Arbeiter - Wirtschaftsbürger - Staat: Abhandlungen zur Industriellen Welt 9783110534672, 9783110532197

This volume presents a broad range of papers on German industrialization by historian Rudolf Boch, including essays on h

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German Pages 301 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort des Herausgebers
I Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung
Die Entstehungsbedingungen der Deutschen Arbeiterbewegung. Das Bergische Land und der ADAV
Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion mit besonderer Berücksichtigung des Handwerks im Verlagssystem
Das „rote Königreich“. Eine etwas andere Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung
II Wirtschaftsbürgertum
Von der „begrenzten“ zur forcierten Industrialisierung. Zum Wandel ökonomischer Zielvorstellungen im rheinischen Wirtschaftsbürgertum 1815–1845
Unternehmernachfolge in Deutschland. Ein historischer Rückblick
Notabelntradition und „Große Industrie“. Soziale Wurzeln und gesellschaftliche Zielvorstellungen des Liberalismus der Rheinprovinz 1820–1850
Johann Jacob Aders (1768–1825)
III Industrie- und Unternehmensgeschichte
The Rise and Decline of “Flexible Production”. The German Cutlery Industry of Solingen since the Eighteenth Century (1760–1960)
Die Wanderer-Werke AG. Historische Verortung und Forschungsstand
Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Sachsens als Basis der heutigen Industriekultur
Fabriken
Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit. Die Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg
IV Staat und Wirtschaft
Das Patentgesetz von 1877. Entstehung und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung
Staat und Industrialisierung im Vormärz. Das Königreich Sachsen (mit Vergleichen zu Preußen)
Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex. Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus im sächsisch-böhmischen Grenzraum
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Schriftenverzeichnis Rudolf Boch
Personenregister
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Arbeiter - Wirtschaftsbürger - Staat: Abhandlungen zur Industriellen Welt
 9783110534672, 9783110532197

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Rudolf Boch Arbeiter – Wirtschaftsbürger – Staat

Rudolf Boch

Arbeiter – Wirtschaftsbürger – Staat Abhandlungen zur Industriellen Welt Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll

ISBN 978-3-11-053219-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053467-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053247-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: „Ferdinand Lassalle – Der Kämpfer gegen die Kapitalmacht“, um 1870 © Deutsches Historisches Museum / A. Psille Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort des Herausgebers

I

VII

Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung

Die Entstehungsbedingungen der Deutschen Arbeiterbewegung. Das Bergische Land und der ADAV 3 Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion mit besonderer Berücksichtigung des Handwerks im Verlagssystem 18 Das „rote Königreich“. Eine etwas andere Geschichte der sächsischen 56 Arbeiterbewegung

II

Wirtschaftsbürgertum

Von der „begrenzten“ zur forcierten Industrialisierung. Zum Wandel ökonomischer Zielvorstellungen im rheinischen Wirtschaftsbürgertum 1815 – 1845 75 Unternehmernachfolge in Deutschland. Ein historischer Rückblick

101

Notabelntradition und „Große Industrie“. Soziale Wurzeln und gesellschaftliche Zielvorstellungen des Liberalismus der Rheinprovinz 1820 – 1850 110 Johann Jacob Aders (1768 – 1825)

III

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Industrie- und Unternehmensgeschichte

The Rise and Decline of “Flexible Production”. The German Cutlery Industry of Solingen since the Eighteenth Century (1760 – 1960) 151 Die Wanderer-Werke AG. Historische Verortung und Forschungsstand

192

VI

Inhalt

Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Sachsens als Basis der 203 heutigen Industriekultur Fabriken

211

Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit. Die Auto Union AG Chemnitz im Zweiten 222 Weltkrieg

IV

Staat und Wirtschaft

Das Patentgesetz von 1877. Entstehung und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung 241 Staat und Industrialisierung im Vormärz. Das Königreich Sachsen 255 (mit Vergleichen zu Preußen) Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex. Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus im sächsischböhmischen Grenzraum 275

Nachweis der Erstveröffentlichungen Schriftenverzeichnis Rudolf Boch Personenregister

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Vorwort des Herausgebers Am 12. Oktober 2017 vollendet Rudolf Boch, seit 1994 Inhaber der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz, sein 65. Lebensjahr. Beamtenrechtliche Besonderheiten bringen es mit sich, dass dieses Datum nicht mit dem Termin der Entpflichtung von den Amtsgeschäften zusammenfällt; dies wird erst später, im September 2018, erfolgen. So ist diese Sammlung ausgewählter „Kleiner Schriften“ kein Abschiedsgruß, sondern eher eine vorläufige Bilanz von mehr als drei Jahrzehnten Forschertätigkeit, die auch mit der Pensionierung nicht abgeschlossen ist, sondern durch Betreuung eingeworbener Drittmittelprojekte rege weitergeführt wird. Rudolf Bochs wissenschaftlicher Weg begann – nach Besuch der Lauenburgischen Gelehrtenschule Ratzeburg – 1971 mit dem Studium der Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften zunächst in Freiburg und danach in Bielefeld. Studien- und Forschungsaufenthalte führten ihn nach Glasgow und Sheffield, dort verbrachte er 1979/80 ein Jahr bei Sydney Pollard, dem Promotor der regionalen Industrialisierungsforschung, der wenig später auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an die Universität Bielefeld berufen werden sollte. Bielefeld wurde dann auch der Ort von Rudolf Bochs eigentlicher akademischer Sozialisation. Aus der Gruppe des damals dort lehrenden schulbildenden Dreigestirns – Reinhart Koselleck, Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler – interessierte den jungen Studenten aus Ratzeburg vor allem der Letztgenannte. Nach einer zweijährigen Tätigkeit als Leiter des von den Städten Leverkusen, Remscheid, Solingen und Wuppertal gemeinsam betriebenen und finanzierten Forschungsprojekts zur Geschichte der Arbeiterschaft im Bergischen Land wurde Rudolf Boch 1983 mit einer Untersuchung über „Solinger Lokalgewerkschaften und Deutscher Metallarbeiterverband. Eine Fallstudie zur krisenhaften Ablösung alter durch neue Arbeiterschichten 1870–1914“ in Bielefeld bei Hans-Ulrich Wehler promoviert. Die Buchfassung der Arbeit erschien, gekürzt und an einigen Stellen überarbeitet und erweitert, 1985 unter dem Titel „Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaften und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870 – 1914“ als Band 67 der „Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft“ und wurde im gleichen Jahr mit dem Preis des Hans-Böckler-Kreises für die beste neuere Arbeit zur Geschichte der Arbeiterbewegung ausgezeichnet. Nach Abschluss der Promotion arbeitete Rudolf Boch als Hochschulassistent an der Universität Bielefeld und habilitierte sich dort 1990 im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs zur Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums. Die Habilitationsschrift erschien ein Jahr später unter dem prägnanten und programmatischen Titel „Grenzenloses

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Vorwort des Herausgebers

Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814– 1857“. Lehrstuhlvertretungen und Auslandsaufenthalte führten Rudolf Boch von 1992 bis 1994 nach Frankfurt am Main und als Fellow an das Europäische Hochschulinstitut in Florenz, bevor er 1994 den Ruf auf die Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Technischen Universität Chemnitz annahm. Seitdem war und ist er dort in Forschung und Lehre vielfältig eingebunden, unter anderem als Studiendekan der Philosophischen Fakultät und (seit 2011) als Geschäftsführender Direktor des Instituts für Europäische Geschichte. Rudolf Bochs zahlreiche wissenschaftliche Aktivitäten an seiner Chemnitzer Wirkungsstätte spiegeln sich in den 15 ausgewählten Beiträgen zur Industriellen Welt, die in diesem Band zusammengetragen wurden und nach vier Themenschwerpunkten gruppiert sind. Nicht zufällig bilden die beiden zeitlich frühesten der hier aufgenommenen Stücke den Ausgangs- und Mittelpunkt der ersten Rubrik zur Geschichte von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung (I.). Mit der Erforschung der gewerkschaftlichen Organisationsfähigkeit der Handwerkerzünfte der Solinger Kleineisenindustrie in den 1870er Jahren hatte Rudolf Bochs Weg in die Wissenschaft einst begonnen. Das Thema hat er dann, noch von Bielefeld aus, mit Blick auf die lokalen Entstehungsbedingungen des von Ferdinand Lassalle 1863 gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ im Bergischen Land einerseits sowie – andererseits – in einem stark von der Forschung rezipierten Beitrag wiederaufgegriffen, der sich den bis dahin kaum beachteten Kontinuitätsund Verbindungslinien zwischen den klassischen Zunfthandwerken und den frühen deutschen Gewerkschaftsgründungen widmet. Während die ältere Forschung in der Regel von einer getrennt voneinander verlaufenden Entwicklung der Arbeiterbewegung und der Handwerkerbewegung ausging, weist Rudolf Boch in seinem Aufsatz nach, wie tief die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung während ihrer Formierungsphase in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren in den „zünftigen“ Traditionen und vor allem Organisationen handwerklichen Ursprungs verwurzelt war. Dem im 19. Jahrhundert stilprägenden Typus des rheinischen Wirtschaftsbürgertums (II.) hat Rudolf Boch, gleichfalls noch in Bielefeld, im Umkreis seines dortigen Habilitationsprojekts, zwei gewichtige Untersuchungen zu dessen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Zielvorstellungen gewidmet und dabei herausgearbeitet, in welch starkem Ausmaß seine maßgeblichen Repräsentanten in den 1840er Jahren zugleich als führende Köpfe des Liberalismus in der (seit 1815) preußischen Rheinprovinz, einem der industriellen Zentren des Hohenzollernstaates, agierten. Das moderne Industrialisierungsverständnis dieser Unternehmergruppe, ihr Denken in den Kategorien beschleunigten Wirtschaftswachstums und forcierter Industrieentwicklung, ließen sie bis 1848 zunehmend in die Rolle eines Gegenparts zur liberal-konservativen Berliner

Vorwort des Herausgebers

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Ministerialbürokratie hineinwachsen, die solche selbstbewusst vorgetragenen wirtschaftsbürgerlichen Ansprüche einzudämmen versuchte und hier, trotz mancher gewerbefördernder Infrastrukturmaßnahmen, eher hemmend wirkte, weil sie den direkten staatlichen Einfluss auf das Wirtschaftsleben in Preußen aufrecht zu erhalten suchte. Dass meinungsführende rheinische Wirtschaftsbürger ihre gesellschaftlich herausgehobene Stellung als „Industrialisierungselite“ nicht selten auch im Sinne einer aktiven Selbstverpflichtung auf das Allgemeinwohl verstanden und sozialpolitische Initiativen zur Begrenzung der negativen Folgen der Industrialisierung und zur Eindämmung der Armut unter den benachteiligten arbeitenden Klassen einforderten, wird in einer biographischen Skizze zum Wirken des freihändlerisch gesinnten Elberfelder Kaufmanns und Kommunalpolitikers Johann Jacob Aders exemplifiziert. Industrie- und unternehmensgeschichtliche Fragestellungen bilden den Mittelpunkt eines dritten Themenschwerpunkts (III.). Hier stehen – neben einer sehr umfänglichen Detailstudie über den Entwicklungsgang des Solinger Schneidwarengewerbes vom 18. bis in das 20. Jahrhundert im internationalen Vergleichsmaßstab – sächsische, speziell Chemnitzer Erfahrungswelten zur Diskussion. Sachsens lange und weithin erfolgreiche industrielle Tradition, gekennzeichnet durch Branchenvielfalt, mittelständisches Gepräge und hohe Adaptions- und Anpassungsfähigkeit der Unternehmer und Arbeiter, besitzt für das aktuelle Selbstverständnis wie auch für die gegenwärtige Selbstdarstellung dieses Bundeslandes potentiell ein großes Gewicht, wird in ihrer Bedeutung indes nur allzu oft marginalisiert und verkannt, wie Rudolf Boch gelegentlich beklagt hat. Anhand zweier großer Firmen – den Wanderer-Werken AG und der Auto Union AG, beide mit Sitz in Chemnitz – hat er die Möglichkeiten und Grenzen moderner unternehmensgeschichtlicher Forschung aufgezeigt, wobei der hier erstmals im Druck erscheinenden Skizze zur Rolle der Auto Union im Zweiten Weltkrieg eine besondere Bedeutung zukommt. Frucht und Folge eines von der Traditionsabteilung der Audi AG geförderten, jedoch unabhängig von ihr erarbeiteten Forschungsprojekts „Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg“ weist dieser Aufsatz eindringlich nach, wie sich der Betrieb in den Kriegsjahren vom Automobilhersteller zum Rüstungsunternehmen entwickelte und als bevorrechteter Produzent von Panzermotoren und Luftwaffengeräten nicht nur das Privileg erhöhter Maschinenausstattung genoss, sondern ab 1942, seit 1944 auch unter Rückgriff auf das in den Konzentrationslagern vorhandene „Menschenpotential“, in großer Zahl ausländische Zivil- und Zwangsarbeiter rekrutierte. Der Häftlingseinsatz trug fatalerweise nicht nur wesentlich zur betrieblichen Expansion des Chemnitzer Konzerns bei; er garantierte darüber hinaus auch hohe Unternehmensgewinne und eröffnete die Chance zu wachsender Fertigungsrationalisierung.

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Vorwort des Herausgebers

Brisanten Problemfeldern gelten auch die im letzten Abschnitt „Staat und Wirtschaft“ zusammengefassten Beiträge (IV.). Rudolf Boch hatte diesem Begriffspaar bereits 2004 im Rahmen der renommierten „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ eine eigene Buchveröffentlichung gewidmet – die damals erste monographische Überblicksdarstellung zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert überhaupt. Eine entscheidende Zäsur bei der Neubestimmung dieses Verhältnisses bot das von Rudolf Boch vor dem Hintergrund der Zeit mustergültig interpretierte Patentgesetz von 1877. Dieses Gesetz markierte nicht nur die Niederlage der auf Abschaffung jeglichen Patent- und Erfindungsschutzes drängenden wirtschaftsliberalen Befürworter eines unkontrollierten Freien Marktes, sondern eröffnete auch die Ära einer verstärkten staatlichen Interventionstätigkeit auf den Feldern der Wirtschaftsförderungs-, Sozialversicherungsund Infrastrukturpolitik im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. In gewisser Weise wurde damit, nach einer in den 1860er und 1870er Jahren nachhaltig am Freihandel und an weitgehender staatlicher Enthaltsamkeit orientierten Phase liberaler preußischer Wirtschaftspolitik, eine Rückwendung zu älteren Modellen staatlich dirigierter und kontrollierter Gewerbeförderungspolitik vollzogen, deren Grundlinien ein Beitrag zu den industrialisierungspolitischen Reformbemühungen des sächsischen Staates im Vergleich zu Preußen skizziert.Vielleicht ist es kein Zufall, dass der letzte, wiederum im Umfeld eines größeren Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus in der SBZ/DDR entstandene Aufsatz dieses Bandes den traurigen Tiefpunkt rücksichtslos exekutierter staatlicher Wirtschaftslenkung beleuchtet und dabei insbesondere den Einbau des „Wismut“Uranbergbaubetriebs in den sowjetischen Atomkomplex unter ausdrücklicher Berücksichtigung seines Stellenwerts im Kalten Krieg thematisiert. Zusammengenommen spiegeln alle Beiträge des Bandes die breitangelegten Forschungsinteressen des Jubilars, der sich – wie er selbst einmal bekannte – einem „kritischen Historismus“ verpflichtet fühlt und Wirtschaftsgeschichte niemals nur selbstreferentiell, sondern stets in weitem Ausgriff unter Einbeziehung moderner ideen-, sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen betreibt und, nicht zuletzt, ihre vielfältigen regional- und lokalhistorischen Verflechtungen berücksichtigt, ohne dabei einer landesgeschichtlich verengten Schlüssellochperspektive zu erliegen Der Herausgeber dankt seinen Chemnitzer Mitarbeitern Mario H. Müller, M.A. und Jasmin Hain, B.A. für die sorgfältige Erfassung der Beiträge und für die Anfertigung des Registers. Die Textgestalt folgt den jeweiligen Erstfassungen. Druckfehler und stilistische Unstimmigkeiten wurden kommentarlos korrigiert. Chemnitz, im August 2017

Frank-Lothar Kroll

I Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung

Die Entstehungsbedingungen der Deutschen Arbeiterbewegung. Das Bergische Land und der ADAV 1 Einige Anmerkungen zum Stand der Arbeitergeschichtsschreibung in der Bundesrepublik In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hat sich in der bundesdeutschen Arbeiterhistoriographie ein erheblicher Wechsel in der Perspektive etabliert: Im Mittelpunkt der Forschung steht nicht mehr die Suche nach den originären Wurzeln der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung – vor fünfzehn Jahren zumeist verstanden als Bewegung von Fabrikarbeitern –, sondern die Spurensicherung von Traditionslinien der frühen Arbeiterbewegung zum zünftigen Handwerk wie auch zur „vorindustriellen“ Volkskultur. Dieser Perspektivwechsel hat die Arbeitergeschichtsschreibung in vieler Hinsicht ungemein befruchtet, hat u. a. die eigenständigen Werthaltungen und Muster der Weltdeutung der frühen Arbeiterbewegung klarer hervortreten lassen und den von einer älteren „moral economy“ geprägten Anti-Liberalismus von Teilen dieser Bewegung nachvollziehbarer gemacht. Es bricht heute kein Tabu mehr, wenn etwa Friedrich Lenger in der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ für die begründete Annahme einer eigenständigen „handwerklichen Phase der Arbeiterbewegung“ in allen europäischen Industrieländern und in den USA plädieren kann, die keineswegs in einer bruchlosen Kontinuität zu späteren Phasen der Arbeiterbewegung gestanden habe.¹ Der heuristisch befruchtende Perspektivwechsel scheint so weit vorangetrieben, daß man ohne Scheu die Frage stellen kann, inwieweit er nicht in Gefahr steht, einer eigenen Mythenbildung Vorschub zu leisten. Mit Recht ist etwa unlängst von Christiane Eisenberg darauf verwiesen worden, daß – im Gegensatz zu England – die Zunfttradition in bedeutenden Handwerkszweigen des deutschsprachigen Raums der Bildung von Gewerkschaften eher hinderlich gewesen sei.² Sie betont eher wieder den Bruch mit der Handwerkstradition, den Neuanfang der Arbeiterbewegung, wie sie auch in einem

 Vgl. F. Lenger: Die handwerkliche Phase der Arbeiterbewegung in England, Deutschland und den USA – Plädoyer für einen Vergleich. In: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 232– 243.  C. Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich. Göttingen 1986, bes. S. 50 ff., 255 ff. DOI 10.1515/9783110534672-001

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Die Entstehungsbedingungen der Deutschen Arbeiterbewegung

neueren Beitrag³ die Nichtexistenz einer autonomen Gegenkultur der arbeitenden Bevölkerung und die „Traditionslosigkeit“ des Lassalle’schen ADAV hervorhebt – immer im Vergleich zum englischen Chartismus und dessen sozialer Basis. Jene, hier knapp skizzierten Positionen sind durchaus nicht falsch, sie können vielleicht gar besagter Mythenbildung entgegenwirken. Nicht zuletzt durch die Kompromißlosigkeit ihres Vortrags scheinen die Positionen aber doch erheblich überzogen und laufen Gefahr, der historischen Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung letztlich nicht gerecht zu werden. Sicherlich gab es jene widerständige, entfaltete Kultur der arbeitenden Bevölkerung, die E. P. Thompson für England so brillant in ihrem organischen Hinüberwachsen zur Arbeiterkultur beschrieben hat, in Deutschland niemals in diesem Umfang und wenn, dann auch nur mehrfach gebrochen. Sicherlich war auch jene meisterzentrierte, sozial „exklusive“ Zunfttradition des deutschsprachigen Raums mit ihrer Herausbildung eines Meister-Geselle-Gegensatzes ein dominantes Phänomen, das einem einfachen Hinüberwachsen des Handwerks in die Arbeiterbewegung entgegenstand. Aber es gab gewichtige Ausnahmen der deutschen Handwerks- und Gewerbeentwicklung, ohne die die Herausbildung der deutschen Arbeiterbewegung, auch diejenige des ADAV, nicht vollständig zu verstehen ist.

2 Die Herausbildung sozial homogener Milieus und besonderer Zunfttraditionen in den verdichteten Gewerberegionen des deutschsprachigen Raums Von der traditionellen Handwerksgeschichte ist bisher kaum beachtet worden, daß es in zahlreichen deutschen Regionen seit dem späten 17. Jahrhundert eine Zunft- und Gewerbeentwicklung von exportorientierten Handwerken gab, die das genaue Gegenstück zum Prozeß der Herausbildung einer meisterzentrierten Zunft in den Versorgungshandwerken der Städte bildete und in vielem eher der westeuropäischen Entwicklung, etwa in den englischen Gewerberegionen, entsprach.⁴

 C. Eisenberg: Chartismus und Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein. Die Entstehung der politischen Arbeiterbewegung in England und Deutschland. In: Arno Herzig/Günter Trautmann (Hrsg.): „Der kühnen Bahn nur folgen wir …“. Ürsprünge, Erfolge und Grenzen der Arbeiterbewegung in Deutschland. Bd. 1: Entsehung und Wandel der deutschen Arbeiterbewegung. Hamburg 1989, S. 151– 172.  Dazu und zum Folgenden ausführlich R. Boch: Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion mit besonderer Berücksichtigung des Handwerks im Verlagssystem. In: U. Wengenroth (Hrsg.): Prekäre Selbständigkeit. Zur Standort-

Das Bergische Land und der ADAV

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In Anpassung an die weitere Ausbildung einer Marktgesellschaft und schließlich eines „Welt“-marktes gerieten ganze Handwerkszweige der regional verdichteten Kleineisen- und Textilproduktion unter den Einfluß von Verleger-Kaufleuten. In diesem rasanten Wachstumsprozeß der bald nach Zehntausenden zählenden Handwerke wurde die äußere Abschließung der historisch gewachsenen Zünfte gegenüber unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten stark abgeschwächt. Auch die innerzünftige Abschließung gegenüber den Gesellen, wie sie in den Versorgungshandwerken der Städte etwa durch Begrenzung der Meisterstellen, Ausweitung der Lehrzeit und des Wanderzwangs geschah, wurde in diesen Exporthandwerken kaum nachvollzogen. Im Gegenteil: Es kam zu einer tendenziellen Nivellierung des Meister-Geselle-Gegensatzes, welcher einer gemeinsamen Frontstellung gegenüber dem Verlagskapital wich. Die allmähliche Proletarisierung von Gesellen und Meistern in diesen Handwerken, die geringere Distanzierung – auch wegen des Wachstums – von den sonstigen Unterschichten sowie die regionale Konzentration der Exportgewerbe führte zur Herausbildung homogener sozialer Milieus, dörflichen und kleinstädtischen Gemeinschaften, die den englischen Gewerbedistrikten durchaus entsprachen. Diese sozial homogenen Milieus erfuhren auch weiterhin eine zünftig-handwerkliche Prägung, denn die zünftige Organisierung der Gewerbe wurde in diesem Wachstumsprozeß nicht einfach aufgelöst, sondern machte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einen Funktionswandel durch: Die Zünfte stellten keine Vereinigung von gleichgestellten, sowohl produzierenden als auch handeltreibenden Handwerksmeistern mehr dar, sondern boten ein wirtschaftliches und soziales Kontraktverhältnis zwischen den Kaufleuten einerseits und den immer stärker von diesen abhängig werdenden Handwerkern andererseits. Zwar blieben die Zünfte Selbstverwaltungsorgane der Handwerke und behielten eine gewisse Eigengerichtsbarkeit bei Streitfällen zwischen Zunftmitgliedern. Sie hatten auch weiterhin die Funktion, den Ausbildungsgang verbindlich zu organisieren (Lehrzeit, Meisterprüfung) und damit das Qualifikationsniveau der Handwerke zu sichern, an dem auch das Kaufmannskapital ein Interesse hatte. In das Zentrum der Aufgaben der Zunft rückte jedoch immer stärker die Aushandlung von festen Lohnsätzen, d. h. Mindeststücklöhnen für die einzelnen Sorten und Qualitäten der Kleineisenoder Textilerzeugung, mit den Verlagskaufleuten. Das Kontraktverhältnis zwischen „Kapital und Arbeit“ wurde durch die Einbeziehung der Verlagskaufleute in bestimmung von Handwerk, Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozeß. Stuttgart 1989, S. 37– 69 (jetzt in diesem Band, S. 18 – 55). Vgl. auch die Untersuchung über die historische Entwicklung der Solinger Schneidwarengewerbe bei R. Boch: Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870 – 1914. Göttingen 1985, bes. S. 81 ff.

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Die Entstehungsbedingungen der Deutschen Arbeiterbewegung

die Handwerksgerichte oder gar durch die Bildung neuer, paritätisch besetzter „Vergleichskammern“ institutionalisiert. Sie sollten über die Einhaltung der Lohnsätze (man könnte auch sagen: Tariflöhne) wachen sowie den Umfang der Zulassung nichtprivilegierter Arbeiter – meist in Hilfsgewerben der eigentlichen Handwerke – regeln. Wenn aber die institutionalisierte Konfliktregelung versagte, sei es aufgrund schlechter Konjunkturen oder aufgrund des Ehrgeizes einzelner Kaufleute, die sich nicht (mehr) an die Regeln halten wollten, griffen die gewerblichen Produzenten – im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vermehrt – zum Mittel des Arbeitskampfes, des Streiks. Durch die wohlwollende Duldung von Arbeitskämpfen, durch die Rolle als „Anwälten der Arbeit“ in den „Vergleichskammern“ oder Handwerksgerichten, veränderte sich der Charakter der Zünfte: Sie wurden zu quasi-gewerkschaftlichen Vereinigungen der lohnabhängigen Handwerker-Arbeiter.⁵ Die skizzierten exportorientierten Handwerke dürfen mithin nicht mit den heimindustriellen Gewerben von bäuerlichen Unterschichten verwechselt werden, wie etwa die im 18. Jahrhundert bereits weit verbreitete Leinen- oder Baumwollspinnerei, die Herstellung grober Leinengewebe oder das Korb- und Strohflechten.⁶ Diese heimgewerblichen Produzenten waren zwar durch das sog. Kaufsystem mit dem Kaufmannskapital partiell verbunden, sie waren zugleich aber integraler Bestandteil einer bäuerlich geprägten Agrargesellschaft. Auch die noch anhaltende Diskussion um die „Protoindustrialisierung“ hat bisher an einer mangelnden Unterscheidung zwischen diesem agrarisch integrierten Heimgewerbe und etwa der zünftigen Textilweberei des 18. Jahrhunderts gelitten.⁷ Die zünftige  Diesen Funktionswandel der Zünfte in den rechtsrheinischen Exportgewerben erkannte bereits vor mehr als einhundert Jahren A. Thun in seiner auch heute noch anregenden Studie: Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. 2 Bde., Leipzig 1879: „Die Ausbildung des hausindustriellen Betriebes erhebt das System der Lohnarbeit zur herrschenden Tatsache. Der Kampf der gleichstehenden Meister untereinander hört auf, es beginnt der Kampf der Lohnarbeiter gegen die Arbeitgeber […] die Zünfte selbst erhielten unter dem Druck der Tatsachen ganz andere Zielpunkte.“ (Bd. 2: Die Industrie des Bergischen Landes, S. 27).  Sie konnten, im Gegensatz zu den Gewerben des Bergischen Landes oder Sachsens, zumeist auf einer ländlichen Faserstoffproduktion (v. a. Flachs) aufbauen.  Die Arbeiten im Rahmen der „Protoindustrialisierungs“-Debatte haben zwar die Abhängigkeit breiter ländlicher Unterschichten von gewerblichem Nebenerwerb erneut und heuristisch fruchtbar thematisiert. Sie haben aber die Tendenz der Verlagerung der Gewerbe von der Stadt auf das Land überzeichnet, die Fortexistenz zünftiger Produktionsformen im Einzugsbereich von Städten, die Bedeutung des handwerklich-zünftigen „Brain-Trust“ für die Aufrechterhaltung des Qualitätsniveaus für Waren des gehobenen Bedarfs unterschätzt. Das Bild der „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ wurde bisher zu sehr von ländlichem Leinengewerbe und unzünftigem Baumwollgewerbe geprägt.

Das Bergische Land und der ADAV

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Textilproduktion des gehobenen Bedarfs (Wolltuche, feines Leinen usw.), wie auch die zünftig organisierte Kleineisen- und Metallverarbeitung, waren zwar seit dem ausgehenden Mittelalter längst nicht mehr reichsstädtisch zentriert; aber sie waren doch eher städtisch, in städtereichen Landschaften, wie etwa Sachsen, Thüringen oder dem Bergischen Land, beheimatet.⁸ Es dürfte kein Zufall sein, daß die Zentren der frühen deutschen Arbeiterbewegung – unabhängig von der Orientierung auf den ADAV oder die „Eisenacher“ – in eben jenen gewerblich verdichteten Regionen mit ihren relativ homogenen sozialen Milieus lagen.

3 Die spezifischen Entwicklungsmuster der bergischen Arbeiterbewegung in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts Am Beispiel des Bergischen Landes soll im folgenden skizzenhaft beschrieben werden, wie sich schon in den Jahrzehnten vor den öffentlichkeitswirksamen Auftritten Lassalles in den Jahren 1863/64 in Barmen, Ronsdorf und Solingen eine ökonomische, seit 1849 auch dezidiert politische Arbeiterbewegung zu konstituieren begann, deren Ziele zwar teilweise durch Lassalle eine neuerliche politische Zuspitzung erfuhren, deren Vorstellungen von einer „gerechten Gesellschaft“ von ihm auf den Begriff gebracht wurden, die aber nicht durch Lassalles Wirken „hervorgerufen“ wurde. Vielmehr konnte sich Lassalle auf stabile proletarische Gemeinschaftsbeziehungen und auf politische Protesterfahrungen stützen. Er traf zudem auf eine handwerkliche Gegenkultur in einigen gewerblichen Branchen des Bergischen Landes, die quer zu den liberalen Wertmustern des Wirtschaftsbürgertums stand. Die scharf antiliberale, antibürgerliche Agitation Lassalles fiel mithin im Bergischen Land auf fruchtbaren Boden. Der ADAV war daher in einer seiner Hochburgen – bei Lassalles Tod im Sommer 1864 entfielen ca. 40 Prozent der Mitglieder auf das Bergische Land⁹ – in mehrfacher Hinsicht keine traditionslose Organisation.  Alle diese Regionen zeichneten sich durch einen besonderen „Städtereichtum“ aus. So zählte der Kreisdirektionsbezirk Zwickau, der „größte, gebirgigste, industriöseste und bevölkertste“ Sachsens, Mitte der 1830er Jahre 574.000 Einwohner, „welche 59 (!) Städte und 880 Orte (nicht aber jedesmal Dörfer) […] bewohnen“. Vgl. A. Schiffner: Beschreibung von Sachsen. 2. Aufl., Dresden 1845, S. 241 f.; zitiert nach H. Zwahr: Proletariat und Bourgeoisie in Deutschland. Köln 1980, S. 61 f. Im Bergischen Land besaßen sogar Ortschaften wie Ronsdorf, Cronsberg, Höhscheid, Dorp und Wald – um nur einige dieser nur wenige Kilometer von einander entfernten großen „Industriedörfer“ zu nennen – seit dem 18. Jahrhundert Stadtrecht.  Vgl. den wohlinformierten Aufsatz von D. Dowe: Zur Frühgeschichte der Arbeiterbewegung im Bergischen Land bis 1875. In: K. Düwell/W. Köllmann (Hrsg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter. Bd. 2, Wuppertal 1984, S. 148 – 63, hier S. 158.

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Die Entstehungsbedingungen der Deutschen Arbeiterbewegung

3.1 Die „goldene Vergangenheit“ der Zunft und das Fortbestehen von Elementen einer handwerklichen Gegenkultur Für das Bergische Land gibt es zahlreiche Belege und Indizien dafür, daß die „Entregelung“ sämtlicher Gewerbe, die ersatzlose Aufhebung der Zünfte mit ihren quasi-gewerkschaftlichen Schutzfunktionen in den letzten Jahren des ancièn regime und v. a. in der napoleonischen Epoche, von den Handwerker-Arbeitern in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als Verlust empfunden wurde.¹⁰ Zahlreiche Petitionen der 1820er und 1830er Jahre, im Solinger Schneidwarengewerbe gar eine Streikbewegung im Jahr 1826, hatten die Wiedereinführung eines festen Lohnsatzes wie zur Zeit der Zünfte und eine Regelung des Ausbildungswesens zum Ziel. Es blieben auch rudimentäre Organisationsformen des Handwerks erhalten, v. a. jene zahlreichen, branchenspezifischen Sterbe- und Krankenkassen der Meister und Gesellen, die in den linksrheinischen Gewerbedistrikten ohne Zunfttradition völlig unbekannt blieben. Zum Teil enthielten die Satzungen der Unterstützungskassen auch regelrechte, auf eine korporative Ordnung des Gewerbes abzielende Bestimmungen, die über die eigentlichen Bedürfnisse als (nun privatorganisierte) Versicherungsvereine hinausgingen. So erlaubte die Sterbekasse der Bandwirkermeister von Elberfeld, Barmen und Ronsdorf nur den Beitritt solcher Meister, die eine mindestens zweijährige Lehrzeit absolviert hatten.¹¹ In den Solinger Schneidwarenhandwerken hingegen wurde versucht, die alten Ausbildungsbestimmungen der Zunftzeit durch nächtliche Femegerichte aufrechtzuerhalten: Meister, die zu viele Lehrlinge angenommen hatten oder die Gehilfen ohne oder auch mit berufsfremder Ausbildung beschäftigten, wurden durch das wiederholte Zerstören ihrer Arbeitsgeräte und Schleifsteine „bestraft“. Unter der Oberfläche der offiziellen Gewerbefreiheit existierte in einigen Berufen eine handwerkliche Gegenkultur, die einen eigenen Moralkodex aufrechterhielt und eine erhebliche soziale Kontrolle ausübte. Im Solinger Industriebezirk wurde nur ein Bruchteil dieser als „Orakel“ bezeichneten nächtlichen Femegerichte

 Dazu ausführlich Boch: Zunfttradition (wie Anm. 4), sowie ders./M. Krause: Historisches Lesebuch zur Geschichte der Arbeiterschaft im Bergischen Land. Köln 1983, bes. S. 50 – 66. Vgl. auch M. Henkel/R. Taubert: Maschinenstürmer. Frankfurt 1979, S. 143 ff. Tauber beschreibt auch den Schleiferstreik für die Wiedereinführung eines festen Lohnsatzes detailliert.  Vgl. K. Emsbach: Die soziale Betriebsverfassung der rheinischen Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert. Bonn 1982, S. 246. Emsbach geht dezidiert auf das Fortbestehen berufsspezifischer Selbsthilfeeinrichtungen im Bergischen ein (bes. S. 239 ff.).

Das Bergische Land und der ADAV

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überhaupt zur Anzeige gebracht, und auch dann konnten die preußischen Behörden nie einen Täter ermitteln.¹²

3.2 Die Forderung nach Begrenzung des Warencharakters Im März 1848 kam es schließlich in allen wichtigen Exportgewerben des Bergischen Landes zu einer „Tarifvertrags“bewegung, deren gemeinsames Ziel die Durchsetzung fester Lohnsätze (Minimalstücklöhne) wie zur Zeit der späten Zünfte war, um der Konkurrenz der zahlreichen Verlegerkaufleute um höhere Marktanteile auf Kosten der abhängigen Handwerker-Arbeiter ein Ende zu setzen.¹³ In einigen Handwerken wurde gar die Forderung nach der Garantie eines Mindestlohnes erhoben, wie etwa durch die Elberfelder Weber, die 4 Taler pro Woche als Minimum der Existenzsicherung ansahen. Die Lohnbewegung im Bergischen Land zielte klar gegen den freien, individuellen Arbeitsvertrag, mithin gegen das liberale Ideal der Lohnfestsetzung „als Sache einer freien Übereinkunft“.¹⁴ Für die Lohnbewegung im Bergischen gilt, was Arno Herzig für die nahezu identischen Forderungen des Frühjahrs 1848 in den Gewerbezentren der benachbarten Mark formuliert hat: „Die Legitimation der ,sittlichen Ökonomie‘ entsprach ihrer Logik eher als die politische Ökonomie des freien Marktes.“¹⁵ Im Interesse einer Wiederherstellung von tradierten Formen des sozialen Ausgleichs mit dem Ziel der Begrenzung des Warencharakters der Arbeit und der Ökonomie des freien Marktes waren die Handwerker-Arbeiter bemüht, eng mit den Verleger-Kaufleuten und Fabrikanten zusammenzuarbeiten.  Zur Analyse dieser handwerklichen Gegenkultur bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert hinein vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 4), S. 55 ff.  Für einzelne Städte des Bergischen Landes wurde in der älteren Sekundärliteratur, aber auch jüngst bei Emsbach: Betriebsverfassung (wie Anm. 11), immer einmal wieder auf jene Bewegung für feste Lohnsätze und für die Errichtung von Arbeitsräten verwiesen. Es blieb jedoch verborgen, daß es sich um eine alle wichtigen Exporthandwerke in allen bergischen Städten erfassende Bewegung handelte, der in vielfacher Hinsicht eine zentrale Bedeutung für die Sozialgeschichte des Bergischen Landes zukommt. Siehe dazu R. Boch:Tarifverträge und „Ehrenräte“. Unternehmer und Arbeiter im Regierungsbezirk Düsseldorf 1848/49, in: B. Dietz (Hrsg.): Industrialisierung, historisches Erbe und Öffentlichkeit (= Neues Bergisches Jahrbuch Bd. 3),Wuppertal 1990, S. 178 – 226.  Daß sich der Streik der Solinger Schleifer im Kern gegen den „freien“ Arbeitsvertrag richtete, umschrieb mit den zitierten Worten bereits im Jahr 1826 der Solinger Landrat Hauer. Zitiert nach Henkel/Taubert: Maschinenstürmer (wie Anm. 10), S. 162.Vgl. auch A. Herzig:Vom sozialen Protest zur Arbeiterbewegung. Das Beispiel des märkisch-westfälischen Industriegebietes (1780 – 1865). In: H. Volkmann/J. Bergmann (Hrsg.): Sozialer Protest. Opladen 1984, S. 253 – 280, hier S. 278.  Ebd., S. 278.

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Unter dem Druck der revolutionären Ereignisse kam es daher in Elberfeld, Barmen, Ronsdorf, Gräfrath, Remscheid und Solingen zur Einrichtung sog. Arbeitsräte oder Ehrenräte die – paritätisch mit Handwerkern und Kaufleuten besetzt – als Kommission für die Erstellung der festen Lohnsätze, wie auch als innergewerbliche Schlichtungsinstanz und als zukünftige Kontrollkommission für die Lohnsätze fungieren sollten.¹⁶ Ähnliche Institutionen hatte es etwa in Solingen bis 1811 noch als Teil der Zunftordnung gegeben. Bis zum Herbst 1848 gingen die bergischen Unternehmer – im Einverständnis mit den örtlichen Behörden – auf einen Teil der Forderungen ein. Die Forderung nach einem festen Lohnsatz traf anfangs sogar auf Unterstützung einiger etablierter, politisch eher konservativer Verleger-Kaufleute, die eine partielle Interessenidentität mit den Handwerkern hatten, da auch sie die über Lohnreduzierung stattfindende „Schmutzkonkurrenz“ neu aufgestiegener Verleger unterbinden wollten. Die „Stipulationen“ genannten Verträge wurden jedoch nach Abklingen der unmittelbaren Gefahr einer sozialen Revolte, spätestens im Winter 1848/49, von vielen Verlegern und Fabrikanten v. a. der Kleineisenindustrie um die Zentren Remscheid und Solingen unterlaufen. Die Arbeitsräte wurden von den Fabrikanten zunehmend boykottiert und ihre Beschlüsse, da sie keinerlei Rechtsverbindlichkeiten hatten, kaum mehr befolgt.¹⁷ Die Mehrzahl der bergischen Fabrikanten war zwar bereit, offensichtliche Mißstände in den Gewerben, wie etwa das „Warenzahlen“ oder die Nichtvergütung der umfangreichen Vorarbeiten beim „Vorrichten“ der Webstühle, abzustellen. Alle weitergehenden Forderungen, eben jene festen, branchenspezifischen Mindestlöhne, aber auch die Beschränkung von Lehrlingszahlen oder die „Nahrungssicherung“ durch Verbot der Auftragsvergabe an außerbergische Gewerbedistrikte in Krisenzeiten, waren für die Masse der Unternehmer letztlich anachronistisch, da nicht mehr in die neue Zeit passend. Zahlreiche Quellen belegen, daß v. a. die kleinen, erst jüngst aufgestiegenen VerlegerKaufleute diese Einschränkungen ihrer Unternehmerautonomie nicht hinneh-

 Vgl. Anm. 13. Über die Arbeitsweise der „Ehrenräte“ und über die internen Konflikte geben die bisher noch nie im Zusammenhang ausgewerteten Aktenbestände der bergischen Stadtarchive und des Staatsarchivs Düsseldorf detailliert Auskunft. Vgl. R. Boch (Bearb.): Inventarverzeichnis zur Geschichte der bergischen Arbeiterschaft 1750 – 1950. Solingen 1982, v. a. S. 157 f., 269, 317, 320 ff., 494, 579.  In Elberfeld und Barmen blieb die Kooperation auf der Basis der Verträge des März 1848 aber noch – begünstigt durch eine gute Konjunktur – bis in das Jahr 1852 erhalten. Das dürfte ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, daß sich die Weber und Färbergesellen beim „Elberfelder Aufstand“ im Mai 1849 eher passiv verhielten. Vgl. Boch: Tarifvereinbarungen (wie Anm. 13).

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men wollten und die meisten Forderungen ohnehin für ökonomisch nicht mehr tragbar hielten.

3.3 Die Tradition einer eigenständigen Organisation der Arbeiter Im Frühjahr 1848 war es neben der Vereinbarung von festen Lohnsätzen auch zu einer eigenständigen, berufsspezifischen Organisierung der bergischen Handwerker-Arbeiter gekommen. Unter dem Druck der Ereignisse hatten die preußischen Behörden Innungen oder „Bruderschaften“ für die wichtigsten Exporthandwerke zugelassen, deren Statuten teilweise weit über die gesetzlichen Bestimmungen der Gewerbeordnung von 1845 hinausgingen, und die durchaus als Nachfolgeorganisationen der quasi-gewerkschaftlichen Körperschaften der späten Zunftzeit angesehen werden können. Es waren in diesen Statuten, neben internen Handwerksbelangen wie etwa Ausbildungsbestimmungen, v. a. die gemeinschaftliche Interessenvertretung in Lohnfragen schriftlich fixiert worden.¹⁸ In den Statuten der Solinger Schmiede- und Schleiferbruderschaften gab es sogar eindeutige Bestimmungen, wann und unter welchen Bedingungen zum Mittel des Streiks, der Arbeitsverweigerung, gegriffen werden sollte. Von der Waffe des Streiks wurde in den Jahren 1848/49, wenn überhaupt, nur vereinzelt Gebrauch gemacht. Nur von der Remscheider Feilenhauer-Innung und der Solinger Schwertschmiede-Bruderschaft ist überliefert, daß sie die Einlösung der im März 1848 gegebenen Versprechungen durch Streiks in Erwägung zogen.¹⁹ Insgesamt konnte die Existenz der Bruderschaften und Innungen das Unterlaufen der festen Lohnsätze aber nicht verhindern. Zu Beginn der „Reaktionszeit“ wurden einige von ihnen behördlich aufgelöst, wie etwa die Solinger Bruderschaften.

 Für das Wuppertal hatte bereits W. Köllmann vor vielen Jahren auf den besonderen Charakter der dortigen Weber- und Wirkerinnungen hingewiesen. Er spricht von ihnen als „Verbände, ,Innungen‘ genannt“, die „Versuche genossenschaftlicher Einigung“ darstellten, „die über den Typus der Handwerkerinnungen hinausgingen“. W. Köllmann: Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert. Tübingen 1960, S. 60 ff.  Vgl. für Remscheid P. Wigger: Die Entwicklung der Gewerkschaften bis 1933 unter besonderer Berücksichtigung des Remscheider Raumes. Köln 1976 (MS), S. 13, sowie „Volksblatt für Remscheid und Umgegend“, Nr. 21/28/32/37 im Stadtarchiv Remscheid; für Solingen M. Kiekenap: Solingen während der Revolution 1848/49, Köln 1978 (MS), S. 36 ff. Das Streikreglement war in 26 der Statuten der Solinger Schwertschmiede und -schleiferbruderschaften folgendermaßen formuliert: „Die Bruderschaft verbindet sich, unter denselben Strafen für keinen Kaufmann mehr zu schleifen, der zum Viertenmale unter den gesetzlichen Preisen schleifen ließ […]“. Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 4), S. 92.

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Die Geschichte der weiterbestehenden Innungen in den bergischen Exporthandwerken ist bisher kaum erforscht. Die bekannten Beispiele der Elberfelder Färbergesellenstreiks in den 1850er Jahren wie auch die erfolgreichen Arbeitskämpfe um die Wiedereinführung fester Lohnsätze im Remscheider Feilengewerbe im Jahr 1869 zeigen jedoch, daß auch die Innungen später zum Kristallisationspunkt von Streikbewegungen werden konnten.²⁰ Die starken rechtlichen Beschränkungen im Rahmen der Statutenänderungen Anfang der 1850er Jahre nahmen ihnen aber viel von ihrer Attraktivität. Obwohl die Innungen in den 1860er Jahren zeitweilig in ihrer Bedeutung sogar ganz hinter die politische Arbeiterbewegung und deren Propagierung von staatlich geförderten Produktivassoziationen zurücktraten, blieben sie doch ein Rudiment ökonomischer Selbstorganisation, auf das die im Bergischen Land seit den späten 1860er Jahren „spontan“ aus den Berufen heraus entstehende Gewerkschaftsbewegung teilweise zurückgreifen konnte.²¹ Die Innungen und Bruderschaften sind mithin Teil einer direkten Traditionslinie von den Zünften zu den frühen gewerkschaftlichen Fachvereinen im Bergischen Land.

3.4 Die „Entdeckung“ des allgemeinen Wahlrechts durch die Handwerker-Arbeiter und das fehlende soziale Substrat für eine bürgerlich-demokratische Bewegung Zurück zu den Revolutionsjahren 1848/49: Die Schere zwischen den Hoffnungen der Handwerker-Arbeiter – v. a. nach den schnellen Zugeständnissen des Frühjahrs 1848 – und der für sie bitteren Realität der tatsächlichen oder vermeintlichen Sachzwänge kapitalistischer Produktion öffnete sich in den Wintermonaten 1848/ 49 immer weiter. Die Enttäuschung über das Scheitern ihrer Suche nach tradierten Formen des sozialen Ausgleichs entlud sich im Mai 1849 im Solinger Zeughaussturm und im „Elberfelder Aufstand“, die beide ohne die skizzierte Vorgeschichte nicht zu verstehen sind. Damit soll aber keinesfalls einer ökonomistisch verkürzten Interpretation des Aufstandes das Wort geredet werden. Die Verteidigung

 Zur Geschichte der Färbergesellen-Innung vgl. W. Köllmann (Hrsg.): Wupptertaler Färbergesellen-Innung und Färbergesellen-Streiks 1848 – 1857. Akten zur Frühgeschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland. Wiesbaden 1962. – In Remscheid gründeten sich 1869 besondere Vereine der Feilenschmiede, der sog. Zuschläger und der Feilenschleifer. Sie bildeten aber zur Vorbereitung des Arbeitskampfes mit der Innung einen gemeinsamen Vorstand, an dessen Spitze der alte Obermeister der Feilenhauer-Innung trat. Vgl. E. Stursberg: Remscheid und seine Gemeinden. Remscheid 1969, S. 203.  Auf diese erhebliche elementare Streikbereitschaft im Bergischen Land der späten 1860er und frühen 1870er Jahre weist D. Dowe explizit hin. Vgl. Dowe: Frühgeschichte (wie Anm. 9), S. 159.

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der Reichsverfassung, mithin des Allgemeinen Wahlrechts, war nicht nur Anlaß, sondern auch zentrales Ziel der revolutionsähnlichen Ereignisse im Bergischen Land. Zeitgleich mit der Ernüchterung über die Chancen ökonomischer Zugeständnisse seitens der Unternehmer – und wohl auch ursächlich zusammenhängend mit dieser Ernüchterung –, hatte eine tiefgreifende Politisierung der bergischen Handwerker-Arbeiter stattgefunden. War die politische Bewegung des Frühjahrs 1848 noch völlig an ihnen vorbeigelaufen, so stellten die Solinger Schneidwarenarbeiter im Winter 1848/49 bereits die Mehrheit im dortigen demokratischen „Politischen Club“. Auch der „Politische Club“ in Elberfeld, im Gegensatz zu Solingen noch klar vom Klein- und Bildungsbürgertum dominiert, fühlte sich immerhin bemüßigt, im Januar 1849 den Seidenweber Peter Elberding als „Arbeiterkandidaten“ für die Wahlen zur 2. Kammer des preußischen Abgeordnetenhauses aufzustellen.²² Die Chance einer sozialen Umgestaltung durch Partizipation auf der gesellschaftlichen Ebene eines gesamtstaatlichen Parlaments scheint in jenen Monaten erstmals in das Blickfeld der zuvor auf die Mikrokosmen ihrer Gewerbe beschränkten bergischen Handwerker-Arbeiter gerückt zu sein. Der Kontakt mit bürgerlichen Demokraten in den „Politischen Clubs“, v. a. aber der Wahlkampf für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus Anfang 1849, scheinen die bis dahin vorherrschende subpolitisch-gemeinschaftliche Orientierung der Handwerker-Arbeiter aufgebrochen zu haben; daran konnte Lassalle bei seiner Agitation für das Allgemeine Wahlrecht 1863 anknüpfen. Im Gegensatz etwa zu einigen Industriebezirken Sachsens stand die Mehrzahl der Verleger-Kaufleute und Fabrikanten des Bergischen Landes, wie überhaupt des Rheinlands, nicht auf der Seite der bürgerlichen Demokratie. Politisch und ökonomisch prägend für das rheinische Wirtschaftsbürgertum waren jene rechtsliberalen Multi-Unternehmer vom Schlage eines Hansemann oder Camphausen und – v. a. im Bergischen Land – jener Typus des königstreuen Unternehmers oder Bankiers, wie er von den Brüdern v. d. Heydt aus Elberfeld oder von Josua Hasenclever aus Remscheid verkörpert wurde. Jene tonangebenden „Notabeln des Handelsstandes“, von denen kleinere Fabrikanten und Verleger häufig finanziell abhängig waren, waren stets die

 Auf diese breitenwirksame Politisierung und auf den wachsenden Einfluß des „Bundes der Kommunisten“ in den frühen 1850er Jahren geht D. Dowe in seinen Veröffentlichungen zur frühen Arbeiterbewegung im Bergischen Land mehrfach ausführlich ein. Vgl. ebd., aber auch D. Dowe: Deutschland: Das Rheinland und Württemberg im Vergleich. In: J. Kocka (Hrsg.): Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Göttingen 1983, S. 77– 105. Zu dem ersten „Arbeiterkandidaten“ P. Elberding vgl. K. Goebel/M. Wichelhaus (Hrsg.): Aufstand der Bürger. Revolution 1849 im westdeutschen Industriezentrum. Wuppertal 1974.

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schärfsten Gegner demokratischer Forderungen. Das Allgemeine Wahlrecht wurde von ihnen durchweg mit der Anarchie, der Auflösung der bürgerlichen Ordnung, gleichgesetzt. Zwar gab es einige wenige Unternehmer, die sich in den „Politischen Clubs“ der bergischen Städte für demokratische Forderungen engagierten, etwa der ehemalige Präsident der Elberfelder Handelskammer Carl Hecker oder der junge Solinger Kaufmann Wilhelm Jellinghaus. Sie blieben aber innerhalb der Unternehmerschaft isoliert und waren, wie im Falle Heckers, gar ökonomischen Sanktionen seitens der führenden Unternehmerfamilien ausgesetzt.²³ Es ist kein Zufall, daß das Rheinland und das Bergische Land nie einen Repräsentanten der wirtschaftsbürgerlichen Demokratie wie den sächsischen Fabrikanten Bernhard Eisenstuck hervorbrachte, der im Paulskirchenparlament jene politische Interessensidentität von „mittelständischen“ Unternehmern und früher sächsischer Arbeiterbewegung zum Ausdruck kommen ließ. Im Bergischen Land waren auch in der Sphäre der „großen Politik“ spätestens im Frühjahr 1849 die Klassenfronten klar erkennbar. Aufgrund der scharfen sozialen Polarisierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts fehlte eine breite stadtbürgerliche und bildungsbürgerliche Schicht, mithin das soziale Substrat für eine reformbereite, bündnisfähige „bürgerliche Demokratie“. Die vergleichsweise schmale bürgerliche Schicht im Bergischen Land war stark hierarchisch gegliedert. An ihrer Spitze standen jene großen, einflußreichen Unternehmerfamilien, die schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Funktionselite „an Adels statt“ agierten.²⁴ Um ihren politischen Einfluß, etwa gegenüber dem ostelbischen Adel, zu erhöhen, brauchten sie keine demokratische Reform der Gesellschaft, sondern nur mäßige Machtverschiebungen im Rahmen eines konstitutionellen Systems. Für die Durchsetzung ihrer zentralen Ziele – beschleunigte Industrialisierung, vollständige Gewerbefreiheit und Freizügigkeit – schien ihnen eine demokratische Partizipation breiter Bevölkerungsschichten gar als eine grundlegende Gefahr. Die konträre Vorstellungswelt „ihrer“ bergischen Handwerker-Arbeiter war ihnen indes anscheinend so präsent, daß sie der ge-

 Carl Hecker (1795 – 1873), Teilhaber einer Textilfärberei, von 1840 bis 1847 Präsident der Handelskammer und seit 1846 Mitglied des Gemeinderates, verlor 1849 auf Druck der Familie v. d. Heydt seine Stellung im Aufsichtsrat der Bergisch-Märkischen Eisenbahn. Bereits 1847 war er zum Rücktritt von seinem Amt als Handelskammer-Präsident gedrängt worden. Vgl. E. Illner: Bürgerliche Organisierung in Elberfeld 1775 – 1850. Neustadt 1982, S. 150, 180.  Zur sozialen Struktur und hierarchischen Gliederung des rheinischen Wirtschaftsbürgertums vgl. R. Boch: Die rheinische Notabeln-Bourgeoisie. Preprint des Sonderforschungsbereichs Bürgertum. Universität Bielefeld 1988.

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samten demokratischen Bewegung in Deutschland die Tendenz zur sukzessiven Destruktion des sich etablierenden liberalen Wirtschaftssystems unterstellten.

