Die intelligible Welt: Drei philosophische Abhandlungen [Reprint 2012 ed.] 9783111643632, 9783111260716

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German Pages 224 Year 1943

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Vorwort
Einleitung
Die intelligible Welt
Der metaphysische Hintergrund Goethes
Die Einheit der Gegensätze
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Die intelligible Welt: Drei philosophische Abhandlungen [Reprint 2012 ed.]
 9783111643632, 9783111260716

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NISHIDA, DIE I N T E L L I G I B L E WELT

Handschrift des Philosophen Kitaro Nishida (Übersetzung Seite 25)

KITARÔ NISHIDA

D I E I N T E L L I G I B L E WELT DREI PHILOSOPHISCHE ABHANDLUNGEN

In Gemeinschaft mit Motomori Kimura, Iwao Kôyama und Ichirô Nakashimains Deutsche übertragen und eingeleitet von ROBERT

SCHINZINGER

1943

VERLAG WALTER DE G R U Y T E R & CO · B E R L I N

D i e H e r a u s g a b e d i e s e s Werkes e r f o l g t e unter M i t w i r k u n g des J a p a n - I n s t i t u t s zu B e r l i n

Archiv Nr. 346042 . Gedruckt bei Walter de Gruyter & Co Berlin W 35, vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort

VII

Einleitung (von R. Schinzinger)

1

1. Über das Verstehen der japanischen Philosophie . als eines fremdvölkischen Ausdrucks . . . .

2

2. Die weltanschaulichen Grundlagen der japanischen Philosophie

7

3. Nishida als repräsentativer Philosoph des heutigen Japan 20 4. Die Logik des Seins und des Nichts (Einleitung zu 'Die intelligible Welt')

26

5. Die Metaphysik der Kunst (Einleitung zu 'Der metaphysische Hintergrund Goethes')

. . .

33

6. Die Metaphysik der Geschichte (Einleitung zu 'Die Einheit der Gegensätze') 41 I. Die intelligible Welt

55

II. Der metaphysische Hintergrund Goethes . . . 1 2 5 III. Die Einheit der Gegensätze

V

139

VORBEMERKUNG Die runden Klammern in der Übersetzung sind Klammern des Verfassers, die eckigen Klammern sind Hinzufugungen der Übersetzer. Auch die Hervorhebung durch Kursivdruck und durch die besonderen Anführungszeichen » « ist von den Übersetzern zur Erleichterung des Verständnisses vorgenommen worden. Die Gliederung der Abhandlungen in große, numerierte Abschnitte stammt von dem Verfasser; die kleinen Absätze sind auf die Übersetzer zurückzuführen.

VI

VORWORT Die Anregung zu diesem Buche und stete Förderung verdanken wir Herrn Professor Dr. Eduard Spranger, der während seines Aufenthaltes in Japan 1937 auf die Notwendigkeit hinwies, die japanische Philosophie wenigstens in einem ihrer hervorragendsten Vertreter dem deutschen, und damit dem europäischen, Leserkreise zugänglich zu machen. Herr Dr. Kotsuka nahm die Verbindung mit Herrn Professor Nishida auf, der zwar die großen Schwierigkeiten einer solchen Übersetzung kannte, aber doch seine Zustimmung gab, daß die Unterzeichneten in enger Arbeitsgemeinschaft drei seiner Abhandlungen übersetzten. Die zweite Abhandlung 'Der metaphysische Hintergrund Goethes' erschien bereits 1938 in der Zeitschrift 'Goethe' der Goethe-Gesellschaft in Weimar und kommt mit Genehmigung des Verlags hier noch einmal zum Abdruck. Die Zusammenarbeit der Übersetzer vollzog sich in der Weise, daß der deutsche Mitarbeiter seine philosophische Fachkenntnis und in siebzehnjährigem Japanaufenthalt erworbenen sprachlichen und psychologischen Kenntnisse mitbrachte, aber als Nichtjapanologe von dem Germanisten I. Nakashima im philologischen Teil und von den PhiloVII

sophen I. Kôyama und M. Kimura, Schülern Nishidas, in der philosophischen Interpretation unterstützt wurde. Auf diese Weise hoffen wir eine philologisch und philosophisch einwandfreie Übersetzung vorgelegt zu haben. Die durch wortgetreue Übertragung entstandenen Dunkelheiten sollen durch die eingehende Einleitung des deutschen Mitarbeiters aufgehellt werden. Dem japanischen Kulturbund 'Kokusai Bunka Shinkôkai' sind wir für tatkräftige Unterstützung während der Übersetzung, dem Auswärtigen Amt und dem Japaninstitut in Berlin für Ermöglichung der Drucklegung zu größtem Dank verpflichtet. Gerade, daß das Auswärtige Amt diese Arbeit in einer Zeit des Krieges fördert, wissen wir vollauf zu würdigen und hoffen, daß dieses Buch dazu beitragen wird, das Verständnis und die Freundschaft zwischen Deutschland und Japan zu vertiefen und in eine lange glückliche Friedenszeit hinein zu befestigen. M. Kimura I. Kôyama

I. Nakashima R. Schinzinger

Kyoto, Frühling 1941

VIII

EINLEITUNG

1

Schon ist ab und zu in das große Gespräch der deut-

schen und europäischen Philosophie ein Wort aus dem fernen Japan hineingeklungen; aber noch fehlt es an Übersetzungen moderner japanischer Philosophie. Ist es aber überhaupt möglich, die Philosophie eines fremden Volkes zu verstehen? Wenn schon der sprachlich verstehbare Sinn einer Aussage abhängig ist von der dreifachen Bezogenheit auf die beredete Sache, den Redenden und den Verstehenden, so gilt diese Gebundenheit an die geschichtliche Situation in besonderem Maße von der philosophischen Aussage, die nie von ihrem volkhaften, weltanschaulichen Grunde losgelöst als freischwebendes Gebilde betrachtet werden kann. Eine philosophische Aussage ist nicht aus dem geschichtlichen Zusammenhang der Problemtradition herauszunehmen. Und doch reicht sie hinaus über die Standortgebundenheit und hinein in ein Gebiet sachlicher Zusammenhänge. Hier herrscht eine 'kalte Notwendigkeit der Sache', die es einfach nicht zuläßt, daß irgend beliebige Aussagen gemacht werden. Der Seinsgebundenheit der Aussage und ihres sprachlichen Sinnes durch den Standort entspricht die Seinsgebundenheit durch die problematische Sache1. Es muß also grundsätzlich möglich sein, in volkhaft differenziertem Geistesausdruck gemeinsame Tiefenschichten der sachlichen Problematik aufzuspüren. Philosophieren ist ja nicht einfach 'in den Wind reden'; es ist eine Auseinandersetzung mit sachlichen Problemen, deren Eigenstruktur nicht von uns abhängt. Wohl zeigen sich die Probleme so oder so; sie brennen dem einen auf der Seele und lassen den andern kalt; aber wohl selten kommen sie dem andern nicht 1

Vgl. R. Schinzinger 'Sinn und Sein', Kap. II, 'Idee und Ideologie', Tôkyô und Leipzig 1933.

2

in den Horizont (oder gehen ihm absolut über seinen Horizont). Wer möchte ζ. B. die deutsche Philosophie gänzlich aus dem europäischen Gespräch herausnehmen? Wer möchte auch nur mit Sicherheit bestimmen, wieviel deutsche Philosophie diesem großen Gespräch gegeben und was sie ihm verdankt? Wirkt nicht die Auseinandersetzung mit fremdem Geist auch bei Ablehnung des Fremden irgendwie auslösend? Irgendwie im Sinne einer kontrastierenden Selbsterhellung? Ist nicht überhaupt die Abgrenzung des Eigenen nur möglich als eine solche g e g e n . . . ? Diese Abgrenzimg gegen das Fremde setzt aber voraus, daß das Fremde überhaupt an uns angrenzt, daß es überhaupt tangiert. Daß es nicht an uns vorbeiredet. Das heißt aber, daß wir seinen Sinn verstehen, wenn wir ihn auch nicht (für uns) anerkennen mögen. Verstehen ist nicht Anerkennen, aber Voraussetzung für jedes sinnvolle Anerkennen oder Ablehnen. Es ist nicht a priori unmöglich, die metalogischen Grundlagen fremder Kultur zu verstehen und ein Philosophieren zu vernehmen, das aus dem Grunde fremder Existenz zu uns spricht. Es mag ungewohnt sein, in dem gewohnten europäischen Gespräch der Philosophie eine Stimme aus dem fernen Osten mitreden zu hören, doch darf man nicht die Möglichkeit solchen Mitredens von vornherein in Abrede stellen. Man darf es nicht von vornherein nur als Echo der eigenen Stimme (d. h. als Eklektizismus) oder als schlechthin fremden und darum unverständlichen Klang hören wollen. Freilich, um das Fremde vernehmen zu können, bedarf es oft eines feinen Gehörs; denn da ist vor allem der Unterschied des rednerischen Stils : Der gute europäische Redner spricht laut und deutlich. Der gebildete Japaner spricht leise. Eine philosophische Untersuchung muß im Westen 'ausgesprochen' sein; die Analyse i. 3

geht bis ins Kleinste, kein Punkt soll unklar bleiben. Der Japaner liebt das Unausgesprochene, begnügt sich mit Andeutungen. Im Schwarz-Weiß-Bild ist beim Japaner das Weiß beredter als das Schwarz. Für uns existiert in einem Buche wesentlich nur das, was darin geschrieben steht. (Natürlich kann man auch bei uns 'zwischen den Zeilen lesen'). Für den Japaner ist oft das Wesentliche ungeschrieben. Oder wenigstens scheut er sich oft, das auszusprechen, was der Sache nach gedacht werden kann oder muß. Er erlaubt dem Leser, bis zu einem gewissen Grade selbst zu denken. Wir wollen dem Leser alles vor-denken. (Daher Schopenhauers Abneigung gegen das Lesen). Noch eines kommt hinzu: Die japanische Darstellung bedient sich der chinesischen Schrift, der chinesischen Wortzeichen (ergänzt durch zwei japanische Silbenalphabete). Man denkt in diesen Begriffszeichen, die eine mehrtausendjährige Tradition bergen und deren Anschauung daher mit unendlichen Beziehungen gesättigt ist, die zwar nicht ausdrücklich im jeweiligen Gedanken gesetzt sind, aber doch im Gefühl mitschwingen. Da ist noch etwas von ursprünglicher Ehrfurcht vor dem Zauber des einzelnen Wortes und des einzelnen Schriftzeichens lebendig, so daß die Übersetzung der einzelnen Wörter das nicht wiedergeben kann, was die Anschauung der Wortschriftzeichen dem Autor und Leser an wesentlicher Stimmung bedeutet und vermittelt. Im Deutschen erhält der an sich mehrdeutige bzw. bedeutungsreiche Begriff des Wortes erst im Funktionszusammenhang des Ganzen einer Aussage seine Bestimmtheit und damit seinen prägnanten Sinn. Im Japanischen soll das Wort seine vielseitige Bedeutungsfülle, die ihm an sich eigen ist, durch den Funktionszusammenhang durchaus nicht einbüßen, so daß es geradezu problematisch wird, hier von einem Funktionszusammenhang zu sprechen. Dastehend in 4

der sinnfälligen Anschaulichkeit seines Ursinnes, dem Wissenden vertraut durch konfuzianistische, taoistische und buddhistische Tradition, zudem noch bezogen auf Grundbegriffe westlicher Philosophie, bringt das Begriffszeichen eine derartige Bedeutungsfülle und einen derartig reichen Hintergrund der Gefühle und Stimmungen mit, daß es sich als einzelnes dem Gefüge überordnet und nicht im Funktionszusammenhang der Aussage, sondern schon an sich selbst den Fortgang des Denkens bestimmt. Das japanischePhilosophieren ist von der ästhetischen Funktion des Wortes nicht zu trennen. Der Japaner sieht die Begriffe als Bilder. Von Meisterhand geschriebene Schriftzeichen sind Gemälde. Sie werden als Kunstwerke gewürdigt2. Aber nicht nur, wie es geschrieben ist, sondern schon auch, welches Zeichen gewählt ist, kommt in Betracht. Eine Folge von Zeichen kann dem Leser viel geben, wo uns die Wortübersetzung beinahe banal erscheint. Wir sind nicht geneigt, die Wahl eines Wortes als philosophische Leistung anzusprechen, außer bei wirklicher Sprachschöpfung wie bei Fichtes 'Tathandlung', Hegels 'aufheben', Nietzsches 'Übermensch'. Nishidas Philosophie ist überreich an Wahl und Schöpfung von Wörtern. Seine Neuschöpfiingen beruhen meist (weil abhängig von der chinesischen Schrift) auf einer Zusammensetzung von Wortzeichen. Während derartige Zusammensetzungen als Bereicherungen des je einzelnen Wortsinnes gelten dürfen, gilt in den europäischen Sprachen im Gegenteil die Regel, daß das Adjektiv der Tod des Substantivs ist. Häufung wirkt bei uns abschwächend. Aus diesem Grunde ist im folgenden der für uns barock klingende Titel 2

Vgl. die Wiedergabe der Nishidaschen Handschrift am Anfang. Das von dem Philosophen geschriebene Gedicht ist als Rollbild ('Kakemono') aufgezogen. (Im Besitz meines Mitarbeiters, Prof. Nakashima.)

5

'Absolut widerspruchsartige Selbstidentität' ('Zettai mujunteki jikodoitsu') mit 'Die Einheit der Gegensätze' wiedergegeben. Oder eine Zusammensetzung wie 'hyôgen-saiyôteki', wörtlich 'ausdrucks-tätigkeits-gemäß' mußte teils mit 'ausdrucksfähig', teils mit 'durch Ausdrucksfunktion' wiedergegeben werden; in jedem Falle verliert für uns das Wort 'Ausdruck' durch die Zusammensetzung etwas von seiner ursprünglichen Fülle und Tiefe. Die ästhetische Funktion des Wortes beruht nicht zuletzt in seiner Vieldeutigkeit und geschmeidigen Vielsinnigkeit. Das dichterische Wort will sich nicht festlegen lassen, es wendet sich an die freie Einbildungskraft. In diesem Sinne ist die japanische Sprache von Natur dichterisch. Aber eben dieser Vorzug behindert sie im streng begrifflichen Gang wissenschaftlicher Darstellung. Eine für den japanischen Leser geistvolle Definition eines Subjekts-Begriffs-Zeichens durch andere, aber inhaltgleiche Prädikatszeichen muß in der Übersetzung als bloße Tautologie wirken. Die japanische Darstellung schreitet zufolge ihres bildhaft-statischen Charakters gleichsam von Anschauung zu Anschauung, von Gefühl und Stimmung zu Gefühl und Stimmung fort und büßt durch die Übersetzung weit mehr ein, als es schon bei jeder europäischen Sprache der Fall ist. Der an die verschiedene Sprech- und Schreibweise gebundene, typisch japanische Denkstil erschwert durchaus das Verstehen, macht es aber nicht unmöglich. Man kann wohl grundsätzlich sagen, daß der Japaner stets ganzheitlich denkt. Intuitiv-anschaulich und stark durch Gefühl und Stimmung bestimmt, geht das japanische Denken von einer undeutlichen Auffassung der Gesamtsituation aus, dringt zu immer deutlicherer Erfassung derselben vor und hat von da aus ein Gefühl für den Zusammenhang und die richtige Stelle der Teile. Geht man aber wie bei uns von einem Teile aus und sucht in schrittweise logischem Fortgang den Zusam6

menhang zu den andern Teilen und dem architektonischen Ganzen, so erscheint dieses Verfahren dem Japaner als abstrakt. Dazu kommt noch, daß ihm die Höflichkeit verbietet, die Dinge allzu direkt beim Namen zu nennen. Das Japanische ist in hohem Maße, wie Suzuki sagt3, ausweichend und unbekümmert um das Detail. Man kann sagen, daß wir gerade in der entgegengesetzten Richtung marschieren: Wir wollen loskommen vom allzu Differenzierenden, Analytischen und Logisch-Begriifliehen; wir streben nach einem Ganzheitsdenken. Der Japaner will von seinem intuitiven und etwas unbestimmten Ganzheitsdenken loskommen und sucht in der europäischen Philosophie die klare analytische Methode, das streng logisch-begriffliche Denken. Noch mehr wird der grundsätzliche Unterschied im Philosophieren merklich, wenn dieses sich Gegenständen zuwendet, die schon ihrer Natur nach mehr oder weniger unaussagbar sind, wie das bei K. Nishida der Fall ist. Bevor wir aber zur Charakterisierung der Nishidaschen Philosophie übergehen, haben wir die völkische Besonderheit der japanischen Weltanschauung im allgemeinen zu betrachten.

2 I apanische Weltanschauung, als Ganzes gesehen, ruht I auf dreifachem Grunde: Da ist erstens der uralte, autoJ chthone Kult Japans, 'Shintô' (d. i. Weg der Götter), die Ehrfurcht vor der Vergangenheit. Da ist zweitens, vor alters von China übernommen, die Lehre des Konfuzius von den sittlichen Normen der gesellschaftlichen Gegenwart. Und 3

D . T . Suzuki, 'Die große Befreiung' (übers, aus dem Englischen—

Suzuki schrieb selbst auf Englisch — 1939, S . 4 7 .

7

von H . Zimmer), Leipzig

da ist drittens, von Indien über China gekommen, der Buddhismus als religiöse Besinnung auf Zukunft und Ewigkeit. Im Shintô hat sich vor Urzeiten die Seele Japans kundgegeben; dieser mythische Ausdruck des tiefsten Selbst des japanischen Volkes hat in der gleichen Unmittelbarkeit durch die Jahrtausende sich bewahrt und ragt als ehrwürdiges Urgestein neben den späteren Bildungen eines reflektierten Bewußtseins in die Gegenwart hinein. Shintô ist als die das ganze Leben umspannende kultische Form der ureigene und unaussagbare Rhythmus des völkischen Lebens der Japaner; was als Staatskult und Mythos sichtbare Gestalt hat, lebt innerlich und gestaltlos in jedem Japaner. Shintô ist das Bewußtsein vom völkischen Vaterhaus, von 'Nippon' als ewiger Heimat und heiliger Ordnung. Es ist das Gefühl für die Reinheit und Heiligkeit der Natur, wie es sich in den kosmischen Zeugungsmythen bekundet (wonach Götter, Land und Menschen nicht 'gemacht', sondern gezeugt sind) und in der Verehrung von Bergen, Wasserfällen und heiligen Bäumen bekundet und in dem reinen, schlichten und naturhaften Bau des Nationalheiligtums in Ise ausdrückt. Aller japanischen Staatsphilosophie liegt 'kokutai', das Bewußtsein von der Einheit, Naturhaftigkeit und Heiligkeit der kaiserlichen Regierung zugrunde; das Gefühl für die Einheit und Heiligkeit der Natur und des Lebens überhaupt ist ein Grundzug jeder japanischen Philosophie. Vor allem aber ist Shintô die Ehrfurcht vor den Ahnen, den kaiserlichen Ahnen, den Heroen und den Ahnen der eigenen Sippe; ja dies ist geradezu eine kultische Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten, — ewige Gegenwart der Vergangenheit. Dieser gefühlsmäßigen Grundrichtung des japanischen Lebens steht in der gedanklich nüchternen und starren Sittenlehre des Konfuzius und seiner Schule ein Prinzip scharf 8

abgrenzender Lebensformung gegenüber. Der Konfuzianismus bildet das feste Gefüge des gesellschaftlichen Lebens in alter Zeit und trotz moderner Lockerung in der Tiefe auch heute noch. Er gibt sozusagen die nachträgliche rationale Begründung für die irrationalen ursprünglichen Gemeinschaftsformen in Staat und Sippe, und zwar durch die fundamentale Lehre von der fünffachen Bindung: Kaiser — Untertan, Vater — Sohn, älterer Bruder — jüngerer Bruder, Mann und Frau, Freund und Freund. Um dieses feste Grundgefüge rankt sich eine reiche Fülle praktischer Lebensregeln der Sitte und Etikette. Die Überzeugung von der Entsprechung äußerer und innerer Formung des Menschen bildet die Grundlage der konfuzianistischen Lebensweisheit. Ein starker Wille zu ordnender Abgrenzung kommt aus dieser Wurzel. Das Familiensystem, die tragende Grundlage des japanischen Gemeinschaftslebens, hat hier seine ethische Fundierung. Hier ist der Umkreis aller Pflichten klar abgesteckt und abgegrenzt. Freilich kann eine solche abgrenzende Klassifizierung der Zuständigkeiten auch bedrohlich werden für die lebendige Einheit; da liegt Gefahr der Überspezialisierung, der Starrheit und der Bürokratie. Andererseits ist es wohl gerade dem Konfuzianismus zu danken, daß in Japan bei der Beurteilung des Philosophen die Überzeugung lebendig ist, daß der Philosoph nicht allein durch seine Verstandesleistung, sondern auch — und dies in erster Linie — durch seine Persönlichkeit Achtung verdiene. Darum wird ihm als Lehrer die gleiche Achtimg zuteil wie dem Vater und älteren Bruder. Zeitlebens bleibt er der Lehrer, der Meister, der 'sensei' (d. i. Lehrer — aber eben im japanischen Sinne!). Stets hält die Pietät für den Lehrer die Kritiklust des Schülers in Schranken und dämpft den Ruf nach Individualität und Originalität. Die kritisch-wegwerfende Gebärde, die einmal bei der jüngeren 9

Philosophengeneration in Europa Mode gewesen ist, konnte in Japan nie als Zeichen guten Geschmacks gelten1. Es ist für den Europäer schwer vorstellbar, welch ein sittlicher Ernst in der japanischen Gelehrtenzunft lebendig ist, — wenn auch natürlich die Verehrung für den Lehrer zu Cliquenbildung an der Universität tendiert. Bedeutet Shintôismus die ewige Gegenwart des Vergangenen und Konfiizianismus die praktisch-sittliche Formung der konkreten Gegenwart, so tut der Buddhismus die Tore ewiger Zukunft vor uns auf: Die japanische Philosophie — so sehr sie sich auch vom Dogmatismus der buddhistischen Sekten freigemacht hat — ist doch von der geistigen Tradition und Atmosphäre des Buddhismus nicht zu trennen. 1500 Jahre lang hat der Buddhismus in der Form des Mahayana-Buddhismus die Seele des japanischen Volkes beherrscht und sein geistiges Leben gelenkt2. Der Mahayana-Buddhismus ist im Grunde pantheistisch; ihn durchzieht der Grundgedanke, daß Buddha in allen Dingen ist, daß alle Dinge Buddha-Natur haben. Alle Dinge, alle Wesen, sind potentiell zur Buddhaschaft und damit zur Erlösung prädestiniert. Um das in allen Wesen identische Buddha-Wesen der Welt zu erkennen, bedarf es einer Betrachtungsweise, die von aller Besonderheit der Dinge absieht und zum Erlebnis der All-Einheit kommt. Wenn die Besonderheit der Dinge und auch die Besonderheit des menschlichen Ich verschwindet, dami wird in der absoluten Leerheit, im 'Nichts', die abso1

Vgl. hierzu unten Abschnitt 3.

2

Über Mahayana-Buddhismus vgl. Gundert, 'Japanische Religionsgeschichte', Tòkyo i935jPetzold, 'Goethe und der MahayanaBuddhismus' in 'Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft in Japan*, Tôkyô 1936 und D. T . Suzuki, 'Essays in Zen Buddhism' Vol. I, London 1927.

10

lute Einheit erfaßt. Durch die Versenkung in die absolute Leerheit, den 'Raum', das 'Nichts', bringt das Erlebnis der Einheit alles Seins den Frieden der Seele, absolute Ruhe, Erlösung vom Leiden. Das 'Nirwana', von der Menge als Paradies nach dem Tode vorgestellt, ist nichts anderes als die Erfüllung dieses Erlebnisses der All-Einheit. Da ist, wie die deutschen Mystiker sagen, die Seele in dem unendlichen Ozean der Gottheit untergetaucht und aufgegangen. Nur daß der Buddhismus nicht von Gott spricht und die Existenz einer Seelensubstanz leugnet. Die verschiedenen Sekten oder Schulen unterscheiden sich durch die Methode, wie man zur Erlösung gelangt: bei einer Sekte ζ. B. genügt die bloße Anrufung des Buddhanamens3, wenn sie nur innig und ständig erfolgt; bei philosophischeren Schulen dagegen sind besondere methodische Versenkungsübungen erforderlich, um zum Erlebnis der All-Einheit und damit zur Erlösung zu gelangen. Nach allem, was anfänglich über die Einheit und Heiligkeit der Natur im shintôistischen Lebensgefühl gesagt worden ist, ist es verständlich, daß der Mahayana-Buddhismus mit seinem Pantheismus in Japan tiefe Wurzeln fassen und Jahrhunderte lang eine innige Lebenseinheit mit dem autochthonen Shintôismus führen konnte. Obgleich der Shintôismus bei der Erneuerung des Reiches vor 80 Jahren in seiner Reinheit wiederhergestellt worden ist, bestehen doch Buddhismus und Shintôismus heute konfliktlos neben- und miteinander. Wenn der Mahayana-Buddhismus sich selbst nicht als lebensfeindlich und pessimistisch bezeichnet und sich eine positive Bedeutung zuerkennt im Gegensatz zu der indischen Urform des Hinayana-Buddhismus, so ist dies in dem 3

Vgl. D. T. Suzuki, 'Essays in Zen Buddhism', Vol. II, S. 179fr.

11

aufgezeigten pantheistischen Sinne zu verstehen. Sogar der metaphysische Grundbegriff des 'Nichts' erhält eine positive Bedeutung durch die Lehre von der Identität des Einen und der Vielen. Der Erleuchtete erkennt Samsara als Nirwana4. Die grundsätzliche Abkehr von der negativen und pessimistischen Haltung des indischen ( — besonders Hinayana-)Buddhismusj wie er uns durch Schopenhauers Lehre vertraut ist, vollzog sich vermutlich in China und hat sich in Japan vollendet5. Ein wichtiger Unterschied von Hinayana und Mahayana liegt auch darin, daß der hinayanistische Arhat wesentlich danach strebt, selbst in Nirwana einzutreten und Buddha, d. h. der Erleuchtete, zu werden, während der mahayanistische Bodhisatva nicht endgültig in Nirwana eingehen will, bevor nicht alle Wesen erlöst sind. Daher betet der Mahayana-Buddhist zu dem 'Erlöser' Amida-Buddha. Mahayana ist also vorwiegend religiös und Fremderlösung, Hinayana dagegen areligiös und Selbsterlösung (vgl. Gundert, Suzuki, Petzold u. a.). 4

Trotz der vom Mahayana-Buddhismus betonten und von uns anerkannten positiven Bedeutung kann man sich doch der Vermutung nicht verschließen, daß der Buddhismus für die typisch wehmutsvolle und entsagende Stimmung in der japanischen Literatur verantwortlich ist. In diesem Sinne sagt Kreßler ('Mono no aware' in der Festschrift der Ostasien-Gesellschaft für Karl Florenz, Tòkyo 1935 S. ι ο ί ) , ' D i e Lehre des B u d d h a . . . drückte dem von Hause aus naiv-heiteren japanischen Volksnaturell ein melancholischdüsteres Gepräge auf und lenkte so, allmählich zur Dominante weltanschaulichen Fühlens geworden, auch die literarisch-ästhetische Geschmacksrichtung in diese Bahn'. Außer dem 'mono no aware' findet sich auch bei anderen ästhetischen Grundkategorien der Japaner eine weltflüchtige Stimmung: vgl. 'yû-gen' (Gundert, 'Über den Begriff 'Yúgen' bei Seami' in der gleichen Festschrift für Karl Florenz) und 'sabi' (Überschaar, 'Bassho'; 'Mitteilungen' der O. A . G . Tòkyo 1935 S. 12). Wenn dagegen Sano ('Zur Stellung der japanischen Kunst in dem System der europäischen Kunstwissenschaft' in 'Zeitschr. f. Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft', X X V I I I . Bd, Heft 3) das Diesseitsfrohe, die Freude und das Genügen an der Erscheinung als Wesens5

12

Von allen in Japan verbreiteten Sekten ist philosophisch am bedeutsamsten 'Zen\ den Ohasama den 'lebendigen Buddhismus in Japan' nennt6. Wieviel die Entfaltung und Vertiefung der japanischen Kultur überhaupt seit der Kamakura-Zeit7 dem Zen-Buddhismus verdankt, ist heute noch kaum abzusehen8. Zen ist nicht Philosophie in unserem Sinne. Andere Schulen, wie Tendai und Kegon, sind ungleich reicher an logischer Grübelei und metaphysischer Spekulation. Zen ist in mancher Hinsicht eher der deutschen Mystik ähnlich, trotz aller noch aufzuzeigenden Wesensunterschiede. Was ist Zen? Und was ist Zen nicht? Zen ist nicht Theorie; eben dadurch unterscheidet er sich von Philosophie, die doch wesentlich auf theoretische Erkenntnis ausgeht. Aus demselben Grunde ist Zen auch nicht Theologie; im Gegensatz zu jeder auf Theologie und Historie reduzierten Religion ist Zen die lebensvolle Praxis des nach Erlösung strebenden Menschen. zug japanischer Weltanschauung betont, wofür er sich auf das farbenfrohe Ukiyo-e berufen kann, so ist dies vielleicht so zu deuten, daß dem Japaner selbst seine ursprünglich diesseitsfrohe Natur stärker bewußt ist, während dem europäischen Beschauer die durch konfuzianistische und buddhistische Überlagerung geschaffene Nuancierung auffälliger entgegentritt. • Ohasama-Faust, 'Zen, der lebendige Buddhismus in Japan', Gotha-Stuttgart 1925. ' XII./XIII. Jahrhundert. D . T . Suzuki, 'Zen and its influence on Japanese Culture'. Während Suzuki dem Zen-Buddhismus einen allumfassenden Einfluß auf die Entfaltung der japanischen Kultur zuschreibt und ihn auch als ein wesentliches Element in der Entwicklung des japanischen Charakters ansieht, wird von anderer Seite Zen als fremder Einfluß und als — wenn nicht unjapanisch, so doch als — nicht wesenhaft japanisch bezeichnet. Es handelt sich eben um jenes komplizierte Kulturphänomen, daß ein Volk an Fremdem sich selbst entdeckt.

8

13

Zen ist wesentlich irrational und darin der Mystik verwandt ; seine Grundlage ist kein Dogma, sondern das unmitte bare und darum unaussagbare individuelle Erlebnis. Wenn es überhaupt zu einer Aussage kommt, muß diese umschreibend, indirekt hinführend und hinweisend sein. Worauf sie hinweist, ist das jeweilig ganz persönliche religiöse oder metaphysische Erlebnis. Das Ziel dieses Erlebens ist die 'Erleuchtung', seine Erfüllung 'Nirwana'. Die Erleuchtung selbst tritt plötzlich, blitzartig ein; japanisch 'satori'9. Als mittelbarer Hinweis und aufschließende Vorbereitung ist die Aussage wesentlich paradox. Die Aussage will ja etwas aussagen, das schlechthin unaussagbar ist. Das Paradox ist ja auch ein Wesenszug der deutschen Mystik, und die dialektische Methode und Logik Hegels verwaltet in diesem Sinne zweifellos ein altes mystisches Erbe. Wo wir heute in der japanischen Philosophie — besonders bei Nishida — dem Paradoxon und einer dialektischen Logik begegnen, da handelt es sich durchaus nicht um eine bloß äußerliche Nachfolge deutscher Mystik, Kierkegaards und Hegels, sondern um ein, aus dem Zen-Erleben strömendes inneres Erfassen sachlicher Notwendigkeit. Was Zen bei aller Wesensverwandtschaft mit der deutschen Mystik grundsätzlich von derselben trennt, ist seine durchaus diesseitige und praktische Tendenz. Der rassisch zu deutende Wandel des Zen-Buddhismus von indischer phantastischer Spekulation zu chinesischer nüchterner Sachlichkeit — unter Abweisung jeder Magie — hat sich in Japan vollendet und noch mehr von der festgelegten Form zur Einfachheit und Wesentlichkeit konsequent weiterentwickelt. Nur so ist es zu verstehen, daß Zen geradezu eine Erziehungsfunktion im Ethos der ritterlichen Stände erhalten konnte und heute noch vielfach als erzieherische * Vgl. D . T . Suzuki, 'Die große Befreiung' (ausgewählte deutsche Übersetzung der Essays, Leipzig 1939).

14

Methodik der charakterlichen Konzentration geschätzt wird 10 . Vermutlich ist überhaupt die künstlerische und charakterliche Durchformung des japanischen Menschen in Hinsicht auf Ganzheit und Geschlossenheit des Daseins dem Einfluß des Zen am stärksten verpflichtet. Immer aber wissen wir noch nicht, was Zen eigentlich ist. Vielleicht müssen wir, um dies zu erfahren, selbst in ein Zenkloster gehen und unter Anleitung eines erfahrenen Meisters an den Meditationsübungen teilnehmen, dem 'zazen', das auf uralte indische Kontemplation ('Dhyana') zurückgeht, und dem 'Zen' auch seinen chinesischen Namen verdankt. Und wenn wir dann, nach monate- oder jahrelanger Übung, zu 'satori', zur Erleuchtung gelangt sind, könnten wir es immer noch nicht aussagen, da ja das Wesentliche unaussagbar bleibt. Das Prinzip des Zen ist Schweigen. Nur der erfahrene Zen-Meister ist in der Lage, auch ohne rationale Verständigung den durch 'satori' Verwandelten zu erkennen. Durch die Erleuchtung wird der Mensch verwandelt. Das ist, wie die deutschen Mystiker sagen, ein Sterben und eine Wiedergeburt11. Mit der Verwandlung des Menschen ist offenbar auch die ganze Welt in ein neues Licht getaucht. Der Mensch selbst ist von innen heraus ruhig, stark und heiter geworden. 'Die Tonart des Lebens ist geändert'. 'Alle deine geistigen Kräfte wirken in einem neuen Grundton, beglückender, friedvoller, freudiger als je zuvor' 12 . Meister Eckhart sagte, daß weder Lieb' noch Leid noch irgend etwas, das Gott in der Zeit erschaffen hat, den zerstören könne, der die Gottesgeburt in sich erfahren hat, 10

Vgl. R. Schinzinger, 'Vom Wesen und Werden der japanischen Jugenderziehung' in 'Internationale Zeitschrift für Erziehung', Berlin 1938. 11 Vgl. das von Nishida zitierte Zen-Gedicht; unten S. 1 1 9 . 11 D . T . Suzuki, 'Die große Befreiung', S. 136.

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und daß ihm alle Dinge als klein und unvermögend erscheinen. Ebenso entschieden, wenngleich in der Äußerung weniger innig, oft sogar rauh, ist die Verwandlung durch 'satori' 13 . Nach allem, was den indirekten Aussagen über 'satori' zu entnehmen ist, handelt es sich bei der Erleuchtung um die Entdeckung des Buddhawesens der Welt im eigenen Selbst. Es ist 'das Tor des unmittelbaren Hinweises auf das Menschenherz und der Buddhawerdung durch Schau der (eigenen) Wesensnatur'14. Nach der allgemeinen Mahayana-Lehre ist ja der göttliche Wesenskern des Seins, das 'Dharmakaya', in allen Seienden das Eine und Identische. Das Sein ist Eins und Vieles zugleich. Das Eine ist das Wesen, die Vielheit ist Erscheinung und Schein. Wie der christliche Mystiker Gott in allen Dingen sieht, so sieht der buddhistische Mystiker das Dharmakaya in allen Dingen. Auch der dem christlichen Mystiker seit alters vertraute Zentralbegriff des 'Spiegeins' dient dem buddhistischen Mystiker zur Verdeutlichung des ganzen und ungeteilten Enthaltenseins des Dharmakaya in allen Dingen. Derselbe Begriff des Spiegeins ist ein Grundbegriff der Philosophie Nishidas. Der Mahayana-Buddhismus sagt, das Dharmakaya sei in allen Wesen so, wie der eine und identische Mond sich in tausend Wassern im unendlichen Ozean wie in den zahllosen winzigen Tautropfen, ja in trüben Tümpeln und Pfützen, spiegle und in jeder Spiegelung ganz und ungeteilt da sei. Das von Leidenschaften zerwühlte Herz ist ein zu trüber Spiegel, um das Dharmakaya sichtbar werden zu lassen. Daher die Medita13

Vgl. hierzu die Zen-Legende, wie sie Ohasama und Suzuki erzählen. 14 Kitabatake Chikafusa, 'Jinnô Shôtô-ki', übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Hermann Bohner, Tôkyô 1935, Band I, S. 264.

16

tion, die zugleich eine Reinigung und Entleerung der Seele ist. Dem durch 'satori' Erleuchteten ist mit einem Male das eigene Herz transparent geworden15. Und auch die Dinge sind auf einmal von einer gleichsam kristallenen Transparenz. Der Urgrund alles Seins leuchtet aus allem Seienden. Nach allem was über Zen geschrieben (und gesprochen) worden ist, kommt es darauf an, daß der Mensch in seinem eigenen Dasein das Sein selbst offenbar werden läßt. (Kein Wunder, daß den japanischen Philosophen Heideggers Metaphysik vom Offenbarwerden des Seins am Nichts im menschlichen Dasein als ein vertrauter Ton anspricht). Hat der Mensch einmal durch die Erleuchtung die letzte transzendente und transzendentale Einheit erreicht, so ist er über alle Gegensätzlichkeit hinaus, sozusagen 'jenseits von Gut und Böse'. Auch der Urgegensatz von Subjekt und Objekt ist geschwunden; das heißt aber: die Erkenntnis ist in ein Sein umgeschlagen. Zen beruft sich darauf, daß Gautama durch die Erleuchtung unter dem Bodhi-Baume zum Buddha, d. i. zum Erleuchteten wurde, und begreift folgerichtig die Erleuchtung als das Wesensmoment des Buddhismus. Erleuchtung ist schon Eingehen in Nirwana. Unter Geringschätzung aller dogmatischen Lehrmeinungen und unter Berufung auf die 'unmittelbare' Überlieferung ist Zen einzig auf dieses Ziel der Erleuchtung gerichtet. Diesem Ziele dient die in jahrhundertelanger Übung ausgebildete Praxis der Meditation. Die Predigt hat nur vorbereitende Bedeutung, und die paradoxen Meditations-Aufgaben ('ko-an') sollen zum Scheitern des Intellekts führen. Das alles soll nur für die Intuition reif machen, soll nur helfen, die Tür von innen aufzustoßen. Für den Erleuchteten, der in sich und in den Dingen die 35

Vgl. die Erlebnisberichte bei Suzuki, 'Essays', vol. II. S. 88 und a. a. O. 2 Nishida,

D i e intelligible W e l t

17

wahre Wirklichkeit schaut, ist etwa ein Stein mehr als bloß Stein. Nicht, weil er etwas anderem, etwa einem Tiger, ähnlich sähe, sondern eben weil er durch und durch Stein ist und als solcher ein Ausdruck der reinen Wirklichkeit ist. Aus dem lieblich geöffneten Kelch der Lotosblume schaut ihn — um es christlich-romantisch auszudrücken — das Auge der Gottheit an, und aus ihm selbst leuchtet das gleiche Auge. So daß man mit Meister Eckhart sagen kann: 'Das Auge, mit dem ich Gott sehe, und das Auge, mit dem Gott mich sieht, ist das gleiche Auge.' Nur eben immer mit der Einschränkung, daß der Mahayana-Buddhist nicht von Gott spricht, sondern vom 'Nichts'. Aus dem letzten Einheits-Erleben im 'Nichts' kommt jene, dem Zen eigene Sicherheit und Gelassenheit des Daseins. Krieger gehen in den Kampf, Heilige leben in Waldeinsamkeit, Maler entwerfen mit wenigen sicheren Pinselstrichen ein durchgeistigtes Bild der Landschaft, wo selbst Steine unter der Tusche lebendig sind. In allen Dingen ist Buddha. Das Wesen des Zen — so möchte ich abschließend sagen — ist erfülltes Leben. Jeder Augenblick unserer zeitlichen Existenz 'entscheidet', kann zur Selbstoffenbarung des Seins werden. Ein Augenblick ruhiger Sammlung im kleinen Teezimmer, — draußen rieselt ein feiner Herbstregen, — das Bild in der Nische zeigt zwei kräftig gepinselte Schriftzeichen: der Löwe brüllt. Die volle Kraft lebendiger Wirklichkeit ist im gesammelten Augenblick ganz und ungeteilt gegenwärtig. Gesammelte allseitig freie Kraft, innerlich erfülltes Leben, Existenz aus der Mitte heraus: das ist Zen. Vollkommen ausbalancierte innere Freiheit in jedem Augenb ick. Ist dann aber Zen nicht überhaupt alles ? Ist das nicht das Ziel jeder wahren Lebensanschauung und praktischen Philosophie? Zen strebt nicht nach dem Ruhm der Originalität 18

dieser Zielsetzung; Zen ist Übung auf dem Wege dahin. Wenn zum Beispiel Goethe ein derart erfülltes Leben aus der Mitte heraus lebte, so hat er — von Japan aus gesehen — Zen. Daher kommt wohl das tiefe und wahre Interesse der Japaner an Goethe 16 . Umgekehrt: was ist — von uns aus gesehen — am Zen nicht Goethe? Da ist vor allem das Nichtsein des Ich. Trotz Goethes Altersweisheit vom 'Entsagen' ist uns das buddhistische Maß von Entpersönlichung fremd. Die Wertschätzung der individuellen Seele, der originalen Persönlichkeit, des Genies, trennt uns vom Osten. Und da ist das unerbittlich harte Ringen in klösterlicher Enge, die Meditation vor der Wand. Dies widerspricht dem deutschen Sinn des Wortes 'erfülltes Dasein'. Die bei aller praktischen Lebensbewährung des Zen doch zugrundeliegende asketische Haltung widerspricht unserem, an griechischer Kunst, römischer Politik, mittelalterlich-deutscher Innigkeit und faustischem Drang, italienischer Renaissance und deutscher Romantik genährten Begriff von 'Fülle des Lebens'. Schwer abzuschätzen ist, ob und wieweit das wesentlich Unpersönliche des Dharmakaya einer wesenhaft deutschen Weltanschauung gemäß sein könnte, da doch auch in der deutschen Mystik das 'Nichts' eine wesentliche Grundkategorie ist. Noch ist eines zu beachten: dem Zen ist es nicht darum zu tun, das 'erfüllte Leben' (wie wir es hier kurz bezeichnen) zu 'wissen', sondern er setzt alles daran, es 'in den Griff zu bekommen'. Nicht durch Wissen und Lernen, sondern allein durch 'Übung' läßt sich die Einheit des Lebens in den Griff nehmen. Nur von innen heraus, aus dem — nicht im Kopfe zu lokalisierenden — Zentrum der leiblich-seelischen Einheit und Ganzheit des Menschen heraus strömt die kraftvoll-sichere Gelassenheit des Pinselle

Vgl.

Nishida,

'Der

metaphysische

unten Abschnitt 5 und S. 125.



19

Hintergrund

Goethes',

striche wie des Schwerthiebs. Solange noch der Kopf, der Intellekt, das angestrengte Bewußtsein, auf irgend etwas — oder auf die Verneinung von irgend etwas — gerichtet ist, sind Gespanntheit und Unsicherheit unvermeidlich17. Erst die geistige Entspannung, die intellektuelle Entleerung entbindet nach Suzuki im absoluten Nichts, in der absoluten Leerheit, das vollkommen freie, vom Strom der reinen Wirklichkeit selbst gelenkte Spiel der Kräfte mit seiner nachtwandlerischen Sicherheit. Im Nichts hat Zen das erfüllte Leben.

3

B

ei der Vielfältigkeit der auf dem Grunde von Shintoismus, Konfuzianismus (mit Einbeziehung des Taoismus) und Buddhismus sich entwickelnden japanischen Weltanschauung zeigt sich doch ein gemeinsamer Wesenszug: das praktische Moment überwiegt das theoretische und bewährt sich in der Ganzheit und Geschlossenheit der menschlichen Existenz. Zugleich Denker, Dichter, Maler und Meister des Schwerts, so will der japanische Mensch 17

Vgl. Suzuki a. m. O. über den Einfluß des Zen auf die japanische Kultur. In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, daß ein japanischer Psychiater in vielen Fällen statt der sehr langwierigen Psychoanalyse mit Erfolg Zen-Kontemplation machen ließ. Weiterhin kann hier nur kurz auf die psychologische Interpretation C. G. Jungs im Vorwort zu der Zimmerschen Übersetzung von Suzuki, 'Die große Befreiung' (Auswahl aus den Essays) hingewiesen werden. Jung unterstreicht mit Recht das Unbewußt-Naturhafte im Zen, das überhaupt der Mutterboden der Religion ist. Jedoch ist er vielleicht zu sehr auf das objektivBildhafte des 'Simultanablaufs' des Unbewußten gerichtet auf Kosten des subjektiv-Verhaltungsmäßigen im unbewußten élan vital, den die Zen-Disziplin vermittelt.

20

im Umgang mit Welt zu existenzieller Meisterschaft gelangen, das Leben in den Griff bekommen. Hier ist auch der Grund dafür zu suchen, warum die Seele Japans weniger nach theoretischem Ausdruck in einer japanischen Philosophie strebte als vielmehr eine Darstellung des eigensten Wesens, des eigenen Selbstseins in der Kunst verwirklichte. Philosophie im eigentlichen, d. h. griechischen Sinne begegnet uns in Japan erst mit der Meiji-Zeit1, wenngleich die Disputationen, von denen die ersten spanischen Missionare im 16. Jahrhundert berichten2, ein Zeugnis dafür sind, daß die Buddhisten, wenigstens die Zen-Buddhisten, den philosophisch geschulten Jesuiten gewachsen waren oder zum mindesten die Sache recht schwer machten. Der ganze Reichtum des europäischen Geistes eröffnete sich den Japanern erst in der Meiji-Zeit, und zwar auf einmal. Wie ein einziger Taumel ergriff es damals alle Geister, so etwa, wie es Europa einmal in der Zeit der Renaissance erlebt hat. Damals fand auch die Philosophie als Wissenschaft Eingang in Japan und wurde unter dem Namen 'tetsu-gaku' (d. i. Weisheitswissenschaft) ein Lehrfach an der neugegründeten Universität in Tòkyo. Ein Deutscher (R. Koeber), ein Schüler Euckens, wurde nach Tokyo berufen und machte den deutschen Idealismus hier heimisch. Sein Name und sein Wirken ist in der älteren Gelehrtengeneration heute noch unvergessen. In den damaligen Lehrjahren der japanischen Philosophie haben hauptsächlich drei Richtungen nacheinander oder 1

In der Meiji-Periode ( 1 8 6 8 — 1 9 1 2 ) hat sich das Reich nach drei-

hundertjähriger Abschließung den Einflüssen des Westens geöffnet. 2

Georg Schurhammer, S . J . , 'Die Disputationen des P. Cosme

de Torres S. J . mit den Buddhisten in Yamaguchi im Jahre 1 5 5 1 ' Mitteilungen der O. A . G . T ò k y o 1929.

21

gleichzeitig großen Einfluß gehabt: der deutsche Idealismus, besonders Fichte, dessen Philosophie der Tathandlung dem heroischen Geist der Meiji-Zeit gemäß war; der amerikanische Pragmatismus, dessen antispekulative CommonSense-Philosophie an den auf unmittelbare Praxis gerichteten japanischen Sinn appellieren konnte; sodann Bergsons irrationalistische Lebensphilosophie, deren 'élan vital' wiederum dem japanischen Lebens- und Naturgefühl zusagte®. Hier besteht vermutlich ein tiefer innerer Zusammenhang mit dem oben aufgezeigten dreifachen Grunde japanischer Weltanschauung. Heute ist Japan, dessen Kulturentwicklung einen eigentümlichen Rhythmus von Rezeption und Restauration aufweist, wieder in die Phase der Selbstbesinnung auf die eigenen völkischen Werte eingetreten. Damit ist auch der japanischen Philosophie der Gegenwart eine neue Aufgabe gestellt. Die Wanderjahre, in denen japanische Gelehrte in allen Ländern und bei allen Philosophen studierten, scheinen zu Ende zu sein; die japanische Philosophie will heute das, was allgemein ist an der Philosophie, mit den eigenen metalogischen Voraussetzungen versöhnen, um so zu einer wahrhaft japanischen Philosophie zu kommen, die ebenso sehr den allgemein logischen Anforderungen wie dem Anspruch der eigenen Geschichtlichkeit gerecht wird. Ein in diesem Sinne repräsentativer Philosoph Japans ist Kitaro Nishida. Nishidas Kindheit und Jugend fallen in die große Zeit der Meiji-Restauration; sein philosophisches Wirken hat die letzten 25 Jahre erfüllt und ihn zum verehrten Meister gemacht. Es gibt keinen Philosophen im heutigen Japan, der sich Nishidas Einfluß hätte entziehen können. Seit er 1928 vom Lehramt am der K. Universität in Kyoto zurückgetreten ist, wirkt dort sein Schüler H. Tanabe, der den Ruhm 3

Vgl. hierzu G. Kuwaki, 'Die philosophischen Tendenzen in Japan', Kantstudien 1928.

22

der philosophischen Fakultät dieser Universität aufrecht erhält 4 . Nishida selbst lebt zurückgezogen teils in Kyoto, teils in Kamakura. Seiñe Werke sind in bisher 14 Bänden im Verlag Iwanami, Tokyo, erschienen 5 . Auf Deutsch sind bisher erschienen 'Der metaphysische Hintergrund Goethes' (hier noch einmal zum Abdruck gebracht), sodann übersetzt

von

F. Takahashi: 'Die morgenländischen

und

abendländischen Kulturformen in alter Zeit vom metaphysischen Standpunkte aus gesehen' (in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1939) und 'Die Einheit des Wahren, des Guten und des Schönen' (in Journal of the Sendai International Society, 1940) 6 . So sehr Nishidas Philosophieren vom Westen, besonders 4

Vgl. Taketi, 'Die japanische Philosophie' in 'Blätter für deutsche Philosophie', 1940. 6

Im folgenden sind die Titel der Bände auf Deutsch wiedergegeben. Die Reihenfolge der Bände entspricht der Erscheinungszeit. I. 'Studie über das Gute' — II. 'Denken und Erleben' — III. 'Anschauung und Reflexion im Selbstbewußtsein' — IV. 'Das Problem des Selbstbewußtseins' — V. 'Kunst und Moral' — VI. 'Vom Wirkenden zum Schauenden' — VII. 'Das Selbstbewußtsein des Allgemeinen'. (Dieser Band enthält die hier übersetzte Abhandlung 'Die intelligible Welt') — VIII. 'Die Selbstbestimmung des Nichts' — IX. 'Grundfragen der Philosophie' — 'Die Welt der Handlung' — X. 'Grundfragen der Philosophie. Neue Folge' — 'Die dialektische Welt' — XI. 'Sammlung philosophischer Abhandlungen'. — 'Plan zu einem philosophischen System' — XII. 'Denken und Erleben. Neue Folge.' (Dieser Band enthält den hier übersetzten Aufsatz 'Der metaphysische Hintergrund Goethes') — X I I I . 'Sammlung philosophischer Abhandlungen. Zweite Reihe.' — XIV. 'Sammlung philosophischer Abhandlungen. Dritte Reihe.' (Dieser Band enthält die hier übersetzte Abhandlung 'Die Einheit der Gegensätze'.) 6

Vgl. hierzu auch R. Schinzinger, 'Über Kitarô Nishidas Philosophie' in 'Monumenta Nipponica', Tòkyo 1940. (Erste Darstellung der Nishidaschen Philosophie in europäischer Sprache.) 23

von der deutschen Philosophie bestimmt ist, so geht es doch letztlich aus dem Grunde der eigenen Existenz hervor und mündet wieder dahin. In der Art und Weise, wie er die uns vertrauten Probleme anfaßt und ihrer Lösung bzw. Bearbeitung zuführt, zeigt sich das Orientalische, in Sonderheit Japanische seines Wesens und Philosophierens. In der langen Zeit seines Wirkens hat sein Denken natürlich auch eine Entwicklung durchgemacht; sie ist in sich folgerichtig und wird als zunehmend dynamisches und dialektisches Denken in der Reihenfolge der hier wiedergegebenen Abhandlungen sichtbar. Nishidas Methode ist ein in die Tiefe des Bewußtseins vortastendes, aufzeigendes Verfahren. Dasselbe wird durch den Widerspruch in Gang gebracht und in Bewegung erhalten. Was sich zuerst gleichsam wie von ferne zeigt, wird bei weiterem Eindringen immer deutlicher. Aufweisend, apodeiktisch ist die Methode in dem Sinne, daß sich dem eindringenden Blick immer Neues und Tieferes darbietet. Man könnte seine Abhandlungen Meditationen nennen; Nishida scheint denkend zu schreiben und schreibend zu denken; er legt nicht einen fertigen Gedanken einfach vor uns hin. Daher muß der Leser den Windungen dieser in die Tiefe spiralenförmig vordringenden Meditation folgen und selbst die Gedankenarbeit mit vollziehen. Um Nishida zu verstehen, müssen wir uns an all das erinnern, was über die japanische Weltanschauung im allgemeinen und den Zen-Buddhismus im besonderen gesagt worden ist. Nishida ist durch Zen aufs stärkste beeinflußt7. Methodisch ist der Hang zum Paradoxen und die Dialektik durch Zen bestimmt; rhetorisch die Neigung zu formelhaft beschwörenden Wiederholungen. Vor allem aber ist inhaltlich eine Verwandtschaft mit der Zen-Mystik wie auch mit der deutschen Mystik, die er sehr 7

Vgl. hierzu besonders 'Die intelligible Welt', Kap. 9.

