verhalten der weltlichen Gewalt zu den Juden verfolge und gewillt war, jeden zu deren Gunsten unternommenen Schritt, der ihre Herrschaft über die Seelen der Gläubigen beeinträchtigen könnte, mit allen Machtmitteln zu durchkreuzen. Einen Bundesgenossen fand der Klerus in diesem Bestreben an dem deutschen Pfahlbürgertum, das seiner Kulturaufgabe zwar mit rastloser Energie nachging, doch in seiner Beschränktheit nicht des Hasses gegen den erfolgreichen jüdischen Konkurrenten entraten konnte. Aus dem Zusammenwirken dieser beiden feindseligen Elemente entstanden jene gewaltsamen Explosionen in der 2. Hälfte des 14. und am Anfang des 15. Jahrhunderts, die in den Judengassen von Krakau, Posen usw. Verheerungen anrichteten, und die hinter den Mauern der Klöster und Kirchen, im Rate der Zunft und in der Versammlung der Bürger erzeugte Fama, die von allerlei Greueltaten der Juden, von Kindermord und Blutgebrauch zu erzählen wußte, flog hinaus in alle Welt und ließ die Giftsaat des Hasses üppig in die Halme schießen. Das Leben wurde den Juden auch weiterhin nicht leicht gemacht. Die Beschlüsse des zur Bekämpfung der Hussitengefahr einberufenen Konzils von Kaiisch (1420), die auf eine Wiederholung der erwähnten Synodalbeschlüsse hinausliefen, und das vom Reichstage zu Wartha (1423) erlassene Verbot, daß Juden den Christen Darlehen gegen Schuldscheine gewähren dürfen, sollten ihrer Entfaltung einen wirksamen Riegel vorschieben. Wohl war Kasimir IV. Jagiellonczyk (1447 —1492) ein Mann von liberaler und toleranter Weltanschauung, aber er konnte nichts gegen den Fürstprimas, Kardinal Zbigniew Olesnicki ausrichten, der, eine der kraftvollsten und merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte des polnischen Klerus, mit dem ganzen fanatischen Eifer seiner unzähmbaren Rebellennatur nicht nur gegen den Schutz,
welchen der König der Lehre vom Laienkelche angedeihen ließ, und die hussitische Ketzerbande ankämpfte, sondern auch an den Juden, den „geschworenen Feinden der Christenheit", sein Mütchen zu kühlen suchte. Der Krakauer Kanonikus und Historiograph Jan Dlugosz (Longinus), dessen fundamentale Geschichte Polens von klerikalem Geiste strotzt, erschien ihm als ein zu gemäßigter Kampfgenosse, und der einzige, den er für würdig und geeignet fand, mit ihm den Triumph der Niederringung der Ketzer und Juden zu teilen, war der streitbare Dominikaner Johannes Capistrano, der durch die Kraft seiner unwiderstehlichen Dialektik Hussiten und andere Sektierer zu demütiger Buße auf die Knie1 zwang,, die Scheiterhaufen der Fraticelü entflammte und unter begeisterten Hymnen auf die Päpste Eugenius IV. und Nikolaus V., welche unter seinem Einflüsse Bullen gegen die Juden erließen, in Deutschland, Schlesien, Mähren und Böhmen in der Inszenierung von Judenhetzen eine reiche Erfahrung gesammelt hatte. Durch Olesnickis Rede- und Verführungskünste verlockt, entschloß sich Capistrano, dem die Geschichte für seine Verdienste den Namen „Geißel der Juden" verliehen hat, sein Wirkungsfeld auch nach Polen zu verlegen. Zwei Tage, nachdem der König die für Großpolen geltenden Judenprivilegien auch auf Kleinpolen ausgedehnt hatte, hielt er in Krakau wie ein Triumphator oder ein Messias von einer unabsehbaren Menge, in welcher der König und seine Mutter sich befanden, geleitet, von dem Kardinalprimas als „Engel vom Himmel" begrüßt, seinen Einzug. Von der Tribüne bei der Kapelle des heiligen Wojciech schleuderte er seine zündenden Blitze gegen die Ketzer und Ungläubigen und drohte dem König wegen seiner Begünstigung der Juden mit Mißgeschick, Niederlagen und Gottesgericht. Als noch das Unglück es wollte, daß diese Drohung durch die Niederlage des polnischen Heeres im Kampfe mit dem deutschen Ritterorden (18. September 1454) den Anschein einer Berechtigung erhielt, mußte König Kasimir sich unterwerfen und die den Juden gewährten Privilegien auf dem Reichstage zu Nieszawa (Nessau 11. bis 17. November 1457) widerrufen.