4 Die Affinität der zentralen Elemente des Lassalle’schen Programms zu den Erfahrungen und Wertmustern der bergischen Handwerker-Arbeiter Als Ferdinand Lassalle Anfang der 1860er Jahre seine Agitationsreisen im Bergischen Land begann, brauchte er keine „proletarische Demokratie“ von einer „bürgerlichen Demokratie“ zu trennen: Als einheitliche Bewegung hatte es sie dort in den Revolutionsjahren im Gegensatz zu Teilen von Sachsen oder Süddeutschland nur in sehr begrenztem Umfang gegeben. Er traf auf eine Arbeiterbevölkerung, die, in einer vergleichsweise hochgradig sozial polarisierten Gesellschaft lebend, schon seit vielen Jahrzehnten in der Tradition einer eigenständigen Organisierung ihrer Interessen stand. Das Scheitern des hoffnungsvoll begonnenen Versuchs eines Ausgleichs dieser Interessen mit der Kapitalseite in der hergebrachten Form der Arbeitsräte (Vergleichskammern) und festen Lohnsätzen in den Jahren 1848/49 trug endgültig zur Transformation der alten, ständischen Distanz zwischen Verleger-Kaufleuten und Handwerker-Arbeitern in eine Klassenkonfrontation bei. Diese wurde noch dadurch verstärkt und politisch aufgeladen, daß die Masse der Unternehmerschaft im Bergischen den Zielen der Reichsverfassungskampagne, v. a. dem Allgemeinen Wahlrecht, ablehnend gegenüberstand, mithin auch als politischer Gegner auftrat. Das Scheitern der Wiedereinführung eines tradierten Systems sozialen Ausgleichs, nicht an Staat und Gesetzgebung, sondern an den Unternehmern selber, scheint den Schmieden, Schleifern, Webern und Bandwirkern des Bergischen Landes deutlich vor Augen geführt zu haben, daß ihre Vorstellung von einer „gerechten Gesellschaft“ der Logik kapitalistischen Produzierens konträr entgegenstand, daß die Wertmuster ihrer „sittlichen Ökonomie“ nur wenig mit der politischen Ökonomie des freien Marktes gemein hatten. Lassalle, im nahen Düsseldorf Zeitgenosse und Augenzeuge dieser Vorgänge, konnte 13 Jahre später an diese Erfahrungen und die – ihm sicherlich bewußten – historisch gewachsenen Wertmuster der Arbeiterbevölkerung anknüpfen. Das zentrale Element seiner Agitation, die Forderung nach dem „vollen Ertrag der Arbeit“, der durch die Einrichtung von Produktivgenossenschaften gewährleistet sein sollte, war gegen den Warencharakter der Arbeit gerichtet und sollte Schritt für Schritt die Ökonomie des freien Marktes außer Kraft setzen. Aus der Ablehnung der seit der Aufhebung der Zünfte sich allmählich vollständig entfaltenden „Konkurrenzwirtschaft“ wandten sich die bergischen

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Handwerker-Arbeiter vergleichsweise früh sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen zu.²⁵ Für das Bergische Land gilt, wie für kaum eine andere Region, daß die sozialistischen Ideen auch deshalb so attraktiv waren, weil sie einen Teil jener an der kapitalistischen Realität zerbrechenden Wertmuster zur Basis der Zukunftsvision einer neu zu errichtenden Gesellschaft machten. Der Lassalleanismus war auch deshalb im Bergischen Land zeitweilig so erfolgreich, weil die Forderung nach Produktivassoziationen mit Staatshilfe der sozialen Lage der arbeitenden Bevölkerung in der Region voll entsprach. Im Gegensatz zu den sächsischen Textilhandwerken war die Proletarisierung der Handwerksmeister der bergischen Textil- und Kleineisenhandwerke weiter fortgeschritten.²⁶ Im Bergischen war jene Schicht von Meistern verschwindend gering, die überhaupt noch Eigenkapital aufbringen konnte. Hatte mithin die „Selbsthilfe“ als „Scharnier“ zu liberalen Zukunftsentwürfen einer „Eigentümergesellschaft“ kleiner Produzenten etwa in Sachsen eine Verankerung in der sozialen Realität, so stand sie im Bergischen nie im Mittelpunkt der Diskussion. Die schnelle Errichtung von Produktivgenossenschaften mit staatlichen Geldern hatte zudem in den 1860er Jahren im Bergischen eine besondere Aktualität, weil sich zwei wichtige Berufszweige, die Bandwirkerei und die Schneidwarenschleiferei, in einem Umstellungsprozeß ihrer Antriebsenergie auf Dampfkraft befanden. In der Arbeiterschaft gab es erhebliche Befürchtungen, daß der Wechsel der Antriebsenergie die fabrikmäßige Produktion nach sich ziehen würde. Genossenschaftlich betriebene Dampfanlagen sollten die relative Autonomie der

 Die Skepsis, auch getragen von einer Nähe zu liberalen Wirtschaftsvorstellungen, die Lassalle in den Arbeiterbildungsvereinen vieler Städte entgegenschlug, scheint im Bergischen Land kaum vorhanden gewesen zu sein. Im Gegensatz zu jenen sozial aufsteigenden Mechanikern, Schriftsetzern und Maschinenbauern, die die Arbeiterbildungsvereine prägten, hatten die Arbeiterschichten der verdichteten Gewerberegionen einen anderen Erfahrungshorizont. Sie hatten die Gewerbefreiheit seit 1811 nur als ein „Weniger“ an Rechten und Lohn und ein „Mehr“ an Arbeitshetze und gegenseitiger Konkurrenz erfahren. Sie hatten, zumindest in den vergangenen Jahrzehnten, auch die Erfahrung machen müssen, daß die Interessen von Arbeit und Kapital keinesfalls jene natürliche Tendenz zur Deckungsgleichheit entfalteten, die der „Volkswirtschaftliche Kongreß“ zu seinem Credo gemacht hatte. Daß Lassalle nach der zwiespältigen Aufnahme seiner Intervention in die Arbeiterbildungsvereins- und Kongreßbewegung sich zielstrebig an jene Arbeiterschichten, die dieser Bewegung fernstanden, wandte, scheint ein sehr bewußtes Handeln gewesen zu sein.  Die informative Studie von R. Strauß: Die Lage und die Bewegung der Chemnitzer Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1960, zeigt z. B., daß trotz zunehmender Proletarisierung seit dem Ausgang des 18. Jh. in Chemnitz in den 1840er Jahren noch rund 25 % der Weber selbständig, mit Gesellen und auf eigene Rechnung (!) arbeiteten, mithin keine Lohnweber waren. Die mir bekannte Sekundärliteratur über die Wirtschaftsgeschichte des Wuppertals geht hingegen durchweg von der Existenz von Lohnwebern aus, sei es mit oder ohne Gesellen.

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angegliederten Werkstattbetriebe erhalten. Die staatlich finanzierte „Volksindustrie“ sollte mithin auch den „Einstieg“ in die Fabrikgesellschaft, das im Bergischen verpönte „Onderde-Glock“-Gehen, verhindern. Für kurze Zeit, bis zum Zerfall in mehrere Organisationsansätze, hatte der ADAV im Bergischen Land eher den Charakter einer Volksbewegung als den einer politischen Sekte. Lassalles emphatische Beschreibung – „Ich hatte beständig den Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausgesehen haben“²⁷ – entbehrte nicht jeder Grundlage. Die zeitweilige Attraktivität einer machbar erscheinenden „Volksindustrie“, deren Anziehungskraft noch durch jene Erfahrung beständig niedriger Reallöhne, die Lassalle durch sein „Ehernes Lohngesetz“ auf den Begriff gebracht hatte, verstärkt wurde, konnte jedoch nicht den älteren Traditionsbestand der berufsspezifischen Organisierung verdrängen. In den späten 1860er Jahren – auch erleichtert durch die Aufhebung des Koalitionsverbots – begannen sich, in bewußter Distanz zu den Grabenkämpfen der sozialistischen Parteiansätze, aber unter Beteiligung von ADAV-Mitgliedern, gewerkschaftliche Fachvereine zu organisieren. Diese Fachvereine knüpften in ihrer Organisationsform und ihren Forderungen direkt an die Bruderschaften und Innungen der Jahre 1848/49 an.²⁸ Die Durchsetzung eines festen Lohnsatzes stand wieder auf der Tagesordnung, jetzt aber gepaart mit der Forderung nach einer erheblichen Erhöhung des Lohnniveaus.

 Lassalle an S. v. Hatzfeldt, 20. 5.1864, zitiert nach M. Pustlauk: Der ADAV im Rheinland. Darmstadt 1979 (MS), S. 43.  Neben den erwähnten Remscheider Fachvereinen, die anscheinend direkt aus der Innung hervorgingen, bezogen sich die von mir untersuchten gewerkschaftlichen Fachvereine der Solinger Schneidwarenindustrie auf die Bruderschaften der Jahre 1848/49. Sowohl die Organisationsstruktur nach den alten, zünftigen Berufsgruppen als auch große Teile der Statuten und Forderungen waren identisch. Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 4), S. 40 ff., 89 ff.

Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion mit besonderer Berücksichtigung des Handwerks im Verlagssystem I Arbeiterbewegungs- und Handwerksgeschichte rücken näher zusammen Noch bis Ende der 1970er Jahre enthielten wichtige bundesdeutsche Untersuchungen und Sammelbände zur Handwerksgeschichte kaum etwas zur Arbeiterbewegungsgeschichte, und Versuche, die Handwerksgeschichte mit der Entstehung der Arbeiterbewegung zu verknüpfen, waren in dieser Boomperiode der Arbeitergeschichtsschreibung in der Bundesrepublik selten. Die Trennung der Arbeiterbewegung von der Handwerkerbewegung, die als historischer Prozeß in den 1870er Jahren zum Abschluß kam, spiegelte sich noch einhundert Jahre später in den Forschungsinteressen und Zuständigkeiten verschiedener Wissenschaftlergruppen und Forschungsinstitutionen wider.¹ Seit einigen Jahren beginnt sich nun die strenge Scheidung zwischen Handwerksgeschichte einerseits und Arbeitergeschichte andererseits allmählich aufzulösen. Diese Aufhebung überkommener Grenzlinien ist vielfältigen Ursachen geschuldet, von denen nur einige hier kurz angedeutet werden können: Erstens wurde dieser Wandel durch bedeutende westeuropäische Untersuchungen zur frühen Arbeiterbewegung eingeleitet, die im Ergebnis – unbelastet von den ideologischen Blockaden der deutschen Geschichte und Historiographie – die angeblich so klaren Unterschiede zwischen Handwerkstradition und Arbeiterkultur verschwimmen ließen.² Zweitens wurde dieser Wandel beschleunigt durch

 Einen informativen Überblick, mit Würdigung der Ausnahmen – vor allem Werner Conze und seine Schüler –, gibt der Aufsatz von Jürgen Kocka: Traditionsbindung und Klassenbildung. Zum sozialhistorischen Ort der frühen deutschen Arbeiterbewegung. In: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 333 – 376, v. a. S. 346.  Hier sind an erster Stelle die einflußreichen Arbeiten von Edward P. Thompson (v. a. The Making of the English Working Class. 1963) zu nennen. Es ist für seinen Ansatz konstitutiv, daß keine deutlichen Unterschiede zwischen Handwerkstradition und Arbeiterkultur gemacht werden. Erheblichen Einfluß übten auch die zahlreichen Studien zur frühen französischen Arbeiterbewegung aus, die zwischen 1970 und 1980 veröffentlicht wurden. Einen guten Überblick bieten William H. Sewell: Artisans, Factory Workers, and the Formation of the French Working Class, 1789 – 1848. In: Ira Katznelson/Aristide R. Zolberg (ed.): Working-class Formation. Nineteenth-Century Patterns in DOI 10.1515/9783110534672-002

Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion

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einen zeitlichen Perspektivenwechsel in der Sichtweise der Industrialisierung. Nicht mehr der Durchbruch des Maschinenwesens und der Fabrikindustrie oder der sogenannte „take-off“ in eine Industriegesellschaft mit „selbsttragendem Wachstum“ standen im Mittelpunkt des Interesses, sondern die langfristigen ökonomischen Wandlungsprozesse der europäischen Gesellschaften seit dem 17. Jahrhundert, die allmähliche Auflösung historisch gewachsener, traditioneller Arbeitsformen, ihre zähe Überlebensfähigkeit und ihre Symbiosen mit modernen kapitalistischen Organisationsformen.³ Selbst für das industriell fortgeschrittene England wurde seit Mitte der 1970er Jahre mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß der weitaus größte Teil der sogenannten „industriellen“ Fertigung noch in quasi-handwerklich organisierten „workshops“ oder gar in verlagskapitalistisch organisierten Handwerken geschah.⁴ Mit diesen neuen Forschungsinteressen und Forschungsergebnissen korrespondierte drittens in der bundesdeutschen Arbeitergeschichtsschreibung eine – wenn auch zögernde – Abkehr vom Idealtyp des „klassischen“ Fabrikarbeiters des späten Kaiserreichs an der Wende zum 20. Jahrhundert. Dieser „klassische“ Fabrikarbeiter wurde über lange Zeit hinweg implizit als prägend für die deutsche Arbeiterbewegung angesehen und als eigentliche soziale Basis für eine besondere „Modernität“ dieser Arbeiterbewegung – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – betrachtet. Dieser sicherlich dominante Arbeitertyp der beginnenden Epoche der Massengewerkschaften und der SPD als Massenpartei war so hochgradig mit vorwissenschaftlichen Werthaltungen und gängigen sozialdemokratischen Mustern der Weltdeutung aufgeladen, daß er die den 1890er Jahren vorausgehenden Jahrzehnte der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zu überschatten drohte.⁵ Älteres

Western Europe and the United States. Princeton 1986, S. 45– 70; sowie Alain Cottereau: The Distinctiveness of Working Class Cultures in France 1848– 1900. In: Ebd., S. 111– 154.  Hierfür steht exemplarisch die sogenannte „Proto-Industrialisierungs“-Debatte, die in der Bundesrepublik Mitte der 1970er Jahre durch das Göttinger Autorenteam Kriedte/Medick/ Schlumbohm und die späten Arbeiten von Herbert Kisch eingeleitet wurde. Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus. Mit Beiträgen von Herbert Kisch und Franklin F. Mendels. Göttingen 1977.  Typisch für die angestrebte Revision des Bildes von der englischen Industrialisierung Raphael Samuel: The Workshop of the World. Steam Power and Hand Technology in Mid-Victorian Britain. In: History Workshop Journal 3 (1977), S. 6 – 72.  Konstitutive Elemente eines sozialdemokratischen „Modells Deutschland“ – etwa die bedingungslose Akzeptanz des technischen Fortschritts und der unternehmerischen Leitungsfunktionen bei Beschränkung auf die Sicherung des Wohlfahrtsstaates als höchstem politischen Ziel der organisierten Arbeitnehmerschaft, getragen von einer institutionalisierten Interessenabgleichung in Spitzengremien – wurden mehr oder weniger unbewußt auf die ganze Geschichte der deutschen

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Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung

Wissen um die handwerklichen Wurzeln auch der deutschen Arbeiterbewegung stand in Gefahr, in Vergessenheit zu geraten⁶, und auch vorzügliche Untersuchungen zur frühen Arbeiterbewegung aus den 1960er und 1970er Jahren⁷ wurden insofern abgewertet, als ihr Untersuchungsgegenstand – sei es die Arbeiterverbrüderung, seien es die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften der 1860er/70er Jahre – beständig zu „unfertigen Vorläufern“ der „eigentlichen“, „reifen“ Arbeiterbewegung degradiert wurde;⁸ eine Beurteilung, die von nicht wenigen dieser Untersuchungen sogar bereits internalisiert worden war.

Arbeiterbewegung projeziert. Da sich Traditionslinien einer in diesem Sinne spezifischen „Modernität“ der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung frühestens um die Jahrhundertwende als prägende Kraft nachweisen lassen, rückte dieser Zeitabschnitt in das Zentrum des Interesses der Arbeiterhistoriographie. Der gelernte Fabrikarbeiter der frühen Massengewerkschaften wurde zum Idealtyp des sozialdemokratischen Arbeiters stilisiert. Daß der Weg zur Massengewerkschaft und zur Massenpartei seit den 1890er Jahren auch ein krisenhafter Ablösungsprozeß von älteren, eher handwerklich sozialisierten Trägerschichten, mit anderen Wertmustern und teilweise anderen Sozialismusvorstellungen war, konnte nicht gesehen werden oder wurde verdrängt. Vgl. dazu meine Fallstudie über diesen krisenhaften Ablösungsprozeß in einem der ältesten deutschen Industriebezirke, Rudolf Boch: Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870 bis 1914. Göttingen 1985, v. a. S. 167 ff., S. 199 ff., S. 257 ff. Die DDR-Geschichtsschreibung ging ebenfalls von der besonderen historischen Relevanz des Fabrikarbeiters des späten Kaiserreichs aus. Seine überragende Bedeutung für die Entwicklung hin zum „realen Sozialismus“ wurde in seiner prädestinierten Rolle als Rezeptor und Vollstrecker eines modernen Marxismus gesehen. Erst die Arbeiten von Hartmut Zwahr haben hier seit der Mitte der 1970er Jahre eine Trendwende eingeleitet. Zwahr betont die „Vorleistungen des 18. Jahrhunderts“ für die Entstehungsgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung und analysiert präzise die dominant handwerklich-heimgewerbliche Struktur v. a. der sächsischen Arbeiterbewegung bis in die 1870er Jahre. Vgl. Hartmut Zwahr: Proletariat und Bourgeoisie in Deutschland. Köln 1980, v. a. S. 49 – 85; zuletzt auch ders.: Zum Gestaltwandel von gewerblichen Unternehmern und kapitalabhängigen Produzenten. In: Jahrbuch für Geschichte 32 (1985), S. 9 – 64.  So die zahlreichen, meist im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geschriebenen Festschriften der berufsspezifischen Gewerkschaften und eine Reihe von informativen Dissertationen aus der gleichen Epoche. Eine Zusammenstellung dieser älteren Literatur – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 298.  Hier seien besonders die wertvollen Studien von Shlomo Na’aman und Georg Eckert erwähnt, die sich zwar auf die politische Bewegung konzentrieren, aber implizit immer von einer starken handwerklichen Prägung der deutschen Arbeiterschaft ausgingen. Z. B. Shlomo Na’aman: Von der Arbeiterbewegung zur Arbeiterpartei. Berlin 1976; ders.: Gibt es einen „wissenschaftlichen Sozialismus“? Hannover 1979; Georg Eckert: Einhundert Jahre Braunschweiger Sozialdemokratie. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Jahre 1890. Hannover 1965.  So zuletzt noch in der – ansonsten materialreichen und informativen – Gesamtdarstellung der Gewerkschaftsgeschichte der letzten 25 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg von Klaus Schönhoven:

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Da hier nicht der Ort ist, den verschlungenen Pfaden der Entwicklung des „Zeitgeistes“, des Wandels der Interessen und Moden in der Geschichtswissenschaft weiter zu folgen, bleibt zu konstatieren, daß sich das Bild und der wissenschaftliche Zugang zur frühen Arbeiterbewegung erheblich verändert hat. Es war vor zehn Jahren noch keinesfalls selbstverständlich, was Jürgen Kocka in seinem wohlinformierten, zusammenfassenden Aufsatz „Traditionsbindung und Klassenbildung“ heute resümieren kann: „Faktisch aber war die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts eine Bewegung gewerblicher Arbeiter. Und in der Minderheit gewerblicher Arbeiter, die sich überhaupt für die Arbeiterbewegung in der einen oder anderen Form engagierten, stellten Handwerksgesellen und andere handwerklich geprägte Arbeiter die große Mehrheit“.⁹

II Zunfttradition und ökonomische Entwicklung als Einflußfaktoren früher gewerkschaftlicher Organisationsfähigkeit Bereits seit Anfang der 1980er Jahre haben eine Reihe von Forschungsarbeiten vor allem jüngerer Historiker unter Beweis gestellt, welche neuen wissenschaftlichen Chancen eine unvoreingenommene Betrachtung der sozialen Trägerschichten der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung im Zeitraum zwischen der Revolution von 1848 und den Sozialistengesetzen eröffnen kann. Dabei hat sich eine – wenn auch erst ansatzweise erfolgte – Verzahnung der Sozialgeschichte einzelner Handwerke mit der frühen Gewerkschaftsgeschichte als heuristisch äußerst fruchtbar erwiesen.¹⁰ So kommen z. B. zwei Studien zu den Maurern und Zimmerern im Großraum Berlin zu dem Fazit, daß der Status der Gesellen, durch die weitgehende Einbeziehung der sich stark vergrößernden Meisterbetriebe in eine kapitalistische Wohnungswirtschaft, seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts grundlegend verändert wurde und sich ihre Lage immer stärker der von gewerblichen Lohnarbeitern anglich.¹¹ Im Unterschied zu anderen Handwerken beschäftigten Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914. Stuttgart 1980.  Kocka: Traditionsbindung (wie Anm. 1), S. 341.  In diesem Zusammenhang kommt dem aus einer Tagung der Werner-Reimers-Stiftung im Jahre 1982 hervorgegangenen und von Ulrich Engelhardt herausgegebenen Sammelband: Handwerker in der Industrialisierung. Stuttgart 1984, eine zentrale Rolle zu. In ihm wurde ein großer Teil der neueren Studien in diesem Spannungsfeld zum ersten Mal im Zusammenhang vorgestellt. Die Mitarbeit wichtiger Lehrstuhlinhaber der Handwerks- wie der Arbeitergeschichte „ratifizierte“ sozusagen den Brückenschlag zwischen den beiden Forschungsfeldern.  Es sind die Untersuchungen von Wolfgang Renzsch: Handwerker und Lohnarbeiter in der frühen Arbeiterbewegung. Göttingen 1980, Kap. II: „Soziale Lage und Organisationsbestrebung

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die Meister im Bauhandwerk zwar bereits im 18. Jahrhundert traditionell mehr Gesellen, so daß für einen großen Teil der Gesellen ein lebenslanges Gesellendasein und die Existenz als verheirateter, seßhafter Geselle üblich wurden. Trotzdem wurden die Maurer- oder Zimmermeister noch keine großen Unternehmer, weil sie nicht auf mehr als ein oder zwei Bauten gleichzeitig tätig sein durften. Diese Beschränkungen fielen, und im Laufe der Jahrzehnte wurden, infolge der Bevölkerungsvermehrung und der Urbanisierung, Häuser immer mehr zur Ware und zum Spekulationsobjekt.Wohlhabende Maurer- oder Zimmermeister bauten auf eigene Rechnung zum Verkauf oder zum Vermieten oder wurden von branchenfremden Kapitalgebern mit der Materialbeschaffung und der Durchführung der Bauten beauftragt. Mit dem Bauen für den Markt wurde das traditionelle „Lohnwerk“, bei dem die Bauherrn – seien es Privatpersonen, die Kirche oder staatliche Stellen – das Material selber stellten, vom „Preiswerk“ verdrängt. Diese Entwicklung ließ die Einheit des „Alten Handwerks“ in der Boomphase des Wohnungsbaus in den 1860er Jahren endgültig zerbrechen. „An die Stelle der Gemeinschaft von Meistern und Gesellen trat die Konfrontation: Beide waren nicht mehr gemeinsam Lohnwerker, sondern der Meister war Arbeitgeber und der Geselle Lohnarbeiter geworden. Löhne waren nun Kosten, die im Interesse des Gewinns niedrig gehalten werden sollten.“¹² Beide Autoren können aus der Geschichte der Zimmerer- und Maurerhandwerke nicht nur die Konfrontation der 1860er Jahre präzise analysieren, sondern auch die Gründe für eine vergleichsweise frühe und vergleichsweise effektive gewerkschaftliche Organisierung der Zimmerer-, wie auch, mit Einschränkung, der Maurergesellen herausarbeiten. So hatten die Berliner Zimmerer aufgrund des jahrzehntelangen Fortbestandes ihrer „Gesellenschaft“, der hauptsächlich die Selbstverwaltung der Kranken- und Invalidenkasse oblag, einen beruflichen Zusammenhalt mit institutionalisierten Formen demokratischer Willensbildung aufrechterhalten können. Zwar bedeutete der Übergang von der handwerklichen zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung, markiert durch die gescheiterten innungsinternen Lohnverhandlungen von 1868 und den erfolgreichen Streik von 1869, einen Bruch. Das ehemals zünftige Institut der versammlungsdemokratisch gewählten „Platzdeputierten“

der Bauarbeiter“, S. 35 – 69, und von Dirk H. Müller: Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte in der deutschen Gewerkschaftsbewegung vor 1918. Ein Beitrag zur Geschichte des Lokalismus, des Syndikalismus und der entstehenden Rätebewegung. Stuttgart 1985. Zudem ihre zusammenfassenden Aufsätze Wolfgang Renzsch: Bauhandwerker in der Industrialisierung. In: Engelhardt (Hrsg.): Handwerker (wie Anm. 10), S. 589 – 602; Dirk H. Müller: Binnenstruktur und Selbstverständnis der „Gesellenschaft“ der Berliner Zimmerer im Übergang von der handwerklichen zur gewerkschaftlichen Interessenvertretung. In: Ebd., S. 627– 636.  Renzsch: Bauhandwerker (wie Anm. 11), S. 59.

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wurde aber in Form einer öffentlich gewählten Lohnkommission in die sozialdemokratisch orientierte Gewerkschaft integriert und verlieh ihr eine breite Akzeptanz unter den Berufsangehörigen, weit über den Kreis der Gewerkschaftsmitglieder hinaus. So wurde die Anlehnung an eine zünftige Tradition zu einem wichtigen Element gewerkschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit. Ähnlich wichtig, wenn nicht wichtiger, war aber der Sachverhalt, daß die Zimmerergesellen als qualifizierte Fachkräfte eine günstige Arbeitsmarktposition innehatten. Die Bauwirtschaft war zwar dem Prozeß der „Kapitalisierung“ in den vorangegangenen Jahrzehnten unterworfen worden, die Arbeitsverrichtung auf dem Bau blieb aber handwerklich. Im Unterschied zu anderen Gewerben spielten technische Innovationen oder Prozesse der dequalifizierenden Arbeitsteilung keine Rolle. Auch deshalb konnte die gewerkschaftliche Bewegung der Zimmerer relativ problemlos an alte Handwerkstraditionen anknüpfen. Im Gegensatz zu den beiden Berliner Fallstudien kommt eine unlängst veröffentliche Untersuchung über das städtische Massenhandwerk der Schneider, dessen Zunfttradition als typisch für eine Vielzahl städtischer Versorgungshandwerke (etwa Schuhmacher oder Tischler) außerhalb des Nahrungsmittelhandwerks angenommen wird, zu dem Ergebnis, daß sich zentrale Elemente der spezifisch deutschen Handwerkstradition gerade als Hemmnisse der Gewerkschaftsentwicklung erwiesen hätten.¹³ Der Meister-Geselle-Gegensatz, ein Resultat der erfolgreichen Schließungsbestrebungen dieser Zünfte im 16./17. Jahrhundert, habe dazu geführt, daß sich die wachsende Zahl proletarisierter Kleinmeister im allgemeinen nicht mit den Gesellen solidarisierte, obwohl sie ihrer Arbeitsmarktlage nach seit den 1830er Jahren zu den abhängig Beschäftigten und als solche zu den potentiellen Gewerkschaftsmitgliedern gehört habe. Aufgrund ihres traditionell hohen, mit den Zünften und Innungen im 19. Jahrhundert künstlich aufrechterhaltenen Meisterstatus, hätten auch die Kleinmeister ein Selbstverständnis perpetuiert, das überkommenen ständischen Prinzipien sozialer Ungleichheit verpflichtet gewesen sei. Die Fraktionierung des Berufes, die das gewerkschaftlich organisierbare Potential und eine Interessenidentität verhindert habe, sei auch noch durch ein weiteres Institut der Handwerkstradition befördert worden: der durch Gesetz und Herkommen vorgeschriebenen Wanderschaft. Es habe zahlreiche Interessengegensätze zwischen dem stets übermäßig großen, mobilen Teil der Handwerksgesellen und den seßhaften Gesellen gegeben. Diese gegensätzlichen Berufsin-

 Christiane Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich. Göttingen 1986.

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teressen und die beständige Fluktuation seien auch für die frühen Gewerkschaften zu einem Dauerproblem geworden.¹⁴ Sowohl bei der eben skizzierten Untersuchung von Christiane Eisenberg, wie auch in der ebenfalls kürzlich erschienenen Fallstudie über das Düsseldorfer Handwerk von Friedrich Lenger, fällt die überragende Bedeutung des Eindringens des kapitalistischen Verlags für die Entwicklung der städtischen Massenhandwerke der Schneider, Schuhmacher, Tischler und Schreiner auf.¹⁵ Zwar war bereits der älteren Forschung die allmähliche Ausbreitung von sogenannten Magazinen im Bereich der Möbelherstellung oder von Konfektionshäusern im Bekleidungssektor – meist aus der Distributionsphäre heraus von Kaufleuten organisiert – bekannt. Das Ausmaß dieses Prozesses und seine strukturverändernde Wirkung auf die betreffenden Handwerke, die von beiden Studien hervorgehoben werden, überrascht jedoch. Nicht nur in großen, verkehrsgünstig gelegenen Zentren wie Berlin, wurde etwa das Schneiderhandwerk zur Basis einer Massenfertigung für die steigende lokale Nachfrage und gar für den Export.¹⁶ Auch in einer verhältnismäßig kleinen Residenz- und Verwaltungsstadt wie Düsseldorf und in noch kleineren, aber verkehrsgünstig gelegenen Städten scheint sich diese grundlegende Reorganisation des Handwerks unter handelskapitalistischen Vorzeichen durchgesetzt zu haben. Unter der Oberfläche scheinbarer Selbständigkeit breitete sich eine zunehmende Abhängigkeit von den Verleger-Kaufleuten aus, näherte sich mithin der

 Die Studie von Eisenberg führt auch eine Reihe guter Argumente gegen bisherige Annahmen und Indizien ins Feld, die darauf hindeuten, daß es in zahlreichen Berufen über das Kassenwesen eine Kontinuitätslinie zwischen den Gesellenschaften des 18. Jahrhunderts und den von Handwerksgesellen betriebenen Gewerkschaftsgründungen der späten 1860er Jahre gegeben habe. Gerade die in vielen deutschen Staaten obligatorischen Gesellenkrankenkassen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten – so Eisenberg – diese Funktion nicht erfüllt. Sie hätten als staatlich und städtisch kontrollierte, häufig berufsübergreifende Zwangskassen weder zur Ausbildung einer berufsspezifischen Interessenvertretung noch zur Einübung demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse – wie etwa die englischen „friendly societies“ – beitragen können. Eisenberg: Gewerkschaften (wie Anm. 13), v. a. S. 85 ff. Wichtige Ausnahmen scheinen aber die Bauhandwerke, darauf verweisen Müller: Binnenstruktur (wie Anm. 11), und Eisenberg: Gewerkschaften (wie Anm. 13), S. 110, selber und die unter „Typ 3“ aufgeführten Berufe (vgl. S. 32 f. in diesem Aufsatz) zu sein.  Friedrich Lenger: Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat. Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816 – 1878. Göttingen 1986; vgl. auch ders.: Polarisierung und Verlag. Schuhmacher, Schneider und Schreiner in Düsseldorf 1816 – 1861. In: Engelhardt (Hrsg.): Handwerker (wie Anm. 10), S. 127– 145.  Für Berlin wird das bereits bei Renzsch: Handwerker und Lohnarbeiter (wie Anm. 11), Kap. III: „Die Arbeiter des Schneidergewerbes“, herausgearbeitet. Ähnlich für Hamburg Arno Herzig: Kontinuität und Wandel der politischen und sozialen Vorstellungen Hamburger Handwerker 1790 – 1870. In: Engelhardt (Hrsg.): Handwerker (wie Anm. 10), S. 295 – 319, hier bes. S. 297 ff.

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wirtschaftliche Status von Kleinmeistern dem von Lohnarbeitern, während viele Handwerksgesellen bereits in Teilarbeit als Lohnarbeiter direkt in den Großwerkstätten dieser Verleger arbeiteten. Es ist kein Zufall, daß besonders viele Handwerker aus den kapitalistisch umstrukturierten Massenhandwerken der Schneider, Schuster, Tischler usw. den Weg zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung fanden – darunter auch viele kleinere Handwerksmeister, wie Lenger im Gegensatz zu Eisenberg betont –, während die Handwerksgesellen der weitgehend von Veränderungen unberührten städtischen Nahrungsmittelhandwerke¹⁷ von der Sozialdemokratie kaum erreicht werden konnten. Es ist aber auch kein Zufall, daß ihre gewerkschaftliche Organisationsfähigkeit weit hinter ihrem parteipolitischen Engagement zurückblieb. Diese mangelnde gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit war vielleicht weniger dem retardierenden Element der spezifischen Zunfttradition dieser Berufe geschuldet (Meister-Geselle-Gegensatz und Wanderzwang), als vielmehr der ohnehin schon katastrophalen Arbeitsmarktsituation in jenen Berufen, die bereits vor dem vollen Wirksamwerden des Verlags- und Großwerkstattsystems mit seinen dequalifizierenden Tendenzen, durch eine hoffnungslose „Übersetzung“ (d. h. ein Überangebot an Arbeitskräften) gekennzeichnet waren.¹⁸ Wie die angeführten Studien exemplifizieren, kann eine enge Einbeziehung der zünftigen Vorgeschichte von Handwerkern für ihre Rolle im Konstituierungsprozeß der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung mithin überaus aufschlußreich sein. Neben den „geronnenen“ zünftigen Traditionen müssen aber auch die jeweiligen ökonomischen Veränderungsprozesse in den Handwerken während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts gleichgewichtig analysiert werden, um zu einer ausgewogenen Beurteilung ihres Einflusses etwa auf die „Gewerkschaftsfähigkeit“ oder die weitgehende „Unfähigkeit“ zur gewerkschaftlichen Organisation bei den Handwerkern einzelner Berufe zu gelangen.¹⁹ Nur soweit zünftige Traditionen in den späten 1860er Jahren, als die

 Es ist eine seit langem bekannte und schon von führenden Sozialdemokraten im späten 19. Jahrhundert beklagte Tatsache, daß die Gesellen der städtischen Nahrungsmittelhandwerke, die wohl am längsten in das patriarchalische Kost- und Logiswesen eingebunden blieben, keinen Zugang zur Arbeiterbewegung fanden. Sie sind daher hier nicht Gegenstand der Untersuchung und Typenbildung.  Diese desparate „Berufslage“ hat etwa Wilhelm Heinz Schröder am Beispiel der Schuhmacher in Deutschland geschildert; Wilhelm Heinz Schröder: Arbeitergeschichte und Arbeiterbewegung. Industriearbeit und Organisationsverhalten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt 1978, S. 93 ff.  Gerade die extrem ungünstige Entwicklung des von ihr untersuchten Schneidergewerbes zieht Eisenberg bei ihrem Urteil über die mangelnde Gewerkschaftsfähigkeit der Schneidergesellen kaum in Betracht. Die Ausbreitung von Großwerkstätten, häufig mit der Einführung der soge-

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rechtlichen Möglichkeiten zu Gewerkschaftsgründungen endgültig gegeben waren, noch funktional waren, wurde sich ihrer erinnert, konnten sie fortgeführt werden. Nur in jenen Handwerken, wie etwa den Zimmerern, die einer „Übersetzung“, d. h. Überfüllung des Berufs oder einer Dequalifierung der handwerklichen Arbeitsfähigkeiten, noch nicht unterworfen waren, konnte etwa an die „Exklusivität“, d. h. den Ausschluß ungelernter oder angelernter Arbeitergruppen, als einer wesentlichen Funktionsbestimmung der früheren Zünfte, angeknüpft werden. Zünftige Traditionen wirkten nicht quasi-automatisch, sie wurden benutzt. Sie konnten in jenen Berufen besonders genutzt werden, wo bei Herausbildung eines Unternehmer-Lohnarbeiterverhältnisses die Arbeitsbedingungen und Arbeitsverrichtungen weitgehend unverändert geblieben waren.

III Typen des Übergangs von der Organisation des Handwerks zur Gewerkschaftsbewegung Obwohl die handwerkliche Vorgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung noch nicht systematisch mit ihrer Frühgeschichte verknüpft worden ist, lassen sich doch – gestützt auf die Forschungen der letzten Jahre und vor allem auf ältere Gewerkschaftsliteratur – vier Typen des Übergangs feststellen:²⁰

nannten Teilarbeit gepaart, wird so z. B. von ihr nicht v. a. als weiterer Schritt der Dequalifizierung der Arbeitsfertigkeiten und als Symptom der Schwächung der Arbeitsmarktposition via Auflösung des alten Gewerbes in Richtung auf die fabrikmäßige Fertigung analysiert. Sie hebt hingegen die Chance hervor, die diese Entwicklung für die Transzendierung der traditionellen Handwerkslehre mit ihren entsolidarisierenden Effekten und für die Erzeugung eines Lohnarbeiterbewußtseins unter den Gesellen gehabt habe. Vgl. Eisenberg: Gewerkschaften (wie Anm. 13), S. 74 f. Ein Grund für diese spezifische Schwäche der Analyse mag in ihrer Definition von gewerkschaftlicher Marktmacht liegen; vgl. z. B. S. 213: „Sie basiert zunächst auf möglichst hohen Mitgliederzahlen und gefüllten Kassen. Durch einen hohen Organisationsgrad wird der Repräsentationsanspruch fundiert. Außerdem hängt die gewerkschaftliche Stärke von geschlossenem Auftreten ab.“ Diese Definition mag sicherlich für Massengewerkschaften des 20. Jahrhunderts unter günstigen soziopolitischen Rahmenbedigungen ausreichend sein. Die Marktmacht der frühen Gewerkschaften in Deutschland gründete sich aber v. a. auf handwerkliche Qualifikation, die nicht einfach durch Streikbrecher der zahllosen „industriellen Reservearmee“ zu ersetzen war, sowie auf eine zahlenmäßige Begrenzung des Berufs, die in etwa in Einklang mit der Nachfrage nach den jeweiligen Berufsqualifikationen stand. Die Schneider waren aber, durchaus im partiellen Interesse der Meister, seit dem 18. Jahrhundert ein chronisch „übersetztes“ Handwerk, dem noch dazu seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die besonderen Qualifikationen allmählich verlorengingen.  Meine Typenbildung bezieht sich auf einen Typisierungsvorschlag von Eisenberg: Gewerkschaften (wie Anm. 13), S. 131 ff., impliziert jedoch erhebliche Modifizierungen.

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Typ eins: Die wohl größte Gruppe bilden die städtischen Versorgungshandwerke der Schneider, Schuhmacher, Tischler oder Schreiner, die stellvertretend für eine Vielzahl weiterer kleinerer Handwerke stehen. In ihr gab es die geringste Kontinuität zwischen Traditionen der Zunft und der frühen Gewerkschaftsbewegung. Die Gründung von Gewerkschaften in diesen Berufen war ein Neuanfang, aber auch dieser war meist zum Scheitern verurteilt, weil aufgrund der vorausgegangenen ökonomischen Entwicklung der Berufe die Durchsetzungskraft auf dem Arbeitsmarkt fehlte. Die unter sozialdemokratischer Obhut gegründeten Gewerkschaften der Schuhmacher und Schneider waren eher politische Vereinigungen als funktionsfähige Interessenvertretungen. Sie konnten noch nicht einmal lokal oder regional erfolgreich Arbeitskämpfe durchstehen. Zwar waren in beiden Berufsgewerkschaften je einige tausend Mitglieder organisiert, ihr Organisationsgrad war bis zu ihrem Verbot im Jahr 1878 aber nie höher als 2 bis 3 Prozent aller Berufsmitglieder.²¹ In der bereits erwähnten Arbeit von Eisenberg wird nun betont, daß die Zunftgeschichte dieser Handwerke, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch eine erfolgreiche zunftinterne soziale Abgrenzung im Interesse der Meister ausgezeichnet habe, ein besonderes mitteleuropäisches Phänomen gewesen sei, das etwa in Frankreich oder in England, das sie als Maßstab ihrer vergleichenden Untersuchung heranzieht, keine Entsprechung gefunden habe.²² Diese Zunfttradition, mit ihren entsolidarisierenden Effekten, hätte die deutsche Gewerkschaftsbewegung – und damit auch die Arbeiterbewegung insgesamt – entscheidend geprägt. Diese Zunfttradition hätte bewirkt, daß die Herausbildung von Gewerkschaften insgesamt deutlich später als in England erfolgt sei, und daß die Zahl der überhaupt von den Gewerkschaften Erreichbaren gering geblieben sei. Das habe zu einer geringen gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit geführt und diese wiederum zu einer geringen gesellschaftlichen Relevanz der Gewerkschaften – zumindest bis zur Wende zum 20. Jahrhundert. Dieser mangelnden Relevanz sei es dann geschuldet gewesen, daß die deutsche Gewerkschaftsbewegung, im Gegensatz zur englischen, von den Unternehmern (wie auch vom Staat) als gesellschaftliche Gegenmacht kaum ernst genommen wurde. Diese mangelnde Relevanz habe dann wiederum zu einer weiteren „kompensatorischen“ Politisierung – zentriert um die Ausformung einer radikalen sozialistischen Partei – bei den überhaupt von der Arbeiterbewegung erreichbaren Handwerksgesellen geführt. Dieses Resümee der Eisenbergschen Studie erscheint auf den ersten Blick durchaus plausibel. Es spricht vieles dafür, daß zumindest eine sehr große Zahl der

 Ebd., S. 270.  Ebd., S. 257 ff.

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Zünfte in Deutschland seit Ende des 17. Jahrhunderts einen mitteleuropäischen „Sonderweg“ gegangen sind. Auch die relative Schwäche und begrenzte gesellschaftliche Relevanz der deutschen Gewerkschaften – vor allem wenn man sie mit England und nicht etwa mit Frankreich, Norditalien oder Belgien vergleicht – ist in den 1860er/70er Jahren offensichtlich. Es muß aber in diesem Zusammenhang erneut nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die Schwäche der Gewerkschaften, auch in den zahlreichen Berufen der städtischen Versorgung, keinesfalls hauptsächlich auf ihre Zunftradition zurückgeführt werden kann.²³ Diese war – im Vergleich zu England – wiederum auch dialektischer Ausdruck eines langsameren und anders gearteten Weges der Kommerzialisierung dieser Wirtschaftsbereiche. Ohne die gleichgewichtige Einbeziehung der ökonomischen Entwicklung der verschiedenen Handwerke bis in die 1860/70er Jahre, ohne die Einbeziehung ihrer „Übersetzung“ mit Arbeitskräften, die nicht – wie in England – in große, sich industrialisierende Sektoren abwandern konnten, ohne die Herausarbeitung ihrer jahrzehntelangen Funktion als „demographische Puffer“ – wobei dem deutschen Landhandwerk eine besondere Rolle zukam – kann die Schwäche eines großen Teils der frühen deutschen Gewerkschaften nicht adäquat analysiert werden. Die Betonung der Schwäche der Gewerkschaften von Handwerksgesellen aus den zahlreichen städtischen Versorgungshandwerken verzeichnet auch das Bild der frühen deutschen Gewerkschaftsbewegung. So hat etwa Engelhardt in seiner umfangreichen Studie zu Recht darauf hingewiesen, daß die autochtone Gewerkschaftsentwicklung, d. h. ohne Gründungshilfe von Parteien, für die 1860er Jahre von der älteren Historiographie erheblich unterschätzt worden sei. Nicht zuletzt habe erst eine Welle von selbständig, aus qualifizierten Berufen heraus geführten Arbeitskämpfen die sozialistischen Parteien auf die Wichtigkeit der „Gewerkschaftsfrage“ aufmerksam gemacht.²⁴ Zudem ist es ein fester Wissens-

 Eisenberg relativiert den bestimmenden Einfluß der Zunfttradition auf die Gewerkschaftsbildung auch selber, indem sie betont, daß die Fortexistenz der städtischen Zwangskrankenkassen und das Einsetzen der staatlichen Sozialpolitik die frühen Gewerkschaften daran gehindert hätten, sich – nach dem Vorbild der englischen „new model unions“ – eigene Krankenkassen anzugliedern, um zumindest auf diese Weise einen festen Mitgliederstamm als Basis zur Ausübung gewerkschaftlicher Marktmacht zu gewinnen. Ebd., S. 261.  Es waren freilich (mit Ausnahme der Schneider) nicht die Handwerksberufe des „Typ 1“, die seit 1865 überregionale Gewerkschaften gründeten oder öffentliches Aufsehen erregende Streiks durchführten, sondern die bei Engelhardt im Mittelpunkt stehenden Buchdrucker und Zigarrenarbeiter. Ihre Organisationserfolge und erfolgreiche Streiks etwa der Bauhandwerker in Leipzig und Hamburg oder der Schiffszimmerer in Bremen ließen in den Großstädten und Zentren der gewerblichen Produktion 1865/67 eine Diskussion über Gewerkschaften und Arbeitskämpfe in verwandten Berufen entstehen, noch bevor 1868/69 die Gewerkschaftsgründungsinitiativen der sozialdemokratischen Parteien mit Blick auf die anstehende Reorganisation des Krankenkass-

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bestand der Arbeitergeschichtsschreibung, daß Ende der 1860er Jahre, aber vor allem während der Hochkonjunktur von 1871 bis 1873, in zahlreichen Berufen mit hohen handwerklichen Qualifikationen, wenn auch konzentriert auf die großen Städte und verdichteten Gewerberegionen, erhebliche Lohnerhöhungen – gegen zum Teil erbitterten Widerstand der Unternehmer – durchgesetzt werden konnten. Nicht nur weil diese Streikwelle die Ideologie der „Harmonie zwischen Kapital und Arbeit“ störte, wurde sie von breiten, auch linksliberalen Unternehmerkreisen als substantielle Herausforderung begriffen und, bis zum Einsetzen der Wirtschaftskrise 1874, eine Wiedereinführung des Koalitionsverbots offen erwogen.²⁵ Es scheint mithin auch ökonomische Entwicklungen von Handwerken, Arbeitsmarktverhältnisse und Arbeitssituationen gegeben zu haben, die einer gewerkschaftlichen Organisation förderlich waren und vielleicht auch eine eher hinderliche (Zunft)-Handwerkstradition transzendieren konnten. Dies traf auf einen großen Teil der Bauhandwerker zu – darauf wird im Folgenden (Typ 2) genauer eingegangen werden –, aber auch auf eine Reihe von Spezialberufen der wachsenden Metallindustrie²⁶, die nicht unter „Übersetzung“ und Dequalifikationsprozessen zu leiden hatten (etwa die Kupferschmiede oder Gelbgießer), oder auch auf Berufe, die auf handwerkliche Traditionen und Qualifikationen ihrer Mitglieder aufbauten, aber erst im Prozeß der Industrialisierung ein eigenes Berufsbild entwickelten (etwa die Maschinenbauer oder Former); Fabrikhandwerke also, die erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts waren und daher hier nicht im Mittelpunkt der Analyse stehen.

enwesens im Norddeutschen Bund begannen. Vgl. Ulrich Engelhardt: „Nur vereinigt sind wir stark“. 2 Bde. Stuttgart 1977, v. a. S. 201 ff., S. 235, S. 1213 ff.  Vgl. Lothar Machtan: „Giebt es kein Preservativ, um diese wirthschaftliche Cholera uns vom Halse zu halten?“ Unternehmer, bürgerliche Öffentlichkeit und preußische Regierung gegenüber der ersten großen Streikwelle in Deutschland (1869 – 1874). In: Jahrbuch Arbeiterbewegung. Frankfurt 1981, S. 354– 400.  Diese Vielzahl von vergleichsweise kleinen, aber für die industrielle Produktion zentralen Berufen war, aus unterschiedlichen Gründen, einer „Übersetzung“ entgangen und (noch) keinem Prozeß der Entwertung der handwerklichen Arbeitsfertigkeiten ausgesetzt. Nach Aufhebung des Koalitionsverbots waren diese Berufe durchaus dazu in der Lage, ihren Marktwert über Lohnverhandlungen und Streiks zu regeln. Sie waren nicht nur an der Streikwelle 1871/73 maßgeblich beteiligt, sondern konnten ihre gewerkschaftlichen Organisationserfolge bis Ende der 1870er Jahre konsolidieren. Zusammen mit den Bauhandwerkern, den Berufen des „Typ 3“ und den Berufen der Kleineisenverarbeitung des „Typ 4“, gehörten sie zum eigentlich funktionsfähigen Kern der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Sie lehnten zumeist für sie ökonomisch dysfunktionale berufsübergreifende Gewerkschaften ab und waren bereits seit Anfang der 1880er Jahre wieder dazu in der Lage – trotz rechtlicher Behinderungen – funktionierende lokale Fachvereine zu gründen. Vgl. auch Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 19 ff.

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Es gab aber auch Handwerks- und Zunfttraditionen in Deutschland, die eine autochtone gewerkschaftliche Entwicklung eher begünstigten als behinderten. Die Handwerksberufe, die in diesen spezifischen Traditionen standen, waren immerhin so zahlreich, daß die von Eisenberg skizzierte Ausbildung einer meisterzentrierten „Normalzunft“²⁷ im Deutschland des 18. Jahrhunderts zwar nicht völlig in Frage gestellt, aber doch erheblich relativiert werden muß. Zu diesen Handwerken gehörten die unter „Typ 3“ zusammengefaßten „neuen“ Berufe des 18. Jahrhunderts, vor allem aber jene großen zünftig organisierten Handwerkszweige der Textil- und Kleineisengewerbe, die im 18. Jahrhundert in die Abhängigkeit vom Verlagskapital gerieten. Diese Handwerke, häufig verwechselt mit dem unzünftigen ländlichen Heimgewerbe, unterlagen letztlich nur ein Jahrhundert früher als die Schneider oder Schuhmacher einem Prozeß der Kapitalisierung. Aufgrund dieser einschneidenden Veränderung bildete sich seit Anfang des 18. Jahrhunderts in diesen Handwerken aber eine völlig andere Zunftorganisation heraus, die Elemente einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung enthielt. Unter „Typ 4“ soll auf diese nach Zehntausenden zählenden „Massen“handwerke ausführlich eingegangen und ihre Entwicklung bis in die 1870er Jahre skizziert werden. Wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke, wie auch wegen ihrer Konzentrierung in Regionen, die im Verlauf der Industrialisierung zu wichtigen Zentren der gewerblichen Produktion und der Arbeiterbewegung wurden, kommt diesen Handwerken eine besondere Bedeutung zu. Auch an diesem zweiten, vergessenen Typ von deutscher Zunftentwicklung kann aber exemplifiziert werden, daß die Analyse günstiger oder behindernder Handwerkstraditionen nicht ausreicht, Stärke oder Schwäche gewerkschaftlicher Organisation nach Aufhebung des Koalitionsverbots im Jahr 1869 hinreichend zu erklären. Die Textilweber des Bergischen Landes oder des Königreichs Sachsen hatten zwar eine die gewerkschaftliche Organisierung begünstigende Tradition, die ökonomische Entwicklung ihres Gewerbes entzog ihnen jedoch seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts – ganz im Gegensatz zu einigen ebenfalls untersuchten Handwerken der Kleineisenverarbeitung – jegliche Grundlage für eine effektive gewerkschaftliche Durchsetzung ihrer Interessen. Kommen wir nun nach der eingehenden Würdigung, aber auch Relativierung der Bedeutung der Handwerke des „Typ 1“ zu den Bauhandwerken, die einen deutlich unterschiedenen, zweiten Typ des Übergangs konstituieren. Auch die Berufe der Zimmerer und Maurer waren Massenhandwerke, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von ihrer zahlenmäßigen Bedeutung her den Mas-

 Vgl. Eisenberg: Gewerkschaften (wie Anm. 13), S. 136.

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senhandwerken der Schneider, Schuhmacher oder Schreiner annäherten.²⁸ Ihre ökonomische Entwicklung verlief aber seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, wie bereits skizziert, deutlich anders, transzendierte die bis dahin mit „Typ 1“ vergleichbare Zunfttradition und eröffnete den Gesellen einen Zugang zu einzelnen Elementen dieser Tradition, die einen gewerkschaftlichen Zusammenschluß, freilich vor dem Hintergrund einer vergleichsweise guten Arbeitsmarktsituation und einer nicht ersetzbaren hohen handwerklichen Qualifikation, begünstigten.²⁹ Die Herausbildung eines klaren Unternehmer-Lohnarbeiter(Gesellen)-Gegensatzes in den Bauhandwerken nicht nur der großen Städte, sondern auch der städtereichen Regionen Sachsens oder des Rheinlandes, beförderte seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Interessenidentität der Gesellen. So kamen etwa in Berlin 1861 auf 100 selbständige Maurermeister 1686 und auf 100 Zimmermeister 1468 Gehilfen, während die Zahlen bei den Schneidern bei nur 100:138 und bei den Schuhmachern bei 100:143 lagen.³⁰ In Sachsen kamen bereits 1849 auf 100 Maurermeister 2574 und auf 100 Zimmerermeister 1804 Gehilfen.³¹ Trotz der starken Ausdehnung des Landhandwerks in beiden Berufen und trotz der schnell steigenden Gesellenzahlen kam es dank des rapiden Wachstums des Baumarktes zu keiner eigentlichen Übersetzung der Maurer- und Zimmererberufe. Diese Tatsache, sowie der weitgehende Erhalt ihrer handwerklichen Arbeitsfertigkeiten und die günstige Kommunikationsstruktur auf den großen Baustellen machten die Zimmerer- und Maurergesellen in der neuen rechtlichen Situation der späten 1860er Jahre streikfähiger und damit gewerkschaftsfähiger als die Schneider und Schuhmacher. Sie konnten dabei an Elemente der Zunft wie die „Platzdeputierten“ anknüpfen und die Gewerkschaften als organische Fortführung der Interessenvertretung der Gesellen begreifen. Wenn auch begrenzt auf die großen Städte und urbanen Ballungszentren, gehörten die „exklusiven“, d. h. Bauhilfsarbeiter ausschließenden, berufsspezifischen Gewerkschaften der Zimmerer und Maurer zu dem eigentlichen funktionsfähigen, partiell erfolgreichen Kern der deutschen Gewerkschaftsbewegung bis in die 1890er Jahre hinein. Zwar  Immerhin gab es 1858 nach Schmoller 80.792 Maurer- und 52.875 Zimmerergehilfen in Preußen, aber nach einer von Eisenberg zitierten Statistik des Ministers v.d. Heydt von 1857 nur 53.583 Schuhmacher- und 38.535 Schneidergesellen und Lehrlinge. Selbst wenn man bei den Schneidern und Schuhmachern noch einmal eine fast ebenso große Zahl an (Klein)Meistern dazurechnet, zeigt sich die annähernd gleiche gesellschaftliche Bedeutung der Berufsgruppen. Vgl. Gustav Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle 1870, hier S. 380; Eisenberg: Gewerkschaften (wie Anm. 13), S. 305.  Es ist daher unverständlich, daß die Bauhandwerker von Eisenberg unter die Berufsgruppe der Schneider, Schuhmacher, Schreiner usw. subsumiert werden.  Vgl. Schmoller: Kleingewerbe (wie Anm. 28), S. 371 f.  Ebd., S. 369.