24

gut kennt, für seine Philosophie charakteristisch. Vom deutschen Idealismus und Dilthey hat er viel Grundsätzliches übernommen. Wenn man aber versuchen wollte, mit literarhistorischer Emsigkeit allen Einflüssen einzeln nachzugehen, so würde man dabei das Wesentliche verfehlen. Denn ganz abgesehen davon, daß es dem wahren Philosophen immer mehr auf Wahrheit als auf Originalität ankommt, liegt eben gerade bei der Philosophie das Wesentliche im Ganzen und nicht in den Einzelheiten. Das wesentliche Ganze aber ist durch die buddhistische Metaphysik des 'Nichts' bestimmt, als dessen Auseinanderlegung alle Erscheinungen und das Denken selbst verstanden sind. Die starke Wirkung Nishidas ist weiterhin auch darauf zurückzuführen, daß seine Schüler unmittelbar unter dem Eindruck seiner philosophischen Persönlichkeit stehen. In Japan hat man ein sehr lebendiges Gefühl dafür, ob wirklich der ganze Mensch philosophiert oder nur der Intellekt. Wir, die wir in Deutschland von der bloß intellektuellen Virtuosität zur Lebensganzheit zurückgefunden haben, werden gerade in diesem Punkte den Japaner am ehesten verstehen. Freilich kann eine Übersetzung von Abhandlungen keinen Eindruck der Persönlichkeit übermitteln. Aus diesem Grunde ist diesem Buche ein handschriftliches Gedicht des Philosophen vorangestellt, welches lautet: 'Meine Seele hat so tiefen Grund; weder der Freude noch des Leides Wellen erreichen ihn.'

25

4

D

as letzte Umgreifende, in dem alles Bestimmte bestimmt, alles Begründete begründet ist, und zu dem unser denkendes, fühlendes und handelndes Selbst als zu seiner tiefsten Tiefe vorstößt, in dem alle Gegensätzlichkeit ausgelöscht ist, die Kluft zwischen Subjekt und Objekt verschwindet, ja sogar das Gegenüber von Seele und Gott nicht mehr ist, dieses Letzte, in dem alles nur irgend Seiende als natürlich, selbstbewußt oder intelügibel Seiendes seinen Ort' hat und als 'Sein' bestimmt ist, dieses Letzte, das eben darum selbst nicht mehr in einem Andern seinen Ort hat oder als Sein bestimmt wird, ist das Nichts. Das Nichts ist die transzendentale und transzendente Einheit der Gegensätze, wo sich die Seele in ihrer tiefsten Tiefe als reinen Spiegel des Ewigen weiß. Die Aufgabe der Philosophie ist für Nishida nicht, dogmatisch aus diesem Letzten, dem Nichts, das Etwas, das Bestimmte, Sein, Gestalt, Zeitlichkeit, Individuelles und Persönliches zu deduzieren. Die Aufgabe sieht er umgekehrt darin, aufzuzeigen, wie das Etwas, das Bestimmte, Sein, Gestalt, Zeitlichkeit, Individuelles und Persönliches, zutiefst in diesem 'Nichts' stehen, von ihm umgriffen sind,— wie dieses 'Nichts' das Letzte ist, das hinter den Dingen steht. Nishida unternimmt es nicht, das Letzte, Unaussagbare logisch bestimmen zu wollen, die Transzendenz metaphysisch erkennen zu wollen. Er will aber auf das Dasein von Transzendenz in und hinter dem Seienden hinweisen. (Man denke etwa an Jaspers' Begriff der Metaphysik.) Das Offenbar-werden-lassen von Transzendenz ist noch keine erkenntnismäßige Bestimmung derselben. Sein ist immer Bestimmt-sein; das, wodurch das Seiende bestimmt ist, ist das 'Allgemeine'. Nach Hegel hat das Urteil die Bedeutung: das Einzelne ist das Allgemeine. Die 26

in Urteilen sich vollziehende Erkenntnis ist nach Nishida 'Selbstbestimmung des Allgemeinen'; der Urteilende ist für die Wahrheit des Urteils ohne Bedeutung. Im Allgemeinen des Urteils ist das Seiende der 'natürlichen Welt' als Sein bestimmt. Im Urteilsallgemeinen hat die natürliche Welt ihren logischen Ort'. Sein ist immer ein 'Darin-Sein'. Der Sinn des Seins verschiedener 'Welten' oder Seinsbereiche ist also durch das jeweilige 'Darin-Sein' und das jeweilige 'Allgemeine', das den 'Ort' bildet, bestimmt. Da ist erstens die 'natürliche Welt', die Welt der äußeren Erfahrung, die natürlich-physikalische Welt. Sie hat ihren 'Ort', wie gesagt, in dem Allgemeinen des Urteils. Hier liegen (in der Prädikatsebene) die Prädikate bereit, wodurch das Einzelsein (das Subjekt, aber nicht Prädikat sein kann) bestimmt wird. Da ist zweitens die Welt der inneren Erfahrung, die 'Bewußtseinswelt'. Ihr Sein ist das Darinsein im Sinne des ImBewußtsein-seins. Das Allgemeine ist das des Selbstbewußtseins. Das Sein der natürlichen Welt ist durch dies Sein der Bewußtseinswelt wie mit einem kostbaren Futter ausgeschlagen. Der zweite Seinsbereich ist tiefer bzw. höher, er ist,umgreifend'; das natürliche Sein ist dadurch gleichsam getragen und erweitert. Solange das Bewußtsein seinen Inhalt nur weiß, ist ihm derselbe noch äußerlich. Erst im Wollen und Handeln hat das Bewußtsein seinen Inhalt wirklich als den seinigen. Das handelnde Ich macht die äußere Welt zu seinem Wirkungskreis; die Handlung, als ein Geschehen in der äußeren Welt, ist 'Ausdruck' des Willens. Das Außen ist Ausdruck des Innen, das handelnde Selbst nimmt die äußere Welt in sich hinein, es umgreift sie nicht minder als seine innere Welt. Erst beim wollenden und handelnden Ich ist das Allgemeine des Selbstbewußtseins wahrhaft umgreifend. Besonders harmonisch ist das 27

Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Außen und Innen, im Gefühl. Da ist dann drittens die 'intelligible Welt', die Welt der Idee. Das Allgemeine, in dem sie ihren 'Ort' hat, ist nicht mehr das des Urteils und auch nicht mehr das des Selbstbewußtseins, sondern das der intellektuellen Anschauung oder schlechthin das 'intelligible Allgemeine'. Im Urteilsallgemeinen wurde ein Subjekt durch ein Prädikat bestimmt. Im Selbstbewußtseinsallgemeinen wurde ein Ich selbstbewußt bestimmt. Im intelligiblen Allgemeinen wird ein transzendentales Selbst durch intellektuelle Anschauung bestimmt, als Anschauung der 'Idee'. Die Ideen des Wahren, Guten und Schönen bilden den Inhalt der 'intelligiblen Welt'. Über das natürliche Sein erhebt sich das bewußte Sein, über das bewußte Sein erhebt sich das intelligible Sein. Die jeweils höhere Seinsschicht erreicht man durch 'Transzendieren'. Durch Transzendieren wird in der Richtung des Prädikats der Prädizierende sichtbar, das Subjekt der Bewußtseinswelt. In der Richtung des Urteilssubjektes drängt die Irrationalität des Einzelseins als eines Wirkenden über die natürlich-physikalische Welt hinaus. In der Bewußtseinswelt stehen nicht mehr Subjekt und Prädikat, sondern Ich und Inhalt einander gegenüber. Das Ich hat als wollendes Ich in sich den Widerspruch des zugleich bejahten und verneinten Nicht-Ich an sich, der über es hinaustreibt zur Transzendenz, zum transzendentalen Ich, dem 'Bewußtsein überhaupt' im Sinne Kants. Der Bewußtseinsinhalt weist über sich hinaus auf eine transzendentale (und transzendente) Welt der Idee. In der Tiefe unseres Selbst ist das intelligible Selbst, das sich selbst anschaut. Der Inhalt dieser Anschauung ist die Idee. Am vollkommensten ist diese Anschauung in der künstlerischen Anschauung; hier ist ein harmonischer Ausgleich erreicht : Innen und Außen sind eins geworden. 28

Vom Standpunkt des Bewußtseins aus gesehen, ist das Selbst in der künstlerischen Anschauimg im reinsten Sinne schöpferisch. Auch das 'Bewußtsein überhaupt' ist als konstitutives schöpferisch; als reines Erkenntnissubjekt enthält es die Region der Kategorien, mit denen es im Urteil den Gegenstand der Erkenntnis aufbaut. Allerdings ist der Inhalt dieser theoretischen intellektuellen Anschauung immer noch die reale Welt; die theoretische intellektuelle Anschauung ist nur formal, sie zeigt nur die abstrakte Seite der Idee. Der Sinn des Seins der realen Welt hat sich modifiziert: dem Bewußtsein überhaupt steht eine Welt des Sinnes, der Geltung, des Sollens gegenüber. Im sittlichen Bewußtsein, welches die Idee des Guten anschaut, ist dieses Sollen ein reines 'Gesetz' geworden und hat überhaupt keinen Gegenstandscharakter mehr. Im Gewissen schaut das intelligible Selbst unmittelbar sich selbst an. Die Idee ist nicht mehr anschaulich, wie bei der künstlerischen Anschauung, wo das Schöne die Erscheinungsform des Ewigen ist, sondern als Idee des Guten 'regulativ'. Nishida will das 'Bewußtsein überhaupt' als Sein begreifen, indem er ihm seinen Ort' anweist. Er will das freischwebende 'transzendentale Subjekt' wieder mit unserem individuellen und persönlichen Selbst verknüpfen, indem er das intelligible Selbst als den tiefsten Grund unseres persönlichen und individuellen Selbst erfaßt. Dieser Grund wird im Transzendieren offenbar, wenn die Problematik des wollenden Ich über sich selbst hinausweist auf das intelligible Allgemeine, in dem Ich und Nicht-Ich durch die 'intellektuelle Anschauung' versöhnt sind. Die intelligible Welt selbst ist nicht transzendent im Sinne einer jenseitigen Welt, sondern das wahre Sein der Welt. Im intelligiblen Selbst wiederum ist das moralische Selbst zur reinsten Selbstanschauung (im Gewissen) gelangt. Aber auch das Gewissen hat noch den Widerspruch an sich: je 29

moralischer es ist, um so unmoralischer ist es. Teils im Sinne des moralischen Stolzes ('der Verirrte ist Gott am nächsten'), teils in dem Sinne, daß wir uns um so schuldiger fühlen, je 'schärfer' unser Gewissen ist. Auch das moralische Bewußtsein drängt über sich selbst hinaus zur Transzendenz, auch die 'Idee des Guten ist nur ein Schatten von etwas, das selbst gestaltlos ist'. Durch Transzendieren des Moralischen erreichen wir das Religiöse. In dieser tiefsten Tiefe des Selbst ist die 'Selbstverneinung', ohne welche es kein 'Leben in Gott' geben kann. Die Ideen haben, wie die christliche Metaphysik sagt, ihren Ort in Gott. Noch tiefer aber als diese christliche Religionsansicht ist nach Nishida die Erkenntnis des 'Nichts' im Sinne des ZenBuddhismus. Das umgreifendste Allgemeine, in dem alles Sein als Sein bestimmt ist, das aber selbst nicht mehr als Sein bestimmbar ist, ist das Nichts. Nur wo wir offen sind für das Nichts, wird das Sein offenbar. Erst — mit Heidegger gesprochen — in das Nichts hineingehalten, wird das Sein offenbar. Die Theodizee von Leibniz hat ihren Sinn darin, daß nur im Dunkel das Helle sichtbar ist. Anders Malebranche, der ein Gemälde ohne Schatten geben will, gleich einem gotischen Bilde auf Goldgrund. Bei Nishida ist das Nichts beides, Dunkel und Goldgrund, und vor diesem 'Hintergrund der Ewigkeit' ist alles, wie es ist, ohne ein Woher seines Kommens und ohne ein Wohin seines Gehens. Es ist da, mit einer 'wundervollen Selbigkeit'. Diese erlösende Einsicht und Seinsbejahung kommt aber nicht aus dem in Widerspruch verwickelten moralischen Bewußtsein; sie kommt aus einer Tiefe, in der es kein Gut und kein Böse mehr gibt. In dieser Tiefe ist das religiöse Wissen des absoluten Nichts. Mit dem Nichts der Mystik hat das Nichts Nishidas dies gemein, daß es mit der Gegensätzlichkeit auch alles be30

stimmte Sein transzendiert und doch selbst den Grund aller Bestimmung und alles Seins bildet. Jedoch ist bei Meister Eckhart Gott nur darum 'Nichts', weil er kein bestimmtes Seiendes, sondern das Sein alles Seienden ist. Bei Nishida aber kann das 'Nichts' als absolutes Nichts nicht mehr ontologisch interpretiert werden. Im Gegensatz zu der wesentlich ontologisch orientierten europäischen Philosophie ist für Nishida das Ursprüngliche nicht ein 'Sein' (sei es auch das wahrhafte Sein der Idee wie bei Piaton oder 'Geist' oder tathandelndes Ich), sondern eben das Nichts. Dieses Nichts ist auch nicht wie das der Hegeischen Philosophie durch Widerspruch antithetisch zu Sein als Nichtsein gedacht; eher wie Hegels 'wahres Unendliche', das in und mit dem Endlichen gegenwärtig ist. Eben darin, daß das Nichts in und mit dem Sein gegenwärtig ist, lebendig und erfüllt, sieht Nishidas Schüler Kôyama1 das eigentümlich Japanische im Gegensatz zum Indischen, wo das Nichts wesentlich entleert und überirdisch ist. Zweiweltenlehre und transzendenter Gott sind nach Kôyama gleichfalls dem Japaner im Grunde fremd. Das Nichts Nishidas ist transzendental verstanden der Grund aller Bestimmung und darum selbst unbestimmt; der Grund alles Persönlichen und darum selbst unpersönlich ; der Grund alles Seins und darum selbst Nichts. Metaphysisch verstanden, ist alles Sein Selbstentfaltung des unendlichen gestaltlosen Nichts; alle endliche Gestalt ist ein Schatten dieses Gestaltlosen. Das ist in gewissem Sinne pantheistisch, da das Nichts in allem Sein ist, als dessen tiefster Grund, wesentlich unpersönlich und niemals Gegenstand der Erkenntnis. Das Transzendentale und das Metaphysische sind in eins gesetzt, wenn es heißt, daß alles Seiende letztlich im Nichts seinen Ort habe. 1

I. Kôyama, 'Nishida-tetsugaku' (Nishida-Philosophie), Tôkyô

1935-

31

Der O r t ' ist der Zentralbegriff der Nishidaschen Logik. Er dient Nishida vor allem dazu, nicht nur das begriffliche Erkennen, sondern auch das Gebiet des Bewußtseins, besonders Handeln und Wollen, wie das religiöse Erlebnis durch eine einheitliche Form philosophisch zu bewältigen. Für die natürliche Welt, die Bewußtseinswelt und die intelligible Welt gilt nunmehr in gleicher Weise diese philosophische Grundkategorie des 'Ortes'. In der Logik wollte Nishida die Subjektslogik des Aristoteles, die alle Prädikate auf das Hypokeimenon bezieht, dieses aber als irrationalen Rest stehen läßt, durch eine Prädikatslogik des Ortes' ersetzen, wo die Subjekte durch den Ort bestimmt sind. Der logische Ort ist seinerseits bezogen auf die höhere Schicht und so fort bis zum letzten irrationalen Rest, dem Allgemeinen des absoluten Nichts. Nishida geht vom Gegenstande aus und sucht den Ort', in dem und durch den der Gegenstand als 'Sein' bestimmt wird. Wo die Eigenart des Gegenstandes die Struktur des Ortes sprengt, wo Widerspruch auftritt, da muß eine noch tiefere Bestimmungsschicht, ein umgreifendes 'Allgemeines' aufgesucht werden, in dem dieser (für die bisherige Schicht relativ irrationale) Gegenstand 'wahrhaft' seinen Ort hat. So wird durch Überschreiten und 'Transzendieren' jeweils ein 'Umgreifendes' sichtbar, das zugleich dem anfänglichen abstrakten Urteilsallgemeinen gegenüber immer konkreter ist. Der konkreteste umgreifende Ort ist das Nichts. Das Transzendieren in der Gegenstandsrichtung (Urteilssubjekt—Noema — intelligibles Noema), wodurch stets eine neue Gegenstandswelt (natürliche Welt — Bewußtseinswelt — intelligible Welt) als 'Seiendes' sichtbar wird, ist aber auch zugleich ein Transzendieren, das in der Richtung des Urteilsprädikates (Intention — Noesis — intelligible 32

Noesis) alsTranszendieren des bewußten Selbst vorschreitet. Sein ist immer ein 'Darm-Sein', ein 'seinen Ort Haben'. Was aber selbst nur noch Ort ist und in keinem Andern seinen Ort hat, ist nicht mehr Sein. Es wird daher das 'Nichts' genannt. Von jedem Seienden führt der Weg zum Nichts, wenn es verstanden wird als bestimmt durch das Urteilsallgemeine und eingeschlossen im Selbstbewußtseinsallgemeinen, in dessen Tiefe das sich selbst anschauende intelligible Selbst getragen und umgriffen ist vom Nichts. Glanz und Fülle des Seins werden unendlich gesteigert durch die Ergriffenheit der Einsicht, daß alles 'von da kommt, wo nichts ist, und dahin geht, wo nichts ist'.

5

D

as Schöne ist für Nishida die Erscheinung des Ewigen in der Zeit 1 . Zugleich ist ihm die Kunst eine 'unendliche Entwicklung des freien Ich' 2 . Die Idee des Schönen ist die Selbstanschauung des reinen, intelligibeln Ich in einer Gestalt, die der objektiv-subjektiven Wirklichkeit angehört. Hier, wo in der schönen Gestalt die vollkommene Harmonie des Außen und Innen erreicht ist, wo der Künstler, indem er die Welt darstellt, sich selbst ausdrückt, ist die subjektive Tätigkeit der Persönlichkeit höchste Objektivität. So etwa, wie der mathematische Gedanke, je reiner er ist, je mehr er aktive Leistung der Persönlichkeit ist und sich zugleich von der 'Realität' entfernt, um so mehr 'objektive Wahrheit' hat3. Die reine Subjektivität kann sich nur verwirklichen, indem sie sich in die objektive Welt hineinbildet. Erst wenn der 1

'Die intelligible Welt', Kapitel V I I .

2

'Die Einheit des Wahren, des Schönen und des Guten' (übers,

von F . Takahashi, Sendai 1940), S . 1 3 1 . 3

Ibid. 1 3 1 .

S Nishida, Die intelligible Welt

33

Maler mit dem Pinsel vor der Leinwand steht, eröffnet sich ihm der Weg zu seiner eigenen unendlichen Idee hin' 4 . Daher sagt Nishida in bezug auf alle Kulturgebiete: 'Je tiefer die Persönlichkeit ist, desto aktiver ist sie' 5 . Durch die Aktivität wird die Tiefe offenbar; und zwar wird mit der konkreten Persönlichkeit auch das offenbar, was hinter ihr steht und sie gleichsam 'vom Rücken her umschließt'6. Dieses im tiefsten Grunde des intelligiblen Selbst umgreifende Letzte ist das absolute 'Nichts'. Durch die Persönlichkeit vermittelt, ist das Schöne die Erscheinung des Absoluten. Das letzte Umgreifende kann als 'metaphysischer Hintergrund' eines Werkes faßbar werden. In einem Werke der Kunst als Ausdruck einer schöpferischen Persönlichkeit wird uns auch das vermittelt, was hinter dem schaffenden Künstler steht. In der Bestimmung dieses Hintergrundes versagt das logisch Rationale. Es kann sich nur darum handeln, die Berührung mit Transzendenz indirekt spürbar werden zu lassen. Aus dieser äußersten Schwierigkeit, das Unsagbare sagbar zu machen, wird das eigentümlich Indirekte und nur Andeutende im Stil Nishidas verständlich, wie es uns in dem Aufsatz 'Der metaphysische Hintergrund Goethes' charakteristisch entgegentritt. Schon das Wort 'metaphysisch' ist interpretierende Hinzufügung der Übersetzer, wodurch angedeutet werden soll, welche Weite des Gedankens und Tiefe des Gefühls Nishida hier mit dem Wort 'Hintergrund' verbindet. Es ist dem Philosophen eigentümlich, wie in einem Tuschbild der Zen-Schule mit wenigen Strichen anzudeuten, was die schöpferische Einbildungskraft hineinsehen und herauslesen muß. Wo dieses mitschaffende Erleben versagt, muß freilich das Wesentliche unverstanden bleiben. 4

Ibid. 163.

5

Ibid. 132.

6

Vgl. 'Der metaphysische Hintergrund Goethes'.

34

Das Kunstwerk ist nach Nishida gleichsam ein Relief, herausgeschnitten aus dem Marmorblock der Ewigkeit. Das Relief ist von diesem Block nicht zu trennen, der vielmehr selbst ein wesentliches Stück des Werkes ist. Dieser Untergrund oder Hintergrund der Ewigkeit ist für Nishida am stärksten fühlbar in der buddhistischen Kunst des Ostens und in der frühchristlichen Kunst des Westens. In diesen Werken werden wir unmittelbar von der tiefen metaphysischen Ergriffenheit des Künstlers berührt. Aus dem jeweiligen Verhältnis von Hintergrund und dem, was darin gestaltet ist, ergibt sich die Verschiedenheit von Kirnst überhaupt: »Daß die Kunst des Ostens im allgemeinen unpersönlich ist, muß daran liegen, daß in ihr dieser Hintergrund selbst einen Wesensteil der Kunst ausmacht. Daraus entsteht ein gestaltloses, grenzenloses Nachwogen, ein stimmloser, grenzenloser Nachklang.« Das Lebensgefühl der griechischen Kunst ist von einem ganz anderen, typisch verschiedenen Hintergrund getragen: »Die Ewigkeit der Griechen steht als Angeschautes vor uns, sie umschließt uns nicht vom Rücken her.« Das griechische Kunstwerk ist Abbild der Idee, seine plastische Schönheit ist vollkommen, und doch fehlt ihm für Nishidas Gefühl eine gewisse Tiefe des Hintergrundes, die uns dann später in der christlichen Kunst begegnet. In der Frühzeit der christlichen Kunst ist »in ihrer Innerlichkeit etwas, das an die buddhistische Malerei des Ostens erinnert.« Es vollzieht sich geschichtlich ein typischer Wandel des Hintergrundes ; in der Renaissance ist er durch das kraftvoll dynamische Lebensgefühl bestimmt. In Michelangelos Kunst ist dieser Hintergrund 'ungeheuer',... »als stünde man vor eines tiefen Kraters schwarzem Flammenwirbel.« Um das schlechthin Unbestimmbare zu bestimmen und das Unsagbare sagbar zu machen, bedient sich Nishida einiger Begriffe, die der ostasiatischen Kunstbetrachtung entnom3· 35

men sind. Da spricht man nämlich, um die Verschiedenheit der inneren Weite eines Bildes zu bezeichnen, von 'hochweit', 'tief-weit' und 'eben-weit'. In ähnlicher Weise unterscheidet Nishida in dem 'Hintergrunde' 'Gestalthaftes' und 'Gestaltloses'. Das Gestalthafte hat entweder 'Höhe'(Dante) oder 'Tiefe' (Michelangelo); das Gestaltlose aber hat 'Höhe ohne Höhe, Tiefe ohne Tiefe, Weite ohne Weite'. Während die Kunst der Renaissance meist einen gestalthaft hohen oder tiefen Hintergrund hat, ist der Hintergrund der Kunst Goethes 'ein gestaltlos ins Unendliche sich Ausdehnendes'. Dieser Hintergrund ist aber — und darin sieht Nishida das wesentlich Deutsche und Christliche bei Goethe — tathaft und persönlich. »Goethes 'Natur' verneint keineswegs die Individualität; sie läßt vielmehr überall Individuelles entstehen. Sie ist wie ein unendlicher Raum, der, selbst gestaltlos, Gestalten ausprägt.« Dieser Gestalten schaffende gestaltlose Hintergrund begegnet uns in Goethes Dichtungen bald als Mondlicht, bald als Meer, bald als Nebel. (Vgl. 'An den Mond', 'Der Fischer' und 'Erlkönig'). Überall ist dieses Gestaltlose persönlich, »wesentlich etwas, das mit unserem Herzen zusammenklingt«. Goethes Weg von jugendlich prometheischem Titanismus zur 'Entsagung' des Alters wird von Nishida interpretiert als Weg von der 'Tat' zur 'Erlösung', — zur Erlösung, die 'Tat', 'strebendes Bemühen', in sich einschließt. Das Persönliche ist mit dem Unpersönlichen versöhnt. »Goethes Monade, anders als die fensterlose Monade bei Leibniz, ist etwas, das unendlich tief bis in den Grund der Ewigkeit hinein klingend verhallt.« Wenn Nishida in Goethes 'Natur', der gestaltlosen, Gestalten schaffenden, ein Mitschwingen und 'Mitklingen' (im Original deutsch) spürt, 'bis in den unergründlichsten Grund unseres Herzens', so bedeutet uns dies, daß der Grund des Selbst und der Grund der Welt das eine um36

greifende 'Nichts' der Nishidaschen Philosophie ist. Wir erinnern uns an die Einheit von Seelengrund und Grund der Gottheit in der deutschen Mystik. In der Tiefe jenes Hintergrundes Goethescher Dichtung ist »etwas wie das Auge eines Freundes, wie die Stimme eines Fremdes, die unsere Seele tröstet.« — »Bei Goethe ist kein Innen und kein Außen; was ist, ist, wie es ist, es kommt von dort her, wo nichts ist, und geht da hin, wo nichts ist; und eben darin, daß es so aus dem Nichts herkommt und in das Nichts hineingeht, ist ein leiser Klang des Menschlichen«. Ein Leben in diesem gestaltlosen Hintergrund des 'Nichts' ist nun keineswegs selbst nichtig oder leer. Im Gegenteil: es umschließt, wie wir sahen, Persönlichkeit, Tat und Erlösung; es ist ein höchst erfülltes Leben. In eben diesem erfüllten Dasein sieht Nishida die Brücke zur Weltanschauung des Ostens. »Dem Goethe des Mannesalters, der die Befreiung von Wertherschen Leiden suchte, gab Rom die 'Römischen Elegien'; dem Goethe des Greisenalters, der die Befreiung von der Wirklichkeit suchte, gab der Orient den 'West-östlichen Divan'.« . . . »Und wenn wir in dieser Richtung noch weiter gehen, berühren wir, wie wir es in der Kunst des Ostens sehen, etwas wie eine Kunst der Trauer ohne den Schatten der Trauer, eine Kunst der Freude ohne die Farbe der Freude«. Da ist die Kunst des vollendeten Seelenfriedens, durch den, unbeschwert wie das Mondlicht durch einen tiefen Brunnen, das Licht der Ewigkeit auf dem Grunde der Seele sich spiegelt. Zeit und Geschichtlichkeit sind in diesem Hintergrunde mit der Ewigkeit versöhnt: die griechische Kultur, die 'alles zu einem Schatten der Ewigkeit', zu einem Abbild der Idee macht, hat den Schwerpunkt der Geschichte in 'ewiger Vergangenheit'. Das Christentum andererseits, das alles zu einem Weg nach der Ewigkeit macht, verlegt den Schwerpunkt der Geschichte in 'ewige Zukunft'. Dieser Wider37

spruch wird nach Nishida dialektisch aufgehoben durch eine Auffassung, die die Geschichte nicht allein als ein Strömen aus ewiger Vergangenheit in ewige Zukunft begreift, sondern als 'Gegenstrom zu der Bewegung von der Zukunft zur Vergangenheit'. Die Zeit wird nach Nishida gleichsam in ewiger Vergangenheit geboren und verschwindet in ewige Zukunft. Aber Geschichte ist zugleich ein Gehen mit der Zeit und auch ein ständiges Vergehen des Zukünftigen in Vergangenheit. Es ist, als ob wir eine herunterkommende Rolltreppe hinaufsteigen, so daß sich die beiden Bewegungen aufheben. Wir schreiten in die Zukunft, und die Zukunft kommt uns näher, wird Gegenwart und gleitet unter unseren Füßen weg in die Vergangenheit. Wir aber stehen im Jetzt, im 'ewigen Nun'. »Geschichte ist dauernder Umschwung im ewigen Nun«. In diesem Nim ist die Zeit zugleich 'eingeschlossen' und 'ausgelöscht'. Zeit und Ewigkeit sind im 'Nun' versöhnt. In der Geschichte als der vom zeitlosen Nichts umgriffenen Zeitlichkeit wird das 'Persönliche' als Inhalt der Ewigkeit offenbar. Hier steht das Zeitliche in der Ewigkeit, und die Ewigkeit ist in die Zeitlichkeit eingetreten. »Wie unser Geist sich in sich selbst anschaut, so ist das Persönliche ein Bild der Ewigkeit, das sich in der Ewigkeit spiegelt«. Dieses Spiegeln geschieht im ewigen Nun: »Wo die Zeit eingeschlossen und zugleich ausgelöscht wird, da wird, als Inhalt der Ewigkeit, das Persönliche angeschaut.« Das heißt aber: Ewigkeit und Persönliches sind nicht außer dem Geschichtlichen in einer transzendenten Welt zu suchen; die vom Nichts umgriffene Zeitlichkeit macht das Persönliche offenbar und erweist sich selbst als Relief, herausgeschnitten aus dem Marmor der Ewigkeit. Geschichte ist die Selbstbestimmung des Ewigen in der Zeit, 'Selbstbegrenzung im ewigen Nun'. Für eine solche Auffassung der Geschichte — worauf auch der metaphysische Hintergrund Goethes hin38

weist — »kommt alles daher ohne ein Woher seines Kommens und geht dahin ohne ein Wohin seines Gehens, und was ist, ist ewig wie es i s t . . . « Die tiefe Ergriffenheit durch die Berührung mit Transzendenz geht als unendliches 'Nachwogen' und 'Nachklingen' durch alle Gestaltungen menschlichen Daseins; die Ergriffenheit erhält sich als ein besonderer Rhythmus der Existenz. Religion in diesem Sinne beansprucht kein besonderes Gebiet des Daseins und bestreitet daher auch keiner anderen ein solches. Der Shintô ist dabei in Japan gleichsam der Rhythmus des japanischen Lebens in Staat, Dorfgemeinde und Familie, während der Buddhismus einen besonderen und spezifischen Inhalt ausmacht und sich lediglich an den Einzelnen und seine metaphysische Situation wendet. Wohl gab es in der Frühzeit japanischer Geschichte Machtkämpfe zwischen Shintoismus und Buddhismus, aber heute ist ein völliger Ausgleich erreicht, und zwar in der Weise, daß der Shintô die natürliche Lebensform des japanischen Volkes ist und von Staats wegen auch nicht als 'Religion' bezeichnet wird. Eine ähnliche Wandlung scheint sich auch innerhalb des Buddhismus vollzogen zu haben, der als Zen den Buddhismus von jedem besonderen Inhalt gelöst hat und zu einem eigentümlichen Rhythmus des Lebens geworden ist, und zwar im Unterschied vom Shintô nicht des nationalen, sondern des individuellen Lebens. Außerdem hat sich der japanische Buddhismus so sehr gewandelt und vom indischen gelöst, daß er fast nur noch den Namen mit diesem gemein hat. Das 'Nichts' der Nishidaschen Philosophie, welches seinen historischen Ursprung im Zen-Buddhismus hat, ist geradezu das Gegenteil eines weltverneinenden entleerten Nichts. Der japanische Buddhismus nimmt für sich in Anspruch, daß sein 'Nichts' lebendig und erfüllt sei, daß er lebenbejahend sei. In diesem Sinne hat Nishidas 39

Philosophie, die das Seiende als Selbstentfaltung des gestaltlosen unendlichen Nichts begreift, ihren tiefsten Grund in der japanischen Weltanschauung. Was über die japanische Philosophie, wie sie durch Nishida repräsentiert wird, gesagt wurde, bedarf jetzt einer Ergänzung. Die Meditation über den metaphysischen Hintergrund Goethes zeigt, daß es Nishida um mehr geht als nur um eine Synthese westlicher wissenschaftlicher Philosophie und östlicher Metaphysik; die Auseinandersetzung mit dem Westen geht bis in die Tiefe der weltanschaulichen Grundlage selbst. Und diese Auseinandersetzung erweist sich zutiefst als ein gemeinschaftliches Ringen um ewige Probleme der Menschheit, mit der stillschweigenden Voraussetzung, daß die geistige Eigenstruktur der Völker nicht die metaphysiche Einheit des Menschseins aufhebe. Es kann hier nicht erörtert werden, worin dieses Menschsein besteht; es genügt, auf das Problem des Verstehens fremder Kulturen hinzuweisen: Wenn überhaupt ein Verstehen zwischen verschiedenen Völkern und Kulturkreisen möglich sein soll, so muß es eine Region allgemein verstehbaren Sinnes geben, in der sich das Philosophieren begegnen kann. In diesem Sinne wurde oben die deutsche Mystik zum Vergleich herangezogen. Der Grundzug der Mystik, Aufhebung der Gegensätzlichkeit von Subjekt und Objekt, geht überall durch Nishidas Philosophieren. Im Allgemeinen der intellektuellen Anschauung (wodurch die intelligible Welt bestimmt wird) ist die Idee als Gegenstand in die Idee als Schau eingegangen: »Was im Allgemeinen der intellektuellen Anschauung intelligible Noesis und intelligibles Noema neutralisiert, ist das sich selbst Anschauende.« Wenn das intelligible Selbst die Idee des Schönen anschaut, »vergißt es sich selbst, liebt das Ding als das Selbst und vereinigt sich mit ihm«7. 7

Vgl. 'Die intelligible Welt'.

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6

G

etreu dem buddhistischen Prinzip 'Die Weide ist grün, die Blüte ist rot' 1 , hat Nishida von Anfang an das Wirkliche als untrennbare Verflochtenheit subjektiver und objektiver Momente, als Einheit der Gegensätze von Subjekt und Objekt, aufgefaßt. 'Alles, was als real Seiendes gedacht wird, ist subjektiv-objektiv. Was wir durch Wahrnehmung sehen, transzendiert unser Bewußtsein, zugleich aber ist es auch unsere Empfindung'2. Vor allem ist die Handlung recht eigentlich die Mitte der subjektiv-objektiven Welt; denn sie ist ebensosehr ein Geschehen in der objektiven Welt wie ein Ausdruck des subjektiven Willens. In einer verhältnismäßig frühen Abhandlung 3 nennt Nishida den Willen die 'konkrete Realität'. Damals kam es ihm in der Philosophie hauptsächlich darauf an, den 'Wesensinhalt der Persönlichkeit im Grunde des objektiven Wissens' zu entdecken. Wie sehr nämlich das Wissen auch anfänglich auf das Nützliche und Praktische ausgerichtet sein mag, so zielt es doch zuletzt auf eine 'Erneuerung der Persönlichkeit'. Die wahre Realität wird in der Tiefe der Persönlichkeit offenbar. 'Die wahre Realität bildet einerseits eine Einheit, aber andererseits ist sie auch ein unendliches Sich-Spalten und erfährt eine unendliche Entwicklung. Sie enthält in sich unendliche Widersprüche, die aber wieder in ihr eine Einheit bilden. Auf der Seite der Einheit in der konkreten Realität liegt die künstlerische Anschauung und auf der der Spaltung 1

Vgl. 'Die morgenländischen und abendländischen Kulturformen

in alter Zeit vom metaphysischen

Standpunkte

aus

gesehen'

(übers, von F . Takahashi), Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1939. 2

Ibid.

3

'Die Einheit des Wahren, des Schönen und des Guten' (übers,

von F . Takahashi), Sendai 1940.

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und Entwicklung das moralische Sollen Während hier noch der Ton auf der Erfassung des Subjektiven (als des transzendentalen Apriori) im Objektiven liegt, definiert Nishida in einer späteren Arbeit5 das Reale geradezu als 'Selbstvereinigung' von Subjekt und Objekt. In der Abhandlung 'Die Einheit der Gegensätze' endlich wird grundsätzlich nicht vom Ich aus die Welt, sondern von der sich selbst gestaltenden Welt aus das Ich betrachtet. Aber immer noch — und das ist wesentlich — bleibt die Handlung die eigentliche Mitte der subjektiv-objektiven Wirklichkeit; die Handlung des Ich ist immer zugleich die Handlung der Welt. Logisch stehen zwar Subjekt und Objekt einander gegenüber; aber das Reale ist die 'Vereinigung des Subjekts und Objekts, die Selbstvereinigung der absoluten Gegensätze'6. Diese einheitliche Wirklichkeit kann prinzipiell nach beiden Seiten hin, nach der objektiven oder nach der subjektiven, negiert werden. Nach Nishida7 negiert der europäische wissenschaftliche Geist in der Richtung der noematischen Bestimmung die reale Welt der Persönlichkeit, während die indische und taoistische Lehre in der noetischen Richtung des Bestimmens das objektive Sein negieren. Der Naturwissenschaftler sieht das Reale als Materie, der Buddhist als Seele. 'Die morgenländische Religion des Nichts lehrt: Gerade die Seele ist Buddha'8. Die japanische Kultur ist die Kultur des Gefühls, wo es keinen Unterschied zwischen Innerlichem und Äußerlichem gibt; 'daher die Sensibilität des Japaners gegenüber den Dingen'9. Wie das wahrgenommene Ding uns transzendiert und zugleich unsere Empfindung ist, so sind auch umgekehrt wir 4

Ibid. S. 164. Vgl. Anm. 1. 6 'Kulturformen' (vgl. Anm. 1) S. 12. 7 Ibid. 8 'Die Einheit der Gegensätze', Kapitel IV. * 'Kulturformen' (vgl. Anm. 1) S. 13. 5

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selbst in die Welt versenkt und gewinnen uns aus ihr zurück. Das Gefühl ist die reinster Identität im Widerspruch von Subjekt und Objekt; da haben wir uns in der Welt, und die Welt hat sich in uns. Da kann man vom Ich aus die Welt oder von der Welt aus das Ich ergreifen. In der Abhandlung 'Die Einheit der Gegensätze' geht Nishida den zweiten Weg. Er ergreift nicht mehr (wie noch in der 'Intelligiblen Welt') das Absolute vom Ich aus; das Ich wird als ein Moment des Absoluten begriffen. Das Absolute, das letzte Umgreifende, das 'Nichts', ist ja nicht außerhalb 'unserer' Welt. Es ist freilich auch nicht 'in der Welt'. Es ist das Zugleich von Transzendenz und Immanenz, — eben die Einheit der absoluten Gegensätze. Das Absolute wird selbst nicht von etwas anderem bestimmt, sondern bestimmt sich selbst. Das, als was es sich bestimmt, ist die subjektiv-objektive Welt der Wirklichkeit. Diese wird also nicht von außen her bestimmt; sie ist die Selbstbestimmung 'ohne ein Bestimmendes'. Das 'Nichts' ist wie Hegels 'gutes Unendliche' nur in und mit dem Endlichen zu fassen. 'Das Wirkliche, so sagt Nishida einmal10, ist das Bestimmte. Das ist das Endliche. Das Unendliche hat keine Wirklichkeit. Aber das bloß Endliche ist auch nicht die Wirklichkeit. Das Wirkliche muß die Identität des Endlichen und des Unendlichen sein'. Das Wirkliche ist für Nishida auch das Wahre. 'Auch die Idee hat Geburt und Tod' 1 1 . Die Idee ist für ihn das Gestalthafte der Welt, also dies, daß die Welt sich Gestalt gibt und sich als Gestalt anschaut. Idee und Realität stehen nicht in der Weise von zwei Welten, einer intelligiblen und einer realen, sensiblen Welt, neben oder über einander; schon in der Abhandlung 'Die intelligible Welt' wurde die Idee zwar durch ein Transzendieren, aber durch ein in die 10 11

In der Abhandlung 'Logik und Leben'. 'Die Einheit der Gegensätze', Kapitel IV.

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Tiefe des eigenen Selbst hinabsteigendes Transzendieren offenbar. Schon damals war die Idee zugleich transzendent lind immanent; jetzt wird dieser Widerspruch auf die Spitze getrieben. Wahrheit ist da, wo das Wirkliche sich selbst bestimmt. Das Wahre ist nach einem alten Spruch des Zen da, wo ich stehe. Da gibt es keine transzendente Welt der Wahrheit, auch kein metaphysisches Substrat der Welt; da gibt es nur die eine Bewegung der Selbstgestaltung des Gestaltlosen, der Selbstbestimmung des 'Nichts'. In der 'Intelligiblen Welt' ging der Weg des Philosophierens vom Urteil zum Bewußtsein, in dessen Tiefe die Idee die Selbstanschauung des reinen intelligiblen Selbst darstellt; auf dem tiefsten Grunde des intelligiblen Selbst wurde als letztes Umgreifendes das 'Nichts' offenbar. Was damals als logisches Gefüge des Seins (als des 'Darin-Seins') im Hinblick auf die jeweilige Kategoriensphäre (den 'Ort') bestimmt wurde, wird jetzt als konkrete dynamische Bewegung der Wirklichkeit dargetan. Was damals als das 'Allgemeine des absoluten Nichts' bezeichnet wurde, wird jetzt (in der 'Einheit der Gegensätze') nicht nur in seiner umgreifenden und bestimmenden Funktion, sondern als das konkrete Ganze das 'dialektische Allgemeine' genannt. Das Philosophieren folgt der Bewegung des ganzen, Natur und Geschichte umfassenden, dialektischen Allgemeinen, in dem auch die physikalische Welt ihre Wahrheit hat als eine Seite der geschichtlichen Welt, gesehen von einem Standpunkte innerhalb dieser geschichtlichen Welt. War Nishida früher von Urteil und Handlung aus durch wiederholtes Transzendieren zu einer Anschauung gelangt, wo das tiefste Selbst der reine Spiegel des Nichts ist, so geht er jetzt von dieser Anschauung aus, die aber dynamisch verstanden ist und immer noch zugleich ein Handeln ist. Die dynamische Bewegung der Welt bleibt zwar ein Spiegeln des Nichts, aber sie ist als Natur und Geschichte eine 44

'handelndeAnschauung'(oder'Tat Anschauung').DieSelbstbestimmung der Wirklichkeit ist selbst von der Art einer handelnden Anschauung und wird auch handelnd-anschauend erfaßt. Alles Wissen ist handelnd-anschauend im Umgang mit Welt erworbenes Wissen, also geschichtlich. Anschauung ist für Nishida kein passives Empfangen eines Bildes der Welt, sondern 'Tat-Anschauung', eine geschichtliche Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt (— was zugleich eine Auseinandersetzung der Welt mit sich selbst bedeutet). Die Welt der Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach Wirken, Produktivität, Gestaltung — stets im Sinne der TatAnschauung. Da es außerhalb ihrer kein wirkendes, produzierendes und gestaltendes Subjekt gibt, ist sie es selbst, die zugleich wirkt und gewirkt wird, gestaltet und gestaltet wird. Das geschichtlich erworbene Wissen ist selbst ein solches Gestalten und Gestaltetwerden, selbst eine Weise der Produktivität der Welt. Wir spiegeln die Realität durch Praxis' 12 . Experiment und Technik sind ein derartiger handelnd-anschauender Umgang mit der Welt. In diesem Sinne ist die exakte Wissenschaft ein Musterbeispiel von Tat-Anschauung. Alle Wissenschaft ist geschichtlich durch Tat-Anschauung erworbenes Wissen. Um zu verstehen, daß das absolute Nichts die Welt der Wirklichkeit ist, haben wir uns an das zu erinnern, was hier (unter 2) über den Mahayana-Buddhismus gesagt worden ist und wonach die Welt Samsara wie Nirwana, Erscheinung wie Wesen ist. Das dialektische Allgemeine kann nicht dinglich als Substanz oder Mehrheit von Substanzen gedacht werden; 'in dem Grunde der Welt ist weder das Eine noch die Vielen zu denken'13. Die Welt ist ebensosehr als Ganzes das Eine, wie sie in ihren Teilen das Viele ist; 12 13

'Die Einheit der Gegensätze', Kapitel IV. Ibid. Kapitel I.

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sie ist die Identität im Widerspruch der Vielen und des Einen. Was im Widerspruch mit sich selbst doch als mit sich selbst identisch sich erweist, ist für Nishida 'wirklich'. Wirklichkeit erfassen bedeutet daher den Widerspruch aufsuchen. Nishidas Dialektik ist weniger die Aufeinanderfolge der drei Stufen: These, Antithese und Synthese, als vielmehr das Aufsuchen des Widerspruchs und der Einheit im Widerspruch. (Etwa im Sinne von Goethes 'Polarität'). Der Aufweis des Widerspruchs nimmt naturgemäß in der 'Einheit der Gegensätze' einen sehr breiten Raum ein. Entsprechend der wichtigen Rolle, die das Paradox im Zen spielt, finden sich Häufungen und Wiederholungen paradoxer Formulierungen. Das Spiegeln des Nichts in sich selbst wäre als bloße Anschauung ein unendliches Sich-Bewegen, unendliche Möglichkeit des Spiegeins und des Scheins, unendliches Spiel der freien Einbildungskraft. Da die Bewegung des dialektischen Allgemeinen aber handelnde Anschauung ist, muß es zur Handlung kommen. Im Handeln wird gestaltet, wird eine Gestalt entschieden. Damit, daß es das schon Entschiedene ist, ist das Gestaltete auch schon vergangen. Daß es aber, wennschon vergangen, doch noch in die gegenwärtige und künftige Entscheidung einwirkt, dies macht die 'ewige Gegenwart' des Vergangenen aus. Nishida begreift die geschichtliche Welt als eine 'einzige Gegenwart', in der das Entschiedene und Gestaltete stets dem sich Entscheidenden und Gestalteten gegenübersteht, in der also stets Vergangenheit und Zukunft sich berühren. Die Dialektik der Zeit, die Nishida bereits in 'Der metaphysische Hintergrund Goethes' angedeutet hat, wird nunmehr ausführlich dargestellt und begründet. Die Dialektik der Zeit, als Einheit im Widerspruch von Vergangenheit und Zukunft, wird einmal als 'Umschwung 46

im ewigen Nun' 14 bezeichnet, das andere Mal in Anlehnimg an Leibniz als die Gegenwart charakterisiert, die die Vergangenheit auf dem Rücken und die Zukunft unter dem Herzen trägt. Die größte Schwierigkeit bietet die dritte Charakterisierung der geschichtlichen Zeit als einer einzigen Gegenwart. In einem Vortrag erläuterte Nishida einmal diesen Gedanken durch den Hinweis auf den Versailler Vertrag, der den gegenwärtigen Krieg bewirkt hat und zugleich durch denselben aufgehoben worden ist. Die Vergangenheit ist als Gestalt gegenwärtig, und die gegenwärtige Entscheidung wirkt auf diese Gestalt. Zur weiteren Verdeutlichung sei an das erinnert, was hier (unter 3) über die japanische Weltanschauung im allgemeinen, besonders über Shintô, gesagt worden ist. Wie kaum bei einem anderen Volke ist bei den Japanern das, was in der Geschichte einmal wirklich gewesen ist, neben den späteren Bildungen der Geschichte heute noch als unveränderte Gestalt gegenwärtig. Für den Japaner ist seine 2600jährige Geschichte mit dem unveränderten nationalen Kult des Shintô und der unveränderten nationalen Staatsform des 'Kokutai' tatsächlich eine ewige Gegenwart. Die geschichtliche Welt bewegt sich von Gestalt zu Gestalt, von Gegenwart zu Gegenwart. Die geschichtliche Zeit ist zugleich geradlinig (wie die Zeit des Mechanismus) und kreisförmig (wie die Zeit des Organismus). Das geschichtliche 'Wirken' ist nicht mehr das kausale Wirken des Mechanismus oder das teleologische Wirken des Organismus, sondern eine neue und eigene Art des geschichtlichen Wirkens. Es ist dies ein Wirken auf die Weise des 'Ausdrucks'. Das Vergangene hat als Gestalt 'Ausdruck'; es schaut uns an, es spricht zu uns, es droht uns, es will uns in seinen Bann ziehen. Wir verstehen diesen Ausdruck und behaupten uns selbst dagegen durch Ausdrucksakte. Wir machen die 14

'Der metaphysische Hintergrund Goethes'.

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Welt zu unserem Ausdruck. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, der sich in unserem Bewußtsein abspielt, welches zugleich das Bewußtsein der Welt ist. Wir wollen die Welt zu unserem Ausdruck, die Welt will uns zu einem bloßen Stück der Welt machen. Das Subjekt ist in die Umwelt versenkt und hat in ihr seinen 'geschichtlichen Leib'; und die Umwelt spricht nicht von außen, sondern von innen her, als Satan; sie hat die Maske der Wahrheit und spricht mit abstrakter Logik. Ihre Wahrheit ist die Logik des Gestalteten und Entschiedenen, des Gewordenen und Vergangenen. Es ist unsere eigene Tat, die sich gegen uns wendet: 'Weil es so war, sollt ihr so handeln!' 15 Ihm gegenüber vertreten wir den Standpunkt der freien Entscheidung und der Zukunft. Das Bewußtsein, in dem Vergangenheit und Zukunft aufgehoben sind, kann intellektuell die Welt als Gegebenes ansehen; aber als konkrete Individuen der geschichtlichen Welt sind wir kein abstraktes 'Bewußtsein überhaupt'; uns ist die Welt als konkrete geschichtliche Aufgabe aufgegeben. Hier müssen wir uns entscheiden, hier haben wir handelndanschauend unser Selbstsein. Indem wir da unserem eigenen Leben und unserem eigenen Tod gegenüberstehen, stehen wir — eben als Selbstsein — auch dem Ganzen der Welt, dem Absoluten gegenüber. Aus diesem Gegenüberstehen resultiert in der Tat-Anschauung ein gemeinschaftlicher 'Stil' der Gestaltung; dies ist der gemeinschaftliche 'Produktionsstil' der 'geschichtlichen Gattung', d. h. des Volkes. In der gemeinschaftlichen Kulturgestaltung eines Volkes ist der Widerspruch des allein dem Absoluten gegenüberstehenden Individuums aufgehoben; die geschichtliche Gattung (das Volk) ist die 'Vermittlung' zwischen den Vielen und dem Einen. Wenn sich das Individuum aber nur gattungsmäßig und 15

'Die Einheit der Gegensätze', Kapitel III.