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3. Kampf der Stidte gegen die Joden, Entstehung der Judengasse, Folgen der Niederlassung von Juden auf den privaten Qrundgfitern. Trotz der heftigsten Anfeindungen nahm die wirtschaftliche Lage der Juden in Handel und Handwerk einen bedeutenden Aufschwung, um gegen das Ende des 15. und am Beginn des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt zu erreichen. Auf der andern Seite aber spitzte sich in gleichem Maße der Kampf gegen die Juden zu. Aus vielen Gegenden wurden sie ausgewiesen, mußten an manchen Ortfen mit der ihnen feindselig gesinnten Bürgerschaft ungünstige Verträge schließen, die Städte Lemberg, Posen, Lublin und Sandomir taten sich zu einer Koalition zusammen, um ihre Handelsrechte zu beschneiden, und der Beschluß des Petrikauer Reichstag (1538), der besonders mit Unterstützung der Szlachta zustande gekommen war, verbot ihnen den Handel auf dem flachen Lande und die Abhaltung von Jahrmärkten. Eine stete Begleiterscheinung dieses wirtschaftlichen Kampfes bildeten die Beschränkungen des Wohnrechtes innerhalb! der einzelnen Städte und deren Bestrebungen, sie in ihrem Bereiche nicht zu dulden(Privilegia de non tolerandis judaeis). In den altpolnischen Gemeinden gab es keine gesonderten Niederlassungen für Juden und die Grenzen zwischen jüdischem und nichtjüdischem Grundbesitz waren nicht festgesetzt. Mitten im Judenviertel wohnten zahlreiche Christen ebenso wie die Juden auch außerhalb ihrer Quartiere sich niederließen, bis allmählich mit dem Wachstum der beiden Niederlassungengszentren die Minoritäten in ihnen in den Hintergrund traten und die Bevölkerungsmehrheit ihrem numerischen Übergewicht auch politische Wirksamkeit zu verleihen imstande war. Verschiebungen und Bewegungen kamen natürlich auch fernerhin noch vor, doch in den großen Städten achteten die Magistrate mit Sorgfalt darauf, daß die Juden die ihnen zugewiesenen Grenzen nicht überschreiten und suchten jeden dagegen unternommenen Versuch mit Gewalt abzuwehren. So entstanden allmählich feste Grenzen, innerhalb deren sich eine Art von Ghetto bildete, das zwar nicht ganz den exklusiven Charakter der deutschen Judengasse trug, aber immerhin eine starke Beeinträchtigung
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der Bewegungs- und Handelsfreiheit involvierte. Das bekannteste Beispiel eines geschlossenen Judenzentrums bildete die jüdische Gemeinde in Kazimierz, der Krakauer Vorstadt, in welche die Juden nach dem großen Brande im Jahre 1494 gedrängt worden waren. Eine Folge dieser Absperrungsmaßregeln und der mannigfachen Beschränkungen, denen die Juden in den königlichen Städten unterworfen waren, bildete ihre Niederlassung auf den Gütern der Grundherren und die rege Beteiligung an der Kolonisation des Landes, wo sie sich frei von all den Vexationen der Magistrate und königlichen Beamten bewegen konnten. Auf diese Weise entstanden zwei Kategorien von Juden. Die einen, die in unmittelbarer Abhängigkeit vom Könige beziehungsweise dessen Beamten standen, die anderen, welche den Grundherren zinspflichtig und von der königlichen Gewalt eximiert waren. Der König trug dieser Tatsache auch Rechnung, indem er freiwillig auf die Einnahmen desjenigen Teils der jüdischen Bevölkerung, welcher auf den privaten Grundgütern sich niedergelassen hatte, verzichtete, allerdings mit der Bedingung, daß er auch nicht mehr zu seinem Schutze verpflichtet sei, da er doch nicht denjenigen, die ihm, d. h. dem Fiskus, keinen Nutzen bringen, fernerhin seinen Schirm angedeihen lassen könne. Die Juden dieser Grundherren unterstanden