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hatte der Allgemeine Maurer- und Steinhauerverein 1873 nur ca. 10.000 Mitglieder und der Deutsche Zimmererbund nur ca. 4.000 Mitglieder, aber diese Zahlen für das gesamte Deutsche Reich haben keine Aussagekraft über ihre Stärke in den Zentren der Baukonjunktur.³² Durch das zünftige System der öffentlichen Wahl von Deputierten für Lohnkommissionen repräsentierten sie zudem mehr Berufsmitglieder als es in der Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zum Ausdruck kommt. Zum dritten Typ des Übergangs vom Handwerk zur Arbeiterbewegung zählten jene Berufe, bei denen die deutschen Landesherren nicht zunftmäßig organisierte Handwerksmeister, sondern einzelne kapitalistische Unternehmer privilegiert hatten. Das geschah vor allem in „neuen“ Berufen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden, so etwa bei den Porzellanarbeitern, den („französischen“) Handschuhmachern³³, den Kattundruckern oder den Haartuchwebern der Luxusmöbelmanufakturen. Aber auch das alte Handwerk der Buchdrucker und ebenso das im frühen 19. Jahrhundert entstehende Gewerbe der Zigarrenarbeiter läßt sich unter diesen dritten Typ subsumieren.³⁴ Im Vergleich zu den Massenhandwerken war die Zahl der Berufsangehörigen jener Handwerke klein. Diese Handwerke hatten aber eine Pilotfunktion bei der Herausbildung früher überregionaler Gewerkschaften (Buchdrucker und Zigarrenarbeiter 1848/49) und gehörten, wie die Bauarbeiter in den schnell wachsenden Groß- und Mittelstädten, zu dem Kern der funktionstüchtigen Gewerkschaften der 1860er/70er Jahre. Alle Handwerke des dritten Typs hatten gemein, daß sich schon in der Zeit ihrer Herausbildung eine klare Trennung zwischen Gehilfen (oder

 Vgl. Willy Albrecht: Fachverein – Berufsgewerkschaft – Zentralverband. Organisationsprobleme der deutschen Gewerkschaften 1870 – 1890. Bonn 1982, hier S. 531. Renzsch: Bauhandwerker (wie Anm. 11.); und Müller: Versammlungsdemokratie (wie Anm. 11); ders.: Binnenstruktur (wie Anm. 11); wie auch Albrecht bestätigen sie die, wenn auch nicht immer konfliktfreie, erfolgreiche Eingliederung der vom Lande zuwandernden Bauhandwerke in die Streikbewegungen der urbanen Zentren.  Dieser bemerkenswerte Beruf hatte noch 1892 mit 76,7 Prozent den höchsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad in Deutschland.Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 301. Es ist auch wenig bekannt, daß die Handschuhmacher bereits 1848 – 1850 eine berufsspezifische Zentralgewerkschaft gegründet hatten, mit Zweigstellen in all den Orten, in denen einst hugenottische Einwanderer die Fabrikation von Glacehandschuhen eingeführt hatten. Wie für fast alle Berufe des „Typ 3“ lassen sich auch für die Jahre vor Aufhebung des Koalitionsverbots Arbeitskämpfe nachweisen. 1869 kam es dann zur Gründung eines vergleichsweise stabilen und erfolgreichen Gewerkschaftsverbandes. Vgl. auch Elisabeth Todt: Die gewerkschaftliche Betätigung in Deutschland von 1850 – 1859. Berlin 1950, S. 83 ff., sowie Carl Adam Maier: Der Verband der Glacehandschuhmacher und verwandter Arbeiter Deutschlands 1869 – 1900. Diss.Würzburg 1901.  Vgl. den wohlinformierten Überblick über diese Gruppe von Berufen bei Eisenberg: Gewerkschaften (wie Anm. 13), S. 133 ff. Vgl. auch Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5.), S. 19 ff., 300 f.

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Gesellen) einerseits und „Prinzipalen“, Fabrikanten andererseits entwickelt hatte; das drückte sich auch sprachlich aus, denn das Wort „Meister“ wurde kaum noch verwendet und in einigen dieser Berufe mußte der Fabrikant auch nicht unbedingt das ausgeübte Gewerbe erlernt haben. Diese neuen Gewerbe waren zumeist in einigen wenigen Städten zentriert, Wanderzwang und die Fraktionierung in ortsfeste und reisende Gesellen waren selten. Es konnten sich stabile Kollegenbeziehungen und eindeutige Interessenidentitäten der Gesellen herausbilden. Die berufsspezifischen, weder von einer Innung oder nur von Meistern kontrollierten Kranken- und Sterbekassen dieser Gesellen wiesen eine erstaunliche Kontinuität bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und konnten durchaus die Basis für eine Gewerkschaftsgründung bilden. Die Organisation der Arbeit, der Stand der Arbeitsteilung änderte sich in diesen vergleichsweise „modernen“ Gewerben bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum, und auch im Druckgewerbe wurde die Wirkung der Einführung der Schnellpresse auf den Arbeitsmarkt durch die rapide Ausdehnung des Absatzes für Presseerzeugnisse und Bücher und durch die Solidarität der Setzer mit den Druckern stark abgemildert. Eine „Rückerinnerung“ an alte Regeln und organisatorische Formen dieser Handwerke (etwa Lehrlingsbeschränkungen, paritätische Schiedsgerichte oder Minimallöhne) war für die Gesellen auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch funktional. Sie fand ihren Niederschlag in den Statuten ihrer Gewerkschaften und den Forderungen an die Arbeitgeber, teilweise bereits 1848/49, spätestens aber in den 1860/70er Jahren.

IV Der vierte Typ des Übergangs: das verlegte Handwerk der exportorientierten Gewerberegionen 1 Die Zunftentwicklung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Während die Herausbildung meisterzentrierter, sich nach innen gegenüber den Gesellen tendenziell abschließender Zünfte im Alten Reich seit dem 17. Jahrhundert stets im Blickfeld der Handwerksgeschichte lag, ist kaum beachtet worden, daß es in zahlreichen Regionen dieses Reiches eine Zunftentwicklung von exportorientierten Handwerken gab, die das genaue Gegenstück dazu bildete und in vielem der westeuropäischen Entwicklung ähnelte. In Anpassung an die weitere Ausbildung einer Marktgesellschaft und unter dem Einfluß von Kaufmanns- und später Verlagskapital, wuchsen diese Handwerke von stark besetzten Versorgungshandwerken des regionalen Bedarfs zu Exporthandwerken mit überregionalem, ja außereuropäischem Absatz. In diesem Wachstumsprozeß wurde die

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äußere Abschließung der Zünfte gegenüber unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten stark abgeschwächt und die innerzünftige Abschließung gegenüber den Gesellen – etwa durch Begrenzung der Meisterstellen, Ausweitung der Lehrzeit und des Wanderzwangs – kaum nachvollzogen.³⁵ Vielmehr kam es zu einer tendenziellen Nivellierung des Meister-Geselle-Gegensatzes, welcher einer gemeinsamen Frontstellung gegenüber dem Verlagskapital wich. Diese exportorientierten Handwerke dürfen nicht mit den heimindustriellen Gewerben von bäuerlichen Unterschichten verwechselt werden, wie etwa die im 18. Jahrhundert bereits weit verbreitete Leinen- oder Baumwollspinnerei, die Herstellung grober Leinengewebe oder das Korb- und Strohflechten.³⁶ Diese heimgewerblichen Produzenten waren zwar durch das sogenannte Kaufsystem mit dem Kaufmannskapital partiell verbunden, sie waren zugleich aber integraler Bestandteil einer bäuerlich geprägten Agrargesellschaft. Auch die noch anhaltende Diskussion um die „Protoindustrialisierung“ hat bisher an einer mangelnden Unterscheidung zwischen diesem agrarisch integrierten Heimgewerbe und etwa der zünftigen Textilweberei des 18. Jahrhunderts gelitten.³⁷ Die zünftige

 So wurden etwa den sächsischen Weberinnungen nach und nach im 18. und frühen 19. Jahrhundert sogenannte Wandererlasse erteilt, d. h. Befreiung vom Wanderzwang gewährt. Vgl. z. B. Paul Holster: Die Entwicklung der Sächsischen Gewerbeverfassung 1780 – 1861. Krefeld 1908, S. 36 ff. Im Solinger Schneidwarenhandwerk mußte sogar ein sogenannter Verbleibeeid geleistet werden, d. h. den Gesellen war es untersagt zu wandern, damit keine „Fabrikgeheimnisse“ in Kleineisengewerben anderer Regionen bekannt wurden. Auch die Meister waren durch die Zunft in ihrer Freizügigkeit bis Anfang des 19. Jahrhunderts beschränkt.Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 253. Eine allgemeine Begrenzung von Meisterstellen scheint es weder in Sachsen noch im Bergischen Land gegeben zu haben. Sei es nun unter dem Druck der Kaufleute und der Regierung oder aus besserer Einsicht: die Zünfte paßten sich bei der Festsetzung der Lehrlingszahlen und bei der Vermehrung der Gewerbebetreibenden durch Einbeziehung benachbarter ländlicher Gebiete oder bei der Übernahme neuer Produktionstechniken vergleichsweise – etwa zu den Reichsstädten – flexibel den mittelfristigen Expansionsmöglichkeiten der Gewerbe an.  Sie konnten, im Gegensatz zum Bergischen Land und zu weiten Teilen Sachsens, auf einer ländlichen Faserstoffproduktion (v. a. Flachs) aufbauen. Die ländliche Leinen- und Baumwollspinnerei stand aber häufig in einer kommerziellen Beziehung zur zünftig betriebenen Weberei. Leinengespinst für die Weberei im Wuppertal wurde von bergischen Kaufleuten im gesamten nordwestdeutschen Raum aufgekauft. Später wurde die Baumwolle für die Wuppertaler Produktionspalette (Breitwand/Bänder/Mischgewebe) von den ländlichen Unterschichten und Kleinbauern im Oberbergischen, in der Mark und in linksrheinischen Gebieten versponnen. Vgl. v. a. Gerhard Adelmann: Die ländlichen Textilgewerbe des Rheinlandes vor der Industrialisierung. In: Rheinische Vierteljahresblätter 43 (1979), S. 260 – 288, hier S. 272 – ein informativer Aufsatz, der allerdings nicht zwischen zünftigen und unzünftigen Gewerben unterscheidet und daher die städtische Prägung eher ländlich erscheinender Gewerbe, v. a. im rechtsrheinischen Bergischen Land, nicht erfaßt.  Die Arbeiten im Rahmen der Proto-Industrialisierungs-Debatte haben zwar die Abhängigkeit breiter ländlicher Unterschichten von gewerblichem Nebenerwerb erneut und heuristisch

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Textilproduktion des gehobenen Bedarfs (Wolltuche, feines Leinen usw.), wie auch die zünftig organisierte Kleineisen- und Metallverarbeitung, waren zwar seit dem ausgehenden Mittelalter längst nicht mehr reichsstädtisch zentriert; aber sie waren doch eher städtisch, in städtereichen Landschaften, wie etwa Sachsen, Thüringen oder dem Bergischen Land, beheimatet.³⁸ Sie griffen von diesen Landstädten im Laufe ihres Wachstums auf das „flache Land“ aus, aber häufig unter Beibehaltung ihrer zünftigen, am alten städtischen Recht orientierten Organisation, und ohne Teil der agrarischen Umwelt zu werden.³⁹ Sachsen und das Bergische Land gehörten bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert zu den wichtigsten Importregionen für agrarische Erzeugnisse. Im Bergischen Land war der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtzahl der Beschäftigten gering und landwirtschaftlicher Nebenerwerb, wie auch Tagelöhnerarbeit, war wenig ausgeprägt. In den Kerngebieten der gewerblichen Produktion im nördlichen Teil des Großherzogtums Berg lebten bereits im Jahr 1804(!) 75 Prozent aller Familien vom Handwerk, 7 Prozent von kaufmännischer oder öffentlicher (Staats)-Tätigkeit und

fruchtbar thematisiert. Sie haben die allmähliche Auflösung einer bäuerlichen Gesellschaft durch das Eindringen des Handelskapitals in Richtung auf eine ländliche Klassengesellschaft analysiert. Sie haben aber die Tendenz der Verlagerung der Gewerbe von der Stadt auf das Land überzeichnet, die Fortexistenz zünftiger Produktionsformen im Einzugsbereich von Städten, die Bedeutung des handwerklich-zünftigen „braintrust“ für die Aufrechterhaltung des Qualitätsniveaus für Waren des gehobenen Bedarfs unterschätzt. Das Bild der „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ wurde bisher zu sehr von ländlichem Leinengewerbe und unzünftigem Baumwollgewerbe geprägt. Siehe Kriedte/Medick/Schlumbohm: Industrialisierung (wie Anm. 3).Vgl. auch Peter Kriedte u. a.: Die Proto-Industrialisierung auf dem Prüfstand der historischen Zunft. Antwort auf einige Kritiker. In: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 87– 106.  Alle diese Regionen zeichneten sich durch einen besonderen „Städtereichtum“ aus. So zählte der Kreisdirektionsbezirk Zwickau, der „größte, gebirgigste, industriöseste und bevölkertste“ Sachsens „Mitte der 1830er Jahre 547.000 Einwohner, welche 59 Städte und 880 Orte (nicht aber jedesmal Dörfer) […] bewohnen“. Vgl. A. Schiffner: Beschreibung von Sachsen. 2. Aufl. Dresden 1845, S. 241 f., zit. nach Zwahr: Proletariat (wie Anm. 5), S. 61 f. Vgl. auch Bernd Schöne: Posamentierer – Strumpfwirker – Spitzenklöpplerinnen. Zu Kultur und Lebensweise von Textilproduzenten im Erzgebirge und im Vogtland während der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus (1750 – 1850) In: Roland Weinhold (Hrsg.): Volksleben zwischen Zunft und Fabrik. Berlin 1982, S. 107– 164, S. 112: „Ausgedehnte und dichtbesiedelte Orte mit mehreren Tausend nichtlandwirtschaftlich gebundenen Einwohnern […] waren hier die Grundlage für die manufakturkapitalistische Entwicklung in der Textilproduktion.“ Im Bergischen Land besaßen sogar Ortschaften wie Ronsdorf, Cronenberg, Höhscheid, Dorp und Wald, um nur einige dieser „Industriedörfer“ zu nennen, seit dem 18. Jahrhundert Stadtrecht.  Dies gilt v. a. für die sächsische Weberei und Wirkerei in den stadtnahen Dörfern um Chemnitz, Glauchau/Meerane, Crimmitschau und Zwickau, aber auch für die Wuppertaler Leineweber und Lenneper Wollweber im 18. Jahrhundert, wie auch für die sogenannten Reideberufe des Solinger Schneidwarengewerbes. Vgl. für Sachsen Schöne: Posamentierer (wie Anm. 38), S. 127 ff.

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nur 18 Prozent von der Landwirtschaft.⁴⁰ Die Ausweitung der gewerblichen Produktion im deutschsprachigen Raum seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts geschah mithin nicht nur durch die vom Kaufmannskapital initiierte unzünftige Produktion in ländlichen Gebieten, sondern durch eine erhebliche Ausweitung der zünftigen Produktion vor allem qualitativ hochwertiger Waren. Diese Expansion von zünftig organisierten Exporthandwerken hatte zwei Verlaufsformen: Spätestens seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gerieten – aufgrund neuer Anforderungen durch die Dynamik des sich entwickelnden „Welt“marktes – ganze seit dem Hochmittelalter bestehende Handwerkszünfte unter den Einfluß von Verlegerkaufleuten. Als Beispiele seien hier die Solinger Schneidwarenzünfte, die Remscheider Werkzeug(‐Sensen) Zünfte und eine Vielzahl von reichsstädtischen und landstädtischen Tuchmacherzünften genannt.⁴¹ Diese Handwerke dehnten sich erheblich aus, ohne daß der (fortgeschrittene) Stand der internen Arbeitsteilung oder ihre zünftige Organisationsform angetastet wurde. Zahlreiche Handwerke konnten sich bei der Einführung neuer Produkte neu oder erneut als Zünfte organisieren und diese Zunftorganisation auch auf den ländlichen Einzugsbereich der Städte ausdehnen. So konnten sich etwa im Wuppertal die Leineweber 1738 als – für die Region – neues Gewerbe zünftig organisieren und wenig später auch die Bandwirker.⁴² Im Gegensatz zu anderen Regionen, wo mit dem Übergang vom Leinen zur Baumwolle als neuem Rohstoff für die Massenherstellung auch die zünftige Organisation zerstört wurde, gelang es den sächsischen und thüringischen Baumwollwebern und Strumpfwirkern im 18. Jahrhundert die Zunftordnung beizubehalten. In diesen exportorientierten, verlagskapitalistisch geprägten Handwerken – und das hatte eine erhebliche Bedeutung für die Herausbildung einer frühen, auch zum Mittel der gewerkschaftlichen Organisation greifenden Arbeiterbewegung in diesen Berufszweigen – machten die Zünfte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts einen Funktionswandel durch. Die Zünfte stellten keine Vereinigung von gleichgestellten, sowohl produzierenden als auch handeltreibenden Handwerksmeistern mehr dar, sondern ein wirtschaftliches und soziales Kontraktverhältnis zwischen den Kauf-

 Vgl. Rudolf Boch/Manfred Krause: Historisches Lesebuch zur Geschichte der Arbeiterschaft im Bergischen Land. Köln 1983, S. 18.  Für das Rheinland seien hier die Aachener, die Dürener und die Lenneper Tuchmacherzünfte genannt. Vgl. Martin Henkel/Rolf Taubert: Maschinenstürmer. Frankfurt 1979, S. 84 ff.  Wolfgang Dietz: Die Wuppertaler Garnnahrung. Neustadt 1957, S. 112 ff.; sowie Boch/Krause: Lesebuch (wie Anm. 40), S. 29. Die Bezeichnung „Leineweber“ ist etwas irreführend, weil von dieser Zunft hauptsächlich Baumwoll-Leinen-Mischgewebe produziert wurde. Ob die Bandwirker der neu gegründeten Gemeinde Ronsdorf 1743 mit den Stadt- und Gerichtsrechten auch ein Zunftprivilegium bekamen, ist nach dem bisherigen Forschungsstand unklar.

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leuten einerseits und den immer stärker von diesen abhängig werdenden Handwerkern andererseits. Zwar blieben die Zünfte Selbstverwaltungsorgane der Handwerke und behielten eine gewisse Eigengerichtsbarkeit bei Streitfällen zwischen Zunftmitgliedern. Sie hatten auch weiterhin die Funktion, den Ausbildungsgang verbindlich zu organisieren (Lehrlingszeit, Meisterprüfung) und damit das Qualifikationsniveau der Handwerke zu sichern, an dem auch das Kaufmannskapital ein Interesse hatte. In das Zentrum der Aufgaben der Zunft rückte jedoch immer stärker die Aushandlung von festen Lohnsätzen, d. h. Mindeststücklöhnen für die einzelnen Sorten und Qualitäten der Kleineisen- oder Textilerzeugung, mit den Verlagskaufleuten. Das Kontraktverhältnis zwischen „Kapital und Arbeit“ wurde durch die Einbeziehung der Verlagskaufleute in die Handwerksgerichte oder gar durch die Bildung neuer, paritätisch besetzter „Vergleichskammern“ institutionalisiert. Sie sollten über die Einhaltung der Lohnsätze (man könnte auch sagen:Tariflöhne) wachen sowie den Umfang der Zulassung nichtprivilegierter Arbeiter – meist in Hilfsgewerben der eigentlichen Handwerke – regeln.⁴³ Wenn aber die institutionalisierte Konfliktregelung versagte, sei es aufgrund schlechter Konjunkturen oder aufgrund des Ehrgeizes einzelner Kaufleute, die sich nicht (mehr) an die Regeln halten wollten, griffen die Zünfte – im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vermehrt – zum Mittel des Arbeitskampfes, des Streiks.⁴⁴

 Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 81 ff.,wie auch Boch/Krause: Lesebuch (wie Anm. 40), S. 26 ff. Dieser Funktionswandel von Zünften zu quasi-gewerkschaftlichen Vereinigungen ist keine „Neuentdeckung“, sondern wurde bereits von Alphons Thun: Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. Bd. 2: Die Industrie des Bergischen Landes. Leipzig 1879, präzise beschrieben: „Der Kampf der gleichstehenden Meister untereinander hört auf, es beginnt der Kampf der Lohnarbeiter gegen die Arbeitgeber […] die Zünfte selbst erhielten unter dem Druck der Tatsachen ganz andere Zielpunkte.“ Ebd., S. 27. Im Jahr 1800 wurden von den 4.760 Schneidwarenhandwerkern in Solingen 1.680 nach festen Lohnsätzen entlohnt, während 1.370 sogenannte unprivilegierte Handwerker – zumeist die Vorschläger der Handschmiede oder Arbeiter in Zuliefergewerben – ihren Lohn individuell aushandeln mußten. Weitere 1.680 Beschäftigte waren Söhne, Gesellen oder Lehrlinge der Handwerksmeister, deren Lohnhöhe intern von der Zunft bestimmt wurde. Ebd., S. 50.  Von einem dieser Streiks im Solinger Schneidwarengewerbe berichtet Thun: „Im März 1776 rotteten sie sich zusammen,verweigerten die Arbeit allen denjenigen,welche die Löhne nicht nach der Satzordnung vom 17. 8.1759 zahlten und unterstützten die Feiernden mit Geldern, welche sie in einer Kollekte gesammelt hatten.“ Ebd., S. 34. Zwar gehörten Streiks nicht zu den festen Spielregeln – es wurde von der kurpfälzischen Regierung eine Untersuchungskommision eingesetzt –, aber sie wurden nicht durchweg strafrechtlich verfolgt und konnten gar, wie 1776 in Solingen geschehen, zur Durchsetzung erheblicher Lohnerhöhungen führen. Die Regierung stand nicht bedingungslos auf Seiten der – im Bergischen bereits Fabrikanten genannten – Verleger-Kaufleute, und die Handwerker hatten im Vergleich zu den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch den organisatorischen Rahmen und die Möglichkeit sich zu wehren. Vgl. auch Stadtarchiv

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Durch die Organisation von Arbeitskämpfen, durch die Rolle als „Anwalt der Arbeit“ in den „Vergleichskammern“ oder Handwerksgerichten, veränderte sich der Charakter der Zünfte. Sie wurden mithin zu quasi-gewerkschaftlichen Vereinigungen. Auch die weiterhin verfolgten Ziele der möglichst rigiden Beschränkung der Lehrlingszahlen und der „Exklusivität“ gegenüber den – meist nur angelernten – nichtprivilegierten Arbeitskräften, widerspricht diesem Urteil nicht. Die Regelung des Zugangs zum Arbeitsmarkt durch Ausbildungsbegrenzungen und die Ausschließung ungelernter oder angelernter Arbeiter aus der eigenen Organisation, waren Forderungen und Praxis nahezu aller berufsspezifischer Gewerkschaften, v. a. jener des wirklich gewerkschaftsfähigen Kerns, bis weit in die 1890er Jahre. Erst durch die Herausbildung der sogenannten Massengewerkschaften, die auf weitgehend anderen Organisationsprinzipien beruhten, wurde diese bis dahin durchaus funktionale gewerkschaftliche Tendenz abgeschwächt. Aus der bisherigen Darstellung geht hervor, daß sich die soziale Stellung der Handwerker in den zünftig organisierten Gewerben, vor allem des Königreichs Sachsen, der Thüringischen Staaten und des Großherzogtums Berg wie auch zahlreicher traditioneller Tuchmacherstädte⁴⁵, deutlich von jenen Regionen unterschied, in denen die Ausweitung der Gewerbe mit der Einführung der Gewerbefreiheit einherging (wie etwa am linken Niederrhein in den Gebieten um Eupen, Monschau, Burtscheid oder Mönchen-Gladbach)⁴⁶ oder aber durch merkantilistische Wirtschaftspraktiken, etwa der Privilegierung kapitalistischer Monopoloder Oligopolunternehmer, intitiiert oder begleitet wurde.⁴⁷ In diesem Zentrum der

Solingen H 35, „Verhandlungen Härter- und Schleiferverhör 1778 – 86“ sowie Akten L.P. 10, „Irrungen innerhalb der Kaufmannschaft und Handwerkerschaft 1775 – 1791“; L.P. 11, „Sogenanntes Schleiferkomplott“.  Zwahr: Proletariat (wie Anm. 5), S. 64, weist darauf hin, daß insbesondere alte Tuchmacherstädte zu Zentren der sozialdemokratischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung wurden. Neben den sächsischen Städten nennt er für Preußen Cottbus, Finsterwalde, Forst, Görlitz, Luckenwalde, Sorau und Spremberg, für Württemberg Eßlingen und Göppingen.  Die Tuchgewerbe von Eupen, Monschau und Burtscheid wurden zumeist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Konkurrenz zur zünftigen Tuchproduktion Aachens von Verleger-Kaufleuten gegründet.Vgl. etwa Herbert Kisch: Das Erbe des Mittelalters, ein Hemmnis wirtschaftlicher Entwicklung: das Tuchgewerbe im Aachener Raum vor 1790. In: Ders.: Die hausindustriellen Gewerbe am Niederrhein vor der industriellen Revolution. Göttingen 1981, S. 258 – 316,v. a. S. 277 ff. Die Gegend um Mönchengladbach entwickelte sich erst während und nach der französischen Besatzungszeit zu einem Zentrum der Baumwollweberei, freilich auf der Basis eines zuvor bäuerlich-nebengewerblich betriebenen Leinengewerbes.  Es gab auch im Großherzogtum Berg seit dem 16. Jahrhundert eine Monopolisierungspolitik zur Förderung bestimmter Gewerbestandorte. Monopole wurden aber für ganze Berufsgruppen und nicht für einzelne Unternehmer oder einige wenige Großunternehmen ausgesprochen. Vgl. Dietz: Garnnahrung (wie Anm. 42). Zudem mußten sie mit bestehenden Zunftordnungen oder neu

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merkantilen Wirtschaftsförderung, etwa in den preußischen Exklaven Krefeld (Seidengewerbe)⁴⁸ und Mark (hier nur die Metallverarbeitung)⁴⁹, gab es kaum Möglichkeiten der Selbstorganisation der Handwerker. Eine weitgehende Rechtlosigkeit der Warenproduzenten war gepaart mit einer gewissen patriarchalischen Fürsorge der privilegierten Unternehmer, die – wie etwa in Krefeld – damit verhindern wollten, daß sich Produzenten dem beinahe als Arbeitszwang zu bezeichnenden Abhängigkeitsverhältnis durch Abwanderung entzogen.⁵⁰ Daher war anscheinend auch in diesen Regionen das Institut des Mindestlohns – im Gegensatz zu Gegenden mit Gewerbefreiheit – bekannt. Dieser Mindestlohn wurde aber nicht ausgehandelt, sondern von Unternehmern und Behörden festgesetzt. Daß eine zünftige Organisierung von den Handwerkern in Regionen mit Gewerbefreiheit durchaus angestrebt wurde und als positives Vorbild galt, zeigen zahlreiche Arbeitskämpfe in den 1740er und 1760er Jahren in den Tuchgewerben von Eupen und von Monschau. „Angestiftet“ von Gesellen, die aus zünftig organisierten Regionen eingewandert waren, traten Weber und Scherer als geschlossen handelnde Gruppe auf und forderten von den Kaufleuten zentrale Elemente der etwa im Herzogtum Berg geübten Zunftpraxis⁵¹, so eine Garantie fester Löhne, das Verbot des Warenzahlens, das Verbot der Vergabe von Webaufträgen nach

privilegierten Zünften korrespondieren. In der preußischen Grafschaft Mark hingegen wurden die Zünfte seit dem 17. Jahrhundert anscheinend systematisch ausgeschaltet. Im Gegensatz zur merkantilistischen Interventionspolitik Preußens in der Grafschaft Mark zeichnete sich die kurpfälzische – wie auch die sächsische – Regierung durch eine vorsichtige marktwirtschaftliche Reformpolitik unter teilweiser Beibehaltung und Flexibilisierung der Zünfte aus. Dies darf nicht mit einer Politik der „Gewerbefreiheit“ verwechselt werden, die erst in den 1790er Jahren Anhänger in der Verwaltung fand. Vgl. Stephan Gorissen/Georg Wagner: Protoindustrialisierung in Berg und Mark? Ein interregionaler Vergleich am Beispiel des neuzeitlichen Eisengewerbes. In: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 92 (1986), S. 163 – 171; sowie Gustav Kuhn, JülichBergische Wirtschaftspolitik im 17. und besonders im 18. Jahrhundert, Diss. Köln 1948. Jürgen Reulecke: Nachzügler und Pionier zugleich: das Bergische Land und der Beginn der Industrialisierung in Deutschland. In: Sidney Pollard (Hrsg.): Region und Industrialisierung. Göttingen 1980, S. 52– 68, übernimmt weitgehend die Ergebnisse der zunftfeindlichen, älteren Forschung, überschätzt daher den Stand der „Kommerzfreiheit“ und unterschätzt die Bedeutung der Zünfte noch zu Ende des 18. Jahrhunderts.  Vgl. Peter Kriedte: Proto-Industrialisierung und großes Kapital. Das Seidengewerbe in Krefeld und seinem Umland bis zum Ende des Ancien Regime. In: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), S. 219 – 266.  Vgl. G. Lange: Das ländliche Gewerbe in der Grafschaft. Mark am Vorabend der Industrialisierung. Köln 1976.  Vgl. Kriedte: Proto-Industrialisierung (wie Anm. 48), S. 240 ff.  Vgl. Henkel/Taubert: Maschinenstürmer (wie Anm. 41), S. 87 ff., sowie Kisch: Das Erbe (wie Anm. 46), S. 286 ff.

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auswärts und Beschränkungen der Lehrlingszahlen. Trotz offizieller Gewerbefreiheit konnten einige Forderungen durchgesetzt werden; wie lange diese Regelungen während des 18. Jahrhunderts aufrechterhalten werden konnten, ist unbekannt.

2 Die Aufhebung der Zünfte im Rheinland Zwischen 1792 und spätestens 1811 wurden bekanntlich neben den Zünften der städtischen Versorgungshandwerke auch alle zünftig-gewerkschaftlichen Organisationen in den – 1814 dann dem Königreich Preußen zufallenden – Rheinlanden durch französische Verwaltungsdekrete aufgehoben. Im Großherzogtum Berg waren sie schon teilweise seit den 1780er Jahren aufgrund einer sich allmählich verändernden Gewerbepolitik ersatzlos aufgelöst worden. Diese neue Gewerbepolitik richtete sich aber nur gegen die Zünfte in den Exporthandwerken des Textilsektors, während die Zünfte in der Kleineisenindustrie fortbestehen konnten und einzelnen neuen Berufsgruppen, wie etwa den Solinger Scherenmachern noch in den 1790er Jahren das Privilegium der Zunft erteilt wurde.⁵² Die Entscheidungen der kurpfälzisch-bergischen Regierung waren freilich nicht willkürlich, sondern richteten sich vor allem nach dem Stand der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Handwerke gegenüber der „ausländischen“ Konkurrenz. So ist z. B. bekannt, daß die Zunft der Elberfelder Leineweber 1783 unter Einsatz von Militär aufgehoben wurde, weil ihr seit 1738 bestehender verhältnismäßig hoher Lohnsatz einer von der Regierung und den Kaufleuten angestrebten Konkurrenzfähigkeit mit den billiger arbeitenden, unzünftigen Webern der benachbarten preußischen Grafschaft Mark im Wege stand.⁵³ Für das Fortbestehen der Zünfte im Kleineisengewerbe waren ebenfalls handelspolitische Gründe aus-

 Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 84; auch die Remscheider Schleifer konnten beim Übergang von der Sensen- zur Werkzeugschleiferei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erneut ein Zunftprivileg durchsetzen. Vgl. Max Barkhausen: Staatliche Wirtschaftslenkung und freies Unternehmertum im 18. Jahrhundert. In: Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte 45 (1958), S. 168 – 241, hier S. 182.  Vgl. Dietz: Garnnahrung (wie Anm. 42), S, 115; und Boch/Krause: Lesebuch (wie Anm. 40), S. 28 f. Die „Proletarisierung“ der Zunftmeister und der Funktionswandel der Zunft kommen gut in den Worten des Abgeordneten der Wuppertaler Kaufmannschaft J.G. Brügelmann zum Ausdruck, der sich weigerte, mit den Vertretern der Weber im Zunftgericht über die bestehenden Lohndifferenzen zu verhandeln: „Was sind das für Herren von der Zunft? Sind es Herren? Leineweber sind es, Handwerksleute, die von mir und anderen Kaufleuten ihr Brot haben!“ Vgl. Dietz: Garnnahrung (wie Anm. 42), S. 115. Brügelmann, gegenüber den Webern dezidierter Vertreter der „Kommerzfreiheit“, erlangte für seine mechanische Baumwollspinnerei in Ratingen von der kurpfälzischen Regierung wenig später ein 12-jähriges Monopol-Privilegium.

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schlaggebend. Da etwa die Solinger Schneidwarenproduktion den Status eines Qualitätsgewerbes hatte und nicht, wie große Teile der Textilerzeugung jener Epoche, zu einer möglichst billigen Massenherstellung tendierte, war nicht, wie 1783 in Elberfeld oder 1790 im Tuchmacherhandwerk Lenneps, der unmittelbare Zwang – unter den Bedingungen einer weitgehend stagnierenden Technik – zur Senkung der durchschnittlichen Arbeitslöhne gegeben. Beamte der Regierung befürchteten im Gegenteil negative Effekte einer ungehinderten Lohnsenkung auf die Konkurrenzfähigkeit der Messer und Bestecke in einem qualitätsbestimmten Markt für langlebige Gebrauchsgüter. Ein sehr niedriges Lohnniveau – das hatte sich bei einem kurzfristigen Experiment mit der Gewerbefreiheit in den 1770er Jahren in Solingen schon einmal gezeigt – begünstigte auf längere Sicht eine Billig- oder „Schundwaren“Produktion, für die keine ausreichende Nachfrage bestand, und die auch den Ruf der besseren Qualitäten des Produktionsortes Solingen schädigen konnte.⁵⁴ Als die Solinger Zunftordnung, von den Zeitgenossen bereits treffend „Fabrikverfassung“ genannt, im Jahr 1809 außer Kraft gesetzt wurde, war sie – dies läßt sich zumindest für die vergleichsweise gut erforschte Solinger Region feststellen – keine von der Zeit überholte „leere Hülse“, sondern ein durchaus lebendiges soziales System. Ihre Auflösung, an der, wie überall in der Rheinprovinz, von der neuen wirtschaftsliberalen preußischen Verwaltung bewußt festgehalten wurde, empfanden die handwerklichen Produzenten schon nach kurzer Zeit als Verlust.⁵⁵ Daß die „Entregelung“ sämtlicher Gewerbe auch in anderen rheinischen Exporthandwerken, in denen die Zünfte quasi-gewerkschaftliche Schutzfunktionen der Gesellen und Kleinmeister gegenüber dem Verlagskapital übernommen hatten, als Verlust begriffen wurde, ist eine naheliegende Vermutung. Die nahezu identischen Forderungskataloge, etwa der wichtigsten bergischen Verlagshandwerke vom März 1848, die – vergleicht man sie mit der letzten Solinger „Fabrikverfassung“ – zentrale Elemente davon enthielten, sind ein eindeutiges Indiz für diese Annahme. Nachdem die Wirren der Napoleonischen Kriege eine klare Beurteilung des Neuen verhindert und zeitweilig gute Konjunkturlagen die Auswirkungen der Entregelung der Gewerbe auf die  Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 94 ff., 61. Dieses Resümee zog auch der letzte kurpfälzische Obervogtsverwalter Adam Edler von Daniels: Vollständige Abschilderung der Schwert- und Messerfabriken und sonstigen Stahlmanufakturen in Solingen. Düsseldorf 1802.  So schrieb schon 1810 der im Bergischen Land erscheinende „Verkünder“: „Unsere neue Landesregierung hatte bei der Aufhebung aller Privilegien, Monopole, Zünfte u. a. den Zweck, durch eine völlige Gewerbefreiheit die Industrie zu beleben. Dieser weise Zweck wird aber vereitelt, wenn unerlaubter kaufmännischer Eigennutz die Wohltat der Gewerbefreiheit zum Nachteil einer großen Klasse des Volkes mißbraucht. […] Schon jetzt klagt ein großer Teil der Fabrikarbeiter über willkürliche und übermäßige Lohnverkürzungen, über zu langes Kreditieren und vorzüglich darüber, daß die meisten hiesigen Kaufleute ihren Arbeitern den größten Teil des Lohnes nicht in Geld, sondern in Waren reichen […]“. Vgl. Boch/Krause: Lesebuch (wie Anm. 41), S. 30.

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Handwerker abgemildert haben mögen, scheint mithin eine Reorientierung auf Kernpunkte der zünftigen Verfassungen des späten Ancien Regime stattgefunden zu haben. Als frühester Nachweis hierfür bietet sich der Streik der Solinger Schneidwarenschleifer des Jahres 1826 an, der einmal – in Unkenntnis der Solinger Streikgeschichte des 18. Jahrhunderts – als erster Streik der deutschen Arbeiterbewegung bezeichnet worden ist.⁵⁶ Er hatte die Wiederherstellung eines festen Lohnsatzes (d. h. Minimalstücklöhne für die unterschiedlichen Schneidwarenqualitäten) zum Ziel. Die Geschichte dieses Streiks ist eingebettet in mehrere erfolglose Versuche im Jahre 1824 und im Frühjahr 1826, durch Petitionen die Wiedereinführung einer „Fabrikverfassung“ zu erlangen.⁵⁷ Nach dem erfolglos abgebrochenen Streik appellierten die Solinger Schneidwarenhandwerker, unter Federführung zweier, noch in den letzten Tagen der alten Zunft gewählten Handwerksvertreter, im Jahr 1830 direkt an den preußischen König. Ihr Forderungskatalog umfaßte vier Punkte, die mit den für die soziale Lage der Exporthandwerker wichtigsten Bestimmungen der alten Zunftordnung identisch waren: 1. Ein paritätisch besetztes „Fabrikengericht“, das Streitfälle regeln und zugleich Aufsicht über den Qualitätsstandard der produzierten Waren führen sollte; 2. Wiedereinführung der Meisterprüfung; 3. Fester Lohnsatz, der nach dem Steigen oder Sinken der Preise für die Rohmaterialien festgestellt werden sollte; 4. Verbot des Trucksystems (Warenzahlens) – wenn auch vielfach in der Praxis unterlaufen, hatte dieses Verbot zwischen 1709 und 1811 bestanden.⁵⁸ Einzig die Forderung nach einem Fabrikengericht wurde nach elf Jahren teilweise erfüllt. Das 1841 eingeführte Gewerbegericht war aber kein paritätisch besetztes Selbstverwaltungsorgan, sondern eine von Staat und Kaufmannschaft dominierte Institution.⁵⁹ Bei der Rekonstruktion einer von der älteren Historiographie, die zumeist auf die positiven Effekte der Gewerbefreiheit fixiert war, verdrängten „Verlustgeschichte“ darf jedoch nicht übersehen werden, daß sich für diejenigen (z. B. linksrheinisch-ländlichen) Gewerbe, die bereits im 18. Jahrhun Vgl. die kurze Skizze dieses Streiks bei Dieter Dowe: Aktion und Organisation. Arbeiterbewegung, sozialistische und kommunistische Bewegung in der preußischen Rheinprovinz 1820 – 1852. Hannover 1970, S. 32 f.  Der Streik und die Petitionsbewegung ist eingehend beschrieben bei Henkel/Taubert: Maschinenstürmer (wie Anm. 40), S. 145 ff.  Vgl. auch Boch/Krause: Lesebuch (wie Anm. 41), S. 62 ff.  Wolfgang Bruckmann: Die Einrichtung des Fabrikengerichts zu Solingen und seine Tätigkeit in den Jahren 1841 und 1842. Münster 1976, sowie die neuere Studie zur Wiederaufnahme der Tradition der Arbeitsgerichtsbarkeit im Rheinland von Peter Schöttler: Die rheinischen Fabrikengerichte im Vormärz und in der Revolution von 1848/49. In: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 8 (1985), S. 160 – 180.

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dert unzünftig betrieben wurden, im 19. Jahrhundert kaum etwas änderte. Zudem kann man annehmen, daß in Gewerberegionen mit Monopolstrukturen, wie im Großraum Krefeld oder in der ehemaligen Grafschaft Mark, die Einführung der Gewerbefreiheit auch von den Handwerkern durchaus als Befreiung aus bedrückenden merkantilen Zwängen begrüßt worden sein mag.

3 Die „Tarifbewegung“ der Jahre 1848/49 im Rheinland und in Sachsen In Krefeld scheint aber schon bald eine gewisse Ernüchterung über die Wirkungen der neuen Freiheiten Platz gegriffen zu haben, denn bereits 1828, wie auch erneut 1848, kämpften die Krefelder Seidenweber um die Einführung eines festen Lohnsatzes, der, wie erwähnt, anscheinend im 18. Jahrhundert trotz des Fehlens einer zünftigen Selbstverwaltung existiert hatte.⁶⁰ Das Zentrum der Auseinandersetzungen im Frühjahr 1848 lag allerdings in den ehemals zünftig organisierten Gewerberegionen des Bergischen Landes: Hier kam es in Elberfeld, Barmen, Remscheid und Solingen im März 1848 zu einer ausgedehnten „Tarifvertragsbewegung“ in den wichtigsten alten Gewerben. Ihr gemeinsames Ziel lag in der Durchsetzung fester Lohnsätze (Minimalstücklöhne), um der Konkurrenz der zahlreichen Verlegerkaufleute um höhere Marktanteile auf Kosten der abhängigen Handwerker ein Ende zu setzen und in der Errichtung von sogenannten Arbeitsräten oder Ehrenräten, die – paritätisch mit Handwerkern und Kaufleuten besetzt – als Kontrollkommission für die Einhaltung der Lohnsätze, wie auch als innergewerbliche Schlichtungsinstanz und als zukünftige Tarifkommission, fungieren sollten. Darüber hinaus gab es, je nach örtlicher Problemlage, zusätzliche Forderungen, die sich etwa auf das Verbot des Warenzahlens oder die Bezahlung der notwendigen Vorarbeiten beim Einrichten von Webstühlen erstreckten. Unter dem Druck der revolutionären Ereignisse in Berlin und den zahlreichen „Unruhen“ in den Städten des Bergischen Landes gaben Verlegerkaufleute (im Einverständnis mit den örtlichen Behörden) anfangs einem Teil der Forderungen nach. Die Forderungen nach einem festen Lohnsatz trafen sogar durchaus auf Unterstützung etablierter, größerer Firmen, die eine partielle Interessenidentität mit den Handwerkern hatten, da auch sie die über Lohnreduzierung stattfindende „Schmutzkonkurrenz“ neu aufgestiegener Verleger unterbinden wollten. Diese „Stipulationen“ genannten Tarifverträge kamen in einigen Exporthandwerken zustande, wurden jedoch nach Abklingen der un Vgl. Heinrich Bösen: Der Aufstand der Krefelder „Seidenfabrikarbeiter“ 1828. Eine Dokumentation. In: Die Heimat 36 (1965), S. 32– 61. Vgl. auch Thun: Industrie (wie Anm. 43). Bd. 1: Die linksrheinische Textilindustrie, S. 102 ff.; sowie Stadtarchiv Krefeld: Nachlaß Beckerath 40/2, Nr. 19, S. 12 ff.

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mittelbaren Gefahr einer sozialen Revolte bereits im Herbst und Winter 1848 von vielen Verlegern und Fabrikanten unterlaufen.⁶¹ Unter dem Druck der Ereignisse wurden im Frühjahr 1848 von den preußischen Behörden sogar Innungen oder sogenannte Bruderschaften für die großen Exporthandwerke zugelassen, deren Statuten teilweise über gesetzliche Bestimmungen der Gewerbeordnung von 1845 hinausgingen, und die durchaus als gewerkschaftliche Interessenvertretungen angesehen werden können.⁶² So war in diesen Statuten, neben internen Handwerksbelangen, wie etwa Lehrlingsbeschränkungen, vor allem die gemeinschaftliche Interessenvertretung in Lohnfragen schriftlich fixiert worden. In den Statuten der Solinger Schmiede- und Schleiferbruderschaften gab es sogar eindeutige Bestimmungen, wann und unter welchen Bedingungen zum Mittel des Streiks, der Arbeitsverweigerung gegriffen werden sollte.⁶³ Im Vergleich zu den Gewerkschaftsgründungen der Buchdrucker und Zigarrenarbeiter hat diese kraftvolle, wenn auch regional begrenzte Gewerkschaftsbewegung des Jahres 1848 – die auch in den Exporthandwerken Sachsens ihre Entsprechung fand – bisher kaum Beachtung gefunden. Das Scheitern der gewerkschaftlichen Bemühungen der bergischen Bruderschaften und Innungen, das dem zunehmenden Widerstand der Fabrikanten, dem Erstarken der Reaktion sowie der schlechten Konjunktur geschuldet war und sich in vielen Berufen bereits in den ersten Monaten des Jahres 1849 abzeichnete, führte einen großen Teil der Exporthandwerker in die politische Arbeiterbewegung. Im Rahmen der Reichsverfassungskampagne (Solinger Zeughaussturm,

 Nur in der Baumwoll- und Seidenweberei des Wuppertals und Krefelds wurden die Tarifverträge bis in die ersten Jahre der Reaktionszeit hinein respektiert.Vgl. v. a. Hermann Herberts: Alles ist Kirche und Handel […] Wirtschaft und Gesellschaft des Wuppertals im Vormärz und in der Revolution 1848/ 49. Neustadt 1980, v. a. S. 60 ff.; Peter Wigger: Die Entwicklung der Gewerkschaften bis 1933 unter besonderer Berücksichtigung des Remscheider Raumes. Köln 1976 (MS), S. 11 ff.; Michael Kiekenap: Solingen während der Revolution 1848/49. Köln 1978 (MS), S. 27 ff.; Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 89 ff.; sowie meine zusammenfassende Darstellung dieser regionalen Tarifbewegung unter Einbeziehung der entsprechenden Aktenbestände aus den Stadtarchiven des Bergischen Landes: Rudolf Boch: Tarifverträge und „Ehrenräte“. Unternehmer und Arbeiter im Regierungsbezirk Düsseldorf 1848/49. In: B. Dietz (Hg.), Industrialisierung, historisches Erbe und Öffentlichkeit (= Neues Bergisches Jahrbuch Bd. 3), Wuppertal 1990, S. 178– 226.  Vgl. wie Anm. 61; auf den besonderen Charakter der Wuppertaler Weber- und Wirkerinnungen hat bereits Wolfgang Köllmann aufmerksam gemacht. Er spricht von ihnen als „Verbände[n] ,Innungen‘ genannt“, die „Versuche genossenschaftlicher Einigung“ darstellten, „die über den Typus der Handwerkerinnungen hinausging“. Wolfgang Köllmann: Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert. Tübingen 1960, S. 60 ff.  So heißt es im § 26: „Die Bruderschaft verbindet sich, unter denselben Strafen für keinen Kaufmann mehr zu schleifen, der zum Viertenmale unter den gesetzlichen Preisen schleifen ließ […]“. Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 92.

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Elberfelder Aufstand) und im langsam wachsenden Einfluß des „Bundes der Kommunisten“ in dieser Region, fand diese Politisierung ihren Ausdruck. Im Gegensatz zu ländlichen Heimgewerberegionen, wie etwa den ostwestfälischen oder westmünsterländischen Leinengewerben, aber auch den ehemals unzünftigen linksrheinischen Textilgebieten, hatten die sozialen Proteste im Bergischen Land und Krefeld eine eindeutig anti-(groß)bürgerliche, gegen die Übermacht der Verlegerkaufleute gerichtete Stoßkraft. Im gut untersuchten Ostwestfalen etwa richtete sich der Protest der heimgewerblichen Produzenten, die zumeist noch als sogenannte Heuerlinge oder zumindest als kleine Landpächter in die Agrargesellschaft integriert waren, v. a. gegen die großen Bauern, die durch das reichliche Angebot billiger Arbeitskräfte und wegen ständig steigender Pachteinnahmen sowie in ihrer Rolle als Produzenten des Rohmaterials Flachs, zu den Nutznießern des Produktionssystems gehörten. Die Bielefelder Verleger-Kaufleute wurden von den ländlichen Spinnern zwar argwöhnisch beobachtet, gerieten aber nicht in das Zentrum des gesellschaftlichen Konflikts. Nur die Forderungen der Leineweber im direkten Einzugsbereich der Stadt Bielefeld waren, wenn auch indirekt, gegen das dort ansässige Kaufmannskapital gerichtet. Zum Erhalt ihrer prekären Selbständigkeit verlangten sie staatliche Unterstützungsmaßnahmen, wie die Einrichtung eines Flachs- und Garnmagazins oder einer Darlehnskasse. In ähnlicher Weise suchten sich einige Bielefelder Damastweber durch einen genossenschaftlichen Zusammenschluß gegen das entstehende Verlagssystem gerade in diesem Produktionsbereich zu wehren. Die lange Konservierung des sogenannten Kaufsystems in der Bielefelder Leinenproduktion hatte die Herausbildung einer quasi-lohnabhängigen Schicht von Produzenten verhindert. Die Gründung einer gewerkschaftsähnlichen Organisation wie auch die Forderung nach einheitlichen Minimallöhnen lagen daher außerhalb des Gesichtskreises und der Interessen auch der stadtnahen Weber.⁶⁴

 Vgl. Josef Mooser: Ländliche Klassengesellschaft. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen. Göttingen 1984; ders.: Rebellion und Loyalität 1789 – 1848. Sozialstruktur, sozialer Protest und politisches Verhalten ländlicher Unterschichten im östlichen Westfalen. In: Peter Steinbach (Hrsg.): Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozeß. Stuttgart 1982, S. 57– 87; vgl. auch die kenntnisreichen Arbeiten von Wolfgang Mager zu den ländlichen Gewerbetreibenden in dieser Region. Die ostwestfälischen Spinner und Leineweber blieben – im Gegensatz zu den Textilhandwerkern Sachsens und des Bergischen Landes – der demokratischen Bewegung der Revolutionszeit fern. Eine sozialdemokratische Arbeiterbewegung entwickelte sich erst in den 1880er Jahren. Träger waren nun die Facharbeiter der Metallindustrie in Bielefeld.

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Im Frühjahr 1848 kam es aber in zahlreichen Gewerberegionen des Königreichs Sachsen zu einer „Tarifvertragsbewegung“, deren Träger entweder Arbeitervereine waren, die direkt aus den noch existierenden Innungen hervorgingen oder aber die alten Innungen – teilweise demokratisch reformiert – selber. So wurde etwa in Chemnitz, dem Hauptort der sächsischen Baumwollweberei, ein „Verein zur Wahrung der Interessen der arbeitnehmenden Weber“ gegründet, der bis zum Sommer 1848 neben zahlreichen anderen Verbesserungen gleiche Lohnsätze und ein Schiedsgericht, bestehend aus zwölf Webern und sechs Fabrikanten und Kaufleuten, durchsetzen konnte. Zugleich gelang es den Repräsentanten dieses Vereins, durch eine weitgehende Demokratisierung der Satzung der alten Weberinnung in den Jahren 1849/50 teilweise deren Leitung zu übernehmen. Im Herbst 1848 wurde schließlich sogar auf Betreiben des Chemnitzer Vereins ein Bezirksverein gegründet, der bis zum Frühjahr 1849 sechzehn örtliche Vereine der führenden Weberstädte Westsachsens mit über 7.200 Hauswebern (!) umfaßte.⁶⁵ Die Gesellen der Webermeister bildeten zwar, z. B. in Chemnitz, einen eigenen Verein, der die Selbstverwaltung der Gesellenkrankenkassen durch die Gesellen einklagte und sich für „die Beseitigung der beengenden Gesetze von 1780 und 1810“ (!)⁶⁶ – damals wurden in Sachsen sukzessive die sogenannten Gesellenbruderschaften entrechtet und schließlich verboten – aussprach; in den wesentlichen Forderungen stimmten die Gesellen aber mit den Kleinmeistern des Bezirksvereins überein. Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war die große Mehrzahl der Meister und Gesellen – wie auch in den bergischen Exporthandwerken – gemeinsam einem Prozeß der „Proletarisierung“ unterworfen gewesen. Ihre Lebenslagen hatten sich zumindest angenähert.⁶⁷ An der Spitze des auch von den Gesellen unterstützten Programms des Bezirksvereins der Webermeister standen folgende Forderungen: 1. „Durch die Vereinigung eine Reform (kursiv v.Vf.) in den oft so hemmenden und veralteten Innungsgebräuchen vorzunehmen und jedem einzelnen Innungsgliede selbständige Beteiligung zu sichern.“ 2. „Hemmung des willkürlichen Handelns der Arbeitgeber den Arbeitnehmern  Vgl. die höchst informative Studie von Rudolph Strauss: Die Lage und die Bewegung der Chemnitzer Arbeiter in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1960, v. a. S. 135 ff.  Ebd., S. 161.  Gab es 1801 noch doppelt soviel selbständige Meister wie unselbständig gewordene „Lohnmeister und Meister ohne Arbeit“, so hatte sich in den 1830er Jahren das Verhältnis bereits umgekehrt. 1848 waren etwa 3/4 aller Webermeister in Chemnitz abhängige Lohnmeister, meist sogenannte Alleinmeister oder Meister mit nur einem Gesellen.Vgl. ebd., S. 15 ff., 354 ff. In Sachsen war die soziale Differenzierung aber anscheinend doch noch stärker ausgeprägt als im Bergischen Land, wo die Schicht relativ wohlhabender oder gar (nicht nur formal, sondern auch faktisch) selbständiger Weber-, Schmiede- oder Schleifermeister schon Ende des 18. Jahrhunderts nach Berichten von Zeitgenossen sehr klein geworden war.