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nur traditionell vom Entschiedenen, aus der Vergangenheit her bestimmen läßt, dann würde es einen Rückfall in das bloß mechanische Wirken bedeuten und sogar zum Tod der geschichtlichen Gattung führen. Die schöpferische Produktivität eines Volkes lebt ja nur in und mit den Individuen. Wo das Individuum unschöpferisch wird, erstarrt auch die Gattung, und wo es schöpferisch ist, da wird in seinem Werk auch das sichtbar, was hinter ihm steht. Die geschichtliche Bewegung der Welt der Wirklichkeit ist Selbstbestimmung, die zugleich Selbstgestaltung und Selbstanschauung ist. Und zwar ist es das geschichtliche Subjekt (geschichtliche Gattung, Volk), wodurch die Welt handelndanschauend sich selbst geistig gestaltet. Zugleich ist die Welt aber immer auch noch biologisches Subjekt (biologische Gattung). Und da die Welt sich selbst gestaltet, ist sie nicht allein gestaltendes Subjekt der Geschichte, sondern immer auch das Gestaltete, das schon 'umwelt-artig' geworden ist. Sie ist gestaltendes Subjekt und gestaltete Umwelt zugleich, die Einheit der Gegensätze. Die Welt hat in sich selbst den Widerspruch, subjektiv und umweltartig zu sein. Im Menschen kommt dieser Widerspruch zum Bewußtsein. Die Zerrissenheit des Menschen, sein Ur-Widersprach, seine 'Erbsünde', ist dieser Widerspruch, daß der Mensch, ein Teil der Welt, gegen die Welt steht und daß die Welt, selbst das Ganze, umweltartig gegen den Menschen steht. Die sich selbst gestaltende Welt ist über jede besondere Gestalt hinaus (transzendent) und doch in jeder ganz und wesenhaft da (immanent). Indem sie sich von Gestalt zu Gestalt bewegt, erneuert sie sich ständig. Diese Erneuerung ist aber keine Wiederholung derselben Gestalt (wie in der physikalischen Betrachtung), sondern ein wahrhaft schöpferisches Gestalten, das jede gewonnene Gestalt hinter sich läßt und vom bloß Gestalteten, Geschaffenen und Ge4 N i s h i d a , Die intelligible Welt

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schöpflichen aufsteigt zu einem zunehmend Gestaltenden, Schaffenden und Schöpferischen. Schon die Natur ist die Einheit der Gegensätze des Gestalteten und des Gestaltenden, aber das Gestaltende, das Subjekt (die biologische Gattung) ist noch ganz durch das Gestaltete, die Umwelt, bestimmt (Anpassung). Erst beim Menschen kommt es zu einem wahrhaften Se'bstbestimmen, das Bewußtsein und Geist einschließt. Schon das gesellschaftliche Leben der Primitiven kennt Schuld und Sünde, was bereits Persönlichkeit und Geist voraussetzt. Der Staat ist wie bei Hegel die vollendete geis ige Gestalt der Gesellschaft und die 'sittliche Substanz' der geschichtlichen Gattung. Der Prozeß der Selbstgestaltang der Welt ist zugleich eine Selbstdarstellung in Natur und Geschichte, wobei die Individuen die Welt monadisch spiegeln, indem sie sich selbst ausdrücken. (Leibniz). Die Natur hat im Grunde die gleichen Wesensmerkmale wie die geschichtlich-gesellschaftliche Welt, nur un-eigentlich; sie ist noch nicht 'wahrhafte' Einheit der Gegensätze; da drückt das Individuum noch nicht 'wahrhaft' sich selbst aus, da steht es noch nicht 'wahrhaft' als Selbstsein dem Absoluten gegenüber. Geschichte, als geistige Selbstgestaltung der Welt, ist dagegen die wahre Einheit der Gegensätze des Gestaltenden (geschichtliches Subjekt, geschichtliche Gattung) und des Gestalteten (Umwelt). Der Ort, wo diese Gegensätze aufeinander stoßen, ist das Selbstbewußtsein des Menschen. Die Selbstbehauptung des in seinem Volke geschichtlich-schöpferischen Menschen als Persönlichkeit gegenüber der bloßen Umwelt ist die Forderung des 'kategorischen Imperativs', wonach bekanntlich jeder Mensch immer auch Selbstzweck sein soll (Kant). Dabei muß sich die Persönlichkeit bewußt bleiben, daß sie überhaupt nur m Ganzen des Volkes und der Welt ihre Existenz hat. Wo dieses Bewußtsein fehlt, kommt es zur 50

moralischen Selbstüberschätzung; wo dieses Bewußtsein vorhanden ist, kommt es zur Selbsthingabe an das Ganze, zum Glauben. Der religiöse Glaube als bedingungslose Selbsthingabe an das Absolute ist zwar in einer Hinsicht un-weltlich, in anderer Hinsicht aber in keiner Weise der nationalen Moral entgegengesetzt. Die Religion ist im Grunde eins mit der Moral und doch von ihr verschieden, wie aus dem Worte Shinrans hervorgeht: 'Selbst der Gute wird erlöst, wie viel mehr der Böse!'16. Als Gegenüberstehen von Persönlichkeit und Transzendenz ist Religion un-weltlich, als bedingungslose Hingabe an das Ganze ist sie unbedingte Bejahung der Wirklichkeit und darum niemals in Gegensatz zur nationalen Moral. Bereits in der 'Intelligiblen Welt' ist von Nishida gezeigt worden, wie durch Selbstverneinung im' Nichts' das Sein offenbar wird. 'Die absolute Verneinung ist die absolute Bejahung' 1 '. Die Welt bedingungslos hinzunehmen, wie sie ist, spielt eine große Rolle im Zen, wo das illusionäre individuelle Bewußtseins-Ich nicht mehr gegen die Welt steht, sondern absolut 'gestorben' ist. In Nishidas Geschichtsund Religionsphilosophie ist die tiefste Tat-Anschauung die, in der absoluten Einheit der Welt der Gegensätze sein Selbst zu haben. Darum wird Nishida so mächtig angezogen von Hegels Theodizee, wonach alles Wirkliche vernünftig ist. Die Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit ist, wie schon angedeutet, keine Abbildung eines statischen Seins, sondern selbst ein geschichtlicher Prozeß, wo der Mensch als gestaltender Faktor der sich selbst gestaltenden Welt, handelnd-anschauend, im Umgang mit Welt — oder, wie Goethe sagen würde, 'im Gebrauch des Lebens' den Stil der Produktivität der Welt in den Griff bekommt. Wie nach le 17

4*

'Die Einheit der Gegensätze', Kapitel IV. 'Kulturformen' (vgl. Anm. i), p. n .

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Goethe die beste Erziehung die ist, wo die Kinder in der Arbeitswelt der Eltern herankrabbeln, wie der Zen-Buddhist das erfüllte Leben und die ausbalancierte innere Freiheit in den Griff bekommen will, wie alle japanische Kunstfertigkeit übend im Gebrauch des Lebens erworben wird, so ist auch Nishidas Erkenntnisbegriff eine Selbstgestaltung der Welt durch handelnde Anschauung. Hier liegt der Erkenntniswert des Experimentes und der Technik begründet. Erkenntnis ist solche handelnd-anschauende Erfassung des Produktionsstils der Welt. Das nennt Nishida 'konkrete Logik' als Erfassen des konkreten Begriffs (Hegel). Wie alle Kultur ist Erkenntnis geschichtliche Selbstgestaltung. Indem der Mensch durch Ausdruck sich selbst in der Kultur darstellt, bringt er zugleich die Welt selbst zur Darstellung. Erkenntnis ist selbst Geschichte als Selbstgestaltung des Gestaltlosen, als Selbstbestimmung des absoluten Nichts. Die Abhängigkeit Nishidas von Hegel im Begriff der konkreten Logik und in dem Gedanken der aufsteigenden Selbstverwirklichung des Absoluten ist offensichtlich; es sei zum Abschluß auf einiges Unterscheidende hingewiesen: 1. Das Absolute Nishidas ist nicht wie bei Hegel der persönliche göttliche Geist im christlichen Sinne, sondern das unpersönliche Nichts des Buddhismus. 2. Das geschichtliche Individuum ist nicht absolute Substanz wie die christliche unsterbliche Seele, wie bei Hegel; es besteht nur durch die Vermittlung der 'geschichtlichen Gattung' und ist in seinem Grunde das absolute Nichts18. 3. Weltgeschichte ist bei Nishida nicht ein einheitlicher stufenmäßig fortschreitender 'Gang' von Osten nach Westen, sondern eine Entfaltung mannigfaltiger Kulturtypen, deren jeder ein unmittelbarer Ausdruck des Absoluten ist. 18

Vgl. ibid. S. 12: 'Unser Ich ist nicht außerhalb des sich selbst Bestimmenden dieses Realen, sondern ist als der NegierungBejahung des Realen anhaftend gedacht'.

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4. Bei Nishida ist die 'Idee', die beim Übergang von der Natur zur Geschichte als geistiges Gestaltungsprinzip auftritt, nicht, wie bei Hegel, die Idee, sondern eine Idee als Stil der Produktivität der Welt, dem immer wieder andere entgegentreten. Zwar ist auch bei Nishida der 'Staat' als sittliche Substanz der Höhepunkt der geistigen Gestaltung, aber die wirklichen Höhepunkte der Selbstgestaltung der Welt sind bei Nishida im Grunde doch Kunst und Religion, als vollkommene Einheit der Gegensätze. Die Abhandlung 'Die Einheit der Gegensätze' ist eine Geschichtsmetaphysik als Verwirklichung des Unwirklichen und zugleich eine große Meditation über das Thema des Zen: die Gestalt des Gestaltlosen.

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DIE I N T E L L I G I B L E WELT

1 enn man die in Urteilen sich vollziehende Erkenntnis als Selbstbestimmung des Allgemeinen gelten läßt, so muß, damit überhaupt Etwas gedacht werde, das Allgemeine sich selbst in sich selbst bestimmen. Am Allgemeinen aber lassen sich drei Stufen unterscheiden, wodurch drei Welten gedacht werden: Da ist erstens das Urteilsallgemeine; was in ihm seinen »Ort« hat und durch dasselbe bestimmt wird, ist die — im weitesten Sinne — natürliche Welt. Da ist zweitens ein Allgemeines, welches das Urteilsallgemeine umgreift; es umgreift ein die Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen Transzendierendes; d. h. es ist das Selbstbewußtseinsallgemeine. Was in ihm seinen »Ort« hat und durch dasselbe bestimmt wird, kann Bewußtseinswelt heißen. Da ist drittens endlich ein Allgemeines, welches auch dieses Selbstbewußtseinsallgemeine umgreift; es umgreift ein Transzendierendes in der Tiefe unseres bewußten Selbst. Was in diesem letzten, umgreifenden Allgemeinen seinen »Ort« hat und durch dasselbe bestimmt wird, ist die intelligible Welt. Die intelligible Welt transzendiert notwendig unser Denken. Wie können wir dann überhaupt eine solche intelligible Welt denken? Wenn das Denken eines Etwas, wie gesagt, Selbstbestimmung des Allgemeinen ist, — was für ein Allgemeines ist es, durch dessen Selbstbestimmimg die intelligible Welt gedacht wird? Denken kann man, glaube ich, eine solche intelligible Welt, auch wenn man von der Intentionalität unseres Bewußtseins ausgeht: Der Bewußtseinsakt ist einerseits real und andererseits auch gleichzeitig intentional; er ist noetisch und noematisch zugleich. Und das, was der Bewußtseins56

akt intendiert, ist nicht nur bloßer sogenannter Bewußtseinsinhalt, sondern auch transbewußter Gegenstand. In dem Falle, wo der Bewußtseinsakt einen vergangenen Bewußtseinsinhalt intendiert, kann dies als bloße innere Wahrnehmung aufgefaßt werden. Aber der Bewußtseinsakt kann auch etwas intendieren, das unser Bewußtsein transzendiert: er kann eine ewige Wahrheit intendieren, die als in sich seiend gedacht wird und als unabhängig davon, ob sie bewußt wird oder nicht. In der Richtung auf das so Intendierte, also in der Richtung auf das Noema, ist •der Bewußtseinsakt transzendierend. Zugleich ist er aber auch notwendig in der Richtung der Tätigkeit, der Noesis, transzendierend! Was nur zeitlich ist, könnte ja nicht intentional sein. Ein psychologisches Phänomen ist nun zwar intentional; aber solange und insofern es noch bloß Zeitliches ist, kann es keinen transbewußten Gegenstand intendieren. Um Transbewußtes zu intendieren, muß unser Selbst auch noch das bewußte Selbst transzendieren! Wahrheit ζ. B. können wir nur auf dem Standpunkt des Kantischen 'Bewußtseins überhaupt' denken. In diesem Falle hat der Bewußtseinsakt keine psychologische Realität (als dem psychologischen Selbst zugehörig), sondern er hat die Seinsweise des transzendenten Selbst, dem er im Innern des bewußten Selbst zugehört. Wenn, wie oben gesagt, eine unser Bewußtsein transzendierende intelligible Welt gedacht wird, so transzendiert das eine solche intelligible Welt bestimmende Allgemeine notwendig jenes Selbstbewußtseinsallgemeine, welches unsere Bewußtseinswelt bestimmt. Als umgreifendes Allgemeines kann es in seiner Struktur analog zu diesem Selbstbewußtseinsallgemeinen gedacht werden.

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2 Was ist das Selbstbewußtseinsallgemeine? In ihm haben wir ein Bewußtsein von einem Selbst, welches notwendig über die transzendentale Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen hinaus ist; es wird wesentlich nicht durch jenes Urteilsallgemeine bestimmt, welches das Urteil zu einer Selbstbestimmung macht. Was durch das Urteilsallgemeine bestimmt wird, ist ja immer nur Gedachtes, nicht Denkendes; es ist das, was den Inhalt des Urteils bildet, nicht aber das, was urteilt. Was wir hier 'Selbst' oder 'Ich' nennen, ist über die raumzeitlichen Bestimmungen hinaus; es ist das in der Tiefe des raum-zeitlichen Individuums zu denkende Individuum. Insofern ein solches Individuum gedacht wird, muß es für dasselbe einen »Ort« geben; es muß ein Allgemeines geben, welches dieses Individuum bestimmt. Dieses Allgemeine kann nun nicht mehr das Urteilsallgemeine sein; es muß ein das Urteilsallgemeine umgreifendes Allgemeines sein. Weil in diesem umgreifenden Allgemeinen ein Selbstbewußtes seinen »Ort« hat und durch dasselbe bestimmt wird, habe ich es oben 'Selbstbewußtseinsallgemeines' genannt. Wie wird es bestimmt? Wenn das urteilsmäßig sich selbst Bestimmende das konkrete Allgemeine ist, so hat dieses konkrete Allgemeine in sich selbst verschiedene Bestimmungsebenen, wo es den Inhalt seiner selbst bestimmt. Diese Bestimmungsebenen selbst wiederum machen das abstrakte Allgemeine aus. Dieses abstrakte Allgemeine ist dann für das Einzelseiende, welches zwar Subjekt, aber nicht Prädikat des Urteils sein kann, die Einheit der Prädikate oder Prädikatsebenen. Wir haben es 'abstraktes Allgemeines' genannt, weil es jeweils nur eine Seite des Einzelseins abspiegelt, das seinerseits selbst im konkreten Allgemeinen seinen Ort hat. 58

Vom Allgemeinen überhaupt als solchen aus gesehen, bedeutet das abstrakte Allgemeine die Bestimmungsebenen, in denen das konkrete Allgemeine sich unmittelbar selbst bestimmt; es kann als Projektionsebene des Allgemeinen selbst gedacht werden, und man kann sagen, daß es die Bedeutung offenbar mache, daß das Allgem^ne ein Allgemeines enthält. Was auf dem Standpunkt des Urteilsallgemeinen »transzendentale Prädikatsebene« des Urteilsallgemeinen war, wird auf dem Standpunkt des Selbstbewußtseinsallgemeinen zu dessen »Bestimmungsebene«, wo also das Selbstbewußtseinsallgemeine seinen eigenen Inhalt spiegelt. Was vorher in der transzendentalen Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen seinen Ort hatte, was konkret und real war, wird jetzt abstrakt, bloß Bewußtes. Was seiner selbst bewußr wird, das Selbstbewußte, bekommt die Bedeutung eines »Darinseienden«, und was vorher seinen »Ort« im Urteilsallgemeinen (als dessen Inhalt) hatte, wird jetzt alles als Inhalt des Selbstbewußtseinsallgemeinen irreal; sein Seinssinn wandelt sich von der Bedeutung des gegenständlichen Seins zu der Bedeutung eines aktmäßigen Seins. Im Rückblick auf die Form des Urteilsallgemeinen hat das Selbstbewußte die logische Seinsweise, nur Subjekt, nicht Prädikat zu werden, während alles, was im Urteilsallgemeinen seinen »Ort« hat, die Bedeutung eines Prädikats bekommt. In diesem Sinne ist das Selbstbewußte, welches den Inhalt des Urteilsallgemeinen, so wie er ist, zum Bewußtseins-Inhalt erhebt, das reine theoretische Selbst. Dies theoretische Selbst, das im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen »Ort« hat, ist nichts anderes als ein leeres oder formales Sein, welches sich selbst noch nicht zum Inhalt seines Selbstbewußtseins gemacht hat. Darum fügt, was wir Wissen nennen, dem Inhalt des Gewußten als solchem durchaus nichts hinzu und verändert nur den Seinssinn des Gewußten als solchen. 59

Worin das Eigentümliche des Bewußtseins besteht, und was Intentionalität eigentlich ist, hoffe ich somit im folgenden klar machen zu können: Was im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat, ist notwendig einerseits, insofern es auch in der transzendentalen Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen seinen Ort hat, gegenständlich, und andererseits, insofern es eben in der Bewußtseinsebene des theoretischen Selbst seinen Ort hat, zugleich bewußtseinsmäßig. Was aber in der Bewußtseinsebene des theoretischen Selbst seinen Ort hat, hat, wie oben gesagt, noch nicht den selbstbewußten Inhalt seiner selbst; es bestimmt also auch noch nicht den Inhalt seiner selbst, es spiegelt noch nicht den Inhalt seiner selbst. Im Gegenteil : es spiegelt den Inhalt eines ihm Transzendenten. Die Farbenempfindungen ζ. B., die ja nicht die physikalischen Strahlen sind, haben als Bewußtseinsphänomene ein Sein von der Weise des Selbstbewußtseins, während doch zugleich ihr Inhalt so etwas wie »Farbe an sich« ist und das Selbstbewußtsein transzendiert. In dem Maße, in dem man sich dem Standpunkte des reinen theoretischen Ich nähert, wird dieser Inhalt transzendent und die Bewußtseinsrealität des Inhalts formal, sodaß dem Bewußtsein schließlich nur noch die Bedeutung eines bloßen Abspiegeins zukommt. Diese Beziehung ist Intentionalität. Weil das Bewußtsein als tätig gedacht wird, spricht man von der Bewußtseinstätigkeit als von Akten. Aber auf dem Standpunkt des reinen theoretischen Wissens kommt diese Tätigkeit nicht in Betracht, da nicht auf den Aktcharakter als auf einen besonderen Inhalt reflektiert wird. Wie individuell also auch die Wahrnehmung von Farben sein mag, ihr Inhalt kann gar nicht anders als gegenständlich sein. Damit überhaupt erst das Sich-seiner-selbst-bewußt-werden als solches bewußt werde, muß der Sinn des Im-Selbstbewußtseinsallgemeinen-seinen-Ort-habens vertieft wer60

den; der Sinn des selbstbewußten Seins, das sich selbst in sich selbst spiegelt, muß offenbar werden. Und damit dies möglich sei, müssen wir von dem Standpunkt des wissensmäßigen Selbst, des theoretischen Ich, zu dem Standpunkt der Tätigkeit der Tätigkeit, d. h. zu dem Standpunkt des willensmäßigen Selbst, des praktischen Ich, übergehen. Dann verliert auch unser Bewußtsein gänzlich die alte Bedeutung einer transzendentalen Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen und hat nur noch die Bedeutung einer Selbstbewußtseijisebene, die den Inhalt des Selbst spiegelt. Der Satz, daß das abstrakte Allgemeine, welches als im Urteilsallgemeinen enthalten zu denken ist, lediglich das Allgemeine überhaupt sei, das noch keine Selbstbestimmung enthält, und der andere Satz, daß das abstrakte Allgemeine die Einheit der Prädikatsebenen oder schlechthin die Prädikatseinheit sei, bedeuten nicht dasselbe. Im ersten Satze hat nämlich das abstrakte Allgemeine selbst, wenn auch unvollkommen, die Bedeutung des Allgemeinen überhaupt; im zweiten Satze wird es schon als vermittelnde Ebene für die Darinseienden gedacht. Je mehr also die Bedeutung sich vertieft, daß das Allgemeine sich selbst in sich selbst bestimme, um so mehr geht seine Bestimmungsebene von der abstrakteren Bedeutung im ersten Satze zu der vermittelnden Bedeutung im zweiten Satze über, und in demselben Maße vollzieht sich auch im Selbstbewußtseinsallgemeinen ein Übergang von der Bewußtseinsebene des theoretischen Ich zu der des praktischen Ich. Bis zuletzt aber wird dabei die Bewußtseinsebene, die ja im Selbstbewußtseinsallgemeinen ihren Ort hat, den Intentionscharakter natürlich beibehalten. Der Bewußtseinsinhalt (von Farben ζ. B.) wird zwar durch verschiedene Noesis verändert (sei es durch erinnernde Reproduktion, sei es durch Phantasie); aber auch wenn er zu einem durch den Willen Gewollten wird, kann er doch immer noch als Noema gedacht werden und 61

behält auch dann noch den Charakter eines Intendierten. Nur ist ein solcher Bewußtseinsinhalt eben nicht bloß Noema eines intentionalen Aktes, nicht bloß vom theoretischen Standpunkt aus Gewußtes. Wenn man von der Intention ausgeht, so müßte, damit der Wille sichtbar wird, die Tätigkeit des Intendierens selbst intendiert werden, die Noesis müßte zum Noema werden und das Bewußtsein des Bewußtseins bewußt sein. Anstatt aber auf solche Weise zwei Arten von Intentionalität und zwei Arten von Bewußtsein anzunehmen, denke ich mir vielmehr — in Analogie zum Urteilsallgemeinen, wo das Urteil dessen Bestimmen war, — auch alle Bewußtseinsakte als Selbstbestimmen des im Selbstbewußtseinsallgemeinen Seienden, und die sogenannte Intentionalität als dessen eine abstrakte Projektion. Im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort haben, heißt dann »Wissen«. Wenn dieses Sein ein bloß formales ist, dann wird so etwas wie »theoretisches Bewußtsein« gedacht. Das wahrhafte Bewußtsein aber muß wil ensmäßig sein. Wahre Intention ist im Grunde immer innere Intention. Das Wesen des Bewußtseins liegt im Willen, nicht in der Intention. Intention ist nichts anderes als ein schwaches Wollen. Daß man meint, die Intentionalität sei das Wesen des Bewußtseins, kommt daher, daß man den Willen nur als etwas Aktmäßiges denkt. Da Wollen wissendes Wirken und wirkendes Wissen ist, gehört es zu einer ganz anderen Gattung als das bloß theoretische Verhalten, als die bloße Intention eines Gegenstandes. Wirken ist kein Wissen. Auch wenn man sagt 'ich wirke', 'ich bin tätig', so ist dieses 'Ich' zwar ein gewußtes, aber kein wissendes Ich. Das wissende Ich schaut das wirkende Ich an, d. h. es sieht die Veränderung des Ich. Beim wissenden Ich muß, von der Intention aus gesehen, das Intendierte das Intendierende sein und umgekehrt. 62

Was bedeutet nun für ein solches wissendes Ich das 'ich wirke' ? Wirken ist zunächst ein Anderswerden. Wenn nun das wissend wirkende Ich anderswird, erreicht die Intention nach dem Intendierenden (d. h. nach innen) niemals das Intendierende; dieses umgreift vielmehr das Intendierte, und zwischen beiden besteht notwendig eine Kluft. Trennt man aber diese beiden völlig, so gibt es überhaupt kein einheitliches Ich und folglich auch kein 'ich wirke'. Damit ein wirkendes Ich zustandekomme, muß das Wirken in jedem Moment seines Anderswerdens zugleich ein wissendes sein, welches Intendierendes und Intendiertes vereinigt und zugleich selbst anderswird. Das wirkende Ich ist die Kontinuität eines so wissenden Ichs. Das wirkende Ich schließt das wissende ein. Wenn man das wissend wirkende Ich, d. h. das Wollende, mit einer Linie vergleicht, so sind die einzelnen Punkte das Wissende, und der Krümmungssinn ist der Inhalt des wirkenden Ich. Konkret gesehen, ist das Wissende, bei welchem das Intendierte das Intendierende selbst ist, schon als Punkt einer ganzen Linie gedacht, und das wissende Ich ist notwendig auch schon ein wollendes Ich. Ein nur wissendes Ich wäre eine Gerade vom Krümmungssinn Null. So angesehen, ist Intention nur der Richtungssinn der Punkte auf der Kurve. Vom Intentionsakt aus gesehen, verhält es sich so: Der Intention liegt notwendig ein Noetisches zu Grunde. Der Noesis liegt notwendig ein wissendes Ich zu Grunde. Dem wissenden Ich wiederum liegt, wie oben gezeigt, das wirkende Ich zu Grunde. Jedes konkrete Allgemeine hat in sich selbst seine Bestimmungsebenen, wo es den Inhalt seiner selbst bestimmt. Wie beim Urteilsallgemeinen das abstrakte Allgemeine diesen Bestimmungsebenen entspricht, so entspricht ihnen beim Selbstbewußtseinsallgemeinen notwendig die theoretische Bewußtseinsebene. In ihr bestimmt das Selbstbewußte sich 63

selbst. Daher ist das Bewußtsein intentional. Es ist analog wie beim Urteilsallgemeinen, wo dem, was in demselben seinen Ort hat, Prädikate zukommen. Und wie das, was im abstrakten Allgemeinen seinen Ort hat, nur durch Subsumption bestimmt ist, ohne sich selbst zu bestimmen, ohne sich selbst dadurch zu vermitteln, so ist auch das, was in der theoretischen Bewußtseinsebene seinen Ort hat, noch nichts, was sich selbst selbstbewußt bestimmte und vermittelte. Der sich selbst selbstbewußt bestimmende und vermittelnde Akt ist ja nicht intentionaler Akt, sondern notwendig Willensakt. Selbstbewußt den Inhalt seiner selbst bestimmen, — dieser Prozeß wird von uns als Wille gedacht. Auch das theoretische Selbstbewußtsein ist im Grunde nur in einem solchen Sinne Selbstbewußtsein. Die Kehrseite des Intentionsaktes bildet das theoretische Selbstbewußtsein, d. h. der nur formale oder leere Wille. Was als Selbstbestimmen des Selbstbewußtseinsallgemeinen dem Urteilen entspricht, ist also der Willensakt. Und ein Wollendes, ein willensmäßiges Selbst, das im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat, entspricht dem Einzelsein, welches Subjekt des Urteils, aber nicht Prädikat sein kann. In diesem Einzelsein liegt, vom abstrakten Allgemeinen aus gesehen, der Grund des Urteils. Wenn man das Urteil aber als Selbstbestimmung,des Allgemeinen nimmt, hat das Einzelsein seinen Ort in der transzendentalen Prädikatsebene und bildet den Grund des Urteils als sich selbst Bestimmendes. Ebenso ist auch das Wollende, vom Intentionsakte aus gesehen, ein Transzendentes; wenn man aber den Bewußtseinsakt (und mit ihm den Intentionsakt) als Selbstbestimmung des Selbstbewußtseinsallgemeinen nimmt, so liegt dem theoretischen Selbstbewußtsein notwendig ein willensmäßiges oder praktisches Selbstbewußtsein zu Grunde. Das Wollen begründet das Selbstbewußtsein, und das Selbstbewußtsein begründet erst wahrhaft das Urteil. Das 64

Urteil ist Intentionsakt ohne Selbstbewußtsein; Intentionsakt ist Willensakt ohne selbstbewußten Inhalt. Wenn also oben gesagt wurde, das abstrakte Allgemeine sei die Prädikatseinheit für das Einzelsein, so kann man jetzt von der theoretischen Bewußtseinsebene sagen, daß sie die Eigenschaft annehme, Vermittlungsebene für das selbstbewußte Wollen zu sein.. Diese Tendenz tritt um so deutlicher hervor, je mehr sich unser selbstbewußtes Wollen vertieft. Wenn die Selbstbestimmungsebene des Selbstbewußtseinsallgemeinen die Eigenschaft einer Vermittlungsebene für das Wollende annimmt, so wird in der Richtung der Noesis — entsprechend dieser Ebene — ein gemeinsamer Wille, d. h. das soziale Bewußtsein, gedacht. Zugleich damit — und zwar darum, weil die Selbstbestimmungsebene des Selbstbewußtseinsallgemeinen immer noch die Eigenschaft einer transzendentalen Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen behält — wird in der Richtung des Noema die im engeren Sinne natürlich-physikalische Welt, welche bisher nur eine Welt der Gegenstände der mit der transzendentalen Prädikatsebene vereinigten theoretischen Bewußtseinsebene gewesen war, nunmehr zu der natiirlich-teleologischen Welt. Die teleologische Welt wird in einer transzendentalen Prädikatsebene bestimmt, die zugleich Selbstbestimmungsebene des Willens ist. Die teleologische Welt wird somit nicht wie die natürlich-physikalische Welt durch das Urteilsallgemeine im strengen Sinne bestimmt.

3 Ausgegangen vom Intentionsakt, so wurde gesagt, wird durch ein Transzendieren in der Richtung des Noema und der Noesis eine »intelligible Welt« gedacht, welche in einem [intelligiblen] Allgemeinen ihren Ort hat, das seinerseits das Selbstbewußtseinsallgemeine umgreift. Unsere »Be5 Ν i s li i d a , Die intelligible Welt

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wußtseinswelt«, die in dem Selbstbewußtseinsallgemeinen ihren Ort hat, ist durch ein Transzendieren in der Richtung der Urteilsprädikate [des Prädizierens] sichtbar geworden. Auf dieser Grundlage gehen wir jetzt noch einen Schritt weiter: Das Bewußtsein muß auch noch das Bewußtsein transzendieren. Was bedeutet das ? Wenn überhaupt ein konkretes Allgemeines noch einmal von einem konkreteren Allgemeinen umgriffen und eingeschlossen wird, dann wird das Letzte in der Reihe des Seienden, das in dem ersten Allgemeinen seinen Ort hatte, jeweils in sich selbst widerspruchsvoll. Was ζ. B. in der transzendentalen Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen seinen Ort hat, ist nur Prädikatsbestimmung und wird [beim Übergang zum Selbstbewußtseinsallgemeinen] aus einem [Bestimmen ein Bestimmtes, aus einem] Prädikat ein Subjekt und damit [vom Standpunkt des Urteilsallgemeinen aus] widerspruchsvoll. Dieses Widerspruchsvolle ist das »Wirkern. In dem Maße nun, in dem die Selbstbestimmung des Allgemeinen sich vertieft, wird das Allgemeine [für den früheren Standpunkt] mehr und mehr unbestimmbar; das Bestimmen geht über an ein [im umgreifenden Allgemeinen] »Darinseiendes«; das nur »Darinseiende« [i. e. Einzelsein] geht über in ein sich selbst Bestimmendes. So [insofern das Bestimmende das Bestimmte ist] gerät das Bestimmen mit sich selbst in Widerspruch. Indessen wird dieser [unbestimmbar gewordene] Inhalt für das [höhere] Al gemeine, welches das Urteilsallgemeine transzendierend umgreift, durchaus positiv bestimmbar; es wird ein den Widerspruch Einschließendes gedacht. D. h. im Selbstbewußtseinsallgemeinen wird ein Ich bestimmt, das den Widerspruch in sich einschließt [und aufhebt]. Analog verhält es sich dann wieder mit dem, was im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat: Das Selbstbewußt66

seinsallgemeine bestimmt ein sich selbst Wissendes; in dem Sinne nun, daß das Wissen das Gewußtwerden und das Gewußte das Wissende ist, ist das, was hier seinen Ort hat, in sich selbst widerspruchsvoll geworden; das Selbst als solches ist das Widerspruchsvolle. Das letzte und tiefste in diesem Sinne [i. e. selbstbewußt] Seiende ist der Wille. Wahrhaftes Selbstbewußtsein ist nicht im theoretischen, sondern im willensmäßigen Selbstbewußtsein. Erst das wirkende Selbst hat wahrhaft seinen Inhalt, und nur das Wollen ist wahrhaft ein Wissen seiner selbst. Man kann sagen, daß der Wille der Gipfel des Selbstbewußtseins ist, daß er das letzte [und tiefste] Seiende ist, das im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat. Der Wille ist, wie viele Pessimisten sagen, der Gipfel des Widerspruchs. Wir begehren, um das Begehren aufzuheben; wir leben, um zu sterben. Damit [wie oben gesagt] das bewußte Ich sich selbst transzendiere, damit es in eine Welt intelligiblen Seins eintrete, muß also das Selbst den Willen des Selbst transzendieren. Im tiefsten Grunde unseres Willens ist ein Etwas, das auch noch den Willenswiderspruch transzendiert und aufhebt, — ein Etwas, das in der »intelligiblen Welt« seinen Ort hat. Durch dieses Transzendieren in der Richtung der Noesis transzendieren wir gleichzeitig auch in der Richtung des Noema. Beim Eintreten in die transzendente Welt muß notwendig auch ein Bewußtsein von einem transzendenten Gegenstande möglich sein. Was bedeutet es nun, daß wir den Willen des Selbst transzendieren? — Daß das Selbst über den Willen des Selbst hinaus sei, bedeutet kein bloßes Verschwinden des Willens. Es bedeutet auch kein bloßes Unbewußtwerden des Willens. Der Wille entsteht aus dem Bewußtsein eines Zweckes und vergeht, indem dieser Zweck erreicht wird. In dieser Weise ist der Wille ein zweckbewußter Akt. Damit ein solcher zu5. 67

standekomme, muß das, was am Ende offenbar wird, schon am Anfang gegeben sein. Der zweckbewußte Akt kann daher als ein Prozeß bezeichnet werden, bei welchem das, was Anfang und Ende einschließt, seinen eigenen Inhalt bestimmt. Wenn das, was so den Inhalt seiner selbst bestimmt, unser Selbst ist, dann ist dieser Akt des Bestimmens ein Willensakt. Was in diesem Sinne im tiefsten Grunde unseres Willens als wahrhaftes Selbst gedacht wird, transzendiert und umgreift den Willen. Unser Wille wird durch dieses »Selbst« begründet. Wenn das Urteilsallgemeine vom Selbstbewußtseinsallgemeinen umgriffen wird und das Allgemeine selbst nicht mehr urteilsmäßig bestimmbar ist, dann wird das, was im Urteilsallgemeinen zuletzt und zutiefst seinen Ort hat, als ein Wirkendes offenbar. Das Wirkende ist als »Seiendes« [für das Urteilsallgemeine] widerspruchsvoll und hat seinen Ort nicht mehr im Urteilsallgemeinen. In der sogenannten natürlichen Welt gibt es kein wahrhaft Wirkendes. Wenn aber das Urteilsallgemeine vom Selbstbewußtseinsallgemeinen umgriffen und bestimmt wird, dann wird hinter dem Wirken ein Wirkendes sichtbar, und man kann sagen, daß das Wirken in diesem Wirkenden seinen Grund hat. Ein wahrhaft Wirkendes muß notwendig bewußtseinsmäßig sein. Im Bestimmungsprozeß des Urteilsallgemeinen stehen einander Subjekt und Prädikat gegenüber. Wenn diese nun im Selbstbewußtseinsallgemeinen wie mit einem Futter ausgeschlagen, [d. h. gleichsam durch eine neue Schicht getragen und erweitert] werden, stehen sie einander als Wirkendes und Gewirktes gegenüber. Im Selbstbewußtseinsallgemeinen vertieft sich dann dieser Gegensatz zu dem von Wissendem und Gewußtem, von Subjekt und Objekt. Was zuerst bloßer Akt war, wird durch das Erfüllen mit Selbstbewußtsein zuerst teleologisch und dann, als eigentlicher Selbstbewußtseinsakt, Willensakt. 68

Indem nun weiter auch das Selbstbewußtseinsallgemeine durch ein Umgreifendes getragen und erweitert wird, wird das Letzte, das in ihm seinen Ort hatte, zu dem in sich den Widerspruch einschließenden Willensakt. Daher [weil es für das Selbstbewußtseinsallgemeine widerspruchsvoll und unbestimmbar geworden ist] hat das wahrhaft Wollende nicht mehr im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort und muß das sogenannte Bewußtsein transzendiert haben. Es muß in sich selbst den Gegensatz von Subjekt und Objekt einschließen; es muß sich selbst anschauen. Wie das, was im Urteilsallgemeinen seinen Ort hat, sich selbst urteilsmäßig bestimmt, wie das, was im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat, sich selbst selbstbewußt bestimmt, so bestimmt dieses wahrhaft Wollende sich selbst durch intellektuelle Anschauung. Wenn Wissen ein Konstruieren ist, und wenn der Gegensatz von Subjekt und Objekt, als ein Gegenüberstehen von konstruierender Form und gegebenem Material, ist, so kann man dieses wahrhaft Wollende auch schöpferische Tätigkeit nennen. Ein solches wahrhaftes Wollen ist also schwache Anschauung, gleichsam ein in unserem Bewußtsein gespiegeltes Bild der Anschauung. Wenn nun unser Selbst den Willen des Selbst transzendiert, ist dieses transzendierende Selbst nicht mehr bewußt und auch hinaus über die Grenzen der Reflexion. Daher gibt es für das gewöhnliche Denken überhaupt kein derart »Seiendes«, das ein »intelligibles Selbst« genannt werden könnte; gedacht wird immer nur der angeschaute Inhalt des sich selbst Anschauenden. Die, so zu sagen, noetische Seite ist nicht zu sehen; gesehen wird immer nur die noematische Seite. Dies kommt daher, daß dem »Ort« eines Allgemeinen, welches von einem anderen Allgemeinen umgriffen wird und in ihm seinen Ort hat, die Bedeutung einer abstrakten Be69

stimmungsebene für das zukommt, was im umgreifenden Allgemeinen seinen Ort hat. Ich nenne das, was etwa auch »Noema« des sich selbst Anschauenden heißen könnte, »Idee« (Ιδέα). Wer auf dem Standpunkt des bewußten Selbst verharrt, kann das, was dieses transzendiert, nur als »Idee« denken und nicht anders. Aber die Idee ist immer nur objektiv; ein subjektives Bewußtsein entsteht daraus nicht, ja, nicht einmal der Zusammenhang und die Beziehung zwischen Idee und subjektivem Bewußtsein sind daraus zu erklären. Wenn wir, wie oben, ein transzendierendes Selbst denken, so stehen wir, wenn wir nur überhaupt Etwas denken, schon auf dem Standpunkt dieses transzendentalen Selbst. Auch dann, wenn wir eine »natürliche Welt« als Selbstbestimmung des Urteilsallgemeinen denken, ist dieses Urteilsallgemeine notwendig schon in dem das Selbstbewußtseinsallgemeine umgreifenden [intelligiblen] Allgemeinen eingeschlossen. Erst dann kann man ein Urteil 'wahr' oder 'falsch' nennen. Sogar das Selbst, das im Selbstbewußtseinsal'gemeinen seinen Ort hat, kann noch nicht normativ genannt werden; es ist nicht das denkende Selbst, sondern nur ein gedachtes, zum Gegenstand gemachtes Selbst. Daher ist die intelligible Welt nicht etwas jenseits und außer uns; wir selbst sind unmittelbar in ihr. Nicht zu reden von der natürlichen Welt, ist sogar die Bewußtseinswelt noch ein durch Reflexion Gedachtes. Als solches aber ist sie vielmehr ein transzendent zu nennender Gegenstand. Was im Urteilsallgemeinen bestimmt wird, gehört zum Umkreis der Urteilssubjekte; und auch was in der Tiefe der Prädikatsebene transzendierend gedacht wird, ist noch immer ein durch Reflexion Gedachtes, weil es einerseits als Prädikat verneint, andererseits im Selbstbewußtseinsallgemeinen bejaht wird. In diesem Sinne ist auch das Selbstbewußtseinsallgemeine noch ein Bestimmtes, noch 70

nicht das Bestimmende. Was aber dieses transzendiert hat, ist nun in keiner Weise mehr urteilsmäßig bestimmbar. Höchstens insofern es den Ort des Selbstbewußtseinsallgemeinen zu einer Bestimmungsebene macht, worauf es sein eigenes Bild projiziert, wäre es noch urteilsmäßig zu bestimmen; man könnte von einer Selbstbestimmung des nicht mehr bestimmbaren Allgemeinen sprechen. Das wahre Selbst bestimmt sich also dadurch selbst, daß es das Bild seiner selbst spiegelt; so sehen wir bewußt immer nur den Schatten des Selbst. Das Gebiet unserer inneren Wahrnehmung entspricht dem Inhalt des individuellen Selbstbewußtseins, das im Selbstbewußtseinsallgemeinen bestimmt wird. In Analogie zum Urteilsallgemeinen, wo das, was Subjekt, aber nicht Prädikat wird, m. a. W. das, was im Subjektsein die Prädikate einschließt, das individuelle Einzelsein ist, ist im Selbstbewußtseinsallgemeinen das, was sich selbst unmittelbar intendiert, m. a. W. das, was in der Noesis das Noema einschließt, das individuelle Selbstbewußtsein. Was zu diesem individuellen Selbstbewußtsein gehört, gehört zum Bereich der inneren Wahrnehmung. So etwas wie das gesellschaftliche Bewußtsein hat bereits das Gebiet der inneren Wahrnehmung überschritten. 4 Das über sich selbst Hinausgehen des Selbstbewußten ist ein Transzendieren in der Tiefe des Willens, ein Tieferwerden in der Richtung der Noesis. Dieses Immer-mehr-indie-Tiefe-gehen in der Noesisrichtung ist zugleich ein fortschreitendes Einschließen des Noema in der Noesis und ein zunehmendes Tieferwerden des Seins-Sinnes des bewußtseinsmäßigen Seins. Im theoretischen Bewußtsein umschließt die Noesis das 71

Noema noch nicht; das Selbst wird noch nicht des Inhalts seiner selbst bewußt. Da, wo die Noesis das Noema ist, wo also das Selbst des Inhalts seiner selbst bewußt wird, da ist das fühlende Selbstbewußtsein erreicht, der Inhalt des Gefühls offenbart den Zustand unseres Selbst. Ganz wie das Ding im Urteilsallgemeinen, so ist das Gefühls-Ich im passendsten Sinne im Selbstbewußtseinsallgemeinen. Das willensmäßige Selbst dagegen wird analog dem Wirkenden sichtbar, und zwar in der Tiefe des Selbstbewußtseinsallgemeinen, welches schon von dem Umgreifenden getragen und erweitert ist. Das Wollende ist also schon über das gewöhnliche Bewußtsein hinaus, und man kann jetzt sagen, daß die Noesis das Noema einschließt. Was aber darüber hinaus ist, ist nicht mehr im Sinne des Bewußtseins ein »Sein« zu nennen. Was bewußtseinsmäßig als Sein gedacht wird, ist bloßer Ausdruck. Was durch ihn ausgedrückt ist, ist der Inhalt von etwas, was schon über das wollende Selbst hinaus ist. In der Beziehung von Noema und Noesis ist bereits die Stellung von Urteilssubjekt und -prädikat ausgetauscht; was zur Sphäre des Prädikats gehört hat, ist ein Reales geworden. Wenn die Noesis durch fortschreitendes Einschließen des Noema endlich auch den Willen transzendiert hat, wird auch das, was als transzendenter Gegenstand gedacht worden war, zum Inhalt des sich selbst Anschauenden. Das 'Seiende' ist hier ein sich selbst Anschauendes, und das Objekt ist im Subjekt untergetaucht. Auf dem Standpunkt der Subjektslogik, wenn man von dem Gegenstande [als dem Urteilssub ekte] ausgeht, würden die verschiedenen Veränderungen der Noesis als Veränderung des Gegenstandes gedacht; daß das Selbst sich selbst transzendiert, würde notwendig als ein Eintauchen des Subjekts im Objekt gedacht. Es würde auch so etwas wie eine intellektuelle Anschauung gedacht, wo Subjekt und Objekt 72

eins sind. In diesem Falle würde das Selbst, wenn man es auf beWußtes Sein einschränkt, zu einem bloßen Erkenntnissubjekt, welches zwar die Wahrheit zum Gegenstand hat, aber nicht mehr in irgendeinem Sinne 'ist'. Wenn man so die Subjektivität in einem Objektiven enthalten sein läßt, könnte man dieses Objektive, vom bewußten Selbst aus gesehen, auch als unendlich Schöpferisches denken. Im Gegensatz dazu denke ich das bewußte Selbst als ein »Seiendes«, welches im Selbstbewußtseinsallgemeinen bestimmt wird. Bei der Intention auf einen transzendenten Gegenstand-denke ich gerade umgekehrt an das transzendente Selbst. Natürlich ist diese Denkweise eine logische Betrachtimgsweise, und so bedeutet das Erlebnis des Selbst als solchen nur, daß das Selbst seinen eigenen Grund anschaut. Andererseits kann man auch sagen, daß das logische Denken eine Art von Selbstbewußtsein und zwar das abstrakteste Selbstbewußtsein ist. Dennoch steht die Philosophie nun einmal wesensmäßig ganz auf dem Standpunkt der Logik. Wenn also überhaupt ein transzendentes Selbst gedacht wird, muß dies logisch begründet werden. Der Inhalt des Wissens, welcher durch die Konstruktion des transzendenten Selbst konstituiert wird, muß durch diese Begründung logisch bestimmt werden. Diesen Zweck habe ich vor Augen, wenn ich das im Selbstbewußtseinsallgemeinen bestimmte bewußte Selbst transzendiert und dies Transzendieren noch einmal umgriffen sein lasse, wenn ich also noch ein Allgemeines denke, welches auch das Selbstbewußtseinsallgemeine noch umgreift. Insofern dieses Allgemeine ein sich selbst Anschauendes bestimmt, kann man es das Allgemeine der intellektuellen Anschauung nennen. Wenn man von intellektueller Anschauung spricht, meint man freilich gewöhnlich nur Subjekt-Objekt-Einheit, ohne sich dabei von der traditionellen gegenständlichen Denkweise freigemacht zu haben. Ich meine damit nichts an73

deres, als daß das Selbst unmittelbar sich selbst anschaut. Beim Urteilsallgemeinen ist das Urteil der Akt oder Vollzug des Bestimmens; beim Selbstbewußtseinsallgemeinen ist das Selbstbewußtsein dieses Bestimmen; beim Allgemeinen der intellektuellen Anschauung [beim intelligiblen Allgemeinen] ist das Bestimmen eben das sich selbst Anschauen. In diesem intelligiblen Allgemeinen, welches ein sich selbst Anschauendes einschließt, ist das Erste in der Reihe des »Seienden«, das darin seinen Ort hat, so etwas wie Kants 'Bewußtsein überhaupt' oder das 'reine Ich'. Dieses transzendiert den Grund des Selbstbewußtseins und schaut seine eigene Bewußtseinstätigkeit an; es hat das Bewußtsein in der Noesis-Richtung transzendiert. Aus diesem Grunde kann es selbst nicht mehr als bewußtseinsmäßiges Sein gedacht werden. Aber die Bedeutung eines selbstbewußten Seins hat es doch immer noch, insofern es eben in der Noesis-Richtung transzendiert. Da es so noch die Bedeutung eines selbstbewußten Seins oder eines Selbst hat, ist es wesensmäßig das Gegenteil von einem noematisch gedachten transzendenten Gegenstande; ja, es begründet allererst alles objektive Sein. In was für einem Sinne »ist« ein solches ,Bewußtsein überhaupt' im intelligiblen Allgemeinen? Was für eine Stellung nimmt es als »Darinseiendes« ein? Früher wurde gesagt, daß das Erste in der Reihe des Seienden, welches, in der Tiefe der transzendentalen Prädikatsebene transzendierend, im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat, das theoretische Selbst sei. Was nun aber auch noch das Letzte in der Reihe dieses Seienden, nämlich das bewußte Wollen, transzendiert und als erstes Seiendes im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, ist das theoretische intelligible Selbst. Jedes konkrete Allgemeine hat in sich eine abstrakte Be74

stimmungsebene, worauf es sich selbst projiziert. Diese Rolle spielt immer das umgriffene Allgemeine. Wenn also das Urteilsallgemeine vom Selbstbewußtseinsallgemeinen umgriffen wird und die Bedeutung einer solchen abstrakten Bestimmungsebene annimmt, wird es die Bewußtseinsebene des theoretischen Selbstbewußtseins. Und ebenso: wenn das Selbstbewußtseinsallgemeine vom intelligiblen Allgemeinen umgriffen und dessen, abstrakte Bestimmungsebene wird, wird es die theoretische Bewußtseinsebene des intelligiblen Selbst. Das theoretische Selbstbewußtsein hat, wie oben gesagt, noch nicht den Inhalt des Selbst als solchen; es ist nur formales oder leeres Selbstbewußtsein. Ebenso ist nun das 'Bewußtsein überhaupt', das nur durch ein Transzendieren in der Noesis-Richtung gedacht wird, als »intelligibles Selbst« notwendig auch nur formal. Als etwas, das im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, ändert der eigentliche Inhalt des Selbstbewußtseins lediglich seine Seinsform. In welchem Sinne wird aber gerade dieser Inhalt des früheren Allgemeinen durch das Selbstbewußtsein des intelligiblen Selbst verändert? Solange unser Selbst noch nicht bewußt wird, ist es nur so etwas wie eine transzendentale Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen; wir sehen dann nur die urteilsmäßig bestimmte Objektwelt, welche auch als natürliche Welt im weiteren Sinne gelten kann. Wenn aber unser Selbst seiner selbst bewußt geworden ist, sieht es die im und durch das Selbstbewußtseinsallgemeine bestimmte »Bewußtseinswelt«. Dastehen einander zwei Welten gegenüber [: die natürliche Welt und die Bewußtseinswelt, als zwei Seiten derselben Sache, nur so oder so gesehen]. Denn einerseits hat die Bewußtseinsebene noch die Eigenschaft einer Prädikatsebene für das Urteilsallgemeine; das, was im und durch das Urteilsallgemeine bestimmt worden ist, kann auch als Inhalt des bewußten Selbst gelten, der sich in der Bewußt75

seinsebene spiegelt. Andererseits kann auch umgekehrt das, was in der Bewußtseinsebene liegt, zugleich als urteilsmäßig bestimmbar gelten. Aber das im Selbstbewußtseinsallgemeinen bestimmte bewußte Sein [bzw. bewußtseinsmäßige Sein] ist nur durch das bewußte Selbst bestimmtes Sein und sonst nichts. Ein solcher bloßer Selbstbewußtseinsinhalt, d. h. etwas, das zur sogenannten inneren Wahrnehmung gehört, bestimmt unmittelbar urteilsmäßig sich selbst. Nur in diesem Umfange kann man sagen, daß das, was in der Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen seinen Ort hat, vollständig von dem Selbstbewußten umgriffen wird, und daß das Urteilsallgemeine in sich selbst einen Gegenstand hat. Indessen beschränkt sich, wie oben dargetan, die NoesisRichtung nicht auf das bloße Selbstbewußtsein, sondern geht noch über den Grund des Willens hinaus. In solchem Sinne kann eine transzendierende Intention gedacht werden, und zwar als etwas, das den Inhalt eines das Bewußtsein Transzendierenden spiegelt. Von diesem Standpunkt aus gesehen hat aller Inhalt der Urteilserkenntnis, von dem anfänglich gesagt wurde, daß er im Urteilsallgemeinen bestimmt werde, die Bedeutung eines Bewußten, und zwar in dem Sinne, daß das Urteilsallgemeine im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat. Zugleich ist er nicht nur als dessen Inhalt bestimmbar, sondern, als durch noch tiefere Noesis intendiert, hat er auch die Bedeutung, wesentlich als Inhalt des intelligiblen Allgemeinen bestimmbar zu sein. Hierin liegt in der Tat die Grundlage der Urteilserkenntnis. Was bewußt geworden ist, hat zugleich damit, daß es bewußt ist, immer auch noch transbewußten Sinn. Im Selbstbewußtseinsallgemeinen stehen noetische und noematische Richtung einander gegenüber. Auch im Willen, der als letztes Seiendes im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat, können sie sich nicht positiv vereinigen. 76

Der Wille selbst ist Widerspruch und unendliche Bewegung. Insofern das Selbstbewußtseinsallgemeine seinen Ort im intelligiblen Allgemeinen hat und durch dasselbe getragen und erweitert wird, ist alles Seiende, das in unserem Bewußtsein ist, dadurch, daß es die intelligible Welt spiegelt, von der Art eines Sellens, normativ. Freilich kann man nur darum, weil das Selbstbewußtseinsallgemeine in einem umgreifenden Allgemeinen seinen Ort hat, noch nicht behaupten, daß alles Seiende, das im Bewußtsein ist, unmittelbar auch schon normativ sei. Lediglich in dem Sinne, daß das Seiende, das im Bewußtsein seinen Ort hat, den Inhalt eines Transbewußten spiegelt, wird eine Welt des bloßen Sinnes, eine Welt der reinen Geltung, gedacht. Nur in diesem Sinne intendiert unser Bewußtseinsakt bloßen »Sinn«. Wenn man aber die Wurzel der Noesis tief im intelligiblen Allgemeinen sein und bestimmt sein läßt, dann ist der Bewußtseinsakt als Spiegelung des Inhalts eines sich selbst Anschauenden notwendig ein Akt der Wertverwirklichung, normativ. Was also unserem bewußten Selbst gegenüber als objektive Welt gedacht wird, transzendiert unser bewußtes Selbst und ist nichts anderes als der Inhalt eines Etwas in der Tiefe unseres Selbst; dieses Etwas ist das intelligible Selbst. Natürlich ist auch der Inhalt des bewußten Selbst nichts anderes als der irgendwie bestimmte Inhalt eines noch tieferen Selbst, aber was an ihm durch das bewußte Selbst nicht bestimmt ist, wird eben dem bewußten Selbst gegenüber als objektive Welt gedacht. Der Titel eines »Seienden« kommt dem bewußten Selbst zu; was diesem gegenübersteht, ist irreal, Welt des bloßen Sinnes oder — noch einen Schritt weiter — Welt der Wahrheit. Und alles, was im Urteilsallgemeinen bestimmt wird, gehört, abgesehen davon, daß es zum Selbstbewußtsein gehört, zu dieser Welt. 77

Wenn nämlich, wie oben gesagt, das Urteilsallgemeine auch noch von dem intelligiblen Allgemeinen umgriffen wird, verliert all sein Inhalt die Bedeutung des »Seins« und wird »Sinn« oder »Wert.« Wenn mm auch noch das Selbstbewußtseinsallgemeine vom intelligiblen Allgemeinen umgriffen wird, muß auch das bewußte Selbst in die gegenständliche Welt eintreten. Kants 'Bewußtsein überhaupt' ist in diesem Sinne wesensmäßig das »intelligible Selbst«. Daher tritt von diesem Standpunkt aus schlechthin alles, als Gegenstand der Erkenntnis, in die Wertwelt ein. Dadurch, daß das Urteilsallgemeine von dem Selbstbewußtseinsallgemeinen umgriffen wird, wird das theoretische Selbstbewußtsein gedacht; dadurch, daß dann das Selbstbewußtseinsallgemeine noch von dem intelligiblen Allgemeinen umgriffen wird, überschreitet das bewußte Selbst sich selbst und wird intelligibles Selbst. Eben dies wird von Kant als 'Bewußtsein überhaupt' gedacht. Dieses 'Bewußtsein überhaupt' hat bereits unser Bewußtsein transzendiert und ist nicht mehr in irgendeinem Sinne bewußtes Sein. Die Tatsache aber, daß unser bewußtes Selbst in der Noesis-Richtung transzendiert, heißt auch, daß der Inhalt unseres Bewußtseins insgesamt zum Inhalt eines sich selbst Anschauenden wird, und daß das Selbst, indem es untertaucht und sich selbst verleugnet, eine Objektwelt umgreift und einschließt. Betrachtet man diesen Standpunkt des transzendenten oder transzendentalen Selbst vom Standpunkt des gewöhnlichen Selbst aus, so wird notwendig ein Erkenntnissubjekt gedacht, welches unsere Gegenstandswelt aufbaut. Indem auch die Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen transzendent wird und, selbst nicht mehr urteilsmäßig bestimmbar, ganz und gar Bestimmendes wird, d. h. indem sie zu sich selbst zurückkehrt und unmittelbar sich selbst bestimmt, wird sie notwendig konstitutiv. Wenn sie ihren 78

Ort im Selbstbewußtseinsallgemeinen hat, wird ihre Bestimmungsweise als selbstbewußte Bestimmung gedacht, und wenn sie endlich ihren Ort auch im intelligiblen Allgemeinen hat, dann erhält ihre Bestimmungsweise die Bedeutung einer kategorialen Bestimmung, welche die Welt der Gegenstände der Erkenntnis konstituiert. Diese kategoriale Bestimmung bedeutet, daß das Subjekt im Prädikat untertaucht, während die Prädikatsebene das Subjekts-Sein bestimmt. Damit das letzte Prädikative als konstitutive Kategorie den Erkenntnisgegenstand aufbaue, dazu muß das Urteilsallgemeine also einmal im Selbstbewußtseinsallgemeinen und — durch dessen Transzendieren in der Noesis-Richtung — auch im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort haben. Daher ist die Tatsache, daß ein 'ich denke' alle meine Vorstellungen begleiten können muß, die Grundlage der transzendentalen Deduktion. Was das Erkenntnissubjekt betrifft, so hat es das das Urteilsallgemeine umgreifende Selbstbewußtseinsallgemeine in der Noesis-Richtung transzendiert und bekommt einen Wissensinhalt dadurch, daß im Selbstbewußtseinsallgemeinen das Urteilsallgemeine seinen Ort hat. Wissen ohne Inhalt könnte nicht objektiv genannt werden und würde nicht zu einer Wahrheit, die den Inhalt des intelligiblen Selbst darstellt. Weil das eigentliche Erkenntnissubjekt als Transzendenz des theoretischen Selbstbewußtseins lediglich die Eigenschaft einer Prädikatsebene hat, ist dieser gegenüber die Struktur des Selbstbewußtsseins nichts anderes als das Prinzip der Gegebenheit. In der Kantischen Philosophie, wo das Selbstbewußtsein nur theoretisch ist, ist das Prinzip der Gegebenheit nur formales Selbstbewußtsein; so etwas wie die Form der 'Zeit' wird ja von Kant als Kategorie des Gegebenen gedacht. Unser Selbstbewußtsein wird in der Form der Zeit offenbar. Die Noesis, — so formal, daß sie nur sich in sich spiegelt —, konstituiert die 79

Form der Zeit; durch diese formale Noesis wird ein bewußtes Noema Erfahrungsinhalt. Wenn das Urteilsallgemeine zum »Schlußallgemeinen« sich erweitert, so heißt dies, daß das Schlußallgemeine schon im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat; und wenn man es noch vom Urteilsallgemeinen aus betrachtet, geht seine Bestimmung an ein »Darinseiendes« über; das Darinseiende bestimmt sich selbst, und seine Bestimmungsform ist die Form der Zeit. Man kann sagen, daß 'Zeit' diejenige Form sei, in der das Besondere sich allgemein bestimmt. Umgekehrt kann sie aber auch als Selbstbestimmungstätigkeit gedacht werden, wo das unbestimmte Allgemeine sich selbst bestimmt. Wenn man den Sachverhalt nun vom Standpunkt des Selbstbewußtseinsallgemeinen aus betrachtet, bedeutet die formale Noesis ein Bewußtwerden des Selbst im Selbst. Nach meiner Meinung bedeutet die Form eines solchen Selbstbewußtseins die von Kant als reine Form der Anschauung gedachte 'Zeit'. Aber das theoretische Bewußtsein, wo das Selbst noch nicht den Inhalt seiner selbst besitzt, ist, wie gesagt, noch rein formal; wenn man dieses formale Selbstbewußtsein zum Prinzip der Gegebenheit machte, würde nur so etwas wie die physikalische Welt gegeben und sonst nichts. Wenn man dagegen die Bedeutung vertieft, daß das Urteilsallgemeine im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat, und wenn man bedenkt, daß es in einem willensmäßigen Selbstbewußtsein seinen Ort hat, das seines eigenen Inhalts bewußt wird, so kann — auf dem Standpunkt des intelligiblen Allgemeinen — auch eine zweckmäßige Welt gesehen werden. Weil das Subjekt dieses Sehens durch Transzendieren des willensmäßigen Selbstbewußtseins in das intelligible Selbst eingetreten ist, kann es, als formales Sein im intelligiblen Allgemeinen, d. h. als nur theoretisches 80

Selbst, die Bedeutung des Kantischen 'Bewußtseins überhaupt' haben und doch auch zugleich eine zweckmäßige Welt als Gegenstand der Erkenntnis denken.