infolgedessen ausschließlich der patrimonalen Gerichtsbarkeit, während die königliche Jurisdiktion auf die Städte beschränkt blieb. Diese enge Verkettung der Juden mit dem adeligen Grundbesitz war f ü r sie von den schwerwiegendsten Folgen begleitet. Zwar entgingen Sie dadurch den Schikanen der Magistrate und fanden bei dem Adel wirksamen Schutz und Hilfe, aber sie waren forta b den ärgsten Demütigungen ihrer launischen Gebieter ausgesetzt, die sie ohne Scham und Rücksicht ausbeuteten. Die Gesetze, welche die Juden in Handel und Pacht beschränkten, bildeten f ü r den Adel kein Hindernis, und er wußte Mittel und Wege zu ihrer U m g e h u n g zu finden. Zwar durften die Juden keine Steuer- und Zollpächter sein, aber gleichwohl zogen sie als Bevollmächtigte des Szlachzizen allerlei Abgaben ein. Zwar waren sie vom Erwerb des G r u n d und Bodens ausgeschlossen, aber sie wurden gleichwohl
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Gutsverwalter und Produktenhändler und ohne sie wäre so manche Vergünstigung wie die Befreiung von Einfuhrzöllen für den Adel, der selbst keinen Handel betrieb und nur als Unternehmer figurierte, wertlos gewesen. Denn nichts galt dem polnischen Edelmann so entwürdigend als alles mit der Elle zu messen und mit dem Pfunde zu wägen; und darum machte er lieber mit dem Juden gemeinsame Sache, damit dieser auf seinen Namen aus dem Auslande Waren zollfrei einführe, aus der Pachtung von Wirtschaften und Werkstätten, ihm reichlichen Ertrag einheimse und die Möglichkeit verschaffe, seinen persönlichen Gelüsten nachzugehen. Wohl ernteten viele Juden durch diese Tätigkeit hohen Gewinn, aber ihr moralisches Niveau verschlimmerte sich, bis sie allmählich gänzlich herunterkamen. „Jetzt wurden sie — wie Jakob Caro in seiner feinsinnigen Studie „Polnische Juden" sehr treffend bemerkt — die Sklaven und Kammerknechte dieser Reguli, die sie heute aus ihren Pokalen trinken ließen und morgen als Harlekinsnarren bei ihren Gelagen und als Possenmarschälle entwürdigten. Jetzt kamen die Zeiten, da die Juden durch ein widerwärtiges Beispiel sich gewöhnten, Religion und Kult von Moral und Gewissen im Gebaren des Lebens m trennen, jetzt fuhr der Geist der Lüge und der Habsucht wie eine Teufelsherrschaft über Gläubige und Ungläubige einher und gar manche, von den nur zu begründeten Unarten, Ungezogenheiten, ethischen Mängeln und dunklen Schatten, die man als immanente Eigenschaft des gesamten Judentums ausgegeben hat, haben in diesen slavischen und magyarischen Lasterhöhlen ihre Geburtsstätte." Fortan bewegte den Juden nur das eine Interesse, seinen „Poriz" bei guter Laune zu halten und im wirtschaftlichen Kampfe gegen die Bauern zu unterstützen. Drei Jahrhunderte hielten diese Verhältnisse an, bis sie schließlich im 17. und 18. Jahrhundert zu katastrophalen Erschütterungen für die polnischlitauische Judenheit wie auch für das Reich führten. 4. Die Reformation, die katholische Reaktion, die Jesuiten. Von den Stürmen der Reformation, welche den europäischen Westen am Beginn des 16. Jahrhunderts erschütter-
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ten, war auch das polnisch-litauische Reich nicht verschont geblieben. Mehr aus Widerspruch gegen die katholische Geistlichkeit denn aus wahrhafter Überzeugung bekannte sich ein großer Teil des Adels zu der neuen Lehre, und die Jugend, die an den ausländischen Universitäten studierte, brachte als reifste Frucht ihres wissenschaftlichen Eifers die „deutsche Häresie" heim. Mit schwerer Besorgnis erkannte der Klerus, wie ihm allmählich das Heft aus der Hand glitt und ein erheblicher Teil des