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gegenüber. Durch Feststellung eines von beiden Teilen geschaffenen Lohnminimums, Errichtung von Schiedsgerichten zur unentgeldlichen Schlichtung entstandener Differenzen […].“ Darüber hinaus forderte man die Errichtung von Vorschußbanken, das Verbot von Webfabriken und die Beschränkung von Webmanufakturen auf 10 Webstühle. Alle „selbständigen“ Meister sollten nicht mehr als einen Lehrling ausbilden dürfen. Den unzünftigen Betrieb der Weberei im Vogtland und in der Lausitz wollte man baldigst abgeschafft sehen.⁶⁸ Die kontinuierliche Existenz von Innungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verweist darauf, daß in Sachsen die Geschichte der Zunft in den Exporthandwerken eine andere Verlaufsform genommen hatte, als etwa in den rheinpreußischen Gebieten. Es ist schon zuvor als eine Besonderheit der sächsischen Gewerbeentwicklung vermerkt worden, daß trotz des Ausgreifens der Exporthandwerke auf das „flache Land“ an einer zunftförmigen Organisation festgehalten wurde. Diese Zünfte, die ähnlich den bergischen quasi-gewerkschaftliche Schutzfunktionen übernahmen, wurden aber zum Ende jenes Jahrhunderts nicht ersatzlos aufgehoben, sondern durch die neuen sogenannten General-Innungsartikel von 1780 wieder auf ihre alte – durch die tendenzielle „Proletarisierung“ nun fast anachronistische – Rolle als korporatives Selbstverwaltungsorgan von (selbständigem) Handwerk und Handel zurechtgestutzt.⁶⁹ Die Innungs„reform“ sollte die selbständige Organisation der Gesellen zerstören, war aber vor allem gegen die Bestrebungen der faktisch schon lohnabhängigen Schicht der Kleinmeister und der Gesellen gerichtet, „durch heimliche Abreden und Verbindungen die Arbeit auf einen gewissen Preis zu setzen.“⁷⁰ Trotz der anachronistisch-repressiven Züge, die die sächsischen Innungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufwiesen, und die sich auch in der eindeutigen, staatlich geförderten Dominanz der Interessen der abnehmenden Zahl der selbständigen Webermeister und der korporativ integrierten Kaufleute zeigten, hatten sie weiterhin, auch für die abhängigen Lohnweber, nicht zu unterschätzende Schutzfunktionen. Im Gegensatz zu den bis 1845 schutzlos den krisenhaften ökonomischen Entwicklungen und Dequalifizierungsprozessen ausgesetzten Ex-

 Vgl. ebd., S. 151 u. 157. Die Lausitz hatte eine andere Gewerbeverfassung. Hier wurde die Leinen- und Baumwollweberei unzünftig betrieben. Im Vogtland war es nach mehreren „Reform“vorstößen der Regierung in den 1830/40er Jahren zur vermehrten Ausbreitung unzünftiger Baumwollweberei auf dem Lande gekommen. Vgl. Louis Bein: Die Industrie des sächsischen Vogtlandes. Leipzig 1884.  Ebd., S. 1 ff.  Zitat aus einem Paragraphen der General-Innungsartikel von 1780, nach Strauss: Chemnitzer Arbeiter (wie Anm. 65), S. 147.

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porthandwerken des Rheinlandes wachten die Innungen zumindest über die Einhaltung der Lehrzeit, der Meisterprüfungen sowie teilweise des Verbots der Frauenarbeit. Zudem blieben die Innungen für alle Notfälle des Lebens, bei Unglück, Krankheit oder Tod die zuständigen Hilfseinrichtungen, während es etwa den Webermeistern des Wuppertals erst 1830 erneut gelang, das Fürsorgewesen ihres Berufes auf privater Basis zu reorganisieren.⁷¹ Die regelmäßigen, vierteljährlichen Mitgliederversammlungen der sächsischen Innungen konnten vielleicht sogar den Rahmen für eine gemeinsame Interessenfindung der lohnabhängigen Weber bieten, wenn sie auch eigentlich der Identifikation mit der nicht mehr vorhandenen „Einheit des Gewerbes“ dienen sollten. Die durchaus nicht nur negativen Erfahrungen der lohnabhängigen Meister und Gesellen mit den Innungen dürften 1848 dazu geführt haben, daß man ihre „Reform“ und nicht ihre Abschaffung forderte. Als die sächsische Regierung den Bezirksverein der „arbeitnehmenden Weber“ im Sommer 1850 nebst allen örtlichen Zweigvereinen verbot⁷², waren die Weber notwendig wieder auf die Innungen verwiesen, deren fortschrittliche „Regulative“ des Jahres 1848 sie zu verteidigen suchten. Inwieweit die zahlreichen Innungen, nicht nur der sächsischen Baumwollund Tuchweberei, sondern auch der Strumpf- und Bandwirkerei⁷³, den lohnabhängigen Meistern und Gesellen in den 1850er Jahren zumindest rudimentäre Möglichkeiten der Interessenartikulation und Organisation boten, ist bisher nicht untersucht. Ein Indiz dafür wäre, daß noch 1861 die Glauchauer Weber – in ihrer Masse Lohnweber und wenige Jahre später die treueste Gefolgschaft August Bebels – eine Protestresolution gegen die Aufhebung der Innung und ihre rechtliche Gleichsetzung mit den Webern der unzünftigen ländlichen Hausindustrien der Lausitz und des Vogtlandes durch die neue Gewerbeordnung verabschiedeten.⁷⁴

 Vgl. Köllmann: Barmen (wie Anm. 62), S. 58.  Strauss: Chemnitzer Arbeiter (wie Anm. 65), S. 140 u. 152.  So existierten nach Schöne: Posamentierer (wie Anm. 38), S. 128, allein im Erzgebirge in den 1830er Jahren 22 Strumpfwirkerinnungen.  Vgl. Gerhard Demmering: Die Glauchau-Meeraner Textil-Industrie. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in der Textil-VeredlungsIndustrie. Leipzig 1928, S. 88 – 89: „Wir müssen einen Notschrei an das Ministerium ergehen lassen […] Bekanntlich wurde und wird seither und gegenwärtig die Weberei hier zünftig betrieben. […] Hieraus allenthalben dürfte zur Genüge hervorgehen, daß die hiesige Weberei niemals zu der sogenannten Hausindustrie gerechnet worden ist, wenn hierunter diejenigen Industrie verstanden werden muß, welche, wie z. B. die gewöhnliche Lausitzer Weberei, eine handwerksmäßige Erlernung und Geschicklichkeit nicht voraussetzt und mehr als Nebenarbeit, denn als besonderes Gewerbe betrieben wird.“

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4 Von den Innungen und Bruderschaften der Revolutionszeit zu den Gewerkschaftsgründungen der späten 1860er und frühen 1870er Jahre Die ausgedehnte „Tarifbewegung“ in den ehemals zünftig oder noch innungsmäßig organisierten Exporthandwerken der verdichteten Gewerbelandschaften Sachsens und des Bergischen Landes, für die es in den ehemals unzünftigen, ländlichen Heimgewerberegionen keine Entsprechung gab, läßt zweierlei Schlüsse zu: 1. Um sich auch nur ansatzweise wirkungsvoll entfalten zu können, mußte die frühe Arbeiterbewegung tief in Traditionen oder besser noch Organisationen handwerklichen Ursprungs verwurzelt sein. Ein „agrarischer“ Weg in die frühe deutsche Arbeiterbewegung kann auch für die verdichteten Gewerberegionen ausgeschlossen werden. Wie die landlosen Unterschichten Ostelbiens, die seit den 1870er Jahren von der rasch wachsenden Montanindustrie an Saar und Ruhr angezogen wurden, spielte auch die proto-industriell eingebundene Landarmut noch überwiegend agrarischer Bereiche westlich der Elbe für das Entstehen und die erste Ausbreitungsphase der Arbeiterbewegung keine Rolle. 2. Neben den – der gewerkschaftlichen Interessenvertretung eher hinderlichen – Handwerkstraditionen (Typ 1) gab es eine Traditionslinie quasi-gewerkschaftlicher, handwerklicher Organisierung, die sich nicht nur auf die Buchdrucker oder die „neuen“ Berufe des 18. Jahrhunderts (Typ 3) erstreckte, sondern auf mehrere zehntausend Meister und Gesellen des Textil- und Kleineisengewerbes.⁷⁵ Diese Traditionslinie hätte in der deutschen Arbeiterbewegung vielleicht noch tiefere Spuren hinterlassen, wenn sie sich bei geringerer staatlicher Unterdrückung freier

 Nach Schmoller gab es in Sachsen 1849 14.763 Strumpfwirkermeister und 18.189 Gehilfen, 3.191 Posamentiermeister mit etwa der gleichen Anzahl von Gehilfen sowie 42.246 Woll- und Baumwollwebermeister mit einer nicht genannten Anzahl von Gesellen.Vgl. Schmoller: Kleingewerbe (wie Anm. 28), S. 144, 601 und 608. Man kann davon ausgehen, daß die Masse dieser Handwerker in der zünftigen Tradition der Innungen stand und sich zumindest teilweise in quasi-gewerkschaftlichen Webervereinen o. ä.während der Jahre 1848– 1850 organisiert hatte. Für das Bergische Land sind die Zahlen nicht so genau, da sich statistische Angaben zumeist auf den gesamten Regierungsbezirk Düsseldorf beziehen. Man kann für die Kleineisengewerbe von Remscheid und Solingen um die Mitte des 19. Jahrhunderts von ca. 11.000 Handwerkern ausgehen. Davon stand eine deutliche Mehrheit noch in der Traditionslinie der Zünfte, deren feste Lohnsätze eine lebendige Erinnerung waren, und deren Regelung teilweise als „ungeschriebene Gesetze des Berufes“ weiterlebten. Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), v. a. S. 65 ff., 81 ff., 94 ff. Darüber hinaus gab es noch einmal ca. 10.000 Web- und Wirkstühle für Baumwolle, Bänder, Seide,Wolle usw. in den Städten des Bergischen Landes und ihrem weiteren Einzugsbereich. Bei den Webern dürfte die Erinnerung an die Zunft gebrochener, aber – wie die Ereignisse der Revolutionszeit zeigen – nicht ausgelöscht gewesen sein. Vermutlich gab es noch über die beiden beschriebenen Regionen hinaus Städte und Gewerbedistrikte (etwa das Wirkerzentrum Apolda in Thüringen und diverse Tuchmacherstädte), für die ebenfalls die exemplifizierte Traditionslinie galt.

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hätte entfalten können⁷⁶, wenn – etwa 1848 – den anfangs stark ausgeprägten nur„trade-unionistischen“ Zügen ein größerer gesellschaftlicher Verteilungsspielraum entsprochen hätte und wenn die ökonomisch-technische Entwicklung auf dem Sektor der Textilweberei zwischen 1850 und den 1870er Jahren den dominanten sozialen Trägerschichten dieser Traditionslinie nicht die Basis für eine gewerkschaftliche Organisierung, wie sie sich in der Revolutionszeit andeutete, entzogen hätte. Doch auch ohne diese kontrafaktischen Argumente ist die historische Relevanz der ehemals zünftigen Exporthandwerke für die Entwicklung der frühen deutschen Arbeiterbewegung erheblich. Immerhin fanden die Suche jener Handwerker nach tradierten Formen des sozialen Ausgleichs und das Scheitern dieser Suche an der rauhen kapitalistischen Wirklichkeit eines nachholend industrialisierenden Landes in den auch um die Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch „fortgeschrittensten Fabrikdistrikten“ statt. In diesen Distrikten, in Sachsen und im Rheinland, hatten sich zwei 1848 schon bewußt politisch agierende Kerne eines deutschen Wirtschaftsbürgertums (einer „Bourgeoisie“) herausgebildet. Die Verlaufsform des sozialen Konflikts mit dieser regionalen Bourgeoisie beeinflußte den Ablauf der Revolution erheblich und bildete kurzfristige – noch während der Revolution wirkende –, wie auch langfristige Erfahrungsmuster auf beiden Seiten aus. So ist in der bisherigen Revolutionshistoriographie kaum beachtet worden, daß die anfänglichen Zugeständnisse (feste Lohnsätze und gewerkschaftliche Organisationen) und die hinhaltende Taktik des Wirtschaftsbürgertums – gepaart mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im großen Stil – die rheinischen und sächsischen Gewerbedistrikte in den entscheidenden Monaten des Jahres 1848 befriedet haben. Hier brachen die Aufstände erst im Mai 1849 (Elberfeld/Dresden) aus, als das Scheitern eines sozialen Ausgleichs offensichtlich geworden war und vom Wirtschaftsbürgertum bewußt nicht mehr angestrebt wurde, zu einem Zeitpunkt also, als die revolutionäre Dynamik der kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung schon weitgehend versandet war. Die scharfe „Antibürgerlichkeit“ der deutschen Arbeiterbewegung kann unter anderem auf die besonderen Erfahrungen und Enttäuschungen in jenen Gewerberegionen zurückgeführt werden. Das waren Enttäuschungen, die vor allem im Bergischen Land zu einer frühen Akzeptanz des dezidiert anti-liberalen Lassalleanismus beitrugen.⁷⁷

 In England waren die frühen gewerkschaftsähnlichen Vereinigungen „nur“ zwischen 1794 und 1824 verboten, ihre strafrechtliche Verfolgung war eher milde.  Vgl. Dieter Dowe: Deutschland: Das Rheinland und Württemberg im Vergleich. In: Jürgen Kocka (Hrsg.): Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Göttingen 1983, S. 77– 105, v. a. S. 99; und Rudolf Boch: Die Entstehungsbedingungen der deutschen Arbeiterbewegung: Das

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Doch zurück zur skizzierten besonderen Traditionslinie von der Zunft zur Gewerkschaft: Die Suche der bergischen und sächsischen Bruderschaften, Innungen und Webervereine nach tradierten Formen sozialen Ausgleichs steht genauso wenig im Widerspruch zu ihrer Charakterisierung als gewerkschaftliche Organisationen wie ihre regionale oder nur lokale Begrenztheit oder ihre „Exklusivität“ gegenüber Angelerntem, Ungelernten oder Frauen. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß Ausgrenzung, oder auch eine eingeschränkte, nur lokale oder regionale Funktionsfähigkeit aufgrund noch überschaubarer Arbeitsmärkte, überaus typische Merkmale der deutschen Gewerkschaftsbewegung bis in die 1890er Jahre blieben. Die Abkehr von der Idee der Gewerkschaften als „Vorschule des Sozialismus“, die Hinwendung zum Tarifvertrag, wurde dann andererseits zum typischen Merkmal der Gewerkschaften des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik; ebenso wie die Suche nach einem Klassenkompromiß, der nicht mehr nur, wie im Bergischen Land oder in Sachsen, auf Organisationselementen beruhen konnte, die in der Geschichte und Struktur der Gewerbe selber enthalten waren, sondern notwendig gesamtgesellschaftliche Ausmaße annehmen und auf einem politischen Kompromiß, vermittelt durch Staat und Großverbände, basieren mußte.⁷⁸ Als die Bruderschaften und Innungen langsam erkannten, daß es um die Mitte des 19. Jahrhunderts keinen Platz für ihre tradierten Vorstellungen von Kompromiß gab – und wie hätten sie es wissen können, wenn sie es nicht ausprobiert hätten? –, erwiesen sie sich durchaus als konfliktfähig und griffen zur Waffe des Streiks. Auch der Konflikt war Teil der Geschichte dieser Handwerke und wurde nun mehr und mehr zum bestimmenden Element ihres Verhältnisses zur Kapitalseite. Schon im Sommer 1848 soll die Remscheider Feilenhauer-Innung versucht haben, einen festen Lohnsatz, der ihr von den Verleger-Kaufleuten immer noch vorenthalten wurde, durch Arbeitskampf zu ertrotzen.⁷⁹ Im Winter 1848 begannen die Solinger Schwertschmiede und -schleifer diejenigen Verleger zu bestreiken, die sich nicht mehr an die im Frühjahr vereinbarten Löhne hielten.⁸⁰ Noch im November 1850 streikten 2.000 Lenneper Wollweber und Tuchscherer im Nachklang dieser Arbeitskämpfe, nachdem sich ihre Hoffnungen in die Fabri-

Bergische Land und der ADAV. In: Arno Herzig/Günter Trautmann (Hrsg.): Entstehung und Wandel der deutschen Arbeiterbewegung. Hamburg 1989, S. 103 – 119; jetzt in diesem Band, S. 3 – 17.  Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 199 ff. und 295 f.  Wigger: Gewerkschaften (wie Anm. 61), S. 13. Vgl. auch „Volksblatt für Remscheid und Umgegend“, Nr. 21/28/32/37, 1848 im Stadtarchiv Remscheid.  Kiekenap: Solingen (wie Anm. 61), S. 36 ff.

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kanten und schließlich auch in die neu eingerichteten, staatlich initiierten und kontrollierten sogenannten Gewerberäte zerschlagen hatten.⁸¹ Im Bergischen Land kam es – einmal abgesehen von den gut dokumentierten Arbeitskämpfen der Elberfelder Färbergesellen-Innung im Jahr 1857– erst wieder in den Jahren 1868/69, d. h. kurz vor oder unmittelbar nach der gesetzlichen Aufhebung des Koalitionsverbots, zu einer Welle von Streiks und Organisationsbestrebungen. Im Mai und Juni 1868 legten etwa die Barmer Riemendreher und Bandwirker fast geschlossen die Arbeit nieder, nachdem bereits im Jahr 1865 geführte Lohnverhandlungen gescheitert waren.⁸² Inwieweit die Innungen der beiden Berufe daran beteiligt waren, ist unbekannt. In Remscheid gründeten sich 1869 neben der Feilenhauer-Innung besondere Vereine der Feilenschmiede, der Zuschläger und der Feilenschleifer. Sie bildeten aber mit der Innung einen gemeinsamen Vorstand, an dessen Spitze der alte Obermeister der Feilenhauer-Innung trat.⁸³ Ein kurz darauf geführter Streik konnte – im Gegensatz zu den Bandwirkern und Riemendrehern ein Jahr zuvor – erfolgreich mit der Durchsetzung fester Lohnsätze abgeschlossen werden.⁸⁴ Auf dem Höhepunkt der „Gründerzeit“-Konjunktur konnte die Innung dann eine weitere Erhöhung der Minimalstücklöhne durchsetzen. Der erbittert geführte Streik dauerte von Januar bis Mai 1873 und umfaßte über 1.000 Feilenhauer. Auch im Solinger Schneidwarengewerbe gab es nach der Aufhebung des Koalitionsverbots sofortige Bemühungen um den Aufbau gewerkschaftlicher Organisationen. Die meisten Solinger Schneidwarenhandwerke konnten jedoch nicht an bestehende Innungen anknüpfen, da ihre Berufe 1845 zumeist als „nicht innungsfähig“ eingestuft⁸⁵ und ihre Bruderschaften bis zum Jahr 1850 ersatzlos aufgehoben worden waren. Es dauerte daher – nochmals verzögert durch den Krieg von 1870/71 – bis zum Sommer 1871, bis sich sogenannte Fachvereine für die einzelnen Berufe konstituieren konnten. Die Statuten dieser Fachvereine knüpften aber direkt an die vor über zwanzig Jahren verbotenen Bruderschaften an. Vor allem die

 Vgl. Dieter Dowe: Legale Interessensvertretung und Streik. Der Arbeitskampf in den Tuchfabriken des Kreises Lennep (Bergisches Land) 1850. In: Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann (Hrsg.): Streik. München 1981, S. 31– 51. Die Arbeitssituation der Lenneper Tuchmacher hatte sich im Vergleich zur Zunftzeit durch die Zentralisierung in Fabriken bzw. Manufakturen am stärksten verändert. Die Zahl der Handwebstühle in Fabrik und Verlag übertraf die der mechanischen Webstühle 1854 aber immer noch um das Fünffache. Vgl. Boch/Krause: Lesebuch (wie Anm. 41), S. 43.  Zur Geschichte der Färbergesellen-Innung vgl. Wolfgang Köllmann (Hrsg.): Wuppertaler Färbergesellen-Streiks 1848 – 1857. Wiesbaden 1962; zu den Arbeitskämpfen der späten 1860er Jahre: Ders.: Barmen (wie Anm. 62), S. 184.  Vgl. Erwin Stursberg: Remscheid und seine Gemeinden. Remscheid 1969, S. 203.  Vgl. Franz Ziegler: Wesen und Wert kleinindustrieller Arbeit. Berlin 1901, S. 140.  Nur die Schneidwarenschmiede waren als Handwerker, alle anderen Berufe aber als „Fabrikarbeiter“ eingestuft worden.

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Fachvereine der Schneidwarenschleifer konnten im Sommer 1872 durch ein ausgeklügeltes System von Streiks eine solche Kampfkraft entfalten, daß ihnen die (Wieder)-Einführung fester Lohnsätze und eine durchschnittliche Lohnerhöhung um 25 bis 40 Prozent gelang. Die „Preisverzeichnisse“ genannten, gedruckten Tarifverträge zwischen den Schleifern und den Verleger-Fabrikanten ähnelten in frappanter Weise der letzten zünftigen „Messerlohnsatzordnung“ von 1789, die bis zur Aufhebung der Solinger Zünfte im Jahr 1811 gegolten hatte. 1877 entstand in Solingen sogar erneut ein paritätisch besetztes Schiedsgericht, die „Vergleichskammer“⁸⁶,welche wie ihre Vorläufer der Zunftzeit über die einheitliche Entlohnung und das Qualitätsniveau der Schneidwaren zu wachen hatte. Die Fachvereine der Solinger Schleifer, ihre Tarifverträge und die Vergleichskammer hatten bis über den Ersten Weltkrieg hinaus Bestand. Ihre Fachvereine überstanden die schlechte Konjunktur der späten 1870er Jahre, wie auch die Zeit der „Sozialistengesetze“. Sie zählten mithin (neben den Buchdruckern) zu den kontinuierlichsten und erfolgreichsten gewerkschaftlichen Organisation der deutschen Arbeiterbewegung des Kaiserreichs. Deutlich schwieriger gestaltete sich hingegen die gewerkschaftliche Organisation der Schneidwarenschmiede, die zwar bereits 1869 ihre Innungen in Fachvereine umgewandelt hatten, deren Streikfähigkeit in den 1870er Jahren aber durch eine rasante Veränderung der Struktur und des Qualifikationsniveaus ihres Berufes litt. Durch die Ausbreitung mechanischer Dampfschmiedewerkstätten mußten mehr und mehr Handschmiede ihre eigenen Werkstätten aufgeben und wurden zu Fabrikarbeitern. Zudem verloren sie durch technische Neuerungen ihr einstmals hohes handwerkliches Qualifikationsniveau und wurden durch angelernte Streikbrecher aus anderen metallverarbeitenden Distrikten ersetzbar.⁸⁷ Auch bei den Textilwebern des Bergischen Landes erwiesen sich die Gründungen von gewerkschaftlichen Fachvereinen und das Führen von Arbeitskämpfen als bedeutend schwieriger als etwa bei den Solinger Schneidwarenschleifern, deren Arbeitsprozesse und Arbeitssituation seit dem 18. Jahrhundert fast gleich geblieben waren und deren handwerkliche Qualifikationen traditionell höher bewertet wurden. Die krisenhafte Entwicklung des Wuppertaler Webervereins und die sogar in der Hochkonjunktur 1872/73 nur beschränkte Durchsetzungsfähigkeit in Arbeitskämpfen läßt darauf schließen, daß das Vordringen der mechanischen Baumwollweberei⁸⁸, wie auch die allgemein beklagte „Übersetzung“ des Berufes

 Vgl. Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 5), S. 44 ff. und 79 ff.  Ebd., S. 114 ff.  Boch/Krause: Lesebuch (wie Anm. 40), S. 37 ff.

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und das Vordringen der Frauenarbeit, die „bargaining-power“ der Handweber untergraben hatten. In Sachsen hingegen – dort herrschte immerhin die Handweberei bei Wolle und Baumwolle bis in die Mitte der 1870er Jahre eindeutig vor⁸⁹ – gelang 1869 noch einmal eine gewerkschaftliche Organisierung, die an die Organisationserfolge des „Bezirksvereins arbeitnehmender Weber“ der Jahre 1848 bis 1850 anzuknüpfen schien. Die unter wesentlicher Beteiligung von August Bebel und des Tuchmachermeisters Julius Motteler gegründete „Internationale Gewerkgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter“ war trotz ihres klingenden Namens wesentlich eine regionale Gewerkschaft der Handweber, die vor allem die bereits in den Fabriken arbeitenden Tuchscherer und verwandte Berufe einzubeziehen suchte.⁹⁰ Man wollte aber in bewußter Absetzung von traditionellen Vorstellungen auch Frauen und Hilfsarbeiter organisieren. Doch auch diese von der SDAP initiierten Neuerungen änderten nichts an der abnehmenden Durchsetzungsfähigkeit der Kerngruppe dieser Gewerkschaft: der Handweber. Ein im Frühjahr 1871 aufgrund zunehmender Verteuerung der Lebenshaltungskosten geführter Lohnstreik der Weber des sächsischen Textilzentrums Meerane mußte nach einigen Wochen ergebnislos abgebrochen werden – trotz der nationalen Unterstützungsaufrufe ihres Reichstagsabgeordneten Bebel. Auch ein im Mai 1871 nach Glauchau einberufener „Deutscher Webertag“, der die Gründung einer reichsweiten Gewerkschaft – an sie wurden große Hoffnungen geknüpft – einleiten sollte, war nicht dazu in der Lage, die strukturelle gewerkschaftliche Schwäche der Weberhandwerke zu konterkarieren: Zunehmende Einführung von Maschinenwebstühlen bei gleichzeitig weiterer Ausdehnung der Zahl der auf dem Arbeitsmarkt konkurrierenden Handweber⁹¹ verschob die Machtverhältnisse noch weiter zugunsten der Arbeitgeberseite. Die Annexion Elsaß-Lothringens mit seiner bereits weitgehend mechanisierten Textilindustrie hatte zudem den Konkurrenzund Modernisierungsdruck auf dem nationalen Markt sehr verstärkt. Selbst ein nationaler Zusammenschluß konnte diese strukturelle „Nicht-Gewerkschaftsfähigkeit“ der noch nach Zehntausenden zählenden Weber in Deutschland nicht ausgleichen. Es kam schließlich nur zu einer losen Verbindung, „Weberbund“ genannt.⁹² Dieser versuchte, die immer noch sehr unterschiedlichen Bedingungen der lokalen Arbeitsmärkte zu berücksichtigen und litt anscheinend unter politi-

 Vgl. z. B. August Bebel: Aus meinem Leben. Reprint Bonn 1986, S. 345 ff.  Vgl. Erich Schaarschmidt: Geschichte der Crimmitschauer Arbeiterbewegung. Dresden 1934, S. 42 ff.; sowie Renzsch: Handwerker (wie Anm. 11), S. 128 f.  Ebd., S. 124.  Vgl. Schaarschmidt: Geschichte (wie Anm. 90), S. 46; Albrecht: Fachvereine (wie Anm. 32), S. 169 ff.

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schen Differenzen mit den lassalleanisch orientierten Wuppertaler Webervereinen.⁹³ Der „Weberbund“ blieb letztlich auf die sächsischen Weberzentren beschränkt. Er überlebte die folgende Wirtschaftskrise nicht und ging 1875 in der „Internationalen Gewerksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter“ auf. Als diese Gewerkschaft 1878 verboten wurde, war sie – trotz weit „modernerer“ Organisationsprinzipien und starker Bemühungen, die Maschinenweber und Maschinenspinner zu organisieren – nur noch ein Torso.⁹⁴ Die bergischen und sächsischen Weber konnten zwar bei ihren Gewerkschaftsgründungen an handwerkliche Traditionen und Organisationen anknüpfen, die ökonomische Entwicklung hatte ihnen aber die Basis für eine erfolgreiche, organisierte Interessenvertretung entzogen. Im Gegensatz zu den Handwerken des Kleineisengewerbes oder des Baugewerbes, für die „das lange 18. Jahrhundert“ teilweise noch bis in das 20. Jahrhundert hinein anhielt, waren sie der Übermacht des Kapitals erlegen. Diese im Textilsektor seit den 1880er Jahren nahezu hegemoniale Macht manifestierte sich spätestens in dem berühmt gewordenen Crimmitschauer Streik von 1903/04. Trotz einer reichsweiten gewerkschaftlichen Organisierung im „Deutschen Textilarbeiterverband“, trotz unermüdlichen Ausharrens und einer breiten Unterstützung in der deutschen Arbeiterbewegung, erlitten die 8.000 Streikenden eine vernichtende Niederlage.⁹⁵

 Ebd., S. 169. Der Vorsitzende des Wuppertaler Webervereins war der bekannte Elberfeldcr Lassalleaner Harm.  Vgl. Schaarschmidt: Geschichte (wie Anm. 90), S. 48. Renzsch: Handwerker (wie Anm. 32), zieht folgendes Resümee: „Obwohl Fabrikarbeiter- und arbeiterinnen sehr früh gewerkschaftlich organisiert waren, war vor 1878 nur ein kleiner Teil der Fabrikarbeiterschaft der Manufakturarbeitergewerkschaft beigetreten. Für viele Textilarbeiter, insbesondere die, die nicht mit zünftlerischen Traditionen vertraut waren, blieb der Wert einer Organisationsbildung zweifelhaft […] Die trotzdem relativ große Stabilität der Gewerksgenossenschaft in den sächsischen Textildistrikten war hingegen eine Folge der durch die Gewerkschaft organisierten Unterstützungskassen.“ Die Gewerkschaft trat hier an die Stelle der Innungen, die infolge der Gewerbefreiheit „in ihrer auf das Volkswohl gerichteten gedeihlichen Tätigkeit vollständig beseitigt worden waren.“ Ebd., S. 132 f.  Vgl. Schaarschmidt: Geschichte (wie Anm. 90), S. 123 ff. Nur die textilen Spezialberufe des Wuppertals, die Bandwirker, aber vor allem die Riemendreher konnten – im Windschatten großindustrieller Veränderungsprozesse – ihr in den frühen 1870er Jahren erfolgreich durchgesetztes Tarifsystem bis zum Ersten Weltkrieg verteidigen und verbessern. Sie behielten ihre Organisation in regionalen Fachvereinen bei. Vgl. Johann Victor Bredt: Die Lohnindustrie von Barmen. Berlin 1905, S. 139 ff.

Das „rote Königreich“. Eine etwas andere Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung Sachsen gilt als das „Geburtsland“ der deutschen Arbeiterbewegung. Hier lag der zeitlich früheste Schwerpunkt der Sozialdemokratie. Wichtige Namen von Protagonisten einer eigenständigen Arbeiterpartei sind mit dem Land Sachsen und vor allem der Stadt Leipzig eng verbunden. Spätestens seit dem großen Wahlerfolg der sächsischen SPD bei der Reichstagswahl 1903 sprach man sogar vom „roten Königreich“. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Vorgeschichte dieses „roten Königreichs“. In Sachsen lassen sich nicht nur die Anfänge und Erfolge, sondern auch die Wandlungsprozesse der deutschen Arbeiterbewegung, nicht zuletzt die Veränderungen von Sozialismusvorstellungen und Revolutionserwartung im Verlauf des „langen 19. Jahrhunderts“ (bis 1914), besonders gut illustrieren. Vor diesem Hintergrund kann dann auch das „rote Königreich“ historisch besser eingeordnet werden. Beginnen wir mit der Revolution von 1848/49, in der die Bewegung für soziale Demokratie entstand. Die Märzrevolution von 1848 schuf mit der Durchsetzung von Presse-,Vereinsund Versammlungsfreiheit erstmals die Bedingungen für eine organisierte Arbeiterbewegung. Schon im Abflauen der Revolutionsdynamik fand dann im Spätsommer 1848 in Berlin der Gründungskongreß der „Allgemeinen deutschen Arbeiterverbrüderung“ (ADAV) statt. Geleitet wurde diese föderative Organisation von Arbeitervereinen jedoch von einem Zentralkomitee mit Sitz in Leipzig, das aus dem 24-jährigen Schriftsetzer Stephan Born (1824– 1898), dem Schneidergesellen Georg Kick und dem 26-jährigen Landvermesser Franz Schwenniger bestand. Die entstehende Arbeiterbewegung war auch eine Bewegung vergleichsweise junger Männer in einer Gesellschaft mit schnell wachsender Bevölkerung und einem hohen und wachsenden Anteil jüngerer Menschen an der Gesamtbevölkerung. Es waren nicht die „Paupers“, die „Verdammten dieser Erde“, die sich zu organisieren begannen, sondern zumeist lohnarbeitende Handwerker, die sehr wohl etwas zu verlieren hatten, aber auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens mehr wollten. Zu den gemeinsamen Zielen der in der „Arbeiterverbrüderung“ zusammengeschlossenen Vereine gehörten: ein auf allgemeinem gleichen Wahlrecht aufbauender parlamentarisch-demokratischer Staat mit Koalitionsfreiheit, die Errichtung von Produktions- und Konsumgenossenschaften, ein allgemein zugängliches Schulwesen, Wanderunterützungs-, Kranken- und Sterbekassen. DOI 10.1515/9783110534672-003

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Einen entscheidenden Einfluß auf den Bewußtwerdungsprozeß der Handwerker-Arbeiter und Heimarbeiter – Fabrikarbeiter gab es noch kaum – übte die in Leipzig herausgegebene Zeitschrift „Verbrüderung“ aus. Vor allem die von Born verfaßten Aufsätze arbeiteten in einer verständlichen Sprache den in den in vielen Gewerbezweigen zunehmend erfahrenen Gegensatz zwischen Kapital, v. a. Handelskapital und Arbeit theoretisch auf. Kurz nach dem Scheitern der Revolution waren der „Arbeiterverbrüderung“ etwa 230 Arbeitervereine und Arbeiterkomitees mit rund 18.000 bis 20.000 Mitgliedern angeschlossen. Das Genossenschaftsprogramm der „Arbeiterverbrüderung“ sah ein sich ausbreitendes System von Konsum- und Produktivgenossenschaften vor. In den Werkstätten sollte das „Untertanenverhältnis zur Klasse der Kapitalisten“ aufgelöst werden (Verbrüderung 3.11.1848/Born). Die neue Produktionsweise stellte man sich also als Marktwirtschaft konkurrierender Assoziationen vor, mithin als „Volksindustrie von unten“. Durch die Produktivassoziationen hoffte man zu einer kollektiven Selbständigkeit zu kommen. Solche Arbeiter, die noch nicht in Produktivgenossenschaften unterkommen konnten, sollten durch gewerkschaftsähnliche Vereinigungen eine Verbesserung ihrer materiellen Lage erreichen. So revolutionär im Sinne einer grundlegenden Aufhebung des Lohnverhältnisses die Ziele der Arbeiterverbrüderung waren, so wenig revolutionär im Sinne eines gewaltsamen Vorgehens war im Grunde ihre Strategie zur Durchsetzung des Genossenschaftsprogramms. Als Partei verstand man sich nicht, wohl aber als Teil der demokratischen Bewegung. Große Hoffnungen setzten die Mitglieder daher auf den demokratischen Volksstaat, den man durch die Revolution auf gutem Weg sah. 1848 forderte etwa ein „Sächsischer Arbeiterkongreß“ in einer Petition 4 Millionen Taler für Genossenschaftsgründungen von der damals zeitweilig linksliberalen Dresdener Regierung.¹ Die „Arbeiterverbrüderung“ wurde Anfang der 1850er Jahre verboten. Es dauerte aber nur 10 Jahre, bis sich eine neue Organisation der Arbeiter konstituierte. Entscheidend wurde dabei das Engagement eines Mannes, Ferdinand  Vgl. Christiane Eisenberg: Frühe Arbeiterbewegung und Genossenschaften. Bonn 1985, S. 25. Weitergehend zur „Arbeiterverbrüderung“ Frolinde Balser: Sozial-Demokratie 1848/9 bis 1863. Die erste deutsche Arbeiterorganisation „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung“ nach der Revolution. 2. Bde., 2. Aufl. Stuttgart 1965; Horst Schlechte (Hrsg.): Die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung 1848 – 1850. Dokumente des Zentralkomitees für die deutschen Arbeiter in Leipzig. Weimar 1979; Rüdiger Hachtmann: Revolutionärer Pragmatismus – Das Programm der Arbeiterverbrüderung vom Spätsommer 1848. In: Anja Kruke/Maik Woyke (Hrsg.): Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung 1848 – 1863 – 2013. Bonn 2012, S. 42– 47; unter Betonung der Kontinuität von Programmatik und sozialer Basis zur Arbeiterbewegung der 1860/70er Jahre Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Bonn 2000, v. a. S. 29 – 37, 204– 212.

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Lassalle. 1861 wurden erneut die Leipziger Handwerker-Arbeiter aktiv. Im August des Jahres 1862 wurde auf einer Versammlung in Leipzig beschlossen, einen deutschen Arbeiterkongreß einzuberufen. Zu diesem Zweck wurde ein Vorbereitungskomitee gebildet. Lassalle (1825 – 1864) hatte sich während der 1848er Revolution auf Seiten der radikal-demokratischen Kräfte im Rheinland engagiert. Er hielt später Verbindungen zu den Rheinländern Marx und Engels aufrecht. Einer Anfrage des Leipziger Arbeiterkomitees begegnete Lassalle mit seinem berühmten „Offenen Antwortschreiben“, in dem er die Arbeiter aufforderte, sich als eigenständige politische Partei zu formieren. Zudem forderte Lassalle Produktivassoziationen mit Staatshilfe – im Gegensatz zum linksliberalen Befürworter von Genossenschaften Hermann Schulze-Delitzsch (1808 – 1883). Dabei definierte er aufgrund einer Analyse der sozial überaus ungerecht strukturierten preußischen Steuereinnahmen den Staat als „der ärmeren Klasse große Assoziation“.² Dass der Staat auch in Wirklichkeit „der ärmeren Klasse große Assoziation“ werde, würde gewährleistet sein durch das von Lassalle ebenfalls vehement geforderte Allgemeine Wahlrecht. Der daraufhin gegründete „Allgemeine deutsche Arbeiterverein“ (ADAV) erreichte jedoch bei weitem nicht jene Größe, die Lassalle vorgeschwebt hatte. Bei seinem frühen Tod im August 1864 hatte er nicht mehr als 4.600 Mitglieder, die zudem kaum in Sachsen, sondern im Wesentlichen in Nordund Westdeutschland beheimatet waren, fast die Hälfte davon im Bergischen Land, einer in Vielem dem damaligen Südwestsachsen vergleichbaren traditionsreichen Gewerbelandschaft um die heutigen Städte Wuppertal, Solingen und Remscheid.³ Im Juni 1863 wurde in Reaktion auf den ADAV in Frankfurt der „Vereinstag Deutscher Arbeitervereine“ (VDAV) gegründet. Dieser Zusammenschluß repräsentierte jene südwestdeutschen und v. a. sächsischen Handwerker-Arbeiter in

 Zit. nach Ferdinand Lassalle: Ausgewählte Reden und Schriften. Berlin 1991, S. 241 (Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig, 1. 2.1863); vgl. auch Welskopp: Banner der Brüderlichkeit (wie Anm. 1), S. 36 f., 534 ff.; Helga Grebing: Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914. 3. Aufl. München 1993, S. 58 – 62.  Vgl. Rudolf Boch: Die Entstehungsbedingungen der deutschen Arbeiterbewegung: Das Bergische Land und der ADAV. In: Arno Herzig/Günter Trautmann (Hrsg.): Entstehung und Wandel der deutschen Arbeiterbewegung, Hamburg 1989, S. 103 – 119, hier S. 108; jetzt in diesem Band, S. 3 – 17. Zu dem, dem Bergischen Land ähnlichen Industrialisierungsprozess in Sachsen, mit viele Jahrzehnte noch vorherrschenden protoindustriell-heimgewerblichen Strukturen und deren Symbiose mit den entstehenden Fabriken Rainer Karlsch/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig 2006, S. 18 – 34, 73 – 77, 82– 85, 102– 106; Michael Schäfer: Eine andere Industrialisierung. Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe 1790 – 1890. Stuttgart 2016.

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Arbeiterbildungsvereinen, die programmatisch zunächst noch weitgehend ungebrochen an den Vorstellungen der radikalen bürgerlichen Linken orientiert blieben. Doch bald traten Spannungen auf, da im liberalen Lager eine politische Gleichberechtigung mit Blick auf die ökonomisch abhängige Stellung der Arbeiter schlichtweg abgelehnt wurde. So setzte auch im VDAV eine Entwicklung ein, die schließlich zur politischen, organisatorischen und programmatischen Verselbständigung führte. Daran hatten der junge Drechslermeister und Wahlsachse August Bebel (1840 – 1913), der sich 1865 unter dem Eindruck des Leipziger Buchdruckerstreiks von den Liberalen abzulösen begann, und der sächsische Alt1848er Wilhelm Liebknecht (1826 – 1900) hohen Anteil. Bebel und Liebknecht gingen aber vorsichtig vor. Sie hielten einerseits an dem Konzept der Kooperation mit den bürgerlichen Demokraten fest und gründeten im August 1866 nach dem Sieg Preußens über Österreich die „Sächsische Volkspartei“; andererseits trat Bebel der von Marx stark beeinflußten „Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (IAA) in London bei und übernahm 1867 das Präsidium des VDAV. Als sich aber nach 1866 herausstellte, daß die linksbürgerliche Emanzipationsbewegung erfolglos blieb, entschlossen sich Bebel und Liebknecht – in Erwartung der Chancen, die ein relativ demokratisches Wahlrecht zum Parlament des neuen Norddeutschen Bundes versprach – zur Gründung einer eigenen Arbeiterpartei, der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“, die im August 1869 im thüringischen Eisenach erfolgte. So existierten seit 1869 zwei deutsche sozialdemokratische Arbeiterparteien, die sich in ihren programmatischen Positionen kaum voneinander unterschieden. Auch die „Eisenacher“ vertraten Agitationslosungen, die als „Lassalleanismus“ bezeichnet werden konnten, d. h. Sozialismus als Kombination von Produktionsgenossenschaften und Demokratie. Zu einer Marx-Rezeption kam es allenfalls in Ansätzen. Beide Parteien hatten zusammen ca. 30.000 bis 40.000 Mitglieder und unterschiedliche Hochburgen. Wenn auch die Reichstagswahlen von 1871 und 1874 eher klägliche Ergebnisse zeitigten und deutlich machten, dass beide Parteien nur von einer Minderheit der Arbeiter gewählt wurden, so gilt es doch zu beachten, dass es den „Eisenachern“ gelungen war, in Sachsen 1874 mit im Durchschnitt 35,8 % von allen Parteien den höchsten Anteil an Wählerstimmen zu verbuchen, und dass sie in Chemnitz 57,01 % und im Wahlkreis Glauchau-Meerane sogar über 60 % der Stimmen erhielten. Dieser sozial recht homogene, von der Heimweberei geprägte Wahlkreis war der von August Bebel. Bebel siegte in der Hauptwahl mit 80,4 % der Stimmen über seinen nationalliberalen Gegenkandidaten; ein Prozentsatz, der ihm den Ruf des „Arbeiterkönigs“ einbrachte.⁴

 Vgl. Karsten Rudolph: Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik (1871–

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Dennoch unterschieden sich beide Parteien in einem Punkt voneinander, und zwar in ihrer Reaktion auf die preußische Lösung der „nationalen Frage“ von oben durch die siegreichen Kriege gegen Österreich und das verbündete Sachsen sowie Frankreich. Die „Lassalleaner“ stellten sich bereits nach 1866 relativ schnell auf die geschaffenen Tatsachen ein; die Sachsen lehnten dagegen den preußischen Weg zur nationalen Einheit als Gegensatz zu ihrer Forderung nach einem „freien Volksstaat“ ab und werteten das Ergebnis der Reichsgründung zu Recht als (Zitat Liebknecht) „eine fürstliche Versicherungsanstalt gegen die Demokratie“.⁵ Die Geburtsstunde des Deutschen Kaiserreichs kleindeutscher Prägung 1871 war der Beginn scharfer Verfolgung beider Arbeiterparteien. Nicht zuletzt weil die „Pariser Kommune“ große Resonanz in der Arbeiterbewegung fand – auch bei den „Lassalleanern“. Bebel sprach im Reichstag im Mai 1871 mit Blick auf die Ereignisse in Paris von einem „Vorpostengefecht“, was zu einer wüsten Kampagne gegen die sozialistischen Parteien führte.⁶ Diese verschärfte sich nach dem sog. Gründerkrach von 1873 (eine Börsen- und Bankenkrise) und der darauf folgenden Periode wirtschaftlicher Depression. Die Basis beider Parteien drängte nun auf eine organisatorische Einigung. Ende Mai 1875 war es dann soweit: Die beiden Fraktionen der Arbeiterbewegung schlossen sich in Gotha zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ zusammen. Diese verlagerte ihre Schwerpunkte auch in die Großstädte. Das wurde bei den Reichstagswahlen vom Januar 1877 und Juli 1878 deutlich, als die Sozialdemokratie zwar nur 9,1 % bzw. 7,6 % der Stimmen erhielt, aber immerhin zur viertstärksten Partei aufstieg. Was jedoch das Eindrucksvollste war: Sie erhielt nun in der Hauptstadt Berlin fast 40 % – im gewerbereichen Sachsen im Durchschnitt 38 %.⁷ Aus heutiger Sicht waren die sozialdemokratischen Parteigründungen nicht nur der Beginn von etwas Neuem, sondern auch Höhepunkt der ersten, der handwerklichen Arbeiterbewegung und Abschluß der 1848er-Bewegung, wie auch

1923). Weimar/Köln/Wien 1995, S. 44; Grebing: Arbeiterbewegung (wie Anm. 2), S. 63; Welskopp: Banner der Brüderlichkeit (wie Anm. 1), S. 500.  Zit. nach Grebing: Arbeiterbewegung (wie Anm. 2), S. 64.  Vgl. Karlheinz Schaller: „Einmal kommt die Zeit“. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Bielefeld 2001, S. 230. Hier auch ausführlich Belege der Sympathien der Chemnitzer Arbeiterschaft für die „Pariser Kommune“ des Frühjahrs 1871. Im Leipziger Hochverratsprozess 1872 wurden Bebel und Liebknecht wegen ihrer kritischen Äußerungen zum Deutsch-Französischen Krieg und ihrer positiven Haltung zu dem – nach bereits zwei Monaten militärisch niedergeschlagenen – Aufstand der Pariser Handwerker-Arbeiter zu je zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Vgl. auch Ralf Hoffrogge: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Stuttgart 2011, S. 77 f.  Zur Fusion beider Parteien in Gotha und deren Unterschieden und Gemeinsamkeiten vgl. die konzise Darstellung in: Ebd., S. 59 – 72.

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die Kommune in Paris 1871 Abschluß eines handwerklich-proletarischen Revolutionszyklus war. In Deutschland war die Gründung der Arbeiterparteien außerdem nicht nur ein rationaler Akt, um die politische Lücke, die der Liberalismus hinterlassen hatte und das Allgemeine Wahlrecht erweiterte, auszufüllen, sondern auch eine politische „Erweckungsbewegung“ mit den Mitteln der „Versammlungsdemokratie“ und des Vereins, wie von dem Historiker Thomas Welskopp vor geraumer Zeit eingehend beschrieben.⁸ Der Übergang der Sozialdemokratie von einer Bewegung lohnarbeitender Handwerker, die sich als Volk verstanden, in ein sozial und kulturell separiertes Großmilieu, das sich seit Anfang der 1870er Jahre bei zunehmender gesellschaftlicher Stigmatisierung und staatlicher Verfolgung herausbildete, wurde dann von einem Wandel der Revolutions- und Sozialismusvorstellungen begleitet. Auch veränderten sich die sozialen Trägerschichten von Sozialdemokratie und Gewerkschaften seit den 1880er Jahren allmählich in Richtung tatsächlicher Industriearbeiterschaft mit zumindest noch handwerklichem Ausbildungshintergrund. Diese Veränderungen, ja diese Transformation von einer ersten zu einer zweiten deutschen Arbeiterbewegung, wurden von der erstaunlichen Kontinuität bei den Führungspersönlichkeiten, allen voran Liebknecht und Bebel, eher verdeckt, wobei Bebel freilich stets die passende Adaption der sozialistischen Zukunftserwartungen an den Wandel der Verhältnisse sowie der kollektiven Erfahrungen der wachsenden lohnabhängigen Bevölkerungsschichten lieferte.⁹ Die sehr konkrete Utopie einer alternativen genossenschaftlichen „Volksindustrie von unten“, die durch das rasante Wachstum der Fabriken und großen Aktiengesellschaften ad absurdum geführt wurde, wandelte sich in das mittelfristig gedachte Warten auf den „Zusammenbruch des Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen“, den „großen Kladderadatsch“ in den Worten Bebels. Erst in den 1870er und vor allem 1880er Jahren setzten sich Marxsche Denkkategorien und Sprachmuster in der Arbeiterbewegung durch. Marx wurde attraktiv, weil er den

 Welskopp: Banner der Brüderlichkeit (wie Anm. 1); zu den Handwerkern und Heimarbeitern als sozialen Trägerschichten der ersten Arbeiterbewegung bis ca. 1880 bereits Rudolf Boch: Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Göttingen 1985, sowie Friedrich Lenger: Die handwerkliche Phase der Arbeiterbewegung in England, Frankreich, Deutschland und den USA – Plädoyer für einen Vergleich. In: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 232– 243.  Bebels berühmtes und weite Verbreitung findendes Buch „Die Frau und der Sozialismus“ (1879/ 50. Auflage 1911) steckte voller Vorwegnahmen der sozialistischen Gesellschaft, ursprünglich als sehr konkrete Utopie eines Handwerker-Sozialismus entworfen, dann in den späteren Auflagen zunehmend im Wandel der Sozialismuserwartungen der SPD verändert. Zur vergleichenden Lektüre August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. Zürich 1879, neu abgedruckt in: Ders.: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 10, München u. a. 1996 (10/1: 1. Auflage; 10/2: 50. Aufl.).Vgl. auch Welskopp: Banner der Brüderlichkeit (wie Anm. 1), S. 727 ff.

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wissenschaftlichen Nachweis zu liefern schien, dass die Transformation der bestehenden kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft historisch mit Notwendigkeit kommen mußte. Mit Berufung auf Marx wurde allmählich auch das 1848er Verständnis vom revolutionären Aufstand des Volkes als Mittel der Errichtung eines Volksstaates und als Hebel der gesellschaftlichen Umwälzung durch die Auffassung ersetzt, dass die Revolution als ein langer Entwicklungsprozess mit beschleunigenden Schüben begriffen werden müsse.¹⁰ Es war die Integration der SPD in das deutsche Wahlsystem zu den Reichstagswahlen, welche die Abkehr von der Idee der Volksrevolution erträglich machte. Die Wahlerfolge machten es möglich, an die Stelle der unrealistisch gewordenen aktiven politischen Revolution die symbolischen Revolutionen in den gewonnenen Wahlkreisen zu setzen. In den zwölf Jahren der Geltung des sog. Sozialistengesetzes von 1878 bis 1890 avancierten die Wahlkämpfe dann zum eigentlichen – und einzig legalen – Fokus sozialdemokratischer Aktivität. Zwar hatte der erste Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 – 1898) die Hysterie nach zwei gescheiterten Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. ausnutzen können, um alles zu verbieten, was unter sozialdemokratischem Einfluß stand – Vereine, Zeitungen, Gewerkschaften. Doch scheiterte sein Vorhaben, den Sozialdemokraten auch das passive Wahlrecht zu entziehen, am Widerstand des Reichstags. Bei Wahlen konnte die Partei mithin weiter offen auftreten, und die Reichstagsfraktion übernahm bis 1890 ihre Leitung.¹¹ Nach der Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes 1890 kam dann der Organisationsaufbau als Garant zukünftiger Wahlerfolge und Vorbereitung auf die großen Aufgaben bei erwartetem Zusammenbruch des Kapitalismus als politischer Schwerpunkt hinzu. Die Umformung des Marxismus zur „sozialdemokratischen Weltanschauung“ hatten diesen auch zu einem handlungsleitenden Theoriekonglomerat werden lassen, das eine recht konsistente Welterklärung bot, durch das man nun sogar reformerisch wirksam werden konnte, ohne die schlechte Wirklichkeit als einzige Realität hinnehmen zu müssen. Das kam besonders deutlich im neuen Erfurter Programm der Partei von 1892 zum Ausdruck.¹² Der wissenschaftlich garantierte Zusammenbruch des Kapitalismus öffnete schließlich für die sozialdemokratische Arbeiterschaft einen Hoffnungshorizont, der die gesellschaftliche Existenz relativierte. Das von ständiger Knappheit und Ausgrenzung geprägte Leben gewann einen Sinn. Die eigentliche Legitimität des  Vgl. etwa ebd., S. 677 ff.; vgl. auch Grebing: Arbeiterbewegung (wie Anm. 2), S. 78 – 87.  Vgl. ebd., S. 70 – 77; Hoffrogge: Sozialismus (wie Anm. 6), S. 79 – 88; siehe auch Torsten Kupfer: Geheime Zirkel und Parteivereine. Die Organisation der deutschen Sozialdemokratie zwischen Sozialistengesetz und Jahrhundertwende. Essen 2003.  Grebing: Arbeiterbewegung (wie Anm. 2), S. 106 – 112.

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Kapitalismus konnte darin gesehen werden, dass er die Produktivkräfte entwickelte und damit die Voraussetzungen für den Sozialismus schuf. Die Rezeption des Marxismus in der Arbeiterbewegung war gleichbedeutend damit, dass sich die einstmals populäre Protestbewegung gegen die Zumutungen der neuen Produktionsweise in ihrem Kern dem industriellen Fortschritt anzuschließen begann. Die Erklärungsmuster der 1840er bis frühen 1870er Jahre, wonach die industriellen Umwälzungen ein böswilliger Anschlag der Kapitalbesitzer auf angestammte, verteidigenswerte Lebensverhältnisse waren, gerieten in Vergessenheit. Den Kapitalisten legte man nun eher zur Last, in privatem Konsum zu schwelgen, statt sich ihren „objektiven Aufgaben“ zu widmen. Nicht mehr die abhängige Stellung des Menschen im kapitalistischen Produktionssystem, sondern der Kapitalismus als angeblicher Hemmschuh der technisch-industriellen Entwicklung und als System der ungerechten Verteilung von Gütern stand nun im Mittelpunkt der Kritik. Der Marxismus hatte nicht zuletzt auch deshalb einen so schlagenden Erfolg in der Arbeiterbewegung, weil er – anders als Lassalle – eine Lohntheorie anbot, die gewerkschaftliches Agieren im Rahmen des Kapitalismus für sinnvoll und erfolgsträchtig erklärte.¹³ Das „rote Königreich“, wie Sachsen seit der Wende zum 20. Jahrhundert genannt wurde, stellte die realisierte sozialdemokratische Vorstellung von einem gelungenen Organisationsaufbau für die „mit Notwendigkeit“ kommenden großen Aufgaben dar. Bis 1914 war die Etablierung einer selbstorganisierten Gegenkultur zur Gesellschaft des Kaiserreichs, basierend auf den Prinzipien der Solidarität und der Legalität, am weitesten in Sachsen vorangeschritten. „Gleichsam zu Stein geworden“, um die treffende Formulierung des Historikers Karsten Rudolph zu benutzen, „präsentierte sich das ‚andere‘ Königreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in großzügigen Partei- und Gewerkschaftshäusern, in modern ausgestatteten Druckereien und Verlagen, die den großen Zeitungen angeschlossen waren“.¹⁴ Zahlreiche Arbeitersport-, -gesangs- oder -hilfsvereine bildeten die Basis dieses „roten Königreichs“, das organisatorische Gerüst bildeten jedoch die Partei und zunehmend auch einzelne größere Branchengewerkschaf-

 Vgl. Michael Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute. Bonn 1989, S. 44 ff. Vgl. auch Rolf Peter Sieferle: Marx und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. In: Ders.: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1984, S. 134– 142, hier S. 138 f.; vgl. auch Petra Weber: Sozialismus als Kulturbewegung. Frühsozialistische Arbeiterbewegung und das Entstehen zweier feindlicher Brüder Marxismus und Anarchismus. Düsseldorf 1989, v. a. das 2. Kapitel „Industriesozialismus oder genossenschaftliche Alternativökonomie“, S. 269 – 323.  Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 65.