Der Standpunkt der Kantischen Philosophie kann, so glaube ich, im wesentlichen auf die angegebene Weise gedacht werden. Wie läßt sich nun der Standpunkt der modernen Phänomenologie denken? Den Standpunkt jeder gegenständlichen Erkenntnis völlig aufgeben und die phänomenologische Einstellung erreichen, bedeutet gleichfalls, daß wir den Standpunkt des theoretischen intelligiblen Selbst einnehmen, welches über das willensmäßige Selbstbewußtsein hinaus ist und sich selbst anschaut. Diese Einstellung beruht also lediglich auf der Vertiefung der Noesis. Von hier aus wird das 'Wesen' angeschaut. Dieses Wesen ist eben das Noema einer intellektuellen Anschauung, durch die das intelligible Selbst den Inhalt seiner selbst anschaut. In diesem Sinne kann man sagen, daß sich dieser Standpunkt mit dem Kantischen berührt; nur daß das Selbstbewußtsein, das bei Kant das Prinzip der Gegebenheit ist, zum intelligiblen Selbst vertieft worden ist. In der Kantischen Philosophie wird der konstitutive Standpunkt des intelligiblen Selbst, welches das transzendentale Subjekt des Urteilsallgemeinen ist, zur Hauptsache; der Gedanke, daß das transzendentale Subjekt im Selbstbewußtseinsallgemeinen das Prinzip der Gegebenheit ausmacht, ist nicht vertieft. Dagegen wird bei der Phänomenologie eben dieser Standpunkt der Gegebenheit, d. h. der intuitive Standpunkt allein, bedacht; es wird vergessen, daß das intelligible Selbst, als transzendierende Noesis, dem bewußten Selbst gegenüber konstitutive Bedeutung hat, nämlich die, den Gegenstand der Erkenntnis zu konstituieren. 6 Nishida,

Die intelligible Welt

8 1

Damit überhaupt ein transzendenter Gegenstand in unserem Bewußtsein intendiert werde, dazu muß die Noesis in der Tiefe unseres Bewußtseins-Ichs transzendieren. Wie weit man ja auch den Standpunkt des bewußten Ich vertiefen mag, man kann doch von ihm aus noch keinen transzendenten Gegenstand intendieren. Der Standpunkt eines Selbst aber, wo durch Transzendieren in der Tiefe der Noesis eine Gegenstandswelt angeschaut wird, ist dem bewußten Ich gegenüber eben der des konstitutiven Subjekts. Das Transzendieren in der Noesis-Richtung ist ein Transzendieren auf dem tiefsten Grunde des Ich des Aktes, und des Ich als eines Aktes. Solange man sich noch nicht über den Akt als bewußtseinsmäßiges Sein erhebt, hat man noch nicht den Standpunkt der Phänomenologie erreicht. Der Standpunkt eines reinen Ich, das den Gegensatz von Noema und Noesis anschaut, ist notwendig ein solcher der Noesis der Noesis ; er hat notwendig als Akt des Aktes konstitutive Bedeutung. Husser nahm seinen Ausgang von Brentano, der die Intention zum Wesen des Bewußtseins macht; daher hat sich Husserls Phänomenologie noch nicht von diesem Standpunkt gelöst; sein reines Ich ist doch wohl etwas, das ganz und gar den vorstellungsmäßigen Standpunkt vertieft hat. Von einem solchen aus wird man sich aber — ganz abgesehen von einem Gegenstande des Willens — auch nicht eines Gegenstandes des Denkens bewußt werden können. Man sagt zwar, daß er durch die Synthese von Akten bewußt werde, aber dieses Verbinden bedeutet schon ein Konstituieren von Bewußtseinsinhalt höherer Ordnung; erst diese Konstitutionstätigkeit, dieser konstitutive Akt ist das wahre Sich-bewußt-werden, das wahre Bewußtsein. Im Bewußtsein ist das Aktvollziehen ein Schauen·, wenn wir denken, werden wir in diesem Sinne einer Sache bewußt. 'Gedachtes' könnte auch als Gegenstand einer Inten82

tion gedacht werden, aber in diesem Falle wäre es ein Schauen, bei dem man schon auf den Standpunkt des vorstellungsmäßigen Bewußtseins zurückgekehrt ist. Wie sehr man auch Vorstellungsakte aufhäufen mag, es kommt kein verschiedenartiger Akt zustande. Und wenn man einen verschiedenen Akt hinzufügte, so müßte, insofern auch dieser Akt noch Bewußtsein sein soll, ein Bewußtsein von anderer Bedeutung möglich sein. Es ist also nicht so, daß der Vorstellungsakt die Grundlage ist, auf die verschiedenartige Akte nach und nach hinzukommen, sondern die Bedeutung des Bewußtseins selbst verändert sich nach und nach. Es wird also nicht bloß das vorstellungsmäßige Bewußtsein als solches vertieft, sondern die sogenannte 'Intention' des Bewußtseins bedeutet, daß ein Bewußtseinsakt niederer Ordnung den Inhalt eines Bewußtseinsaktes höherer Ordnung spiegelt. Nun muß jeder Bewußtseinsakt mit dem 'Ich' verbunden sein; daß eine Noesis 'reell' sei, heißt, daß sie mit dem 'Ich' verbunden ist. Dieses Ich intendiert sich in sich; d. h. es ist ein seiner selbst Bewußtes. Vom Standpunkt des konkreten Selbst als solchen aus, bedeutet 'Intendieren' ein Konstituieren des Inhalts des Selbst im Selbst. Wenn man einen Bewußtseinsakt ohne Selbstbewußtsein für unmöglich hält, ist gerade diese Konstitutionstätigkeit als Wesen des Bewußtseins zu bezeichnen. Der sogenannte Intentionsakt ist nur die abstrakte Seite; das konstitutive Moment ist beseitigt worden. Er ist somit nichts anderes als der Standpunkt des bewußten Selbst. Von einem solchen Standpunkt aus kann aber unmöglich die Noesis bewußt gemacht werden.

β·

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5 Den Kantischen Standpunkt des 'Bewußtseins überhaupt' und den Standpunkt der modernen Phänomenologie habe ich als zwei Seiten des sich selbst anschauenden intelligiblen Selbst betrachtet. Wenn wir, auf dem Grunde des Willens transzendierend, den Standpunkt des intelligiblen Selbst erreichen, so wird derselbe, als Standpunkt eines Selbst, welches das sogenannte bewußte Selbst transzendiert hat, dem bewußten Ich gegenüber als Erkenntnissubjekt gedacht, welches die Gegenstandswelt aufbaut. Zugleich damit muß er auch notwendig als intuitives Selbst gedacht werden, welches alle Standpunkte aufhebt und das Innen seiner selbst anschaut. Nur ist dieses intuitive Selbst nicht das Bewußtsein, insofern es passiv bewußt geworden ist, sondern insofern es aktiv des Bewußtseins bewußt wird. Infolgedessen ist es keineswegs seinem Wesen nach bloße Intention, sondern es hat notwendig die Bedeutung, daß das Selbst sich selbst bestimmt; es ist nicht ein bloß Intendierendes, sondern ein Selbstbewußtes. Das Schauende beschreibt aber auch nicht etwa bloß, sondern es hat in sich selbst einen Gegenstand, es bestimmt in sich selbst das Selbst. Durch das Sich-selbstunmittelbar-zum-Gegenstand-machen wird der Sinn der verschiedenen Akte bestimmt. Es versteht sich von selbst, daß das so verstandene intelligible Selbst weder als gegenständliches Sein im Urteilsallgemeinen noch auch als bewußtseinsmäßiges Sein im Selbstbewußtseinsallgemeinen bestimmt werden kann. Es kann ja überhaupt nicht mehr erkenntnismäßig als Sein bestimmt werden; es bestimmt im Gegenteil erst selbst die Erkenntnis. Wenn dennoch der BegrifF eines intelligiblen Allgemeinen — und zwar durch eine das [gewöhnliche] Bewußtsein transzendierende Intention — gedacht werden 84

kann, dann ist das intelligible Selbst als ein Sein zu bezeichnen, welches in diesem intelligiblen Allgemeinen bestimmt wird. Was dagegen im Selbstbewußtseinsallgemeinen als Bewußtseinsphänomen bewußt wird, ist nichts weiter als der abstrakte Inhalt eines solchen transzendenten und zugleich transzendentalen Selbst. In seinem Grunde spiegelt das transzendente Selbst das Selbst in dem Selbst, und zwar dadurch, daß es sich selbst anschaut. Allein, weil es, wie oben gesagt, als in der intelligiblen Welt seiendes formales Sein, d. h. als theoretisches Selbst, noch nicht den Inhalt seines eigenen intelligiblen Selbst besitzt, kann es auch als intelligibles Selbst noch nicht als wahrhaftes Sein gedacht werden. Nur formal ändert der Inhalt des Selbstbewußtseinsallgemeinen seine Bedeutung. Daher ist dieses intelligible Selbst, wenn auch transzendent genannt, bloßes Erkenntnissubjekt; sein Inhalt verliert die Bedeutung eines Seins und wird als Wert gedacht. Wenn unsere Bewußtseinsebene durch ein derartiges intelligibles Selbst getragen und erweitert wird, wird das, was in der Bewußtseinsebene seinen Ort hat, sollensartig; was auf der Noesis-Seite ist, wird nur als formales Selbst angeschaut; was aber in der Noema-Richtung ist, wird als transzendenter Gegenstand, d. h. als Wert, angeschaut. Auf diesem Standpunkt zu verharren, ist Kants Erkenntnistheorie. Wenn man von einem Gedanken ausgeht, der von vornherein Wissendes und Gewußtes einander gegenüberstehen und die Erkenntnis einen Akt sein läßt, wird es nicht möglich sein, von da aus noch weiter fortzuschreiten. Wenn man aber, wie schon oft gesagt, von der transzendierenden Intention ausgehend, eine Bestimmung des intelligiblen Allgemeinen denken kann, so kann von hier aus wohl noch ein weiteres 'Seiendes' sichtbar werden. Ich glaube dadurch den Zusammenhang von metaphysischer 85

und begrifflicher Erkenntnis deutlicher machen zu können, als es die bisherige Denkweise tat. Wenn unser Selbst als bloßer Einheitspunkt der Bewußtseinsakte und das Bewußtsein als Akt-vollziehen gedacht würde, so könnte ein Transzendieren desselben nichts anderes sein als ein Transzendieren in der Richtung des Gegenstandes. Wenn man aber das bewußte Selbst als ein Sein begreift, welches in dem das Urteilsallgemeine umgreifenden Allgemeinen des Selbstbewußtseins in der Richtung des Subjekts bestimmt ist, so wird ein transzendentes Selbst gedacht werden können, und zwar als ein Sein, welches in einem das Selbstbewußtseinsallgemeine umgreifenden Allgemeinen in der Richtung der Noesis bestimmt wird. Als das Urteilsallgemeine durch das Selbstbewußtseinsallgemeine umgriffen wurde, da wurde seine Prädikatsebene im Selbstbewußtseinsallgemeinen zur Bewußtseinsebene des theoretischen Selbstbewußtseins; was in diesem seinen Ort hat, intendiert als Noesis den noematischen Gegenstand. Wenn nun das Selbstbewußtseinsallgemeine seinerseits durch das intelligible Allgemeine umgriffen wird, so wird in analoger Weise die Bewußtseinsebene des Selbstbewußtseins zur Bewußtseinsebene des transzendenten Selbst; was in dieser seinen Ort hat, wird als Intendieren eines noematisch-transzendenten Gegenstandes gedacht, und zugleich damit muß notwendig auch in der Richtung der Noesis ein Transzendieren gedacht werden. Insofern die theoretische Noesis als bewußtseinsmäßiges Sein unvollkommen ist, muß das wahrhafte Sein im Selbstbewußtseinsallgemeinen willensmäßig sein. Das wahrhafte Selbst ist nicht im theoretischen, sondern im praktischen, willensmäßigen Selbstbewußtsein. In sich selbst intendiert der Wille; und diese Intention ist gleichzeitig ein Spiegeln des Selbst im Selbst. So ange86

sehen, gibt es hinter der theoretischen Intention einen Willen; das als Noema Angeschaute ist der gespiegelte Inhalt des Willens. Das normative Bewußtsein in der Bewußtseinsebene des transzendenten Selbst könnte man auch etwa als »intelligible Noesis« bezeichnen; sie ist noch ein unvollkommenes intelligibles Selbst, und ihr transzendenter Gegenstand ist nur ein Spiegelbild oder Schatten des Inhalts des intelligiblen Selbst. Wenn man nun diese intelligible Noesis nur als Erkenntnissubjekt denkt, verliert das Noematische vollständig die Bedeutung eines Seins und wird zu einem Wert. Wenn man die Noesis ganz im Noema aufgehen läßt, wird sie eine metaphysische Realität wie Piatons Idee. Bei der metaphysischen Realität ist die Noesis ganz im Noema aufgegangen. Wenn man bei dem Bewußtseinsphänomen die Noesis im Noema enthalten sein läßt, wird, im Sinne einer Vorstellungspsychologie, die Vorstellung als bewußtseinsmäßiges Sein gedacht; analog wird bei der transzendenten Bewußtseinsebene ein gleiches Denkverfahren angewendet: Der Standpunkt der Phänomenologie kann, wie oben gesagt, als Vertiefung der vorstellungsmäßigen Seite des 'Bewußtseins überhaupt' gedacht werden. Auf diesem Standpunkte verliert die platonische Idee ihre Realität und wird phänomenologisches 'Wesen'. Damit jedes Allgemeine sich selbst bestimme, muß es Bestimmungsakte geben, wodurch die verschiedenen Allgemeinen voneinander unterschieden und aufeinander bezogen werden. Beim Urteilsallgemeinen ist dieser Bestimmungsakt das Urteilen, beim Selbstbewußtseinsallgemeinen der sogenannte Bewußtseinsakt. Die Beziehung von Subjekt und Prädikat im Urteilsallgemeinen wird im Selbstbewußtseinsallgemeinen zur Beziehung von Noesis und Noema. Je mehr nun das Allgemeine überhaupt zu sich 87

selbst zurückkehrt, je mehr der »Ort« sich dem »Nichts« nähert, um so mehr geht der Bestimmungsakt an ein »Darinseiendes« über; und das Darinseiende wird ein sich selbst Bestimmendes. Das Darinseiende ist im Urteilsallgemeinen das Einzelsein, welches das Prädikats-Sein enthält, es wird ein sich wechselseitig prädikativ Bestimmendes und — schließlich — das »Wirkende«. Im Selbstbewußtseinsallgemeinen stehen Noesis und Noema einander gegenüber; je mehr nun das Selbstbewußtseinsallgemeine zu sich selbst zurückkehrt, m. a. W. je mehr es, sich selbst transzendierend, in einem noch größeren Allgemeinen seinen Ort findet, um so mehr wird das Noema in der Noesis eingeschlossen. Im theoretischen Selbstbewußtsein war die Noesis nur formales Sein, aber im praktischen Selbstbewußtsein ist in der Noesis das Noema enthalten. Das Transzendieren auf dem Grunde des bewußten Selbst ist, wie oben gesagt, in diesem Sinne ein Transzendieren auf dem Grunde der willensmäßigen Noesis. Ein Transzendieren des Willens, der die Wurzel des bewußten Selbst ist, ist vielleicht unmöglich, aber wir werden doch irgendwie des Willens bewußt. Denken wir nicht irgendwie den Willen? Der Wille wird bewußt, indem das Selbst im Selbst intendiert und das Intendierende irgendwie intendiert wird; der Wille ist bewußt, insoweit die Noesis Noema geworden ist, und das Noema Noesis. Natürlich ist dem Noematischen gegenüber das Noetische immer transzendent; gegenüber dem theoretischen Selbstbewußtsein ist selbst der Inhalt des Willens äußerlich, transzendent. Allein, theoretisches und praktisches Selbstbewußtsein sind nicht zwei verschiedene und gesonderte Dinge: insofern das theoretische Selbstbewußtsein die abstrakte Bestimmung des praktischen Selbstbewußtseins ist und der willensmäßige Inhalt in der Form des theoretischen Selbstbewußtseins bestimmt 88

und noematísch gespiegelt wird, wird das willensmäßige Selbst bewußt. Aber, wenn das Seiende in der Richtung der Noesis nicht mehr den Inhalt des Selbst nöematisch spiegelt, d. h. wenn das Noematische über die bewußte Noesis hinaus ist, so hat unser Selbst auf dem Grunde des Willens transzendiert. Als dieses Selbst kann zunächst ein handelndes Selbst gedacht werden; in der Tiefe unseres bewußten Selbst ist ein handelndes Selbst in diesem Sinne. Unser bewußtes Selbst ist eben etwas, das auf dem Standpunkt eines solchen [handelnden] Selbst bestimmt worden ist. Der Inhalt eines solchen [handelnden] Selbst kann zwar von dem bewußten Selbst aus als äußerlich oder transzendent gedacht werden, aber er ist nicht nur so zu denken; vielmehr ist er der Inhalt eines noch tieferen Selbst. Er ist derjenige noematische Inhalt, der durch Transzendenz des Selbst in der Noesisrichtung sichtbar wird. Hier liegt auch die. Wurzel der transzendierenden Intention. Auch der Inhalt des Willens ist ursprünglich nicht theoretisches Noema; aber das willensmäßige Selbst wird doch als Letztes, das im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hat, noch selbstbewußtseinsmäßig bestimmt. Das willensmäßige Selbst kann als etwas gedacht werden, das auf der Bewußtseinsebene sich selbst spiegelt. Man kann sagen, daß es die Kongruenz von Noema und Noesis nicht aufgegeben hat, d. h. sich noch nicht von der Einheit der sogenannten inneren Wahrnehmung losgelöst hat. Und zwar verhält es sich ähnlich wie mit dem Inhalt des Einzelseins, der nicht zu dem abstrakten Allgemeinen gerechnet werden kann; dennoch wird das Einzelsein als etwas, das nur Subjekt und nicht Prädikat sein kann, im Urteilsallgemeinen bestimmt und weiterhin noch als Wirken gedacht. Wenn dann, die Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen in der Tiefe transzendierend, das bewußte Selbst gedacht wird, 89

ist dies auch als letztes Seiendes, das im Urteilsallgemeinen seinen Ort hat, nicht mehr [urteilsmäßig] bestimmbar. Aber sein Noema kann als Inhalt des Urteilsallgemeinen wenigstens gedacht werden; — so verhält es sich auch, wenn, das willensmäßige Selbst transzendierend, ein handelndes Ich sichtbar wird: Es kann, auch als letztes Selbst im Selbstbewußtseinsallgemeinen, nicht mehr [selbstbewußtseinsmäßig] bestimmt werden, aber sein Noema kann doch immer noch als Inhalt des Selbstbewußtseinsallgemeinen wenigstens gedacht werden. »Handeln« heißt, die Außenwelt, welche das Bewußtsein transzendiert, in das Selbst hineinnehmen, — heißt, daß ich ein Geschehen in der äußeren Welt als Verwirklichung des eigenen Willens zum »Ausdruck« des Inhalts des Selbst mache. Dabei wird die objektive Realität nicht zu einem immanenten Sein des Selbst; sie bleibt durchaus objektive Realität. Darum verläßt doch nicht das subjektive Selbst das Selbst, — darum wird es doch noch nicht zu einem objektiven Selbst. Im Gegenteil: wir werden uns durch unser Handeln noch tiefer unseres Selbst bewußt. Ein solches Selbst umgreift und umschließt die äußere Welt, indem es über das Bewußtsein seiner selbst hinausschreitet, dasselbe transzendiert. Durch seine Objektivation wird auch das Selbst seinerseits vertieft. Weil jedoch der Ausdruck des Willens immer auch als Geschehen in der äußeren Welt theoretisch gesehen wird, und weil zweitens der Inhalt des Wollens immer auch theoretischer Bewußtseinsinhalt ist, darum meint man, der Wille sei als Einheit dieser beiden Seiten nur vom theoretischen Selbstbewußtsein umschlossen. Damit überhaupt ein Geschehen in der äußeren Welt gedacht werde, muß zwar zunächst ein wahrnehmungsmäßiges Bewußtsein vorausgesetzt werden; denn nur dadurch, daß die Intention einer wahrnehmungsmäßigen Noesis zu 90

Grande liegt, wird überhaupt erst eine äußere Welt gedacht. Aber damit, daß man eine solche Intention zugrunde legt, ist noch keine willensmäßige Handlung gedacht. Um eine solche zu denken, muß vielmehr der Intentionssinn der Noesis von Anfang an ein anderer sein. Ferner transzendiert auch der mit der Wahrnehmung verbundene triebhafte Wille, der etwas von einer Transzendenz in der Noesis-Richtung an sich hat, die Bestimmung des theoretischen Selbstbewußtseins. Wenn man den Sinn einer derartigen Noesis-Transzendenz immer mehr vertieft, kann man auch ein Seiendes denken, das in der intelligiblen Welt seinen Ort hat, — ein Seiendes, das hinaus ist über das 'Bewußtsein überhaupt', welches seinerseits als NoesisTranszendenz des theoretischen Selbstbewußtseins gedacht worden ist; d. h. man kann auch den Inhalt des intelligiblen Selbst denken. Konnte man beim Übergang vom Urteilsallgemeinen zum Selbstbewußtseinsallgemeinen die Transzendenz der Prädikatsebene mit einem 'ich bin meiner bewußt' zur Evidenz bringen, so kann man bei dem weiteren Übergang vom Selbstbewußtseinsallgemeinen zu einem auch dieses umgreifenden intelligiblen Allgemeinen mit dem 'ich weiß, daß ich handle' die Transzendenz der Noesis erweisen. Hier möchte ich ein Wort über das einfügen, was wir als unsern Leib denken: Wir denken gewöhnlich, ohne Leib gibt es keine Seele, und die Seele wohnt im Leib. Was ist aber denn in diesem Falle der 'Leib' ? Was als unser sinnlicher Gegenstand bewußt wird, ist wesentlich etwas, das bewußt ist, und nicht etwas, das ein Bewußtsein beherbergt. Den Grund unseres Bewußtseins bildet, wie oben dargetan, notwendig das handelnde Selbst. Als Ausdruck unseres handelnden Selbst, hat der Leib die Bedeutung, daß er mit zur Grundlage unseres Bewußtseins gehört. Vom Standpunkt des bewußten Selbst aus könnte 91

unser Leib wohl auch als Organ unseres Willens betrachtet werden; aber nicht bloßes Werkzeug ist der Leib, sondern eben Ausdruck eines tiefen Selbst auf dem Grunde des Bewußtseins. In diesem Sinne kann man sagen, daß unser Leib metaphysischen Sinn habe. Der Inhalt unseres Selbst erfordert stets ein Handeln : Wo Leib und Seele eins sind, wird unser wahres Selbst offenbar.

6 Wenn man vom Intentionsakt des Bewußtseins ausgeht und denselben in der Noesis-Richtung transzendiert, so wird, wie wir sahen, nur ein formales Sein im intelligiblen Allgemeinen und damit nichts weiter als ein 'Bewußtsein überhaupt' gedacht (und die Philosophie bleibt auf Erkenntnistheorie beschränkt). Wenn man aber annimmt, daß wir durch das Selbstbewußtsein des handelnden Selbst tiefer in die intelligible Noesis als solche eindringen können, so werden wir dadurch imstande sein, zu erklären, in welchem Sinne das in der intelligiblen Welt Seiende ein Seiendes ist, und in welcher Gestalt sein Inhalt in unserem Bewußtsein gespiegelt wird. Auch beim Selbstbewußtseinsallgemeinen ist das theoretische Selbstbewußtsein, welches die Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen zur Bewußtseinsebene macht, nicht etwas, das den Inhalt seiner selbst bewußt macht, nicht das wahre Seiende im Selbstbewußtsein. Erst das willensmäßige Selbstbewußtsein macht wahrhaft sich selbst zum Gegenstande, ist wahrhaft seiner selbst bewußt. »Eigenliebe« ist es, die bewußtseinsmäßig das Dasein des Selbst bestimmt. Was [dann wieder] durch Transzendieren in der NoesisRichtung, d. h. durch ein Eindringen in die tiefste Tiefe 92

seiner selbst, gedacht wird, ist das Allgemeine der intellektuellen Anschauung oder das »intelligible Allgemeine«. Von dem, was in ihm seinen Ort hat, ist das wahrhaft: Seiende nicht das 'Bewußtsein überhaupt', sondern das Selbstbewußtsein des handelnden Selbst. Dieses handelnde Selbst macht die Objektwelt zum Mittel seiner Selbstverwirklichung, ja, es macht sie zu seinem »Ausdruck« (— indem es einen Gegenstand als solchen liebt, liebt es sich selbst —). Von diesem Standpunkt aus könnte das 'Bewußtsein überhaupt' auch »formales handelndes Selbst« heißen, so, wie das theoretische Selbstbewußtsein, weil es keinen noetischen Inhalt umschließt, »formales willensmäßiges Selbstbewußtsein« heißen kann. Wie das willensmäßige (praktische) Selbst die Bewußtseinsebene des theoretischen Selbst überschreitet und sein Bild darauf spiegelt, so hat nun auch das handelnde Selbst, als Ding an sich, die Gegenstandswelt des 'Bewußtseins überhaupt' transzendiert und spiegelt zugleich ständig in derselben sein eigenes Bild. Auf solche Weise werden durch das Selbstbewußtsein des handelnden Ich die Welt der Gegenstände der Erkenntnis und die intelligible Welt miteinander verknüpft. So verstanden, bestimmt zunächst unser Handeln das Seiende in der intelligiblen Welt. Damit sage ich allerdings nicht, daß auch die Erkenntnis der intelligiblen Welt durch das Selbstbewußtsein des handelnden Selbst zustande komme; so zu denken, wäre schon Metaphysik. Ich will hier nur erklären, wie überhaupt ein metaphysisches Sein gedacht wird und welcher Sinn ihm zukommt im Verhältnis zu unserer Welt der Gegenstände der Erkenntnis. Wenn wir in dem tiefsten Grunde des Willens transzendieren und dasjenige erreichen, was im intelligiblen All93

gemeinen (im Allgemeinen der intellektuellen Anschauung) seinen Ort hat, so ist dies zwar [zunächst] als das handelnde Selbst und das Handeln als die Bestimmung des intelligiblen Allgemeinen zu denken; aber das bezieht sich nur auf die Grenze des Übergangs vom früheren zum späteren Allgemeinen und ist noch nicht die [eigentliche] Selbstbestimmimg des intelligiblen Allgemeinen. Auf dem Standpunkt des handelnden Selbst besteht noch der SubjektObjekt-Gegensatz; transzendentes Noema und transzendente [bzw. transzendentale] Noesis stehen noch, wie sie vom Bewußtsein aus gesehen sind, einander gegenüber. Dieser bewußtseinsmäßige Gegensatz muß aber beim intelligiblen Allgemeinen verschwinden; das Noema muß in die Noesis eintauchen, und die Objektwelt muß ganz und gar subjektiviert werden. Erst wenn man so etwas wie die künstlerische Anschauung erreicht hat, kann man allererst das wahrhaft Seiende im intelligiblen Allgemeinen bestimmen, d. h. dasjenige, das den Inhalt seiner selbst anschaut. Hier ist das »Wirken« ein »Anschauen«, ja das Wirken ist, wie Plotin sagt, ein Umweg des Schauens ! Das ist auch der Grund, warum ich das Allgemeine, welches die intelligible Welt bestimmt, also das intelligible Allgemeine, auch das Allgemeine der intellektuellen Anschauung nenne. Natürlich hat das, was in der tiefsten Tiefe des intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, auch die künstlerische Anschauung hinter sich gelassen. Wenn man bei der künstlerischen Anschauung auch sagen kann, daß das bewußtseinsmäßige Noema in der intelligiblen Noesis untergegangen ist, so ist darum doch noch nicht auch das intelligible Noema aufgehoben; die Gegensätzlichkeit ist noch aufrecht erhalten, und die Noesis noch noematisch gebunden. Auf der Spitze noetischer Transzendenz, d. h. auf der Spitze tiefster Reflexion, verhält es sich analog wie beim 94

Bewußtseinsallgemeinen: wie nämlich bei diesem das letzte Seiende der Wille war, so muß es auch beim intelligiblen Allgemeinen etwas geben, dem lediglich die Bedeutung zukommt, als letztes Seiendes, das darin seinen Ort hat, das intelligible Noema zu transzendieren; d. h. es muß etwas geben, das nur sich selbst anschaut. Dieses Etwas ist das moralische Selbst im weitesten Sinne, d. h. das Gewissen. Die intellektuelle Anschauung denke ich als Akt der Bestimmung des das Bewußtseinsallgemeine umgreifenden Allgemeinen; dadurch möchte ich eine Art von »intelligibler Welt« denken, ähnlich derjenigen Piatons und Plotins. Aber all dies Sein ist lediglich in der Richtung der Noesis, nicht auch in der des Noema transzendiert. Die intellektuelle Anschauung ist nicht etwas, wobei das Selbst sich mit der Idee vereinigt, auch nicht sogenannte Subjekt-Objekt-Einheit, sondern dies, daß das Selbst unmittelbar das Selbst anschaut, daß das Selbst den tiefsten Grund des Selbst anschaut. Die Idee, als Inhalt eines derart sich selbst Anschauenden, ist nichts anderes als das, was in der Richtung des transzendenten Noema sichtbar wird. Als das erste Sein, das im Allgemeinen der intellektuellen Anschauung (im intelligiblen Allgemeinen) seinen Ort hat, nämlich als das formale intelligible Selbst, wird so etwas wie ein 'Bewußtsein überhaupt' gedacht. Faßt man dieses nur in dem einfachen Sinne, daß es das bewußte Selbst transzendiert, so verliert es völlig die Bedeutung eines »Seins« und wird reines Normbewußtsein, dem der »Wert« gegenübersteht. Wenn man es aber im obigen Sinne als eine Art intelligibles Selbst denkt, dann wird es als eine Art handelndes Selbst konstitutiv gedacht. Als sich selbst Anschauendes kann es ferner auch als etwas gedacht werden, das die Idee der Wahrheit anschaut. Insofern es indessen noch im intelligiblen Allgemeinen die Stelle von so etwas wie einem intellektuellen Selbstbewußtsein 95

einnimmt, und zugleich auch noch die Bedeutung eines »Ortes« für das Selbstbewußtseinsallgemeine hat, macht es dessen Inhalt zu seinem Inhalt und hat daher noch nicht seinen eigenen Inhalt. Es ändert den Inhalt des vom Selbstbewußtseinsallgemeinen umgriffenen [Urteils-]Allgemeinen formal in bezug auf dessen Sinn, nicht dessen Sein. Dabei ist der Inhalt des intelligiblen Selbst als solchen nicht als Wahrheit zu erkennen; er gehört zur Welt der Dinge an sich. Der Inhalt des intelligiblen Selbst als solchen wird erst bei so etwas wie der künstlerischen Anschauung sichtbar. Was im Selbstbewußtseinsallgemeinen als wahrhaft Seiendes seinen Ort hatte, mußte in sich selbst intendieren; das Noema mußte in die Noesis zurückkehren. In diesem Sinne war das wollende Selbst der Gipfel und das letzte Seiende im Selbstbewußtseinsallgemeinen. Was aber, indem es Noema und Noesis zur Kongruenz brachte, im harmonischsten Sinne im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hatte, war das fühlende Selbst. Das Gefühl ist im adäquatesten Sinne als Inhalt des eigenen bewußten Selbst zu denken. Auf dem Standpunkt des in sich selbst Intendierenden wurde als ruhige, statische Einheit das fühlende Selbst bestimmt. Wenn man annimmt, daß das Intendieren ein Spiegeln ist, und daß das Noema das Bild der Noesis ist, das sich in der Noesis spiegelt, so ist das fühlende Ich ein Abbild des Selbst, das im Selbst gespiegelt wird; Selbstliebe ist Fixierung dieses Abbildes zum Selbst. Wie auf solche Weise ein konkretes Sein im Selbstbewußtseinsallgemeinen seines eigenen Inhalts bewußt wird, so kann [analog] auch im intelligiblen Allgemeinen ein sich selbst unmittelbar Anschauendes gedacht werden, welches die intelligible Noesis mit dem intelligiblen Noema zur Kongruenz bringt, nämlich das Selbst der künstlerischen Anschauung, d. h. das die Idee des Schönen Anschauende. So96

mit kommt die künstlerische Anschauung dadurch zustande, daß man das nur bewußtseinsmäßige Selbst vergißt, das Ding selbst unmittelbar als das eigene Selbst liebt und sich mit ihm eins setzt; dann zeigt sich als Inhalt unseres Gefühls die künstlerische Anschauung. Da in der künstlerischen Anschauung das sich selbst Anschauende den abstrakten Standpunkt des Bewußtseins überhaupt transzendiert hat und unmittelbar den Inhalt des intelligiblen Selbst sieht, so kommt der Inhalt der Schönheit überhaupt nicht in den Horizont des Wissens. Die Schönheit ist die Erscheinungsform der Idee selbst; nur in der künstlerischen Anschauung haben wir eine Anschauung von der Idee; nur das Schöne ist die Gestalt des Ewigen auf Erden. Wenn man noch weiter in der Noesis-Richtung transzendierend fortschreitet, kann man die Idee nicht mehr anschauen. Die Noesis verliert jedwede noematische Bestimmung und wird zum Selbst der praktischen Vernunft im weiteren Sinne. Es ist wie im Selbstbewußtseinsallgemeinen, wo das letzte Seiende, das darin seinen Ort hatte, nämlich der Wille, nicht mehr noematisch bestimmbar und das Noema unmittelbar die Noesis war: In dem Selbst der praktischen Vernunft ist das Noematische ganz in der Noesis untergegangen. Eine solche intelligible Noesis wird nur im tiefsten Grunde des Bewußtseins als »Gewissen« bewußt. Das Gewissen hat auch noch die künstlerische Anschauung hinter sich gelassen; nur in ihrem tiefsten Grunde sieht die Seele unmittelbar sich selbst. In der Form des handelnden Selbst kann das Gewissen mit der Kantischen Schule als 'Subjekt des Sollens' gedacht werden. Das eigentliche Subjekt des Sollens ist zwar das moralische Selbst, aber auch das 'Bewußtsein überhaupt' kann, wenngleich formal, Subjekt des Sollens genannt werden. Dem Subjekt des Sollens gegenüber kann das Noematische nur 'Sollen' oder 'Wert' 7 Ν i s h i d a , D i e intelligible W e l t

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heißen. Weil nun das Bewußtsein überhaupt keinen Inhalt der Selbstanschauung besitzt, und weil andererseits bei dem moralischen Subjekt der Inhalt unendlich tief ist, so sehen beide in der noematischen Richtung immer nur das Sollen. Die Idee des Guten ist nicht anzuschauen. Da gibt es nur unendliche Entwicklung und unendliches Fortschreiten. Nur in der noetischen Richtung ist so etwas wie ein 'intelligibler Charakter' sichtbar. Aber der intelligible Charakter wird nicht wie die Idee des Schönen angeschaut; er ist bloßes Ideal. Die intelligible Welt möchte ich auf die angegebene Weise denken und die Unterschiede und Beziehungen des Seienden behandeln, das in ihr seinen Ort hat. Aber das soll nicht heißen, daß die intelligible Welt dadurch zu einem Gegenstand unserer Erkenntnis würde; nein, hier halte ich konsequent an dem Kantischen Standpunkte fest. Aber ich bin allerdings der Meinung, daß man auch so etwas wie das Kantische Erkenntnissubjekt als eine Art intelligibles Selbst denken kann, und zwar dadurch, daß man den Gedanken des Wissens von Grund auf anders faßt. Solange man nämlich nur auf dem Standpunkte des Erkenntnissubjektes steht, ist die intelligible Welt, als Welt der Dinge an sich, ganz und gar unerkennbar und transzendent. Da Kant als Prinzip der Gegebenheit der Materie nur ein wahrnehmendes Bewußtsein annahm, wurde als Welt der Gegenstände der Erkenntnis nur so etwas wie die natürliche Welt gedacht. Wenn man dagegen die Bedeutung des Selbstbewußtseins als Prinzips der Gegebenheit mmer mehr vertieft, gelangt man von der natürlichen zur zweckmäßigen (d. h. von der natürlichphysikalischen zur natürlich-teleo-logischen) Welt, dann weiter zur psychologischen Welt, die das Selbstbewußtsein selbst zum Gegenstande macht, und endlich auch bis zur geschichtlichen Welt. 98

All dies gehört noch durchaus zur Welt der Gegenstände der Erkenntnis und nicht zu jener Welt, in der unser wahres Selbst, das intelligible Selbst, seinen Ort hat; unser wahres Selbst ist nicht das Selbst, das in der geschichtlichen Welt lebt und stirbt. Was in der geschichtlichen Welt lebt und stirbt, ist das sogenannte bewußtseinsmäßige Selbst, das Schattenbild des intelligiblen Selbst. Unser wahres Selbst wohnt in der intelligiblen Welt, welche dadurch gedacht wird, daß man auf dem Grunde des eBewußtseins überhaupt' noch die Bedeutung des Selbstbewußtseins vertieft. In diesem Sinne wird darin als Tiefstes die moralische Welt gedacht werden können. In dem Maße, wie sich die Selbstbestimmung des Allgemeinen vertieft, geht die Bestimmung an ein Darinseiendes über und wird das Darinseiende ein sich selbst Bestimmendes. Zugleich damit wird das Allgemeine selbst etwas, das nicht mehr als ein Allgemeines bestimmbar ist, sondern nur als »Gesetz« dem Darinseienden gegenübersteht. Es ist das, was beim Schlußallgemeinen1 das Oberbegriffsallgemeine gegenüber dem UnterbegrifFsallgemeinen war. Wenn ein derart Oberbegriffsartiges sich mit einem Unterbegriffsartigen durch die mittelbegriffsartige Zeit verbindet und ein einziges Allgemeines bildet, dann ist dieses die natürliche Welt. Da beim Selbstbewußtseinsallgemeinen das Subjektartige bereits auf dem Grunde der Prädikatsebene transzendiert hat, kann man hier nicht sagen, daß das Oberbegriffsallgemeine durch die »Zeit« das Subjektartige umgreife. In der Welt der Bewußtseinsphänomene kann kein im strengen Sinne objektives Gesetz gedacht werden. Wenn man indessen die Intention eine Eigenschaft des Bewußtseins und das Intendieren ein »Spiegeln« sein läßt, 1

Vom Schlußallgemeinen, das die dritte Stufe des Urteilsallgemeinen bildet, hat Nishida an anderer Stelle ausführlich gehandelt; für die 'Intelligible Welt' ist es weniger wichtig. 7.

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wobei dasjenige, das auf dem Grunde des Urteilsallgemeinen transzendiert hat, sein Bild auf der Prädikatsebene spiegelt, — dann kann allerdings kein Bewußtseinsphänomen von »Zeit« unabhängig sein. Aber bei der Zeit der Bewußtseinsphänomene können sich nicht, wie bei den Phänomenen der natürlichen Welt, Vergangenheit und Zukunft in einem Oberbegriff verbinden; die Bewußtseins-Zeit hat nur die Tendenz, sich von einem Unterbegriffsartigen aus mit einem Oberbegriffsartigen zu verbinden. Auch die historische Zeit ist nur ein Grenzfall der so verstandenen Zeit; in der Geschichte kommt kein Oberbegriffsartiges zustande. Bei dem aber, was auch noch das Selbstbewußtseinsallgemeine transzendiert und im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, kann man von einem völligen Transzendieren der Zeit sprechen. Sein Dasein wird nicht durch die Zeit bestimmt, wenn auch das in der Zeit Seiende sein Bild ist. Aus diesem Grunde kann man sagen, daß der Inhalt des 'Bewußtseins überhaupt' unabhängig davon, wer denkt oder nicht denkt, in sich selbst sei. Da jedoch dieses 'Bewußtsein überhaupt', als bloß formales intelligibles Selbst, nicht seinen eigenen Inhalt besitzt, ist sein ideeller Inhalt, nämlich das intelligible Noema, unmittelbar Inhalt der »Realität«: die reale Welt kann man unmittelbar als dessen Manifestation ansehen. Bei der künstlerischen Anschauung dagegen kann man die sogenannte reale Welt nicht mehr unmittelbar als Manifestation desselben [i. e. des intelligiblen Noema] ansehen; das ist der Grund, warum die Schönheit als Schein gedacht wird. In der künstlerischen Anschauung sind intelligibles Noema und intelligible Noesis im Zustande der Harmonie. Das Noematische erlischt und verschwindet dabei noch nicht völlig in der Noesis. Daher trennt sich 100

das Noema der künstlerischen Anschauung noch nicht von der sogenannten realen Welt, welche das intelligible Noema des 'Bewußtseins überhaupt' ist. Das Reale wird »Ausdruck«. Beim moralischen Gewissen endlich, welches sich selbst sieht, hat das Noema die Ebene des'Bewußtseins überhaupt', welche man die abstrakte Ebene des intelligiblen Allgemeinen nennen könnte, völlig hinter sich gelassen; es hat nicht einmal mehr die Bedeutung, darauf gespiegelt zu werden. Die Idee des Guten hat nicht einmal die Bedeutung, in der realen Welt gespiegelt zu werden. Auch kann man nicht sagen, daß etwas Reales ihr Ausdruck sei. Wenn das Bestimmen des Allgemeinen an das Darinseiende übergeht, dann sind in der Richtung des Allgemeinen nur »Gesetze« zu sehen; so wird jetzt, in der Richtung des Noema, nur so etwas wie »Moralgesetze« sichtbar. Auch was als moralische Realität gedacht wird, wie »Familie« und »Staat«, ist nicht, wie etwa das Kunstwerk, Bild oder Ausdruck der Idee. Alles Seiende ist hier ein Sollen. So, wie bei dem letzten Seienden im Urteilsallgemeinen, dem »Wirkenden«, das Prädikat zum Subjekt und das Subjekt zum Prädikat wurde, und wie in dem Willen das Intendierte zum Intendierenden wurde, so ist jetzt das Seiende ein Sollen und das Sollensartige ein Sein geworden. So etwas wie moralische Realität ist einem ewig unvollendeten Kunstwerk zu vergleichen. Wenn auf diese Weise Noesis und Noema sich voneinander trennen und der Inhalt des Selbst nicht als Noema einer intellektuellen Anschauung mehr gesehen werden kann, dann wird in der Noesis-Richtung der »freie Wille« sichtbar; eine formale Moral wie die Kants kommt zustande. Im moralischen Selbst stehen immer Form und Inhalt einander gegenüber. Aber das moralische Selbst sieht nicht wie das theoretische, als bloß formales Sein, einen fremden Inhalt; das Gewissen sieht sich selbst. Was sich als mora101

lische Realität objektiv zeigt, ist nichts anderes als der Inhalt des Selbst; in diesem Sinne ist es, als intelligibles Selbst, dasselbe wie das der künstlerischen Anschauung, nur daß es durchaus keinen vollkommenen Ausdruck findet. Moral ohne Inhalt ist keine wahre Moral; es gibt kein intelligibles Selbst ohne noematischen Bezug. Dadurch, daß das Gewissen noetisch sich selbst sieht, kommt die noematisch gesetzliche Welt des Sittlichen zustande. Weil aber sein Inhalt selbst nicht unmittelbar gesehen wird, d. h. nicht als intelligibles Noema dasteht, wird das moralische Selbst vom Standpunkt des bewußten Selbst aus als handelndes Selbst gedacht: in der Richtung der noetischen Transzendenz wird der moralische Wille, in der der noematischen Transzendenz die objektive Welt des Sittlichen gedacht; das formale Gute und das inhaltliche Gute stehen somit einander gegenüber. Nun ist aber die moralische Welt von dem moralischen Selbst geschaffen; der Zweck der moralischen Handlung besteht in sich selbst, d. h. eben in der Erschaffung einer eigenen Welt. Die Beziehungen zwischen intelligibler und realer Welt bedürften eigentlich noch einer ausführlicheren Behandlung, aber ich muß mich hier auf das Gesagte beschränken.