Volkes nicht mehr sein blindes Werkzeug sein wollte. Bei den mannigfachen Beziehungen, in denen häufig abtrünnige Söhne der Kirche zu den Juden standen, lag der Oedanke nicht allzu fern, daß diese Arianer, Sozianer, Unitanier, Antitrinitarier und Juden-Häretiker oder Halbjuden (Judaisantes demijudaei) unter jüdischem Einflüsse standen, zumal säe die Göttlichkeit Christi leugneten und nur das alte Testament als verbindlich erklärten. Und wie in Deutschland mag es auch in Polen Leute gegeben haben, die im Protestantismus eine Übergangsstufe zum Judentum erblickten und eine Annäherung der beiden Bekenntnisse erstrebten. Vielleicht daß auch im jüdischen Lager Heißköpfe sich fanden, die in einer von Kritik der Kirche geschwängerten Atmosphäre tätige Sympathie für ihren Glauben wecken wollten und unerwartet manchen Erfolg erzielten. Wie immer dem auch sei, so genügte ein besonderer Vorfall in dem stockkatholischen Kralkau, um solchem Verdachte dein Anschein der Berechtigung zu geben. Der Übertritt der greisen Frau des Krakauer Ratsherrn Melchior Weigl, Katharina Melchior Weigl"(Zalezowska), die ihre Missetat auf dem Scheiterhaufen büßte (1539), wurde von dem unter Führung des Krakauer Bischofs Peter Gamrat stehenden katholischen Klerus als eklatanter Beweis für das Vorhandensein jüdischer Proselytenmacharei ausposaunt, und im Zusammenhang damit standen auch die zahlreichen Gerüchte, daß an vielen Orten Christen heimlich zum Judentum übergetreten und nach Litauen gebracht worden wären, wo sie von den dortigen Juden als GLaubensmärtyrer im Triumphe aufgenommen wurden. Die Haltlosigkeit solcher Beschuldigungen wurde durch die nachfolgende Untersuchung leicht erwiesen. Dann tauchte wieder ein an-
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deres Gerücht auf und behauptete hartnäckig, daß die Juden nach der Türkei emigrieren wollten und mit dem Sultan bereits geheime Verabredungen getroffen hätten. Der König, besorgt, daß aus der Verwirklichung solcher Pläne dem Lande ein nicht unerheblicher Schaden erwachsen könnte, bestimmte, daß die Auswanderung von Juden ausschließlich' nur mit seiner Genehmigung erfolgen dürfe. Gewiß hegten die Juden solche Absichten nicht, aber es wäre kein Wunder gewesen, wenn ein großer Teil von ihnen unter dem Drucke der pfäffischen Hetze auf den Konzilen, der harten Beschlüsse der Reichstage, welche ihnen die Pachtung staatlicher Ergiebigkeiten verboten und die Vorschriften über das Tragen jüdischer Tracht immerzu erneuerten, und der Angriffe in der judenfeindlichen Literatur, welche eine Verminderung des jüdischen Elements forderte und die ungeheuerlichsten und unsinnigsten Anwürfe wieder auffrischte, zu solchem Entschlüsse gekommen wäre. Die reaktionäre klerikale Partei rang mit dem freien Geiste, dessen edelste Repräsentanten die Könige Siegismund August (1548—1572) und Stefan Bäthori (1576—86) waren, und gestützt auf den politischen Einfluß des fanatischen Papstes Caraffa Paul IV. gab isie das Signal zu energischem Vorgehen gegen die um sich greifende Reformation und Freigeisterei. Wieder waren die Juden das Opfer jener Waffen, die sich zunächst gegen die Ketzer und Dissidenten richteten. Damals konnte der von Verona nach Krakau eilende römische Nuntius Aloysius Lippomano jenen bekannten Hostienschändungsprozeß in Sochaczew in Szene setzen, der sehr gegen den Willen des Königs, welcher durch einen Eilboten die sofortige Freilassung der Beschuldigten und neuerliche Untersuchung anbefohlen hatte, infolge einer Fälschung der geistlichen Ankläger mit der Hinrichtung der angeklagten Juden endete (1556). Empört über diese Niedertracht erklärte der König dem Nuntius, daß er derartige Verbrechen mißachte und nicht für einen Narren gehalten zu werden wünsche, der da glaube, daß in einer Hostie Blut enthalten sei. Trotz seiner durch' dogmatische Doktrinen nicht allzusehr beengten Denkungsweise war der König außerstande, dem Wachstum des jesuitischen Einflusses wirkungsvoll entgegen zu treten. Schon