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ten. Hatte die sächsische SPD 1901 erst rund 25.500 und 1910 bereits über 90.000 Mitglieder, so verdoppelte sich in vier Jahren bis zum Kriegsbeginn 1914 ihre Zahl auf fast 180.000, womit in Sachsen mehr Sozialdemokraten organisiert waren als zum selben Zeitpunkt in Frankreich und Italien zusammen.¹⁵ Dabei trugen nach der Aufhebung des restriktiven sächsischen Vereinsgesetzes im Jahr 1908 neu für die Partei geworbene Frauen maßgeblich zum rasanten Mitgliederwachstum bei. Dieses erfuhr auch deshalb besondere öffentliche Aufmerksamkeit, weil es sich deutlich von eher stagnativen Tendenzen der SPD in anderen Teilen des Reiches abhob. Die politische Integrationsleistung der sächsischen Sozialdemokratie gegenüber unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen war mithin durchaus beachtlich, wenn auch die Steigerung der Mitgliedszahlen nicht mehr den gewohnten Anstieg an Wählerstimmen bewirkte und der Charakter der Partei ein anderer geworden war. Nicht eine Kultur der lebhaften Debatte, wie in den Hochzeiten der „Versammlungsdemokratie“ in den 1870er Jahren bestimmte die Parteiversammlungen, sondern der Vortrag eines Funktionärs, bisweilen eine Aussprache, die selten kontrovers verlief, wie es zeitgenössische Beobachter, die am Fremd- und Selbstbild des „roten Königreiches“ kratzen wollten, vermerkten. Nicht zuletzt der „heimliche Vorsitzende“ der sächsischen Sozialdemokratie Richard Lipinski (1867– 1936) kritisierte mehrfach die Lethargie in seinem Wahlkreis und die unpolitische Geselligkeitskultur der Vorfeldorganisationen der Partei.¹⁶ Die Integrationsleistung der sächsischen SPD beruhte nicht zuletzt darauf, dass sie sich im Vergleich mit anderen Regionen des Reiches in ihrem Profil noch am ehesten als eine klassenorientierte Partei des „Volkes“, der Facharbeiter und „kleinen Leute“ darstellen konnte. Sozialökonomisch betrachtet dominierte in Sachsen ein „leichtindustrieller Konstituierungstyp“ – um mit dem Leipziger Historiker Hartmut Zwahr zu sprechen –, bei dem die Erwerbstätigkeit sukzessive vom kapitalabhängigen Heimgewerbe in industrielle Arbeitsverhältnisse der Textil- und Metallindustrie überwechselte.¹⁷ Zudem wuchs noch zwischen 1895 und 1910 – eine Phase schneller Kapitalkonzentration in anderen Teilen Deutschlands – sogar die Zahl kleinindustrieller Betriebe, häufig heimgewerblichen Zuschnitts, in Sachsen weiter an.¹⁸ Das Integrationsproblem stellte sich nicht

 Vgl. Grebing: Arbeiterbewegung (wie Anm. 2), S. 100.  Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 67, 72.  Hartmut Zwahr: Zum Gestaltwandel von gewerblichen Unternehmern und kapitalabhängigen Produzenten. Entwicklungstypen gewerblicher Warenproduktion in Deutschland. In: Jahrbuch für Geschichte 32 (1985), S. 9 – 64.  Karlsch/Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 3), S. 102 f.; vgl. auch Christoph Nonn: Soziale Hintergründe des politischen Wandels im Königreich Sachsen von 1914. In: Simone

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so massiv wie etwa im Ruhrgebiet, wo aus dörflich-agrarischen Gegenden v. a. des preußischen Ostens zugewanderte Arbeiter sich in patriarchalisch geführten Großbetrieben der Schwerindustrie und des Bergbaus verdingten. Dieser „schwerindustrielle Konstituierungstyp“ war in Sachsen nur in Spurenelementen zu finden. Auch veritable Großbetriebe anderer Branchen gab es nur wenige. Doch sollte man dennoch nicht die Probleme der Massenzuwanderung in die großen Städte Leipzig, Dresden und Chemnitz aus den eher ländlichen Regionen unterschätzen, ebenso wenig die schwierige politische wie gewerkschaftliche Erreichbarkeit der zahlreichen Textilarbeiterinnen in den mittelständischen Spinnereien und Webereien des Landes – trotz des weitstrahlenden Crimmitschauer Textilarbeiterinnenstreiks von 1903/1904.¹⁹ Die weiterhin beachtliche Heimarbeiterschaft und das kleine Handwerk waren dagegen – zumindest in größeren Teilen – noch für eine sozialdemokratische Stimmabgabe zu motivieren, wenn man diesen Berufsgruppen programmatisch auch nur wenig zu bieten hatte. Es fehlte ein katholisches Sozialmilieu, das in anderen Regionen Deutschlands diesen tatsächlichen oder vermeintlichen Verlierern der industriekapitalistischen Modernisierung eine Alternative zu bieten schien. Unter diesen Bedingungen konnte die Interpretation der unterschiedlichen Erfahrungswelten noch eine Weile gelingen, wenn man auch bei Teilen der ländlichen Heimarbeiterschaft und des Handwerks in Konkurrenz zu in den 1880er Jahren erstarkenden antisemitischen Parteien in Sachsen stand.²⁰ In Sachsen entwickelte sich – entgegen dem anhaltenden Ruf linker Radikalität, der sich wohl eher auf die Redaktion der weit rezipierten „Leipziger Volkszeitung“ bezog – ein Typus von Sozialdemokratie, der die politische Basis des sog. marxistischen Zentrums um Bebel bildete.²¹ Mit ihrem „ungekrönten König“, der von 1866 bis zu seinem Tod 1913 die SPD auf Reichsebene regierte, ging die sächsische Partei durch „dick und dünn“. Sein Bild und das des sächsischen Königs hingen angeblich in den wohlgeordneten Wohnstuben jener Industrieoder Heimarbeiter, die sich eine Wohnstube leisten konnten. Und der Erfolg schien

Lässig/Karl Heinrich Pohl (Hrsg.): Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch. Dresden 1997, S. 371– 392, hier S. 379.  Karlsch/Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens (wie Anm. 3), S. 105 f.; vgl. auch Patricia Ober: „Eine Stunde fürs Leben.“ Der Streik der Crimmitschauer Textilarbeiter von 1903/04. In: Textilarbeiter um 1900. Arbeit, Alltag, Streik. Chemnitz 2003, S. 44– 45.  Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 40 f.; Nonn: Soziale Hintergründe (wie Anm. 18), S. 380 f.  Zur Charakterisierung des marxistischen Zentrums in der SPD vor 1914 Grebing: Arbeiterbewegung (wie Anm. 2), S. 106 – 116; Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 76 f.

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der SPD hold zu sein: 1903 eroberte sie mit fast 60 Prozent der Stimmen 22 der 23 Reichstagsmandate des Königreichs Sachsen.²² Der Nimbus des „roten Königreichs“ erklärt sich nicht zuletzt aus diesen hervorragenden Ergebnissen der relativ demokratischen Wahlen für Männer über 24 Jahren zum politisch bekanntlich noch begrenzt einflussreichen Reichstag in Berlin. Doch im Sächsischen Landtag war die SPD seit 1901 überhaupt nicht mehr vertreten. Das lag an einem 1896 von dem konservativ-nationalliberalen Parteienkartell in Dresden handstreichartig eingeführten Dreiklassenwahlrecht, welches das gemäßigte, freilich ebenfalls anachronistische Zensuswahlrecht von 1866 aufhob. Kennzeichnend für das Königreich Sachsen war nämlich eine über Jahrzehnte enge Verknüpfung industrieller und agrarischer Interessen, bei Vorherrschaft der Konservativen in Parlament und Administration, die bereits seit 1874 zu einer sehr weitgehenden Polarisierung der sächsischen Politik und besonders rigorosen Isolierung der Sozialdemokratie geführt hatte. Bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts gab es tatsächlich einen weiteren Politiker, der als „ungekrönter König Sachsens“ bezeichnet wurde: der hochkonservative Außenund dann Innenminister Paul Mehnert (1852– 1922), welcher maßgeblich die Politik des nationalliberal-konservativen Kartells und damit Sachsens bestimmte.²³ Begleitet wurde die Einführung des Dreiklassenwahlrechts durch sukzessive Wahlrechtsverschlechterungen in nicht weniger als 30 sächsischen Städten zwischen 1894 und 1913. In der sozialdemokratischen Presse sprach man nun von Sachsen auch als dem „Probierland der Reaktion“ oder dem „Musterland der Reaktion“.²⁴ Trotz des Wahlrechtraubs vermied die sächsische SPD jede politisch riskante Taktik und jeden illegalen Protest. Selbst der in der sozialdemokratischen Führungsriege als „Revisionist“ titulierte Eduard Bernstein (1850 – 1932) kritisierte sie scharf dafür. Auch die Ablösung des Dreiklassenwahlrechts im Jahr 1909 durch ein sog. Pluralwahlrecht, das noch immer weit hinter dem Reichstagswahlrecht zurückblieb, war kaum den wenigen um Disziplin bemühten, durchaus neuartigen Wahlrechtsdemonstrationen der SPD in den sächsischen Großstädten geschuldet, als vielmehr einer Veränderung der politischen Konstellation im bürgerlichen Lager. Die Nationalliberalen lösten sich mit neu definierten Interessen der sächsischen Industrie, die besonders Gustav Stresemann (1878 – 1929) zu mobilisieren verstand, aus dem Ordnungskartell und bildeten ein eigenes politisches Profil

 Ebd., S. 56. Im Reichsdurchschnitt erreichte die SPD 1903 nur 31,7 % der Stimmen.  Ebd., S. 49, 63 ff.Vgl. auch Elvira Döscher/Wolfgang Schröder: Sächsische Parlamentarier 1869 – 1918. Ein biographisches Handbuch. Düsseldorf 2001, S. 279, 425 f.  Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 54, 68 ff.

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heraus. Als eine Art Mittelpartei hätten sie zumindest potenziell auch mit Linksliberalen und Sozialdemokraten eine Mehrheit im Landtag bilden können.²⁵ Eine Bewertung dieser sich andeutenden Veränderung, in die von der Historikerin Simone Lässig in den 1990er Jahren allzu viel hineininterpretiert wurde, ist jedoch wegen des Abbruchs eventueller Entwicklungen durch den Ersten Weltkrieg nicht möglich. Es gibt berechtigte Zweifel, ob Sachsen als langjährige Hochburg der politischen Reaktion tatsächlich auf dem Weg war, zu einem der Reformstaaten des Deutschen Kaiserreichs zu werden.²⁶ Die SPD wusste eine deutliche Mehrheit der sächsischen Bevölkerung zwar hinter sich, konnte diese jedoch wegen der im Wahlrecht aufgerichteten Hürden nicht umsetzen. Die tatsächliche Ohnmacht der Partei suchte man durch die Beschwörung der „Macht der Organisation“ zu kompensieren. Doch kann man nicht übersehen, dass es in den Jahren zwischen Jahrhundertwende und Kriegsausbruch gravierende Probleme gab, die eine Korrektur der bisherigen Organisationsarbeit nahelegten. Die Grenzen der in die Jahre gekommenen Formen und Inhalte sozialdemokratischer Organisationspolitik zeigten sich bei der Arbeiterjugend, der Bildungsarbeit und in der Kirchenaustrittsagitation. Ernst Heilmann (1882– 1940), der mit nur 28 Jahren zum Chefredakteur der „Chemnitzer Volksstimme“ aufgestiegen war und als Exponent von Sozialdemokraten „rechts“ des marxistischen Zentrums gilt, holte sich bei seinen Versuchen, die Parteiarbeit auf „bewegungsnahe“ Themen zu lenken, immer wieder eine Abfuhr durch die Parteioberen.²⁷ Auch die neue voluntaristisch gestimmte – heute würde man sagen: spontaneistische – Linke, die auf die „Leipziger Volkszeitung“ gewissen Einfluss nehmen konnte, sah in dem von ihr propagierten Massenstreik nicht nur ein Mittel zur Erreichung politischer Ziele wie des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, sondern auch eine Chance zur Erneuerung des Bewegungscharakters

 Karl Heinrich Pohl: Politischer Liberalismus und Wirtschaftsbürgertum: Zum Aufschwung der sächsischen Liberalen vor 1914. In: Lässig/Ders. (Hrsg.): Sachsen (wie Anm. 18), S. 101– 131.  Vgl. Simone Lässig: Wahlrechtskampf und Wahlreform in Sachsen (1895 – 1909).Weimar/Köln/ Wien 1996; dies.: Der „Terror der Straße“ als Motor des Fortschritts? Zum Wandel der politischen Kultur im „Musterland der Reaktion“. In: Dies./Pohl (Hrsg.): Sachsen (wie Anm. 18), S. 191– 239. Das in dem von Lässig und Pohl herausgegebenen Tagungsband dokumentierte Symposion zum Thema „Reformfähigkeit des Königreich Sachsens vor 1914“, welches im Mai 1995 an der TU Dresden stattfand, war bei der Mehrheit der Vortragenden eher von Skepsis gegenüber Lässigs These eines eigenständigen sächsischen Entwicklungspfads der politisch-gesellschaftlichen Reform zwischen 1909 und 1914 geprägt. Vgl. die Rezension des Tagungsbands von Rudolf Boch in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 68 (1997), S. 430 f.  Vgl. Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 80 f.; Peter Lösche: Ernst Heilmann – sozialdemokratischer parlamentarischer Führer im Preußen der Weimarer Republik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 33 (1982), S. 420 – 432.

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der Partei. Auch sie wurde mit der Argumentation, dass die SPD keine einmal erreichte Position leichtfertig aufs Spiel setzen dürfe, stets abgewiesen. Folgt man dem Urteil Karsten Rudolphs, so lag der tiefere Sinn der Rede vom „roten Königreich“ darin, „dass sich die sächsischen Sozialdemokraten im Königreich Sachsen eingerichtet und dabei die gesellschaftlichen Gegensätze vertieft hatten, ohne sie auf die Spitze zu treiben.“²⁸ Was in den ersten eineinhalb Jahrzehnten nach dem Sozialistengesetz seine Berechtigung gehabt haben mochte, bedeutete jetzt nur noch Stillstand. Das „rote Königreich“ war in gewisser Weise Höhe- und Endpunkt der zweiten deutschen Arbeiterbewegung. Das Momentum der Veränderung war freilich spätestens seit 1905 dabei, auf andere Akteure und ihre Deutungsangebote überzugehen, deren Wirkungsmächtigkeit das marxistische Zentrum nicht vollends erkennen wollte oder konnte. Damit sind nicht nur die so unauffällig wirkenden „Pragmatiker“ in den Gewerkschaften gemeint, die mit ihrem Ziel einer Gewerkschaftspolitik – als über den bestehenden Staat durchzusetzende Sozialpolitik für die breiten Massen – zu einer verdeckten Ersatzpartei für die konzeptionslose SPD wurden.²⁹ Auch die Dynamik eines modernen Nationalismus wurde verkannt. So verfehlte der altbackene, mit antipreußischen Ressentiments gespickte Antimilitarismus der sächsischen SPD den mit chauvinistischem Nationalstolz und darwinistischen Denkmustern durchsetzten „modernen Militarismus“, wie er sich im großen Stil bei der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals 1913 kundtat. Die SPD unterschätzte offenbar nicht nur die Ausbreitung dieses giftigen Gebräus in den boomenden sächsischen Kriegervereinen, die mit ihren 1913 rund 220.000 Mitgliedern sogar die Mitgliederzahlen der sächsischen Sozialdemokratie um 40.000 übertrumpften.³⁰ Das in Sachsen immer noch dominante marxistische Zentrum verschloss sich auch dem Eingeständnis, dass dieser neuartige Nationalismus und Militarismus bereits in die Poren des Organisationskörpers der SPD und ihrer Wählerschaft eingesickert war. Nur vor diesem Hintergrund ist die anhaltende Karriere des agilen Chemnitzer SPD-Reichstagsabgeordneten Gustav Noske (1868 – 1946) verstehbar, der schon in seiner ersten großen Rede vor dem Reichstag im Jahr 1907 ein Bekenntnis zur unbedingten Vaterlandsverteidigung und Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes abgelegt hatte und fortan zum Wort-

 Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 75.  Boch: Handwerker-Sozialisten (wie Anm. 8), S. 295; Grebing: Arbeiterbewegung (wie Anm. 2), S. 115, 117, 120 – 126.  Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 87; siehe auch Peter Hutter: „Die feinste Barbarei“. Das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig. Mainz 1991.

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führer eines „nationalintegrativen Konzepts“ wurde.³¹ Immerhin sagte der Satiriker Alexander Moszkowski (1851– 1934) in einem Gedicht voraus, wie sich Noske in einem künftigen Krieg verhalten würde: „Kommandiert der Herr Major: ‚Feuer vorn und hinten!‘ Ruft ein arbeitsscheues Corps: ‚Schmeiß mer’ hin die Flinten!‘ Aber dennoch Mut! nur Mut! Laßt euch nicht verdrießen, denn wir wissen absolut: Noske, der wird schießen!“³²

Erst auf der Landesversammlung der sächsischen SPD 1913 in Plauen wurde von einer „Parteikrise“ geredet. Doch bezog sich dieses Krisengefühl – so Rudolph – nicht auf die Konzeptionslosigkeit oder die Brüche in der Partei, sondern auf die Wahlergebnisse der Reichstagswahl von 1912. Es gab deutliche Anzeichen dafür, dass das Wählerpotenzial in Sachsen ausgeschöpft war. Die „Macht der Organisation“ ließ sich noch nicht einmal mehr in Wahlerfolge umsetzen. Bebel, der in seinen letzten Lebensjahren noch die Einheit der SPD verkörperte und die Partei über Jahrzehnte mit pragmatischem Geschick durch den Wandel der Zeit geführt hatte – ohne je seine Erwartung des Zusammenbruchs des Kapitalismus aufzugeben –, war 1913 verstorben. Doch auch das ihn stützende marxistische Zentrum der Partei, das nur noch auf Organisation und Wahlerfolge gesetzt hatte, wirkte nun wie aus der Zeit gefallen. Mitte Juli 1914 tagte die Landesversammlung der sächsischen SPD im Leipziger Volkshaus, um die für 1915 vorgesehenen Landtagswahlen organisatorisch vorzubereiten. Außen- und Friedenspolitik waren kein Thema. Die Erregung über die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo am 28. Juni hatte sich offenbar auch in der sächsischen Arbeiterschaft weitgehend gelegt. Der Kaiser, führende Politiker und Militärs waren ostentativ in Urlaub gefahren. Ein Krieg schien nicht mehr unmittelbar zu drohen. „Business as usual“ war wieder auf der Tagesordnung. Kein Teilnehmer konnte wissen, dass diese Landesversammlung die letzte einer einheitlichen Sozialdemokratie in Sachsen sein sollte; auch keiner, dass der nächste Landtag erst 1919 unter völlig veränderten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen gewählt werden würde. Das Königreich

 Zu Noske vgl. Hoffrogge: Sozialismus (wie Anm. 6), S. 175 f.; Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie. Düsseldorf 1987; Hans Christoph Schröder: Gustav Noske und die Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreiches. Bonn 1979; zu Noske in Chemnitz siehe auch Schaller: Zeit (wie Anm. 6), S. 328 ff.  Zit. nach Wette: Noske (wie Anm. 31), S. 72.

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Das „rote Königreich“

Sachsen war zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 1919 bereits Geschichte und mit ihm auch das „rote Königreich“.³³ Als der Sozialdemokratie in Sachsen wie im Reich bei Kriegsende im November 1918 die Macht zufiel, wurde deutlich, wie weit sich die große Mehrheit ihrer Anhänger schon von der revolutionären Zielvision entfernt hatte. Das wiederum trieb eine in Sachsen nicht unerhebliche Minderheit gestandener Sozialdemokraten und junger Protestwähler in die Kommunistische Partei (KPD) als radikaler Alternative.³⁴ Aus der historischen Rückschau bilden die Anfangsjahre der Weimarer Republik eine Zäsur, die sichtbar machte, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung im Grunde und in Zukunft nur darum ging, wie viel Ungleichheit und wie viel alte Privilegien der bürgerlichen Eliten das Gros der Arbeiter und Angestellten bereit war hinzunehmen, damit eine sozialstaatlich modifizierte kapitalistische Marktwirtschaft produktiv blieb. Das Sozialstaatskonzept der Gewerkschaften und das „nationalintegrative Konzept“ – nun unter dem Vorzeichen der Republik – wurden zum eigentlichen inhaltlichen Kern der dritten Phase der Geschichte der organisierten deutschen Arbeiterschaft, welche wiederum auf kollektiven Erfahrungen großer lohnarbeitender Schichten beruhte. Die KPD war – zugespitzt formuliert – eine Art Abfallprodukt dieser erneuten Transformation. Die Veränderung im Bewusstsein der Mehrheit sozialdemokratisch und gewerkschaftlich organisierter Arbeiterschaft hatte sich schon seit der Wende zum 20. Jahrhundert gerade auch in Sachsen nach und nach vollzogen. Die stabilisierende sozialdemokratische Gegenkultur, zusammen mit dem nun positiven Ethos der Fabrikarbeit, ließen das Industriesystem zunehmend akzeptabel erscheinen, zumal das System mit der Zeit doch deutliche materielle Kompensationen anbot. Es kam bekanntlich seit den 1880er Jahren zu Reallohnsteigerungen und zu erkennbaren Verbesserungen der Arbeitsplatzsituation und des Gesundheitswesens.³⁵ Die Erfolge der sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften machten bereits seit der Jahrhundertwende – zumindest für die Mehrheit der Mitglieder und Wähler – die Endzeitperspektiven Revolution und Sozialismus

 Vgl. Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 89 f.  Vgl. Klaus-Michael Mallmann: Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung. Darmstadt 1996; Jürgen Winkler: Die soziale Basis der Sozialistischen Parteien vom Ende des Kaiserreichs bis zur Mitte der Weimarer Republik 1912– 1924. In: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 137– 171. Zu Sachsen bis 1923 Rudolph: Sozialdemokratie (wie Anm. 4), S. 169 ff.; zu Chemnitz bis 1923/24 Karlheinz Schaller: „Radikalisierung aus Verzweiflung“. Geschichte der Chemnitzer Arbeiterschaft vom Ersten Weltkrieg bis zur Inflation. Bielefeld 2003.  Vgl. Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich. Bonn 1992, v. a. S. 467 ff.

Eine etwas andere Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung

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tendenziell überflüssig. Sie gewannen nur noch durch die bewussten politischen Blockaden der adligen und bürgerlichen Eliten eine gewisse Stringenz, die im Reich, in Preußen wie im Königreich Sachsen, aber auch in den Kommunen der SPD und den Gewerkschaften eine weitere Demokratisierung und den Zugang zu Machtpositionen verwehrten, was wiederum eine „revolutionäre Haltung“ des tonangebenden marxistischen Zentrums bestätigte, wenn auch diese Haltung am Vorabend des Ersten Weltkriegs zur reinen Geste geraten war. All dies wurde offenbar, als diese Blockaden mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seiner Königreiche 1918 endgültig fielen und die SPD zur Regierungspartei wurde.

II Wirtschaftsbürgertum

Von der „begrenzten“ zur forcierten Industrialisierung. Zum Wandel ökonomischer Zielvorstellungen im rheinischen Wirtschaftsbürgertum 1815 – 1845 Das Wirtschaftsbürgertum des Rheinlands ist im Vergleich zu dem anderer deutscher Regionen relativ gut erforscht. Seit vielen Jahrzehnten steht es im Mittelpunkt einer regionalen Wirtschaftshistoriographie sowie einer entwickelten lokalgeschichtlichen Forschung. Besonders im Umkreis des „Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs“ sind seit der Jahrhundertwende wichtige Monographien, Biographien führender Unternehmer sowie unternehmerische Quelleneditionen entstanden, die – ohne freilich immer heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen – dem Historiker den Zugang zu einer faszinierend facettenreichen sozialen Schicht mit zeitweilig bedeutendem überregionalen Einfluß erleichtern.¹ Trotz einer vergleichsweise entwickelten historischen Forschung standen bisher die Selbstreflexion dieses Wirtschaftsbürgertums, d. h. seine Rezeption und Verarbeitung des Industrialisierungsprozesses, seine wirtschaftlichen und sozialen Zielvorstellungen und deren Wandel in der Zeit, noch nie im Zentrum einer systematischen historischen Analyse.² Das ist um so erstaunlicher, als sich diese

 Zu den wichtigsten neueren Veröffentlichungen des Wirtschaftsarchivs gehört der Sammelband: Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung in Rheinland und Westfalen. Köln 1984. Er enthält zahlreiche Hinweise auf ältere Publikationen. Die in ihrer Art einzigartigen Biographien und Materialbände über bedeutende rheinische Unternehmer sind freilich mehr als 70(!) Jahre alt. Vgl. etwa Hansen: G. Mevissen, 2 Bde. Berlin 1906; Schwann: L. Camphausen, 2 Bde. Essen 1916. – Neben Krefeld und Mönchengladbach verfügt vor allem der Wuppertaler Raum über eine überdurchschnittlich gute – auch ältere – lokalgeschichtliche Forschung zum Wirtschaftsbürgertum. – Alle zeitgenössischen Zitate sind der heutigen Rechtschreibung und Interpunktion angepaßt.  Die unlängst erschienene Arbeit von J. M. Diefendorf: Businessmen and Politics in the Rhineland. Princeton 1980, beschreibt fast ausschließlich die soziale Stellung und die politischen Gestaltungschancen der rheinischen Wirtschaftsbürger unter französischer und früher preußischer Herrschaft. Das immer noch lesenswerte, informative Buch von F. Zunkel: Der rheinischwestfälische Unternehmer 1834– 1879. Köln 1962, geht nur auf wenigen Seiten – zumeist anekdotenhaft – auf die „Revolutionierung von Wirtschaftsgeist und Wirtschaftsführung“ (S. 34 ff.) ein. Da Zunkel aber die Zeit vor 1834 weitgehend ausklammert, kann er nur äußerst vage umschreiben, welcher „tradierte Wirtschaftsgeist“ revolutioniert wurde. Überhaupt ist eine merkwürdige zeitliche Trennungslinie, die etwa in der Mitte der 1830er Jahre verläuft, in der rheinischen Forschung zum Wirtschaftsbürgertum zu konstatieren: Es gibt kaum Arbeiten, welche die gesamte erste DOI 10.1515/9783110534672-005

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Thematik für die entscheidenden Jahrzehnte des Durchbruchs einer industriellen Produktionsweise zwischen 1814 und den 1850er Jahren nachgerade aufdrängt: Seit dem Zusammenbruch des Systems napoleonischer Herrschaft im kontinentalen Europa gab es im rheinischen Wirtschaftsbürgertum eine überaus lebhafte, weitgehend öffentlich geführte Debatte um die zukünftige gewerblich-industrielle Entwicklung und ihre möglichen gesellschaftlichen Folgewirkungen, die – trotz teilweisen Wechsels der Debattengegner und der unterliegenden Paradigmen – bis weit in die 1850er Jahre hinein andauerte. Erst in der Rückschau aus einer Zeit, die sich – wie die Bundesrepublik heute – erneut inmitten einer gesellschaftlichen Debatte um die „Zukunft der Industrialisierung“ befindet, gerät dieser weithin vergessene Aspekt rheinischer Unternehmergeschichte wieder ins Blickfeld, gewinnt an Aktualität und Attraktivität für den Historiker selber. Erst heute scheint überhaupt ein Verständnis dieser bruchstückhaft bekannten Auseinandersetzungen³ im Wirtschaftsbürgertum als ein mehrere Jahrzehnte währendes Kontinuum möglich zu sein, an dessen Ende eine breite Akzeptanz einer industriellen Gesellschaft mit sozial scharf getrennten marktabhängigen Klassen stand. Der folgende Beitrag soll den historischen Wandel wirtschaftsbürgerlicher Zielvorstellungen von einer „begrenzten“ Industrieentwicklung, die mit älteren Wertmustern einer idealisierten „Bürgergesellschaft“ im Einklang stehen sollte, zu einer bewußt angestrebten, forcierten Industrialisierung skizzieren.⁴ Der Schwerpunkt der Darstellung wird dabei auf der innerbürgerlichen Debatte der

Hälfte des 19. Jh. im Blickfeld haben. Die zahlreichen Forschungen zum Wuppertaler Wirtschaftsbürgertum, die einen eindeutigen Schwerpunkt vor 1835 setzen, als das Wuppertal noch unangefochten das ökonomische Zentrum des Rheinlands bildete, stehen in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit den Arbeiten zum linksrheinischen Wirtschaftsbürgertum, die – mit Ausnahme Diefendorfs – nach 1830 einsetzen. Auch hier fehlt zumeist jeder Bezug auf die vorangegangene Periode und die sie – in vielfacher Hinsicht – prägenden Wuppertaler Wirtschaftsbürger. Das gilt nicht nur für Zunkel u. a., sondern auch für die umfangreichen, aber ebenfalls erst 1830 einsetzenden Arbeiten von Hansen.  Durch die Arbeit des Landesarchivars Gustav Croon, die auf den – bisher noch nie systematisch ausgewerteten – Protokollen des Provinziallandtags beruht, sind einige Auseinandersetzungen auf den Landtagen der 1830er und frühen 1840er Jahre seit längerem schemenhaft bekannt. Vgl. ders.: Der Rheinische Provinziallandtag bis zum Jahre 1874. Düsseldorf 1918 (Nachdruck Köln 1974). Auch die späte, von Hansen und Schwann edierte „Schutzzoll-Freihandels“-Kontroverse zwischen Camphausen und Mevissen 1845 kann als ein solcher „bruchstückhafter“ Wissensbestand bezeichnet werden.  Die in knapper Form vorgestellten Ergebnisse sind Teil eines umfangreichen vergleichenden SFB-Projekts zu den wirtschaftlichen und sozialen Zielvorstellungen des deutschen und oberitalienischen Wirtschaftsbürgertums, wie auch ihrer Rezeption der englischen Industrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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nachnapoleonischen Epoche und den bisher kaum rezipierten, aber weichenstellenden Auseinandersetzungen der frühen 1830er Jahre liegen. Für beide Zeitabschnitte konnten neue oder doch nie systematisch ausgewertete Quellenbestände herangezogen werden.Vor dem Hintergrund dieser langen Vorgeschichte erscheinen die teilweise besser bekannten wirtschaftsbürgerlichen Debatten der 1840er Jahre in einem anderen Licht, kann der Bedeutungswandel von Begriffen und der nur noch affirmative Gebrauch alter stereotyper Formulierungen klarer herausgearbeitet werden.⁵

1 Foren und Träger der Debatte nach 1814. Das Jahr 1814 brachte für die Kaufleute, Bankiers und Fabrikanten der von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebiete wie auch des rechtsrheinischen ehemaligen Herzogtums Berg einschneidende politische und wirtschaftspolitische Veränderungen: Beide gewerblich hochentwickelten Regionen kamen unter preußische Herrschaft und wurden 1816 zur preußischen Rheinprovinz vereinigt. Die starke wirtschaftliche Bindung und handelspolitische Orientierung an Frankreich mußte binnen kurzer Zeit aufgegeben werden, da nicht nur der Wechsel in den preußischen Staatsverband Warenlieferungen dorthin erschwerte, sondern auch der rasche Aufbau eines neuen, prohibitiv wirkenden französischen Zollsystems unter Ludwig XVIII. rheinische Exporte zunehmend unmöglich machte. Außerdem waren die rheinischen Großgewerbe durch die Aufhebung der sog. Kontinentalsperre, die über viele Jahre hinweg die Einfuhr v. a. englischer Waren massiv behindert hatte, schlagartig erneut der Konkurrenz der gewerblichen und industriellen Fertigung des Inselreiches ausgesetzt. Diese säkuläre Umbruchsituation begünstigte, ja provozierte geradezu eine Debatte um die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten von Handel, Gewerbe und Industrie im Wirtschaftsbürgertum der Rheinprovinz. Sie entzündete sich an der handelspolitischen Neuorientierung der Gewerbelandschaften, kreiste aber

 Der anregende, das wirtschaftsbürgerliche Industrialisierungsverständnis thematisierende Aufsatz von E. Fehrenbach: Rheinischer Liberalismus und gesellschaftliche Verfassung. In: W. Schieder (Hrsg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz. Göttingen 1983, S. 272– 294, beschränkt sich weitgehend auf die Darstellung wirtschaftsbürgerlichen Denkens in den 1840er Jahren. Zahlreiche Aussagen von Camphausen, Mevissen u. a. bekommen einen anderen – ältere, industrialisierungskritische Werthaltungen transzendierenden – Bedeutungsgehalt, wenn man sie nicht isoliert in der „tagespolitischen“, um breite Zustimmung im Wirtschaftsbürgertum werbenden Auseinandersetzungen der 1840er Jahre betrachtet, sondern als Teil einer schon lange währenden Debatte.

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bald um die zentrale Fragestellung, ob oder bis zu welchem Grad jenes „Industriesystem“ Vorbildcharakter haben sollte, das sich im England jener Zeit bereits klar herauszuschälen begann. Untrennbar verbunden mit dieser Debatte,wie auch eine Voraussetzung für sie, war die Herausbildung einer regionalen bürgerlichen Presse. Der „Rheinisch-Westfälische Anzeiger“ (RWA) und der seit 1814 erscheinende „Hermann“ entwickelten sich in den folgenden Jahren zu „Selbstverständigungsorganen“ des Bürgertums der niederrheinischen Gewerbelandschaften. Später wurde diese Rolle zunehmend von dem 1834 in Köln gegründeten „Allgemeinen Organ für Handel und Gewerbe“ übernommen; ein Indiz für die Verlagerung des ökonomischen Schwerpunkts der Rheinprovinz vom Wuppertal in das „Bankenzentrum“ Köln.⁶ In der Regel waren die Verfasser der wirtschafts- und sozialpolitischen Beiträge Fabrikanten und Kaufleute, bei denen sich bald eine „Wortführerschaft“ einiger Protagonisten der jeweils konträren Positionen herausbildete. Der „Anzeiger“ und der „Hermann“ waren zwar keine Zeitschriftenprojekte rein wirtschaftsbürgerlichen Zuschnitts, wie später das Kölner „Allgemeine Organ“. Beide Zeitschriften spiegelten aber deutlich die herausragende Stellung der Kaufleute und Fabrikanten im Bürgertum ihres Verbreitungsraums wider. Es waren jedoch nicht „irgendwelche“ Wirtschaftsbürger – etwa kleine Kaufleute oder gerade aus dem Handwerk aufgestiegene Fabrikanten –, die in den Zeitschriften das Wort ergriffen, sondern ein relativ enger Kreis von bekannten Wirtschaftsnotabeln. Diese durch Grundbesitz und privilegiertes Wahlrecht aus dem sonstigen Wirtschaftsbürgertum herausgehobenen großen Kaufleute und

 Der Rheinisch-Westfälische Anzeiger (= RWA) erschien mit in der Region wechselnden Verlagsorten und Herausgebern von 1798(!) bis 1847. Gründer der – bis 1816 als „Westfälischer Anzeiger“ firmierenden – Zeitung war der Dortmunder Tuchhändler und Richter Arnold Mallinckrodt (1768 – 1825). Sein Nachlaßverwalter, der Neffe Gustav Mallinckrodt (1799 – 1856), war in den Jahren 1842/43 Aktionär der Kölner „Rheinischen Zeitung“ und enger Freund von Mevissen. Die Geschichte des vielleicht bedeutendsten regionalen Zeitungsprojekts der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts – es behauptete 1819 von sich, „von der Saar bis zur Weser, von den Ufern der Nahe bis zu den Küsten der Nordsee ohne Nebenbuhler“ zu sein – ist kaum erforscht. Im Rahmen des SFB-Projekts erfolgte die erste systematische Auswertung aller wirtschafts- und sozialpolitischen Artikel dieses weitgehend erhaltenen Zeitungsbestands. – Der „Hermann“ wurde von 1814 bis zu seinem Verbot im September 1819 in Hagen herausgegeben. Von 1823 bis 1834 erschien er erneut, anfangs in Schwerte, später in Barmen. Zu den engsten Mitarbeitern und Finanziers gehörten angesehene Wirtschaftsbürger aus den märkischen und bergischen Gewerberegionen. Im Gegensatz zum RWA war die linksrheinische Leserschaft anscheinend klein. Zum ebenfalls bisher kaum wissenschaftlich ausgewerteten „Allgemeinen Organ“ siehe Anm. 42.

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Fabrikanten⁷ gerieten nicht nur im „Anzeiger“ oder im „Hermann“ miteinander in Konflikt. In ihrer Funktion als „notable“ Mitglieder der örtlichen Handelskammern und Handelsgerichte sowie des Rheinischen Provinziallandtags, der seit 1826 unregelmäßig einberufen wurde, dehnten sie die Debatte um die Zukunft der Gewerbe und die Akzeptanz eines „Industriesystems“ auf diese halböffentlichen Gremien aus, die seit dem Ende der 1830er Jahre schließlich immer häufiger die Chance zu einer öffentlichkeitswirksamen Intervention boten. Die gedruckten und ungedruckten Protokolle, Petitionen und Berichte der Handelskammern und Landtage wurden deshalb gleichgewichtig in die Rekonstruktion der Debatte einbezogen. Die Debattenkonstellation in den ersten Jahren nach 1814 läßt sich wie folgt skizzieren: Bis 1820 hatten sich innerhalb der Schicht der rheinischen Wirtschaftsnotabeln zwei klar unterschiedene Gruppen herausgebildet. Die eine setzte sich aus etablierten Fabrikanten der verarbeitenden Gewerbe im Verlagssystem zusammen, deren Wortführer häufig Johannes Schuchard (1782– 1855) war. Der Gegenpart wurde von einer einflußreichen Gruppe rheinischer Großkaufleute gebildet. Diese Gruppierung fand ihren völlig unangefochtenen Repräsentanten bald in dem bekannten und schreibfreudigen Elberfelder Kaufmann und Kommunalpolitiker Jakob Aders (1768 – 1825).⁸ Zu dieser Gruppe zählten ebenfalls die

 Das Institut der Notabeln stammte aus der Zeit der Zugehörigkeit des Rheinlands zu Frankreich, erhielt sich aber bis in das Wilhelminische Kaiserreich hinein. Es bezeichnete jene Gruppe der herausragendsten – zugleich häufig „meistbesteuerten“ – Kaufleute, Bankiers und Fabrikanten, die in ihren jeweiligen Orten berechtigt waren, jährlich aus ihrem Kreis die Handelsrichter zu wählen. Die örtlichen Handelskammern oder Handelsvorstände, eine nach einem Zensuswahlrecht gewählte, noch wesentlich kleinere Elite des Wirtschaftsbürgertums, besaß das Vorschlagsrecht, wer jährlich zu dieser Gruppe – in Köln waren es z. B. zwischen 80 und 100 Personen – gehören sollte. Diese weitgehend erhaltenen Notabelnlisten vermitteln einen guten Einblick in die wirtschaftsbürgerliche Führungsschicht im Rheinland, die man – der gebräuchlichen zeitgenössischen Außen-, zuweilen auch Selbstdefinition folgend – als Wirtschaftsnotabeln bezeichnen kann. Trotz einer distinkten gesellschaftlichen Position, gemeinsamen Verkehrskreisen und „Selbstverständigungsorganen“ hatten diese Wirtschaftsnotabeln aber keine durchweg identischen ökonomischen Interessen oder wirtschaftspolitischen Ziele. Der in den führenden wirtschaftsbürgerlichen Kreisen häufig anzutreffende langjährige Grundbesitz – er allein ermöglichte in preußischer Zeit die Wahl zum Provinziallandtag – hatte keine gruppenprägende Funktion und anscheinend auch keine Auswirkungen auf das Wirtschaftsverhalten. Erst mit der zunehmenden Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Interessen und der Industrialisierungsziele seit Ende der 1830er Jahre entwickelte sich die Schicht der Wirtschaftsnotabeln zu einer regionalen Bourgeoisie, die zeitweilig – in wichtigen Fragen – politisch geschlossen agieren konnte.  Zu diesen wohl bedeutendsten Wirtschaftsbürgern des Wuppertals in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vgl. die Biographie von O. Schell. In: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins (1910), S. 62– 87 und von G. Grote. In: Wuppertaler Biographien.Wuppertal 1965, S. 19 – 31.

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einflußreichen Großkaufleute und Landtagsabgeordneten Heinrich Merkens (1778 – 1854) aus Köln und Josua Hasenclever (1783 – 1853) aus Remscheid sowie der große Elberfelder Garnimporteur Abraham Troost (1762– 1840).

2 Das Ziel der Großkaufleute: „Begrenzte“ Industrialisierung durch strikte Anwendung der „Prinzipien des Freihandels“. Der Forderung nach einem zollgeschützten, einheitlichen Binnenmarkt, die nach 1815 von zahlreichen rheinischen Fabrikanten erhoben und seit der Frankfurter Ostermesse 1819 vom „Deutschen Handels- und Gewerbsverein“ unter der Leitung von Friedrich List schließlich in organisierter Form propagiert wurde, standen die Großkaufleute um Aders scharf ablehnend gegenüber. Das Credo der Gruppe um Aders war der Freihandel ohne nationale Zollschranken. Sogar das preußische Zollgesetz von 1818 mit seinen zumeist mäßigen Zollsätzen lehnten diese Großkaufleute ab. Sie betrachteten es als einen Schritt in die falsche Richtung, als eine Konzession an jene Denkströmung auf dem Kontinent, welche die wirtschaftliche Krisensituation im Nachkriegseuropa über nationalen Zollschutz zu lösen suchte. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen sahen diese Großkaufleute den entscheidenden Grund für die anhaltende Depression nach 1815 nicht in dem weithin ungehinderten Import englischer Gewerbeerzeugnisse, sondern in dem beschleunigten Wachstum des gesamten europäischen Produktionsapparates seit 1789, dem die Konsumtion unmöglich habe folgen können.⁹ Erst nach der Rück-

 So schrieb etwa Aders 1819 rückblickend über die bewegte Epoche nach der Französischen Revolution: „Bis zum Beginn dieser großen Staatsumwälzung ging es mit den Fabriken in unseren Rheinischen Provinzen, wie alles was Bestand haben soll, allmählich vorwärts und der Fabrikherr, wie der Fabrikant [Arbeiter, R. B.] befanden sich wohl dabei […] Die Französische Revolution änderte den Zustand der Dinge. Ganz Frankreich bewaffnete sich. Die Fabriken dieses großen Reiches standen meist still und 25 Millionen Menschen […] mußten für mehrere Jahre mit mancherlei Manufakturwaren versehen werden. Es fehlte daher den deutschen Fabrikanten nicht an Absatz, sondern meist immer an Waren. Die bestehenden vergrößerten ihre Geschäfte bedeutend und es wurden fortwährend immer neue errichtet. England führte uns dabei seine Gespinste zu und die Fabriken nahmen nun einen noch rascheren Aufschwung.“ Aders in: F. Benzenberg: Über Handel und Gewerbe, Steuern und Zölle. Elberfeld 1819, S. 35 f. Diese Ausführungen bestätigen einmal mehr das auf die Untersuchungen von M. Kutz gestützte Plädoyer H.-U. Wehlers, das Vierteljahrhundert zwischen 1789 und 1814 als Phase beschleunigten wirtschaftlichen Wachstums zu begreifen. Trotz kriegs- u. blockadebedingter Schwierigkeiten, die Zeitgenossen wie Aders beschrieben und die auch Wehler betont, waren die deutschen Staaten – im Gegensatz zu älteren Interpretationen – die „Kriegsgewinnler“ der Epoche.Vgl. H.-U. Wehler:Wirtschaftlicher Wandel in Deutschland 1789 – 1815. In: H. Berding u. a. (Hrsg.): Deutschland und Frankreich im Zeitalter der

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kehr „normaler Zeiten“ seit Kriegsende, die auch die in England entstandenen Überkapazitäten fühlbar machten, sei diese Auseinanderentwicklung von Produktion und Konsumtion offensichtlich geworden. Auf die Situation der deutschen Gewerbe bezogen, schrieb Aders 1818 im „Anzeiger“: „Die Baumwollfabriken und fast möchte ich dieses von den Fabriken im allgemeinen behaupten, haben sich in den letzten 25 Jahren zu sehr vermehrt und es wird mehr Ware gemacht, als der Verschleiß wegnehmen kann.“¹⁰ Den entscheidenden Hebel zum Ausgleich des seiner Analyse nach gestörten Verhältnisses von „Bedürfnis und Produktion“ sah Aders – um es modern auszudrücken – in einer notwendigen „Reinigungskrise“. „Was dabei nicht erhalten werden kann mag untergehen, ich kann kein Unglück für Deutschland darin finden.“¹¹ Zeitgleich hatte die sog. Ultramontanus-Debatte im „Hermann“ 1818 unmißverständlich klargemacht, daß die Freihandelspartei um Aders bereit war, ihr propagiertes Krisenlösungskonzept auch um den Preis des Untergangs einzelner Gewerbezweige der Rheinprovinz durchzuhalten.¹² Sogar eine partielle Reinvestition gewerblichen Kapitals in die – in jenen Jahren überaus gewinnbringende – Landwirtschaft wurde von einigen „Freihändlern“ empfohlen. Das von zeitgenössischen deutschen Staatswissenschaftlern, v. a. von Johann Friedrich Lotz (1771– 1838)¹³ und Adam Müller (1779 – 1829), einflußreich vertretene Theorem eines „ausgeglichenen Verhältnisses von Handel, Industrie und Ackerbau“ hatte zahlreiche Anhänger in der rheinischen Kaufmannschaft. Einige Großkaufleute gerierten sich nachgerade als Wächter dieses

Französischen Revolution. Frankfurt 1989, S. 100 – 120. Vgl. auch M. Kutz: Die Entwicklung des Außenhandels Mitteleuropas 1789 – 1815. In: Geschichte und Gesellschaft (1980), S. 538 – 558.  Aders in: Benzenberg: Handel (wie Anm. 10), S. 43.  RWA 1820, S. 1849.  Vgl. „Hermann“ 1818, S. 594 ff.  Lotz war Hofadvokat in Sachsen-Hildburghausen, später Geheimer Konferenzrat und Mitglied des Bundesschiedsgerichts in Frankfurt. Die Geschichte des aus der Adam Smithschen Lehre entlehnten, in Deutschland ein spezifisches ideologisches Eigenleben entfaltenden Theorems vom „ausgeglichenen Verhältnis“ ist noch weitgehend unerforscht. Lotz oder Müller waren mithin nicht die „Erfinder“, aber doch die bekanntesten Propagandisten dieser Formel, die bei beiden eine klare Stoßrichtung gegen eine Begünstigung der gewerblichen Produktion, mithin für einen Primat der Agrarinteressen gewann.Vgl. J. F. E. Lotz: Über den Begriff der Polizei und den Umfang der Staatspolizeigewalt. Hildburghausen 1807; sowie Ders.: Handbuch der Staatswirtschaftslehre. 2 Bde. Erlangen 1822. Zu Lotz s. a. R. Koch: „Industriesystem“ oder „bürgerliche Gesellschaft“. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (1978), S. 605 – 628, vor allem S. 624 f. Zu dem heute weitaus bekannteren, romantischen Staatswirtschaftler und Metternich-Intimus Müller vgl. v. a. Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 3. Berlin 1809, S. 7 f., 12 ff. Zur Smith-Rezeption und zur Entwicklung einer eigenständigen Nationalökonomie seit 1780 neuerdings: K. Tribe: Governing Economy. Cambridge 1988.

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„ausgeglichenen Verhältnisses“, das sie in Teilen der Rheinprovinz bereits verwirklicht, aber durch das starke Anwachsen der Gewerbe in den vergangenen Jahren wieder gefährdet sahen. Das wirtschaftspolitische Rezept Aders’ zur Lösung der Krise der gewerblichen Produktion im Nachkriegseuropa beschränkte sich aber nicht darauf, den für notwendig erachteten Abbau von Überkapazitäten in einzelnen Produktionszweigen zu propagieren. Schon seit 1816 warb Aders für eine Exportoffensive der rheinischen Gewerbe nach Übersee. Eine verstärkte Warenausfuhr v. a. nach Lateinamerika sollte die Folgen der „Reinigungskrise“ abmildern und eine weitere Radikalisierung der zollpolitischen Forderungen der Fabrikanten verhindern. Indem die Großkaufleute durch Erschließung überseeischer Märkte dem Gewerbe den Weg aus der Krise wiesen, hoffte Aders außerdem, die alte Führungsrolle des Handels über die in den letzten Jahrzehnten erstarkten Gewerbe behaupten zu können. Aders und seine Mitstreiter gingen realistisch davon aus, daß sie in den anvisierten überseeischen Absatzgebieten auf scharfe englische Konkurrenz stoßen würden. Sie hofften aber durch die Ausschaltung des traditionellen Speditionsund Zwischenhandels in den deutschen und holländischen Hafenstädten die Konkurrenzvorteile der englischen Handelshäuser, die zumeist direkt exportierten, minimieren zu können. Die Export- und Verleger-Kaufleute des Binnenlandes sollten sich emanzipieren. Aders schwebte eine „Rheinische Hanse“ vor, die v. a. den Interessen der exportierenden Gewerbe verpflichtet sein, aber auch den Reimport von Kolonialwaren organisieren sollte. Damit sollten auch die Vorteile der englischen Konkurrenten auf das reduziert werden, was Aders als einzigen Vorsprung Englands gegenüber den rheinischen Gewerben gelten lassen wollte: die „ausgedehnten Spinnereien“ und der „vollkommenere Mechanismus der Maschinen und Fabrikgerätschaften“.¹⁴ Er war aber durchaus optimistisch, daß dieser Vorsprung bald aufgeholt werden könne.¹⁵

 RWA 1820, S. 946.  Aders’ Selbstbewußtsein gegenüber der englischen Konkurrenz war durchaus typisch für die rheinische Großkaufmannschaft jener Epoche. 1814 hatte etwa der bedeutende Remscheider Exportkaufmann Johann Gottlieb Diederichs (1771– 1831) in einer Denkschrift an die neue preußische Administration formuliert: „Englands allgewaltige Industrie hat an der deutschen und vor allem an der bergischen einen furchtbaren Rival […] Ein mächtiger Regent oder Deutschlands Regenten vereinigt dürfen ihn nur hegen und pflegen […], alsdann wird man erst diesen Koloß in seiner Kraft und Wirkung anstaunen.“ Vgl. H. Wilms: Eine Denkschrift von Johann Gottlieb Diederichs, Remscheid, über die Stahl- u. Eisenfabriken des Herzogtums Berg. In: Heimatkundliche Hefte des Stadtarchivs Remscheid (1958) S. 37– 52, hier S. 37.

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Aders setzte v. a. auf einen zentralen ökonomischen Vorteil des Rheinlands: „Der Arbeitslohn ist in unseren Provinzen bedeutend wohlfeiler als in England und hierin liegt eine natürliche Begünstigung für unsere Fabriken, die mehr wert ist, als alles Zuhilfekommen der Regierung. Welchen Vorsprung die englischen Fabriken auch durch ihre vollkommenen Maschinen noch haben, so wird dieser sie nicht auf lange Jahre schützen und zuverlässig werden unsere Fabrikanten in diesem Kampfe siegen.“¹⁶ Die Großkaufleute um Aders zeichneten sich durch ein pragmatisches Verhältnis zum Einsatz von Maschinen in der Produktion aus. Diese Einstellung korrespondierte mit dem abstrakten und bewußt kühlen Standpunkt zu den durch „notwendige“ internationale Anpassungsprozesse entstehenden Folgekosten für Einzelkapitale und Arbeiter. Aders z. B. sah die von ihm konstatierte „Überproduktionskrise“ durch den verstärkten Einsatz von Maschinen mitverursacht,wie er auch die typischen Argumente der Kritiker von Maschinen – Vernichtung herkömmlicher und Verringerung allgemeiner Arbeitsmöglichkeiten – nicht grundsätzlich zurückwies. Beide Folgewirkungen schienen ihm aber unausweichlich und langfristig gesellschaftlich kompensierbar zu sein. Je mehr man daher im Rheinland, so Aders, die partielle Einführung von Maschinen nach englischem Vorbild beschleunigen würde, um so eher würde man auch das Ende dieses schmerzhaften Umstrukturierungsprozesses erreichen. Verschiedene Aussagen deuten darauf hin, daß Aders dann eine neue Phase relativer gesellschaftlicher Stagnation und eines erneuten „Equilibriums“ zwischen Produktion und Konsumtion anbrechen sah. Auch an Aders’ Englandbild wird deutlich, daß er an immanente Grenzen der Industrieentwicklung glaubte. England sollte der Rheinprovinz nur bis zu einem gewissen Grad als Vorbild dienen. Aders hielt bereits 1820 das Inselreich für extrem krisenanfällig und „überindustrialisiert“.¹⁷ Die anhaltende ökonomische Depression auch in England und die Arbeiterunruhen der vergangenen Jahre schienen ihm Beweis genug, daß dort „Treibhausindustrien“ entstanden waren, die einer verschärften Konkurrenz unter Friedensbedingungen nicht standhalten würden. Diese Industrien hätten – jetzt überflüssig gewordene – Menschenmassen angelockt und erzeugt, die bindungslos und ohne Arbeit die gesellschaftliche Ordnung gefährden würden. Aders hatte außerdem anscheinend eine statische Vorstellung von der gesellschaftlichen Konsumfähigkeit für industrielle Waren. Seine weitgehende Skepsis gegenüber der Entwicklungsfähigkeit eines Binnenmarktes, seine Fixie-

 RWA 1819, S. 1265.  RWA 1820, S. 500 f., 1849.

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rung auf „jungfräuliche“ Verbraucher in außereuropäischen Ländern sind Indizien dafür. Ein durch die Erzeugung immer neuer Bedürfnisse sich selbst tragendes, kontinuierliches industrielles Wachstum, das notwendigerweise zu immer neuen Disharmonien zwischen Produktion und Verbrauch führen mußte, schien den rheinischen Großkaufleuten auch nicht erstrebenswert. Sie hatten die Hoffnung, daß die durchlebte Krise ein einmaliges Ereignis war – bedingt durch die außergewöhnlichen politischen Ereignisse seit 1789. Sie glaubten, daß es in der Macht der gesellschaftlichen Akteure stände, durch „richtige nationalökonomische Prinzipien“ sowie durch „sittliche Mäßigung“ ein krisenhaftes Ungleichgewicht als gesellschaftlichen Dauerzustand verhindern zu können. „Wahrscheinlich kommt erst dann eine bessere Zeit“, schrieb Aders 1818, „wenn allgemeiner auf eine Beschränkung der erkünstelten Bedürfnisse gedacht wird und wir uns der Weise unserer Väter wieder nähern, von der wir uns seit 25 Jahren zu weit entfernt haben“.¹⁸ Sogar der pragmatisch denkende, auf die schnelle Mechanisierung einzelner Industriezweige setzende Aders hatte mithin noch die – zwar gewerblich entwickelte, aber doch statische Züge tragende – „bürgerliche Gesellschaft“ im Herzogtum Berg der Mitte des 18. Jahrhunderts vor Augen. Seine wirtschaftspolitischen Initiativen waren – trotz aller Bereitschaft zu einer partiellen Industrieentwicklung – anscheinend auch von dem Ziel geprägt, die Grundlagen dieser älteren, sozial weitgehend spannungsfrei gedachten „bürgerlichen Gesellschaft“ der einfachen Bedürfnisse nicht vollends und unwiederbringlich zu zerstören. Gerade mit den Mitteln der freien Konkurrenz und des Freihandels meinte Aders eine einseitige Begünstigung der industriellen Entwicklung, die Schaffung von „Treibhausindustrien“ und von nicht mehr in diese „bürgerliche Ordnung“ integrierbaren Arbeitermassen verhindern zu können. Aders und die von ihm repräsentierte Gruppierung stellten im Wirtschaftsbürgertum des Rheinlands eine Minderheit dar. Die zahlenmäßige Schwäche wurde aber teilweise durch Finanzkraft und Zielstrebigkeit wettgemacht. Als die übertriebenen Hoffnungen vieler Fabrikanten in die preußische Zollgesetzgebung und die baldige Schaffung eines deutschen Zollverbandes teilweise enttäuscht wurden, entwickelte die Idee einer Exportoffensive unter der Ägide einer „Rheinischen Hanse“ eine zunehmende, fast die ganze regionale Schicht der Wirtschaftsnotabeln erfassende Anziehungskraft. 1821 erfolgte die seit 1816 von Aders propagierte Gründung einer „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ in großem Stil: Mehr als fünfzig Kaufleute und Verleger, v. a. aus dem Bergischen Land und dem Gladbacher Raum, beteiligten sich mit einem Kapital von schließlich einer

 Ebd., S. 502.