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Im Vorigen ist gezeigt worden, wie ich, von der Intentionalität ausgehend, durch Transzendieren des letzten im Selbstbewußtseinsallgemeinen Seienden, nämlich unseres bewußten Willens, das intelligible Allgemeine denke, und als Darinseiendes in der Noesis-Richtung das intelligible Selbst von dreifacher Schichtung nach Intellekt, Gefühl und Willen. Insofern das intelligible Selbst das Selbstbewußt102

sein transzendiert hat, können diese drei Stufen der Transzendenz gedacht werden. Das Transzendieren des Willens bedeutet zunächst, daß das Selbst das gedachte Selbst, daß das Bewußtsein das bewußte Bewußtsein transzendiert; es wird eine intellektuelle Anschauung erreicht, in der sich Subjekt und Objekt vereinigen. Das intelligible Selbst wird seiner selbst in intellektueller Anschauung bewußt; es sieht unmittelbar sich selbst. In der bisherigen Philosophie wurde Transzendenz immer nur in noematischer Richtung gedacht. Wenn man also von intellektueller Anschauung sprach, so war man damit schon am Ende. Demgegenüber bin ich der Meinung, daß man durch Transzendieren in der Noesis-Richtung in dem sich selbst Anschauenden jene drei Stufen oder Schichten unterscheiden kann. Da nun der Inhalt des sich selbst Anschauenden dem Bewußtseinsakt gegenüber transzendenter Gegenstand, »Idee«, ist, so sind jene drei Stufen von intelligiblem Selbst das die Idee des Wahren Sehende, das die Idee des Schönen Sehende und das die Idee des Guten Sehende. Das bloß theoretische intelligible Selbst ist — wie das theoretische Selbstbewußtsein — nur formal. Es schaut noch nicht wahrhaft den Inhalt des intelligiblen Selbst an, es sieht noch nicht unmittelbar den Inhalt seiner selbst : die Wahrheit ist hier das Abstrakte der Idee. Erst in der fühlenden Noesis wird der Inhalt des Selbst angeschaut, erst in der künstlerischen Anschauung schauen wir die Idee selbst an. Die willensmäßige Noesis endlich sieht das Selbst als solches, d. h. sie ist das Gewissen; die Idee ist praktisch. Wenn wir den Willen hinter uns gelassen und uns zum intelligiblen Selbst erhoben haben, so erscheint dieses vom Standort des bewußten Selbst aus notwendig als schöpferisch. Sogar schon die theoretische intelligible Noesis ist, 103

als 'Bewußtsein überhaupt', konstitutiv. Nur bleibt es, da es noch nicht den Inhalt seiner selbst sieht, bloßes Erkenntnissubjekt. In der künstlerischen Intuition dagegen ist das Sehen ein Schaffen und das Schaffen ein Sehen. (Hier ist das Selbst im eigentlichsten Sinne schöpferisch). Beim intelligiblen Willen endlich, wo die Idee nicht mehr objektiv angeschaut werden kann, verhält es sich analog wie beim bewußten Willen, der als Letztes im Selbstbewußtseinsallgemeinen seinen Ort hatte: damals war das Intendierte das Intendierende; der Inhalt des Willens war nicht mehr noematisch bestimmbar. Ebenso ist auch beim intelligiblen Willen die Idee nicht mehr Gegenstand einer möglichen intellektuellen Anschauung. Insofern die Idee rein praktisch ist, wird in der Noesis-Richtung der »freie Wille« offenbar; das intelligible Selbst wird als »freie Persönlichkeit« gedacht. So gesehen, wird alles, was im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, »persönlich«. Und da die Ideenwelt die Gegenstandswelt des handelnden Selbst ist, hat die Idee des Guten — als höchste Idee — regulative Bedeutimg. Die wahrhaft konkrete Idee ist notwendig persönlich und individuell·, denn da die intelligible Persönlichkeit, welche als Letztes im intelligiblen Allgemeinen ihren Ort hat, individuell ist, muß auch die Idee — als ihr Inhalt — notwendig individuell sein. Hier liegt der Ursprung alles Individuellen. Die Idee der Wahrheit, als Inhalt des 'Bewußtseins überhaupt', muß — entsprechend dem, was auf der Bewußtseinsebene des theoretischen Selbstbewußtseins gespiegelt wurde — Bild einer individuellen Idee sein und darum doch zugleich auch allgemein und abstrakt. Allein die wahrhaft individuelle und persönliche Idee ist, wenngleich Idee, doch nicht im Sinne eines Gesehenen noematisch. Nur in der Idee des Schönen können wir eine individuelle 104

Idee anschauen, sonst nicht. Da die wirklich persönliche und individuelle Idee aber nicht mehr noematisch angeschaut werden kann, wird die Idee des Guten, als gesetzlich, nur regulativ gedacht; sie gleicht darin dem Oberbegriff im Schlußallgemeinen. Auf diese Weise kann man, glaube ich, alles, was im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, bestimmen und dessen Beziehungen untereinander klarmachen. Dadurch werden zugleich Zusammenhang und Berechtigung der verschiedenen philosophischen Standpunkte bestimmt und verdeutlicht werden können: Da die Kantische Philosophie den Standpunkt des theoretischen intelligiblen Selbst einnimmt, kann sie nicht über jene Wahrheit hinauskommen, welche den Inhalt des formalen Selbst ausmacht. Das ist der Grund, warum die Kantische Philosophie bei Erkenntnistheorie stehen bleibt. Zwar dachte Kant auch — vom Gewissen ausgehend — das Intelligible, aber er vermochte weder diese beiden Standpunkte zu verbinden noch ein Prinzip anzugeben, das den Inhalt des Intelligiblen, den Inhalt des Schönen und Guten bestimmen könnte. Husserls Phänomenologie hat, wie ich früher gezeigt habe, das Vorstellungsbewußtsein bis zur intelligiblen Noesis vertieft. Von diesem Standpunkt aus sieht man aber nur die eine Seite, nämlich das theoretische intelligible Selbst. Fichte ist, indem er die Bedeutung des theoretischen Selbstbewuötseins vertiefte, zum handelnden Selbst gelangt. Fichte steht, so kann man sagen, auf dem Standpunkt des willensmäßigen intelligiblen Selbst, während Schelling — von der künstlerischen Anschauung ausgehend — den Standpunkt des gefühlsmäßigen intelligiblen Selbst einnimmt. Hegel wiederum erweiterte, so möchte ich sagen, die Bedeutung der Vernunft bis zur Bestimmung des intelligiblen 105

Allgemeinen. Seine Philosophie ist allumfassend, aber man muß doch sagen, daß sie nur den Standpunkt des theoretischen Selbst durch und durch vertieft und daher nicht über die bloß noematische Bestimmung des intelligiblen Allgemeinen hinauskommt. Da ist alles nur auf dem Grunde der noematischen Transzendenz gedacht; das Prinzip der Bestimmung des Noetischen ist nicht deutlich geworden. Auch bei Fichte und Schelling sind Wille und Anschauung nur als Akte gedacht; der Wollende und der Anschauende treten nicht ins Blickfeld. Aus einer solchen Denkweise erklärt sich in der Folge dann auch keine Individualität, keine individuelle Willensfreiheit u. dgl. m. (In Schellings Alterswerken findet sich dies zwar, aber ohne klare logische Grundlegung). Den Kantischen Standpunkt noematisch transzendieren und in die intelligible Welt eintreten, das ist bereits eine Überschreitung des kritischen Standpunktes; der Übertritt in die Metaphysik ist unausweichlich. Kant gab zwar auch kein Prinzip der noetischen Bestimmung, aber dafür hielt er an dem Standpunkt des bloß formalen intelligiblen Selbst fest. Darüber ging er nicht hinaus. Gerade darin liegt, glaube ich, das Eigentümliche seiner Philosophie. Um überhaupt das Intelligible diskutieren zu können, muß man zuerst den Grund der noetischen Bestimmung klarlegen und die Beziehung zu unserem Bewußtsein aufhellen. Und dann noch verfällt man der Einseitigkeit, wenn man von einer einzigen Schicht des intelligiblen Selbst ausgeht und die andern dadurch erklären will. Die Inhalte des Wahren, Guten und Schönen können wohl allein dadurch erfaßt und in ihren Beziehungen klargemacht werden, daß man in die Tiefe der Noesis zurückblickt. Ich habe als das das Urteilsallgemeine Umgreifende das Selbstbewußtseinsallgemeine, und als das das Selbstbewußtseinsallgemeine Umgreifende das Allgemeine der intellek106

tuellen Anschauung, das intelligible Allgemeine, gedacht. Vom intelligiblen Allgemeinen aus gesehen, ist das darin Umgriffene auch durch dasselbe begründet. Soweit also in dem intelligiblen Allgemeinen noch intelligible Noesis und intelligibles Noema einander gegenüberstehen, und soweit die intelligible Noesis, d. h. unser wahres Selbst, noch noematisch bestimmt ist, wird [eben dadurch] das bewußte Selbst bestimmt. Das Selbst wird nämlich vergegenständlicht, und damit ist auch das Selbstbewußtseinsallgemeine gesetzt. Vom Standpunkt der bloß noematischen Bestimmimg aus verflüchtigt sich das Noetische in das Noematische, und es wird dann eine Art Substrat bestimmt, das zwar Urteilssubjekt, aber nicht Prädikat sein kann; damit ist dann so etwas wie das Urteilsallgemeine gesetzt. Da indessen die noematische Bestimmung doch wohl erst durch die noetische möglich wird, umgreift das Selbstbewußtseinsallgemeine auch der Rangordnung nach das Urteilsallgemeine. Soweit aber das bewußte Selbst seinerseits noetisch bestimmt ist, enthält es noch nicht die Gegenstandswelt der transzendierenden Noesis, sondern intendiert sie nur. Streng genommen enthält das bewußte Selbst lediglich das, was zur inneren Wahrnehmung gehört. Umgekehrt geht aus der bloß noematischen Bestimmung keine noetische hervor; aus der Bestimmung des Urteilsallgemeinen ist nichts Bewußtseinsmäßiges abzuleiten. Insofern jedoch »Erkennen« im strengen Sinne durch die Bestimmung des Urteilsallgemeinen zustandekommt und nur im Zusammenhange mit demselben gedacht wird, muß man auch jeden weiteren und umfassenderen Begriff des Wissens analog zu oder in Übereinstimmung mit dem Urteilsallgemeinen denken. Eben um dieses Zusammenhanges willen bin ich vom Urteilsallgemeinen ausgegangen und transzendierend vorgeschritten. Daß das Urteilsallgemeine schon als Wahrheit an sich selbst 107

Objektivität hat, daß es also in sich selbst den Gegenstand umschließt, dies bedeutet, daß das Urteilsallgemeine schon die noematische Bestimmung innerhalb des intelligiblen Allgemeinen ist. So gesehen, liegt also bereits im Urteilsallgemeinen der Übergang zu einem umgreifenderen Allgemeinen beschlossen. Wo das Selbst zur Substanz erstarrt und das intelligible Allgemeine noematisch einschrumpft, da entsteht das Urteilsallgemeine. Wenn man von einer intelligiblen Welt spricht, so stellt man sich darunter wohl oft eine himmlische Welt vor, welche unsere Wirklichkeit transzendiert hat; aber das kommt nur daher, daß man die Ideenwelt lediglich durch noematische Transzendenz denkt. Als freie Persönlichkeiten leben wir aber wirklich in der intelligiblen Welt. Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist die sogenannte reale Welt nichts weiter als abstrakt gedachte Welt. Wie oben dargetan, enthält das intelligible Allgemeine in sich das Selbstbewußtseinsallgemeine und weiter das Urteilsallgemeine. Doch ist das intelligible Allgemeine noch nicht das Letzte. Es transzendiert zwar das bewußte Selbst, aber in ihm stehen noch transzendentes Noema und transzendente Noesis einander gegenüber. Es macht zwar die intellektuelle Anschauung zu seiner Bestimmung, umschließt aber noch nicht das allerletzte Seiende. Solange nämlich noch in dem sich selbst Sehenden das Sehende und das Gesehene einander gegenüberstehen, ist es immer noch nicht das wahrhaft sich selbst Sehende. Daher gerät der moralische freie Wille, insofern er als »Seiendes« im intelligiblen Allgemeinen gedacht wird, mit sich selbst in Widerspruch. Wie im Urteilsallgemeinen das »Wirken« und im Selbstbewußtseinsallgemeinen der »Wille«, so muß auch der moralische freie Wille, als Letztes, das als Seiendes in dem bestimmten Allgemeinen seinen Ort hat, sich selbst 108

transzendieren und die »Einheit des Widersprüchs« in einem Seienden suchen, das noch hinter ihm steht. Das Dasein des moralischen Selbst bedeutet ein Bewußtsein eigener Unvollkommenheit, ein unendliches Streben nach dem Ideal; je mehr sich das Gewissen schärft, um so schuldiger fühlt man sich. Um diesen Widerspruch aufzulösen und wirklich den Grund des Selbst anzuschauen, muß man zur religiösen Erlösung gelangen. Dadurch, daß man sich vollkommen verneint, lernt man erst den wahren Grund des Selbst kennen. In diesem Zustande gibt es dann weder Gut noch Böse. Indem man das intelligible Selbst auch noch in der noetischen Richtung transzendiert, befreit man sich auch noch von dem freien Willen. Da gibt es kein Selbst mehr, das eine Sünde beginge. Auch die Idee des Guten ist nur ein Schatten von etwas, das selbst gestaltlos ist. 8 Um das religiöse Bewußtsein aufzuhellen, wollen wir noch einmal auf dasjenige zurückblicken, was im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hatte. Ich habe gesagt, das intelligible Selbst schaue als seinen eigenen Inhalt die »Idee« an. Das trifft seinen noematischen Charakter; aber worin besteht sein noetischer Charakter? Was ist das den Inhalt seiner selbst Sehende selbst? Daß wir auf dem Grunde, des bewußten Selbst transzendieren und zu dem intelligiblen Selbst gelangen, heißt nichts anderes, als daß wir die Bewußtseinswelt der inneren Wahrnehmung überschreiten und damit den transzendenten Gegenstand in uns umgreifen; es bedeutet, daß das Selbst sich des Objektiven unmittelbar bewußt wird: eine Vereinigung von Subjekt und Objekt wird gedacht, intellektuelle An109

schauung. Man kann somit sagen: auf dem Grunde des bewußten Selbst erschauen wir den tiefsten Inhalt von uns selbst und sehen endlich unmittelbar uns selbst. Diese Bestimmungsweise läßt jedoch noch die Noesis am Noema haften; sie hat sich noch nicht von der aktmäßigen Betrachtungsweise freigemacht. Das Selbst ist nicht nur A k t ; es ist wesensmäßig das den Akt Vollziehende, das die Akte in sich Umschließende. Daß das Selbst auf dem Grunde des Selbst das Selbst transzendiert, heißt, daß das Selbst frei, freier Wille ist. Frei sein heißt, nicht vom Objekt umgriffen werden, sondern das Objekt in sich umgreifen. Wo aber, wie beim'Bewußtsein überhaupt', der Gegenstand noch nicht der eigene Inhalt des Selbst ist, da kann man noch nicht von einem freien Selbst sprechen. Das wahrhaft freie Selbst muß seinen eigenen Inhalt haben. (Wille ohne Inhalt wäre kein Wille). Das wahrhaft freie Selbst muß diesen Inhalt als seinen eigenen in sich umgreifen, d. h. es muß den »Ort« bilden, in dem das Selbst »ist«. Daß das transzendente Selbst in sich seinen eigenen Inhalt anschaut, ist »intellektuelle Anschauung«, Anschauung der Idee. In einer solchen Anschauung muß schließlich etwas von Willkür übrig bleiben, sonst würde der Sinn der noetischen Transzendenz des Selbst ganz verschwinden. Das intelligible Selbst, das die Idee zum Inhalt hat, schaut die Idee an und verwirklicht sie. Es muß aber zugleich auch die Richtung auf Wertwidrigkeit in sich enthalten; denn hierin offenbart sich die noetische Selbständigkeit des intelligiblen Selbst. 2 Die Entartung des transzendentalen Selbst zum bloß bewußtseinsmäßigen Selbst gilt als das »Böse«; aber nicht das Fleisch an sich ist böse, sondern nur der Wille zum Fleische. 2

Nishida verweist an dieser Stelle auf Kap. 4 seiner Abhandlung

'Die Selbstbestimmung des Allgemeinen'.

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Solange unser Selbst nur auf dem Standpunkte des bewußten psychologischen Selbst steht, ist das, was es will, weder ein Gutes noch ein Böses. Das Tier ist weder gut noch böse. Was ist dann nun aber der »böse Wille«? Der böse Wille ist der willkürliche Wille, d. h. derjenige Wille, der die Idee verneint und sich selbst auf überhaupt nichts richtet. Das Fleisch wird dann zum Bösen, wenn man seinen eigenen Inhalt verneint und sich von bewußtseinsmäßigen Begierden ausfüllen läßt. Alles Wertwidrige wird nicht in der Richtung des Noema, sondern in der der Noesis sichtbar, und zwar dann, wenn das intelligible Selbst seinen eigenen Inhalt verneint und sich nur von dem Inhalt des bewußtseinsmäßigen Selbst ausfüllen läßt. (Gerade die Möglichkeit des Wertwidrigen bringt die intelligible Noesis zur Erscheinung.) In der intelligiblen Welt ist das, was in der Noesis-Richtung steht, immer wertwidrig. Je tiefer man auf seinen eigenen Grund sieht, desto mehr ist man ein leidendes Selbst; gerade die leidende Seele ist die tiefste Realität in der intelligiblen Welt. Wenn man das letzte Seiende in der intelligiblen Welt so denkt, wie oben dargetan worden ist, so läßt sich verstehen, daß man dieses Selbst transzendieren und zum religiösen Bewußtsein gelangen kann. Das Selbst, welches, sich selbst transzendierend, immer tiefer in der noetischen Richtung sich selbst anschaut, ist das wahrhaft freie Selbst; es sieht den Grund jenes Selbst, das die Idee anschaut. Man kann die noetische Selbständigkeit des intelligiblen Selbst nicht aufzeigen, wenn man es lediglich als das die Idee Anschauende betrachtet. Das die Idee anschauende Selbst haftet noch am Noema; es ist nur allgemein. Das wirklich noetische intelligible Selbst dagegen ist notwendig individuell und frei, ja es ist die Freiheit selbst. 111

Der Wille, der seinen eigenen Inhalt auf der Bewußtseinsebene spiegelte und seinen Inhalt zum Gegenstand einer Intention machte, war selbst nicht nur Intendiertes, sondern als Intendierendes seiner selbst bewußt; ebenso gibt es jetzt beim intelligiblen Selbst etwas, das einerseits auf der transzendenten Bewußtseinsebene seinen Inhalt als Idee spiegelt, andererseits selbst durchaus un-ideell ist und sich selbst als das die Idee Sehende kennt. Daher muß man, ähnlich wie beim Widerspruch des Willens, um so mehr unter dem Widerspruch in sich leiden, je tiefer man sich selbst sieht, je freier man ist. Sich von diesem Widerspruch zu befreien und wahrhaft den Grund seiner selbst zu sehen, das ist das religiöse Bewußtsein. So wie man vorher durch Transzendieren vom bewußten Willen zum Selbst des 'Bewußtseins überhaupt' gekommen ist, muß man jetzt, um vom Intelligiblen zum Religiösen zu gelangen, zu einer Art von Transzendenz, d. h. zu einer »Bekehrung« kommen. Auf diese Weise befreien wir uns von dem Widerspruch des Selbst und sehen unmittelbar unseren eigenen Grund. Der sogenannte intelligible Charakter ist vergegenständlichte Freiheit, d. h. nichts anderes als das dem Noema verhaftete Schattenbild des Selbst. Wenn wir in der Richtung des intelligiblen Charakters vorgehen, verfehlen wir [das wahre] Selbst; wir sehen immer nur seinen Schatten, und das Selbst leidet immer mehr unter seinem eigenen Widerspruch. Da bei der künstlerischen Anschauung die Noesis sich in das Noema versenkt und das intelligible Selbst dabei das noematisch bestimmte Selbst anschaut, so ist man schon hier von dem Widerspruch des Selbst frei und fühlt etwas, das mit der religiösen Erlösung verwandt ist. Jedoch ist es noch ein bestimmtes Selbst, das in der künstlerischen Anschauung gesehen wird, und nicht das freie Selbst selbst. 112

Das Gewissen wiederum, welches das freie Selbst selbst sieht, steht mit sich selbst in Widerspruch; wer sagt, daß er sich vor seinem Gewissen nicht zu schämen brauche, gesteht damit nur ein, daß sein Gewissen stumpf ist. Gerade derjenige, der ein Bewußtsein tiefer Schuld hat, sieht sich selbst am tiefsten. Wenn man tief in sich selbst reflektiert, Reflexion auf Reflexion häuft, bis das Reflektieren selbst abgenutzt ist, dann erst wird das wahre Selbst sichtbar. Nur wer in den Grund des Bewußtseins tiefer Sündhaftigkeit versunken ist, wer keinen Weg der Buße mehr weiß, nur der kann Gottes heiliges Licht erschauen. Daß das Letzte, das im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, in sich den Widerspruch enthält, bedeutet auch dies, daß es in sich ein Verlangen trägt, ein Verlangen nach einer Transzendenz über sich; es muß ein Transzendentes geben, das hinter ihm steht. Immer wenn ein Allgemeines wiederum in einem umgreifenderen Allgemeinen seinen »Ort« findet und dadurch gleichsam getragen und erweitert wird, zeigt sich das letzte Seiende, das in dem umgriffenen Allgemeinen seinen Ort hatte, als in sich selbst widerspruchsvoll. Danach ist also auch das intelligible Allgemeine noch nicht das letzte; es muß ein Allgemeines geben, welches auch noch das intelligible Allgemeine umgreift, d. h. etwas, das man den Ort des absoluten Nichts nennen kann. Dies ist das religiöse Bewußtsein. Im religiösen Bewußtsein fallen Leib und Seele von uns ab, und wir vereinigen uns mit dem absoluten Nichts. Da gibt es weder Wahr noch Falsch, weder Gut noch Böse. Der religiöse Wert ist der Wert der Wertverneinung. Wenn wir von einem Wert der Wertverneinung sprechen, so dürfte man das wohl absurd finden. Aber was man gemeinhin Wert nennt, ist in noematischer Richtung vergegenständlichter Wert, verdinglichter Wert. Wenn man 8 Ν i s h i d a , Die intelligible Welt

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dagegen in noetíscher Richtung unendlich transzendiert, d. h. wenn man einen Wert des Daseins, der Existenz, denkt, dann ist alles in dieser Richtung notwendig Verneinung des Sollens-Wertes. Wird auf solche Weise der sollensartige Wert verneint, so steigt und offenbart sich der seinsartige Wert, der Wert der Existenz. So ist eine noch tiefere Realität als die Substanz, welche Subjekt, aber nicht Prädikat sein kann, das bewußte Selbst, welches jene gegenständliche Bestimmung verneint. Unter den verschiedenen Formen des bewußten Selbst wiederum hat das wollende Selbst einen höheren Existenzwert als das theoretische. Die sogenannte Wertphilosophie steht auf dem Standpunkte des konstitutiven Subjekts und hat es mit den Bestimmungen des gegenständlichen Seins zu tun. Dagegen hat sie keine logische Form, um, auf sich zurückgewandt, sich selbst zu bestimmen. Das gegenständliche Sein ist ihr immer schon Wert und kein eigentliches Sein. Es ist ein Sein, das selbst zum Bereich des So lens gehört. Einem solchen Standpunkte bietet sich keine Möglichkeit, um das wahre Sein zu bestimmen und so etwas wie »Wert der Existenz« zu diskutieren. Im Gegensatz dazu gehe ich von einem Standpunkte aus, für den das Wissen Selbstbestimmung des Allgemeinen ist. Für das sich selbst bestimmende konkrete Allgemeine denke ich als Hintergrund seine [abstrakte] transzendentale Bestimmungsebene, den »Ort«. Dieser Ort seinerseits wird dann [beim Transzendieren] von einem umgreifenderen Allgemeinen getragen und erweitert er »ist« in demselben. Nunmehr ist die unmittelbare Bestimmung des Ortes die vermittelte Bestimmung, d. i. die Form der Bestimmung des Seienden. [Form der Form.] Wenn z. B. das Urteilsallgemeine vom Selbstbewußtseinsallgemeinen umgriffen wird, dann wird die transzendentale 114

Prädikatsebene des Urteilsallgemeinen unmittelbar Bewußtseinsebene. Insofern das, was in dieser Bewußtseinsebene seinen Ort hat, was in ihr »ist«, vom [früheren] Standpunkt des Urteilsallgemeinen aus gesehen, die direkte und unvermittelte Bestimmung des Ortes ist, wird es als schlechthin Seiendes und Irrationales gedacht. (Dem entspricht im Schlußallgemeinen die unterbegriffsartige Bestimmung.) Wenn man die Selbstbestimmimg der transzendentalen Prädikatsebene als »Wissen« bezeichnet, so heißt dies, daß das Wissende das Wissende selbst bestimmt. Ebenso verhält es sich in dem Falle, wo das Selbstbewußtseinsallgemeine vom intelligiblen Allgemeinen umgriffen wird und in demselben »ist«: Der Ort des Selbstbewußtseinsallgemeinen, d. h. die transzendentale Bewußtseinsebene, ist unmittelbar die abstrakte Bestimmungsebene, worauf das [intelligible] Allgemeine sich selbst bestimmt. Insofern das, was in dieser Bestimmungsebene seinen Ort hat, vom [früheren] Standpunkt des Selbstbewußtseinsallgemeinen aus gesehen, Inhalt des freien Selbst ist, wird es als Willkür gedacht. Diese Freiheit zeigt die Realität des Selbst; von hier kommt dem Selbstbewußtsein selbst seine Gegebenheit. Somit ist also das Willkürliche eine noch tiefere Realität als das Irrationale. Indem die unmittelbare Bestimmung des transzendentalen Ortes sich immer mehr vertieft, steigt der Existenzwert. Was ich hier Existenzwert nenne, ist im Gegensatz zur gegenständlichen Erkenntnis derjenige Wert, der in der Richtung des auf sich selbst reflektierenden Selbst sichtbar wird. In diesem Sinne ist das letzte Seiende, das im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, nämlich der »Verirrte«, — insofern dieser durch das religiöse Bewußtsein auch in dem »Ort« für das intelligible Allgemeine ist —, notwendig das im tiefsten Sinne Reale, soweit wir es 115

überhaupt methodisch bestimmen können. Gerade der »Verirrte« ist Gott am nächsten, noch vor den Engeln. Noematisch ist als Inhalt des intelligiblen Selbst kein höherer Wert sichtbar als das Wahre, das Gute und das Schöne. Insofern aber das intelligible Allgemeine durch das Allgemeine des absoluten Nichts getragen und erweitert wird, wird das verirrte Selbst sichtbar; es bleibt nur noch der Schritt in der noetischen Transzendenz zu tun. Dann wird, als Krone des Wertes der Wertwidrigkeit, der religiöse Wert sichtbar. Der religiöse Wert bedeutet also die absolute Verneinung des Selbst. Das religiöse Ideal besteht darin, zu einem Wesen zu werden, das sich selbst verneint, das sieht, ohne daß da ein Sehendes wäre, das hört, ohne daß da ein Hörendes wäre. Das ist Erlösung. Windelband sagt in seiner Schrift 'Das Heilige', daß es außer dem Wahren, Guten und Schönen keinen Wertinhalt gebe. Der religiöse Wert sei nur in dem gemeinsamen Grundverhältnis dieser Wertbewußtseinsarten zu suchen, d. h. in der 'Antinomie des Bewußtseins'. Das Religiöse sei die metaphysische Realität des Wertbewußtseins ('Normalbewußtseins'), die durch das Gewissen zur Erscheinung gebracht werde. Kurz, unser Gefühl für die Realität des höchsten Wertes sei das religiöse Gefühl. Dadurch wird, glaube ich, der Wert des Wahren, Guten und Schönen aufs höchste gesteigert, ohne daß daraus ein spezifisch religiöser Wert abzuleiten wäre. Aus Realität ist kein Wertcharakter abzuleiten. Der Existenzwert hat seinen Wertcharakter nur von dem Wert, den die Existenz an sich selbst hat. Wenn also Existenz einen anderen Wert als den des Wahren, Guten und Schönen hat, so muß es einen Wert besonderen Gehaltes geben.

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9 Den Standpunkt des religiösen Bewußtseins glaube ich durch das Gesagte klargemacht zu haben. Bei dem, was in dem intelligiblen Allgemeinen seinen Ort hat, d. h. bei der intelligiblen Welt, standen einander noch Noema und Noesis gegenüber. Das Allgemeine ist, soweit es noematisch bestimmt ist, noch bestimmtes Allgemeines. Das letzte Seiende, das in ihm seinen Ort hat, enthält noch einen Widerspruch in sich. Man kann von diesem Allgemeinen also noch nicht sagen, daß es wirklich das Letzte umgreife. In einer solchen Welt hat auch der Grund des wahren Selbst nicht seinen Ort; es muß etwas geben, das auch noch diese Welt transzendiert: Was auch noch das intelligible Allgemeine umgreift, und worin unser wahres Selbst seinen Ort hat, kann man den »Ort des absoluten Nichts«, nennen; es kann als das religiöse Bewußtsein gedacht werden. Das Urteilsallgemeine ist die fundamentale Form der wissensmäßigen Bestimmung. Auch die Intentionalität des Bewußtseins, als Transzendenz in der Prädikatsrichtung, hat noch logische Bedeutung; das Bewußtgewordene wird als Inhalt des urteilsmäßigen Wissens gedacht. Auch von der intellektuellen Anschauung läßt sich noch sagen, daß sie Beziehung zum begrifflichen Wissen habe, insofern sie die Intentionalität noch nicht aufgegeben hat. Wenn man aber zu dem kommt, was auch hierüber hinaus ist und seinen Ort im absoluten »Nichts« hat, so kann man von diesem überhaupt keine Aussage mehr machen; es hat den Standpunkt unseres begrifflichen Wissens schlechthin transzendiert und könnte höchstens noch »Welt der mystischen Anschauung« genannt werden, die weder dem Worte noch dem Denken zugänglich ist. Unser begriffliches Wissen kommt im Grunde dadurch zustande, daß ein Allgemeines bestimmt wird, daß das 117

Wissende unmittelbar das Wissende bestimmt; es ist in seinem Grunde wesensmäßig absolute noetische Transzendenz. (Der allgemeine Begriff ist das bestimmte Ich.) Wenn man diese Noesis-Richtung »Erlebnis« oder »Anschauung« nennt, so wird das religiöse Bewußtsein auf ihrer Grenze offenbar. Die inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Bewußtseins kann man nun nicht mehr analog zur Bestimmung des Urteilsallgemeinen diskutieren; sie ist nur im Erlebnis da. Als Bestimmung des »Allgemeinen des absoluten Nichts«, ist sie begrifflich unvermittelte Bestimmung. Genau betrachtet aber hat all das, was oben als »irrational« und »frei« gedacht worden ist, gerade hier, wo das letzte Sein bestimmt wird, seinen Grund. Von dem Inhalt des religiösen Bewußtseins kann man also lediglich sagen, daß er Erlebnis ist. Nun wird aber immer, wenn ein Allgemeines in einem anderen Allgemeinen seinen Ort hat und von ihm umgriffen wird, der transzendentale »Ort« des umgriffenen Allgemeinen zur abstrakten Bestimmungsebene des umgreifenden Allgemeinen, d. h. es wird zum »Ort«, wo das im letzteren [umgreifenden] Allgemeinen Seiende sein Bild spiegelt. Als ζ. B. das Selbstbewußtseinsallgemeine im intelligiblen Allgemeinen seinen Ort fand, da konnte eine Bewußtseinsebene des 'Bewußtseins überhaupt' gedacht werden. In demselben Sinne hat die intelligible Welt ihren »Ort« im Bewußtsein Gottes, wenn das intelligible Allgemeine in dem, was wir hier das »Allgemeine des absoluten Nichts« nennen, seinen Ort findet und von ihm umgriffen wird. Gott ist — analog zu dem Bewußtsein überhaupt — das transzendente Subjekt der intelligiblen Welt. Und wie die Erfahrungswelt durch die synthetische Einheit des 'Bewußtseins überhaupt' konstituiert wird, so wird die intelligible Welt als von Gott erschaffen und beherrscht gedacht. So kommt die religiöse Weltanschauung zustande. Wie durch 118

Transzendieren des psychologischen Selbst das transzendentale Subjekt des 'Bewußtseins überhaupt' gedacht wurde, so ist Gott dasjenige transzendente Subjekt, welches durch die noetische Transzendenz des intelligiblen Selbst offenbar wird; daher muß sich sogar das intelligible Selbst vor Gott als der absoluten Einheit des Wahren, Guten und Schönen niederwerfen. Das ist der Grund, warum das Gefühl der unbedingten Hingabe als das religiöse Gefühl gedacht wird. Nur durch Vernichtung des Selbst ist es möglich, in Gott zu leben. Eine solche Religionsansicht finde ich indessen nicht tief genug. Wie das intelligible Selbst als 'Bewußtsein überhaupt' noch nicht seinen eigenen Inhalt hat, so ist auch diese Religionsansicht noch nicht zu der wahren religiösen Anschauving gelangt; sie haftet noch an der intelligiblen Welt, der sie auch ihren Ursprung verdankt. Wenn man wahrhaft vom Bewußtsein des absoluten Nichts durchdrungen ist, so ist da weder »Ich« noch »Gott«. Aber eben darum, weil es das absolute Nichts ist, ist der Berg gerade Berg, das Wasser gerade Wasser, und das Seiende gerade so, wie es ist. Da kann man mit dem Dichter sagen: 'Wenn einer von achtmal zehntausend Fuß hoher Klippe Rand die Hand zurückzieht, — da lodert Flamme aus der Pflugschar und verbrennt das Weltall.

Leib wird Asche und Schutt und wiederaufersteht. Der Ackerrain steht wie je, und die Reisähren ragen hoch.' 3

3

Dieses Gedicht des japanischen Zen-Buddhisten Kanemitsu Kogun ist nach Nishidas Meinung etwa so zu interpretieren: In der vom Zen-Meister gestellten Aufgabe für die Meditation mühst du dich um die Probleme des Seins, wie der Bauer, der

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Nachdem der religiöse Standpunkt erhellt worden ist, sei zum Schluß noch ein Wort über den philosophischen Standpunkt gesagt: Der religiöse Standpunkt hat notwendig unser begriffliches Wissen ganz und gar transzendiert. Was die Landschaft des religiösen Erlebnisses anlangt, so müssen wir der [originären] religiösen Erfahrung das Feld lassen. Wenn man indessen das Wissen als Selbstbestimmung des Allgemeinen gelten läßt, und wenn man diesen Gedanken bis zum Allgemeinen des absoluten Nichts vortreibt, so ist dieses zwar über jegliche Art von Bestimmung hinaus, aber es ist gleichzeitig in ihm, als dem »Orte« des absolutenNichts, noch die Bedeutung des »Spiegeins« übrig geblieben. Und dies wird zum fundamentalen Standpunkt unseres Wissens. Zuletzt wird unsere Seele nur noch als reiner Spiegel gedacht. Dergleichen hatte wohl Jakob Böhme im Sinne, als er sagte: 'So denn der erste Wille ein Ungrund ist, zu achten als ein ewig Nichts, so erkennen wir ihn gleich einem Spiegel, darin einer sein eigen Bildnis sieht, gleich einem Leben' (Sex Puncta Theosophica). Auf diesem Standpunkte eines Wissens, das alles Wissen transzendiert hat, unternimmt es die reine Philosophie, die dort oben über der Klippe mühsam seinen Acker pflügt. D u hängst am gewohnten Denken, wie einer, der sich angstvoll an den Rand einer unendlich hohen Felsenklippe klammert und in den Abgrund zu stürzen fürchtet. — Laß los! — Und siehe: Aus der Pflugschar des pflügenden Bauern sprühen mit einem Male Funken. Im Sturz in den Abgrund leuchtet plötzlich die Erkenntnis des Nichts aus deinem Denkbemühen und vernichtet das Weltall. Auch das Ich wird zu nichts. Zugleich wird dir in diesem jähen Sturz die religiöse Wiedergeburt zuteil. Trotz des Aufbrechens des Nichts findest du die Welt um dich in einer wunderbaren Selbigkeit wieder. In dem Wissen des Nichts, in der Nichts-Erkenntnis ist alles so, wie es ist: der Ackerrain steht wie je, und die Reisähren ragen hoch.

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verschiedenen Standpunkte des Wissens und dessen jeweilige Struktur zu erhellen; sie unternimmt es also, vom Standpunkt des Allgemeinen des absoluten Nichts aus die spezifische Bestimmung jeder der in diesem umgriffenen Arten des Allgemeinen klarzumachen. Kann die Selbstbestimmung des Allgemeinen 'Vernunft' im weiteren Sinne heißen, so kann Philosophie auch als 'Selbstreflexion der Vernunft' bezeichnet werden. Die kritische Philosophie Kants ist ein eigentümlicher Fall dieser Selbstreflexion. Im religiösen Erlebnis als solchen hingegen wird auch kein »Spiegeln« mehr übrig gelassen. Schon daß ich die Religion den Standpunkt des absoluten Nichts genannt habe, hat seinen Grund darin, daß ich die Religion vom philosophischen Standpunkt aus betrachte. Gerade vom philosophischen Standpunkt aus muß ich behaupten, daß man Religion auf solche Weise aufzufassen habe. Hier liegt eben der Berührungspunkt von Religion und Philosophie. Der philosophische Standpunkt ist, als ein solcher des Wissens, im Vergleich mit Kirnst und Moral notwendig abstrakt. Insofern er aber den Standpunkt des intelligiblen Selbst bereits transzendiert hat, hat er wesensmäßig Kunst und Moral, ja sogar die religiöse Weltanschauung transzendiert. Oben habe ich den Standpunkt, auf dem die religiöse Weltanschauung im Allgemeinen des absoluten Nichts zustandekommt, mit dem Standpunkt des 'Bewußtseins überhaupt' verglichen. Der philosophische Standpunkt hingegen besteht nicht darin, vom religiösen Bewußtsein aus auf die intelligible Welt zurückzublicken und deren Inhalt zu seinem eigenen Inhalt zu machen, sondern er ist ein Reflektieren des religiösen Selbst in sich selbst. Er ist nicht der Standpunkt, wo das absolute Selbst die Gegenstandswelt konstruiert, sondern Reflexion in sich; d. h. Standpunkt der 121

Selbstreflexion des absoluten Selbst. Nur auf diese Weise hat es die Philosophie mit dem Zustandekommen und der Konstruktion des Wissens selbst zu tun. Kritische Philosophie kommt nicht durch das 'Bewußtsein überhaupt', sondern durch die Reflexion auf dasselbe zustande. Daß der »Ort« eines Allgemeinen, als Transzendentes, selbst unbestimmbar ist, [wenigstens für den früheren Standpunkt], bedeutet eigentlich, daß hinter ihm etwas Selbstbewußtes offenbar wird. Nun ist das Selbstbewußte etwas, das auf sich selbst reflektiert und [so] seinen Inhalt nach und nach bestimmt. Soweit beim Selbstbewußtseinsallgemeinen das Selbstbewußte in sich reflektiert und seinen eigenen Inhalt bestimmt, kann es den Inhalt des konkreten Selbst sehen. Dasselbe gilt auch noch vom intelligiblen Selbst. Dieses transzendierend aber, wird das Allgemeine absolut unbestimmbar. Zugleich bleibt als Inhalt des bewußten Selbst, das [immer noch] darin seinen »Ort« hat, die bloße Form der Bestimmung des Selbst übrig; d. h. man wird nur des Selbstbewußtseins bewußt; das Wissen reflektiert nur auf das Wissen selbst. Was man »religiöse Weltanschauung« nennt, ist nichts anderes als der Inhalt der intelligiblen Welt, gesehen vom Standpunkt des religiösen Selbst aus. Nicht aber ist sie Inhalt der Selbstreflexion des religiösen Selbst als solchen. Wenn auf dem religiösen Standpunkt das bewußte Selbst verschwindet, so ist damit gleichzeitig auch der durch dasselbe intendierte Inhalt nicht mehr da. Es bleibt nur in der Richtung der Selbstbestimmung des Wissens der Inhalt des formalen Selbstbewußtseins, d. h. es bleibt nur noch die Urform des Wissens übrig. Die Dimension (Phase) des Bewußtseins des absoluten Nichts, das zugleich Nichts und Sein ist, kann für das theoretische Selbst nur in der Selbstbesinnung des Wissens als solchen offenbar werden. Das gerade ist der Standpunkt der Philosophie. 122

Es war meine Absicht, vom Standpunkt des konsequenten Kritizismus aus den Ursprung des Wissens aufzuhellen, den verschiedenen Arten des Wissens jeweils ihren eigenen Standpunkt und ihr eigenes Recht zuzuweisen und zugleich ihre Beziehungen untereinander, sowie ihre Rangordnung, klarzulegen. Wir können uns nicht der Meinung verschließen, daß Kants Kritizismus im Ausgangspunkt noch etwas Dogmatisches belassen hat. Besteht nun Metaphysik, wie oben gesagt, in der Diskussion der intelligiblen Existenz, so möchte ich auch der Metaphysik ihre Grundlegung und ihr Recht geben. Die Verwerflichkeit sogenannter Metaphysik liegt meiner Ansicht nach darin, daß dadurch die Standpunkte der verschiedenen Arten des Wissens nicht klargemacht und die Bedeutung der verschiedenen Arten des Seins verwirrt werden.

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DER METAPHYSISCHE H I N T E R G R U N D GOETHES

D

ie Zeit ist ein Strömen aus ewiger Vergangenheit her in ewige Zukunft hin. Die Zeit wird gleichsam in der Ewigkeit geboren und verschwindet in der Ewigkeit. Alles, was in der Geschichte offenbar wird, ist auf solchem Untergrunde der Ewigkeit Gestaltetes. Vom Geschichtlichen aus gesehen, ist alles nach Ursache und Wirkung verknüpft und strömt aus ewiger Vergangenheit her in ewige Zukunft hin. Aber die Zeit, als Selbstbegrenzung des ewigen Nun, ist notwendig in diesem Nun eingeschlossen. Wo die Zeit eingeschlossen und zugleich ausgelöscht wird, da wird, als Inhalt der Ewigkeit, das Persönliche angeschaut. Von aller Kultur dürfte dies gelten, besonders aber ist die Kunst etwas auf einem solchen Untergrunde der Ewigkeit durch die Geschichte Gestaltetes. Wie Michelangelos unvollendete Skulptur oder wie Rodins Skulpturen aus einem Marmorblock herausgehauen sind, so ist notwendig alle große Kunst wie ein Relief aus dem Marmor der Ewigkeit herausgeschnitten. Dies könnte dem Persönlichen gegenüber auch als Unpersönliches gedacht werden, und doch ist es nicht etwas, das als Stoff einer Form gegenüberstünde, sondern ein Persönliches ist notwendig darin und dadurch gestaltet. Ohne einen solchen Hintergrund gibt es überhaupt nichts Persönliches. Michelangelos Marmorblock ist nicht bloße Materie; er ist schon an sich ein wesentlicher Teil der Kunst. Wie unser Geist sich selbst in sich selbst anschaut, so ist das Persönliche ein Bild der Ewigkeit, das sich in der Ewigkeit spiegelt. Jede Art von Kunst hat notwendig einen solchen Hintergrund; und was einen solchen Hintergrund nicht hat, ist nicht Kunst. Wie nun, je nach dem Zusammenhange zwischen diesem Hintergrund und dem darin Gestalteten, ver126

schieden« persönlicher Inhalt sichtbar wird, so wird auch verschiedener künstlerischer Inhalt gestaltet. Daß die Kunst des Ostens im allgemeinen unpersönlich ist, muß daran liegen, daß in ihr dieser Hintergrund selbst einen Wesensteil der Kunst ausmacht. Daraus entsteht ein gestaltloses, grenzenloses Nachwogen, ein stimmloser, grenzenloser Nachklang. Dagegen ist die Kunst des Westens durch und durch Gestaltetes. Wo man das είδος als wahres Sein dachte, in Griechenland, da wird man der Plastik in Hinsicht auf die Schönheit der Gestalt auch nicht einen einzigen Meißelschlag hinzufügen können. Doch kann man das Gefühl nicht loswerden, als fehle der griechischen Kunst, ich weiß nicht, welche Tiefe. Die Ewigkeit der Griechen steht als Angeschautes vor uns; sie umschließt uns nicht vom Rücken her. Mit der christlichen Kultur, wo das Persönliche als wahrhaft seiend anerkannt wird, nimmt die Kunst an Tiefe und Hintergrund zu. In der Frühzeit der christl chen Kunst ist in ihrer Innerlichkeit etwas, das an die buddhistische Malerei des Ostens erinnert. Bei der Kunst des Michelangelo dann, bei der Größe der darin steckenden Kraft, wird man das Gefühl nicht los, als stünde man vor eines tiefen Kraters schwarzem Flammenwirbe' Machtvolle Tiefe und ein ungeheurer Hintergrund sind gerade in seiner Kunst. Was ist es nun, was den Hintergrund der Dichtung Goethes ausmacht? Aus welchem Untergrunde ist seine Dichtung herausgemeißelt ? Wenn man sich als Hintergrund der Kunst die Ewigkeit räumlich vorstellt, kann man Zweidimensionales und Dreidimensionales, Gestaltloses und Gestalthaftes unterscheiden. In bezug auf das Mehrdimensionale wieder kann man Hohes und Tiefes unterscheiden. 127

Den Hintergrund der Plastik Michelangelos muß man dann tief nennen; im Innern seiner Kunst steckt eine Kraft, wie vom Boden eines Abgrunds heraufdrängend. Im Gegensatz dazu findet man in dem Hintergrund der 'Divina Commedia' Dantes ein Hohes, zu dem man emporblicken muß ; in diesem Hintergrunde ist der transzendente christliche Gott. Was den Hintergrund der Goetheschen Dichtung ausmacht, ist nicht ein Dreidimensionales in diesem Sinne; man wird es eher als Zweidimensionales denken können; gestaltlos kann man es nennen. In der Malerei des Ostens gebraucht man Begriffe wie hoch-weit, tief-weit, eben-weit-, aber was ich hier zweidimensional nenne, bedeutet Höhe ohne Höhe, Tiefe ohne Tiefe, Weite ohne Weite. Eine Kunst, die zum Hintergrund so etwas wie ein gestaltlos ins Unendliche sich ausdehnendes Zweidimensionales hat, gerät leicht in Gefahr, die Menschlichkeit zu verneinen. Als nur die Endlichkeit verneinende wird die Unendlichkeit wohl auch als dunkles Schicksal gedacht, das der Menschlichkeit inkommensurabel ist. Was aber den Hintergrund der Goetheschen Dichtung ausmacht, ist nicht in solchem Sinne ein Zweidimensionales; überall ist etwas, das Menschlichkeit ganz und gar einschließt, und nichts, was sie verneint. Die Menschlichkeit ist darin gleichsam aufgelöst. Wenn ich von Auflösen spreche, so meine ich damit nicht etwa ein Verlieren der Individualität. Nur wo ein solcher Hintergrund ist, wird überhaupt erst der Klang wahrer menschlicher Individualität vernehmbar. Dieser Hintergrund ist so etwas wie 'Resonanzboden' der Menschlichkeit1. Ich bin zwar nicht befugt, über Malerei zu sprechen; aber könnte nicht etwa der Hintergrund Rembrandtscher Bilder 1

'Resonanzboden' — im Original deutsch.

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eine solche Bedeutung haben? In seinen Bildern ist Tiefe; aber diese ist von der Tiefe bei Michelangelo ganz und gar der Art nach verschieden; sie ist nicht Stärke, sondern Weichheit, nicht Tiefe der Kraft, sondern Tiefe des Gefühls. Wenn Verhaeren am Ende seines 'Rembrandt' über diesen urteilt: 'Il recueille les pleurs, les cris, les joies, les souffrances, les espoirs au plus intime de nous-mêmes et nous montre le Dieu qu'il célèbre, agité des mêmes tumultes que nous' 2 , so ist dieser Gott so etwas wie Resonanzboden der Menschlichkeit. Wenn man von weicher Tiefe spricht, so mag das vielleicht auch an Leonardo da Vinci erinnern; aber Leonardo ist intellektuell; das Lächeln der Mona Lisa ist zwar geheimnisvoll, aber es ist nicht das Lächeln der Liebe. Die Beziehung zwischen Goethe und der spinozistischen Philosophie ist eine allbekannte Tatsache. Goethe, der von sich erzählt, daß er schon in seiner frühen Jugend vor dem Throne der Natur gekniet habe, hat sich, nachdem er Spinozas 'Ethica' gelesen und sich für seine Lehre begeistert hatte, zeitlebens nicht mehr von Spinoza getrennt. Daß er alles als eins und die Natur als Gott dachte, sowie die auf diese Weltanschauung gegründete, in gewissem Sinne kontemplative Lebensanschauung, das alles hat mit Spinozas Pantheismus deutlich den Grundton gemeinsam. Aber Goethe war doch weniger spinozistisch, als er selbst glaubt und als viele bisher behauptet haben. Vielmehr kann man von einem anderen Gesichtspunkt aus sogar sagen, daß er auf einem entgegengesetzten Standpunkte stand. In Spinozas Pantheismus finden wir eine zweidimensionale Ewigkeit, die das Individuum verneint; Spinozas 'Substanz' verneint das Individuelle gänzlich. Das Individuelle ist in seiner Philosophie nur ein Modus der Substanz. So 2

S. 120.

9 N i s h i d a , D i e intelligible Welt

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etwas wie Zeit gibt es bei ihm nicht, und so etwas wie Individualität wird von seiner Philosophie nicht zugelassen. Spinozas 'Natur' ist eine Natur der mathematischen Notwendigkeit. Er schloß zwar den jüdischen Theismus aus, aber in seinem Monismus und in der Konsequenz seiner strengen Logik zeigt sich aufs deutlichste die jüdische Eigenart. Im vollen Gegensatz dazu schließt Goethes Pantheismus überall die volle Individualität ein; Goethes 'Natur' veraeint keineswegs die Individualität, sie läßt vielmehr überall Individuelles entstehen. Sie ist wie ein unendlicher Raum, der, selbst gestaltlos, Gestalten ausprägt. Wie das Mondlicht in 'An den Mond', wie das Meer im 'Fischer', wie der Nebel im 'Erlkönig', so ist Goethes Natur wesentlich etwas, das mit unserem Herzen zusammenklingt. Rausche, Fluß, das Tal entlang, Ohne Rast und Ruh. Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu. Da ist ein 'Mitklingen'3 bis in den unergründlichsten Grund unsres Herzens. Wenn Spinozas Natur mathematisch ist, so wird Goethes Natur künstlerisch zu nennen sein. Während Spinoza jüdisch ist, wird Goethe christlich, in Sonderheit süddeutsch zu nennen sein. Goethe, der sein langes Leben von achtzig Jahren hindurch ganz der Seligkeit und dem Schmerz des Gefühls hingegeben war, war seiner Natur nach wesensmäßig verschieden von Spinoza, der sein ganzes Leben im Zimmer, in der Abgeschiedenheit, mit Denken und Brillenschleifen zubrachte. Dagegen hat er wohl mit Leibniz Ähnlichkeit, insofern auch er auf das Individuelle Gewicht legte. Er stimmte auch mit 3

Im Original deutsch.

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dem Entelechiegedaiiken des Aristoteles und mit dem Gedanken der Monade bei Leibniz überein. Aber Goethes Monade, anders als die fensterlose Monade bei Leibniz, ist etwas, das unendlich tief, bis in den Grund der Ewigkeit hinein klingend verhallt. Mit dem Gesagten hängt es vor allem zusammen, daß Goethe, trotz seiner Vielseitigkeit, der größte lyrische Dichter ist. Im Drama, wo Gestalt notwendig ist, ist jener Hintergrund wesentlich ein Dreidimensionales. Von der Lyrik allein weiß man nicht, woher sie kommt und wohin sie geht; sie muß ein Überfließen unserer Lebensquelle sein. Es gibt niemanden, bei dem das Erlebnis an sich so unmittelbar Dichtung geworden wäre wie bei Goethe. So, wie er sagt: Spät erklingt, was früh erklang, Glück und Unglück wird Gesang, ist seine Dichtung nichts anderes als der unmittelbare Ausdruck seiner ungewöhnlichen Erlebnisse. Er selbst bekennt in dem Gedichte 'An die Günstigen': Niemand beichtet gern in Prosa, Doch vertraun wir oft sub rosa In der Musen stillem Hain. Was ich irrte, was ich strebte, Was ich litt und was ich lebte, Sind hier Blumen nur im Strauß; und läßt seinen Tasso sagen: 'Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.' Seine lyrischen Dichtungen sind es, von denen wir am tiefsten berührt werden. Gestaltlose Stimme des Lebens, das ist Lyrik. Daß Dichtung ursprünglich und wesentlich Produkt der Anschauung ist, und daß das Wesen des Dichters in der ». 131

Anschauung beruht, bedarf keiner Erwähnung. In besonderem Maße gilt das von Goethe. Bei ihm wird alles Seiende Gegenstand der Anschauung. Dem Physiker sagt er 'Natur hat weder Kern noch Schale. Alles ist sie mit einem Male', und im 'Epirrhema' heißt es: Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten: Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; Denn was innen, das ist außen. Selbst sein Studium der Biologie undder Farbenlehre, wenngleich wissenschaftliche Forschung, beruht ohne Zweifel auch auf der Kraft seiner künstlerischen Anschauung. Darin könnte man auch etwas Platonisches erblicken. Schon in seiner Straßburger Zeit, als er die Gotik verehrte, empfand er Sehnsucht nach Raffael und der Antike; vor allem aber hat die italienische Reise, wie jeder weiß, einen ungeheuren Einfluß auf seine Kunst ausgeübt. Dies wird durch die Verschiedenheit der 'Iphigenie' und des 'Tasso' vom 'Götz' und vom 'Werther' dargetan. Ist nicht außerdem auch in seinem Gedanken des Urtiers und der Urpflanze etwas, das an die platonische Idee erinnert? Im zweiten Teil des 'Faust' muß Faust, um Helena zu beschwören, zuerst zu den 'Müttern' gehen. Die schönen Helenaszenen zeigen Goethes Sehnsucht nach der antiken Welt und sind eine notwendige Stufe, die der unaufhörlich nach höchster Existenz strebende Faust auf seinem Wege der Entwicklung durchlaufen muß. Aber dies war nur eine Stufe, nicht das Ziel. Als Faust Helena umarmen wollte, blieben nur Kleid und Schleier in seiner Hand, und er kehrte in seine Heimat zurück. Nun wandte er sich dem Wirken für die Gemeinschaft zu. Goethe war in seinem Kern durch und durch germanisch. Der Goethe des 'Götz' und des 'Werther' war auch noch der Goethe des 'Faust II' und 132

der 'Wanderjahre'. Er war durch den antiken Geist zwar berührt und geläutert, aber was auf dem Grunde seiner Seele war, ist nicht die Helle des είδος, sondern die Tiefe des Gemüts, — des Gemüts, dem die Ideenschau nicht gemäß ist. Bloßes Gemüt verfällt wohl auch leicht dem Mystizismus ; aber Goetheist nicht Novalis. In Goethe ist είδος Gemüt, und Gemüt είδος; da ist kein Drinnen und kein Draußen; alles ist 'offenbares Geheimnis'. Außerdem und vor allem war Goethes Ideal, wie 'Faust II' und die 'Wanderjahre' zeigen, Tätigkeit für die Gemeinschaft. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Äonen untergehn, waren Fausts letzte Worte. Im Anfang des Faustdramas sagt Gott: 'Es irrt der Mensch, solang er strebt', und am Ende sagen die Engel: 'Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.' Was Goethe als großem Dichter am Herzen lag, war nicht der Genuß der Schönheit, sondern ein ernstes Streben des Lebens. Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn' als euch, Götter ! rief Prometheus und Schloß mit der gleichen Lebenskraft: Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, 133

Ein Geschlecht, das mir gleich sei: Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freuen sich— Und dein nicht zu achten, Wie ich! Nicht anders war auch in Goethe ursprünglich etwas Prometheisches, etwas Titanisches. Sein ganzes Leben war wahrhaft ein Leben edlen Wirkens. Er läßt Faust sagen: 'Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, so sei es gleich um mich getan.' Goethes 'Entsagen' war nicht ein untätiges, sondern ein tätiges Entsagen. Der Mensch kann nur durch Wirken erlöst werden. Darin ist sogar etwas, das an Fichte erinnerf, der die Trägheit als Erbsünde bezeichnet. Im tiefsten Grunde lag in ihm jedoch Natur und nicht ein Sollen. Statt heißem Wünschen, wildem Wollen, Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen Sich aufzugeben ist Genuß 4 . Darin ist etwas, das an den englischen Dichter Browning erinnert: The year's at the spring And day's at the morn; Morning's at seven; The hill-side's dew-pearled; The lark's on the wing; The snail's on the thorn: God's in his heaven — All's right with the world! Als letztes Wort hinterließ Browning: One who never turned his back but marched breast forward, 4

'Eins und Alles.'