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war es nahe daran, daß auf dem polnischen Reichstage die Einrichtung einer National-Kirche mit Abschaffung des Zölibats, Reichung des Abendmahls in beiden Gestalten und Gebrauch der Volkssprache in der Liturgie beschlossen worden wäre, als das durch den Bischof von Ermland, Stanislaus Hosius und den päpstlichen Nuntius Kardinal FrancescoComendoni geförderte Einströmen der Jesuiten solchen „frevelhaften" Absichten einen Riegel vorschob. Die Reichstage von 1538, 1562 und 1565 standen ganz unter dem Eindruck jenes gehässigen Geistes, der mit einem zum äußersten entschlossenen Fanatismus alle die Sektierer bekämpfte, welche aus den geistvollen Schriften des Märtyrers Michael Servet ihre Waffen holten, um die Grundmauern des Christentums zu erschüttern und das Gebäude nach und nach abzutragen. Nur folgerichtig war es, wenn diese Jünger Loyolas sich auch zur grimmigsten Judenfeindschaft bekannten und diesen Stempel allen Staatsaktionen aufzudrücken suchten. König Stefan Bäthori, eine der prachtvollsten Erscheinungen auf dem polnischen Throne, beging einen unverzeihlichen Fehler dadurch, daß er die Wilnaer Akademie dem Jesuitenorden auslieferte. Aus dieser Anstalt und aus ähnlichen Instituten gingen dann jene geschworenen Judenfeinde hervor, die in den Ghettis systematische Verfolgungen inszenierten und durch ihre Verführungskünste und Hetzpredigten die Bestie des Pöbels immer von neuem zur Ermordung und Beraubung der Juden, zur Schändung ihrer Heiligtümer aufreizten. Eine der furchtbarsten Plagen der Judengasse war das „Schülergeläuf", jene von den Zöglingen der geistlichen Akademien im Verein mit der Hefe des Volkes veranstalteten Judenjagden, von denen sich die Opfer nur durch hohe Abfindungssummen an die Rektoren der Anstalten loskaufen konnten. 5. Entstehung und Ausbau der inneren Organisation. In diese Periode der Blütezeit des politischen und geistigen Lebens der polnischen Nation fällt auch die Ausgestaltung und Festigung der jüdischen Autonomie. Die autonome Stellung der Judengemeinden in Polen war eine naturgemäße Folge des Umstandes, daß mit wenigen Ausnahmen,
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die aber im Laufe der Zeit auch fortfielen, das den Stadtgemeinden verliehene Magdeburger Recht sich lediglich auf den katholischen Teil der Bevölkerung, nicht aber auf Griechen, Armenier, Tataren, Juden und andere Separatgruppen erstreckte. Die Eximierung der Juden von der ordentlichen Gerichtsbarkeit und ihre Unterstellung unter den Wojewoden oder seinen Stellvertreter, in Litauen unter den Starosten nach den Bestimmungen der Privilegien, sowie der Ausbau des Amtes der an der Spitze der Gemeindeverwaltung stehenden Rabbiner („Doktoren des jüdischen Rechts", Präfekten) trugen wesentlich jdazu bei, ihre volkliche Sonderstellung zu festigen. Das von König Sigismund I. geschaffene Seniorat sollte im politisch-fiskalischen Interesse eine Zentralisation der gesamten polnischen Judenheit herbeiführen. Dieser Organisationsversuch wurde nach zwei Richtungen hin verfolgt und demgemäß die Funktionen des Seniorats geteilt. Den Generalsenioren fiel die Verwaltung und rechtliche Vertretung der Judenheit zu. Ihre