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Million Talern – einer damals bemerkenswert hohen Summe – an der modern als Aktiengesellschaft strukturierten Exportkompagnie. In den ersten Jahren ihres Bestehens schien die „Kompagnie“ zu prosperieren. Die ersten Warenverkäufe auf Haiti brachten überdurchschnittlich hohe Gewinnspannen. Es wurden weitere Niederlassungen in Mexiko, auf Kuba, in Brasilien und Argentinien errichtet. Anfang 1825 mußte das Aktienkapital auf ein Limit von zwei Millionen Talern verdoppelt werden. Doch schon Ende 1825 machte sich die überaus begrenzte Aufnahmefähigkeit der lateinamerikanischen Märkte deutlich bemerkbar. Eine verschärfte englische Preiskonkurrenz als Spätfolge der großen englischen Überproduktionskrise von 1825 beschleunigte dann in den kommenden Jahren den ökonomischen Niedergang der „Kompagnie“. Dieser konnte ab 1828 nicht mehr kaschiert werden, der weitere Aktienverkauf stagnierte und 1832 mußte schließlich die Liquidation des Unternehmens unter hohen Verlusten für die Kapitalgeber eingeleitet werden. Das eklatante Scheitern dieses Projekts wurde von den Protagonisten der Orientierung nach Übersee und von den Direktoren und Kapitalgebern der „Kompagnie“ – ganz im Gegensatz zu ihrem Debattenverhalten in den Gründungsjahren – nie kritisch ausgewertet oder freimütig öffentlich erörtert. In ihren – meist banalen und affirmativen – Zeitungsbeiträgen und Rechenschaftsberichten, sogar in ihren Privatbriefen, fand sich kein Wort darüber, daß die „Kompagnie“ scheitern mußte, weil die Aufnahmefähigkeit der nichteuropäischen Märkte überschätzt und zugleich die herausgeforderte Weltmacht England unterschätzt worden war. Auch das ehrgeizige, fast abenteuerlich anmutende Ziel, den alteingesessenen Zwischenhandel in den großen europäischen Hafenstädten ausschalten zu wollen – mithin der rheinischen Großkaufmannschaft eine neue, gewichtige Rolle zukommen zu lassen, um den Primat des Handels über das Gewerbe auf lange Sicht zu sichern –, wurde nie als ein Grund des Scheiterns problematisiert.¹⁹ Die „Verarbeitung“ dieser bitteren Lektionen fand aber undiskutiert „im Stillen“ statt: Seit 1830, einem Zeitpunkt, zu dem der Niedergang der „Kompagnie“ völlig absehbar war,²⁰ brach sich – v. a. im Wuppertal – ein neues

 Auch die faktenreiche, informative Arbeit von H. J. Oehm: Die Rheinisch-Westindische Kompagnie. Neustadt 1968, geht auf die zentralen Gründe für das Scheitern der „Kompagnie“ nicht ein. Über weite Strecken bleibt sie dem Selbstbild von Direktion und Kapitalgebern verhaftet.  Um 1830 zeichnete sich bereits das Scheitern eines weiteren rheinischen „Überseeprojekts“ ab: Der „Deutsch-Amerikanische Bergwerksverein“, 1824 in großem Stil gegründet, um – in den Fußstapfen der ehemaligen spanischen Bergwerksverwaltung – in Mexiko eine organisierte „Schatzsuche“ nach Gold und Silber zu betreiben, erwies sich zunehmend als kostspieliges Phantasieprojekt. Er mußte schließlich 1838 mit einem erneuten Verlust von 1,5 Mill. Talern liquidiert werden. Am Beispiel dieses „Bergwerkvereins“ – er hatte jeglichen Nexus zur gewerb-

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Paradigma industrieller Entwicklung und handelspolitischer Orientierung Bahn, gerade bei jüngeren Kaufleuten, die noch unlängst ganz im Bann der Orientierung nach Übersee gestanden hatten.

3 Das Ziel der etablierten Verleger: „Begrenzte“ Industrialisierung durch Spezialisierung auf die weiterverarbeitenden Gewerbe. Den Gegenpol zu den „Freihändlern“ um Aders bildete eine Gruppe etablierter Fabrikanten, die in den 1820er Jahren am wirtschaftspolitischen Ziel eines zollgeschützten deutschen Binnenmarkts festhielt und der in großem Stil eingeleiteten Überseeorientierung entgegentrat. In den wirtschaftsbürgerlichen „Selbstverständigungsorganen“ wie auch im Provinziallandtag machte sich der Barmer Textilverleger Schuchard häufig zu ihrem Wortführer.²¹ Es war Schuchard, der auf den Landtagen von 1826 und 1828 erneut die deutsche Zolleinigung zum Thema machte. Es war v. a. Schuchard, der den Niedergang der „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre mit bitterer Ironie zu kommentieren pflegte. Zwar war auch er nicht grundsätzlich dagegen, neue Absatzmärkte für rheinische Gewerbeprodukte zu erschließen, er wehrte sich aber v. a. gegen die merkantile Selbstüberschätzung der Kaufmannschaft.²² Schuchard war freilich in seinen weitergehenden wirtschaftspolitischen Zielsetzungen nicht in vergleichbarer Weise repräsentativ für die große, in ihren materiellen Interessen und gesellschaftspolitischen Forderungen heterogene rheinische Fabrikantenschaft,²³ wie Aders das für die relativ kleine Gruppe der dezidiert „freihändlerischen“ Großkaufleute sein konnte. Er stand aber häufig im Schnittpunkt divergierender Interessen der Fabrikanten, so daß ihm sowohl in den

lichen Gütererzeugung im Rheinland verloren – werden die hier ins Maßlose gehende Selbstüberschätzung der Großkaufmannschaft sowie die teilweise noch „vorindustrielle“ Wirtschaftsmentalität besonders deutlich.  Zu Schuchard vgl. die Biographien von S. Köllmann. In: Wuppertaler Biographien. Wuppertal 1958, S. 73 – 78; und H. Höring. In: Rheinisch-Westfälische Biographien. Münster 1974, S. 1– 19.  Schuchard wandte sich gegen das seiner Meinung nach „abenteuerliche“ Prinzip der „Kompagnie“, den „reellen Zwischenhandel – das eigentliche Lebensprinzip des Welthandels“ – ausschalten zu wollen. Zit. nach RWA 1829, S. 1769.  Einerseits waren die ökonomischen Interessen der diversen Gewerbezweige teilweise unterschiedlich, andererseits gab es seit der Listschen „Handelsvereins“-Kampagne 1819 eine Strömung – u. a. repräsentiert vom jungen David Hansemann (1790 – 1864) –, die zwar Schuchards Zollschutzforderungen pragmatisch unterstützte, aber keine dezidiert gesellschaftspolitischen Ziele, wie die Verringerung der internen Konkurrenz der Fabrikanten untereinander und die soziale Konsolidierung der handwerklichen Großgewerbe, damit verband.

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1820er Jahren als auch in der Auseinandersetzung mit den Protagonisten einer umfassenden, „nationalen“ Industrialisierung in den frühen 1830er Jahren eine bedeutende gesellschaftliche Rolle zufiel. Bis weit in die 1830er Jahre hinein blieb Schuchard v. a. der wortgewaltigste Verfechter der ökonomischen Interessen der weiterverarbeitenden Gewerbe im Verlagssystem, wenn seine schärfer werdende Kritik an einem „entfesselten Industrialismus“ auch zunehmend weniger geteilt wurde.²⁴ Es ist daher über die Person von Schuchard hinaus aufschlußreich, seine in zahlreichen Artikeln und Parlamentsreden entworfene Vision von einem eigenständigen Weg der deutschen Gewerbeentwicklung knapp zu skizzieren. In seiner Zukunftsvorstellung sowie in seinem spezifischen Englandbild wird in Umrissen eine Gegenposition der Unternehmer der verarbeitenden Gewerbe zu den Zielperspektiven der Großkaufleute deutlich. In einem grundlegenden gesellschaftspolitischen Ziel stimmten Aders und Schuchard freilich überein: Beide wollten nur eine „begrenzte“ gewerblich-industrielle Entwicklung. Eine Industrialisierung nach englischem Muster erschien Großkaufleuten wie Verlegern als Gefährdung der „bürgerlichen Gesellschaft“, die aber selber nur selten Gegenstand der Debatte wurde und in ihrem Bedeutungsgehalt v. a. bei den Großkaufleuten überaus schillernd blieb. Im Kern ging die Auseinandersetzung mithin um den Weg, auf dem eine maßvolle Entwicklung der Produktion ohne Etablierung eines „Industriesystems“ erreichbar wäre. Im Gegensatz zu Aders glaubte Schuchard nicht, daß man den Vorsprung Englands in der mechanisierten Massenproduktion von Halbfertigwaren in absehbarer Zeit aufholen könne. Er vertrat dezidiert die Position, daß sich in England seit vielen Jahrzehnten ein auf seine Art einzigartiges Fabriksystem herausgebildet habe, dessen Existenz auf eine einmalige historische Konstellation und spezifische soziale Grundlagen zurückzuführen sei, die vom kontinentalen Europa nicht einfach imitiert werden könnten. So erlaube etwa eine seit langer Zeit stattfindende gesellschaftliche Kapitalbildung, daß das im Überfluß vorhandene Kapital auch für prekäre Unternehmungen mit nur mäßigen Gewinnaussichten – wie etwa Baumwollspinnereien – zur Verfügung gestellt würde. Darin sah Schuchard das eigentliche Geheimnis der Überlegenheit Englands in einigen kapitalintensiven,

 Das gängige Bild von Schuchard als einem menschenfreundlichen, aber doch kauzigen, gesellschaftlich isolierten Einzelgänger – in Zusammenhang mit seinem Engagement gegen die Kinderarbeit seit 1836 entstanden – ist mithin bis zur Mitte der 1830er Jahre unzutreffend. Auf dem Höhepunkt seines Einflusses war Schuchard der unangefochtene Vertreter seiner Heimatstadt Barmen in der – gemeinsam mit Elberfeld gebildeten – Wuppertaler Handelskammer wie auch im Provinziallandtag, für den er bis 1843 stets neu bestätigt wurde.

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mechanisierten Gewerbezweigen.²⁵ Da Schuchard aber völlig davon überzeugt war, daß jede „Fabrikation mit Maschinen im Großen […] unweigerlich zur Überproduktion“²⁶ führen mußte, glaubte er, daß allein Englands Usurpation des gesamten Welthandels während der letzten Jahrzehnte und die hegemoniale Macht seiner Flotte die sich beständig wiederholenden Überproduktionskrisen dieser Industriezweige verhindert oder abgemildert hätten. Aufgrund dieser Spezifika hielt er England noch nicht einmal – wie von Aders propagiert – für ein partielles Vorbild der Warenproduktion. Weder sah Schuchard im Rheinland Kapitalien in einem solchen Überfluß, noch eine reale handelspolitische Chance – er verwies auf den Niedergang der „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ –, sich einen ausreichend großen Anteil am Welthandel zu erobern, der die voraussehbaren Krisen erträglich gestalten würde.²⁷ England sollten jene Industrien der spezialisierten Massenproduktion von Halbfertigwaren getrost überlassen werden. Deutschland dagegen sollte sich auf die Fortentwicklung der arbeitsintensiven, aber weniger Kapital erfordernden verarbeitenden Gewerbe konzentrieren. Die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen dieses eigenständigen Entwicklungswegs war für Schuchard aber ein durch Retorsionszölle geschützter, großer deutscher Binnenmarkt. Nur zur Weiterverarbeitung bestimmte Halbfertigwaren und Rohstoffe sollten von möglichen „Kampfzoll“-Maßnahmen ausgeschlossen sein. Noch 1835, ein Jahr nach Gründung des Zollvereins, hoffte Schuchard, daß dieser den von England ausgehenden Imitationsdruck vermindern und den Rahmen für eine kalkulierbare, „gemächliche“ Gewerbeentwicklung bilden könne: „Deutschlands Wohlstand wird, ohne England in allen seinen großartigen, kostbaren Unternehmungen zu folgen, immer allgemeiner verbreitet werden durch den ruhigen, ungestörten Verkehr von 25 Millionen Bewohnern, deren Betriebsamkeit verhältnismäßig verteilt ist, bei Ackerbau, Handel, Gewerbe und Fabriken.“²⁸ Wie Aders strebte auch Schuchard das Ideal eines „ausgeglichenen Verhältnisses“ an. Obwohl Schuchard sich seit seiner Tätigkeit für den List‘schen „Handelsverein“ in den Jahren 1820/21 stets als Interessenvertreter der handwerklichen Großgewerbe und kleinen Fabriken gerierte, sollten diese doch kein Übergewicht in der Gesellschaft erlangen. Während für Aders die gewerbliche Produktion noch per se – völlig unabhängig vom Einsatz von Maschinen und der jeweiligen Lohnhöhe – eine die

   

Vgl. RWA 1832, S. 112 f. RWA 1837, S. 391. RWA 1835, S. 1365 f., 1387 f. Ebd., S. 1385.

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„bürgerliche Ordnung“²⁹ stabilisierende, wohltätige Wirkung entfaltete, solange sie nur ein bestimmtes Maß in der Gesamtgesellschaft nicht überstieg, wurde für Schuchard die gewerbliche Produktion selber zum Problem der „bürgerlichen Gesellschaft“, auch wenn sie sich im Rahmen eines „ausgeglichenen Verhältnisses“ hielt. 1835 resümierte er die gewerbliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte: „Vormals brachten Fabriken [zeitgen. Ausdruck für Großgewerbe, R. B.] im allgemeinen Wohlstand und Segen über ein Land […]; sie waren Beförderungsmittel der Zivilisation. Es ist nicht mehr so, seitdem die Kräfte der Arbeiter für geringen Lohn in Anspruch genommen werden.“³⁰ Schuchard hoffte, durch einen eigenständigen Entwicklungsweg in einem zollvereinten Deutschland die handwerklichen Großgewerbe und kleinen Fabriken auch sozial konsolidieren zu können, mithin der Armut in den Gewerberegionen – der Pauperismus der ländlichen Überschußbevölkerung lag außerhalb seines Gesichtskreises – entgegenzuwirken. Das sollte einerseits durch eine strukturkonservierende Gewerbepolitik geschehen, die v. a. gegen die Entwicklung einer fabrikmäßigen Massenproduktion gerichtet sein sollte. Andererseits sollte der Staat die durch verminderten Konkurrenzdruck zu erwartenden Lohnerhöhungen in einem zollgeschützten Binnenmarkt rechtlich absichern, um auf lange Sicht ein erhöhtes Lohnniveau zu gewährleisten. Anscheinend inspiriert von dem Schweizer Nationalökonomen Sismonde de Sismondi (1773 – 1842)³¹ sah Schuchard in einer Wirtschaftspolitik der Verhinderung einer Kapitalakkumulation in den Händen weniger, bei gleichzeitiger Hebung des Lohnniveaus der gewerblich arbeitenden Massen, die einzige Chance, einer permanenten Überproduktionskrise zu entrinnen. Im Gegensatz zu Aders begriff Schuchard die von beiden konstatierte gewerbliche Überproduktion nicht mehr als Spätfolge einer historisch einzigartigen Periode gesellschaftlicher Umwälzung nach 1789, sondern als Resultat einer beständigen, immanenten Tendenz der von sozialen Bindungen befreiten Produktion, der man nur durch legislative Maßnahmen entgegenarbeiten könne. Die Hebung des Lohnniveaus war Schuchard nicht nur ökonomisches Ziel, um eine permanente Überproduktionskrise zu verhindern, sondern auch ein zentrales

 Vgl. Aders’ Ausführungen zu städtischer Armut, gewerblicher Arbeit und „bürgerlicher Ordnung“ bei O. Schell: Kurze Geschichte des Elberfelder Armenwesens. Elberfeld 1903, S. 64 ff.  RWA 1835, S. 1387.  S. de Sismondi: Nouveaux Principes d’Économie Politique. Genf 1819, dürfte Schuchard, der häufig Geschäftsreisen in die Schweiz unternahm, bekannt gewesen sein. Schuchard folgte – ohne darauf hinzuweisen – nicht nur in seiner Krisentheorie, sondern auch in seiner Kritik an der klassischen Werttheorie, die nur die Förderung der Produktion um der Produktion willen, nicht aber die menschliche Wohlfahrt berücksichtige, den zentralen und am stärksten in der bürgerlichen Öffentlichkeit rezipierten Überlegungen Sismondis’.

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gesellschaftspolitisches Anliegen. „Die Länder sind nur glücklich zu preisen, worin auch der Mittelstand und die unteren Klassen des Volkes in einem Zustand von Behaglichkeit und Zufriedenheit leben“,³² schrieb Schuchard 1835 in einem programmatischen Artikel im „Anzeiger“. Diesen „Zustand von Behaglichkeit und Zufriedenheit“ hatte es für Schuchard – wie auch für Aders – in einer in die Vergangenheit projizierten, idealen „Bürgergesellschaft“ schon einmal gegeben. Diese Gesellschaft hatte als lokale Lebenswelt in den rechtsrheinischen Gewerberegionen ihrer Jugendzeit, vor den „großen Umwälzungen“ – die beide freilich völlig anders datierten und begründeten³³ – angeblich existiert. Es war beider Ziel, diese Lebensform nach „der Weise unserer Väter“ (Aders) wiederherzustellen. Allein der Fabrikant Schuchard gab diesem Streben auch einen sozialen Gehalt. Schuchards gesellschaftspolitische Ziele könnte man als eine rheinische Variante jener „klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen“ bezeichnen, deren südwestdeutsche Protagonisten von Lothar Gall im Umkreis des liberalen „Staatslexikons“ und in den liberalen Fraktionen des badischen und des württembergischen Landtags ausgemacht wurden.³⁴ Wie diese, den südwestdeutschen Liberalismus bis in die frühen 1840er Jahre prägenden Professoren, Juristen und Beamte fürchtete auch ein Teil der etablierten Verleger der verarbeitenden Gewerbe des Rheinlands, daß die entfesselte Konkurrenzwirtschaft, die „Fabrikation mit Maschinen im Großen“ – die Aders bis zu einem gewissen Punkt bereitwillig fördern wollte –, das Ziel einer stabilen „bürgerlichen Gesellschaft“ ohne extreme Besitzunterschiede unmöglich machen könnte. Von ihrem politischen Credo her waren aber Schuchard wie auch die Verfasser ähnlich argumentierender Beiträge im „Anzeiger“ – etwa der Burtscheider Fabrikant Johannes vom Bruck oder der leitende Redakteur des „Anzeigers“ Heinrich Schulz – keine Liberalen.³⁵ Im Rheinland war

 RWA 1835, S. 1387.  Für Schuchard waren nicht so sehr die politischen und gewerblichen Veränderungen im Gefolge der Französischen Revolution der Grund für die Zerrüttung jener älteren „bürgerlichen Ordnung“, sondern vielmehr ein grundlegender Wandel der Wirtschaftsmentalität in den 1820er Jahren. Vgl. etwa RWA 1833, S. 618 f.  L. Gall: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324– 356.  Nach einem Verbot des „Rheinisch-Westfälischen Anzeigers“ in den ersten sechs Monaten 1818 gingen Redaktion und Herausgeberschaft auf Hermann Schulz, Teilhaber einer Buchdruckerei in Hamm, über. Schulz war entschieden regierungsloyal und auch im wirtschafts- und sozialpolitischen Denken konservativer als der Aders-Freund Mallinckrodt. Es gelang Schulz aber, den „Anzeiger“ als „pluralistisches Debattenorgan fortzuführen und die „freihändlerisch“-wirtschaftsliberale Gruppierung um Aders an der Gestaltung des Blatts zu beteiligen. Vom Bruck war Inhaber eines großen Verlagshauses für Wollweberei in Burtscheid bei Aachen. Vgl. v. a. seine Artikelserien im RWA 1837, S. 434 ff. und 1839, S. 337 ff.

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das Räsonnieren über eine „klassenlose Bürgergesellschaft“ – sie wurde, den schärfer ausgeprägten sozialen Unterschieden in den dortigen Gewerbedistrikten entsprechend, freilich auch sozial ungleicher gedacht als in den Artikeln des „Staatslexikons“³⁶ – in den 1830er Jahren eher die Domäne des konservativ-regierungsloyalen Teils v. a. der rechtsrheinischen Fabrikantenschaft.³⁷

4 Ein neues Paradigma entsteht: Die nationale „Gesamtindustrie“ als Ziel beschleunigter Industrialisierung. In der Konfrontation der etablierten Verleger um Schuchard als frühen Befürwortern eines zollgeschützten deutschen Binnenmarktes mit der um 1830 neu entstehenden Gruppe der Verfechter einer „umfassenden“, nationalen Industrialisierung trat im Rheinland der immanente Bedeutungswandel der Forderung nach Zollschutz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr zeitig und offen zutage. Dieser Bedeutungswandel und die Veränderung der Paradigmen zukünftiger gewerblich-industrieller Entwicklung, die sich in den Zolldebatten widerspiegelte, sind von der bisherigen historischen Forschung kaum zur Kenntnis genommen worden. Der Zollschutz durch Retorsions-, d. h. „Kampfzoll“-Maßnahmen, den sich die Fabrikanten und Verleger der nachnapoleonischen Epoche ersehnten, war wirtschaftspolitisch defensiv und zielte ausschließlich auf den Erhalt oder den langsamen Ausbau bestehender Gewerbe. Die neuen Schutzzollforderungen seit 1830 waren aber als ökonomischer Anreiz zur Schaffung neuer oder zur beschleunigten Expansion bestehender Gewerbezweige gedacht.

 Schuchard traf eine feine Unterscheidung zwischen „Mittelstand“ und „unteren Klassen des Volkes“. Beide sollten ökonomisch auf Kosten des „großen Kapitals“ gefördert werden. Wirtschaftliche Selbständigkeit der ausgedehnten unteren Klassen im Rheinland – im Sinne des Besitzes von Produktionsmitteln – war für ihn aber kein unbedingtes Ziel mehr, wenn er auch die – prekäre – „Selbständigkeit“ der Heimweber der Wuppertaler Region idealisierte. Er trat v. a., in einem ständischen Gesellschaftsverständnis, für eine Art Rechtsanspruch der gewerblichen Produzenten auf menschenwürdigen Lohn und soziale Absicherung ein.  Der politischen Forderung nach allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten, die in den 1830er Jahren von liberalen Kaufleuten und Unternehmern wie Merkens oder Hansemann erhoben wurde, standen die in den Kategorien einer ständischen „Sozialverpflichtung“ denkenden Verleger fremd gegenüber. Ein nicht allzu „exklusives“, breite Bevölkerungsschichten erfassendes Wahlrecht, wie es vom südwestdeutschen Liberalismus angestrebt wurde, lag – das galt freilich auch für die politisch liberalen Großkaufleute – völlig außerhalb ihres Denkhorizonts. Trotz dieser Einschränkungen scheint jenes Ideal einer „klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen“. doch politisch polyvalenter gewesen zu sein, als es Gall – er stilisiert es zum eigentlichen Konstituens des deutschen Liberalismus im Vormärz – annimmt.

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Das vorrangige Ziel war der forcierte Aufbau einer nationalen „Gesamtindustrie“, die auf allen Produktionsstufen – v. a. in der bisher vernachlässigten mechanisierten Massenproduktion von Stapelwaren – völlige Selbständigkeit erlangen sollte. Industrialisierung wurde hier erstmalig als zusammenhängender Prozeß, als ein Ineinandergreifen von „Kettengliedern“ begriffen. Die Protagonisten des neuen Industrialisierungsparadigmas begannen in den Kategorien eines „Industriesystems“ zu denken. Die Frage der sozialen Verträglichkeit eines solchen „Industriesystems“ mit dem Ideal einer „bürgerlichen Gesellschaft“, die noch Aders wie Schuchard umtrieb, trat immer stärker in den Hintergrund, wenn sie in der Folgezeit auch nicht völlig verdrängt werden konnte. Dagegen wurde von den Verfechtern einer umfassenden „Gesamtindustrie“ ein neuer gesellschaftlicher Begründungszusammenhang in die Debatte eingeführt: Durch die mechanisierte Produktion von Halbfertigwaren – v. a. Baumwollgarnen – im Rheinland statt in England sollte Arbeit und Brot für die „jährlich zunehmende Bevölkerung aus den niederen Ständen“³⁸ geschaffen werden. Die forcierte Industrialisierung wurde mithin von Anfang an als entscheidender Beitrag zur Eindämmung des Pauperismus begründet, der erst im Revolutionsjahr 1830, als seine politische Brisanz offenbar wurde, von breiten wirtschaftsbürgerlichen Kreisen als städtisches Massenphänomen wahrgenommen wurde. Auch das anhaltend hohe Bevölkerungswachstum sowie die langsam in die Städte abwandernde ländliche Überschußbevölkerung wurden erst in den Jahren nach 1830 von Teilen des rheinischen Wirtschaftsbürgertums überhaupt als gesellschaftliche Herausforderung begriffen. Dieses zunehmende Problembewußtsein begünstigte mittelfristig die Durchsetzung des neuen Industrialisierungsparadigmas. Der Konflikt der Schutzzollbefürworter mit den Protagonisten der verarbeitenden Textilgewerbe im Verlagssystem kam an der Jahreswende 1831/32 voll zum Ausbruch. Ermutigt durch eine technische Zollanpassung der besonders niedrigen Garnimportzölle der Rheinprovinz an die östlichen Provinzen Preußens – sie verdoppelten sich von einem auf zwei Taler pro Zentner –, forderten die Baum-

 Jahresbericht der Handelskammer Wuppertal 1830. In: D. Schweitzer/J. Jordan: Wirtschaftliche Selbstverwaltung in Aktion. Wuppertal 1980, S. 245. In diesem Bericht wurde erstmals jene – vereinfachende und daher überaus angreifbare – Argumentation voll entwickelt, die bis zum Ende der 1840er Jahre bis zum Überdruß stets wiederholt wurde: „In den Rheinprovinzen wird jährlich ein Quantum von 6 Millionen Pfund englischer Garne eingeführt […] Die 6 Millionen Pfund Garn haben einen Wert von 3 bis 4 Millionen Talern. Welch ein Gewinn, welch ein Glück für den Staat, wenn diese […] der dürftigen Klasse zufließen […] deren Unterhalt jetzt leider teilweise den Armenanstalten obliegt, und dabei ist nicht unberücksichtigt zu lassen, daß die Erbauung der Maschinen im Inland demselben auch dieses Kapital erhält.“

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wollspinner mit Unterstützung einiger führender Kaufleute und Bankiers der Wuppertaler Handelskammer³⁹ eine drastische Erhöhung auf fünf Taler. Im Gegenzug zu dieser prominent unterstützten Forderung nach einer drastischen Anhebung der Baumwollgarnzölle richteten sechzig große Textilverleger aus Barmen und Elberfeld eine Petition an das Finanzministerium, in der offensiv – begründet mit der gefährdeten Konkurrenzfähigkeit durch die Verteuerung des vorwiegend aus England bezogenen Ausgangsprodukts für ihre handgewebten Waren – die Reduzierung des Zolls auf den alten Betrag von einem Taler verlangt wurde. In der zeitgleich beginnenden Debatte im „Hermann“ und im „Anzeiger“ wurde aber immer deutlicher, daß es nur teilweise um ein Aufeinanderprallen unterschiedlicher materieller Interessen ging. Zunehmend wurde sie zu einer Kontroverse über unterschiedliche ökonomische und soziale Zukunftserwartungen. Die Baumwollspinnereien wurden dabei zu einem Symbol für die fabrikmäßige Massenfertigung. Die beschleunigte Ausdehnung und technische Verbesserung der Baumwollspinnereien wurde freilich auch nicht mehr als eine isolierte Maßnahme gefordert, sondern als ein Einstieg in die Mechanisierung der gesamten Textilherstellung. Die Wuppertaler Textilverleger, flankiert von linksrheinischen Baumwollwebern unter Führung Wilhelm Peltzers, pochten erst einmal auf die ungleich höhere gesellschaftliche Bedeutung ihrer nach zehntausenden von Heimwebern zählenden, flexibel spezialisierten Gewerbe, die sie durch mögliche Zollexperimente gefährdet sahen. Nicht wenige stützten aber auch Schuchards scharfe Kritik an dem neuen Industrialisierungsverständnis der „Schutzzöllner“.⁴⁰ Es war ein  V. a. der gerade gewählte Präsident der Kammer und wahrscheinlich reichste Mann des Wuppertals, der Finanzier Heinrich Kamp (1786 – 1853), schlug sich auf die Seite der Baumwollspinner. Er hatte noch unlängst zu den Promotoren der Überseeorientierung des rheinischen Kaufmannskapitals gehört und war der Hauptkapitalgeber des abenteuerlichen „Bergwerkvereins“ (siehe Anm. 20). Zur selben Zeit setzte sich der mit Kamp geschäftlich liierte Friedrich Harkort (1793 – 1880) – auch er hatte lange Zeit im Bann der Adersschen Überseeorientierung gestanden – nun entschlossen für jene neue Entwicklungsrichtung der Industrie ein, für deren Propagierung ihm die rheinisch-westfälische Unternehmerforschung ein Denkmal setzte: die forcierte Erschließung der heimischen Steinkohlevorkommen durch Entfesselung des noch staatlich dirigierten Bergbaus sowie die Modernisierung der Stahlerzeugung und Eisenverarbeitung nach englischem Vorbild. Harkort stand dem einseitigen Industrialisierungsverständnis der Spinnereibesitzer anfangs skeptisch gegenüber: „Einen Hauptpunkt übersehen die eifrigen Herrn, den, daß Steinkohlen zu teuer sind, um gegen England spinnen zu können“ („Hermann“ 1832, S. 276). Anfang der 1840er Jahre war der beschleunigte Ausbau eines nationalen, montanindustriellen Komplexes aber bereits zum integralen Bestandteil des neuen Industrialisierungsparadigmas geworden.  So protestierten „mehrere Barmer Fabrikanten“ in einem Beitrag im „Anzeiger“ gegen die angestrebte Aufkündigung der internationalen Arbeitsteilung und erinnerten an die Schuchard-

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Plädoyer im Schuchardschen Sinne, daß Peltzer im Namen der linksrheinischen Fabrikantenschaft der Handweberei für bunte und gemusterte Stoffe eine große Zukunft prophezeite, während er die breite Einführung mechanischer Webstühle – die zu jenem Zeitpunkt nur einfache Nesselstoffe verweben konnten – als ökonomischen und sozialen Rückschritt für die Rheinprovinz brandmarkte.⁴¹ Schuchard eröffnete derweilen im „Anzeiger“ ein neues Feld der Auseinandersetzung: Er sprach der auf Kinderarbeit und Niedrigstlöhnen basierenden Baumwollspinnerei schlichtweg ihre moralische Existenzberechtigung ab. Diese Radikalisierung seiner Kritik am „Industriesystem“ wurde freilich nur von wenigen geteilt. Obwohl die Verfechter von Schutzzoll und „Gesamtindustrie“ fast alle – zehn Jahre später zugkräftigen – sozialen und „nationalen“ Argumente ins Feld führten, stießen sie auf nur mäßigen Widerhall. Noch standen die Unternehmer der verarbeitenden Gewerbe weitgehend geschlossen gegen sie, aber auch ein Teil der älteren, an den „Prinzipien des Freihandels“ festhaltenden Großkaufleute. Der 1834 endlich Wirklichkeit gewordene Zollverein verringerte dann für einige Jahre die Auseinanderseztung um die unterschiedlichen Zielvorstellungen und materiellen Interessen innerhalb des rheinischen Wirtschaftsbürgertums. Beflügelt von einem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung in jenen Jahren, der zeitweilig den Existenzdruck auf die Baumwollspinnereibesitzer verminderte und die interne Konkurrenzsituation der verarbeitenden Gewerbe entspannte, konnte sich jede Gruppierung ihre eigenen Hoffnungen machen. Außerdem begannen die Aktiengesellschaften für den Eisenbahnbau, an denen sich sowohl Großkaufleute als auch Fabrikbesitzer und Verleger finanziell beteiligten, langsam als „Schmelztiegel“ der ökonomischen Interessen zu wirken. Auch die zunehmende Gewerbe- und Industriefinanzierung der aus der Großkaufmannschaft hervorgegangenen – v. a. Kölner – Bankiers schliff die scharfen Unterschiede zwischen mobilem Kapital und Gewerbe allmählich ab. Das seit 1834

sche Analyse, daß man „zum Schutz der kühnen, auf den Welthandel berechneten Anlagen“ „sichere Häfen“ und eine „imponierende Seemacht“ brauche. Sie weigerten sich, wegen der technisch veralteten Fabriken der Baumwollspinner, finanzielle Opfer zu erbringen; die technische Modernisierung wäre auch anders zu gewährleisten. Ironisch forderten sie die kapitalkräftigen Elberfelder Großkaufleute zur Gründung einer „vaterländischen Maschinenbauanstalt auf Aktien“ auf, die vermutlich „mehr Früchte tragen würde, als […] die Millionen Taler, die der RheinischWestindischen Kompagnie und dem Mexikanischen Bergwerksverein anvertraut wurden.“ (RWA 1832, S. 436).  Ebd., S. 1033. Vgl. auch: Resumé in Sachen der Baumwollspinnereibesitzer gegen die Manufakturisten. Hrsg. v. Verein der Baumwollfabrikanten des Kreises Gladbach. Krefeld 1832.

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in Köln erscheinende „Allgemeine Organ für Handel und Gewerbe“ trug gleichfalls zu einer Vereinheitlichung wirtschaftsbürgerlicher Zielvorstellungen bei.⁴²

5 Der Landtag von 1843 als Epochenscheide: Schutzzoll und forcierte Industrialisierung werden mehrheitsfähig Als die Wachstumsimpulse von Zollverein und Eisenbahnbau Ende der 1830er Jahre nachließen, brachen die alten Konflikte im Wirtschaftsbürgertum wieder auf, jetzt aber in einer drastisch veränderten Kräftekonstellation. Bis spätestens 1843 gelang es den „Schutzzöllnern“ und Verfechtern einer nationalen „Gesamtindustrie“, eine klare Mehrheit der führenden rheinischen Fabrikanten, Kaufleute und Bankiers hinter sich zu scharen.⁴³ Ihnen kam dabei die Strukturkrise zur Hilfe, in welche die technisch veralteten Hüttenwerke und das Leinengewerbe im Rheinland geraten waren, v. a. aber der stagnierende Absatz von großen Teilen der verarbeitenden Textilgewerbe, die nun selber auf eine allgemeine Schutzzollpolitik zu drängen begannen. Außerdem wurde der Wandel des Industrialisierungsverständnisses durch einen Generationswechsel befördert: Jüngere, um 1800 geborene Unternehmer wie August von der Heydt (1801– 1874) oder Hermann von Beckerath (1801– 1870) rückten in führende wirtschaftliche Positionen und wurden sukzessive in den Provinziallandtag gewählt. Auf dem 7. Rheinischen Provinziallandtag kamen schließlich die zunehmende Vereinheitlichung der materiellen Interessen und die Bereitschaft zu einer forcierten Industrialisierung, aber auch die dadurch gewachsenen Differenzen zu einem Staat, der im Zweifelsfall immer noch agrarischen Interessen den Vorrang bei seinen Entscheidungen gab, zum Ausdruck.

 Gründer und Herausgeber des „Allgemeinen Organs“ war der ehemalige Subdirektor der „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ Carl Christian Becher (1776 – 1836). Anfangs spiegelte das „Organ“ den innerbürgerlichen Kompromiß der ersten Jahre der Zollvereins-Ära wider. Unter seinem Sohn Alfred J. Becher entwickelte sich das in Wirtschaftskreisen weit verbreitete Blatt ab 1838 zu einem Forum der Befürworter eines gemäßigten Schutzzolls als Mittel gezielter Industrieentwicklung unter weitgehender Ausklammerung älterer, industrialisierungskritischer Positionen.  Daß die Protagonisten einer nationalen „Gesamtindustrie“ auch im Wirtschaftsbürgertum Preußens mehrheitsfähig geworden waren, indiziert die im „Allgemeinen Organ“ frenetisch bejubelte, programmatische Rede des Fabrikanten Karl Degenkolb (1796 – 1862) aus der preußischen Provinz Sachsen anläßlich der Eröffnung der Berliner Gewerbeausstellung vom 10.10.1844: „Lassen sie uns forthin alle Industriezweige als Zweige eines starken Baumes betrachten […] Alle für einen und einer für alle! sei unser Wahlspruch […] es gilt der Vereinigung der deutschen Gesamtindustrie!“

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Noch die Durchsicht der Protokolle dieses denkwürdigen Landtags vermittelt etwas von der rührenden Dramatik, den alten Schuchard und den alten „Freihändler“ Merkens nun gemeinsam in einer Front gegen die vorandrängenden Kräfte einer neuen, für sie nicht mehr verständlichen Zeit zu finden. Nicht nur in der Schutzzolldebatte, sondern auch bei der Erörterung des Antrags auf ein eigenständiges Ministerium für „Handel, Industrie und Ackerbau“ kam es zu heftigen Kontroversen. In zahlreichen Beiträgen schälte sich nämlich heraus, daß dieses Ministerium – im Gegensatz zu seiner traditionalen Aufgabenbezeichnung – allein auf die staatliche Absicherung einer forcierten Industrialisierung zugeschnitten sein sollte.⁴⁴ Schuchard erkannte sofort, daß mit der Verwirklichung eines solchen Ministeriums der Kampf um die Staatsräson in Preußen entbrennen würde: „Möge eine rheinische Ständeversammlung nichts dazu beitragen, daß – ich sehe leider das Übel herannahen – unsere Regierung genötigt wird, den Materialismus, wie in England als Staatsprinzip anzunehmen und von demselben beherrscht zu werden!“ Er warnte zugleich vor den sozialen Folgen einer unmäßigen Industrialisierung und perhorreszierte noch einmal die quasi vorprogrammierten „Überproduktionskrisen“.⁴⁵ Merkens bezeichnete gar das anvisierte umfassende „Fabriksystem“ als „ein Krebsübel“. Noch ganz in der Aders’schen Denktradition stehend, rief er zur Umkehr: „Solange der Ackerbau und Handel in einem Staate noch der Ausdehnung fähig sind, so ist es weit ersprießlicher, diesen alles Sorgen, aber ohne fiskalische Bevorzugung, zuzuwenden, als durch Schutzzölle künstliche Produktionen hervorzurufen, zum Nachteil der Kraft und Sittlichkeit des Volkes.“⁴⁶  Völlig unverblümt hatte bereits der offizielle Berichterstatter des Ausschußantrags v. d. Heydt den Führungsanspruch der Industrie herausgestrichen: „Die Industrie ist der mächtigste Hebel der Zivilisation und der Wohlfahrt des Landes; mit ihr steigt und fällt das Ansehen des Staates.“ Vgl. Verhandlungen des 7. Rheinischen Provinziallandtags. Koblenz 1843, S. 532. In der entscheidenden Woche der Landtagsverhandlungen sekundierte das „Allgemeine Organ“: „Keine menschliche Macht wird die Entfaltung der Industrie aufhalten, kein Staat kann es, denn dieses Beginnen wäre schlimmer als die Folgen verlorener Feldzüge.“ (13.7.1843).  Verhandlungen des 7. Rheinischen Provinziallandtags; zit. nach „Kölnische Zeitung“, 21.7. 1843.  Ebd.; Kölnische Zeitung 21. 7. und 22.7.1843. Der zweite Kölner Abgeordnete, der Kaufmann Ludolf Camphausen (1803 – 1890), ging in seiner direkt anschließenden Rede zu seinem politischen „Ziehvater“ Merkens auf deutliche Distanz. Camphausen repräsentierte einen neuen, jüngeren Typ des „Freihändlers“, der das Ziel einer beschleunigten Industrieentwicklung grundsätzlich akzeptierte, nur die Schutzzölle als Mittel dazu für ungeeignet und wirtschaftspolitisch für janusköpfig hielt. Er propagierte stattdessen die staatliche Industrieförderungsprämie. Im Gegensatz zu v. Beckerath oder Gustav Mevissen (1815 – 1899) fehlte Camphausen auch jeglicher nationaler Impetus; er befürchtete erhebliche negative Rückwirkungen der Errichtung einer „Gesamtindustrie“ als nationalem „Kraftakt“ auf die europäischen Handelsströme.

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Das Ideal eines „ausgeglichenen Verhältnisses von Handel, Industrie und Ackerbau“, einst – trotz divergierender handels- und zollpolitischer Ziele – gemeinsames Credo der streitenden Parteien, wurde nur noch von wenigen wirtschaftsbürgerlichen Abgeordneten geteilt. Wenn überhaupt auf dem Landtag von 1843 und in den folgenden Jahren auf dieses Theorem Bezug genommen wurde, dann immer stärker in rhetorisch-affirmativer Absicht: Das „ausgeglichene Verhältnis“ sei noch gar nicht hergestellt, es bedürfe erst einer forcierten Industrieentwicklung, um zu diesem Punkt zu gelangen, usw. Das Theorem – schon in seiner Entstehungszeit überaus vage und interpretierbar, wenn es auch die untergeordnete, defensive Rolle des gewerblichen Kapitals in der Gesamtgesellschaft formelhaft festschrieb – verkam vollends zur Floskel. Zunehmend wurden nun auch Handel und Ackerbau zu einer abhängigen Größe der Industrie umdefiniert. Man vertrat jetzt offen „eine große in allen Teilen [!] mit Erfolg gegen das Ausland konkurrierende Industrie, in deren Gefolge [!] Ackerbau, Schiffahrt und Handel blühen“ würden.⁴⁷ Obwohl die Angst vor den sozialen Gefahren eines „englischen Wegs“ im Rheinland virulent blieb und in den sog. Chartistenaufständen im England der frühen 1840er Jahre eine vermeintliche Bestätigung fand, gab es eine Mehrheit – zumindest in den führenden Wirtschaftskreisen –, die ein „Los von England“⁴⁸ durch die Imitation der englischen Industrieentwicklung in wichtigen Produktionszweigen wollte. Außerdem strebte diese Mehrheit jetzt zielbewußt das Entstehen eines vergleichbar strukturierten montanindustriellen Komplexes an. Fast als stereotype Selbsttröstung begann man aber darauf zu verweisen, daß der englische Industrialisierungsstand noch lange nicht erreicht sei und vielleicht nie erreicht werden könne. Außerdem glaubte man, spezifische Fehler der englischen Industrialisierung vermeiden zu können. Dabei spielte der immer noch dominante agrarische Sektor in Deutschland erneut eine wichtige Rolle im wirtschaftsbürgerlichen Denken. Die defensive wirtschaftsbürgerliche Zukunftsvorstellung eines „ausgeglichenen Verhältnisses“ von Landwirtschaft und Industrie schlug seit Anfang der 1840er Jahre in das offensive Ziel einer industriellen Durchdringung des platten Landes um! Eine weitgehende Dezentralisierung der Industrie sollte die „englischen Fehler“ einer rasanten Urbanisierung und Proletarisierung, d. h. der völligen Eigentumslosigkeit und des „Ausgeliefertseins“ der gewerblichen Arbeiter an die Konjunkturzyklen, verhindern. Dabei konnte man einerseits auf  „Allgemeines Organ“, 26.11.1844.  So lautete die öffentlichkeitswirksame Losung, die Friedrich List Anfang der 1840er Jahre ausgab, nachdem er sich – vom defensiven „Zollschützer“ der Jahre um 1820 zum „Schutzzöllner“ gemausert – an die Spitze der Bewegung für eine beschleunigte Industrialisierung zu setzen wußte.

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ältere wirtschaftsbürgerliche Wertmuster zurückgreifen: Schon seit Jahrzehnten hatte das Wirtschaftsbürgertum der Rheinprovinz die dort bereits verwirklichte unbehinderte Teilbarkeit des Bodens als Grundvoraussetzung der Schaffung einer breiten Schicht von proto-industriellen „Arbeiter-Bauern“ gegen restaurative politische Bestrebungen verteidigt und jene „Arbeiter-Bauern“ zum Idealtyp eines „ausgeglichenen Verhältnisses“ in den Gewerberegionen selber stilisiert. Andererseits propagierte man jetzt die Eisenbahnen als Chance zu einer – staatlich geförderten – weiträumigen Dezentralisierung in großem Stil, die vorrangig die forcierte industrielle Erschließung noch rein agrarischer Regionen zum Ziel haben sollte.⁴⁹ Man hielt weiterhin am idealisierten Sozialtyp des „Arbeiter-Bauern“ fest, ohne freilich die Dezentralisierung der Industrie allein auf die Ausdehnung von Heimgewerben beschränken zu wollen. Die Fabrik sollte auf das – durch ein Verkehrsnetz erschlossene – Land. Im Zentrum solcher Überlegungen stand eine Gruppe junger, nach 1810 geborener Unternehmersöhne, die sich um das Projekt der kurzlebigen „Rheinischen Zeitung“ 1842/43 zusammengefunden hatte und sich als das „Junge Köln“ bezeichnete.⁵⁰ In diesem Kreis wurde – über die Zielvorstellung der Dezentralisierung hinaus – das für einige Jahre verdrängte Problem der sozialen und gesellschaftlichen Folgewirkungen einer forcierten Industrialisierung⁵¹ erneut the-

 Schon 1840 hatte Mevissen den offensiven Charakter der neuen Formel klar betont: „Die Industrie muß da hervorgerufen werden, wo der bloße Ackerbau herrscht.“ Vgl. Hansen: Mevissen (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 85. Das „Allgemeine Organ“, das den Dezentralisationsgedanken seit 1842 sichtlich förderte, wurde 1844 deutlicher: „Es gibt in Preußen kein geeigneteres Land zur Fabrikation als die Marken, Pommern und Westpreußen.“ (9.4.1844). Bereits 1842 hatte Karl Heinrich Brüggemann (1810 – 1887), Mitarbeiter der „Rheinischen Zeitung“ und späterer Chefredakteur der „Kölnischen Zeitung“, die neue Strategie konsequent zu Ende gedacht: „Aufhebung des StadtLand-Gegensatzes“ und dadurch eine flächendeckende Erschließung der vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen! „Aber zu solcher Durchdringung und Belebung reicht nicht ein bloßes Gleichgewicht im ganzen Staat hin: sondern dazu wird eine lokale Durchdringung ländlichen und städtischen Wesens in allen einzelnen Provinzen erfordert. Kein Irland, keine Vendee im Reiche!“ Vgl. Ders.: Dr. List’s nationales System der politischen Ökonomie. Berlin 1842, S. 144.  Neben Mevissen gehörten u. a. zu dieser Gruppe Moses Heß (1812– 1875), Sohn eines Kölner Zuckerfabrikanten, Dagobert Oppenheim (1810 – 1889), der jüngste Sproß des Kölner Bankhauses Oppenheim, Georg Jung (1814– 1886), wohlhabender Rentier aus einer Rotterdamer Kaufmannsfamilie und Schwiegersohn des Kölner Bankiers Johann Heinrich Stein, sowie Rudolf Schramm (1813 – 1882), Schwager von Jung und Sohn einer wohlhabenden Krefelder Kaufmannsfamilie. Freilich gab es auch Mitarbeiter und Redakteure bildungsbürgerlicher Herkunft wie Karl Marx (1813 – 1882), Gerhard Joseph Compes (1810 – 1887) oder eben Brüggemann. Vgl. u. a. W. Klutentreter: Die Rheinische Zeitung von 1842/43. Dortmund 1966.  Bis 1844 beschränkte sich das sozialpolitische „Programm“ der Verfechter einer beschleunigten Industrialisierung weitgehend auf die Behauptung, daß Schutzzölle – neben einer Ver-

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matisiert, dabei wurde bewußt auf ältere bürgerliche Wertmuster rekurriert. Von Mitgliedern dieses Kreises – denen die einflußreiche „Kölnische Zeitung“ zeitweilig ihre Spalten öffnete – wurde seit 1844 eine soziale Reorganisation der „bürgerlichen Gesellschaft“ postuliert; die forcierte Industrialisierung sollte von einer kompensatorischen Sozialpolitik begleitet werden. Ihre Vorschläge – von staatlich festgesetzten Minimallöhnen bis hin zu einer Gewinnbeteiligung von Arbeitern – für eine „Organisation der Arbeit“ durch eine bürgerliche Industrialisierungselite selber stießen freilich auf nur geringen Widerhall im „Mainstream“ des rheinischen Wirtschaftsbürgertums. Nur einzelne Aspekte dieses „sozialen Liberalismus“ fanden schließlich Eingang in das Denken und Handeln breiterer wirtschaftsbürgerlicher Kreise.⁵² Dagegen wurde die gesteigerte Erwartungshaltung der „Vordenker“ des „Jungen Köln“ gegenüber den gesellschaftlichen Chancen eines technisch-industriellen Fortschreitens – jetzt als materielle Substanz „des Fortschritts“ definiert – in der Folgezeit zu einem integralen Bestandteil des Unternehmerbewußtseins der 1850er und 1860er Jahre. Nicht nur im Gegensatz zu Merkens oder Schuchard, sondern auch zu führenden Wirtschaftsbürgern der Altersgruppe eines Camphausen oder von der Heydt, die alle der Industrialisierung einen emanzipatorischen Charakter über die reine Erwerbssicherung hinaus absprachen, hatte etwa ein Mevissen den festen Glauben, daß diese den gesellschaftlichen Aufstieg und die soziale Angleichung sehr vieler Menschen zur Folge haben könne. Diese emanzipatorische Hoffnung war so ausgeprägt, daß Mevissen 1845 als einer der ersten Unternehmer öffentlich die Bereitschaft zu erkennen gab, die „Fehler“ der englischen Industrialisierung teilweise bewußt zu wiederholen, wenn nur eine forcierte Industrialisierung gewährleistet werden könne. In einem – später als Denkschrift veröffentlichten – Vortrag vor den Mitgliedern der Kölner Handelskammer brachte er zum Ausdruck, daß eine Konzentration des Kapitals im großen Stil mit entsprechender Proletarisierung und Urbanisierung in Kauf

mehrung der Arbeitsmöglichkeiten – auch eine Anhebung des allgemeinen Lohnniveaus zur Folge haben würden, sowie auf die Propagierung einer freiwilligen Krisenvorsorge der gewerblichen Arbeiter durch ein flächendeckendes System von Sparkassen.  Dabei handelte es sich v. a. um eine vom Staat in Angriff zu nehmende Infrastrukturpolitik mit sozialen Effekten – etwa verstärkter Eisenbahnbau als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder gezielte Industrieförderung in Krisenregionen –, aber auch um die soziale Absicherung der gewerblichen Arbeiter bei Krankheit und Arbeitsunfähigkeit als verbindliche gesellschaftliche Verpflichtung, die nach 1849 unter der Ägide des zum preußischen Minister avancierten v. d. Heydt – freilich in engen Grenzen – realisiert wurden. Ein darüber hinausweisender „sozialer Liberalismus“ blieb eine Episode der Jahre 1844 bis 1848. Seine historische Bedeutung wird in der älteren Literatur – etwa bei. J. Köster: Der rheinische Frühliberalismus und die soziale Frage. Berlin 1938 –, aber auch noch bei Fehrenbach: Rheinischer Liberalismus (siehe Anm. 5), überschätzt.

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genommen werden müsse, falls die zahlreichen zur Debatte stehenden Vorschläge zur Verhinderung eines „englischen Wegs“ nicht oder nicht genügend greifen würden: „Diese Aussicht ist unerfreulich, aber bei dem Gang, den die europäische Entwicklung genommen hat, kann dieser Durchgangspunkt voll Elend, voll gänzlicher Verkennung der gemeinschaftlichen Interessen aller, den Völkern schwerlich erspart werden.“⁵³ Mit dem neuen Industrialisierungsverständnis eines Mevissen war mithin die Inkaufnahme einer „Klassengesellschaft auf Zeit“ – die Akzeptierung eines „Durchgangspunkts voll Elend“ – eng verknüpft. Das schien der Preis, um zu einer höheren gesellschaftlichen Ordnung zu gelangen, welche die materiellen Voraussetzungen bieten sollte, um jenes – nun in der Zukunft verortete – Ideal einer „klassenlosen Bürgergesellschaft“ zu verwirklichen, das auch das Denken des „Jungen Köln“ noch beeinflußte.

 Vgl. Hansen: Mevissen (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 152.