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Never doubted clouds would break, Never dreamed, though right were worsted, wrong would triumph, Held we fall to rise, are baffled to fight better, Sleep to wake. Doch, was hinter Goethe steht, ist nicht dasselbe wie bei Browning. Was hinter Goethe steht, ist etwas, das Tätigkeit einschließt, ist Erlösung. Im Hintergrund des prometheischen Goethe leuchtet das Mondlicht: Füllest wieder Busch und Tal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Über mein Geschick. In diesem Hintergrunde flüstert die Stimme des Freundes, der erzählt, was, den Menschen unbewußt, durch das Labyrinth des Herzens wandert. Der 'Chorus mysticus' ist es, dessen Worte den metaphysischen Hintergrund Goethes offenbaren: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche, Hier wird's Ereignis ; Das Unbeschreibliche, Hier ist's getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. Das ist also nicht wie bei Browning ein Ewig-Männliches, sondern das Ewig-Weibliche. 135

Goethes Universalismus führt nicht, wie Spinoza, den Menschen verneinend, alles auf eine einzige Substanz zurück; er sieht alle Dinge im Menschen. Und doch ist für ihn nicht, wie in Leibnizens Monadologie, jedes Einzelding Substanz und unzerstörbar. Nach den Worten: 'Im Grenzenlosen sich zu finden, wird gern der einzelne verschwinden'5 gehen die Einzelwesen im Allgemeinen auf, ohne daß zwischen ihnen etwas wie eine prästabilierte Harmonie denkbar wäre. Wenn Goethe im Faust II sagt: 'Am farbigen Abglanz haben wir das Leben', so ist darin wohl etwas Platonisches. Da er aber Germane ist, ist seine Welt eine Welt der Tat und nicht eine Welt der Anschauung. 'Entsagen' ist Entsagen durch die Tat. Auf dem Grunde dieser Goetheschen Tatwelt ist nicht, wie bei Kant oder Fichte, ein Sollen, sondern die Erlösung. Dort ist nach den Worten der Marienbader Elegie 'Enträtselnd sich den ewig Ungenannten' etwas, wie das Auge eines Freundes, wie die Stimme eines Freundes, das unsere Seele tröstet. Darum verschwindet doch nicht, wie etwa bei Novalis, die Gestalt im Rhythmus des Gefühls. Bei Goethe ist kein Innen und kein Außen; was ist, ist, wie es ist, es kommt von dort, wo nichts ist, und geht dahin, wo nichts ist; und eben hierin, daß es so aus dem Nichts her kommt und in das Nichts hinein geht, ist ein leiser Klang des Menschlichen. Ja, Goethes Universalismus ist geradezu die Umdrehung des spinozistischen. Seine auf einem Universalismus in diesem Sinne aufgebaute Lebensanschauung erinnert nicht an die intellektuelle Liebe des Weisen der Stoa, sondern an die Liebe der Maria, an das Ewig-Weibliche. Verhaeren sagt, daß der mittelalterliche Künstler durch 'naïveté' und 'candeur' sich Gott nähern wollte, Rembrandt aber durch 'souffrance, angoisse, tendresse' und 'joie', d. h. durch den Weg des erfüllten Lebens. Ist bei Goethe nicht 5

'Eins und Alles.'

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auch etwas Ähnliches zu erkennen? Darin gleicht er eher Rembrandt als Spinoza. Und wenn wir in dieser Richtung noch weitergehen, berühren wir, wie wir es in der Kunst des Ostens sehen, so etwas wie eine Kunst der Trauer ohne den Schatten der Trauer, eine Kunst der Freude ohne die Farbe der Freude. Dem Goethe des Mannesalters, der die Befreiung von Wertherischen Leiden suchte, gab Rom die 'Römischen Elegien'; dem Goethe des Greisenalters, der die Befreiimg von der Wirklichkeit suchte, gab der Orient den 'Westöstlichen Divan'. Geschichte ist nicht bloß ein aus Vergangenheit zur Zukunft Strömendes. Wahrhafte Geschichte ist der Gegenstrom zu der Bewegung von der Zukunft zur Vergangenheit. Geschichte ist dauernder Umschwung im ewigen Nim. Wo Geschichte als in ewiger Vergangenheit ausgelöscht gedacht wird, entsteht so etwas wie die griechische Kultur, die alles zum Schatten der Ewigkeit macht. Wenn umgekehrt Geschichte als in ewige Zukunft vergehend gedacht wird, entsteht so etwas wie die christliche Kultur, die alles zu einem Weg nach der Ewigkeit macht. Wenn aber Geschichte als Begrenzung im ewigen Nun gedacht wird, wo Vergangenheit wie Zukunft in der Gegenwart ausgelöscht sind, dann kommt alles daher ohne ein Woher seines Kommens und geht dahin ohne ein Wohin seines Gehens, und was ist, ist ewig, wie es ist. Ein solches Denken strömt in der Tiefe der Kultur des Ostens, in der wir groß geworden sind. (Geschrieben im 6. Jahre Shôwa, im 12. Monat6.) 6

6. Jahr Shôwa: nach christl. Zeitrechnung 1931.

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D I E E I N H E I T DER GEGENSÄTZE

1

D

ie Welt der Wirklichkeit ist eine Welt, wo Dinge auf Dinge wirken. Die Gestalt der Wirklichkeit wird als wechselseitige Beziehung von Dingen, als Resultat dieses Aufeinanderwirkens gedacht. Daß aber Dinge aufeinander wirken, bedeutet, daß sie sich selbst verneinen, daß das »Ding« verloren geht. Daß die Dinge durch ihr Aufeinanderwirken eine einzige Welt bilden, bedeutet, daß sie als Teile einer Welt gedacht werden. Daß ζ. B. Dinge im Räume auf einander wirken, heißt, daß die Dinge räumlich, [raumhaft ausgedehnt] sind. Wenn man endlich so etwas wie den physikalischen Raum denkt, werden Kräfte auch als Veränderungen des Räumlichen gedacht. Daß aber die Dinge als Teile eines ganzen Einen gedacht werden, heißt, daß die wirkenden Dinge verloren gehen und die Welt statisch wird, daß die Wirk-lichkeit verloren geht. Welt der Wirklichkeit ist wesensmäßig das Eine me das Viele, wesensmäßig Welt der wechselseitigen Bestimmung von Einzelwesen. Daher nenne ich die Welt der Wirklichkeit »Selbstidentität des absoluten Widerspruchs«, [Einheit der Gegensätze]. Eine solche Welt bewegt sich wesensmäßig vom Gestalteten [als einem Produkt] hin zum Gestaltenden [als einem Schöpferischen]. Welt besteht nicht — wie nach der bisherigen Physik — aus Wechselwirkung unveränderlicher Atome, d. h. nicht als das [mechanische] Eine der Vielen. So gedacht, wäre sie nichts als die [ewige] Wiederholung der gleichen Welt. Ebensowenig kann man sie teleologisch als Entfaltung des ganzen Einen denken. Wenn sie das wäre, würden nicht Einzelwesen auf Einzelwesen wirken. Welt kann weder als das Eine der Vielen noch als die Vielen des Einen [allein] 140

gedacht werden. Sie ist wesensmäßig Welt, wo das Gegebene ein Gestaltetes, d. h. dialektisch Gegebenes ist, — Welt, [die], sich selbst verneinend, allmählich vom Gestalteten zum Gestaltenden [sich bewegt]. Als Substrat kann man in ihrem Grunde weder das ganze Eine noch die vielen Einzelwesen denken. Sie ist schöpferische Welt, die — ebensowohl Phänomen wie Realität [Erscheinung wie Wesen], — sich durch sich selbst bewegt. Was in der Wirklichkeit »ist«, ist als Bestimmtes durch und durch Sein und als Gestaltetes durch und durch sich Veränderndes und Vergehendes; es ist, so kann man sagen, Sein wie Nichts. Daher habe ich [an anderer Stelle] von einer Welt des absoluten Nichts gesprochen und sie als Welt der unendlichen Bewegung auch »Welt der Bestimmung ohne Bestimmendes« genannt. In der hier geschilderten Welt der Selbstidentität im absoluten Widerspruch bestimmt notwendig die Gegenwart die Gegenwart selbst. Diese Welt wird weder kausal von der Vergangenheit noch teleologisch von der Zukunft bestimmt, d. h. sie ist weder das Eine der Vielen noch das Viele des Einen. Die Zeit kann im Grunde weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft her gedacht werden. Wenn man die Gegenwart nur als augenblicklich begreift, als Punkt auf einer kontinuierlichen Geraden, dann gibt es überhaupt keine Gegenwart und folglich auch keine Zeit. Indem die Vergangenheit in der Gegenwart vergangen und doch auch noch nicht vergangen ist, die Zukunft dagegen noch nicht gekommen ist und sich doch auch schon in der Gegenwart zeigt, — indem also Vergangenheit und Zukunft als Selbstidentität des absoluten Widerspruchs einander gegenüberstehen, kommt die Zeit zustande. Und als Einheit des Widerspruchs bewegt sich die Zeit unendlich von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Gestalteten zum Gestaltenden. Den Augenblick muß man zwar als Punkt der gerad141

linigen Zeit denken. Aber wie schon Piaton dachte, daß der Augenblick außerhalb der Zeit sei, so kommt »Zeit« als diskontinuierliche Kontinuität zustande. Man kann sagen, daß Zeit als Selbstidentität des absoluten Widerspruchs [d. i. als dialektische Einheit] des Vielen und des Einen zustandekomme. Konkrete Gegenwart ist wesensmäßig Ko-existenz unzähliger Augenblicke, das Eine der Vielen. Sie ist gleichsam ein Raum der Zeit. Darin werden die Augenblicke der Zeit verneint. Aber das Eine, das die Vielen verneint, ist an sich selbst der Widerspruch. Daß die Augenblicke verneint werden, bedeutet ja, daß die Zeit selbst verloren geht, daß das, was Gegenwart heißt, verschwindet. Wenn dem so ist, kommen dann die Augenblicke der Zeit etwa einzeln, diskontinuierlich zustande? Dann könnte ja aber die Zeit selbst nicht Zustandekommen und damit verschwänden auch die Augenblicke. Zeit besteht wesenmäßig aus der gegenwärtigen Ko-existenz von Augenblicken. Dies meine ich, wenn ich sage, Zeit, als das Eine der Vielen wie als die Vielen des Einen, beruhe in der gegensätzlichen Einheit der Gegenwart. Das ist auch der Grund, warum ich sage, daß die Gegenwart die Gegenwart selbst bestimme und dadurch die Zeit zustandekomme. Daß man in einem Augenblicke der Zeit [im Nun] die Ewigkeit berührt, bedeutet nichts anderes, als daß der Augenblick in dem Maße, wie er wahrer Augenblick wird, als individuelles Vieles, zum Augenblick der ewigen Gegenwart wird, welche die absolute Einheit der Gegensätze ist. Umgekehrt gesprochen, besagt dies nichts anderes, als daß die Zeit als Selbstbestimmung des ewigen Nun zustandekommt. Daß in der Gegenwart die Vergangenheit vergangen und doch auch noch nicht vergangen ist, die Zukunf noch nicht gekommen ist und sich doch auch schon zeigt, bedeutet 142

nicht etwa bloß — wie es abstrakt logisch gedacht wird —, daß die Vergangenheit mit der Zukunft sich verbinde oder mit ihr eins werde; es bedeutet, daß sie dadurch eins werden, daß sie sich gegenseitig verneinen. Und der Punkt, wo Vergangenheit und Zukunft, sich gegenseitig verneinend, eins sind, ist die Gegenwart. Als dialektische Einheit der Gegenwart stehen Vergangenheit und Zukunft einander gegenüber. Und eben weil sie die Einheit der Gegensätze sind, verbinden sich Vergangenheit und Zukunft durchaus nie; da ist eine ewige Bewegung von der Vergangenheit her in die Zukunft hin. Insofern die Gegenwart so die Einheit des Einen und Vielen wie des Vielen und des Einen ist, und insofern die Gegenwart Raum-Zeit ist, wird da notwendig eine Gestalt entschieden und die Zeit aufgehoben. Hier — insofern die zeitliche Gegenwart die Selbstbestimmung des ewigen Nun ist, — berühren wir das Ewige, das die Zeit transzendiert hat. Aber diese Gegenwart ist — weil Einheit der Gegensätze — als ein zu Verneinendes entschieden, und die Zeit bewegt sich von einer Gegenwart zu einer anderen Gegenwart. Daß das Eine das Eine der Vielen ist, bedeutet Räumlichkeit; »vom Vielen zum Einen« bedeutet Mechanismus, bedeutet Bewegung von der Vergangenheit in die Zukunft. Daß umgekehrt die Vielen die Vielen eines Einen sind, ist das Dynamische, das Zeitliche der Welt; »vom Einen zum Vielen« ist entwicklungs- und zweckmäßiges Denken der Welt: von der Zukunft zur Vergangenheit. Die Welt, als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen, [in der Bewegung] vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, ist wesensmäßig Welt von Gegenwart her und hin zü Gegenwart. Wirklichkeit hat Gestalt. Was in der Wirklichkeit »ist«, ist wesensmäßig ein Entschiedenes, d. h. Realität, und bewegt 143

sich doch auch gleichzeitig, als durch die Einheit der Gegensätze Entschiedenes, aus dem inneren Widerspruch der Wirklichkeit selbst. Dahinter lassen sich weder das Eine noch die Vielen denken. Daß überhaupt entschieden wird, ist notwendig in sich selbst widerspruchsvoll. Eine derartige Welt, als Einheit der Gegensätze [und in Bewegung] vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, ist wesensmäßig Welt der »Poiesis«. Wenn man von schöpferischem Tun spricht, denkt man nur daran, daß Einer Dinge gestaltet. Aber wenn man sagt, daß ein — und wäre es auch noch so künstliches — Ding überhaupt objektiv zustandekommt, so muß es [das schöpferische Tun] auch objektiv sein. Da wir Hände haben, können wir Dinge machen, gestalten; vom Gestalteten zum Gestaltenden ist unsere Hand geworden, als Resultat einer Jahrtausende langen Entwicklung der Lebewesen. Dies nennt Aristoteles — wenn auch zugleich metaphorisch — ή φύσις ποιεί, 'die Natur schafft'. Selbstverständlich ist mit diesen Worten nicht gemeint, daß unser Schaffen nur die Tätigkeit der Natur sei. Ebensowenig ist es nur unsere Hand, die gestaltet. Was bedeutet es nun, daß man Dinge schafft? Dinge machen, Dinge schaffen, heißt: die Zusammensetzung der Dinge ändern. Wenn ein Baumeister ein Haus »macht«, so bedeutet dies, daß er entsprechend den Eigenschaften der Dinge deren Zusammensetzung und Verbindung verändert, d. h. daß er ihre Gestalt verändert. (Das ist in einer Leibnizischen Welt des 'composé' möglich.) Die Welt der Wirklichkeit hat wesensmäßig »Gestalt«; sie muß als das Eine der Vielen entschieden sein. Wenn man aber die Welt derart gänzlich vom Vielen zum Einen hin denkt, so bleibt da kein Raum mehr für so etwas wie »Schaffen«, schöpferisches Tun. Wenn man sie andererseits vom Einen zum 144

Vielen hin denkt, ist sie unausweichlich als durch und durch teleologisch zu denken, sie ist nichts weiter als eben die Welt von Lebewesen, in welcher es nur das Wirken der Natur gibt. In dem Grunde der Welt ist aber weder das Viele noch das Eine allein zu denken; es ist vielmehr eine Welt der absoluten Einheit der Gegensätze, wo das Viele und das Eine sich gegenseitig verneinen. Da ist das Individuum durchaus als Individuum Gestalt gebend. Das Individuum schafft, macht Dinge [und ist] gleichzeitig [in der Bewegimg] vom Gestalteten her, zum Gestaltenden hin. Das ist Gestaltungstätigkeit der »geschichtlichen Natur«. Wie zugleich damit, daß die Zeit durchaus einmalig ist, die Gegenwart, als »Raum der Zeit«, von Gegenwart zu Gegenwart [sich erstreckt] und die Zeit aus der Selbstbestimmung der Gegenwart zustandekommt, ebenso bedeutet das »vom Gestalteten zum Gestaltenden« der Welt als Einheit der Gegensätze, daß das Individuum schöpferisch ist; und umgekehrt: das schöpferische Tun des Individuums bedeutet, daß die Welt vom Gestalteten zum Gestaltenden [sich bewegt]. Daß wir 'homo faber' sind, bedeutet, daß die Welt »geschichtliche- ist; und umgekehrt: daß die Welt geschichtlich ist, bedeutet, daß wir 'homo faber' sind. In der Welt der Einheit der Gegensätze berühren wir in der zeitlichen Gegenwart etwas, das die Zeit transzendiert hat; und ebenso ist in der vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin [sich bewegenden] Welt des 'homo faber« in der Wirklichkeit stets Gestalt sichtbar. Es ist dieser Welt eigentümlich, daß da sozusagen senkrecht zu dem »von der Vergangenheit zur Zukunft« eine Schnittfläche des Bewußtseins liegt. Die Welt vom Gestalteten zum Gestaltenden hat eine Bewußtseinsebene; ihr kommt die Bedeutung des Spiegeins zu. Wir schaffen handelnd-anschauend; Schaf10 Ν i s h i d a , Die intelligible Welt

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fen ist wesentlich bewußtseinsmäßig. In der Bewußtseinsebene der Welt der Einheit der Gegensätze ist das schaffende Selbst denkend und frei. Aus dem Schaffen entsteht unser individuelles Selbstbewußtsein. Wenn wir sagen, auf dem Grunde der Welt könne man weder das Eine noch die Vielen denken, und, indem das Eine und das Viele sich gegenseitig verneinen, sei die Welt [in Bewegung] vom Gestalteten zum Gestaltenden, — so ist für die meisten wohl schwer zu begreifen, daß dies die Welt der Wirklichkeit ist. Denn die meisten nehmen auf dem Grunde der Welt das Viele an und denken sich die Welt atomistisch, als Welt kausaler Notwendigkeit, als Welt der Materie. Nun ist allerdings die Welt der Einheit der Gegensätze nach einer Seite durchaus [auch] so zu denken; aber so muß sie im Hinblick auf die Einheit der Gegensätze der Wirklichkeit gedacht werden. Wirklichkeit ist indessen nicht nur Gegebenes; nur Gegebenes ist ein Gedachtes. Wo wir sind und wirken, da ist Wirklichkeit. Wirken aber bedeutet nicht ein bloßes Wollen, sondern ein Gestalten, ein Machen von Dingen. Wir gestalten Dinge. Zugleich damit, daß die Dinge von uns Gestaltete sind, sind sie doch auch von uns unabhängig und gestalten umgekehrt uns. Und noch mehr: Unser Gestalten selbst kommt aus der Welt der Dinge. Wo wir uns handelnd-anschauend verhalten, da ist Wirklichkeit. Daher denken wir gewöhnlich den Ort, wo wir leiblich sind, als die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist aber der Ort, wo Gestaltendes und Gestaltetes im Widerspruch eins sind und die Gegenwart die Gegenwart bestimmt. Auch die wissenschaftliche Erkenntnis entsteht wesensmäßig auf diesem Standpunkt der Wirklichkeit. Auch die Welt der wissenschaftlichen Realität muß von diesem Standpunkt aus begriffen werden. Wie unser eigener Leib in der 146

äußeren Bewegung erkannt wird (Noiré), so wird auch unser eigenes Selbst durch 'Poiesis' in der geschichtlichgesellschaftlichen Welt erkannt. Geschichtlich-gesellschaftliche Welt ist wesensmäßig Welt vom Gestalteten zum Gestaltenden. Ohne das Soziale besteht kein: Vom Gestalteten zum Gestaltenden, keine 'Poiesis'. Auch der Standpunkt unseres Denkens muß in der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt sein. Über den Ausgangspunkt der Philosophie gibt es ja wohl verschiedene Meinungen. So haben im modernen Japan solche Standpunkte wie der der Erkenntnistheorie und der Phänomenologie im Großen und Ganzen bis heute vorgeherrscht. Von diesen Standpunkten aus wird das, was ich hier sage, als Dogmatismus empfunden werden. Aber auch jene Standpunkte sind notwendig geschichtlich-gesellschaftlich. Wir müssen heute noch einmal zum Anfang zurückkehren und die geschichtlich-gesellschaftliche Welt 'logisch-ontologisch'1 analysieren. Ich glaube, daß wir von diesem Standpunkte aus noch einmal mit dem Anfang der griechischen Philosophie beginnen müssen. Auch der erkenntnistheoretische Standpunkt, wo Subjekt und Objekt einander gegenüberstehen, muß noch einmal kritisch geprüft werden. Auch Wissen ist ein Geschehen in der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt. Damit ist nicht gesagt, daß ich zur alten Metaphysik zurückkehrte. Nach Kant kehrte Lotze zur Ontologie zurück und betrachtete das Erkennen unter diesem Gesichtspunkte; aber seine Ontologie war nicht in unserem Sinne geschichtlich-gesellschaftlich. In der Welt, welche, als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen, sich durch sich selbst bewegt, stehen durchgängig Individuum und Umwelt einander gegenüber; es 1

Im Original deutsch.

ist eine Welt, die, sich selbst durch den Widerspruch gestaltend, fortschreitet: d. h. Welt des Lebens. Wenn ich sage, daß das Individuum die Umwelt gestaltet und daß zugleich auch die Umwelt das Individuum gestaltet, so bedeutet dies nicht etwa, daß eine Form eine Materie gestalte. Das Individuum ist ja wesensmäßig sich selbst Bestimmendes, Wirkendes. Wirken bedeutet: das Andere verneinen wollen, das Andere zum Selbst machen wollen; es bedeutet, daß das Selbst zur Welt werden will. Es bedeutet zugleich aber auch umgekehrt, daß das Selbst sich selbst verneint und zu einem Teil der Welt wird. Sofern die Welt überhaupt als Realitätswelt gedacht wird, muß sie in dem gezeigten Sinne »Einheit der Gegensätze« sein, gleichgültig ob sie auch als das Eine der Vielen mechanisch oder als die Vielen des Einen teleologisch gedacht wird. Ganz abgesehen von dem Falle, wenn sie mechanisch gedacht wird, wäre aber auch dann, wenn sie teleologisch gedacht wird, das Individuum noch nicht sich selbst Bestimmendes, noch nicht wahrhaft Wirkendes. Eine Welt wahrhafter Wechselbestimmung von Individuen muß so etwas wie Leibnizens Welt der Monaden sein. Die Monade spiegelt die Welt und ist zugleich ein Gesichtspunkt der Perspektive der Welt: sie ist ebenso Darstellung wie Ausdruck ('exprimer' = 'représenter'). Und doch ist das wahre Individuum nicht intellektuell wie die Monade, sondern wesentlich etwas, das sich selbst gestaltet, wesentlich etwas, das ausdrucksfähig ist. In einer Welt, auf deren Grunde weder das Eine noch die Vielen zu denken sind, und die sich als Einheit der Gegensätze vom Gestalteten zum Gestaltenden hin bewegt, — in einer solchen Welt muß das Individuum wesensmäßig etwas sein, das sich durch Ausdrucksfunktion selbst gestaltet. Wenn das Individuum, als Individuum in einer Welt der Einheit der Gegensätze des Einen und Vielen, die Welt 148

spiegelt, so ist die Selbstbestimmung des Individuums notwendig von der Art eines Begehrens. Es wirkt weder mechanisch noch teleologisch, sondern dadurch, daß es die Welt in sich spiegelt. Dies nenne ich »bewußtseinsmäßig«. Auch die instinktive Tätigkeit der Tiere muß, nach ihrem Wesen betrachtet, diese Eigenschaft haben. Daher sage ich, daß unser Handeln ursprünglich handelnd-anschauend entsteht, daß Handeln zustande kommt, weil wir Dinge sehen. Handelnde Anschauung [oder Τ at-Anschauung] bedeutet, daß die Tätigkeit, sich selbst widersprechend, in dem -Gegenstände enthalten ist. Wenn die Welt sich als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen vom Gestalteten zum Gestaltenden bewegt, ist sie notwendig handelnd-anschauend, und das Individuum ist notwendig durch und durch begehrend. Was ich »Gestalt« nenne, ist nicht etwa die Gestalt eines stillstehenden Dinges, sondern die Tätigkeit des sich selbst Gestaltens in einer Welt der Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen, vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin. Auch Piatons· 'Idee' muß wesentlich etwas dieser Art gewesen sein. Ohne, sich selbst widersprechend, Dinge zu sehen, gibt es kein Begehren; ohne »Gestalt« kein Wirken. Im tierischen Leben ist das Sehen wohl nur sehr undeutlich; es wird ein traumhaftes Sehen von Bildern der Dinge sein, weshalb wir dem Tier nur Instinkt zuschreiben. Ihrem Wesen nach betrachtet, kann man, auch wenn man dem Tier Ausdrucksfähigkeit zugesteht, jedenfalls von den Tieren nicht behaupten, daß sie außer sich Dinge gestalten. Das Tier hat noch keine Gegenstands weit; man kann von ihm nicht sagen, daß es wahrhaft handelnd-anschauend wirke. Beim Tier gibt es noch keine 'Poiesis'. Das Gestaltete trennt sich da noch gar nicht von dem Gestaltenden; man kann nicht sagen, daß das Gestaltete das Gestaltende 149

gestalte. Daher ist es kein »vom Gestalteten zum Gestaltenden«. Es ist nur die den Lebewesen überhaupt eigene [biologisch-] leibliche Gestaltung. Erst wenn es zum Menschen kommt, wo das Selbst monadisch die Welt spiegelt und zugleich selbst ein Gesichtspunkt der Perspektive der Welt ist, gibt es ein handelndanschauendes Wirken, [das seinen Ausgang nimmt] von dem Sehen der Dinge in einer Gegenstandswelt. Es ist sozusagen ein Sehen des Selbst außer sich, von dem aus der Mensch handelt. Da gestaltet das Gestaltete das Gestaltende, und darum sage ich: »vom Gestalteten zum Gestaltenden«. Darum gibt es beim Menschen 'Poiesis'. Man kann ihn geschichtlich-leiblich nennen. Und indem er von dem Standpunkt »Darstellung = Ausdruck« aus wirkt, kann er auch logisch-geistig genannt werden. Wie oben gesagt, ist das Individuum durchaus als Individuum schöpferisch; zugleich damit, daß es die Welt gestaltet, ist es ein schöpferischer Teil der sich selbst gestaltenden schöpferischen Welt; dadurch ist das Individuum Individuum. Die Welt als Einheit der Gegensätze, vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, kann wesensmäßig als Welt won Gestalt zu Gestalt« gedacht werden. Wie anfangs gesagt wurde, daß die Gegenwart die Gegenwart selbst bestimmt, so kann jetzt von der Welt gesagt werden, daß die Gestalt die Gestalt selbst bestimme. Die Welt als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen, gestaltet — so gesehen — sich selbst; sie ist wesensmäßig Gestaltung. Die in solchem Sinne sich selbst gestaltende Gestalt ist das, was in der geschichdichen Welt die Rolle des Subjekts spielt. Das nenne ich geschichtliche Gattung. Was ich Gestalt nenne, ist nicht von der Realität losgelöste, nur abstrakt gedachte, statische Gestalt; wenn ich »von Gestalt 150

zu Gestalt« sage, so meine ich damit keinen vermittlungslosen Übergang. Ich meine damit die Gestalt, welche der Realität selbst als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen zugehört. Biologische Phänomene kann man auch durch Reduktion auf physikochemische Phänomene denken, aber ganz abgesehen davon, daß man dabei die biologischen Phänomene zu oberflächlichen Verbindungen von Stoffen macht, muß man sie, wenn man ihnen überhaupt Realität zuerkennt, als gestalthaft denken. Die dem Lebewesen zugehörige Gestalt ist wesensmäßig funktional. Gestalt und Funktion sind beim Lebewesen untrennbar. Gestalt ist nicht nur, was man mit Augen sehen kann. Auch der Instinkt der Lebewesen ist Gestaltungstätigkeit. Auch die menschliche Gesellschaft hat wesensmäßig ihre Gestalt. Gestalt ist 'Paradigma'. Wir wirken durch die Gestalt der Gattung. Und zwar so, daß wir handelnd-anschauend durch das Sehen wirken und durch das Wirken sehen. Es ist wesensmäßig ein »vom Gestalteten zum Gestaltenden«. Die Welt der Einheit der Gegensätze, welche sich vom Gestalteten zum Gestaltenden unendlich bewegt, ist — wie oben gezeigt — als von einer Gestalt zu einer andern sich bewegende, durchaus gestaltungstätig; d. h. sie ist [wirkend] subjektiv. In ihr stehen Individuen und Umwelt einander gegenüber. Und zwar gestaltet das Individuum die Umwelt, und die Umwelt das Individuum. Nun ist aber in einer Welt der Einheit der absoluten Gegensätze die Umwelt durchaus nicht bloß stofflich; ihr ist allerdings wesentlich, daß sie die Form verneint. Gegenüber dem »vom Einen zum Vielen« ist sie wesensmäßig das »vom Vielen zum Einen«. Sich selbst verneinend, gestaltet das Individuum die Umwelt, und die Umwelt gestaltet, sich selbst verneinend, das 151

Individuum. Dies bedeutet keineswegs, daß die Form zur Materie werde, und die Materie zur Form; es handelt sich weder um Form und Materie, noch um graduelle Unterschiede der Gestaltung. Wenn man von der Welt sagt: vom Vielen zum Einen, so bedeutet es, daß man die Welt kausal und im Sinne des Determinismus denkt, daß man sie von der Vergangenheit her und mechanistisch denkt. Wenn man dagegen von der Welt sagt: vom Einen zum Vielen, so bedeutet dies, daß man sie teleologisch denkt. Aber die bloß teleologische Auffassung ist, wie beim biologischen Leben, noch nicht frei von Räumlichem, nicht frei von Determinismus. Um von der Welt wahrhaft sagen zu können: vom Einen zum Vielen, wird man sie durchaus zeitlich denken müssen; man wird so etwas wie Bergsons 'reine Dauer' annehmen müssen. »Durchaus schöpferisch« bedeutet stets »von der Zukunft her«, d. h. es gibt kein »von der Vergangenheit her« mehr. Wo die reine Dauer sich selbst verneint, wo sie, sich selbst widersprechend, räumlich ist, da ist die Welt der Wirklichkeit. In der Welt der reinen Dauer, die auch nicht um eines einzigen Augenblickes Länge zurückkehren kann, gibt es auch keine Gegenwart. Wo dagegen das Räumliche, sich selbst verneinend, zeitlich ist, d. h. wo es, sich selbst widersprechend, sich aus sich selbst bewegt, da ist [erst wahrhaft] die Welt der Wirklichkeit. Daher stehen sich in der Gegenwart der Welt, die, als absolute Einheit der Gegensätze, von Gegenwart zu Gegenwart sich bewegt, Subjekt und Umwelt einander gegenüber, wobei das Individuum, sich selbst verneinend, die Umwelt gestaltet und umgekehrt. Und die Gegenwart der Welt der Wirklichkeit bewegt sich von dem her, was als Einheit der Gegensätze von Individuum und Umwelt, von Einem und Vielem schon entschieden ist, d. h. vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin. Das eben nennt man die Bewegung von der Vergangenheit zur Zukunft. Was 152

man das Gestaltete nennt, ist etwas, das schon in die Umwelt eingegangen ist, schon zur Vergangenheit geworden ist. Und doch (— das Nichts ein Sein, — die Vergangenheit, obschon vergangen, ein Seiendes —) gestaltet das Gestaltete, sich selbst verneinend, das Subjekt [Individuum]. Wenn man die Welt nur vom Vielen oder nur vom Einen aus, wenn man sie mechanistisch oder teleologisch denkt, so gibt es kein »vom Gestalteten zum Gestaltenden«. Da ist kein Raum für so etwas wie das Gestalten. Aber in einer Welt der absoluten Einheit des Vielen und des Einen, wo das Viele, sich selbst verneinend, das Eine, und das Eine, sich selbst verneinend, das Viele ist, in einer solchen Welt bedeutet, daß das Individuum, sich selbst verneinend, die Umwelt gestaltet, zugleich auch umgekehrt, daß die Umwelt, sich selbst verneinend, ein neues Individuum gestaltet. Und daß die zeitliche Gegenwart in Vergangenheit vergeht, bedeutet, daß die Zukunft auf uns zukommt. In der geschichtlichen Welt gibt es nichts, das bloß gegeben wäre. Gegebenes ist [stets] Gestaltetes, etwas, das, sich selbst verneinend, das Gestaltende gestaltet. Das Gestaltete ist das Vergangene, etwas, das in das Nichts eingegangen ist. Aber die Tatsache selbst, daß die Zeit in die Vergangenheit vergeht, ist Gebären der Zukunft, Entstehen eines neuen Subjekts. In diesem Sinne spreche ich von einem »vom Gestalteten zum Gestaltenden«. Wenn ich sage, daß in der geschichtlichen Welt durchaus Individuum und Umwelt, sich gegenseitig verneinend, einander gegenüberstehen, so meine ich damit, daß sie einander so gegenüberstehen, wie in der zeitlichen Gegenwart Vergangenheit und Zukunft, sich gegenseitig verneinend, einander gegenüberstehen. Und wie die Gegenwart sich, als Einheit der Gegensätze, von der Vergangenheit zur Zukunft bewegt, so ist [die geschichtliche Welt] eine Bewegung vom Gestalteten zum Gestaltenden. Sie ist eine 153

solche Welt der Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen, daß in ihr das Individuum monadisch die Welt spiegelt und gleichzeitig auch umgekehrt ein Gesichtspunkt der Perspektive der Welt ist. Aus dem in einer solchen Welt Gestalteten kommt das Gestaltende hervor, und dieses gestaltet wiederum aufs neue. So ist die Welt, die als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen sich durch den Widerspruch aus sich selbst bewegt, immer in der Gegenwart im Widerspruch zu sich selbst; die Gegenwart ist der »Ort« des Widerspruchs. Vom Standpunkt der abstrakten Logik aus wird man nicht sagen dürfen, daß einander Widersprechendes sich verbinde; sie sollen ja gerade darum einander widersprechen, weil sie sich nicht verbinden lassen. Aber wenn sie sich nicht irgendwo berührten, so könnte es auch keinen Widerspruch derselben geben. Gegenüberstehen ist schon Synthese. Da herrscht die Logik der Dialektik. Als Spitze des Widerspruchs wird der zeitliche Augenblick gedacht werden müssen. Aber wie der Augenblick außer der Zeit vorgestellt werden kann, so ist er auch als Punkt des dialektischen Raumes zu denken, wo das Gegenüberstehen zugleich ein Verneinen und ein Bejahen ist. Wenn man die Zeit abstrakt denkt, so wird sie lediglich als ein geradliniger Verlauf gedacht, der sich von der Vergangenheit in die Zukunft unendlich bewegt. Was aber in der geschichtlichen Welt als wirkliche Zeit gedacht wird, kann Gestaltungsprinzip oder »Stil der Produktivität« der geschichtlichen Welt der Wirklichkeit genannt werden. Dies bedeutet: won dem Gestalteten zum Gestaltenden«; es bedeutet: »von der Vergangenheit zur Zukunft«. Die Gestalt der zeitlichen Gegenwart ist eine Gestalt in der Weise dieses »Produktionsstils«. Wo dieselbe Produktion sich wiederholt, weil der Produk154

tionsstil der geschichtlichen Welt nicht schöpferisch ist, da hat man es mit der Zeit von geradlinigem Verlauf zu tun, wie sie gewöhnlich gedacht wird. Da ist die Gegenwart inhaltlos, ein Punkt des Augenblicks, nicht faßbar und ohne Gestalt. In diesem unfaßbaren Punkt des Augenblicks sollen sich Vergangenheit und Zukunft verbinden. Dergestalt ist die Zeit der Physik. In der physikalischen Welt gibt es nichts Schöpferisches; da ist nur die ewige Wiederholung derselben Welt. Da ist eine räumliche Welt, eine bloße Welt des Vielen. Wenn es aber zu der organischen Welt kommt, so kann man schon von einem Inhalt des »Produktionsstiles« sprechen: man kann sagen, daß die Zeit Gestalt hat. Bei der teleologischen Funktion bedeutet das »von der Vergangenheit zur Zukunft« umgekehrt ein »von der Zukunft zur Vergangenheit«; das »von der Vergangenheit zur Zukunft« bedeutet hier nicht bloß einen geradlinigen Verlauf, sondern eine kreisförmige Bewegung. Dies bedeutet, daß der Produktionsstil eine Art von Inhalt hat; es bedeutet, daß die Gegenwart, als Einheit der Gegensätze von Vergangenheit und Zukunft, eine Gestalt hat. Diese Gestalt ist die »Gattung« der Lebewesen. Diese Gestalt ist der Produktionsstil der geschichtlichen Welt auf dieser Stufe des Organischen. Dies nenne ich »subjektiv«; [Welt als Subjekt]. Schon in der biologischen Welt stehen in der als Ort gedachten Gegenwart Vergangenheit und Zukunft einander gegenüber, und das Subjekt gestaltet die Umwelt, wie die Umwelt auch ihrerseits das Subjekt gestaltet. Die individuellen Vielen sind nicht nur dies; sie gestalten auch — als Einzelwesen — sich selbst. Dennoch ist die biologische Welt noch nicht die Welt der absoluten Einheit der Gegensätze. Erst in der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt der wahren Einheit der Gegensätze sind Vergangenheit und Zukunft, 155

sich selbst widersprechend, gleichzeitig in der Gegenwart da; die Welt, so kann man sagen, ist, sich selbst widersprechend, eine einzige Gegenwart. In der teleologischen Funktion des Organismus verbinden sich zwar auch Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart; aber da handelt es sich doch immer noch um einen Verlauf und nifht um wahrhafte Gegenwart. Folglich gibt es auch noch keine wahrhafte Produktion, d. h. kein »Schaffen«. Das ist der Grund, warum ich sage, daß sich im biologischen Leben das Gestaltete noch nicht von dem Gestaltenden trennt, und daß ich nur von »Subjekt« spreche. In der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt aber stehen Vergangenheit und Zukunft einander durchaus gegenüber; es stehen Gestaltetes und Gestaltendes einander gegenüber, und das Gestaltete gestaltet auch das Gestaltende; das Geschöpf formt den Schöpfer. Das Erzeugte vergeht nicht nur in Vergangenheit, es bringt auch [dadurch] ein Erzeugendes hervor, und das ist wahrhafte Produktion. Daß . die Welt zu einer einzigen Gegenwart wird, bedeutet, daß sie zu einem einzigen Produktionsstil wird, daß immer wieder Neues, eine immer wieder neue Welt geboren wird. Das ist der Produktionsstil des geschichtlichen Schaffens. Es ist nicht nur ein kausales Entstehen von Dingen aus ihrer Umwelt, auch nicht nur, daß nach Art eines »Subjekts« (im obigen Sinne) ein Latentes explicite »wird« [wie in der organischen Welt]. Schaffen ist nicht, wie Bergson meint, ein gerichteter Prozeß, der auch nicht um eines Augenblickes Länge in die Vergangenheit zurückkehren könnte; Schaffen ist wesensmäßig dies, daß aus dem widersprüchlichen Gegenüberstehen von unendlicher Vergangenheit und unendlicher Zukunft Dinge als Einheit der Gegensätze entstehen. Wo das Geradlinige kreisförmig ist, da ist »Schaffen«, da ist wahrhafte »Produktion«. In der geschichtlichen Welt ist 156

Vergangenes eben nicht bloß Vergangenes; da ist, wie Piaton sagt, das Nichtseiende Seiendes. In der geschichtlichen Gegenwart stehen Vergangenheit und Zukunft einander durchaus widersprüchlich gegenüber, und aus diesem Widerspruch wird, als Einheit der Gegensätze, eine immer wieder neue Welt geboren. Dies nenne ich Dialektik des geschichtlichen Lebens. Wenn man die Vergangenheit, die etwas schon Entschiedenes, ein Gegebenes ist, als These setzt, so ergeben sich zahllose Möglichkeiten der Verneinung, also eine unbegrenzte Zukunft. Nun ist aber die Vergangenheit ein als Einheit der Gegensätze Entschiedenes; und nur das, was die Vergangenheit als Einheit der Gegensätze entschieden hat, entscheidet auch die wahrhafte Zukunft; die Antithese kommt zustande. So weit die Welt als Einheit der Gegensätze schöpferisch ist, soweit sie lebendige Welt ist, kommt diese Antithese notwendig zustande. In dem Maße, in dem das widersprüchliche Gegenüberstehen tief und groß, d. h. wahrhaftes Gegenüberstehen ist, wird als Einheit der Gegensätze eine immer wieder neue Welt geschaffen: dies ist die Synthese. Das Schaffen ist um so entschiedener, je entschiedener unendliche Vergangenheit und unendliche Zukunft einander in der Gegenwart widerspruchsvoll gegenüberstehen. Daß eine immer wieder neue Welt geschaffen wird, bedeutet ein nicht-bloßes-Verneinen und ein nicht-Verlorengehen der Welt der Vergangenheit; es bedeutet, daß sie 'aufgehoben' wird, wie man es in der Dialektik nennt. In der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt ist die unendliche Vergangenheit in der Gegenwart 'aufgehoben'. Auch nachdem wir Menschen geworden sind, haben wir die Tierheit nicht abgelegt.

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Damit Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart einander widersprüchlich gegenüberstehen, muß die Gegenwart notwendig Gestalt haben. Diese ist der Stil der Produktivität der geschichtlichen Welt. Da sehen wir — vom individuellen Standpunkt aus — handelnd-anschauend die Dinge, und da kann man von einem »vom Gestalteten zum Gestaltenden« sprechen. Umgekehrt: wo wir uns poietisch handelnd-anschauend verhalten, da ist geschichtliche Gegenwart. Die Gestalt des Lebewesens ist funktional. Daß das Lebewesen funktional sich verhält, heißt: es hat Gestalt. Die geschichtliche Gegenwart als Einheit der Gegensätze hat [hier] eine einzige Gestalt als ihren Produktionsstil. Indessen gibt es, wie schon gesagt, bei dem Produktionsstil des Lebewesens noch kein wahrhaftes Gegenüberstehen von Vergangenheit und Zukunft, noch keine wahrhaft geschichtliche Gegenwart. Da kommt es daher noch nicht dazu, daß die Gegenwart als Einheit der Gegensätze sich selbst bestimmt, oder daß die Gestalt sich selbst bestimmt. Folglich ist das Verhalten des Lebewesens nicht handelndanschauend; es ist mit Hegel gesprochen noch 'an sich'. Anders beim geschichtlich-gesellschaftlichen Produktionsstil. Hier, wo die Welt eine einzige Gegenwart ist, in welcher unendliche Vergangenheit und unendliche Zukunft einander gegenüberstehen, hier hat die Gegenwart als Einheit der Gegensätze ihre [je] eigene Gestalt, wobei sie sich gleichzeitig unendlich bewegt ; hier bestimmt die Gegenwart sich selbst; hier bestimmt die Gestalt sich selbst. Wenn man die Gegenwart nur abstrakt denkt, muß so etwas wie »von Gegenwart zu Gegenwart« als sprunghaft und unvermittelt erscheinen; in der Dialektik [der geschichtlichen Produktivität] aber ist das Gegenüberstehen schon Synthese und die Synthese ein Gegenüberstehen; da gibt es also auch kein Gegenüberstehen ohne Synthese und keine 158

Synthese ohne Gegenüberstehen; Synthese und Gegenüberstehen sind durchaus zweierlei und doch notwendig eins. Und in der praktischen Dialektik ist die Synthese nicht bloß ein sogenanntes Bedürfnis der Vernunft, sondern notwendig und wesentlich die Gestalt, welche der Wirklichkeit eigen ist, der Produktionsstil der Welt der Wirklichkeit. In der Gegenwartswelt der Einheit der Gegensätze, wo unendliche Vergangenheit und unendliche Zukunft, einander durchaus verneinend, sich verbinden, kann man die Synthese ideell [idea-artig; man muß hier an den ursprünglichen gestalthaften Sinn des griechischen Wortes denken] nennen; Hegels 'Idee' muß von solcher Art sein. Die Synthese verneint das Gegenüberstehen nicht; daher bewegt sie sich, als Einheit der Gegensätze, sich selbst widersprechend. Man kann sagen: die geschichtliche Gegenwart, die als Einheit der Gegensätze von Vergangenheit und Zukunft in sich selbst den Widerspruch einschließt, enthält immer etwas Transzendentes, d. h. etwas, das bereits das Selbst transzendiert hat. Nun ist etwas Transzendentes immer [zugleich auch] immanent. Daß also die Gegenwart Gestalt hat und in sich Vergangenheit und Zukunft einschließt, gerade dies ist wesensmäßig auch ein Verneinen des Selbst, ein Transzendieren des Selbst. Eine solche Welt ist notwendig ausdrucksartig, sich selbst bildende und gestaltende Welt in dem Sinne, wie das Individuum monadisch die Welt spiegelt und zugleich ein Gesichtspunkt der Perspektive ist. Die Welt, in der die Gegenwart in sich etwas einschließt, welches das Selbst transzendiert, bildet wesentlich sich selbst durch Ausdruck und Darstellung. In der Welt, wo Vergangenheit und Zukunft, einander verneinend, in der Gegenwart sich verbinden, sehen wir Dinge durch Akte des Ausdrucks. Und weil wir die Dinge so sehen, kann man 159

sagen: wir wirken. Dies Wirken ist nicht mechanisch und auch nicht teleologisch, sondern eben wahrhaft »logisch«. Was als Einheit der Gegensätze sich durch sich selbst bewegt, also das wahrhaft Konkrete, ist das logisch »Wahre«. In einer Welt von geradliniger Zeit, wo es keine Gegenwart gibt, da gibt es auch kein »wir wirken«. Wenn wir unser Selbstbewußtsein betrachten, wird dies alles deutlich werden: die Einheit der Gegensätze in der Weise der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart, das »vom Gestalteten zum Gestaltenden« und das »von Gegenwart zu Gegenwart«. Unser Selbstbewußtsein besteht ja darin, daß Vergangenheit und Zukunft sich auf dem Felde des Gegenwartsbewußtseins verbinden und daß dies [Verbinden] sich als Einheit der Gegensätze bewegt. Die Einheit des Bewußtseins, das Selbst, ist nicht in einem bloß geradlinigen Verlauf möglich. Daß meine Bewußtseinsphänomene viele — und doch, als meine, eins sind, ist wesentlich Einheit der Gegensätze in dem aufgezeigten Sinne. Auch das Selbst derjenigen, welche die Möglichkeit von so etwas wie Einheit der Gegensätze bestreiten, denkt dies in der Weise der Einheit der Gegensätze. Aber dies alles sage ich nicht, um durch das Erlebnis der Bewußtseinseinheit die objektive Welt zu erklären; im Gegenteil: nur dadurch, daß wir als Individuen einer Welt der Einheit der Gegensätze des Einen und des Vielen, d. h. monadisch sind, ist unser Selbst von dieser Art. Daß in der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt Subjekt und Umwelt, wie gesagt, einander gegenüberstehen und sich gegenseitig gestalten, bedeutet, daß Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart einander als Einheit der Gegensätze gegenüberstehen, vom Gestalteten zum Gestaltenden [sich bewegend]. Nim gibt es in der geschicht160

lichen Welt kein bloß »Gegebenes«. Gegebenes ist hier immer Gestaltetes. Auch Umwelt ist wesentlich ein geschichtlich Gestaltetes. Daß in der geschichtlichen Welt das Subjekt die »Umwelt« gestaltet, bedeutet also nicht etwa, daß eine Form einen Stoff gestalte. Auch die materielle Welt gestaltet nach Art der Einheit der Gegensätze sich selbst. In der Welt der geschichtlichen Gegenwart als Einheit der Gegensätze gibt es verschiedene Weisen des sich selbst Bestimmens, verschiedene Weisen der Produktivität. Diese werden als geschichtliche Gattungen gedacht: es sind die verschiedenen Formen der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist wesentlich der Stil der Poiesis. Daher schließt die Gesellschaft notwendig das Ideelle ein; hierin liegt der Unterschied zu der biologischen Gattung. Sofern die Gesellschaft ideell produktiv, d. h. in tiefstem Sinne poietisch ist, ist sie »lebendig«. »Ideell produktiv« bedeutet für mich aber keine Loslösung vom geschichtlich-materiellen Boden, kein bloßes »Kulturell«-werden. Dies würde eine Trennung des schöpferischen Subjekts von der Umwelt, ein Vergehen des Subjekts, ein bloßes bodenloses Ideellwerden der Idee bedeuten. Das Subjekt gestaltet die Umwelt; aber obgleich die Umwelt von dem Subjekt gestaltet wird, ist sie doch nicht bloß ein Ding und Stück des Subjekts, sondern steht ihm [selbständig] gegenüber und verneint dasselbe. Unser Leben wird von dem, was es selbst geschaffen hat, vergiftet und stirbt. Soll das Subjekt unbegrenzt weiterleben, so muß es sein Leben immer wieder von neuem anfangen; es muß als Gattung der geschichtlichen Welt der Einheit der Gegensätze geschichtlich-produktiv wenden. Es muß zu einer geistigen Bildekraft der geschichtlichen Welt überhaupt werden. Was es produziert, muß weltweiten Hori11 N i s h i d a , Die intelligible Welt