Befugnisse bestanden hauptsächlich in der Vertretung von Beschwerden der Juden gegenüber den Behörden, Beaufsichtigung der Gemeinden und entsprechendem Strafrecht. Der finanziellen Zentralisation sollte das Institut der Exaktoren oder Generalsteuerpächter dienen. Auf die Dauer war indes der Druck, den diese beiden Institutionen auf die Gemeinden ausübten, ganz unerträglich, zumal nicht wenig Mißbräuche vorkamen, da die im Bewußtsein ihrer Machtfülle und im Vertrauen auf den Schutz der königlichen Gewalt übermütig gewordenen Senioren und Exaktoren sich gegenüber den ihnen unterstellten Gemeinden manchen Übergriff herausnahmen. Namentlich die Generalsteuerpächter, welche dem König für das von den Juden aufzubringende Steuersoll verantwortlich waren, hatten unter dieser Opposition der Gemeinden so sehr zu leiden, daß sie schließlich ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten und zur Bankrotterklärung gezwungen waren. Der ganze Versuch zur Zentralisierung der Judenheit brach schließlich sowohl in Polen wie auch in Litauen kläglich zusammen, und den Gemeinden wurde das Recht erteilt, die Senioren mit königlicher Genehmigung selbst zu wählen. Das entscheidende Dekret vom 13. August 1551 bevollmächtigte den von den Juden
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selbst gewählten Senior zur Jurisdiktion in geistlichen Angelegenheiten und verlieh ihm das Recht, den Bann über Ungehorsame zu verhängen. Damit war den Gemeinden der bestimmende Einfluß auf ihre eigene Organisation gesichert. Dieses Amt des Seniors, der von den Juden aus ihrer Mitte gewählt, ausschließlich der königlichen Jurisdiktion unterworfen, Haupt und Führer der Gemeinden eines bestimmten Bezirks war, hat sich bis zur Auflösung der jüdischen Gemeinde-Organisation erhalten. Gewöhnlich war es der Rabbiner in der Hauptgemeinde der betreffenden Provinz, welchem dieses bedeutungsvolle Amt zufiel. So hatte sich ein fester Zusammenschluß der Gemeinden einzelner Kreise gebildet, die von einander so streng geschieden waren, daß der Kahal und Rabbiner des einen Bezirks sich in die Angelegenheiten desandern nicht einmischen durften. Die Einführung der Kopfsteuer f ü r die Juden (1549) und der Beschluß des polnischen Landtages von 1580, daß die Steuer von den Juden in einer Gesamtsumme, welche auf die einzelnen Gemeinden und von diesen auf die einzelnen Köpfe zu repartieren sei, aufgebracht werden soll, machten häufigere Beratungen der Gemeinden im Provinzialverbande und sodann der Vertreter sämtlicher polnischer beziehungsweise litauischer Gemeinden notwendig. Daß bei diesen Tagungen neben den finanziellen religiöse, soziale und verschiedene andere die Gemeinschaft interessierende Angelegenheiten zur Beratung gelangten, ist ganz natürlich. So war ungefähr in der Zeit Stefan Bâthoris die jüdische Organisation auf der Grundlage der einzelnen Gemeinden vollendet, die sich dann zu Provinzialverbänden vereinigten, und im Anschlüsse an die Messen und Märkte in Lublin und Jaroslau bildete sich zuletzt die eigenartige Institution der Judenkongresse (waad arba arazot, waad ha-kehilloth ha-roschioth be-medinnat Litto). An dem strengen Maßstabe moderner Dinge gemessen, bietet diese Organisation freilich ein merkwürdiges Kunterbunt. Eine Überfülle von Ehrenbeamten neben wenigen besoldeten, eine oft kaum zu übersehende Zahl von Kommissionen und Unterkommissianen, ein kompliziertes, willkürlich kombiniertes ;Wahlverfahren machten den ganzen Apparat etwas unbeholfen und schwerfällig. Und so kleinlich und sonderbar manches darin erscheinen mag, so beÄleiBl, Die Juden im Zartum Polen.