Unternehmernachfolge in Deutschland. Ein historischer Rückblick Daß¹ einer der Söhne, meist der älteste, das Geschäft später übernehmen würde, galt in den Kaufmanns- und Unternehmerfamilien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als selbstverständlich. Die Erziehung war früh und eindeutig auf die wirtschaftsbürgerliche Tätigkeit des männlichen Nachwuchses ausgerichtet, denn die Nachfolge wurde sehr bewußt als zentraler Teil jeglicher langfristigen strategischen Unternehmensplanung begriffen. Den ungeschriebenen Gesetzen des Familienbetriebes hatte man sich unterzuordnen und sich auf die Übernahme vorzubereiten. Das konnte eine schwere Belastung für den auserwählten Nachfolger bedeuten, wenn er sich überfordert oder in seinen Neigungen und Lebenszielen beschnitten sah. Da die Kinderzahl in Unternehmerfamilien jener Zeit im Vergleich zu heute aber recht hoch war – bis in die 1850er Jahre hatten Unternehmer und Kaufleute in Nordwestdeutschland im Durchschnitt 5,9 Kinder² – gab es eine relativ große Chance, Konfliktsituationen dieser Art zu vermeiden. Die Familie wich dann häufig vom ältesten auf den am ehesten geeigneten Sohn aus. Die Rigidität der berufsvorbereitenden Erziehung wurde somit durch eine gewisse Flexibilität der wirtschaftsbürgerlichen Familien abgemildert, denn eindeutige Erbfolgeregelungen wie beim Adel oder den Bauern gab es bei ihnen nicht – das erhöhte, im Sinne einer Modernisierungsleistung, ihre ökonomische Funktionalität. Auch Schwiegersöhne und Neffen konnten bisweilen einspringen, wenn die Familie keine Söhne hatte oder sich diese überhaupt nicht eigneten. Freilich gibt es während des ganzen 19. Jahrhunderts – vor allem in der industriellen Unternehmerschaft – auch immer wieder Beispiele einer harten, sich über die Neigungen des Sohnes oder der Söhne hinwegsetzenden Erbenerziehung, wie – als vielleicht bekanntestes Exempel – die von Friedrich Krupp, dem Sohn von Alfred Krupp.³ Solche Beispiele finden sich aber gehäuft in Unternehmerfa-

 Der Aufsatz ist die nur leicht geänderte Fassung eines Vortrags, der als historische Einleitung auf der Veranstaltung „Unternehmernachfolge: Eine unendliche Geschichte?“ im Haus der Deutschen Industrie am 21. April 1999 in Köln gehalten wurde.  Vgl. A. von Nell: Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart. Diss. Bochum 1973, S. 29. Nell gibt für die „Großunternehmer und -kaufleute“, die zwischen 1850 und 1875 heirateten, eine durchschnittliche Kinderzahl von 4,6 an. In den folgenden Generationen – Heiratsjahre 1875 – 1899 – waren es 4,8, danach – Heiratsjahre 1900 – 1914 – nur noch 2,9. Bei den „mittleren und kleinen Kaufleuten und Unternehmern“ lagen die Zahlen etwas darunter bei 4,3, 3,9 und 2,7.  Vgl. N. Mühlen: Die Krupps. Frankfurt a. M. 1965, S. 59 f. DOI 10.1515/9783110534672-006

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milien, die erst unlängst aus Handwerk oder Kleingewerbe aufgestiegen waren. In Unternehmerfamilien mit langem kaufmännischen Traditionshintergrund gab es aber schon früh eine starke Orientierung an Bildung und Kunst, die erst ganz allmählich auf die „Newcomer“ mit handwerklichen Wurzeln übergriff. Im etablierten Wirtschaftsbürgertum kaufmännischer Prägung stand man mithin den geistigen oder künstlerischen Interessen seines Nachwuchses nicht fremd gegenüber. Sie wurden aber bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar nur dann als Ausgangspunkt beruflicher Selbstverwirklichung, und nicht nur als dilettantische Vorlieben neben der unternehmerischen Tätigkeit akzeptiert, wenn die Unternehmensnachfolge als Langfriststrategie nicht gefährdet war. Aber nicht nur die Berufswahl der Söhne und die Nachfolge im Betrieb, sondern auch die Partnerwahl der Söhne wie der Töchter gehörten zu den zentralen Bestandteilen von Unternehmensstrategien wirtschaftsbürgerlicher Familien in der Frühindustrialisierung. Die Beschaffung von Kapital durch die Heirat einer Frau aus reicher Familie oder durch die Verheiratung der Tochter an einen finanzkräftigen Schwiegersohn, der vielleicht als Teilhaber eintrat, kam recht häufig vor. Das wird durch die hohe soziale Endogamierate bei Unternehmersöhnen und -töchtern sowie die vielfachen, lang andauernden Heiratsverflechtungen zwischen großen Unternehmerfamilien – etwa im Rheinland – unterstrichen.⁴ Diese Familienstrategie – die sich noch vergleichsweise lang dem aufkommenden Ideal der Liebesheirat versperrte – konnte durch die Mobilisierung von Krediten aus Verwandtenkreisen anhaltende Mängel in einem noch unterentwickelten Bank- und Kreditwesen ausgleichen. Die engen Verbindungen zwischen Unternehmerfamilien können darüber hinaus als familiale Mechanismen der Kapitalzusammenfassung vor der Durchsetzung der Kapitalgesellschaften und des modernen Gesellschaftsrechts verstanden werden, die der im Erbrecht und in der Erbpraxis angelegten Tendenz zur Aufteilung des Familienvermögens entgegenwirkten. Ohnehin hatte die Familie im Wirtschaftsbürgertum vor 150 Jahren und mehr einen weitaus höheren funktionalen Stellenwert als heute. Sie mußte nicht nur die Mängel des Bank- und Kreditsystems ausgleichen, sondern auch das noch weitgehende Fehlen einer gewerblichen und kaufmännischen Bildung in Schulen und Hochschulen kompensieren. In der Familie und durch die Familie wurde die Vermittlung gewerblich-technischer Fähigkeiten sowie kaufmännischer Qualifikationen organisiert. Die Söhne von Kaufleuten und Fabrikunternehmern erhielten häufig, zumal wenn sie als zukünftige Erben galten, eine auf ihre spätere

 Vgl. dazu etwa R. Boch: Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte. Göttingen 1991, S. 41 ff., und die dortigen Literaturangaben.

Ein historischer Rückblick

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Rolle abgestimmte Ausbildung im väterlichen Betrieb sowie im Betrieb oder Kaufmannskontor eines Verwandten bzw. Geschäftsfreundes. Eine entsprechende Rolle hatte die Familie auch bei der Lösung von Problemen industriellen Managements. „Die Rekrutierung, Motivation und Kontrolle leitender Angestellter war für die deutschen Unternehmer um 1850 ein großes Problem, vor allem in größeren Unternehmen, mit mehreren, auch schon örtlich auseinanderliegenden Betrieben.“⁵ Einen entwickelten Angestelltenmarkt gab es noch nicht, und die leitenden Tätigkeiten in entfernten Niederlassungen waren – ohne Fax und Telefon – schwer zu kontrollieren. Deshalb hatten Loyalität und unbedingte Vertrauenswürdigkeit, wie sie die Familie zu garantieren schien, einen höheren Stellenwert als die rein fachliche Qualifikation. An die Spitze von Dependancen oder Neugründungen, etwa im Zuge einer Diversifikation des Produktionsprogramms, wurden enge, nicht allzu unfähige Verwandte, möglichst Söhne, gestellt. Das war eine Managementstrategie, die auch Auswirkungen auf die Unternehmensnachfolge hatte, kam es doch etwa im Rheinland am Ende des 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts relativ häufig vor, daß auf diese Weise nicht nur ein Sohn, sondern in faktischer Realteilung alle Söhne, bisweilen auch eingeheiratete Schwiegersöhne, mit einem eigenen Geschäft oder einer eigenen Fabrik häufig noch vor dem Ableben des Seniors ausgestattet wurden. Diese mit der zukünftigen Unternehmensnachfolge gekoppelte Diversifikations- und Wachstumsstrategie – nicht zuletzt Ausdruck eines ungebrochenen wirtschaftsbürgerlichen Optimismus und besonders deutlich hervortretend in Phasen anhaltender ökonomischer Prosperität – führte dazu, daß die Söhne sehr früh mit wichtigen Aufgaben betraut wurden und sich in räumlichem Abstand von der Dominanz des Seniors emanzipieren konnten. Dieses Heraustreten aus dem Schatten des Seniors war ohne räumliche Distanz für den erwählten Unternehmensnachfolger ein weitaus schwierigerer Prozeß. Es ist bis heute ein Dauerproblem der Unternehmernachfolge geblieben. Zu beachten ist freilich, daß auch in dieser Problemlage, wie bei der – im Vergleich zu heute – größeren Zahl der zur Auswahl stehenden Söhne, der demographische Faktor entschärfend wirkte: Man starb im 19. Jahrhundert im Durchschnitt noch deutlich früher, auch in den gehobenen Schichten des Bürgertums. Das gelegentlich bei Nichthistorikern anzutreffende Geschichtsbild, man habe sich im 19. Jahrhundert vergleichsweise früh – spätestens mit Mitte Fünfzig – aus dem aktiven Geschäftsleben zurückgezogen, um sich – gar mit der zweiten Frau – ganz dem Rentiersdasein, dem Reisen und

 Zit. nach J. Kocka: Familie, Unternehmer und Kapitalismus, an Beispielen aus der frühen deutschen Industrialisierung. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte (1979), S. 99 – 135, hier S. 110 f.

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Flanieren hinzugeben, muß in das Reich der Fabel verwiesen werden. Es verallgemeinert allenfalls die über Romane kolportierte Lebensplanung eines Teils des französischen Wirtschaftsbürgertums. Der deutsche Unternehmer arbeitete in der Regel bis ins Alter hart, doch nicht selten wurde der Senior bereits mit Anfang oder Mitte der Sechzig zu Grabe getragen. Die Emanzipation von der patriarchalischen Autorität des Firmengründers oder Seniors bedeutete aber im 19. Jahrhundert nicht eine Individualisierung im Sinne einer Loslösung von der Familie. Gerade in älteren, selbstbewußten Unternehmerdynastien, die ihren Söhne schon früh die Leitung von Zweigfirmen übertrugen oder ihnen das Kapital zur Gründung eigener Unternehmen zur Verfügung stellen konnten, läßt sich ein überindividuelles und generationsübergreifendes Familienbewußtsein nachweisen. Man sah sich im Dienste des Ruhmes der Familie, die als eine in die Zukunft ragende Kollektividentität vorgestellt wurde. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begriff man sich zunehmend zugleich als Teil einer zivilisatorischen Mission.⁶ Aber auch in weniger bedeutenden, jüngeren Familienzusammenhängen des Wirtschaftsbürgertums arbeiteteten Gründer wie Nachfolger nicht nur für die eigene Person, sondern – vertraut man den Quellen und Selbstzeugnissen – auch für die langfristige Expansion des Unternehmens, zum Wohle der Kinder und Enkel. Dadurch erhielt nicht nur die Arbeit eine zusätzliche Sinnstiftung, sondern das unternehmerische Handeln bekam einen erweiterten Zeithorizont, der es leichter machte, auf kurzfristige Vorteile – etwa durch den Verkauf des Unternehmens – zu verzichten. Diese Familienorientierung hatte durchaus eine große ökonomische Funktionalität. Darauf hat Jürgen Kocka in einem grundlegenden Aufsatz zum Thema „Unternehmerfamilie und Industrialisierung“ bereits vor zwanzig Jahren hingewiesen.⁷ Sie bot nicht nur die Legitimation, einen hohen Anteil des Gewinns zu reinvestieren, statt ihn zum Unterhalt von Familienmitgliedern zu verwenden, sondern im Prinzip auch die Möglichkeit, Einzelinteressen von Familienmitgliedern mit Blick auf das übergeordnete Unternehmensinteresse zurückzuweisen. Ob dieses Zurückweisen aber auch in der Vererbungspraxis – einem weiteren Problemfeld der Unternehmernachfolge – tatsächlich geschah, ist überaus zweifelhaft, wenngleich dieser Aspekt der Unternehmergeschichte erst in Ansätzen erforscht ist. Es gibt m. E. nur eine systematische Untersuchung zur Vererbungspraxis

 Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 4), S. 222 f. Dazu auch F. Zunkel: Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1834– 1879. Opladen 1962, S. 50.  Vgl. Anm. 5. Siehe auch J. Kocka: Unternehmer in der deutschen Industrialisierung. Göttingen 1975, v. a. S. 53 ff. Der Beitrag bezieht sich in Teilen stark auf die anregenden Beispiele und immer noch überzeugenden Thesen Kockas.

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im Kontext der Unternehmernachfolge. Sie wurde von Dirk Schumann in seiner 1992 veröffentlichten Studie über Unternehmer in Bayern durchgeführt.⁸ Anhand von 105 Nachlaßakten bayerischer Unternehmer zwischen 1871 und 1914 kommt Schumann zu dem Ergebnis, daß in den meisten Fällen das Bestreben, die Harmonie in der Familie zu erhalten, gegenüber dem Bemühen dominierte, den Nachfolgern im Betrieb den finanziell bestmöglichen Start zu sichern. Bemerkenswert ist zunächst, daß in mehr als 90 Prozent aller Nachlaßverfahren detaillierte schriftliche Verfügungen des Erblasser zugrunde lagen, die in der Regel notariell beglaubigt wurden. Der Konsensfähigkeit der Hinterbliebenen wurde offenbar nicht hinreichend vertraut. Dieses Mißtrauen drückt sich auch in der häufig verwendeten Drohung aus, einen das Testament anfechtenden Erben auf den Pflichtteil zu beschränken. Schumann kommt zu dem Befund, daß Söhne und Töchter fast immer zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt, also gleich behandelt wurden. Auch die Witwe wurde in der Regel nicht von anderen Erben und deren Zahlungswilligkeit abhängig gemacht, sondern ihnen gleichgestellt. In einigen Fällen wurde die Ehefrau sogar zur Universalerbin bestimmt, nach deren Tod erst die Kinder Erbansprüche stellen konnten. Nur in 10 Prozent der Fälle erhielten die Söhne ausdrücklich einen größeren Teil des Erbes als die Töchter. Ganz selten kam es tatsächlich zur Beschränkung einzelner Familienmitglieder auf den Pflichtteil. In über einem Drittel der Fälle wurden Sohn oder Söhne ganz ausdrücklich als Nachfolger bezeichnet und sie dann entweder, wie bei den genannten 10 Prozent, mit einem größeren Erbteil oder aber mit unternehmensbezogenen Vermögensteilen bedacht. Daß ein Unternehmer zugunsten der Söhne schon zu Lebzeiten auf seinen Besitz verzichtete, scheint in Bayern die seltene Ausnahme gewesen zu sein. Obwohl also fast immer die Gleichbehandlung der Familienmitglieder vor der besonderen Förderung des Nachfolgers rangierte, versuchte eine Reihe von Unternehmern zusätzlich, durch festgelegte Auszahlungsmodalitäten zu verhindern, daß der Betrieb in seinem Bestand bedroht wurde. Zwischen fünf und im Extremfall fünfzehn Jahren sollten die der Witwe, den Töchtern oder anderen Söhnen zugewiesenen Erbteile im Unternehmen bleiben, zumeist mit einer Verzinsung von 3 bis 5 Prozent. Damit verschoben sich freilich – so Schumann – die Probleme nur: „Hatte das Geschäft während der festgelegten Frist Rückschläge zu verzeichnen, waren die Nachfolger dennoch an den einmal bestimmten Nachlaßwert gebun-

 D. Schumann: Bayerns Unternehmer in Gesellschaft und Staat 1834– 1914. Fallstudien zu Herkunft und Familie, politischer Partizipation und staatlichen Auszeichnungen. Göttingen 1991, v. a. S. 223 ff.

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den, der schließlich nicht mehr dem tatsächlichen Wert des Unternehmens entsprechen mußte. Beharrten die anderen Erben dann auf einer Auszahlung, mußte das zu ernsten Schwierigkeiten führen.“⁹ Diese von Schumann untersuchten, teilweise komplizierten Testamente, die Beteiligungen von Kindern und Witwen vorsahen, welche auf längere Zeit nicht aus dem Geschäft gezogen werden durften und überdies keinen – oder keinen vollen – Mitleitungsanspruch begründeten, können in wirtschaftshistorischer Perspektive als Ansätze zur Trennung von Besitz und Kontrolle im Familienbetrieb bewertet werden. Auf die Dauer aber war die Auszahlung der Anteile an die nicht leitenden Geschwister oder – wie aus Beispielen aus anderen deutschen Regionen bekannt – die Beteiligung zu vieler bzw. nicht ganz geeigneter Personen nicht zu verhindern, es sei denn, man wandelte den Familienbetrieb in eine Kapitalgesellschaft um. Diese Problemlösung wurde gelegentlich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewählt, besonders aber nach 1892, als die Rechtsform der GmbH – unter anderem wegen der Schwierigkeiten von Familienunternehmen im Prozeß der Nachfolge – durch den Staat bewußt bereitgestellt wurde. Wenn sich auch unter den Rechtsformen der AG und besonders der GmbH oft noch lange der alte Familienbetrieb verbarg, waren diese Umwandlungen doch häufig wichtige Schritte auf dem Weg der sukzessiven, durch die „zunehmende Unvereinbarkeit von Familien- und Unternehmensrationalität“ (Kocka) erzwungenen Herauslösung des Geschäfts aus dem Kontext der Familie. Seit dem späten 19. Jahrhundert traten, vor allem bei den größeren Unternehmen, die dysfunktionalen Elemente im Verhältnis zwischen Familie und Industrie – nicht nur wegen der Vererbungspraxis – deutlich hervor. Die Unternehmerfamilie selber veränderte sich erheblich und verlor zugleich wichtige ökonomische Funktionen. Im Anschluß an Hartmut Kaelble sollen fünf Richtungen dieser Veränderungen skizziert werden:¹⁰ 1. Sie verlor mit der wachsenden Unabhängigkeit der Söhne und Töchter in großbürgerlichen Familien und den Generationskonflikten seit dem späten Kaiserreich immer stärker die Fähigkeit, die Berufswahl der Söhne und die Heirat der Töchter den Geschäftsstrategien und Zielen des Familienunternehmens unterzuordnen. Das sog. Gesetz der dritten Generation¹¹, das in frühindustrieller Zeit zweifellos nicht galt, scheint auf bedeutendere Unter-

 Zit. nach ebd., S. 227.  Vgl. H. Kaelble unter Mitarb. von H. Spode: Sozialstruktur und Lebensweise deutscher Unternehmer 1907– 1927. In: Scripta Mercaturae (1990). Heft 1/2, S. 132– 179, v. a. S. 152 f.  A. Paulsen: Das „Gesetz der dritten Generation“. Erhaltung und Untergang von Familienunternehmungen. In: Der praktische Betriebswirt (1941), S. 271– 280. Der Autor verweist aber zugleich auf zahlreiche Gegenbeispiele und den Einfluß der Regelung des Erbes.

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nehmerfamilien an der Wende zum 20. Jahrhundert schon eher zu passen. In diese Richtung läßt sich etwa die ältere, quantitative Untersuchung von Wilhelm Stahl interpretieren¹², während die Befunde von Schumann zu – teilweise noch mittelständisch geprägten – bayerischen Unternehmerfamilien den historischen Realitätsgehalt dieses angeblichen „Gesetzes“ nicht bestätigen können. Zumindest in Bayern trat der „Buddenbrook-Effekt“, das Überwechseln in eine Rentiersexistenz oder einen künstlerischen Beruf nur selten ein. Rein statistische Beschreibungen der Unternehmernachfolge über mehrere Generationen verdecken zudem – das betont Schumann in seiner Studie zu Recht – eigentlich mehr als sie klären. Die sich schnell anbietenden biologischen Kategorien der Degeneration und des Verfalls abstrahieren von außergewöhnlichen historischen Krisensituationen und von branchenspezifischen Zäsuren, die eine Nachfolge auch bei bester Eignung vielleicht unmöglich machten, aber auch von den demographischen Kontingenzen.¹³ Die Unternehmerfamilie büßte nämlich – zweitens – nicht nur wegen der möglicherweise mangelnden Motivation der Nachkommen, sondern auch wegen der nun auch in wirtschaftsbürgerlichen Familien deutlich zurückgehenden Zahl der Nachkommen und der geringer werdenden Auswahlmöglichkeiten der geeigneten Nachfolger an ökonomischer Funktionsfähigkeit ein. Mit der Verwissenschaftlichung von Produktion bzw. betrieblicher Leitung und dem zunehmenden Zwang zur Hochschulausbildung des Nachwuchses verlor die Unternehmerfamilie immer stärker ihre Funktion als Ausbildungsinstanz. Mit dem Ausbau der Industriefinanzierung durch die Banken, aber auch wegen des gestiegenen Kapitalbedarfs, der die Finanzkraft der Verwandtschaftskreise überforderte, verlor sie ihre Funktion als Kapitalmarktersatz. Die schnelleren Verkehrs- und Nachrichtentechniken verringerten den Bedarf an Familienloyalitäten; sie trugen mithin zur Besetzung von Spitzenpositionen in entfernten Unternehmensteilen durch geeignetere Angestellte bei, falls diese Unternehmens- und Unternehmensnachfolgestrategien nicht ohnehin schon durch die geringer werdende Zahl von Söhnen oder Schwiegersöhnen an demographische Schranken gestoßen war.

 W. Stahl: Der Elitekreislauf in der Unternehmerschaft. Zürich 1973, S. 255 ff. Stahl hat in seiner Studie für 24 Unternehmen eigene Erhebungen zum Schicksal der vier Folgegenerationen der Gründer angestellt. 80 Prozent dieser Unternehmen wurden spätestens nach der dritten Generation nicht mehr von der Gründerfamilie geführt.  Vgl. Schumann: Unternehmer (wie Anm. 8), S. 216, 275.

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Unternehmernachfolge in Deutschland

Wenn im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert große Unternehmen an familialen Strategien festhielten, konnte sich das ungünstig auf den Geschäftsverlauf auswirken. Aber schon 1907 war nur noch ein geringer Teil der hundert größten Unternehmen im Deutschen Reich im persönlichen Besitz von Unternehmern. Nur noch ein kleiner Teil der Unternehmensleiter dieser hundert größten Unternehmen waren 1907 ausschließlich Unternehmenserben. Umgekehrt hatten die reinen Manager schon rund ein Drittel der Spitzenpositionen inne. Die Trennlinie zwischen Managern und Eigentümerunternehmern war aber weit weniger eindeutig als in der Theorie und – sieht man einmal von den 30 Prozent reinen Managern mit fast bürokratisch anmutenden Karrieren aus den mittleren Rängen von wirtschaftlichen oder staatlichen Hierarchien ab – eher durch Zwischen- und Übergangsformen verwischt. Viele Unternehmensleiter waren Erben oder Eigentümer in einem Unternehmen und Manager in einem anderen. Die Mehrheit der Spitzenindustriellen von 1907 – so das eindrucksvolle Ergebnis von Kaelble – mischte beide Karrieren in vielfältigster Weise.¹⁴ Daran änderte sich auch in der Zeit der Weimarer Republik wenig, ja, die Zahl der Unternehmenserben in den Spitzenpositionen der Großindustrie nahm sogar wieder leicht zu. Carl Duisberg, einer der einflußreichsten Industriellen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, ist ein vielleicht typischer Vertreter der vorherrschenden Mischform. Nachdem er gegen den ursprünglichen Willen seines Vaters nicht in das Familienunternehmen – eine kleine Textilfabrik – eingetreten war, sondern Chemie und Volkswirtschaft studiert hatte, wurde er in den 1880er Jahren Angestellter der Farbenfabrik Bayer, heiratete die Nichte des Aufsichtsratsvorsitzenden und Mitinhabers der Firma und entwickelte erfolgreich eine neue Farbe. „Gleich im ersten Jahr erhielt ich 9.000 Mark Tantieme“, schrieb er in seiner Autobiographie. „Für diese 9.000 Mark kaufte ich mir dann die ersten Farbenfabrikaktien zum Kurs von 80 Prozent. Nun fühlte ich mich als Mitinhaber der Fabrik und handelte entsprechend.“¹⁵ Ein Rückblick zur Unternehmernachfolge in der deutschen Industrialisierung, der mit dem – wie auch immer in Mischformen auftretenden – Managerunternehmer als dem eigentlichen, sozusagen „historisch überlegenen“ Unterneh-

 Vgl. Kaelble: Sozialstruktur (wie Anm. 10), S. 154 f., dessen Erhebung auf den Vorarbeiten von J. Kocka und H. Siegrist beruht. Vgl. dies.: Die hundert größten deutschen Industrieunternehmen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Expansion, Diversifikation und Integration im internationalen Bereich. In: J. Kocka/H. Horn (Hrsg.): Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 1979, S. 55 – 122.  C. Duisberg: Meine Lebenserinnerungen. Leipzig 1933, S. 40, zit. nach Kaelble: Sozialstruktur (wie Anm. 10), S. 155.

Ein historischer Rückblick

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mernachfolger endet, ist freilich nicht die Geschichte, sondern allenfalls eine Geschichte der Unternehmernachfolge. Denn aufgrund mangelnder Forschung ist überhaupt nur die Entwicklung in der Großindustrie in groben Zügen bekannt. Schon im eher mittelständisch strukturierten Bereich des Maschinenbaus etwa könnte wahrscheinlich eine ganz andere Geschichte geschrieben werden. Im Jahr 1939 errechnete Otto Suhr, daß von 120 Firmen dieses Wirtschaftszweigs die damals länger als hundert Jahre bestanden, noch fast die Hälfte in Besitz und unter der Leitung der Gründerfamilien waren.¹⁶ Die Dynamik des Industriesystems, die periodisch, sei es in den 1880/90er Jahren des Kaiserreichs oder in der Bundesrepublik, immer wieder zu Gründungswellen sehr stark und erfolgreich aus der familialen Verankerung lebender Klein- und Mittelunternehmen geführt hat, bietet außerdem die Gewähr dafür, daß die Unternehmernachfolge als Problem der Familie und Kernpunkt strategischer Planung eine „unendliche Geschichte“ bleiben wird. Aktuelle Lösungsvorschläge für einen möglichst reibungslosen Generationswechsel in den kommenden Jahren haben freilich den hier skizzierten säkularen demographischen und kulturellen Veränderungsprozessen Rechnung zu tragen. Die Zahl der möglichen, geeigneten Nachfolger ist aufgrund der niedrigen Kinderzahl auch in Unternehmerfamilien noch geringer geworden als vor fünfzig oder hundert Jahren. Der Senior eines Unternehmens fühlt sich zudem heute mit sechzig Jahren meist noch auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Die Selbstverwirklichung im Beruf und der individuelle Lebensentwurf – auch im Sinne eines individuellen Glücksanspruchs – sind von der bürgerlichen Oberschicht in die gesamte Gesellschaft diffundiert, ja nachgerade zu Leitidealen geworden. Ein Nachdenken über Unternehmernachfolge heute muß mithin auch vordringlich ein Nachdenken über innovative, familienexterne Lösungen sein.

 Vgl. O. Suhr: Familientraditionen im Maschinenbau. Untersuchungen über die Lebensdauer von Unternehmungen. In: Wirtschaftskurve (1939). Heft 1, S. 29 – 50, hier S. 32, 34; vgl. auch Kocka: Familie, Unternehmer (wie Anm. 5), S. 135.

Notabelntradition und „Große Industrie“. Soziale Wurzeln und gesellschaftliche Zielvorstellungen des Liberalismus der Rheinprovinz 1820 – 1850 Einleitung Innerhalb¹ nur weniger Jahre, zwischen 1840 und 1845, entwickelte sich – für die „bürgerliche Öffentlichkeit“ im Deutschen Bund überraschend – in der preußischen Rheinprovinz eine regionale, vor allem von Wirtschaftsbürgern getragene liberale Oppositionsbewegung. Sie basierte einerseits auf mittlerweile vier Jahrzehnte alten liberal-bürgerlichen Rechts- und Denktraditionen, andererseits war sie ein Ergebnis aktueller politischer Handlungszwänge. Dieser „großbürgerliche“ rheinische Liberalismus der 1840er Jahre, der bereits ganz auf die Karte einer beschleunigten Industrieentwicklung setzte, gilt in der historischen Forschung zu Recht als für das Gros der vormärzlichen Liberalen in Deutschland „durchaus untypisch“², obwohl er in den letzten Jahren vor der Revolution rasch an politischer Bedeutung gewann und 1848/49 in Preußen die vielleicht einflußreichste liberale Kräftegruppierung darstellte. Der „industrielle“ rheinische Liberalismus der 1840er Jahre, der den – noch in den 1830er Jahren die politische Opposition in Deutschland prägenden – südwestdeutschen Liberalismus der „einfachen Marktund Handwerkergesellschaft“³ mit seiner Zielvorstellung einer „klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen“ (Lothar Gall) scheinbar historisch zu überlagern begann, war nicht einfach nur eine den Zwängen und der wachsenden sozialen Ungleichheit der Industrialisierung angepaßte, „opportunistische“ Variante eines älteren Liberalismustyps.⁴ Er hatte zugleich seine eigenen historischen Wurzeln, sowohl in dem seit der zwanzigjährigen Epoche französischer Herrschaft gewachsenen „alltäglichen Liberalismus“ der Rheinprovinz als auch in

 Der Aufsatz basiert auf meinem Buch Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814– 1857. Göttingen 1991, hier auch – falls im Text nicht anders vermerkt – ausführliche Belege und Literaturhinweise.  Zit. nach L. Gall: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324– 56, hier S. 349 Anm. 42.  So die Charakterisierung von G. Hübinger: Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und politische Kritik. Göttingen 1984, S. 116.  Gall: Liberalismus (wie Anm. 2), S. 334 f. und 349. DOI 10.1515/9783110534672-007

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dem vergleichsweise elitären Selbstverständnis der in der napoleonischen Epoche zu einer politisch bevorrechteten Notabelnschicht emporgehobenen, wohlhabenden Wirtschaftsbürger.

Der Aufstieg der wohlhabenden Wirtschaftsbürger zu einer regionalen politischen Elite⁵ Die Entwicklung der nördlichen Rheinlande zur größten zusammenhängenden Gewerberegion des deutschsprachigen Raums begann bereits in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. Die räumliche Nähe zu den Niederlanden und Frankreich ließ das Rheinland an der ökonomischen Expansion Westeuropas sowie an der Entwicklung des Transatlantikhandels teilhaben. Diese überregionale, schließlich internationale Marktintegration führte zur Herausbildung exportorientierter Großgewerbe, deren Produktion und Absatz von einer wachsenden Zahl von Kaufleuten, Spediteuren,Verlegern und Manufakturisten organisiert wurde, die im folgenden unter den Begriffen Wirtschaftsbürger oder Wirtschaftsbürgertum gefaßt werden sollen. Mit der raschen Expansion ländlicher Heimgewerbe, aber auch der verlagskapitalistischen Transformation und Ausdehnung älterer Handwerke, folgten die nördlichen Rheinlande – im Vergleich zu anderen deutschen Regionen – eher einem „westeuropäischen Typ“ der Gewerbeentwicklung. Am Ende des Ancien Régime bildeten die Wirtschaftsbürger vielerorts im Rheinland eine dynamisch wachsende, sozial distinkte, von der vergleichsweise zahlreichen Lohnarbeiterschaft und den selbständigen Handwerkern klar geschiedene Gesellschaftsschicht, deren politischer Denkhorizont jedoch kaum über den Rayon der jeweiligen Stadt hinausragte und der es an gesellschaftlichen Mitspracherechten mangelte. Die Epoche der französischen Herrschaft im Rheinland seit 1794 änderte diese Situation schlagartig: sie führte rasch zu einer erheblichen Stärkung der politischen Rechte und der ökonomischen Einflußmöglichkeiten des begüterten Wirtschaftsbürgertums. Es wurde zum vornehmlichen Nutznießer des Anschlusses an Frankreich, in welchem sich gerade aus den Wirren der ersten Revolutionsjahre eine liberale Eigentümergesellschaft in Form einer Notabelngesellschaft etabliert hatte. Die „meistbesteuerten“ Kaufleute, Manufakturisten und Verleger der Rheinlande wurden über die neu gegründeten Handelskammern und Handelsund Gewerbegerichte, über ihre nun rechtlich verankerte Dominanz in den Stadträten und ihre mit dem Adel gleichberechtigte Teilhabe an den politischen

 Vgl. hierzu Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 29 – 46.

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Beratungsgremien des Kaiserreichs zum Kern einer für den deutschsprachigen Raum einzigartigen Notabelngesellschaft, die sich durch eine neue Wertigkeit des Besitzes auszeichnete: Reichtum und Steuerleistung „an sich“, d. h. auch mobiles gewerbliches Kapital wurden dem Besitz von Ländereien ebenbürtig. Die Säkularisation der Kirchengüter und der anschließende Verkauf dieser am Rhein besonders umfangreichen Ländereien durch den französischen Staat zwischen 1803 und 1813 ermöglichten aber auch den Erwerb von Grundbesitz durch Wirtschaftsbürger in großem Stil. Sie machten vor allem die kaufkräftigen Wirtschaftsbürger der Handels- und Gewerbezentren zugleich zu einer grundbesitzenden, an Bodenrente partizipierenden Schicht – durch Heirats- und Verkehrskreise eng verbunden –, die sich nun um so stärker von kleinen Händlern, Ladenbesitzern, Handwerksmeistern usw. abzuheben begann. Auch die sozial exklusiven Auswahlkriterien und Wahlmodi zu den Handelskammern und Handelsgerichten, die die wirtschaftlich führenden Kreise Kölns oder Aachens auch in preußischer Zeit aufrechtzuerhalten verstanden, spiegeln exemplarisch die durch die französische Herrschaft verstärkten oder beschleunigten innerbürgerlichen Differenzierungsprozesse wider. Die Integrationspolitik Preußens gegenüber der neu erworbenen Provinz zeichnete sich nach 1814 einerseits durch die Bereitschaft zur Wahrung einer rechtlichen Kontinuität und zur Anerkennung der ökonomischen und gesellschaftlichen Bedeutung der notablen Wirtschaftsbürger aus. Die preußische Administration bestätigte zumindest vorläufig die Fortdauer wichtiger Teile des französischen Rechtssystems, hielt vor allem konsequent an der im Rheinland durchgesetzten Gewerbefreiheit fest und bemühte sich – soweit es die Interessen des Gesamtstaates zuließen – um eine Förderung der bestehenden Großgewerbe. Bis spätestens 1820 schälte sich aber auf der anderen Seite heraus, daß die preußische Politik die Gleichwertigkeit der Besitzformen in Frage zu stellen suchte, mithin eine erneute gesellschaftliche Privilegierung des Grundbesitzes anstrebte. Der Berliner Entwurf zur Einrichtung von sog. Provinzialständen koppelte das aktive und passive Wahlrecht für diese berufsständisch strukturierten, auf die jeweilige Provinz beschränkten, nur mit dem Vorschlags- und Beratungsrecht ausgestatteten Landtage an den Besitz von Grund und Boden. Der umfangreiche Landbesitz besonders des etablierten, wohlhabenden Wirtschaftsbürgertums in der Rheinprovinz nahm aber diesem Angriff der Restauration viel von seiner Schärfe. Eine im November 1822 nach Berlin einberufene „Versammlung rheinischer Notabeln“ einigte sich mit der Regierung auf einen – wie es Horst Lademacher formulierte – „konservativen Kompromiß“: Der Grundbesitz wurde als privilegierte, staatstragende Eigentumsform anerkannt, dem grundbesitzenden Wirtschaftsbürgertum aber eine herausragende Sonder-

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stellung in der politischen Repräsentation eingeräumt.⁶ Im Unterschied zu anderen preußischen Provinzen sollte stets ein Drittel der Abgeordneten nur von Wirtschaftsbürgern der Handels- und Gewerbestädte, die mehr als 30 Taler Gewerbe- und Grundsteuer – davon mindestens zwölf Taler Grundsteuer – zahlten, gestellt werden. Allen anderen bürgerlichen Schichten, Handwerkern, freien Berufen, aber auch kleinen Fabrikanten und Kaufleuten ohne Grundbesitz wurde das aktive und passive Wahlrecht verweigert. Obwohl sich das notable Wirtschaftsbürgertum ausrechnen konnte, im zukünftigen Landtag nicht nur durch die 25 Abgeordneten der Städte, sondern auch durch zahlreiche bürgerliche Abgeordnete aus dem sog. Ritterstand (Zweiter Stand) und dem Vierten Stand (Bauern) vertreten zu sein, stießen die Verhandlungsergebnisse der rheinischen Notabelnkommission auch auf scharfe interne Kritik. Der Grund dafür war das Zugeständnis einer überdimensionierten politischen Repräsentation an den kleinen, ökonomisch schwachen rheinischen Adel. Die Wiederherstellung des Geburtsadels im Jahr 1826 sowie die von da ab kontinuierlichen Versuche Berlins, die adeligen Majorate und Fideikommisse wieder einzuführen und die rechtliche Gleichheit von Stadt- und Landgemeinden im Rheinland zugunsten einer Stärkung des landsässigen Adels aufzuheben, stärkten  H. Lademacher: Die nördlichen Rheinlande von der Rheinprovinz bis zur Bildung des Landschaftsverbandes Rheinland (1815 – 1953). In: F. Petri/G. Droege (Hrsg.): Rheinische Geschichte. 2. Aufl. Bd. 2. Düsseldorf 1976, S. 475 – 866, hier S. 498.Vgl. außerdem A. Hasenclever: Zur Entstehung der rheinischen Provinzialstände. Aktenstücke über die Beratungen der rheinischen Notabeln in Berlin im November und Dezember 1822. In: Westdeutsche Zeitschrift fü r Geschichte und Kunst 25 (1906), S. 192– 238. Das notable Wirtschaftsbürgertum wurde bei diesen Beratungen repräsentiert durch: 1. Friedrich Herwegh, Rentier und Finanzier aus Köln; 2. Friedrich Heinrich von der Leyen, Großverleger und Großgrundbesitzer aus Krefeld; 3. Peter von Fisenne, Großkaufmann und Stadtrat aus Aachen; 4. Rüttger Brünig, ehem. Kaufmann und Oberbürgermeister von Elberfeld; 5. Josua Hasenclever, Großkaufmann aus Remscheid; 6. Bernhard Diez, Verlagskaufmann aus Koblenz; 7. Carl Vopelius, Hüttenwerksbesitzer aus Sulzbach; 8. Johann Adolph, Bürgermeister von Wesel. 1803 berief die französische Regierung erstmals zur Gründungswahl der Kölner Handelskammer einen Kreis von notablen Kaufleuten. Die Handelskammern der rheinischen Städte besaßen fortan das Vorschlagsrecht für die jährlich aufzustellende Liste der „Notabeln des Handelsstandes“, d. h. der angesehensten und einflußreichsten Kaufleute und Fabrikanten, die zur jährlichen Wahl der Handelsrichter berechtigt waren. Das Institut der Notabeln für die Wahl der Handelsrichter und der Begriff „Notabeln“ als Selbst- und Fremdbezeichnung einer herausgehobenen wirtschaftsbürgerlichen Führungsschicht erhielt sich im Rheinland bis in die Zeit der Reichsgründung. Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 33 ff. Noch am 17.1.1863 erschien in der „Kölnischen Zeitung“ eine „Rheinische Notabelnadresse“, unterzeichnet von den bedeutendsten, sich als „altliberal“ bezeichnenden Unternehmern und Bankiers der Rheinprovinz, die sich gegen die kompromißlose Haltung der Fortschrittspartei im preußischen Verfassungskonflikt aussprach. Vgl. auch T. Parent: „Passiver Widerstand“ im preußischen Verfassungskonflikt. Die Kölner Abgeordnetenfeste. Köln 1982, S. 72 und 121.

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das Gewicht jener kritischen Stimmen und zeigten die Grenzen der Kompromißbereitschaft einer herausgehobenen Schicht sehr wohlhabender Wirtschaftsbürger, die sich zunehmend selber – und nicht den schwachen katholischen Adel – als eigentliche regionale Elite „an Adels statt“ begriff.⁷ Die von der wirtschaftsbürgerlichen Oberschicht in der napoleonischen Epoche errungene Position in den Stadt- und Gemeinderäten blieb auch in preußischer Zeit erhalten. Die immer wieder erfolgreiche Verteidigung der dominanten Stellung in den Kommunen, vor allem aber die insgesamt noch erfolgreiche Wirtschaftspolitik Preußens, trugen bis in die späten 1830er Jahre dazu bei, daß das Befremden, welches die Berliner Rheinlandpolitik in dieser Schicht hervorrief, zwar eine konsequente, zunehmend ritualisierte Abwehrhaltung erzeugte, aber nicht in eine liberale Oppositionsbewegung umschlug. Neben regionalen Zeitschriften und Handelszeitungen, wie dem „RheinischWestfälischen Anzeiger“ oder dem „Allgemeinen Organ für Handel und Gewerbe“ aus Köln, die als Selbstverständigungsorgane fungierten, stärkte besonders der in Düsseldorf in unregelmäßigen Abständen tagende Provinziallandtag – in weit höherem Maße als es die sich aus der Notabelnschicht rekrutierenden napoleonischen Departmenträte vermocht hatten – den „Vergesellschaftungsprozeß“ lokaler Gruppen zu einer regionalen wirtschaftsbürgerlichen Elite. Zwar bestand weiterhin ein lebhaftes Interesse an kommunalpolitischen Fragen, und die Mitarbeit in den sozial exklusiven Gemeindevertretungen war den wohlhabenden Wirtschaftsbürgern so selbstverständlich wie die Übernahme anderer städtischer Ehrenämter. Der Provinziallandtag war für die führenden Wirtschaftsbürger aber nicht zuletzt deshalb von herausragender Bedeutung, weil er eine direktere Kontaktaufnahme mit und direktere Einflußnahme auf staatliche Entscheidungsträger erlaubte, als das über die Gemeindevertretungen, ja selbst über die Handelskammern, möglich war. Der Provinziallandtag bot auch immer wieder die institutionelle Chance zur Koordinierung und Bündelung wirtschaftsbürgerlicher Interessen.

 So sprach der Kölner Großkaufmann Peter Heinrich Merkens (1778 – 1854) 1827 sarkastisch vom rheinischen Adel als „einer Aristokratie, die sich einbildet, den englischen Pairs gleichzustehen, die aber vergißt, daß sie an allen den Gütern arm ist, die diese in so überschwenglichem Maße besitzen, d. h. an Vermögen, Geschichte und Popularität.“ Der rheinische Adel besaß nämlich in den 1820er Jahren nur noch 4 % der Grundfläche der Provinz und zahlte nur 3,85 % der Grundsteuern. Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 303, Anm. 45 und 47. Bereits 1803 schrieb der Rheinisch-Westfälische Anzeiger, S. 1498 f., über die Verhältnisse im Herzogtum Berg, dem späteren rechtsrheinischen Teil der Provinz: „Der Adel hat sich aus einem Land, wo Fabriken Reichtum und Reichtum Ansehen gibt, weggezogen. – Viele Rittergüter sind das Eigentum des Fabrikanten und in 20 Jahren sind es vermutlich alle, die nicht Fideikommiß sind […].“

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Die Herausbildung eines „industriellen“ Liberalismus 1840 – 1848 Der Provinziallandtag wurde – neben Handelskammern, Periodika und Zeitungen – seit den späten 1830er Jahren auch zu einem wichtigen Forum einer in der wirtschaftbürgerlichen Oberschicht des Rheinlands geführten Industrialisierungsdebatte; einer Debatte um die Zukunft von Gewerbe und Industrie unter den Herausforderungen von Massenarmut und überlegener westlicher Konkurrenz, einer Debatte auch um die möglichen Auswirkungen einer forcierten Industrieentwicklung auf die bürgerliche Gesellschaft. Sie ist insofern von zentraler Bedeutung für die Konstituierung des politischen Liberalismus besitz- oder wirtschaftsbürgerlicher Prägung in der Rheinprovinz, als diese Debatte direkt in die liberale Oppositionsbewegung der 1840er Jahre mündete. Die durchweg zwischen 1790 und 1815 geborenen Protagonisten einer bewußt beschleunigten, durch eine völlig neuartige staatliche Wirtschaftspolitik abzusichernden Industrialisierung wurden zugleich die führenden Köpfe der liberalen Bewegung des Rheinlands, allen voran die Kaufleute und Bankiers Ludolf Camphausen (1803 – 1890) aus Köln und David Hansemann (1790 – 1864) aus Aachen, die schließlich im März 1848 zum Ministerpräsidenten bzw. Finanzminister des ersten bürgerlichen Kabinetts in Preußen anvancieren sollten. Dieser andernorts rekonstruierte Industrialisierungsdiskurs innerhalb einer in den Quellen faßbaren Führungsgruppe des Wirtschaftsbürgertums⁸ leitete – getragen auch durch neue Erfahrungen wirtschaftlicher Wachstumschancen wie dem Eisenbahnbau oder den ökonomischen Erfolgen im benachbarten Belgien – einen Paradigmenwechsel im großen Stil ein. An die Stelle des früheren wirtschaftsliberalen Leitideals eines „ausgeglichenen Verhältnisses von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe“, das praktisch die gesellschaftlich untergeordnete Rolle der großgewerblichen Warenproduktion formelhaft festgeschrieben hatte, traten neue Kategorien der Wirklichkeitserfassung und des Zukunftsentwurfs. Die Industrie wurde zum Bewegungszentrum der gesamten Gesellschaft erklärt. Die Landwirtschaft verlor dagegen ihren Primat, der Handel seine wegweisende Funktion für die industrielle Produktion. Seit den 1830er Jahren setzte sich mithin, beginnend in den führenden Kreisen des rheinischen Wirtschaftsbürgertums, die historisch neuartige Auffassung relativ zügig durch, daß die gewerbliche Warenproduktion einer unendlichen Ausdehnung fähig sei, zumal auf unabsehbare Zeit auch die Bedürfnisse schier unbegrenzt vermehrbar seien. Man begriff sich jetzt als Teilnehmer an einem anhaltenden Wachstumsprozeß, und die nach 1814, aber auch noch in den späten

 Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 47– 172, 190 – 213.

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1820er Jahren sehr konkrete Perspektive einer langfristigen Stagnation von Handel und Gewerbe rückte in eine ferne Zukunft. „Wo die Grenze der fortschreitenden Bewegung liege, kann nur die Zukunft enthüllen“ – formulierte Ludolf Camphausen 1835 –, „allein wir sind berechtigt den Stillstand in großer Ferne zu suchen.“⁹ – Von der historisch neuartigen Erwartung eines anhaltenden Wachstums zur massiv geforderten Beschleunigung dieses Wachstums durch Banken, Aktiengesellschaften und eine neue Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß war es dann nur ein vergleichsweise kleiner Schritt. Der drastische Paradigmenwechsel erstreckte sich auch auf weitere Bereiche des Denkens: Eine forcierte Gründung von neuen Fabriken über den „natürlichen“ Gang der Wirtschaftsentwicklung hinaus – in den 1820er Jahren noch als Heranzüchtung kränkelnder „Treibhausindustrien“ strikt abgelehnt – galt fortan nicht mehr als Ursache von Armut und städtischem Proletariat, sondern als Mittel im Kampf gegen die Armut. Die Pauperismusdebatte, die bis dahin eher auf gesetzliche Heiratsbeschränkungen, Revisionen der Gewerbefreiheit und Industriebegrenzung abzielte, wurde in ihrer Pointe nachgerade umgebogen. Die soziale Problematik der Gesellschaft wurde nicht mehr im Vorhandensein von zu vielen unter dem Existenzminimum entlohnten gewerblichen Arbeitskräften, sondern im Mangel an Arbeitsmöglichkeiten verortet. Die historisch neuartige Bejahung einer beschleunigten Industrieentwicklung lebte mithin von der Überzeugung, damit eine entscheidende Waffe gegen die Massenarmut gefunden zu haben. Soziale Begleiterscheinungen der früher heftig kritisierten englischen Industrialisierung – die Urbanisierung mit ihren Slums, das sozial „bindungslose“, „entsittliche“ Proletariat usw. – verloren an Bedeutung. Teilweise dezidiert, teilweise stillschweigend verabschiedete man sich in diesen führenden Zirkeln des rheinischen Wirtschaftsbürgertums auch von der alten liberalen Leitvorstellung einer „Bürgergesellschaft“ der weithin selbständigen, „mittleren Existenzen“. Allenfalls gab man sich vagen Hoffnungen hin, etwa durch eine gezielte Dezentralisierung der Industrie und durch Schaffung eines Typs von Arbeiter-Bauern, die schlimmsten Fehler der englischen Entwicklung vermeiden zu können. Zugespitzt formuliert, sollte die Sprengkraft der Massenarmut durch Wachstum entschärft, und die mit Notwendigkeit wachsende Zahl der Lohnarbeiter durch Wachstum in eine „bürgerliche Ordnung“ integrierbar gemacht werden. Nur ein Teil der – politisch eher konservativen – Verleger-Kaufleute des Bergischen Landes in Solingen und im Wuppertal hielten eine zeitlang – auch noch während der Revolutionsjahre 1848/49 – am tradierten Entwurf einer Erwerbsgesellschaft der

 Einladung der Handelskammer Köln zur Beteiligung an der Eisenbahn von Köln zur belgischen Grenze vom 6. 3.1835. In: M. Schwann. Ludolf Camphausen. Bd. 2. Essen 1915, S. 357.

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„mittleren Existenzen“ fest.¹⁰ In Abgrenzung zu Behauptungen in der älteren Literatur muß hervorgehoben werden, daß die führenden Repräsentanten des rheinischen Liberalismus sehr klar das drastische Anwachsen der freien Lohnarbeit als Begleiterscheinung einer beschleunigten Industrialisierung erkannten. Schon 1834 hielt Hansemann die Proletarisierung und damit eine wachsende Polarisierung in Besitzende und Nichtbesitzende für nicht mehr grundsätzlich korrigierbar, da „durch die zunehmende Anwendung des Prinzips der Teilung der Arbeit der Stand der Proletarier stets neuen Zuwachs“ erhalte, „wie viele derselben auch bei zweckmäßigen Staatseinrichtungen immer in die anderen Stände übergehen mögen“.¹¹ Im folgenden soll der Zusammenhang des Industrialisierungsdiskurses, bzw. seines Ergebnisses – der von einflußreichen Kreisen des Wirtschaftsbürgertums nun emphatisch bejahten Industrieentwicklung, mit der Konstituierung eines „großbürgerlichen“ Liberalismus im Rheinland – genauer analysiert werden. Denn es waren weniger die lästigen Versuche Berlins, den „konservativen Kompromiß“ zugunsten des schwachen rheinischen Adels zu verschieben, als vielmehr industrialisierungspolitische Erfordernisse, die ab etwa 1840 im Wirtschaftsbürgertum zur Aufkündigung des alten Arrangements führten. Die seit 1820 verdrängte „Verfassungsfrage“ wurde erneut gestellt und innerhalb nur weniger Jahre entwickelte sich jene dezidiert auf den preußischen Gesamtstaat gerichtete, politisch offensive, liberale Bewegung, die die zuvor in Fragen der ‚großen Politik‘ häufig indifferenten wirtschaftsbürgerlichen Kreise der Provinz zu einer – bis in die Revolutionsjahre hinein – handlungsfähigen „Partei“ zusammenfassen und sogar zeitweilig eine Ausstrahlungskraft auf das „kleine“ Bürgertum und das eher  Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 257 ff., sowie ders.: Tarifvereinbarungen und „Ehrenräte“. Unternehmer und Arbeiter im Regierungsbezirk Düsseldorf während der Revolution 1848/ 49. In: B. Dietz (Hrsg.): Industrialisierung, historisches Erbe und Öffentlichkeit (= Neues Bergisches Jahrbuch, Bd. 3). Wuppertal 1990, S. 178 – 226.  D. Hansemann: Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830. In: J. Hansen (Hrsg.): Rheinische Briefe und Akten. Bd. 1. Essen 1919 (Nachdruck Osnabrück 1967), S. 11– 81, hier S. 12 (= Hansemann 1830). Vgl. auch weitere Zitate von Hansemann in: Boch: Wachstum (wie Anm. 1), z. B. S. 359, Anm. 48 (1840): „Das Maschinenwesen. Es vermehrt auf der einen Seite die Zahl der besitzlosen Menschen, die vom Tage zu Tage nur leben. Auf der anderen Seite vermindert es den Preis der Fabrikate […].“ Angesichts der völlig eindeutigen Aussagen Hansemanns ist es unverständlich, daß etwa G. Adelmann und W. Zorn in den 1960er Jahren zu folgendem Urteil kamen: „Offensichtlich aber hat er, selbst noch im Anfang der deutschen Industrialisierung lebend, die der privatwirtschaftlichen Industrialisierung innewohnende Tendenz zur Scheidung der industriellen Gesellschaft in Besitzer der Produktionsmittel und […] dauernd unselbständig bleibende Lohnempfänger nicht, oder wenn überhaupt, so nicht deutlich genug erkannt und gewertet.“ Dies.: David Hansemann als Sozialpolitiker. In: B. Poll (Hrsg.): David Hansemann. Aachen 1964, S. 27– 44, hier S. 32.

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konservative wirtschaftsbürgerliche Milieu des rechtsrheinischen Teils der Provinz entfalten konnte.¹² Bereits seit dem Ende der 1830er Jahre war die relative Zufriedenheit mit der preußischen Wirtschaftspolitik, vor allem seit der Zollvereinsgründung 1834, in eine zunehmend schärfer werdende Kritik umgeschlagen. Das lag einerseits an der zögernden – nach Meinung führender rheinischer Wirtschaftsbürger unberechenbaren – Haltung des preußischen Staates zum Eisenbahnbau. Aber auch auf anderen zentralen Feldern der Wirtschaftspolitik – etwa bei der Deregulierung des Bergbaus oder in der Geld- und Bankenpolitik – geriet das immer klarer formulierte Interesse an beschleunigtem industriellen Wachstum in Konflikt mit dem Leitungsanspruch und dem Beharrungsvermögen der Berliner Bürokratie, nicht zuletzt auch den Interessen der ostelbischen Junker. Seit 1842 begann der preußische Staat zwar seine wirtschafts- und finanzpolitische Positionen zu modifizieren. Weniger die Richtung hin zu einer partiellen Befriedigung der wirtschaftsbürgerlichen Forderungen als vielmehr die Effizienz dieser Maßnahmen muß nach jüngeren Forschungsergebnissen aber relativiert werden.¹³ Die häufige, ernüchternde Zurücksetzung industrieller und kommerzieller Interessen mündete in eine seit Beginn der 1840er Jahre immer schärfer werdende Bürokratiekritik, in deren Mittelpunkt die Inkompetenz einer intrasigenten „Be-

 Vor allem im linksrheinischen Teil der Rheinprovinz waren seit Beginn des 19. Jahrhunderts – um mit Hansemann zu sprechen – liberale Denkhaltungen bereits in viele Poren des gesellschaftlichen Lebens und des bürgerlichen Selbstverständnisses eingedrungen. Dieser rudimentäre Liberalismus, der sich auch in der zähen Verteidigung weiterbestehender bürgerlicher Rechtsinstitutionen der französischen Epoche ausdrückte, war zwar alltäglich geworden, stagnierte aber nach einigen Vorstößen (zwischen 1814 und 1819), den preußischen König an sein Verfassungsversprechen zu erinnern. Noch um 1840 dachte die „zahlreiche, vermögende Klasse politisch indifferenter Staatsbewohner“ (Zitat nach D. Hansemann: Preußens Lage und Politik 1840. In: J. Hansen [Hrsg.]: Rheinische Briefe und Akten. Bd. 1. Essen 1919 [Nachdruck Osnabrück 1967], S. 197– 268, hier S. 218) aber nicht an eine konflikthafte Aufkündigung des „konservativen Kompromisses“ von 1822, sondern richtete ihre Hoffnungen auf den Thronwechsel in Preußen. Hansemann, Camphausen und zahlreiche jüngere rheinische Wirtschaftsbürger, die nüchtern konstatierten, daß ohne gezielte Konfrontation keine adäquaten Reformen zu erreichen waren, zeigten sich von der defensiven Grundhaltung und der Ergebnislosigkeit des 6. Rheinischen Provinziallandtages von 1841 tief enttäuscht. Im Gegensatz zum sog. ostpreußischen Huldigungslandtag war im Rheinland die Forderung nach einer konstitutionellen Verfassung ausgeblieben. Erst die Rheinischen Provinziallandtage von 1843 und 1845 machten auch für die Liberalen in den süddeutschen Verfassungsstaaten (vgl. etwa diverse Artikel in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“) das Erstarken einer entschieden liberalen Opposition – nun getragen von jener Generation der zwischen 1790 und 1815 geborenen Wirtschaftsbürger – deutlich. Vgl. dazu auch Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 187 ff.  Dazu ebd., S. 139 ff., 177 ff.