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zont haben, d. h. es muß die ganze Welt als Umwelt gestalten. Nur ein solches Subjekt kann ewig leben. Daß das Subjekt als geschichtliche Gattung weltschöpferisch wirkt, bedeutet nicht, daß das Subjekt verloren ginge, daß seine Besonderheit verloren ginge und es selbst bloß allgemein würde; man muß vielmehr sagen, daß die Welt der Einheit der Gegensätze, wo unendliche Vergangenheit und unendliche Zukunft von der Gegenwart umgriffen sind, einen Produktionsstil hat, in welchem verschiedene Subjekte in einer Welt-umweit zusammen bestehen, wobei jedes doch auch zugleich für sich geistig schöpferisch ist und die Ewigkeit berührt. Damit wird weder alles subjektiv Besondere verneint, so daß eine abstrakt allgemeine Welt entstünde, noch werden alle Subjekte teleologisch in einem einzigen Subjekte vereinigt. Das subjektive Dasein der Gattung deckt sich nicht immer mit einer besonderen Gestalt der Kultur, und diejenigen Subjekte, die nicht in irgendeinem Sinne geistig schöpferisch sind, werden in der Weltgeschichte nicht bestehen können. Das Lebensprinzip des Subjekts ist notwendig die Idee. Alles, was als Gestaltetes schon umweltartig geworden ist, und keine Kraft mehr besitzt, das Gestaltende zu gestalten, ist vom Subjekt isolierte Kultur. Wenn man die Welt nur als Gestaltetes betrachtet, so ist eine solche Betrachtungsweise nur »kulturell« [nicht philosophisch]. 2 In der Welt, die sich als Einheit der Gegensätze vom Gestalteten zum Gestaltenden bewegt, verbinden sich Vergangenheit und Zukunft, einander verneinend, in der Gegenwart, und die Gegenwart hat als Einheit der Gegensätze Gestalt und bewegt sich von Gegenwart zu Gegenwart, 162

sich selbst gestaltend. Die Welt bewegt sich immer als eine einzige Gegenwart vom Gestalteten zum Gestaltenden. Die Gestalt der Gegenwart als Einheit der Gegensätze ist der Stil der Produktivität der Welt. Diese Welt ist Welt der Poiesis. In einer solchen Welt sind Sehen und Wirken Einheit der Gegensätze; das Gestalten ist ein Sehen, und aus dem Sehen kommt das Wirken. Da sehen wir Dinge handelndanschauend, und weil wir sehen, gestalten wir. Wenn wir von Wirken sprechen, gehen wir vom individuellen Subjekt aus; aber wir wirken wesensmäßig nicht von außerhalb der Welt, wir sind immer schon in der Welt. Das Wirken ist notwendig ein Gewirktwerden. Soll unser Wirken nicht bloß mechanisch oder bloß teleologisch, sondern Gestaltung sein, so ist das Gestalten notwendig zugleich ein Gestaltetwerden. Als Individuum einer sich selbst gestaltenden Welt sind wir wesentlich selbst gestaltend. Die Welt, in der Vergangenheit und Zukunft, einander verneinend, sich in der Gegenwart verbinden und die als eine einzige Gegenwart sich durch die Einheit der Gegensätze fortschreitend selbst gestaltet, — diese Welt, so kann man sagen, bewegt sich aus der widersprüchlichen Verbindung von unendlicher Vergangenheit und unendlicher Zukunft. Damit will ich sagen, daß eine solche Welt in einer Hinsicht wie die Leibnizische Welt der Monaden gedacht werden kann, wo unzählige sich selbst bestimmende Individuen einander gegenseitig verneinen, sich verbinden; die Monade bewegt sich aus ihrem eigenen Innen heraus; sie ist ein zeitliches Kontinuum, wo die Gegenwart die Vergangenheit auf dem Rücken und die Zukunft unter dem Herzen trägt; sie ist eine Welt. Aber ein solches Verhältnis zwischen Individuum und Welt ist schließlich nichts

anderes als »Darstellung = Ausdruck«, wie Leibniz sagt. Die Monade spiegelt die Welt und ist zugleich ein Gesichtspunkt der Perspektive. Von einer solchen Welt der Einheit der Gegensätze des Einen und des Vielen kann man aber auch umgekehrt sagen, daß eine einzige Welt sich selbst auf unzählige Weisen ausdrückt. Die Welt, wo unzählige Individuen einander gegenseitig verneinend sich vereinigen, ist wesensmäßig auch umgekehrt eine einzige Welt, die, sich selbst verneinend, auf unzählige Weisen sich ausdrückt. In dieser Welt steht ein Ding dem andern ausdrucksartig gegenüber, und Zukunft und Vergangenheit haben, einander verneinend, sich in der Gegenwart verbunden. In dieser Welt schließt die Gegenwart in sich selbst in der Gegenwart immer etwas ein, das sich selbst transzendiert hat; hier ist das Transzendente immanent, das Immanente transzendent. Sowohl in der mechanischen Welt »von der Vergangenheit zur Zukunft« wie in der teleologischen Welt »von der Zukunft zur Vergangenheit« gibt es keinerlei objektiven »Ausdruck«. In der Welt des objektiven Ausdrucks muß notwendig dies, daß die Vielen viele sind, das Eine, und dies, daß das Eine durchaus das Eine ist, das Viele sein. In der Gegenwart als Einheit der Gegensätze, wo das Vergangene, obgleich es schon in das Nichts vergangen ist, doch noch Sein ist, und wo die Zukunft, obgleich sie noch nicht gekommen ist, doch schon sich zeigt, (d. h. in dem geschichtlichen Räume) stehen Dinge einander gegenüber und wirken ausdrucksartig aufeinander, — also weder kausal, als Notwendigkeit von der Vergangenheit her, noch teleologisch, als Notwendigkeit von der Zukunft her. Dies alles gilt nur von der geschichtlichen Welt, die sich nach Art der Einheit der Gegensätze, als eine einzige Gegenwart, von Gegenwart 164

zu Gegenwart bewegt, von der Welt, die vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin sich selbst gestaltet. Wenn von der Welt gesagt wird, daß sie, sich selbst gestaltend, vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, sich bewegt — so könnte dies sprunghaft und unvermittelt erscheinen. Es könnte auch fraglich erscheinen, ob es da noch ein Wirken von Individuen-geben könne. Aber ich denke gerade umgekehrt! Ein Individuum bestimmt notwendig und wesentlich sich selbst nach Art des »Ausdrucks«; es wirkt durch Akte des Ausdrucks. Die Gestalt, die der Welt eigen ist, erweist sich wesensmäßig als widersprüchliche Vereinigung, als Einheit der Gegensätze solcher Individuen. Umgekehrt sind die Ausdrucksakte der zahllosen Individuen nichts anderes als der Ausdruck des Selbst [die Selbstdarstellung] der Welt der Einheit der Gegensätze auf unzählige Weisen. Wir wollen einmal von der Einheit unseres Bewußtseins ausgehen: jedes einzelne unserer Bewußtseinsphänome ist selbständig und drückt sich selbst aus. Jedes einzelne behauptet und beansprucht [zugleich], daß es das Selbst sei. Und zwar ist unser Selbst nicht etwa, wie James sagt, einem Brandzeichen bei einer Schafherde vergleichbar, sondern etwas, das als verneinde Einheit der sich selbst ausdrückenden [Bewußtseinsphänomene] Gestalt hat. Dies wird »Charakter« oder unsere »Individualität« genannt. Das Selbst ist nicht auf transzendente Weise »draußen«, sondern unser Selbst ist da, wo wir uns unserer selbst bewußt werden. Unser jeweiliges Bewußtsein behauptet und beansprucht unser ganzes Selbst zu sein. Wo unser Bewußtsein [die einzelnen Akte] verneinend zur Einheit bringt, da ist das wahre Selbst. Auch bei der Einheit unseres Selbstbewußtseins verbinden sich Vergangenheit und Zukunft, einander widersprechend, in der Gegenwart; das 165

ganze Selbst ist als eine einzige Gegenwart der Einheit der Gegensätze von Vergangenheit und Zukunft produktiv und schöpferisch. Auch die Einheit des Bewußtseins, obwohl gemeinhin getrennt von der Welt abstrakt gedacht, ist, konkret betrachtet, als Individuum der durch Ausdruck sich gestaltenden Welt zu denken. Die Welt der Einheit der Gegensätze, in der jedes einzelne Individuum sich durch Ausdruck selbst durchaus als Individuum bestimmt, ist »physikalische Welt«, solange darin die individuellen Vielen, ihr Selbst verneinend, nur als Punktmenge gedacht werden. Die physikalische Welt ist eine Welt mathematischer Formen, die durch mathematische Zeichen ausdrückbar sind. Wenn dagegen gedacht wird, daß jedes Individuum auf seine eigene Weise die Welt ausdrückt, so ist damit die organische Welt, die Welt des Lebens, gedacht. Was sich seiner Umgebung anpaßt, gehört zur Welt der Biologie. Da hat das Individuum noch keine wahrhafte Ausdrucksfunktion. Wo endlich das Individuum durch Ausdruck sich durchaus selbst bestimmt, da ist die geschichtlich-gesellschaftliche Welt des Menschen. Da gestaltet die Welt als Gegenwart der Einheit der Gegensätze fortschreitend sich selbst. Wie die biologische Welt, so hat auch die materielle Welt — Gestalt. Aber beide sind nicht produktiv, nicht schöpferisch. Also kann man von ihnen noch nicht sagen: »von Gegenwart zu Gegenwart«, noch nicht wahrhaft sagen: »vom Gestalteten zum Gestaltenden«. Wo aber Vergangenheit und Zukunft, einander verneinend, in der Gegenwart sich verbinden, da wird die vori der Vergangenheit in die Zukunft [strömende] Zeit ausgelöscht; da ist die Bewußtseinsebene. Die geschichtliche Welt ist bezoußtseinsmäßig. Wenn man keine Ausdrucksfunktion annimmt, dann erscheint allerdings die Bewegung von Gestalt zu Gestalt 166

als unvermittelt; Funktion und Gestalt werden dann als voneinander unabhängig vorgestellt. Aber ein Wirken gibt es nur im Zusammenhang der ganzen Welt, in der Gestalt der ganzen Welt. Dies gilt auch von den physikalischen Erscheinungen. (Dies hat Lotze in seiner 'Metaphysik' klargemacht.) Man kann Funktion und Gestalt (Gestalt als Produktionsstil) nicht getrennt denken. Meistens allerdings stellt man sich Funktion oder Tätigkeit getrennt vom Zusammenhang der ganzen Welt auf abstrakte Weise vor. Physikalische und biologische Funktionen kann man zwar so denken, aber keineswegs die Ausdrucksfunktion. In der Welt als Einheit der Gegensätze, wo das Subjekt die Umwelt und die Umwelt das Subjekt gestaltet, ist auch die materielle Welt schon etwas Gestaltetes, und das Gestaltete gestaltet fortschreitend als Umgebimg das Subjekt. Die Entwicklung schreitet von der materiellen Welt zur biologischen und weiter zur Menschenwelt fort. Auf diese Weise bewegt sich die Wirklichkeit aus sich selbst, wenngleich man die Einheit der Gegensätze nicht nach Art der abstrakten Logik denken kann. Daß unser Wirken in dieser Welt ein Gestalten von Dingen ist, daß wir handelnd-anschauend Dinge sehen und dadurch wirken, hat seinen Grund darin, daß das Individuum insofern Individuum ist, als es durch seine Ausdrucksakte an der Gestaltung der Welt teilnimmt und zugleich eine Seite der Selbstbestimmimg der Welt als Einheit der Gegensätze ist. »Handelnd-anschauen« bedeutet, daß wir im Widerspruch zu uns selbst das Objekt gestalten und zugleich umgekehrt von dem Objekt gestaltet werden. Handelnd-anschauen [oder Tat-Anschauung] bedeutet die Einheit der Gegensätze von Sehen und Wirken. 167

Wenn Vergangenheit und Zukunft, einander verneinend, sich in der Gegenwart verbinden, wenn also die Gegenwart als Einheit der Gegensätze Vergangenheit und Zukunft umschließt, wenn die Gegenwart »Gestalt« hat, dann spreche ich von einer sich selbst gestaltenden Welt; diese Welt schreitet als eine einzige Gegenwart vom Gestalteten zum Gestaltenden fort, unendlich sich selbst gestaltend. Wir sind dadurch gestaltend, daß wir als Individuen eine solche Welt bewußt spiegeln·, wir gestalten Welt, d. h. wir vollziehen Akte des Ausdrucks. (Ausdruck ist Wirken durch die Vermittlung der Welt.) Darin haben wir unser »Leben«. Daß wir Dinge handelnd-anschauend sehen, heißt, daß wir sie dem Stil der Produktivität gemäß erfassen. In solchem Sinne ist das Sehen der Dinge ein Spiegeln der Welt. Von dieser Art ist gewiß auch das begriffliche Erfassen der Wirklichkeit bei Hegel. Die Dinge dem 'konkreten Begriff' gemäß erfassen, muß eben dies sein: (als etwas, das gestaltet wird und selbst gestaltet) die Dinge geschichtlich und dem Produktionsstil gemäß erfassen. Das Wesen der so erfaßten Dinge ist ihr 'konkreter Begriff'. Der konkrete Begriff wird nicht durch Abstraktion geformt, sondern handelnd-anschauend erfaßt. Da ist das Gestalten ein Sehen, der Ausdruck eine Darstellung. Unser Wirken hat seinen Ursprung darin, daß wir als Individuen die Welt spiegeln; wir gestalten die Dinge handelnd-anschauend und erfassen dadurch die Realität geschichtlich und dem Produktionsstil oder dem konkreten Begriff gemäß. Aus diesem Grunde ist auch das schöpferische Tun des Künstlers ein dem Stil der Produktivität gemäßes Erfassen des konkreten Begriffs der Dinge durch das Schaffen. (In solchem Sinne ist auch die Schönheit »Wahrheit«). Aber die Welt, in der unendliche Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart sich verbinden, und die als 168

Einheit der Gegensätze sich selbst fortschreitend gestaltet, ist wesensmäßig Welt, die transzendierend vollständig durch Zeichen ausgedrückt werden kann. Es ist die experimentelle Wissenschaft, die in solcher Welt-Hinsicht den Produktionsstil, d. h. den konkreten Begriff der Dinge, handelnd-anschauend erfaßt. Was ich handelnde Anschauung (Tat-Anschauung) nenne, ist hier das wissenschaftliche Experiment. Auch so etwas wie die Physik beginnt nicht allein mit der abstrakten .Logik, sondern damit, daß die Welt in dem Selbst gespiegelt wird, es beginnt also mit »Darstellung-Ausdruck«. Da wird der Produktionsstil der Welt nur in Zeichen dargestellt, d. h. er ist mathematisch. Was ich Tat-Anschauung nenne, ist keine bloß passive Schau. Etwas wie eine passive Schau wäre losgelöst von allem Handeln zwar vielleicht als abstrakter Begriff denkbar, ist aber in der Welt der Wirklichkeit nicht da. Wenn der konkrete Begriff, wie gesagt, als Produktionsstil der als Einheit der Gegensätze sich bewegenden Welt gedacht wird, so kann man sagen, daß das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig ist. Und hier heißt es : 'hic Rhodos, hic salta'. Die Wirklichkeit der handelnden Anschauung ist immer der Ort des Widerspruchs, und die Sache wird hier entschieden. Ob das Denken wahr oder falsch ist, wird gleichfalls hier entschieden. Wenn wir sagen, daß wir als Ausdrucksakte vollziehendes Selbst die Welt spiegeln, sind wir bewußtseinsmäßig; in bezug auf den Akt sind wir intentional. Wenn ein solcher Akt als bloßer Akt konstitutiv ist, ist er abstrakt-logisch. Der Abstraktionsakt bedeutet, daß das den Ausdrucksaktvollziehende Selbst durch Zeichen (d. h. sprachlich) die Welt spiegelt. Indem man durch die Ausdrucksakte Dinge konstruiert und dieselben handelnd-anschauend in der Wirklichkeit 169

sieht und dadurch den Produfctionsstil der sich selbst gestaltenden Welt erfaßt, folgt man der konkreten Logik. Handelnde Anschauung heißt nicht etwa, daß das Ganze vermittlungslos auf einmal sich vergegenwärtige. Anschauung bedeutet, daß unser Selbst als Gestaltungsakt der Welt in der Welt enthalten ist. Das Individuum ist dadurch Individuum, daß es durch Ausdrucksakte sich selbst gestaltet. D. h. das Individuum besitzt sein eigenes Selbst nur durch Selbstverneinung und ist ein Gesichtspunkt der sich selbst gestaltenden Welt. Die Welt ist fortschreitend sich selbst gestaltend, die verneinende Einheit unendlicher Individuen, welche Ausdrucksakte vollziehen. Wenn man sagt, daß in einer solchen Welt das Individuum Selbstgestaltung der Welt in sich begreift, ist das Individuum unendlich »begehrend«. Daß wir begehren, bedeutet weder, daß wir mechanisch, noch daß wir bloß teleologisch sind. Es bedeutet wesentlich, daß wir die Welt in uns »spiegeln«, es bedeutet, daß wir die Welt zur Vermittlung der Gestaltung des Selbst machen. Auch das Leben des Tieres ist schon von dieser Art, d. h. bewußtseinsmäßig. Selbst das Tier hat, je höher es entwickelt ist, notwendig eine Art Weltbild. Selbstverständlich nicht etwa auf bewußte oder selbstbewußte Weise. Aber der instinktive Akt des Tieres muß doch auch eine Art Gestaltungsakt sein. Er kann 'unbewußt' im Sinne von Ε. v. Hartmann genannt werden. Das Tier ist dadurch instinktiv, daß es unbewußt die sich selbst gestaltende Welt in sich trägt. Die Welt der Einheit der absoluten Gegensätze ist eine Welt, in der Vergangenheit und Zukunft, einander verneinend, in der Gegenwart sich verbinden, eine Welt, die als eine einzige Gegenwart fortschreitend sich selbst gestaltet; sie ist als [sich bewegende Welt] von dem Gestal170

teten zum Gestaltenden unendlich produktiv und schöpferisch. Solch eine Welt ist zunächst als vom Gestalteten zum Gestaltenden [sich Bewegendes], als von der Vergangenheit zur Zukunft [sich Bewegendes] auf biologische Weise produktiv. Das körperliche Leben des Lebewesens ist ein solcher Gestaltungsakt. Hier muß das Individuum bereits weder mechanisch noch bloß teleologisch, sondern gestaltend sein. Dies gilt von ihm, soweit es bewußt, wenn auch tierisch-leiblich ist. Aus diesem Grunde kann man sagen, daß das Verhalten des Tieres triebmäßig und in seiner Gestaltung instinktiv, nämlich leiblich, ist. Da ist das Sehen schon ein Wirken, und das Wirken ein Sehen, d. h. konstruktiv. Das System der Einheit der Gegensätze von Sehen und Wirken ist der Leib. Aber bei dem biologischen Leben steht noch nicht wahrhaft das Gestaltete dem Gestaltenden gegenüber, da ist das Gestaltete noch nicht unabhängig von dem Gestaltenden; folglich kann man da nicht sagen, daß das Gestaltete das Gestaltende gestaltet. Da kann man noch nicht sagen, daß die Welt wahrhaft als eine einzige Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltet. Da ist Gegenwart noch keine Gestalt, die Welt ist nicht wahrhaft gestaltend. Das biologische Leben ist nicht schöpferisch. Das Individuum hat noch keine Akte des Ausdrucks, ist also noch nicht frei. Ich habe gesagt, daß in der geschichtlichen Welt das Subjekt die Umwelt und die Umwelt das Subjekt gestaltet; aber das biologische Leben ist noch bloß der Umwelt gemäß und nicht geschichtlich subjektiv. Da ist die Bewegung noch nicht wahrhaft vom Gestalteten zum Gestaltenden, sondern nur von einem Gestalteten zu einem anderen Gestalteten. Wenn ich dies sage, so könnte man denken, daß dies meiner früheren Aussage, das biologische Leben sei bloß subjektiv, widerspreche; aber in der Welt des biologischen Lebens werden Subjekt und Umwelt noch nicht wahrhafte Ein171

heit der Gegensätze. In der Welt der wahren Einheit der Gegensätze bedeutet, daß das Subjekt sich wahrhaft in die Umwelt versenkt und sich selbst verneint, dies: daß das wahrhafte Selbst lebt; und daß die Umwelt das Subjekt umschließt und es gestaltet, bedeutet dies : daß die Umwelt sich selbst verneint und so zum Subjekt wird. Daß das Gestaltende sich selbst verneint und zum Gestalteten wird, bedeutet, daß es erst wahrhaft zum Gestaltenden wird. Eben dies heißt »vom Gestalteten zum Gestaltenden.« In der Welt des biologischen Lebens stehen immer Subjekt und Umwelt einander gegenüber; daß das Subjekt die Umwelt gestaltet, bedeutet umgekehrt, daß es von der Umwelt gestaltet wird. Das nur Subjekt-Sein ist der Grund für das Umweltsein. Dasjenige Subjekt aber, das durch Versenkung des Selbst in die Umwelt aus der Umwelt lebt, ist das geschichtliche Subjekt. Da ist die Umwelt nichts bloß Gegebenes, sondern Gestaltetes. Da kann man sagen, daß das Subjekt sich von der Umwelt wahrhaft befreit. Die Welt des biologischen Lebens ist noch nicht die Welt des 'An und für sich'. Auch die Welt des biologischen Lebens ist, wie oben geschildert, schon eine Einheit der Gegensätze; aber die geschichtliche Welt entwickelt sich dadurch von der Welt des Lebewesens zu der des Menschen, daß sie als vom Gestalteten zum Gestaltenden [sich Bewegendes] vollständig Einheit der Gegensätze ist. Das geschichtliche Leben konkretisiert sich dadurch selbst; die Welt wird zu etwas wahrhaft aus sich selbst sich Bewegendem. Ich sage nicht, daß diese Entwicklung lediglich als Kontinuität des biologischen Lebens [erfolgt]. Damit ist doch nicht gesagt, daß sie nur durch Verneinung des biologischen Lebens erfolgt. Es ist vielmehr dies, daß die geschichtliche Welt durch und durch Einheit der Gegensätze ist. Schon das biologische Leben enthält in sich den Widerspruch. Aber es ist 172

noch der Umwelt gemäß, noch nicht wahrhaft [eine Bewegung] vom Gestalteten zum Gestaltenden. Die Entwicklung gelangt an der äußersten Grenze dieses Widerspruchs zum Leben des Menschen. Selbstverständlich ist es das Resultat einer viele Millionen Jahre langen mühsamen Arbeit des geschichtlichen Lebens. An der äußersten Grenze des wirkenden Lebens, welches vom Gestalteten zum Gestaltenden [sich bewegt], wird ein Stadium erreicht, wo das Subjekt dadurch lebt, daß es sich in die Umwelt versenkt, und wo die Umwelt dadurch zur Umwelt wird, daß sie, sich verneinend, sich subjektiviert. Vergangenheit und Zukunft verbinden sich widersprüchlich in der Gegenwart, und als Einheit der Gegensätze schreitet die Welt von Gegenwart zu Gegenwart sich selbst gestaltend fort; d. h. die Welt ist produktiv und schöpferisch. Der Leib ist nicht biologisch-leiblich, sondern geschichtlich-leiblich. In dem Gestalteten haben wir unseren Leib. Der Leib des Menschen ist »schaffend«. Wir sind als biologische Individuen schon dadurch begehrend, daß wir, uns verneinend, die Welt spiegeln; wir sind instinktiv gestaltend. In der Welt, die als Einheit der Gegensätze vom Gestalteten zum Gestaltenden [sich bewegt], haben wir durchaus ein Begehren von der Art eines ausdrucksartigen Gestaltens; wir haben ein Schaifens-begehren [einen Schaffenstrieb]. Daher sind wir als Individuen der Welt der Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen wahrhaft Individuen. Daß wir durch Ausdrucksakte die Welt gestalten, bedeutet umgekehrt, zugleich, daß wir uns selbst als einen Gesichtspunkt der Welt gestalten, und daß die Welt, als verneinende Einheit unzähliger, durch Ausdrucksakte gestaltender Individuen, sich selbst gestaltet. Schon von dem instinktiven Gestalten des Lebewesens läßt sich dies mit Recht aussagen. Auch der Instinkt muß aus der Beziehimg 173

zwischen dem Lebewesen und der Welt verstanden werden (Behaviorismus). Der Instinkt des Menschen ist wesentlich nicht nur leibliche Gestaltung, sondern geschichtlichleiblich, d. h. »schaffend«. Die Handlung des Menschen entsteht daraus, daß er durch Ausdrucksakte die Welt spiegelt; sie entsteht daraus, daß er schaffend-leiblich Dinge sieht. Daß er handelnd-anschauend Dinge sieht, bedeutet, daß er schaffend-leiblich Dinge sieht. Wir sehen Dinge schaffend-leiblich, und vom Sehen der Dinge aus wirken wir. In dem schaffend-leiblichen Selbst bilden das Sehen und das Wirken eine Einheit der Gegensätze. Daß man Dinge schaffend-leiblich sieht, bedeutet, daß man Dinge dem Produktionsstil gemäß erfaßt, d. h. als 'konkreten Begriff' erfaßt. Es bedeutet, daß man als ausdrucksartiges Selbst und vom Standpunkte der Gegenwart der Einheit der Gegensätze aus Dinge erfaßt. Das ist der Standpunkt der wahren konkreten Logik. Da ist das Wahre das Reale. Das abstrakte Wissen ist diesem Standpunkt fern. Aber ohne den Standpunkt des Experiments kann kein objektives Wissen bestehen. Der wissenschaftliche Standpunkt ist nicht Verneinung dieses Standpunkts, sondern gerade das folgerichtige Verharren auf demselben. Der Widerspruch liegt darin, daß wir handelnd-anschauend sind, daß wir schaffend-leiblich sind. Daher schreiten wir als Einheit der Gegensätze vom Gestalteten zum Gestaltenden fort und transzendieren das Gegebene als Gestaltetes. Es ist zu erwarten, daß wir am Ende zu etwas gelangen, welches das Handelnd-anschauende [und] das Leibliche transzendiert hat. Aber [dieses Transzendierende] muß durchaus von diesem ausgehen und zu diesem zurückkehren. Wenn ich sage, daß in der Welt unendliche Vergangenheit und Zukunft einander verneinend sich in der Gegenwart verbinden und daß die Welt als Gegenwart der Einheit der 174

Gegensätze sich selbst gestaltet, wird die Welt durchaus als überleiblich durch Zeichen ausgedrückt, sie wird als bloß gedanklich gedacht. Dies heißt aber nicht, daß sie sich von unserem geschichtlichen Leib völlig trennt. Alles, was uns in der Welt der Einheit der Gegensätze gegeben ist, ist notwendig als Aufgabe gegeben. Uns ist in dieser Welt die Aufgabe auferlegt, zw gestalten. Darin haben wir unser Leben. Wir kommen mit einer Aufgabe auf die Welt. Das Gegebene ist weder etwas bloß zu Verneinendes noch etwas bloß Vermittelndes oder zu Vermittelndes. Es ist etwas, das gegeben ist, um vollendet zu werden, also etwas leiblich Gegebenes. Wir sind nicht mit nichts auf diese Welt gekommen, sondern wir sind mit einem Leib geboren worden. Man kann sagen: eben darin, daß wir mit dem Leib geboren werden, ist schon durch die geschichtliche Natur eine Aufgabe gelöst worden; zugleich sind darin (wie beim Insektenauge) unendliche Aufgaben als Einheit der Gegensätze enthalten. Daß wir mit dem Leib geboren werden, bedeutet, daß wir mit unendlichen Aufgaben beladen geboren werden. Das, was unserem handelnden Selbst wahrhaft unmittelbar gegeben ist, ist etwas, das als ernste Aufgabe uns objektiv gegenübertritt. Die Wirklichkeit ist etwas, das uns umschließt und bedrängt. Sie ist weder bloß materiell, noch vermittelnd. Sie fragt unser Selbst: 'Willst du das tun oder sterben?' Wo die Welt als eine einzige Gegenwart der Einheit der Gegensätze mir entgegentritt, da ist das wahrhaft Gegebene. Das wahrhaft Gegebene, die wahre Wirklichkeit, muß etwas sein, das gefunden wird. Wenn wir wissen, wo der Widerspruch der Wirklichkeit ist, haben wir das uns wahrhaft Gegebene. Das bloß Gegebene ist nichts anderes als etwas abstrakt begrifflich Gedachtes. Da wir leiblich sind, bilden wir eine Einheit der Gegensätze. Die Welt, die uns han175

delnd-anschaulich entgegentritt, drängt auf unsere Antwort : Leben oder Tod. Als Individuum einer Welt der Einheit der Gegensätze ist die Art und Weise unseres Selbst durch die Ausdrucksfunktion bestimmt und unser Selbst wirkt, indem es handelnd-anschauend und schaffend-leiblich Dinge sieht. Als »vom Gestalteten zum Gestaltenden«, haben wir unseren Leib an und in dem Gestalteten, d. h. wir sind geschichtlich-leiblich. Dies aber heißt wesentlich, daß wir Menschen gesellschaftlich sind. Der 'homo faber' ist '^ώον -ττολιτίκόν' und daher auch wesentlich, 'λόγον εχων'. Die Familie ist die Grundlage des gesellschaftlichen Aufbaus des Menschen, die Keimzelle der Gesellschaft. Nach der Deszendenztheorie wäre auch die Familie auf so etwas wie den Gruppeninstinkt der Tiere zurückzuführen. Der Gorilla lebt, ganz ähnlich wie primitive Menschen, mit vielen Weibchen. Bei der instinktiven Gruppe der Tiere und der Gesellschaft der Menschen sind aber, wie Malinowski u. a. sagen, Instinkt und Kultur notwendig und wesentlich verschieden. (Malinowski, 'Sex and repression in savage society'). Schon so etwas wie ein 'Oedipuskomplex' zeigt, daß die menschliche Familie gesellschaftlich und von der tierischen Gruppe verschieden ist. Instinkt ist ein einer gewissen species gemeinsamer und in der organischen Konstitution begründeter Typus des Verhaltens. Auch die Zusammenarbeit der Tiere wird durch innere Anpassung des Instinktes bestimmt und ist von der gesellschaftlichen Struktur bei den Menschen verschieden. Wie primitiv die gesellschaftliche Struktur bei den Menschen auch sein mag, so enthält sie doch wesentlich Individualität. Trotz ihres Gruppencharakters enthält sie doch auch wesentlich ein nicht-gruppenmäßiges Verhalten von 176

Individuen. Daher ist die menschliche Gesellschaft notwendig etwas, das gestaltet werdend und gestaltend fortschreitet, während die auf den Instinkt gegründete Gruppe der Tiere [nur] ein Gegebenes ist. Während die primitive Gesellschaft von den meisten als bloße Gruppenbildung angesehen wird, möchte ich der Meinimg Malinowskis beistimmen, wonach sie wesentlich von Anfang an die 'Person' in sich begreift. Auch in der primitiven Gesellschaft gibt es Sünde. (Malinowski, 'Crime and customs in savage society'). Dies zeigt, daß die Gesellschaft im Gegensatz zur instinktmäßigen Gruppe als Einheit der Gegensätze der Vielen und des Einen vom Gestalteten zum Gestaltenden sich bewegt. Der individuelle Mensch wirkt wesentlich nicht instinktiv durch Anpassung, sondern gestaltend durch Ausdruck. Die Gesellschaft "beginnt mit der Unterdrückung des Instinktes, wie ζ. B. die Blutschande eine große Rolle im Aufbau der primitiven Gesellschaft spielt. Wo das Verhältnis zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, sowie zwischen Geschwistern nicht instinktiv, sondern durch Institutionen gebunden ist, da sprechen wir von Gesellschaft. Worin besteht die Grundlage für das Entstehen von »Gesellschaft« ? Wie ich schon gesagt habe, ist sie in dem »vom Gestalteten zum Gestaltenden«, d. h. in der Einheit der Gegensätze von Subjekt und Umwelt zu suchen. Man kann sagen, daß die Gesellschaft mit der 'Poiesis' anfängt. Es können verschiedene charakteristische Merkmale angegeben werden, wodurch sich die primitive Gesellschaft von so etwas wie der instinktmäßigen Gruppe der Tiere unterscheidet; aber sie müssen alle von der Poiesis ausgehen. Das ist der Grund, warum ich die Gesellschaft als geschichtlich-leiblich denke. Die Gesellschaft kann wohl auch als wirtschaftlicher Mechanismus gedacht werden, denn sie ist notwendig durch 12 Ν ¡ s h i d a , Die intelligible Welt

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und durch auch materiell-produktiv. Darin hat sie ihre reale Grundlage. Aber natürlich ist sie poietisch. Der Mensch unterscheidet sich dadurch vom Tier, daß er Werkzeuge hat. Vom Gestalteten zum Gestaltenden entwickelt sich der wirtschaftliche Mechanismus der Gesellschaft. Das Familiensystem etwa kann ja auch von dieser Seite des wirtschaftlichen Mechanismus aus betrachtet werden. Über den Ursprung des Eigentums sind die Ansichten der Gelehrten geteilt, aber so viel ist gewiß, daß es aus unserer geschichtlich-leiblichen Gestaltung entspringt, also daraus, daß wir an den Dingen unseren eigenen Leib haben. Die als Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltende Welt ist von einer anderen Seite her gesehen notwendig auch [eine Bewegung: von dir Umwelt zu dem Subjekt. Ich habe gesagt, daß dies dem organischen Leben der Lebewesen eigentümlich sei; aber damit ist nicht gesagt, daß der Mensch es schon hinter sich gelassen habe. Wenn es zur Welt des Menschen als Einheit der Gegensätze gekommen ist, bleibt es nicht mehr beim bloß Instinktiven, sondern geht über zur Gestaltung durch Ausdrucksfunktion. Dies bedeutet, daß die Umwelt durch Selbstverneinung ganz und gar subjekt-artig wird. In der Welt des Menschen als Einheit der Gegensätze ist das Subjekt notwendig dadurch Subjekt, daß es sich in die Umwelt versenkt. Und die Umwelt ist notwendig dadurch Umwelt, daß sie durch Selbstverneinung subjektartig wird. Diese Beschaffenheit der Welt bedeutet nichts anderes, als daß das Individuum, welches durch Ausdrucksfunktion gestaltet und in sich die Welt spiegelt, wesentlich als eine Seite und Perspektive der sich selbst gestaltenden We't so beschaffen ist, daß es sein Subjekt an der objektiven Welt hat. Daß wir aber in den Dingen unser Selbst 178

haben, bedeutet, daß wir Eigentum haben. Daß wir Eigentum haben, kommt also nicht allein von dem Wirken des Individuums, sondern es muß von der objektiven Welt anerkannt sein. Das Eigentum muß in der Welt als etwas Ausdruckfinden,das zu einem gewissen Individuum gehört; es muß von der Souveränität anerkannt sein. Die Welt, die als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen durch Ausdrucksfunktion sich selbst gestaltet, ist notwendig rechtlich. Daß wir an den Dingen unseren Körper haben, ist notwendig rechtlich. Auch nach Hegel (Philosophie des Rechts § 29) ist es das Recht, wodurch das Dasein als Dasein des freien Willens angesehen wird. Daß wir, als vom Gestalteten zum Gestaltenden uns Bewegende, poietisch sind, geschichtlichleiblich sind, bedeutet, daß unsere Gesellschaft nicht instinktmäßig, sondern bereits rechtlich ist. Nur in einer Welt, die auch rechtliche Bedeutung hat, ist Poiesis möglich. Nach den Soziologen ist auch die Produktionstätigkeit der primitiven Gesellschaft im weiteren Sinne rechtlich geordnet. Man kann diese Sozialsysteme auch umgekehrt Gestalten möglicher Entwicklung der poietischen Produktion nennen; sie bilden eine je besondere Weise des geschichtlichen Produktionsstils. Die Welt der geschichtlichen Produktivität ist als Bewegung vom Gestalteten zum Gestaltenden in ihrer Umweltlichkeit notwendig materiell-erzeugend, materiell-produktiv. Darin liegt der Grund der Machiavellischen Staatsraison, hier liegen die Bedingungen der Möglichkeit der geschichtlich-produktiven Welt. Die Welt, die, sich selbst gestaltend, vom Gestalteten zum Gestaltenden fortschreitet, ist notwendig als vom Gestalteten [herkommend] materiell-produktiv. Die Gesellschaft muß einen wirtschaftlichen Mechanismus haben, sie 12. 179

ist materieller Produktionsstil. Aber dies bedeutet weder, daß die Welt mechanisch sei, noch, daß sie bloß teleologisch sei, sondern, daß die Welt als eine einzige Gegenwart sich selbst gestaltet. Da muß als Einheit der Gegensätze der geschichtliche Gestaltungsakt schon wirksam geworden sein. Es ist notwendig, daß die Welt als Einheit der Gegensätze das Absolute berührt. Auf dem Grunde der Entstehung der Gesellschaft ist etwas Religiöses wirksam. Daher ist die primitive Gesellschaft mythisch. In der primitiven Gesellschaft ist der Mythos die lebendige Realität, welche die menschliche Gesellschaft beherrscht (Malinowski, 'Myth in primitive Psychology'). Es wird berichtet, daß die antike Religion eher ein Sozialsystem als eine Religion war. (Robert Smith.) Ich denke, daß auf dem Grunde der Entstehung der Gesellschaft etwas Dionysisches wirksam ist. Ich neige zu der Ansicht Harrisons, daß die Götter aus dem dionysischen Tanz geboren wurden. ('Jane Harrison, 'Themis'). Eine bestimmte Kultur soll dadurch zustande kommen, daß ein bestimmtes Volk in einer bestimmten geographischen Umgebtang lebt. Es versteht sich von selbst, daß die geographische Lage einen wichtigen Faktor für die Gestaltung der Kultur bildet. Aber es ist nicht die geographische Lage, die die Kultur [als solche] gestaltet; auch vom Volke kann man nicht sagen, daßes vor der geschichtlichen Gestaltwerdung latent da sei. Auch das Volk wird notwendig dadurch gestaltet, daß es selbst gestaltet. Wenn die Welt als eine einzige Gegenwart, welche eine Einheit der Gegensätze bildet, sich selbst gestaltet, ist sie die Welt des [biologischen und geschichtlichen] Lebens, die Welt der unendlichen Gestalten, die Welt der [Gattungen]. Bei dem Tiere ist diese [Lebensgestalt] instinktiv, beim Menschen dämonisch. Und wie bei den Tieren ist sie, sofern sie eben als Bewegung vom Gestalteten zum 180

Gestaltenden schöpferisch ist, [wahrhaft] lebende Gattung. Das Volk ist eine solche dämonische Gestaltungskraft. »Vom Gestalteten zum Gestaltenden« bedeutet: das Gestaltete, als von der Gattung Gestaltetes, gestaltet das Gestaltende; dadurch ist es ideen-artig, weit-artig [weltgeschichtlich] ; die Gestaltung der Gattung ist eine Weise der geschichtlichen Produktivität. Als Einheit der Gegensätze in dieser Richtung fortzuchreiten, ist geschichtliche Entwicklung. Wie das instinktive Verhalten der Tiere, so geht auch unser Handeln davon aus, daß wir auf die Weise der Einheit der Gegensätze die Welt spiegeln, d. h. daß wir geschichtlichleiblich sind. Dies bedeutet, daß unser Handeln gesellschaftlich entsteht. Auch die personalen Gegensätze von Ich und Du kommen aus der gesellschaftlichen Entwicklung. Aus der gesellschaftlichen Bezogenheit heraus entwickelt sich das Selbstbewußtsein des Kindes. Dies hat seinen Grund darin, daß Gesellschaft als Selbstgestaltung der einen Gegenwart zustande kommt, die nach der Weise der Einheit der Gegensätze ist. Wie es im biologischen Leben den biologischen Leib als Gestaltung nach der Weise der Einheit der Gegensätze gibt, nämlich was man gemeinhin »Leib« nennt, ebenso gibt es im geschichtlichen Leben einen geschichtlichen Leib, handelnd-anschauend, nämlich die Gesellschaft. Tat-Anschauung aber heißt, daß wir die als Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltende Welt als deren Individuen dem Produktionsstile derselben gemäß erfassen, daß wir sie, mit Hegel gesprochen, begrifflich erfassen, daß wir die Realität poietisch 'begreifen'. Eine solche geschichtlich-leibliche, handelnd-anschauende Gesellschaft ist durch die Einheit der Gegensätze begründet und schreitet daher notwendig, widersprüchlich sich selbst 181

transzendierend, fort. Dieses sich selbst transzendierende Fortschreiten ist aber durchaus keine Loslösung von dem realen Grunde. Wenn die Welt sich von diesem löste, würde sie zu einer bloß abstrakten Welt. Die tatanschauliche Wirklichkeit darf nicht vom Standpunkt der abstrakten Logik aus verneint werden; die Verneinung muß aus dem Widerspruch der Wirklichkeit mit sich selbst [heraus erfolgen]. Das Gegebene ist geschichtlich-individuell gegeben. Der Widerspruch des Lebens liegt im Begriff des Lebens überhaupt. Und immerfort bleibt der Widerspruch, [wie weit die Entwicklung auch fortschreiten mag]. Seinen Höhepunkt erreicht der Widerspruch beim. Menschen. Vom Widerspruch aus gesehen, gibt es keine Möglichkeit, sich von ihm frei zu machen. Das ist der Grund, warum die religiösen Menschen von der sogenannten Erbsünde sprechen. Als Nachkommen Adams, der die verbotene Frucht gegessen hat, werden wir immer schon mit der Erbsünde beladen geboren. 3 Die Welt, die als Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltet, ist die Welt der Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen; und wir, die wir als Individuen einer solchen Welt durchaus uns selbst bestimmen, sind notwendig unendliches Begehren, sind notwendig Wille zum Leben. Die Welt aber gebiert und tötet uns. Die Welt tritt uns mit unablässigem Drängen gegenüber und bedroht uns. Indem wir mit ihr kämpfen, leben wir. Für das abstrakte intellektuelle Selbst wird so etwas wie ein bloß Gegebenes gedacht werden können; was aber uns als individuellem Selbst gegeben ist, ist uns als Aufgabe gegeben. 'Leben oder Tod?' — so fragt uns die Welt. Die dem individuellen Selbst gegebene Welt ist keine allgemeine 182

Welt, sondern eine besondere Welt. Dies gilt um so mehr, je individueller wir sind. Man kann das auch umgekehrt ausdrücken: je mehr die Welt der Einheit der Gegensätze [als je besondere Welt] einzigartig ist, desto individueller ist das Individuum. Daher kann man sagen, daß das Individuum dadurch Individuum ist, daß es der absoluten Einheit der Gegensätze, d. h. dem Absoluten gegenübersteht. Das Individuum ist dadurch Individuum, daß es das eigene Leben und den eigenen Tod zur Vermittlung macht. Dies bedeutet, daß das Individuum die handelnde Anschauung (»Tat-Anschauung«) zur Vermittlung macht. Hier liegt auch die Ursache für die Entstehung der Gattung der Lebewesen. Das Individuum steht immer der absoluten Einheit der Gegensätze gegenüber, also demjenigen, das uns fragt: Leben oder Tod? Indem hier auf die Weise der Einheit der Gegensätze »ein« [gemeinschaftlicher] Produktionsstil entsteht, lebt das Individuum. Natürlich werden da immer verschiedene Stile möglich sein. Das ist der Grund, warum verschiedene Gattungen entstehen. In der Welt der Einheit der Gegensätze der Vielen und des Einen entsteht, soweit der Gegensatz aufgehoben ist, eine Gattung. Das Leben der Gattimg kommt zustande, soweit es handelnde Anschauung (Tat-Anschauung) gibt. Sowohl das Leben als auch die Gattung sind schon dialektisch (sind schon begrifflich). Soweit das Individuum durch die Gattung und die Gattimg durch das Individuum lebt, kann man von einem Leben der Gattung sprechen. Leben ist immer ein Sich-bewegen, und soweit es ein Sich-bewegen gibt, gibt es Leben. Dialektische Entwicklung darf nicht als Verneinung des Gegebenen von außen her aufgefaßt werden; sie ist wesentlich dies, daß das Gegebene selbst, als sich selbst Widersprechendes, fortschreitet, indem es aus seinem Innern heraus das eigene Selbst transzendiert. Schon das biologische Leben ist weder 183

mechanisch noch teleologisch. Auch was heute als Gattung fixiert ist, ist nur Resultat einer unendlichen dialektischen Entwicklung und muß einmal sich verändern und vergehen. Wenn man auch von einer festen Gattung spricht, so bewegt sie sich doch innerhalb gewisser Grenzen. Die Fixierung einer Gattung bedeutet nur, daß die Gattung eine maßgebliche Gestalt angenommen hat. Es könnte übertrieben erscheinen, wenn wir in bezug auf die Tiere von 'handelnd-anschauend' und 'begrifflich' sprechen. Aber auch das Leben der Tiere ist, als Selbstbestimmimg der im Widerspruch einheitlichen Gegenwart, notwendig gestaltungsfähig; Sehen und Wirken sind [auch da schon] untrennbar. Das tierische Auge ζ. B. entstand wesentlich als Resultat einer Gestaltung auf die Weise der Einheit der Gegensätze; es ist nicht zu trennen von dem Leben der Gattung. Wo auf diese Weise der Einheit der Gegensätze Realität erfaßt wird, da ist Tat-Anschauung. Dies bedeutet, daß da der schöpferische Produktionsstil erfaßt wird. Auch beim biologischen Leben ist die Gattung notwendig durch einen solchen dialektischen Prozeß entstanden. Daher kann man in ihrem tiefsten Grunde eine Idee denken. Die »Idee« ist wesentlich nicht »ideell«, sondern — wie bei Hegel — ein dialektischer Gestaltungsakt. So etwas wie eine vom Handeln getrennte Anschauung ist entweder nur abstrakt gedacht oder überhaupt nur eine Illusion. Leben ist unendliches Sich-bewegen. Da gibt es immer unendliche Richtungen, da gibt es unendliche Möglichkeiten des Scheines [unendliche Möglichkeiten für die Einbildungskraft]. Dies gilt um so mehr, je mehr das Leben auf die Weise der Einheit der Gegensätze ist. Je tiefer wir in der Individualität sind, desto reicher ist auch der Schein. Wenn dann auf die Weise der Einheit der Gegensätze ein Gestalten zustandekommt, wo wir handelnd-anschauen, so 184

ist da unser individuelles Leben, ist da unser wahres Selbst. Da stehen wir dem gegenüber, was uns fragt: Leben oder Tod? Wo unser Wirken sich von solcher Tat-Anschauung löst, da ist es bloß mechanisch oder bloß teleologisch. Auch das Sollen ist, wenn es sich von der handelnden Verwirklichimg trennt, bloß formal. Auch unser Leben als Gattung ist als Folge einer unendlichen dialektischen Entwicklung entstanden. Aber wenn wir nur traditionell auf die Weise der Gattung wirkten, würde dies eine Mechanisierung des Selbst und den Tod der Gattung bedeuten. Wir müssen von Stunde zu Stunde schöpferisch sein. Mit Tat-Anschauung meine ich nicht etwa, daß das Ganze sich auf einmal passiv vergegenwärtigt. Wenn dies der Fall wäre, würde das Selbst verloren gehen; es würde zu einem bloßen Allgemeinen. Tat-Anschauung soll im Gegenteil bedeuten, daß wir der Welt, die unserem Selbst entgegentritt, durchaus als Individuen auf die Weise der Einheit der Gegensätze gegenübertreten, d. h. daß wir schöpferisch sind. Wenn ich sage, das Individuum stehe immer der absoluten Einheit der Gegensätze gegenüber, d. h. demjenigen, das uns fragt: 'Leben oder Tod?', so meine ich, daß es notwendig Leben und Tod sind, wodurch das Individuum Individuum ist. Das Individuum lebt und stirbt; sonst wäre es kein Individuum. Auch das biologische Leben ist Leben und Tod des Einzelwesens. Der Tod ist das Hineingehen in das absolute Nichts, Geborenwerden ist das Hervorkommen aus dem absoluten Nichts. Dies gilt nur von einer Selbstbestimmimg der im Widerspruch identischen Gegenwart. Auch das biologische Leben ist notwendig gestaltend; da gibt es insofern notwendig schon so etwas wie Tat-Anschauung. Handelnd-anschauende Gestaltungstätigkeit ist dies: daß das Individuum einer Transzendenz, dem Absoluten, gegen185

übersteht und die Einheit der Gegensätze zur Vermittlung hat. Auf diesem Standpunkte des Individuums entsteht das wahre Sollen. Sonst wird es unvermeidlich willkürlich. Das konkrete Sollen entsteht notwendig aus unserem eigenen Selbstwiderspruch, indem wir durch das uns selbst Verneinende ein individuelles Dasein leben. Schon als begehrendes leibliches Dasein sind wir ein sich selbst widersprechendes Dasein. Das wahre konkrete Sollen ist notwendig etwas, das als Forderung einer Transzendenz von außen an uns herantritt; es ist notwendig etwas, das durch die Poiesis zum Vorschein kommt. (Der wahren Praxis dient immer die Tat-Anschauimg zurVermittlung.) Da wir leiblich sind, sind wir im Grunde unseres eigenen Daseins im Widerspruch mit uns selbst. Und da wir geschichtlich-leiblich sind, sind wir durchaus sollens-artig. Aus dem bloß logischen Widerspruch kommt das konkrete Sollen nicht; was uns als das wahre Absolute entgegentritt, ist nicht ein logisch gedachtes Absolutes, sondern wesentlich das, was uns in der Wirklichkeit fragt: Leben oder Tod? Die Welt, als Einheit der Gegensätze vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, gestaltet wesentlich sich selbst als im Widerspruch identische Gegenwart und schreitet auf solche Weise fort. Die Welt, die sich vom Gestalteten zum Gestaltenden bewegt, hat die handelnd-anschauliche Gegenwart zum Mittelpunkt und enthält eine Bewußtseinsebene, die unendlich ihr eigenes Selbst widerspiegelt. Wenn man sagt, daß unendliche Vergangenheit und unendliche Zukunft widersprüchlich in der Gegenwart sich vereinigen, so muß es einen Standpunkt geben, auf dem die Zeit ausgelöscht ist. Die Selbstgestaltung der im Widerspruch identischen Gegenwart hat notwendig das Bewußtsein zu ihrem Momente. Die Gestaltungstätigkeit ist weder mechanisch noch bloß teleologisch, sondern wesentlich be186

wußtseinsmäßig. Und wenn man sagt, daß die Welt als eine einzige Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestalte, so ist damit bereits auch gesagt, daß die Gegenwart die Gegenwart selbst transzendiert und daß das Bewußtsein, indem es etwas, das sich selbst transzendiert hat, widerspiegelt, intentional ist. Die Welt, welche die im Widerspruch identische Gegenwart zum Mittelpunkt hat, wird wesentlich durch Symbole ausgedrückt. Aber auch von der handelnd-anschaulichen Wirklichkeit aus ist es möglich, daß die Welt völlig ausdrucksmäßig [symbolisch], m. a. W. abstrakt begrifflich, gedacht wird. Die Welt als Einheit der Gegensätze hat eine solche Selbstverneinung zu ihrem Moment. Wir stehen stets der absoluten Einheit der Gegensätze gegenüber; dies gilt um so mehr, je individueller wir sind. Aus diesem Grunde kann man sagen, daß die Welt, die als Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltend fortschreitet, durchaus logisch ist. In der Selbstgestaltung der Welt als Einheit dei Gegensätze, wo in der Bewußtseinsebene die Zeit ausgelöscht ist, ist die Welt durchaus sich bewegend. Es kann da sogar auch von der Tat-Anschauung abgesehen werden. Es kann gedacht werden, daß wir da [imbeschränkt] frei denken und handeln können. Wir lösen uns von dem, was als Einheit der Gegensätze uns entgegensteht; da ist eine Welt der abstrakten Freiheit.. Aber dies ist nur die Richtung, in der wir real die Welt und uns selbst verlieren. Vielmehr tritt unser Bewußtsein als Moment der Selbstgestaltung der Welt der absoluten Einheit der Gegensätze hervor, und umgekehrt. Daß Vergangenheit und Zukunft, sich selbst widersprechend, in der Gegenwart sich in der Weise des Bewußtseins vereinigen, bedeutet umgekehrt notwendig, daß die Welt, sich selbst widersprechend, sich selbst gestaltet. In dem Maße, in dem wir bewußtseinsmäßig frei sind, stehen wir umgekehrt 187

(handelnd-anschauend) der absoluten Einheit der Gegensätze gegenüber. Indem wir Individuen der als Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltenden Welt sind, stehen wir durch und durch demjenigen gegenüber, das uns fragt: Leben oder Tod? Das ist der Grund, warum unser Bewußtseinsakt durch und durch Sollenscharakter hat. Wie ich oft gesagt habe, ist das, was ich Tat-Anschauung nenne, weder instinktiv noch künstlerisch. Natürlich wird man sagen dürfen, daß der Instinkt der noch nicht entwickelte Zustand derselben und die Kunst ein Grenzfall ist. Aber [ihrem Wesen nach] ist Tat-Anschauung die fundamentalste und konkreteste Weise bewußtseinsmäßiger Erfassung von Realität. Der Begriff wird nicht durch bloße Abstraktion gebildet. Etwas begrifflich erfassen, heißt, es handelnd-anschauend erfassen. Durch Tat-Anschauung begreifen wir ein Ding begrifflich. (Begriff ist Begreifen)1. Etwas handelnd-anschauend begreifen und erfassen, bedeutet, daß man es durch Gestaltung sieht, daß man es durch Poiesis erkennt. Wenn ich bisher gesagt habe, daß wir Dinge gestalten und daß umgekehrt die Dinge, während sie von uns gestaltet sind, gleichzeitig durch sich selbst, als Selbständiges, uns bestimmen, und daß wir aus der Welt der Dinge geboren werden, — so bedeutet dies, daß wir handelnd-anschauend Wirklichkeit erfassen, soweit, vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, der Akt, sich selbst widersprechend, im Gegenstande enthalten ist. Nur in einer Welt, die als Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltet, ist ein solches begriffliches Wissen möglich. Wenn die Welt als Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltet, so ist sie, wie gesagt, bewußtseinsmäßig. Als gestaltende Faktoren einer solchen Welt 1

Wörtlich: 'gainen' (das japanische Wort für Begriff) ist 'Begriff'. (Nishida gebraucht hier das deutsche Wort.)