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kündet doch diese Organisation in einer seltsamen Art den im J u d e n t u m so tief wurzelnden Gemeinschaftssinn, dem das Individuum nichts, die Volkheit alles galt. Eine gewisse Schwierigkeit bildete das gegenseitige Verhältnis der Vertretungen der polnischen und litauischen J u d e n . Anfangs w a r auch Litauen, das ja politisch mit Polen zunächst durch Personal-, seit dem Jahre 1569 durch Real-Union vereint war, auch auf den polnischen Judenkongressen vertreten. Seit dem. Jahre 1623 hat sich jedoch f ü r die litauischen G e m e i n d e n ein separater J u d e n l a n d t a g konstituiert. Die Agenden d e r Landtage waren außerordentlich umfassend und man kann sagen, daß fast kein Gebiet des jüdischen Lebens von ihrer Tätigkeit u n b e r ü h r t blieb. 6. Blüte der talmudischen Literatur. In keinem anderen Lande der Diaspora ist es den J u d e n in solchem Maße geglückt, die F u n d a m e n t e einer nationalen Kultur zu schaffen wie in Polen u n d Litauen. W ä h r e n d mitten im goldenen Zeitalter der polnischen Nation die jüdische Volksliteratur in der Sprache des Alltages über schüchterne Anfänge nicht hinauskam und meist von den Erzeugnissen, die aus f r e m d e n Ländern importiert waren, ein kümmerliches Dasein fristete, erreichte die rabbinische Literatur einen H ö h e p u n k t , der in mancher Hinsicht eine würdige Fortsetzung des Erbes der babylonischen Periode, der französischen Tossafisten im 8. J a h r h u n d e r t u n d der spanischen Kulturblüte bildete. Dieser A u f s c h w u n g war eine Folge der intensiven Pflege der talmudischen Wissenschaften unter den Juden Osteuropas. Die polnisch-litauische Judenheit hat viel später a l s die westeuropäische mit dem Talmudstudium begonnen, aber mit einem nahezu übermenschlichen Fleiße überflügelte sie alle ihre V o r g ä n g e r und erzielte die erstaunlichsten Erfolge. Polen und Litauen ward der Born, a u s dem die Tborakenntnis entsprang u n d zum mächtigen Strom anschwoll. Scharfsinnige Gelehrsamkeit und geistvolle Dialektik entlockten den toten Gesetzesvorschriften Lebensfunken, :und wo immer man talmudischer Autoritäten bedurfte, wandte man das Augenmerk nach jenen berühmten Lehrstätten, die da in kurzer Spanne im Osten aus dem E r d b o d e n emporgeschossen waren. J e d e r
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Jüngling, der nur etwas Begabung in sich fühlte, verlegte sich mit Begeisterung und hingebender Schwärmerei auf diese9 Studium; jeder ausländische „Bachur", der ein angesehener Rabbiner zu werden hoffte, griff zum Wanderstabe, um dem Mahnruf des Spruches folgend, „nach dem Orte zu wandern, wo die Thora ihre Pflegestätte findet". Nach Jakob Pollak, dem Begründer der pilpulistischen Lehrmethode, schuf das Triumvirat Salomo Schachna, Moses Isseries und Salomon Luria neue Grundlagen für die Behandlung und Fortentwicklung des halachischen Stoffes. Sie, ihre Schüler oder Mitstreiter wie Mordechai Jaffa, Josua Falk Kohen, Meir Lublin, Samuel Edels, Joel Serkes, David Halevy, Sabattai Kohen und viele andere bestimmten die Richtung der talmudischen Lehre nicht bloß für die polnische und litauische, sondern f ü r die gesamte europäische Judenheit auf Jahrhunderte hinaus. Seit Maimonides war eine solche Fülle kodifikatorischer Arbeit nicht geleistet worden. Im allgemeinen standen diese Talmudlehrer und rabbinischen Schriftsteller wohl auf dem engen Boden ihrer eigenen Wissenschaften und kamen über die „vier Ellen der Halacha" nicht hinaus, abgesehen von seltenen, Ausnahmen, welche freilich in sehr begrenztem Rahmen das Studium der weltlichen Wissenschaften anrieten und selbst betrieben. Zu ihnen gehörte z. B. Moses Isseries, der allerdings seine Kenntnisse der mittelalterlichen Philosophie nicht aus den Originalen, sondern aus Maimonides „Führer" geschöpft hatte. Einzelne wagten sogar freimütig gegen eine übertriebene Orthodoxie, die Finsternis und Aberglauben predigte, aufzutreten, wie der Rabbiner Abraham, Sohn des Sabattai Horowitz, der zur Verteidigung der Philosophie und besonders des Maimonides eine sehr geistvolle satirische Schrift gegen den Posner Rabbiner Aron, einen der ärgster* Dunkelmänner, veröffentlichte. Die großen Schwächen der mechanischen und einseitigen Erziehung forderten die Kritik besonnener Köpfe heraus. Aber sie hatten in einer Zeit, die sich einer engen Geistesrichtung verschrieben hatte, naturgemäß keinen Erfolg.
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Zweite
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Periode.