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erfassen wir die Wirklichkeit handelnd-anschauend, d. h. poietisch. Das ist das Wesen unseres begrifflichen Wissens. Was wir heute begriffliches Wissen nennen, ist im Grunde das, was wir eben durch das Gestalten von Dingen uns handelnd-anschauend erworben haben. Es ist das, was wir uns durch Poiesis erworben haben. Im allgemeinen ist es das Auge, das [als Ursprung des Wissens] rein wissensmäßig und theoretisch, unabhängig von der praktischen Verwendung, betrachtet wird. Aber wie Aristoteles gesagt hat, wir seien vernünftig, weil wir Hände haben, so denke ich, daß das begriffliche Wissen von den Händen her erworben worden ist. Unsere Hand ist ein Werkzeug der Bewegung und zwar ebensowohl des Erfassens wie des Erschaffens. (Noiré, 'Das Werkzeug'). Beim Übergang vom Tier zum Menschen werden wir gesellschaftlich. In der Gesellschaft gibt es, wie gesagt, bereits Individuen. Die Gesellschaft entsteht, indem sie die Poiesis zum Mittelpunkt hat. Unser begriffliches Wissen muß sich ursprünglich aus einem gesellschaftlichen Schaffen entwickelt haben. Der Begriff des Dinges muß ursprünglich durch gesellschaftliches Schaffen erfaßt worden sein. Den Ursprung des begrifflichen Wissens bildet wohl der Produktionsstil [das Selbstgestaltungsprinzip] des Dinges, das gesellschaftlich-schaffend erfaßt wird. Ohne Sprache gibt es kein Denken; die Sprache begleitet, wie die Philologen sagen, ursprünglich ein gesellschaftlichgemeinsames Tim. Das begriffliche Wissen ist um so wahrer, je mehr es dem Produktionsstil gemäß produktiv ist. Auch die heutige Wissenschaft hat sich von einem solchen Standpunkte her entwickelt und kann sich nicht von ihm trennen. Freilich hat sie diesen Standpunkt schon transzendiert, ja verneint; aber sie ist doch wesentlich davon ausgegangen und kehrt notwendig dahin zurück. Sie hat notwendig technische Bedeutung. 189

Das Experiment, obgleich rein wissensmäßig, besteht wesentlich darin, daß Wirklichkeit handelnd-anschauend erfaßt wird. Natürlich sind Wissenschaft und Experiment nicht dasselbe; aber Experiment und Theorie sind in der Wissenschaft nicht zu trennen. Die Theorie — so rein theoretisch sie auch sein mag — hat sich wesentlich aus dem handelndanschauenden Erfassen des Produktionsstils der Dinge durch Poiesis entwickelt. Die Theorie entwickelt sich geschichtlich notwendig von da aus. Ohne die Grundlage der TatAnschauung gibt es keine Wissenschaft. In diesem Sinne sagt Minkowski in seiner Vorlesimg über die Relativität des Raumes und der Zeit, diese Theorie sei aus der Grundlage des physikalischen Experiments geboren, und darin liege ihre Stärke. Wenn wir sagen, daß die Welt als Gegenwart der Einheit der Gegensätze von Vergangenheit und Zukunft sich selbst gestaltet, so stehen wir durchaus demjenigen gegenüber, das uns fragt: Leben oder Tod? — d. h. wir stehen der einzigen Welt gegenüber. Dies gilt um so mehr, je individueller wir sind. Und man kann sagen: je mehr wir »Individuum« sind, desto mehr werden wir umgekehrt auf die Weise der Einheit der Gegensätze mit der Welt eins. Insofern, so gesehen, die Welt von der Art der Bewußtseinsebene und wir von der Art des Bewußtseinsaktes sind, kann die Welt als logisches Allgemeines gedacht werden. Als ein solches individuelles Selbst handelnd-anschauend Dinge erfassen, das ist unser Urteilsakt. Wo wir in der Gegenwart; als individuelles Selbst, auf der Spitze des individuellen Selbst handelnd-anschauend Dinge erfassen, da kommt ein urteilsmäßiges Wissen von der objektiven Realität zustande. Was heißt 'individuelles Selbst in der Gegenwart' ? Es heißt: Individuum in der Welt der Einheit der Gegensätze, wo Vergangenheit und Zukunft durchaus in der Weise des 190

Widerspruchs eins sind. Es bedeutet: Individuum des geschichtlichen Raumes [als] der absoluten Gegenwart. Als ein solches individuelles Selbst handelnd-anschauend, d. h. poietisch Dinge erfassen, bedeutet ein Sehen der Dinge im geschichtlichen Räume als absoluter Gegenwart, ein Deutlichmachen des Gesetzes der Dinge in der Vergangenheit und Zukunft umschließenden Gegenwart, ein Erfassen des Produktionsstils der Welt. Da ist die Welt der objektiven Erkenntnis. Man kann sagen, daß in dem Maße die Erkenntnis objektiv ist, wie das handelnd-anschauende Selbst durch und durch individuell ist, in dem Maße, wie die Gegenwart absolut gegenwärtig ist. Das Experimentieren des Physikers ζ. B. besteht wesentlich darin, daß er als individuelles Selbst der physikalischen Welt Dinge handelnd-anschauend erfaßt. Auch die physikalische Welt ist nicht außerhalb der geschichtlichen Welt, sondern nur eine Seite derselben: Da hat die Gegenwart der Einheit der Gegensätze keine Gestalt, der Produktionsstil der Welt ist nicht schöpferisch, der gleiche Produktionsstil wird immer wieder wiederholt. So betrachtet, ist die geschichtliche Welt »physikalisch«. Von einer Seite gesehen ist die geschichtliche Welt notwendig auch von dieser Art. Auch wir sind, als Körper, materiell in einer solchen Welt. Vom Anfang des geschichtlichen Lebens an, gesellschaftlich-schaffend, sehen wir [doch stets] die Welt auch physikalisch. Auch die moderne Physik hat sich notwendig von da aus entwickelt. Daß wir als individuelles Selbst einer Welt gegenüberstehen, bedeutet, daß die Welt uns als einzige entgegentritt. Wo die Welt uns als einzige entgegentritt, da ist unser individuelles Selbst. Wo die heutige physikalische Welt uns als die einzige entgegentritt, da ist das heutige individuelle Selbst des Physikers, da wird das heutige physikalische Wissen handelnd-anschauend erfaßt. 191

Die Welt, welche, Vergangenheit und Zukunft vereinigend, als absolute Einheit der Gegensätze, d. h. als absolute Gegenwart, sich selbst gestaltet, ist durch und durch logisch. Die abstrakte Form der Selbstgestaltung einer solchen Welt ist die sogenannte 'logische Form'. Auf der Bewußtseinsebene der Gegenwart der Einheit der Gegensätze ist die Welt in [unbegrenzter] Bewegung. Indem wir den Kausalnexus transzendieren, sind wir denkend und frei. Die verschiedenen Urteile kommen zustande, indem die handelndanschauliche Wirklichkeit das 'hypokeimenon' bildet. Dies gilt um so mehr, je individueller wir sind. Die Welt wird auf verschiedene Art und Weise ausgedrückt. Vom Standpunkte des Individuums aus wird die ganze Welt ausgedrückt, so wie die Monade die Welt spiegelt. Sofern dieser Ausdruck der Welt, d. h. das Urteil, handelnd-anschauend, d. h. poietisch bewiesen wird, ist es wahr. Wo wir als gestaltende Faktoren der sich selbst gestaltenden Welt handelnd-anschauend Dinge erfassen, da ist die Wahrheit. Umgekehrt kann man sagen, daß hier die Welt sich selbst beweist. Je individueller wir als gestaltende Faktoren der Welt sind, desto mehr stehen wir [aber auch] im Widerspruch zu der einzigen Welt, die als Einheit der Gegensätze sich selbst widersprüchlich gestaltet. Das Wissen, als Gestaltung auf der Bewußtseinsebene, wo die Gegenwart der Einheit der Gegensätze die Zeit verneint, muß der formalen Logik gemäß sein. Die Welt ist dann der formalen Logik gemäß, wenn man aus ihr, die als Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltet, ihren handelndanschaulichen Kern beseitigt. Es ist nicht so, daß die formale Logik außerhalb des geschichtlichen Gestaltungsaktes sich mit diesem vermittelte, sondern sie ist in diesem enthalten. Wissen kommt nicht dadurch zustande, daß Logik und Anschauung einander gegenüberstehend sich gegen192

seitig vermitteln, sondern es ist wesentlich Selbstbestimmung des konkreten Allgemeinen. Wenn gesagt wird, daß die Welt als Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich gestalte, so ist sie logisch, d. h. der Gestaltung der Bewußtseinsebene nach das konkrete Allgemeine. Daß die Monade die Welt spiegelt, bedeutet, daß sie ein Gesichtspunkt der Perspektive der Welt ist. Das objektive Wissen kommt da zustande, wo als Selbstbestimmung eines Allgemeinen nach Art der Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen, [also] des sogenannten dialektischen Allgemeinen, vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, poietisch, handelnd-anschauend Realität fortschreitend erfaßt wird. (Das wahre konkrete Allgemeine ist notwendig von der Art, daß es das Individuum umgreift, ist notwendig von der Art eines Ortes). Der Prozeß der Tat-Anschauung ist als Selbstbestimmung des konkreten Allgemeinen notwendig der Prozeß der konkreten Logik. Durch diesen Prozeß entsteht induktives Wissen, wissenschaftliche Erkenntnis. Wie oben gesagt, kommen alle unsere Handlungen handelndanschauend zustande; sie kommen dadurch zustande, daß Individuen Welt spiegeln. (Sie sind also von der Art der Ausdrucksakte.) Auch unser Wissensakt ist durch und durch geschichtliche Handlung. Wie sehr er auch als abstrakt logisch gedacht werden mag, er verläßt doch, soweit er objektiven Erkenntniswert hat, nie den Standpunkt des poietischen, handelnd-anschauenden Erfassens der Dinge. Allerdings muß er, als Selbstbestimmung der Gegenwart der Einheit der Gegensätze, natürlich durchaus sich selbst logisch vermitteln [in der geschichtlichen Welt]. Das Gesagte gilt um so mehr, je individueller wir und je objektiver das Wissen. Die herkömmliche Erkenntnislehre nimmt den Erkenntnisakt nicht als geschichtlichen Gestaltungsakt in der ge13 Ν i s h i d a , Die intelligible Welt

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schichtlichen Welt, also nicht innerhalb des ganzen Prozesses. Man sieht ihn nicht im ganzen Prozeß, sondern als einze nen Bewußtseinsakt, sozusagen bloß m Querschnitt zur Geschichte. Wenn man ihn auf der Bewußtseinsebene mitten durchschneidet und so betrachtet, sieht man nur, daß Logik und Anschauung einander gegenüberstehen und sich vermitteln. Als ganzer Prozeß aber besteht Wissen notwendig darin, daß von uns ursprünglich, von der Poiesis als dem geschichtlich schaffenden Selbst aus, durchaus handelndanschauend, fortschreitend die Wirklichkeit erfaßt wird. Das Problem tritt nicht abstrakt-logisch, sondern aus dem Grunde des geschichtlichen Lebens hervor. Dies ist aber nicht so zu verstehen, als ob ich die Wahrheit auf die Weise des Pragmatismus dächte. Das geschichtliche Leben ist als Selbstgestaltung der Gegenwart der Einheit der Gegensätze geistig2. Was ich Tat-Anschauung nenne, bedeutet nicht, daß man ohne Vermittlung der Urteilslogik, unvermittelt von der passiven sogenannten [sinnlichen] Anschauung zu einer anderen Art von Anschauung überginge. In der Welt der Gegenwart der Einheit der Gegensätze stehen Individuum und Welt einander notwendig gegenüber; da gibt es notwendig dieses Gegenüberstehen von Gestaltetem und Gestaltendem. So gesehen, stehen Anschauung und Handlung einander notwendig gegenüber. Aber zwischen beiden herrscht notwendig noch eine andere Beziehung als dies, daß sie, sich gegenseitig verneinend, einander gegenüberstehen, wie dies vom Standpunkt des Subjekts aus gedacht wird. Da stehen absolute Vergangenheit und absolute Zukunft einander notwendig gegenüber. Die unendliche geschichtliche Vergangenheit [aber] drängt in der absoluten Gegenwart unendlich auf uns ein. Daß uns die unendliche Vergangenheit in der Gegenwart gegenübersteht, bedeutet, s Wörtlich: idea-artig. 194

daß sie ausdrucksmäßig ist. Es wird gemeinhin nur als Gegenstand des Verstehens gedacht, daß aber das uns Gegenüberstehende ausdrucksartig in uns drängt, d. h. daß es uns zu Ausdrucksakten bewegt, dies eben bedeutet, daß Dinge sich uns anschaulich zeigen. Was das Dasein gerade unseres Selbst bewegt, wird, wie ich oben gesagt habe, anschaulich gesehen. Wie vorhin in der als Einheit der Gegensätze sich vom Gestalteten zum Gestaltenden bewegenden Welt die Umwelt dadurch wahrhaft Umwelt ist, daß sie, sich selbst verneinend, sich subjektiviert, so ist die Welt, in der, sich selbst widersprechend, unser Selbst enthalten ist, eine uns anschaulich [gegebene] Welt. Es ist eine Welt, wo der Akt, sich selbst widersprechend, im Gegenstand enthalten ist, wo vom Sehen aus das Wirken erfolgt, sozusagen eine Welt, von der wir ganz und gar aufgesogen sind. In der Welt der absoluten Einheit der Gegensätze gibt es kein bloßes Gegenüberstehen von Subjekt und Objekt, auch kein gegenseitiges Vermitteln; es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Was uns in der Welt der Einheit der Gegensätze anschaulich gegeben ist, verneint nicht lediglich unser Dasein, sondern es verneint auch notwendig unsere Seele. Wenn es nur von außen verneint oder tötet, ist es noch nicht wahrhaft auf die Weise der absoluten Einheit der Gegensätze gegeben; es versklavt uns aber und tötet unsere Seele, indem es uns am Leben läßt. Im Grunde besteht es darin, daß der Akt, sich selbst widersprechend, im Gegenstande enthalten ist. Daß die Umwelt, sich selbst verneinend, sich subjektiviert, bedeutet, daß sie sich zum Mephisto macht. Auf dem Grunde der anschaulichen Welt ist Satan verborgen. Dies gilt um so mehr, je individueller unser Selbst ist. Wenn man sagt, etwas sei anschaulich gegeben, so ist die Auffassung, daß es bloß passiv gesehen werde oder daß 13.

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der Akt verschwinde und dgl., eine lediglich undialektische Betrachtungsweise vom Standpunkt des intellektuellen Selbst. Die wahre Anschauung ist da, wo eine [eigene] Tätigkeit wider uns ist. Daher ist die Welt der wahren Anschauung um so qualvoller, je individueller wir sind. Auch in der Welt des tierischen Instinktes ist das Individuum dadurch begehrend, daß es die Welt spiegelt; es wirkt vom Sehen her. Aber da ist das Individuum nicht wahrhaft individuell. Also gibt es auch noch keine [wahrhafte] Anschauung. Das instinktiv sich verhaltende Tier wird nie vom Satan gefangen. Anschauung ist etwas, das unser Handeln bewirkt, etwas, das unsere Seele bis auf den Grund anstachelt. Gleichwohl denkt man sie sich [gemeinhin] als eine Art Vorstellungs- oder Traumbild. Wenn als Gegenwart der Einheit der Gegensätze die Welt sich selbst gestaltet, ist Vergangenheit vergangen und doch in der Gegenwart im Widerspruch zu sich selbst da; sie ist Nichtsein und Sein. Die Welt ist uns gegenüber, die wir zugleich gestaltet werden und selbst gestalten, von der Art des Ausdrucks. Uns Menschen gegenüber ist die Umwelt durch und durch Ausdruck. Und wenn sie, vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin, ganz und gar auf uns eindrängt, ist sie für uns Anschauung. Sie ist anschaulich, insofern sie die akt-artige Existenz unseres individuellen Selbst bewegt. N u n aber ist die Vergangenheit dadurch Vergangenheit, daß sie sich selbst verneint und in die Zukunft hineingeht. Vergangenheit ist nur möglich, weil es Zukunft gibt, und umgekehrt. In der Geschichte gibt es nichts bloß Gegebenes ; Gegebenes ist immer Gestaltetes, und zwar derart Gestaltetes, daß es sich selbst vom Gestalteten zum Gestaltenden verneinen soll. Als Gestaltendes in einer Welt, die sich vom Gestalteten zum Gestaltenden bewegt, also als gestaltender Faktor der sich selbst gestaltenden Welt, stehen wir dieser 1Q6

durchaus gegenüber. Und wir fahren fort, die Welt vom Gestalteten zum Gestaltenden hin zu gestalten. Das ist der Standpunkt der Tat-Anschauung, wie ich sie nenne. Je individueller wir als gestaltende Faktoren der als Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltenden schöpferischen Welt sind, also je mehr wir konkret-persönlich sind, desto mehr stehen wir handelnd-anschauend an der Spitze der geschichtlichen Schöpfung. In diesem Sinne kann man sagen, daß Handlung und Anschauung durchaus im Gegensatze zueinander stehen. Als Ausdruck drängt die Welt auf uns ein; das heißt: sie drängt in unser Selbst, bis auf den Grund, und fordert die Abdankung unserer Seele. Wir sind gestaltend; das heißt: als Individuen der Welt der Einheit der Gegensätze erfassen wir die Welt schöpferisch. Als geschichtlich-schöpferischer Akt Wirklichkeit erfassen, bedeutet konkrete Vernunft. Darin muß die Vermittlung der Urteilslogik enthalten sein. Auf dem Standpunkt der Tat-Anschauung sich selbst vertiefen, bedeutet Vernunft. Es bedeutet: die Wirklichkeit ihrem Produktionsstil gemäß erfassen. Der konkrete Begriff ist notwendig der Produktionsstil der Wirklichkeit. Auf einer solchen Grundlage beruht auch die wissenschaftliche Erkenntnis. Die Welt auf, die Weise eines schöpferischen Aktes erfassen, bedeutet: geistig erfassen. Die Idee ist notwendig der Schöpfungsakt der Welt. Von solcher Art muß Hegels 'Idee' sein. Mit Poiesis als Kern steht die geschichtliche Welt auf der Spitze ihrer Schöpfung — der unendlichen Vergangenheit und der unendlichen Zukunft gegenüber. Als Gegenüberstehen in der Gegenwart der Einheit der Gegensätze, kann es als Gegenüberstehen von Subjekt und Umwelt bezeichnet werden. 197

Dieses Gegenüberstehen und Einandergestalten von Subjekt und Umwelt ist weder mechanisch noch teleologisch. Die Umwelt ist durchaus von der Art des Ausdrucks; durchaus anschaulich drängt sie auf das Subjekt, das Gestaltende, ein. Anschauung bedeutet, daß das Ding unser Selbst rauben will. Es bedeutet nicht, daß das Ding und das Selbst einander gleichgültig gegenüberstehen. Dinge schaffen, heißt nicht, daß uns von den Dingen das Selbst weggerissen würde; es bedeutet nicht, daß das Selbst zu einem Ding wird und als Selbst verloren ginge. Darum bedeutet es aber doch auch nicht, daß nur das Selbst bewußt tätig wäre. Es bedeutet vielmehr wesentlich dies, daß durch das Gestalten wahrhaft aktiv die Wahrheit des Dinges erfaßt wird. Wenn die Tat-Anschauung bloß bedeutete, daß das Selbst von dem Ding weggerissen, geraubt wird, so würde sie die Logik nicht anerkennen. Bei der Tat-Anschauung wird das Selbst durchaus aktiv. Tat-Anschauung bedeutet nicht, daß man ein Ding so hinnimmt, wie es ist, sondern daß man es aktiv erfaßt. Als gestaltender Faktor der Welt der Einheit der Gegensätze müssen wir in dieser Welt notwendig logisch sein. Die Logik verneinen heißt: das Selbst verdunkeln. Handelnd- anschauend und poietisch wird unser Selbst immer deutlicher. Kunst wird als alogisch vorgestellt. Künstlerische Anschauung kann alogisch genannt werden; denn sie entsteht in derjenigen Richtung der Tat-Anschauung, wo die Dinge uns das Selbst rauben. Vom Standpunkt der konkreten Logik aber ist auch die künstlerische Anschauung in ihr als eine Richtung enthalten. (Auch die Kunst ist notwendig vernünftig.) Auf dem Standpunkte des Schaffens stehen Vergangenheit und Zukunft einander notwendig gegenüber; und zwar ist dieses kein bloßes Gegenüberstehen, sondern schöpferische Bewegung, als ein Gegenüberstehen auf die 198

Weise der Einheit der Gegensätze, vom Gestalteten zum Gestaltenden. Darum ist die Welt als die Gegenwart der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltend, d. h. bewußtseinsmäßig. Die Welt ist bewußtseinsmäßig, weil sie eine Einheit der Gegensätze von Vergangenheit und Zukunft ist. Als absolute Vergangenheit kommt die Welt drängend und als Zwang auf uns zu. Aber als Vergangenheit einer Welt der Einheit der Gegensätze bedrängt sie uns nicht nur kausal. Bloß kausale Notwendigkeit verneint nicht unser Selbst; es muß eine Notwendigkeit sein, die als geschichtliche Vergangenheit in unser persönliches Selbst bis auf den Grund des Lebens drängt. Es muß eine Notwendigkeit sein, die uns vom Grunde der Seele her bewegt. Was auf dem Standpunkt der Tat-Anschauung uns als geschichtliche Vergangenheit anschaulich entgegentritt, ist notwendig etwas, das unser persönliches Selbst von dem Grunde seines Lebens herauf verneinen will. Dies ist das uns wahrhaft Gegebene. Was handelnd-anschaulich unserem persönlichen Selbst gegeben ist, kann nicht nur materiell, auch nicht nur uns verneinend sein; es muß vielmehr etwas sein, das dämonisch3 in uns drängt. Es ist etwas, das uns mit abstrakter Logik anstachelt, uns mit der Maske der Wahrheit täuscht. Gegenüber dem, was so als absolute Vergangenheit unser persönliches Selbst bis auf den Grund bedrängt, stehen wir auf dem Standpunkte der absoluten Zukunft; wir sind handelnd-anschauend durchaus gestaltend; wir sind als gestaltende Faktoren der sich selbst gestaltenden schöpferischen Welt durchaus schöpferisch; (wir haben immer in einer Transzendenz unser Selbst; vgl. den Schluß dieser Abhandlung). Hier ist die Grundlage des Idealismus. Handelnd-anschauend die Welt sehen, schließt in sich ein, daß man auch handelnd-anschauend die Welt gestaltet. 3

Es ist hier an Goethes Begriff des Dämonischen gedacht.

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Vergangenheit ist Vergangenheit, um — sich selbst verneinend — in die Zukunft hinein zu vergehen ; Zukunft ist Zukunft, um — sich selbst verneinend — zur Vergangenheit zu werden. Daß die Welt als bloße Vergangenheit uns das persönliche Selbst mit seiner Lebenswurzel raubt, bedeutet, daß die Welt unschöpferisch wird, sich selbst verneint. Die Anschauung selbst ist der Widerspruch. Soweit die Welt lebt, d. h. schöpferisch, produktiv ist, gerät sie notwendig und unweigerlich mit sich selbst in Widerspruch. Aus der Tiefe dieses Selbstwiderspruchs der Welt wächst unser handelndes Selbst hervor. Daß Welt als absolute Vergangenheit in der Weise der Anschauung in unser persönliches Selbst drängt, ist weder mechanisch noch teleologisch; es ist ein Drängen, das unsere Seele zur Abdankimg zwingen will. Es ist nicht dies, daß die Welt als bloßer Gegenstand des Verstehens in uns drängt, sondern als Gegenstand des Glaubens; also etwas, das uns zum Handeln antreibt. Sie hat notwendig durchaus geistigen Charakter. Sonst würde sie unser persönliches Selbst nicht bewegen können, würde sie nicht ein Gegebenes für unser handelndes Selbst genannt werden können. Was in der Gegenwart der Einheit der Gegensätze als Gestaltetes uns bewegt, drängt abstrakt logisch in uns ; (es fordert: 'da es so gewesen ist, sollt ihr so handeln!'). Vom Standpunkt der abstrakten Logik aus denkt man die Welt als etwas schon Entschiedenes. Unser handelndes Selbst ist abstrakt logisch, wo es aus der Vergangenheit sich selbst entgegentritt. Dies heißt Reflexion. Wo aber unser handelndes Selbst als gestaltender Faktor der Welt der Einheit der Gegensätze handelnd-anschauend, poietisch, fortschreitend den Produktionsstil der geschichtlichen Welt erfaßt, da ist konkrete Logik. Wo es keine Vergangenheit gibt, da gibt es auch keine Zukunft. Daher liegt unserem Handeln notwendig die Ver200

gangenheit zum Grunde. Wo man alles nur vom Entschiedenen her sieht, da ist unser Handeln abstrakt logisch. Darin, daß die Welt der Einheit der Gegensätze uns handelnd-anschaulich entgegentritt, liegt bereits eingeschlossen, daß sie abstrakt logisch in uns drängt. Aber sie ist es durchaus dadurch, daß sie als Vergangenheit in der Gegenwart der Einheit der Gegensätze Gestaltungsakte hervorruft. Die konkrete Logik ist Selbstgestaltung der Gegenwart der Einheit der Gegensätze und hat als solche die abstrakte Logik zur Vermittlung. Erst als solche Vermittlerin der konkreten Logik hat die abstrakte Logik überhaupt die Bedeutung der Logik. Sonst wäre sie nichts als eine leere Möglichkeit. Wenn ich sage, daß wir handelnd-anschauend die Realität erfassen, so will ich damit nicht sagen, daß wir die abstrakte Logik nicht zur Vermittlung machen. Vielmehr meine ich: je individueller und schöpferischer wir als gestaltender Faktor der Welt der Einheit der Gegensätze sind, desto mehr muß uns das logisch bewegen, was in der Gegenwart der Einheit der Gegensätze handelnd-anschaulich gegeben ist. Und daß überhaupt die Welt auf die Weise der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltet, ist eben konkrete Logik. In diesem Sinne ist auch die Kunst konkret logisch. Ich betrachte die Kunst vom Standpunkt der geschichtlichen Gestaltung des Menschen aus und nicht umgekehrt die geschichtliche Gestaltung von der Kunst aus. 4 Es scheint dem gewohnten Denken zu widersprechen, wenn ich sage, daß das anschaulich Gegebene uns logisch bewege. Es könnte gekünstelt erscheinen. Aber die gewohnten Vorstellungen von der Anschauung und dem Gegebenen 201

entspringen lediglich dem intellektuellen Selbst, nicht dem konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Selbst. Das heißt: sie sind nicht vom Standpunkt des handelnden und schaffenden Selbst aus gesehen. Vom Standpunkt der bloßen Urteilslogik aus kann freilich jedes Gegebene als irrational und jede Anschauimg als alogisch angesehen werden. Aber wir als konkrete Menschen werden als Handelnd-anschauende in der geschichtlichgesellschaftlichen Welt geboren, und wie weit wir auch gehen, diesen Standpunkt können wir nicht verlassen. Was gegeben ist, ist geschichtlich-gesellschaftlich gegeben, und was anschaulich gesehen wird, wird handelnd und schaffend gesehen und bewegt uns durch Ausdrucksfunktion. Als in der Welt der Einheit der Gegensätze Gegebenes drängt es in unser persönliches Selbst. Gesellschaft kommt zustande als Selbstgestaltung der Welt der Einheit der Gegensätze. Wie primitiv die menschliche Gesellschaft auch sein mag, so ist sie doch nie bloß instinktiv und bloß kollektiv; sie ist notwendig stets Einheit der Gegensätze des Einen und der Vielen. Wir stehen als persönliches Selbst dem gegenüber, was auf die Weise der absoluten Einheit der Gegensätze ist, d. h. einem Transzendenten. Bereits die primitive Gesellschaft schließt, wie Malinowski sagt, das Individuum in sich ein. Da ist etwas grundsätzlich anderes als das herdenweise Zusammenleben der Tiere. Die primitive Gesellschaft ist durch Totem und Tabu völlig gebunden, aber es gibt doch eine gewisse Freiheit der Individuen; denn es gibt so etwas wie Schuld oder Sünde. Was uns als konkreten Menschen gegeben ist, kann nicht die sogenannte psychologische Anschauung sein; es muß gesellschaftlich gegeben sein, als ein uns Umgreifendes. Als Selbstgestaltung der Welt der Einheit der Gegensätze ist es uns drohend gegeben; es ist uns gegeben als Selbstbestimmung des dialektischen Allgemeinen, wie ich es 202

nenne. Es steht vor uns als gesellschaftliches, konventionelles, aus der Vergangenheit stammendes Postulat. Vom logischen Standpunkt aus gesehen, sind wir ein Besonderes; dennoch werden wir notwendig, insofern wir geschichtlich-gesellschaftlich sind, wesentlich durch die Gattung bewegt, zu der wir gehören. Man kann dies 'prälogisch' nennen, wie Lévy-Bruhl es tut. Aber selbst Piatons Logik ist im Grunde 'Anteilhaben an der Idee'. Ja, die bloß abstrakte Logik ist überhaupt nicht die wahre Logik. Die konkrete Logik muß die Einheit der Gegensätze der beiden Seiten sein. Natürlich muß, wenn die Logik zur wahren Logik werden soll, das Mythische nach und nach verschwinden. Die Gesellschaft entfaltet sich dialektisch vom Gestalteten zum Gestaltenden; aber wie weit diese Entwicklung auch gehen mag, — die Gesellschaft kann sich nicht, als im Grunde geschichtlich-gesellschaftliche Gestaltung, von dem geschichtlichen Prozeß der Tat-Anschauung, d.h. dem allmählichen poietischen Erfassen der Realität lösen. Dies gilt inbezug auf die konkrete Logik. Damit will ich aber nicht sagen, daß in dem Grunde der Logik etwas Mystisch-Anschauliches zu denken sei. Ich meine damit nur, daß man durchaus poietisch und praktisch der Realität auf den Leib rückt. Ich meine damit, daß man den Produktionsstil der als Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltenden Welt fortschreitend erfaßt. Dabei muß notwendig das uns mythisch Bedrängende fortschreitend verneint werden. Das bloß Besondere und bloß Historische muß fortschreitend transzendiert werden. Da wird das anschaulich Gegebene verneint; aber das bedeutet nicht, wie der abstrakte Rationalismus will, daß die geschichtliche Vergangenheit überhaupt verneint würde, oder daß das Besondere lediglich zu dem Besonderen des Allgemeinen würde. Schon die primitive Gesellschaft kommt 203

wesensmäßig als Einheit der Gegensätze zustande, und unsere Gesellschaft hat durchaus auf diesem Standpunkte ihre Entfaltung. Gerade weil sie eine Einheit der Gegensätze darstellt, entfaltet sie sich fortschreitend vom Gestalteten zum Gestaltenden. Das geschichtlich Gegebene bedrängt uns als das in der Gegenwart der Einheit der Gegensätze weltgeschichtlich Gegebene dermaßen in unserem Selbst bis auf den Grund des Lebens, daß wir es um so weniger verneinen können, je mehr wir ein individuelles Selbst sind; und was anschaulich in uns drängt, wird zu dem, was weltgeschichtlich in uns drängt. Die Besonderheit der Gesellschaft ist nicht eine bloße [logische] Besonderheit, sondern sie ist ursprünglich ein Produktionsstil der geschichtlichen Welt. Man denkt, daß wir als individuelles Selbst dadurch vernünftig sind, daß wir alles Anschauungsmäßige aufgeben; aber es bedeutet vielmehr, daß wir wahrhaft handelnd-anschauend sind, als gestaltender Faktor der Welt der Einheit der Gegensätze. Wie in der primitiven Gesellschaft, so stehen auch wir immer der absoluten Einheit der Gegensätze gegenüber. Ja, dies gilt um so mehr, je individueller Wir sind. Dadurch, daß wir, als gestaltender Faktor der Welt der Einheit der Gegensätze, der absoluten Einheit der Gegensätze gegenüberstehen, werden wir gerade zum individuellen Selbst. Erst da, so kann man sagen, werden wir wahrhaft ein individuelles Selbst. Und zwar gelangen wir dahin durch die Selbstgestaltung der Welt der Einheit der Gegensätze, also konkret-logisch. Die konkrete Logik macht die abstrakte zur Vermittlung; aber der Zugang zur konkreten Logik ist nicht in der abstrakten Logik. Hegel rechtfertigt den Besitz des Privateigentums damit, daß die Persönlichkeit ein ideelles Sein hat. Die konkrete 204

Persönlichkeit ist notwendig geschichtlich-löblich. Gesellschaft entsteht wesensmäßig als geschichtliche Produktion vom Gestalteten zum Gestaltenden. Als gestaltender Faktor dieser Gesellschaft, die auf die Weise der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltet, hat unser Selbst sein Dasein. Von diesem Standpunkte muß auch die Persönlichkeit betrachtet werden. Die menschliche Gesellschaft unterscheidet sich von der tierischen dadurch, daß es in ihr von Anfang an Individuen gibt und daß das Persönliche zustandekommt, indem in der Einheit der Gegensätze dem gesamten Einen die individuellen Vielen gegenüberstehen. In der Welt der Einheit der Gegensätze als individuelle Viele widersprüchlich dem Einen gegenüberstehen, bedeutet umgekehrt, sich widersprüchlich zu dem Einen verbinden. Das bedeutet: Dadurch, daß wir Gott gegenüberstehen, sind wir Persönlichkeit. Es bedeutet folglich auch: Dadurch, daß. wir Gott zum Vermittler haben, stehe ich dir gegenüber, steht eine Persönlichkeit einer anderen Persönlichkeit gegenüber. Die Gesellschaft bewegt sich als Selbstgestaltung der Gegenwart der Einheit der Gegensätze durchaus von dem Gestalteten zu dem Gestaltenden. Dieser Prozeß ist weder mechanisch noch teleologisch, sondern handelnd-anschaulich als Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen. Indem die Vielen die Vielen des Einen, das Eine das Eine der Vielen, die Bewegung Ruhe und die Ruhe Bewegung ist, muß darin das Moment der Selbstgestaltung des Ewigen, d. h. der geistigen1 Gestaltung enthalten sein. So kommt die Kultur zustande. Aus diesem Grunde ist sie durchaus gattungsmäßige Gestaltung und doch zugleich auch weltgeschichtlich, als Selbstgestaltung der Gegenwart der Einheit der Gegensätze. Die auf die Weise der Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltende Gesellschaft wird nun1

Wörtlich: idea-artig.

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mehr — als geistig gestaltend — zum Staat, also vernünftig. Als gestaltender Faktor dieser Gesellschaft werden wir konkrete Persönlichkeit. In diesem Sinne kann man sagen, daß der Staat logische Substanz2 ist, und daß unsere moralischen Handlungen den Staat zur Vermittlung haben. Ohne Kultur kein Staat. Die unkultivierte Gesellschaft verdient den Namen 'Staat' nicht. Da Kultur als Geistiges weltgeschichtlich ist, ist sie die gattungsmäßige Gestaltung einer Gesellschaft, — aber doch nicht immer nur dies. Die geschichtliche Welt ist von der Entstehung der Lebewesen bis zum Menschen eine Einheit der Gegensätze der Vielen und des Einen. Und sie bewegt sich vom Gestalteten zum Gestaltenden. Beim tierischen Leben stehen noch nicht die individuellen Vielen dem gesamten Einen gegenüber, d. h. das Individuum ist noch nicht selbständig. Der Prozeß der Entwicklung vom Gestalteten zum Gestaltenden ist hier nur als Prozeß des gesamten Einen zu denken. Also teleologisch. Daß das Individuum noch nicht selbständig ist, bedeutet also umgekehrt, daß das Eine noch nicht das wahre Eine ist, daß es noch nicht der Welt der individuellen Vielen gegenüber transzendent ist, daß es noch lediglich das Eine der Vielen ist. Dagegen besteht in der Menschenwelt, wie primitiv sie auch sein mag, bereits eine [wahre] Einheit der Gegensätze der Vielen und des Einen. Aber in der primitiven Gesellschaft ist das Individuum doch noch nicht wahrhaft selbständig; das gesamte Eine ist [übermächtig] bedrückend, bloß transzendent. Die Vielen sind nur die Vielen des Einen. Aber das Individuum ist durchaus nur dadurch Individuum, daß es selbständig ist. In der Welt der Einheit der Gegensätze bedeutet, daß das Individuum a

Druckfehler im japanischen Text; soll heißen: sittliche Substanz.

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sich selbst gestaltet, dies: daß die Welt sich selbst gestaltet; und umgekehrt bedeutet, daß die Welt sich selbst gestaltet, dies: daß die Individuen sich selbst gestalten. Die Vielen und das Eine werden, einandqr verneinend, zu dem, das vom Gestalteten zum Gestaltenden ist. In der Welt der Einheit der Gegensätze muß ein solches Moment enthalten sein; das ist eben der Prozeß der Kultur. Auf diesem Standpunkt bedeutet das Lebenlassen der individuellen Vielen das Leben des gesamten Einen; und das Leben des gesamten Einen bedeutet das Leben der individuellen Vielen. Die Gesellschaft wird als substantielle Freiheit zur sittlichen Substanz, und unsere Handlung hat als Gestaltungsakt der geschichtlichen Welt moralische Bedeutung. Wo die Welt als Einheit der Gegensätze auf die Weise der Einheit der Gegensätze fortschreitend sich selbst geistig gestaltet, wo wir handelnd-anschauend schöpferisch sind, da ist die wahre Moral. In diesem Sinne ist der Prozeß der Kultur notwendig ethisch. Die Entwicklung der Kultur, so kann man auch sagen, wird durch den Staat als substantielle Freiheit vermittelt. Soweit wir als Individuen einer Gesellschaft, welche die sittliche Substanz darstellt, schöpferisch sind, sind unsere Handlungen moralisch; soweit die Gesellschaft als Gestaltungsakt der Welt der Einheit der Gegensätze geistig gestaltend ist, ist sie die sittliche Substanz. Die Forderung einer geistigen Gestaltung der Welt tritt bei dem sich durchaus selbständig .bestimmenden individuellen Selbst als ein Sollen ins Bewußtsein. Auch Kunst und Wissenschaft, insofern und insoweit sie geistige Gestaltungsakte sind, haben, so gesehen, ethische Bedeutung. Was den Namen eines wahren Staates verdienen soll, muß mehr als bloße Politik sein. Sogar die Kraft, virtù, die Machiavelli als das Wesen des Staates betrachtete, bedeutet eigentlich ein schöpferisches Tun. Der 207

Staat ist als Gestaltungsakt der Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen schon an sich ein sich selbst widersprechendes Sein. Daher gibt es immer einen Widerspruch im Daseinsrecht des Staates. Aber gerade darin liegt sein Daseinsrecht. Alles, was in der geschichtlichen Welt wirklich existiert, ist notwendig in sich selbst widerspruchsvoll. Die Kultur entspringt aus der Selbstgestaltung dieser Wirklichkeit. Sie ist das Erkennen der Rose am Kreuz der Gegenwart; sonst ist sie nicht wahrhafte Kultur. Auch die Kunst ist ursprünglich ein Selbstgestaltungsakt der Gesellschaft, die die Eigenschaft der Einheit der Gegensätze hat. In diesem Sinne erhält die Ansicht Bedeutung, wonach die Kunst aus den feierlichen Gebräuchen der Gesellschaft geboren wurde. (Jane Harrison, 'Ancient art and ritual'). Und wie weit sie auch fortschreiten mag, dieser [geschichtlich - gesellschaftliche] Charakter verschwindet nicht. Das ist der Grund, warum ich die Kirnst auch konkret-logisch nenne. Je tiefer nun die Gestaltung auf die Weise der Einheit der Gegensätze wird, desto mehr differenzieren und entwickeln sich nach verschiedenen Richtungen mannigfaltige Kulturen, die die Wirklichkeit der handelnden Anschauung zum [gemeinsamen] Mittelpunkt haben. Die Welt der Einheit der Gegensätze, so habe ich gesagt, enthält in dem Prozesse der Selbstgestaltung vom Gestalteten zum Gestaltenden etwas Ideen- und Anschauungsmäßiges [etwas Geistiges] ; aber damit ist nicht eine Einheit und Identität der Welt mit sich selbst gesetzt. Wenn dem so wäre, dann wäre es ja keine Welt der Einheit der absoluten Gegensätze. In einer Welt der Einheit der Gegensätze transzendiert die Selbstidentität notwendig und wesentlich diese Welt [der menschlichen Kultur]. Sie muß [in diesem 208

Sinne] absolut transzendent sein. Es gibt keinen Weg, der vom Menschen zu Gott führte. Die individuellen Vielen und das gesamte Eine werden in dieser Welt nicht eins. Soweit man das Geistig-Ideelle [nur] als dieser Welt immanente Selbstidentität setzt, hat man es noch nicht mit der wirklichen Welt zu tun, die sich wahrhaft aus sich selbst bewegt. Daher verneint die Welt der Einheit der Gegensätze auch das Ideelle und die Kultur. Eine [rein] geistige Welt ist eine Scheinwelt. Das Geistige hat notwendig Geburt und Tod, ist der Veränderung und Entwicklung unterworfen. Da die Welt auf die Weise der Einheit der Gegensätze ist, ist der Prozeß der Selbstgestaltung wesentlich nicht mechanisch, auch nicht teleologisch, sondern auf die Weise einer geistigen Gestaltung. Da sie absolut dialektisch ist, enthält sie notwendig ein geistig-anschauungsmäßiges Moment. Daher kann man sagen, daß Kultur und Religion sich da vereinigen, wo sie einander entgegengesetzt sind. Das ist der Grund, warum ich in der Abhandlung 'Der Standpunkt des Individuums in der geschichtlichen Welt' gesagt habe, daß die Welt da geistig ist, wo sie eine Einheit der Gegensätze spiegelt. Daß das Selbst in sich selbst ein Bild spiegelt, ist, wie ich oft vom Ausdrucksakt gesagt habe, die Kontinuität der Diskontinuität, des absoluten Bruches. Es bedeutet, daß das gänzlichTranszendente, sich selbst widersprechend, immanent ist, daß es auf die Weise der Einheit der Gegensätze ist. Religion hat nicht Kultur zum Zweck, sondern umgekehrt. Zugleich aber wird alle wahre Kultur aus der Religion geboren. Die Welt der Einheit der Gegensätze hat ihre Einheit und Selbstidentität nicht in sich selbst. Diese ist als Einheit der Gegensätze immer dieser Welt transzendent. Daher ist die Selbstgestaltung der Welt als Bestimmung ohne Bestim14 N i s h i d a , Die intelligible Welt

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mendes geistig. Daß diese Welt auf solche Weise ihre Einheit und Selbigkeit in der absoluten Transzendenz hat, bedeutet, daß die individuellen Vielen durchaus dem transzendenten Einen gegenüberstehen, daß das Individuum durchaus deshalb, weil es der Transzendenz gegenübersteht, Individuum ist. Dadurch, daß wir Gott gegenüberstehen, werden wir Persönlichkeit. Und daß wir auf diese Weise durchaus als persönliches Selbst Gott gegenüberstehen, bedeutet auch notwendig umgekehrt, daß wir mit Gott verbunden sind. Gott und wir sind in dem Verhältnis der absoluten Einheit der Gegensätze des Einen und der Vielen. Als Individuen der Welt der Einheit der Gegensätze sind wir in der Tiefe unseres Ursprungs im Widerspruch mit uns selbst. Dieser Widerspruch vermindert sich nicht etwa durch die Entwicklung der Kultur, sondern wird da im Gegenteil immer deutlicher. In der Welt der Einheit der Gegensätze, die ihre Einheit in dem Transzendenten hat, ist der tatanschaulich-poietische Prozeß vom Gestalteten zum Gestaltenden notwendig ein unendliches Fortschreiten. Auch in dieser Richtung verbinden wir uns nicht mit dem Absoluten, mit Gott. Wir sind mit Gott in unserem Ursprung verbunden (— wir sind geschaffene Wesen —). Als [Schaffende, als] Gestaltungsfaktor der Welt der Einheit der Gegensätze, wo Vergangenheit und Zukunft, sich selbst widersprechend, in der Gegenwart zugleich bestehen, ist unser Leben von Anfang an dieser Bestimmung unterworfen: Wir berühren stets das Absolute. Nur sind wir uns dessen nicht immer bewußt. Dadurch, daß wir tief auf den Grund des eigenen Selbstwiderspruchs zurückblicken, wenden wir uns um und erreichen das Absolute, d. h. wir geben uns Gott bedingungslos hin. Dies ist 'Bekehrung'. Wir finden da unser wahres Selbst, 210

indem wir uns selbst verneinen. Luther spricht von der Freiheit des Christenmenschen und sagt, dieser sei der freie Herrscher, der über allen steht, und zugleich der Diener, der allen Untertan ist. Daher treten wir in den Bereich der Religion nicht durch unsere Handlungen, die in dieser Welt die Selbstidentität [voraussetzen, sondern dadurch, daß wir über den Selbstwiderspruch dieser Handlungen als solcher und den des Selbst als solchen reflektieren. Und zwar stoßen wir auf solche Weise im Grunde unseres Selbst auf den Selbstwiderspruch3; doch muß dies nicht durch unser Selbst, sondern durch den Ruf des Absoluten geschehen. Die Selbstverneinung ist nicht durch unser Selbst möglich (— da denkt der religiöse Mensch an Gnade). Aus diesem Grunde wird die Religion als nichtweltlich gedacht. Aber doch muß, wie ich auch oben gesagt habe, die Religion, als die Einheit der Gegensätze, die wahre Kultur zur Entstehung bringen. Wir werden dadurch wahre Persönlichkeit, daß wir dem gänzlich transzendenten Einen gegenüberstehen. Und daß das Selbst dadurch das wahre Selbst ist, daß es dem transzendenten Einen gegenübersteht, bedeutet zugleich, daß ich auf die Weise der άγάττη dem Nächsten gegenüberstehe. Darauf beruht das Prinzip der Moralität, wonach das Selbst dadurch Persönlichkeit wird, daß es [jeden] anderen als Persönlichkeit ansieht. Mit solcher Bestimmung gestaltet die Welt als Einheit der Gegensätze vom Gestalteten her zum Gestaltenden hin sich selbst; und zwar gestaltet sie sich notwendig geistig. Die Religion läßt den Standpunkt der Moral nicht unbeachtet. Der Standpunkt der wahren Moral wird sogar durch die Religion begründet. Aber dies bedeutet nicht, daß man durch die Vermittlung der moralischen Handlung, also dadurch, daß man durch eigene Kraft Gutes tut, in den Bereich der Religion einträte. Shinrans Worte im 'Tan-i3

Im Sinne des existentiellen Scheiterns und der Erlösung.

u*

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sho' 4 : 'Selbst der Gute wird erlöst, wieviel mehr der Böse' haben einen tiefen Sinn. In unseren Tagen meinen manche, der Zweck der Religion liege in der Erlösung des Individuums und die Religion bestehe nicht gut mit der nationalen Moral zusammen; das kommt daher, daß man das wahre Wesen der Religion nicht erkannt hat. In der Religion handelt es sich nicht um den individuellen Seelenfrieden. Wer sich diesen Irrtum einbildet, legt die 'absolute fremde Kraft' 5 nach seiner Bequemlichkeit aus. Wer sich dem Absoluten wahrhaft bedingungslos hingegeben hat, hat wahrhaft die Moral zum Ziele. Der Staat, als sittliche Substanz, und die Religion widersprechen einander nicht. Die morgenländische Religion des Nichts lehrt, daß gerade die Seele Buddha ist. Das ist weder Spiritualismus noch Mystizismus. Logisch ist es die Einheit der Gegensätze der Vielen und des Einen. 'Alles ist Eines' bedeutet nicht, daß alles unterschiedslos eins wäre. Es ist notwendig als Einheit der Gegensätze dasjenige Eine, durch welches alles entsteht. Hier ist das Prinzip der Entstehung der geschichtlichen Welt als der absoluten Gegenwart. Wir stehen als Individuen der Welt der Einheit der Gegensätze immer in Berührung mit dem Absoluten, von dem wir nicht einmal sagen dürfen, daß wir ihm gegenüberstehen. Man sagt6: 'Wer im gegenwärtigen Augenblick das ihm allein Klare sieht und deutlich hört, hängt nicht an dem jeweiligen Orte, sondern ist nach allen zehn Seiten hin beweglich.' Daß wir auf dem Grunde des Widerspruchs mit uns selbst absolut 4

'Buch der Verwunderung', von Shinrans Schüler Yuin

zu-

sammengestellt. Shinran ( 1 1 7 2 — 1 2 6 2 ) , Begründer der japanischen Shin-Sekte des Buddhismus. 5

Gemeint ist die göttliche Kraft des Amitabha im Gegensatz zu

der 'eigenen Kraft'. 6

Rinzai, Gründer der nach ihm benannten chinesischen und in

Japan weit verbreiteten Rinzai-Schule des Zen.

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sterben und in das Prinzip 'Alles ist Eines' eingehen 7 , dies eben ist die Religion des 'Gerade die Seele ist Buddha'. Es heißt auch 8 : 'Ihr, die ihr meine Predigt hört, seid nicht eure vier Elemente, sondern könnt eure vier Elemente gebrauchen. Wenn ihr imstande seid, dies einzusehen, so wird euch Gehen und Bleiben frei sein.' Und zwar bedeutet dies nicht das bewußtseinsmäßige Selbst, das ein illusorisch Begleitendes ist, sondern da muß die absolut verneinende Umkehrung sein. Daher ist dies notwendig im Gegensatz zu Spiritualismus und Mystizismus der absolute Objektivismus. Durch diesen kommen sowohl die wahre Wissenschaft wie auch die wahre Moral zustande. »Seele« bedeutet hier nicht bloß das subjektive Bewußtsein. 'Auch das Innen ist nicht zu fassen'. Und das Nichts bedeutet [bloß] ein relatives Nichts, das noch einem Sein gegenüberstünde. Die Welt, die als Einheit der Gegensätze der Vielen und des Einen, vom Gestalteten zum Gestaltenden sich selbst geistig gestaltend, fortschreitet, hat ihre Selbstidentität in der Transzendenz. Daher steht in dieser Welt das Individuum um so mehr dem transzendenten Einen gegenüber, je individueller es ist. Und daß es auf diese Weise dem transzendenten Einen gegenübersteht, bedeutet zugleich, daß das Individuum in Hinsicht auf Immanenz dem Individuum auf die Weise der αγάπη gegenübersteht. Während wir als vom Gestalteten zum Gestaltenden uns Bewegende geschichtlich aus dieser Welt geboren sind, stehen wir zugleich immer unmittelbar dem gegenüber, das dieser Welt transzendent ist ; wir haben also [selbst] diese Welt transzendiert. Hier stehen Individuum und Welt einander gegenüber. 7

Nishida meint hier geistiges Sterben und Wiedergeburt im Sinne der Mystik. 8 Rinzai, vgl. Anm. 6.

213

Aus diesem Grunde habe ich früher gesagt, daß dasjenige, was uns in der Tat-Anschauung »gegeben« ist, in unser individuelles Selbst drängt und uns die Seele rauben will. Es verneint nicht nur unser körperliches Leben, sondern auch unsere Seele. Zu ihm stehen wir ganz und gar in dem Verhältnis des Gegenüberstehens, da wir Individuen der Welt sind, die in der Transzendenz ihre Selbstidentität hat. Soweit wir von dem, was als Gegebenes in uns drängt, unseres Selbstes beraubt werden, sind wir nicht wahrhaft Individuen, die in der Transzendenz ihr Selbst haben. Wir sollen also unser Selbst gegen die Welt behaupten. Hier liegt der Grund des kategorischen Imperativs. Aber daß wir uns so verhalten, ist notwendig unser Sollen als Individuen der Welt der Einheit der Gegensätze. Sonst wäre es als bloße moralische Selbstschätzung nur üßpis. Je persönlicher wir als Individuen in der gezeigten Weise sind, desto mehr müssen wir, als vom Gestalteten zum Gestaltenden uns Bewegende, geistig gestaltend sein, d. h. wir müssen als schöpferischer Faktor der schöpferischen Welt das Werkzeug des transzendenten Einen werden. Da bedeutet 'moralisch' nichts anderes als eben 'religiös'. Da die Welt als Einheit der Gegensätze in dem, was ihr transzendent ist, ihre Selbstidentität hat und wir dadurch Individuen sind, daß wir dem transzendenten Einen gegenüberstehen, so bewegen wir uns, je individueller wir sind, desto mehr von Wirklichkeit zu Wirklichkeit, während wir zugleich immer, diese Wirklichkeit transzendierend, reflektieren und denken. Wenn die Welt in dem, was ihr transzendent ist, ihre Selbstidentität hat, ist sie von der Weise des Ausdrucks. Und wir sind als Individuen dieser Welt von der Weise des Ausdrucksaktes. Und wir reflektieren, wenn Vergangenheit und Zukunft eins werden, insofern Welt eben Gestaltung auf die Weise der Einheit der Gegensätze ist. 214

Reflexion bedeutet notwendig Verbindung von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart. Der Standpunkt des Denkens ist dies, daß wir in dieser Hinsicht die unendlich sich bewegende Welt als eine Gegenwart erfassen, wo Vergangenheit und Zukunft verneint sind. Auf dem Standpunkt des Denkens erfaßt man ausdrucksartig die Welt als eine einzige Gegenwart. Die Welt der Einheit der Gegensätze wird auf diesem Standpunkt des Denkens als etwas erfaßt, das die Selbstidentität in sich selbst hat. Da erfaßt man die sich selbst widersprechende Welt als nicht sich selbst widersprechend. Daher ist der Standpunkt des Denkens in sich selbst durchaus widerspruchsvoll. Da entsteht ein Standpunkt des reinen Wissens, wo Denken und Praxis sich gegenüberstehen. Man kann sagen: Je mehr die Welt als Einheit der Gegensätze geistig gestaltend ist, desto mehr werden wir als Individuen denkend. Die Welt, die von unendlicher Vergangenheit in unendliche Zukunft sich bewegt und die Selbstidentität nicht in sich selbst hat, wird als etwas gedacht, das in sich selbst die Selbstidentität hat, d. h. als Schlußallgemeines. Da entsteht die wissenschaftliche Erkenntnis. Die als Einheit der Gegensätze sich selbst gestaltende Welt wird, wie oben gezeigt wurde, logisch immer in der Gegenwart der Einheit der Gegensätze als das Schlußallgemeine gedacht. Daß die Welt auf diese Weise durchaus in sich selbst das Moment der Selbstverneinung hat, ist der Grund, warum sie auf die Weise der Einheit der Gegensätze ist. Sonst wäre sie eben nicht die Welt der Einheit der Gegensätze. Aber als diese ist sie durchaus von dem aufgezeigten Standpunkte [des Wissens] aus zu erfassen; das heißt: die Welt der Immanenz gemäß und der Selbstidentität gemäß erfassen, bedeutet notwendig, daß sie zu etwas Abstraktem gemacht wird. Die konkrete Logik enthält notwendig die abstrakte Logik 215

als verneinendes Moment; aber vom Standpunkt der abstrakten Logik aus kann man nicht konkret-logisch denken. Die Welt der Einheit der Gegensätze kann ihre Selbstidentität nicht in sich selbst haben. Die Selbstidentität muß als Moment der geistigen Gestaltung der Geschichte vom Gestalteten zum Gestaltenden [in der Welt der Wirklichkeit] enthalten sein. Wo unser geschichtlich-schaffendes Selbst die Realität fortschreitend erfaßt, da haben wir es mit konkreter Logik zu tun. Da macht, so kann man sagen, die Welt, in der wir als in der Einheit der Gegensätze des Vielen und des Einen enthalten sind, sich selber deutlich. Unser Bewußtsein wird, sich selbst widersprechend, zum Bewußtsein der Welt. Daher darf man auch sagen, daß wir da durch die Praxis die Welt spiegeln, daß die Dinge sich selbst beweisen und dgl. m. Obwohl das Wissen mit der abstrakten Analyse beginnt, so geschieht dies doch in bezug auf Standpunkt und Methode von der Selbstbesinnung auf den Standpunkt des Selbst aus, der sich vom Gestalteten zum Gestaltenden bewegt. Wissen ist notwendig und wesentlich ein geschichtlicher Prozeß. So etwas wie das erwähnte Selbstbewußtsein des geschichtlichen Lebens nenne ich dialektische Logik. Darum ist auch die Wissenschaft dialektisch. Allein, da sie sich nur an das »vom Gestalteten« hält, muß sie »umweit-artig« genannt werden. Das geschichtliche Leben ausschließlich von ihrem Standpunkt aus zu betrachten, ist nicht frei von Abstraktion.

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