Von den Kosakenkämpfen bis zur Zeit der Teilung des Reiches. 1. Verschlimmerung der wirtschaftlichen Verhältnisse; wirtschaftliche und politische Gegensitze in der Ukraine, die Ursachen des Kosakenaufstandes. Das Schicksal hatte es mit Polen nicht sonderlich hold gemeint, als es ihm nach der glanzvollen Jagiellonenherrschaft und dem kraftvollen Regiment Stefan Bäthoris die Könige aus dem Hause Wasa bescherte. Tief war der Fall, den das Land in dem Zeitraum von mehr als sechs Dezennien ;at, welche den Beginn der Regierung Sigismund III. (1587 —1632) von der großen Katastrophe in der Mitte des 17. Jahrhunderts trennen, und keine Bevölkerungsgruppe hatte unter diesen Zuständen schwerer zu leiden als die Juden. Wohl bestätigten Sigismund III. und sein Nachfolger o h n e U'mstände die Generalprivilegien der Juden, aber ihre Unentschlossenheit und völlige Abhängigkeit von jesuitischen Einflüssen machte diese und andere Vergünstigungen in der Praxis bedeutungslos. Die Judenfeindschaft blühte in einem Maße wie nie zuvor, und der gelehrte Doktor Sebastian Miczinsky konnte in seinem „Spiegel der Krone Polens" (1618) an die Deputierten des polnischen Landtages das Ansinnen stellen, die Juden ohne viel Federlesens aus dem Lande zu jagen. Freilich blieb sein Verlangen ein f r o m m e r Wunsch, aber diese und ähnliche Äußerungen in der Literatur gehörten nicht mehr zu den Seltenheiten. Diese ganze Reaktionsepoche unter den Regierungen Sigismund III. und Wladislaw IV. hat infolge der Anfeindungen und Verdrängungen, denen die Juden im Handel und Handwerk ausgesetzt waren, eine tiefe Umwälz u n g in ihrem wirtschaftlichen Leben hervorgerufen, deren Wirkungen sich auf Jahrhunderte hinaus bemerkbar machten. Seit jeher bildete die Pachtung von Einkünften und Ergiebigkeiten aller Art einen ihrer wichtigsten Erwerbszweige. Wie oben gezeigt, lag es im Interesse der Grundheiren, diesen jüdischen Pächtern möglichst freie Hand zu lassen, um unbekümmert um alle Geschäftstätigkeit ihren Neigungen in den großen Städten Europas nachzugehen, auf den Land- und Reichstagen, den Konföderationen und politischen Konven-
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tikeln ihre Zeit totzuschlagen. Gewiß hielt das persönliche Interesse viele Szlachzizen davon ab, sich der judenfeindlichen Agitation des Klerus anzuschließen, aber im ganzen war es doch für den jüdischen Pächter und Schänker kein Glück, wenn er zur Wahrung der materiellen Interessen seines Herrn den Bauer drückte und in ihm Mißstimmung und Verbitterung hervorrief. Alle Verbote der polnischen Behörden und der Judenlandtage, Pachtungen aufzunehmen, erwiesen sich als reiner Schlag ins Wasser. Die Juden waren, eben für die Entfaltung des Pachtgeschäftes und seinen Bestand ein unentbehrlicher Faktor geworden und konnten bei ihrer sonst so jammervollen wirtschaftlichen Lage diese Einnahmequelle nicht missen. Dies umsomehr, als es ja in anderen Berufszweigen nicht gerade trostvoll f ü r sie aussah. Die Kämpfe um die Handelsrechte waren fast überall zu ihren Ungunsten entschieden worden. An vielen Orten w;urdeihnen, um sich ihre Konkurrenz vom Halse zu halten, der Handel in Läden außerhalb dier Jahrmärkte untersagt und nur während dieser Zeiten, zu denen doch die Nachfrage eine größere war, geduldet. Da sie nach Beendigung der Märkte ihren Vorrat entweder auf einen anderen Markt schleppen oder dem christlichen Händler sofort verkaufen mußten, der ihre Notlage zur Herabdrückung des Preises leicht ausbeuten konnte, so schloß das Geschäft nicht selten mit erheblichen Verlusten f ü r sie ab. Drakonische Vorschriften, wie der iLandtagsbeschluß, daß der Verdienst eines polnischen Kaufmanns 7 o/o, eines fremdländischen 5