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amtenherrschaft“ stand. In den Augen rheinischer Wirtschaftsbürger der Generation eines Camphausen oder Hermann von Beckerath (1801– 1870), die um 1840 führende Positionen in der rheinischen Wirtschaft zu übernehmen begannen, war der antikonstitutionelle preußische Staat mit seiner „Beamtenherrschaft“ weder dazu fähig, die großen Fragen der Zeit zu erkennen, eine langfristige Rahmenpolitik für die angestrebte Industrieentwicklung zu entwerfen und eine gezielte staatliche Infrastrukturpolitik zu betreiben, noch war er dazu in der Lage, die Geldmittel dafür zu mobilisieren. Auch politisch keineswegs dezidiert liberale Wirtschaftsbürger wie der Wuppertaler Bankier August v. d. Heydt (1801– 1874) oder der Viersener Verleger und Textilunternehmer Friedrich Diergardt (1795 – 1869), begannen diese Sichtweise zu teilen. Aber nicht nur industrialisierungspolitische Erfordernisse führten dazu, die Teilhabe an der Macht im Gesamtstaat anzusteuern. Denn in einer Zeit rascher ökonomischer Veränderungen und sozialer Spannungen galt das politische System des preußischen Staates in der wirtschaftsbürgerlichen Oberschicht der Rheinprovinz zunehmend als instabil und gefährdet. Der konstitutionelle Liberalismus der westlichen Nachbarstaaten – vor allem Belgiens und Frankreichs – schien dagegen die bedrohliche Problemhäufung in der Gesellschaft am ehesten zu entschärfen. Seit dem Jahr 1844, das ein Anwachsen der sozialen Konflikte in Preußen in das Bewußtsein rückte, unterstützten zunehmend auch zuvor politisch desinteressierte große und kleine Wirtschaftsbürger die Forderung nach einer gesamtstaatlichen Volksvertretung, welche die „bürgerliche Freiheit“ verbürgen, die „Macht des demokratischen Elements“ mäßigen und den „Durchbruch der öffentlichen Meinung“ – so umschrieb v. Beckerath auf dem 8. Rheinischen Provinziallandtag von 1845 eine drohende Revolution – verhindern sollte.¹⁴ 1845 gelang dem rheinischen Liberalismus, wie er von Hansemann, Camphausen oder v. Beckerath repräsentiert wurde, nicht zuletzt aus solchen Erwägungen heraus, der Durchbruch zu einer zeitweilig in allen bürgerlichen Schichten der Provinz akzeptierten liberalen Oppositionsbewegung.

David Hansemann als politischer Vordenker Schon fünfzehn Jahre zuvor hatte Hansemann in einer Denkschrift an König Friedrich Wilhelm III. die „Beamtenherrschaft“ als „kein eigentliches Lebensprinzip des Staates“ bezeichnet und vor dem Hintergrund der Revolutionen des

 Zit. nach H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2. München 1987, S. 658.

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Jahres 1830 und den Arbeiterunruhen in Aachen einen den sozioökonomischen Realitäten adäquaten politischen „Überbau“ in Preußen gefordert. Diese Denkschrift von 1830 sowie eine zweite, nie an den König abgesandte Denkschrift von 1840 weisen Hansemann klar als einen politischen Vordenker aus.¹⁵ Strategie und Programm des rheinischen Liberalismus der 1840er Jahre wurden in diesen Schriften bereits weitgehend vorformuliert. Die Denkschrift von 1830 war 1845 noch so aktuell, daß Hansemann sie als Broschüre gedruckt unter den Abgeordneten des Provinziallandtags verteilen ließ. Hansemann verlangte bereits 1830 eine verfassungsmäßig abgesicherte politische Partizipation „der eigentlichen Kraft der Nation“, des „Mittelstandes“, im preußischen Gesamtstaat. Diesen „Mittelstand“ faßte er sozial sehr eng als „höheren Bügerstand“¹⁶, als dessen zentralen Bestandteil er die „angesehenen Kaufleute und Fabrikanten“¹⁷ sah. Er forderte einerseits allgemeine Staatsbürgerrechte für „alle Staatsmitglieder“ und eine Aufhebung der Zensur, andererseits aber eine klare politische Bevorrechtung des Besitzes. Wie in der rheinischen Notabelngesellschaft vor 1814 sollte auch im preußischen Gesamtstaat die Gleichwertigkeit der Besitzformen zugrunde gelegt werden, mithin „der Umfang der direkten Steuern“ und nicht etwa der Landbesitz ausschlaggebend sein. Sein Vorbild war das hohe Zensuswahlrecht des gerade zur Macht gelangten französischen Bürgerkönigtums.¹⁸ Sein Ziel, das galt auch für den rheinischen Libera-

 Beide Denkschriften abgedruckt in Hansen: Rheinische Briefe und Akten, siehe Anm. 11 und 12 in diesem Aufsatz. Zur bedeutenden Rolle Hansemanns siehe auch Rudolf Boch: David Hansemann. Das Kind der Industrie. In: S. Freitag (Hrsg.): Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. München 1998, S. 171– 184.  Hansemann: 1840 (wie Anm. 12), S. 218.  Hansemann: 1830 (wie Anm. 11), S. 51.  Alle Zitate ebd.; Hansemann erklärte 1850 in einer Fußnote zum erneuten Abdruck der Denkschrift von 1830 in seinem Buch „Verfassungswerk“ die Höhe des Zensus damit, daß der Wahlrechtsvorschlag einer „unumschränkten Regierung“ gemacht worden sei, „die das Repräsentativsystem für staatsgefährlich hielt.“ Noch bis in die 1840er Jahre war Hansemann, der das vergleichsweise demokratische Wahlrecht von 1848 in Preußen stets als Episode betrachtete und schließlich das Dreiklassenwahlrecht unterstützte, freilich ein uneingeschränkter Bewunderer des Bürgerkönigtums und seines besonders exklusiven Systems der politischen Partizipation. Es schien ihm bei aller Liberalität Ruhe und Ordnung zu garantierten und die Gewähr einer langen Dauer in sich zu tagen. Er war vom Sturz Louis-Philippes im Februar 1848 völlig überrascht. Vgl. A. Bergengruen: David Hansemann. Berlin 1901, S. 134. Auch rückblickend urteilte Hansemann über die Epoche des Bürgerkönigtums äußerst positiv: „Der Dichter Lamartine, der Naturforscher Arago, der Sozialist Louis Blanc nebst mehreren anderen Schwärmern und Phantasten ergriffen die Zügel eines großen Staates, in welchem Freiheit, Ordnung und Wohlstand sich in den letzten 18 Jahren entwickelt hatten wie nie zuvor.“ Ders.: Das preußische und deutsche Verfassungswerk. Mit Rücksicht auf mein politisches Wirken. Berlin 1850, S. 77.

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lismus der 1840er Jahre, war nicht die vollständige Verdrängung der alten Machtelite – im Gegensatz zum rheinischen Adel wurde die Relevanz der ostelbischen Junker nicht bezweifelt –, sondern die Ergänzung der adlig-bürokratischen Elite durch das besitzende Bürgertum in einer parlamentarisierten Eigentümergesellschaft. Wie im einstigen Notabelnsystem sollten alle zur politischen Leitung befähigt sein, die in der Gesellschaft einen hervorragenden Platz einnahmen. Bestärkt durch das Beispiel des scheinbar stabilen Frankreich unter Louis-Philippe, glaubten die führenden der rheinischen Liberalen noch bis zum Jahresbeginn 1848, daß eine modernisierte, kleine, aber vereint mächtige Elite die Gesellschaft ohne Umsturzgefährdung und ohne den Zwang zu demokratischen Zugeständnissen durch die Zukunft steuern könne. „Aristokratie in diesem Sinne genommen, daß die Vermögenderen und Angeseheren des Staates den meisten Einfluß haben sollen, ist ganz mein System“, formulierte Hansemann in Abgrenzung zu „überspannten demokratischen Ideen“, die er vor allem bei den Repräsentanten des Liberalismus in den deutschen Kleinstaaten zu entdecken glaubte.¹⁹ Bei Hansemann traten die im Gegensatz zum südwestdeutschen Liberalismus eines Carl v. Rotteck (1775 – 1840) oder Karl Theodor Welcker (1790 – 1869) elitären Wahlrechtsvorstellungen des rheinischen Liberalismus klar hervor.²⁰ Die politische Privilegierung der Besitzenden, sei es in Form eines hohen Zensuswahlrechts oder eines Klassenwahlrechts, das seinen Ursprung nicht zufällig im Wahlrecht der reformierten Gemeinden der Rheinprovinz hatte, bildete einen auch späterhin kaum in Frage gestellten Common sense der sozialen Trägerschicht dieses Liberalismus.²¹

 Zit. nach Hansemann: 1830 (wie Anm. 11), S. 57.  Rotteck etwa lehnte das Wahlrecht des französischen Bürgerkönigtums als viel zu rigoros ab. Lediglich „180.000 reiche Leute“ als Wähler entsprachen nicht seinem Ideal eines niedrigen Zensus, der nie so hoch sein sollte, daß er eine „eminente Mehrzahl der Nation ausschlösse.“ „Die kleinen und mittleren Besitzer“ sollten als Teile der „Mittelklasse“ an der politischen Partizipation teilhaben. Das politische Gravitationszentrum einer „bürgerlichen Gesellschaft“ war bei Rotteck mithin deutlich anders gelagert als bei Hansemann, der in offenbar bewußtem Gegensatz zum südwestdeutschen Liberalismus ein spezifisch verengtes Zukunftsbild politischer Teilhabe entwarf. Zu Rotteck vgl. dessen Artikel „Census, insbesonder Wahlcensus“. In: Ders./C. T. Welcker (Hrsg.): Staatslexikon. Bd. 3. Altona 1836, S. 366 – 388. Vgl. auch M. Schumacher: Gesellschaftsund Ständebegriff um 1840. Ein Beitrag zum sozialen Bild des südwestdeutschen Liberalismus nach dem Rotteck-Welckerschen Staatslexikon. Diss. Göttingen 1955 (MS), v. a. S. 75 ff. und 211 ff.  Vgl. die immer noch vorzügliche Arbeit von H. Boberach: Wahlrechtsfragen im Vormärz. Die Wahlrechtsanschauung im Rheinland 1815 – 1849 und die Entstehung des Dreiklassenwahlrechts. Düsseldorf 1959.

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Auch das sog. Vereinbarungsprinzip, das dezidiert gegen naturrechtliche Begründungen einer erweiterten politischen Partizipation gerichtet war und zu einer verfassungspolitischen Leitidee des rheinischen Liberalismus im späten Vormärz werden sollte, war in Hansemanns Denkschrift von 1830 schon ausformuliert; ebenso ein weiteres zentrales Ziel des rheinischen Liberalismus der 1840er Jahre: die Stärkung der Stellung des Monarchen in einer Zeit rascher wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen, nicht nur als Mittler zwischen adligen und bürgerlichen Interessen, sondern auch als Garant des möglichen Ausnahmezustandes. Hansemann dachte nicht, wie südwestdeutsche Liberale, in den Kategorien einer zeitweiligen, befristeten Bevorrechtung der Besitzenden, die „bevorrechteter Kern“ einer späterhin zu verwirklichenden „bürgerlichen Gesellschaft“ mit annähernd gleichen Partizipationschancen sein sollte. Auch in den 1840er Jahren war eine solche Zielvorstellung nicht typisch für die liberale Führungscrew des Rheinlandes, sondern eher die Ausnahme. Das Bekenntnis zum Liberalismus war bei der Mehrzahl der hier analysierten Personen ohne utopisches Element. Es war Resultat einer gleichsam „in der Lebenswelt verankerten Praxis“ (Bourdieu) und Folge der als aktuell erkannten Handlungszwänge.²²

Wirtschaftliches Wachstum braucht bürgerliche Freiheiten Die führenden Repräsentanten des rheinischen Liberalismus der 1840er Jahre sahen ein zukünftig erfolgreiches industrielles Wachstum nicht nur eng mit einer neuen Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik, sondern auch mit der staatlichen Gewährung elementarer bürgerlicher Freiheiten verknüpft. Der „für die Entwicklung von Handel und Industrie unumgänglich notwendige praktische Verstand des Volkes“ könne nur durch „öffentliche Verhandlungen der öffentlichen Inter-

 Von den führenden rheinischen Liberalen der späten 1840er Jahre dachten meines Wissens nur einige jüngere wie Gustav Mevissen (1815 – 1899), der Chefredakteur der „Kölnischen Zeitung“ Karl Heinrich Brüggemann (1810 – 1887) oder vielleicht der Historiker Heinrich von Sybel (1817– 1895) in den Kategorien einer zeitweisen politischen Bevorrechtung. Sybel, der in vielem dem „Mainstream“ des rheinischen Liberalismus folgte und die elitären Wahlrechtsvorstellungen der 1840er Jahre eloquent verteidigte, räumte zumindest die Möglichkeit ein, „daß noch in unserem Menschenalter auch der Kapitalbesitz seine heutige Exklusivität aufgeben und der Arbeitskraft, wie sie sich in den großen Unionen zusammenfaßt, Anteil an der politischen Macht gewähren muß“. Vgl. H. von Sybel: Die politischen Parteien der Rheinprovinz. Düsseldorf 1847, S. 68 f. Zwar waren auch Hansemann, von Beckerath u. a. nach 1849 bereit, das Wahlrecht sehr vorsichtig auszudehnen. Sie folgten aber pragmatisch aktuellen politischen Opportunitätserwägungen, ohne je eine Zielvision zu formulieren.

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essen, seiner Teilnahme daran und sein Verständnis derselben“ geweckt werden.²³ Außerdem werde eine „Verfassungsgesetzgebung“ die „Ausbildung einer größeren Freiheit“ und die „Ausbildung einer größeren Fertigkeit der Menschen zum Erwerb“ ermöglichen.²⁴ Als Vorbild dieser angestrebten Dynamisierung der Gesellschaft, die nicht mehr zeitgemäße und inflexible ökonomische Lebens- und Denkformen aufbrechen sollte, galt ihm zunehmend England, welches – wie Hansemann 1840 formulierte – „in großartiger Erfahrung“ gezeigt habe, „daß eine graduierte und auf Vorrechten beruhende Freiheit“ mit der „Ausbildung der Nationalkräfte“ vereinbart sei, und dessen „politische Verdauung“ der Chartistenbewegung er später bewunderte.²⁵ Die wirtschaftsbürgerlichen Liberalen der Rheinprovinz suchten nach einem Weg des Umbaus und der liberalen Öffnung der preußischen Gesellschaft, der zugleich eine politische Partizipation breiterer Schichten oder gar eine Demokratisierung vermeiden sollte. In einer breiten politischen Partizipation sahen sie nicht nur eine Gefährdung ihrer ehrgeizigen Industrialisierungspläne, sondern noch grundsätzlicher der „bürgerlichen Gesellschaft“ an sich, da sie mit der latenten Gefahr einer „Pöbelherrschaft“ – verknüpft sei. Die stete Beschwörung einer drohenden „Pöbelherrschaft“ sie war schon der Ausgangspunkt von Hansemanns Denkschrift an den preußischen König 1830 – war den rheinischen Liberalen der 1840er Jahre einerseits taktisches Mittel, um die konservativen Regierungskreise von der Notwendigkeit zügiger Reformen zu überzeugen. Andererseits drückte sich in dieser Perhorreszierung eines Aufstandes der Unterschichten die seit der Französischen Revolution latent vorhandene Angst des besitzenden Bürgertums, weniger vor einer längerfristigen Herrschaft, als vielmehr vor dem „Exzeß“, vor der kurzlebigen „Herrschaft der Straße“, die Leib und Leben bedrohen konnte, aus.²⁶

 Zit. nach D. Hansemann: Über die gewerblichen Verhältnisse von Aachen und Burtscheid am Schlusse des Jahres 1843. Aachen 1845, S. 36 f.  Stenographischer Bericht Preußische Nationalversammlung 1848. Bd. 3, S. 755.  Hansemann: 1840 (wie Anm. 12), S. 237.  Diese Furcht speiste sich nicht nur aus der Erinnerung an die Französische Revolution. Hansemann etwa hatte nicht nur den Aachener „Arbeiteraufstand“ von 1830 miterlebt, sondern 1821 bereits die Zerstörung des Eupener Wohnhauses seines Schwiegervaters Fremerey, wo er eine Woche zuvor geheiratet hatte, durch eine „Weberemeute“. Ludolf Camphausen geriet im September 1848 – er weilte als preußischer Gesandter beim Paulskirchenparlament in Frankfurt – nach der Ermordung zweier konservativer Abgeordneter durch eine Volksmenge nachgerade in eine panikartige Stimmung. „Man kann sich nicht länger darüber täuschen, daß, wenn die Kerle siegten, wir am Abend sämtlich massakriert würden“, schrieb er seinem Bruder Otto in Berlin. Zit. nach A. Caspary: Ludolf Camphausens Leben. Stuttgart 1902, S. 256.

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Politik und Scheitern des Ministeriums Camphausen/Hansemann Der Ausbruch der französischen Revolution im Februar 1848 und der rasche Sturz Louis-Philippes kamen für die gesamte liberale Führungscrew des Rheinlandes unerwartet. Nach anfänglicher Verunsicherung erkannte sie die Chance, durch ein staatsloyales, aber zugleich entschieden liberales Programm die bisherige oppositionelle Führungsrolle zu behaupten und die vormärzliche „Protestpartei“ der Provinziallandtage in Preußen an die Macht zu bringen. Am 29. März 1848 berief der König unter Reformdruck und um Schlimmeres zu verhüten Camphausen zum ersten bürgerlichen Ministerpräsidenten Preußens und Hansemann zu seinem Finanzminister. Beide Männer sahen in den Berliner Barrikadenkämpfen vom 18. März nur eine unnötige, die Wirtschaft noch weiter in Mitleidenschaft ziehende Unterbrechung ihrer langfristigen Strategie. Sie glaubten, daß nichts errungen worden war, was ihnen nicht sowieso irgendwann zugestanden worden wäre. Ihr Ziel war es, die Konzessionen der alten Machtelite auf das im Vormärz bereits anvisierte Maß zu begrenzen und die Revolution möglichst bald abzuschließen. Obwohl das Ministerium Camphausen/Hansemann durch die Einberufung des nach wie vor ständisch gegliederten Vereinigten Landtags Anfang April 1848 zielstrebig eine politische Kontinuität zum Vormärz herzustellen suchte und dieses Gremium dazu benutzte, die zukünftige preußische Nationalversammlung auf ihre seit langem verfolgte Strategie einer „Vereinbarung“ der Verfassung mit einem politisch gestärkten König rechtlich bindend festzulegen, mithin eine auf Volkssouveränität beruhende, verfassungsgebende Konstituante zu verhindern, verfügte es bis in den Mai 1848 hinein über erhebliche Popularität. Das lag nicht zuletzt an einem vergleichsweise demokratischen Wahlgesetz für die Berliner Nationalversammlung, das in seinen Bestimmungen einem allgemeinen Wahlrecht für Männer über 25 Jahren sehr nahe kam. Camphausen und Hansemann mußten aber von jüngeren rheinischen Liberalen wie Gerhard Compes (1810 – 1887) oder Gustav Mevissen (1815 – 1899), die sich von dem indirekten Wahlverfahren über Wahlmänner eine mäßigende Wirkung versprachen, zur Vorlage dieses Gesetzes nachgerade gedrängt werden. Für fast alle führenden liberalen Wirtschaftsbürger des Rheinlandes war das neue Wahlrecht kaum mehr als eine zeitweilige, baldmöglichst zu revidierende Konzession an die Stimmung in der Bevölkerung.²⁷ Unter Rekurs auf tradiertes  Vgl. die detaillierte Darstellung bei F. Zunkel: Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1834– 1879. Köln 1962, S. 170 ff. Die Kritik der vom preußischen Monarchen im Dezember 1848 einseitig oktroyierten Verfassung, die von den führenden rheinischen Liberalen sonst durchweg begrüßt wurde, konzentrierte sich daher auf die immer noch als zu demokratisch erachteten Wahlrechtsbestimmungen. Ähnlich war auch die Kritik der Rheinländer großbürgerlich-liberaler

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Herrschaftswissen und in Verkennung der historisch neuartigen Fundamentalpolitisierung breiter Bevölkerungsschichten, der neuen Partizipationsansprüche und des Verlangens nach sozialen Reformen, setzte man auf eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung für die Hauptstadt und die großen Städte im Westen Preußens, auf flankierende Repression sowie schließlich auf einen baldigen Wirtschaftsaufschwung. In der Regierung Camphausen/Hansemann war man noch im Frühsommer 1848 fest davon überzeugt, daß es, wie in früheren Krisensituationen, nur darum gehe, die „ordinäre Empörung“, die „Pöbelherrschaft“ für einige Wochen oder Monate zu verhindern,²⁸ um dann zum politischen Tagesgeschäft in einer günstigeren – in großer Selbsttäuschung als irreversibel erachteten – Machtkonstellation mit den alten Kräften übergehen zu können. Politisch neuartiges, legitimitäts- und loyalitätsstiftendes Regierungshandeln, wie etwa die Verkündung von gesetzlichen Mindestlöhnen und Arbeitszeitbegrenzungen oder des Verbots des betrügerischen „Warenzahlens“ (Trucksystem), wurde etwa von Hansemann, der die Entscheidungskompetenz dafür besaß, nicht ernsthaft erwogen. Historisch neuartig, ja geradezu revolutionär, waren dagegen Hansemanns rege und sofort nach der Amtsübernahme beginnenden Aktivitäten zur Wiederherstellung des privatwirtschaftlichen Kredits, der Ende März 1848 einem Kollaps nahe schien: Unter Rücktrittsdrohungen setzte er ein Sofortprogramm von 25 Millionen Talern – fast die Hälfte eines normalen preußischen Staatshaushalts des Vormärz – durch. Außerdem entnahm er dem Staatsschatz und dem laufenden Etat einige weitere Millionen zur raschen Gründung von Darlehenskassen und zur unmittelbaren Unterstützung einiger vom Zusammenbruch bedrohter Firmen und Banken. Hansemann brach zielbewußt mit dem patriarchalischen Finanzgebaren Preußens und wies dem Staat völlig neue Staatsfunktionen und die letztendliche

Prägung an dem im Paulskirchenparlament zwischen Liberalen und gemäßigten Demokraten im Frühjahr 1849 vereinbarten Wahlgesetz für die zukünftigen Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung. So schrieb Otto Camphausen (1812– 1896) an seinen Schwager, den Spinnereibesitzer Diedrich Wilhelm Lenssen (1805 – 1874) in Rheydt: „In der Paulskirche berät man jetzt über die Gewähr der Verfassung, ich habe dafür 200.000 Bajonette in Vorschlag gebracht. Außerdem wird nächstens das Wahlgesetz vorgenommen, das zwar den vierten Stand ausschließt, mir aber viel zu liberal ist. Wenn weniger wählen, wird die Gesellschaft gewählter.“ Zit. nach R. Winkelmann: Ereignisse und Dokumente der deutschen Revolution von 1848/49 in und um Rheydt. In: Rheydter Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Heimatkunde 6 (1966), S. 7– 110, hier S. 88.  Zit. nach Caspary: Camphausens Leben (wie Anm. 26), Brief von L. an O. Camphausen, S. 174. Brüggemann faßte das Kalkül der Krisenbewältigungspolitik des Ministeriums Camphausen/ Hansemann in einem Leitartikel in der „Kölnischen Zeitung“ am 25.4.1848 knapp zusammen: „Dem Hungerndem Arbeit und Brot, dem Gesetzesverächter, sobald er […] nicht minder zu bändigen ist, eine Kugel!“

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Verantwortung für das Wirtschaftsleben zu. Entschlossen nahm er außerdem die gesetzgeberische Vorbereitung einer weitreichenden Deregulierung des Bergbaus und eines großen staatlichen Eisenbahnbauprogramms in Angriff. Die Popularität des Kabinetts Camphausen/Hansemann in den ersten Wochen seines Bestehens und die innovative Finanz- und Wirtschaftspolitik kontrastierten scharf mit dem politischen Scheitern bereits im Sommer 1848. Camphausens große Konzessionsbereitschaft an die alten Mächte sowie sein beharrliches Festhalten an der zukünftigen Etablierung eines Zweikammersystems mit Zensuswahlrecht hatten ihm bis Juni 1848 jeglichen Rückhalt in der städtischen Bevölkerung Preußens und der Berliner Nationalversammlung mit ihrer liberaldemokratischen Mehrheit gekostet. Am 20. Juni 1848 mußte Camphausen sein Rücktrittsgesuch einreichen. Überraschend beauftragte der König Hansemann mit der Neubildung des Kabinetts, aber die von Hansemanns „Ministerium der Tat“ eingeleiteten Maßnahmen gegen ein Erstarken der Reaktion waren halbherzig und kamen vor allem zu spät, weil die alte Machtelite längst ihre zeitweilige Handlungsunfähigkeit überwunden hatte. Doch selbst eine nüchterne Analyse der tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Frühjahr 1848 hätte möglicherweise kein anderes Handeln der rheinischen Entscheidungsträger in Berlin zur Folge gehabt. Eine zügige Reorganisation und personelle Erneuerung der Bürokratie etwa hätte die alte Machtelite nicht entscheidend geschwächt. Eine Auseinandersetzung zwischen dem Märzministerium und den monarchischen Kräften hinsichtlich der Verfügungsgewalt über die Armee hätte aber nur – wenn überhaupt – durch eine Reaktivierung der revolutionären Bewegung eine Chance auf Erfolg gehabt. Die erneute Mobilisierung der auf politische Veränderung drängenden Teile der Bevölkerung fürchtete aber das gesamte besitzende Bürgertum – das zeigte der Verlauf der Revolution im Winter 1848/49 – weit mehr als ein Erstarken der politischen Reaktion. Es waren wahrscheinlich weniger aktuelle politische Fehler in den ersten Revolutionsmonaten, als vielmehr falsche Prämissen und Illusionen in der langfristigen politischen Strategie, die das Ziel einer gleichberechtigten Machtteilhabe vereitelten. Der entscheidende Schwachpunkt der rheinischen Strategie lag wohl darin, daß man der Berliner Elite eine politische Machtteilhabe abtrotzen wollte, ohne selber über eine entsprechende Loyalität in der Lohnarbeiterschaft, bei den Handwerkern und im kleinen Stadtbürgertum zu verfügen. Die führenden Kreise des liberalen Wirtschaftsbürgertums hatten das Selbstverständnis einer regionalen Elite „an Adels statt“, ohne aber, spätestens seit der Zerstörung der korporativen Bindungen zwischen Kapital und Arbeit durch die Gewerbefreiheit, noch über gefestigte Klientelbeziehungen zu verfügen. Individuelle soziale Fürsorge einzelner Wirtschaftsbürger, sporadische „Kornvereine“ oder Vorstands-

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posten im stadtbürgerlichen Vereinswesen konnten diese alten Klientelbeziehungen nicht langfristig konservieren. Die Epoche der Gewerbefreiheit bedurfte anderer Herrschaftsformen, anderer Mittel der Legitimitätsstiftung und der Herstellung von Loyalitäten. Alle rheinischen Liberalen, die auf eine starke Stellung des Königtums in einem zukünftigen Staatswesen drängten, spekulierten auf die alte Massenloyalität, die – wie die Revolutionsjahre noch einmal eindrucksvoll zeigen sollten – die Monarchie in Preußen weiterhin besaß. Sie wollten nachgerade jene Loyalität und Legitimität „borgen“, die sie selber nicht herzustellen vermochten. Dadurch wurden sie freilich fast zwangsläufig zum Spielball der alten Mächte. Der rheinische Liberalismus skizzierter Prägung ging mit einem erstaunlich entwickelten Industrialisierungsprogramm, aber ohne eine legitimitätsstiftende Gesellschaftskonzeption in die Revolution. Er forderte selbstbewußt eine neue Rolle des Staates bei der Durchsetzung und Flankierung industriellen Wachstums. Eine neue Rolle des Staates zur Herstellung einer vertrags- und konkurrenzfähigen Ebenbürtigkeit der freien Lohnarbeit und der vielen kleinen Selbständigen gegenüber der rasch anwachsenden Macht von Kaufmannskapital und „Großer Industrie“ als notwendige Ergänzung eines erweiterten Wahlrechts, wie es weitsichtig junge Wirtschaftsbürger und Intellektuelle um die „Rheinische Zeitung“ bereits 1842/43 eingeklagt hatten, wies dieser Liberalismus indes dezidiert zurück.²⁹

 Die Bedeutung der von Karl Marx redigierten „Rheinischen Zeitung“ für den rheinischen Liberalismus der 1840er Jahre ist in der Historiographie häufig überschätzt worden. Diese Zeitung war keinesfalls ein entscheidender Hebel für die Herausbildung einer liberalen Oppositionsbewegung, sondern nur ein besonders früher, freilich kaum typischer Ausdruck eines bereits auf breiter Front beginnenden politischen Formierungsprozesses im wohlhabenden Wirtschaftsbürgertum der Region. Die Bereitschaft des Kölner Notabeln Josef DuMont (1801– 1861), seine „Kölnische Zeitung“ seit Herbst 1843 einem gemäßigten politischen Liberalismus zu öffnen, der zeitgleich wachsende Einfluß von Hansemann auf die „Stadt-Aachener Zeitung“ oder die Wahl von Camphausen und von Beckerath in den Provinziallandtag des Jahres 1843 waren für diesen Formierungsprozeß weitaus relevanter als die kurzlebige „Rheinische Zeitung“. Die Beiträge aus der Redaktion oder dem Umfeld der „Rheinischen Zeitung“ verdienen aber deshalb eine besondere Beachtung, weil sie – wie unfertig auch immer – zentrale Fragen aufwarfen, die kurze Zeit später durch die Revolution 1848/49 auf die politische Tagesordnung gesetzt wurden und auch in den folgenden Jahrzehnten die gesellschaftliche Auseinandersetzung in Deutschland prägten: die Frage nach einer angemessenen massendemokratischen Partizipation und die Frage nach den sozialen Funktionen des Staates als Industriestaat. Der rheinische Liberalismus hat sich nicht in Unkenntnis, sondern in klarer Abgrenzung zu den zeitgenössischen, gleichwohl weitsichtigen, Lösungsvorschlägen einer jüngeren Gruppe von Wirtschaftsbürgern um die „Rheinische Zeitung“ und das „Junge Köln“ konstituiert. Dazu ausführlich Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 190 ff., 226 f.

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Selbst jene führenden rheinischen Liberalen, die eine etwas gleichmäßigere Verteilung der Steuerlasten anvisierten oder auf die positiven sozialen Effekte einer Reorganisation des berufsspezifischen Kassenwesens setzten, wandten sich entschieden gegen die 1848 rasch zunehmende Erwartungshaltung, wonach „die Gesetzgebung die Not von den unteren Klassen wegnehmen müsse“. Noch 1849 wertete etwa v. Beckerath besondere Gesetze für die Arbeiterschaft als Schaffung neuer Privilegien.³⁰ Ohne sozialen Zusammenhalt hatte 1848 eine freiheitliche Verfassungspolitik kaum mehr Aussicht auf Erfolg; ohne Verankerung im Sozialen waren eine Machtteilhabe des Bürgertums und ein wie auch immer geartetes bürgergesellschaftliches Programm zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits auf Sand gebaut. In einem so gefaßten Sinne scheiterte die Revolution 1848/49 in Berlin und anderswo nicht zuletzt an der „sozialen Frage“, an der Unfähigkeit eines Großteils des wohlhabenden Bürgertums, diese Dimension bei der Neuordnung der Gesellschaft und ihrer politischen Verfaßtheit überhaupt zu begreifen – ein bereits „klassisch“ zu nennender Befund der historischen Forschung der vergangenen zwanzig Jahre, der bei vielen Gedenkausstellungen und -veranstaltungen zur Revolution im Jahr 1998 merkwürdig unterbelichtet geblieben ist. Die führenden Köpfe des rheinischen Wirtschaftsbürgertums, die zugleich die führenden Köpfe des rheinischen Liberalismus waren, hatten in den 1840er Jahren längst begriffen, daß permanente Veränderung eine Art „Dauerzustand“ der gesellschaftlichen Warenproduktion geworden war. Aber die Veränderungen sollten vor zentralen gesellschaftlichen Bereichen halt machen. Nicht nur ein Staat, der sein Gewicht in die Wagschale der sozial Schwachen legen sollte, um sie „in die Gesellschaft aufzunehmen“ (Bernhard Eisenstuck),³¹ sondern auch eine die per-

 Zit. nach v. Beckerath: Stenographischer Bericht Preußisches Abgeordnetenhaus, II. Kammer, 1849. Bd. 2, S. 47.  Der sächsische Kattundruckereibesitzer Bernhard Eisenstuck (1805 – 1871), als Repräsentant eines Teils der gewerblichen Unternehmerschaft seiner Heimatregion und als offizieller Delegierter der erzgebirgischen Arbeitervereine im Paulskirchenparlament und dessen „Volkswirtschaftlichem Ausschuß“, formulierte die zeitgenössische, linksliberale Alternative zur Politik des rheinischen Liberalismus und des Ministeriums Camphausen/Hansemann. „Nehmen Sie die arbeitende Klasse auf in den Staat, voll und ganz, und ohne Hintergedanken“, forderte Eisenstuck in einer bemerkenswerten Rede am 9. 2.1849 in der Paulskirche von den konstitutionellen Liberalen, „hören Sie auf, Bestimmungen zu treffen, die sie ausschließen, die sie zu einem Teil der Gesellschaft machen, der nicht ebenbürtig ist.“ An die Adresse der Befürworter einer forcierten Industrieentwicklung gewandt, die die „soziale Frage“ allein durch Wachstum, durch Beseitigung der bittersten Not der Massenarmut lösen wollten, merkte er im späteren Verlauf seiner Rede an: „So lange werden Sie den Zwiespalt [in der Gesellschaft] nicht lösen, wenn Sie auch noch mehr die Arbeit anhäufen.“ Auch das „Recht auf Arbeit“ – der thematische Anlaß dieser Parlamentsde-

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manenten industriellen und gesellschaftlichen Veränderungen steuernde Demokratie, die demokratisch orientierte rheinische Wirtschaftsbürger wie der Wuppertaler Karl Hecker (1795 – 1873) oder der Solinger Wilhelm Jellinghaus (1813 – 1894), als die der Industrialisierung einzig adäquate Herrschaftsform einklagten, waren für sie unvorstellbar. Ja selbst die schrittweise Gewährung demokratischer Rechte wurde – bis auf Ausnahmen – nicht ernsthaft erwogen. In der Tradition einer politisch bevorrechteten Notabelnschicht stehend, begriffen sich die führenden rheinischen Wirtschaftsbürger und liberalen Politiker der 1840er Jahre zunehmend als eine ebenso bevorrechtete „Industrialisierungselite“, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung über die Zukunft und die Bedürfnisse der sozial Nachrangigen zu entscheiden hatte. Ihr Kampf gegen Armut und Bevölkerungswachstum verlangte den „arbeitenden Klassen“ als dem Objekt ihrer Bemühungen notwendig harte Entbehrungen und Opfer ab. Minimallöhne, Arbeitszeitbegrenzung, Rechtsansprüche auf soziale Absicherung oder gar politische und gewerbliche Partizipationssrechte, wie sie in der Revolution eingefordert wurden, konnten diesen Kampf nur behindern, die angestrebte „Entfaltung der Industrie“ nur verzögern oder gar gefährden.

batte – definierte Eisenstuck überaus modern als ein Recht auf einen Schutz der Arbeit durch den Staat, als ein Symbol für die Gleichberechtigung der Arbeit in der Gesellschaft. Vgl. Stenographischer Bericht Deutsche Nationalversammlung 1849. Bd. 7, S. 5115 ff.

Johann Jacob Aders (1768 – 1825) Johann Jacob Aders war der bedeutendste Wirtschaftsbürger des Wuppertals in der nachnapoleonischen Epoche, als das Wuppertal noch vor Köln für geraume Zeit zum eigentlichen ökonomischen Zentrum der neuen preußischen Rheinprovinz – auch und gerade durch das Wirken von Aders – aufzusteigen schien. Aders war ein erfolgreicher Kaufmann und Bankier in schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahren und zugleich wortgewaltiger Protagonist des unbedingten Freihandels, der in weitem Horizont zu denken und in großem Stil zu agieren pflegte. Obwohl er stets über den Rayon Elberfelds hinausblickte, identifizierte sich Aders zutiefst als Bürger mit seiner Heimatstadt. Zeitaufwändige öffentliche Ämter zu übernehmen, galt ihm als selbstverständliche Pflicht. Die Bürgergesellschaft einer Stadt, die wie kaum eine andere der Rheinprovinz von zunehmender sozialer Polarisierung gekennzeichnet war, im Kampf gegen die Armut zu mobilisieren und zu festigen, blieb sein vornehmstes Ziel. Aders war eine herausragende Persönlichkeit, ein Meinungsführer der entstehenden „bürgerlichen Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) in einer dramatischen Umbruchsperiode, der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) der modernen Welt. Er war geprägt von den Erfahrungen des späten 18. Jahrhunderts und konfrontiert mit den Herausforderungen und Zumutungen einer neuen Zeit. Er war belesen, über politische wie ökonomische Tagesfragen stets wohl informiert und argumentierte – wenn er sich genötigt sah, zur Feder zu greifen – kühn und pragmatisch zugleich. Dennoch zeigte sein – ganz offenbar vom schottischen Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith beeinflusstes – Denken charakteristische Züge einer janusköpfigen Übergangsform im Wandel von einer stationären zu einer wachstumsorientierten ökonomischen Weltsicht.

Herkunft, Ausbildung, Beruf und Familie Johann Jacob Aders wurde fünf Jahre nach dem Siebenjährigen Krieg am 26. Juni 1768 als Sohn des wohlhabenden Kaufmanns und Verlegers für Baumwoll- und Leinenwaren Johann Kaspar Aders (1719 – 1798) und seiner zweiten Frau, der Pfarrerstochter Luise Aders, geb. Hofius (1739 – 1821) in Elberfeld geboren. 1772 wurde Johann Kaspar Aders, obwohl nicht zum Kreis der „Meistbeerbten“ zählend, in den Rat der Stadt gewählt. Johann Jacob wuchs mithin in sog. gutbürgerlichem Hause, in einer zwar gewerblich prosperierenden, aber doch statischständische Züge tragenden Stadtgesellschaft auf. Über seine Kindheit ist kaum etwas überliefert, außer, dass er die Lateinschule seiner Heimatstadt besuchte. Aders außergewöhnliche Bildung ist wohl kaum auf diesen Schulbesuch zuDOI 10.1515/9783110534672-008

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rückzuführen, da das Niveau dieser Einrichtung zu jener Zeit offenbar zu wünschen übrig ließ, was Aders bis in sein Alter hinein immer wieder bedauert haben soll. Seine kaufmännische Ausbildung erhielt Aders in einem befreundeten Bremer Handelshaus. Seine vieljährige Lehrzeit in Bremen dürfte ihm tiefe Einblicke in die Bedeutung und die Usancen des damaligen Transatlantikhandels gegeben haben. Nach seiner Rückkehr war er zunächst in der väterlichen Firma tätig. 1793, mit fünfundzwanzig Jahren, heiratete Aders standesgemäß Anna Helene Brinck und trat nach seiner Heirat in das Bankhaus seines Schwiegervaters ein. Er wurde bald darauf Teilhaber der Bank „J. H. Brinck & Comp.“, führte aber die väterliche Firma fort und spezialisierte sich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit dem großen Mailänder Handelshaus Mylius erfolgreich auf den Import oberitalienischen Seidengarns, das wegen der vermehrten Produktion von Mischgeweben aus Baumwolle und Seide im Wuppertal stark nachgefragt wurde. Über seine weiteren geschäftlichen Aktivitäten bis zur Gründung der „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ 1821 ist kaum etwas bekannt. Er hat aber Bank- und Handelshaus erfolgreich durch die Wirren der ersten zwanzig Jahre des 19. Jahrhunderts geführt – eine beachtliche Leistung angesichts der zahlreichen „Fallimente“ alteingesessener bergischer Handelshäuser, ausgelöst durch Kontinentalsperre, englischen Wirtschaftskrieg und Protektionismus des französischen Kaiserreichs. Mit seiner jungen Frau bezog Aders bald nach der Hochzeit ein für damalige Elberfelder Verhältnisse prachtvolles Haus, den sog. Wunderbau, in dem er sein ganzes Leben verbrachte. Das bemerkenswerte Gebäude war von dem Weinhändler Peter vom Heydt in die Felsen des Hardtberges hinein gebaut worden. Der Bau verschlang so gewaltige Summen, dass vom Heydt in Schulden geriet und der „Wunderbau“ nach seinem Tod verkauft werden musste. In den 1770er Jahren war das Haus dann von Aders’ Vater erworben worden. In diesem Haus kamen sieben Kinder von Anna Helene und Johann Jacob Aders zur Welt. Drei Kinder verstarben früh. Die älteste Tochter Auguste heiratete Carl Friedrich Harkort, den Mitbegründer des renommierten Leipziger Handelshauses Harkort und Bruder des westfälischen „Pionierunternehmers“ Friedrich Harkort. Die jüngere Tochter Ida vermählte sich mit dem lutherischen Pfarrer und späteren preußischen Konsistorialrat August Wilhelm Hülsmann. Der jüngste Sohn Karl Alfred, später zum preußischen Kommerzienrat ernannt, durchlief eine Bankierslehre und wurde Teilhaber am Bankhaus Brinck, während der ältere Sohn Ewald sich als erfolgreicher Kaufmann in Leipzig etablierte. Das Familienleben verlief offenbar in geordneten bürgerlichen Bahnen, und es scheint sich auch ein bürgerliches Eheglück eingestellt zu haben. „Ich habe ein herrliches, ein vortreffliches Weib und je länger ich sie besitze, je mehr lerne ich ihren Wert, ihre unaussprechliche Anhängigkeit an mich kennen und werde dadurch immer fester an sie gezogen“,

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schrieb Aders seiner Frau am 18. April 1810 aus Frankfurt.¹ Weit mehr als über den Privatmann Aders ist der Nachwelt aber über den im öffentlichen Leben stehenden Bürger Aders überliefert.²

Stadtbürger in öffentlichen Ämtern In das öffentliche Leben trat Aders im Alter von 31 Jahren durch seine Wahl zum Bürgermeister von Elberfeld im Jahre 1799 ein. In seiner einjährigen Amtszeit forcierte er den Aufbau einer bürgerlichen Armenanstalt nach dem Vorbild der Hamburgischen Armenanstalt von 1788, die die bis dahin rein kirchliche – unter den Bedingungen einer rasch wachsenden Gewerbestadt völlig ungenügende – Armenpflege ergänzen und schließlich ablösen sollte. Die Gründung dieses „bürgerlichen Instituts“ war Ausdruck eines gewachsenen bürgerlichen Selbstbewusstseins und einer – Legitimität kommunaler Herrschaft versprechenden – Gemeinwohlorientierung des wohlhabenden Stadtbürgertums. Zugleich war sie getragen von einem frühbürgerlichen, durch die Aufklärung inspirierten Optimismus, durch „vernünftige“ Reorganisation der Armenfürsorge das Problem der Armut eines zunehmenden Teils der unterbürgerlichen Schichten mittelfristig lösen und ein bürgerliches Arbeitsethos in diesen Schichten verankern zu können. Auch hoffte man, sich der lästigen Bettelei entledigen zu können, zogen doch jeden Sonnabend die ca. hundert „privilegierten“ Armen der Stadt, angeführt vom städtischen „Bettlervogt“ und gefolgt von mehreren hundert „inoffiziellen“ Armen, vor allem vor die Häuser der wohlhabenden Bürger, um Almosen zu empfangen. Der von Aders entworfene Plan einer „Allgemeinen Armenanstalt“, der in den folgenden Jahren verwirklicht wurde, basierte auf der Registrierung sämtlicher Armen und ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse durch 32 freiwillige Armenpfleger und verfolgte das primäre Ziel, den arbeitsfähigen Armen Arbeit zu verschaffen.  Zit. nach Gustav Grote: Jacob Aders 1768 – 1825. In: Wuppertaler Biographien. Bd. 5. Wuppertal 1965, S. 19 – 31, hier S. 30.  Alle biographischen Angaben und Informationen über seine kommunalen Ämter und im Interesse Elberfelds übernommenen Aufgaben nach: Grote: Aders (wie Anm. 1); Otto Schell: Jakob Aders. In: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 43 (1910), S. 62– 87; August Lomberg: Bergische Männer. Elberfeld 1921, S. 172– 177; Jakob Platzhoff: Denkschrift auf Herrn Jakob Aders in Elberfeld. In: Verhandlungen des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen. Berlin 1826, S. 29 – 39. Zu Aders und seiner Rolle im Aufbau eines Systems bürgerlicher Armenpflege in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vgl. Rudolf Boch: Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814– 1857. Göttingen 1991, S. 88 – 93.

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Die Bettelei sollte durch eine Arbeitspflicht der Arbeitsfähigen aufgehoben werden. Nur arbeitsunfähige Arme hatten fortan einen Anspruch auf individuelle Armenfürsorge in Form von wöchentlichen Geldbeträgen und Sachleistungen. In seinem Rechenschaftsbericht der „Armenanstalt“ für 1803 beschrieb Aders die Armut in Elberfeld dezidiert nicht mehr als ein vorindustrielles, gleichsam zeitloses Phänomen, sondern hob den engen Zusammenhang mit gewerblichen Konjunkturen und niedrigen Löhnen hervor. Im Zentrum der kommunalen Arbeitsbeschaffung und der Durchsetzung einer Arbeitspflicht stand anfangs ein in einem ehemaligen Fabrikgebäude eingerichtetes Arbeitshaus. Es sollte bei schlechter Konjunktur die verarmten Arbeitslosen, denen das Betteln verboten war, aufnehmen, bei guter Konjunktur aber „als ein Abschreckungsmittel“ dienen und „den gesunden und starken Armen durch viele Arbeit bei kärglichem Lohn nötigen, sich selbst eine angemessene und einträgliche Beschäftigung zu suchen“,³ mithin zur Durchsetzung einer allgemeinen Arbeitsdisziplin in den Gewerben Elberfelds beitragen. Seit 1814 – die völlige Unmöglichkeit, mit den Mitteln eines Arbeitshauses dauernde Beschäftigung durchsetzen zu können, war längst bewiesen worden – forderte Aders, der gemeinhin als Urvater des „Elberfelder Systems“ der Armenpflege gilt, dann eine allgemeine, obligatorische Armensteuer, deren Erträge wie in England als kommunaler Lohnzuschuss für notorisch niedrige oder in schlechten Konjunkturen unter das Existenzminimum absinkende Löhne verwendet werden sollten, mithin eine Frühform des heute erneut als Mittel gegen Arbeitslosigkeit angepriesenen „Kombi-Lohns“. Aders zog die Konsequenz aus der bereits in den vergangenen Jahren geübten Praxis, einen großen Teil der von reichen Bürgern freiwillig aufgebrachten Beiträge zur „Armenanstalt“ als verdeckten Lohnzuschuss an unterbeschäftigte oder nur geringfügig entlohnte Arbeiterfamilien zu gewähren. Aders plädierte für eine rechtlich bindende Sozialverpflichtung der Kommune,⁴ deren Kosten auch vom Kleinbürgertum der Stadt getragen werden sollten, freilich mit dem Hintergedanken, durch eine Lohnbezuschussung im großen Stil mit entsprechend durch die „Poor Laws“ subventionierten Branchen in England konkurrenzfähig werden zu können. Als schließlich 1817 in Elberfeld eine verbindliche Armensteuer eingeführt werden musste, weil sich die freiwilligen Spenden für die Armenverwaltung im „Hungerjahr“ 1816 als völlig unzureichend erwiesen hatten, glaubte sich Aders für kurze Zeit am Ziel seiner sozialpolitischen Wünsche. 1818 argumentierte er gegen

 Zit. nach Jakob Aders: Rechenschaftsbericht der Armenanstalt für das Jahr 1803. In: Otto Schell: Kurze Geschichte des Elberfelder Armenvereins. Elberfeld 1903, S. 64– 76, hier S. 72.  Zit. nach Schell: Geschichte (wie Anm. 3), S. 81.

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den zunehmenden Widerstand der kleinen Stadtbürger, aber auch einer Mehrheit im wohlhabenden Wirtschaftsbürgertum, die eine verbindliche Armensteuer schon im darauf folgenden Jahr zu Fall brachte: „So viel auch gegen die Einrichtungen der Armentaxen in Deutschland und selbst in England geredet und geschrieben werden mag, so befindet sich die Gesellschaft gut dabei. Alle Kräfte im Staat werden auf diese Weise benutzt und dadurch ein blühender Zustand der Fabriken hervorgerufen. Die ganze bürgerliche Gesellschaft gewinnt, und da notwendigerweise der Kapitalist und Gutsbesitzer wie der kleinste Krämer dadurch gewinnen, so liegt nichts Unbilliges darin, wenn bei Stockungen der Fabriken und Gewerbe jeder nach seinen Einkünften zur Erhaltung der bürgerlichen Ordnung beitragen muß.“⁵ Sein Ziel seit spätestens 1814 war die gesamtgesellschaftlich subventionierte Integration der Armut in die gewerbliche Produktion, deren niedrige Löhne und zyklische Handelskrisen er für unabänderlich erachtete. Wenn aber Aders die „Gesetze“ der Produktionssphäre unabänderlich, quasi „natürlich“ erschienen, so wollte er doch – als Konsequenz aus dem von ihm konstatierten Scheitern der „Armenanstalt“ in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts – den wachsenden Wohlstand der „bürgerlichen Gesellschaft“ nutzen, um in die Reproduktionssphäre korrigierend einzugreifen. Da sich die Lohnhöhe seinem Urteil nach ohnehin allein nach „natürlichen“ Gesetzen der freien Konkurrenz regelte, konnte die bürgerliche Verpflichtung zum „Allgemeinwohl“ für ihn deshalb nur außerhalb von Lohnfindung und Produktion, etwa durch private Wohltätigkeitsvereine oder der öffentlichen Wohlfahrt verpflichtete Aktiengesellschaften – freilich auch durch die umstrittenen Armensteuern – eingelöst werden. Sie hatte bei ihm nicht mehr den Charakter einer tradierten Sozialverpflichtung im ständischen Sinne, sondern stellte sich als eine allgemeine, humanitär-erzieherische Aufgabe einer sozial und wirtschaftlich herausgehobenen, distinkten „Bürgergesellschaft“ dar. Diese sozial relativ eng gefasste „Bürgergesellschaft“ befand sich für Aders in einem anhaltenden Abwehrkampf gegen die Armut. Nicht zufällig wurde Aders deshalb auch zum Initiator eines von Elberfelder Wirtschaftsbürgern getragenen „Kornvereins“ auf Aktienbasis, dem es in den Jahren der gravierenden landwirtschaftlichen Unterproduktionskrise in Mitteleuropa 1816/17 gelang, rechtzeitig Getreide aus dem Baltikum zu importieren, die Getreidepreise in Elberfeld unter Kontrolle zu halten, Bedürftigen gezielt zu helfen und zugleich einen erheblichen Gewinn zu erwirtschaften, der später in den Bau einer städtischen Krankenanstalt investiert wurde. Diese positive Erfahrung mit

 Zit. nach Jakob Aders: An den Herrn Professor Benzenberg. In: Johann Friedrich Benzenberg (Hrsg.): Über Handel und Gewerbe, Steuern und Zölle. Elberfeld 1819, S. 33 – 49, hier S. 46.

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dem „Kornverein“ scheint Aders’ Überzeugung gefestigt zu haben, dass die bürgerliche Verpflichtung zum „Gemeinwohl“ und individuelles Gewinnstreben in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen könnten.⁶ Das zweite Projekt, das Aders in seiner Amtszeit als Bürgermeister anging, war die Reorganisation des Elberfelder Schulwesens. Hier gelang ihm die Berufung des bekannten Pädagogen Johann Friedrich Wilberg (1766 – 1846) – des später so genannten „Meisters vom Rhein“ – zum Leiter des „Bürger-Instituts“, der Vorform einer modernen Realschule. Im Anschluss an das einjährige Amt als Bürgermeister war Aders traditionsgemäß ein Jahr als Stadtrichter tätig und wurde im darauf folgenden Jahr in den Stadtrat gewählt.Von 1802 bis 1807 war er Schöffe des Stadtgerichts. In der napoleonischen Herrschaftsperiode von 1806 bis 1814 scheint sich Aders weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen zu haben. Erst 1814 stellte er sein Talent wieder in den Dienst seiner Heimatstadt, als es ihm gelang, durch Interventionen in Düsseldorf und Berlin eine Elberfeld auferlegte preußische Kriegssteuer deutlich zu ermäßigen. Als nach der Rückkehr Napoleons an die Macht 1815 die preußische Armee am Rhein erneut mobilisiert wurde, aber in finanzielle Schwierigkeiten geriet, weil sich die englischen Subventionszahlungen verzögerten, war es Aders, der eine Versammlung von 42 Kaufleuten aus dem Wuppertal organisierte, die der Armee sofort den ansehnlichen Betrag von 32.250 Pfund Sterling als Vorschuss zur Verfügung stellte. Für diese entschlossene, prompte Unterstützung, die Aders zu hohem Ansehen bei den Spitzen der neuen Landesregierung verhalf, wurde er mit dem Roten Adlerorden III. Klasse ausgezeichnet.⁷

Wirtschaftsbürger in der öffentlichen Debatte Der Zusammenbruch des napoleonischen Herrschaftssystems im kontinentalen Europa brachte für die Kaufleute, Bankiers und Fabrikanten der rheinischen und westfälischen Gewerbedistrikte nicht nur politische, sondern auch einschneidende ökonomische Veränderungen: Die besonders in den linksrheinischen Gewerben starke wirtschaftliche Bindung und handelspolitische Orientierung an Frankreich musste binnen kurzer Zeit aufgegeben werden, da nicht nur der Wechsel der rheinischen Gewerbedistrikte in den preußischen Staatsverband Warenlieferungen dorthin erschwerte, sondern auch der rasche Aufbau eines

 Vgl. Jakob Aders: Wie schützte sich Elberfeld in den Jahren der Not 1816 – 1817 durch seinen Bürgersinn vor Brotmangel? Elberfeld 1817, sowie Boch: Wachstum (wie Anm. 2), S. 323, Anm. 28.  Grote: Aders (wie Anm. 1), S. 26.

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prohibitiv wirkenden französischen Zollsystems nach 1815 rheinische Exporte zunehmend unmöglich machte. Vor allem aber waren die rheinischen und westfälischen Großgewerbe durch die sofortige Aufhebung der sog. Kontinentalsperre, die über viele Jahre hinweg die Einfuhr englischer Waren massiv behindert hatte, schlagartig erneut der Konkurrenz der hochentwickelten gewerblichen und industriellen Fertigung des Inselreiches ausgesetzt. Statt des erhofften wirtschaftlichen Aufschwungs kam es zu einer veritablen Nachkriegskrise. Diese Umbruchsituation begünstigte, ja provozierte nachgerade eine Debatte um die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten von Handel, Gewerbe und Industrie im Wirtschaftsbürgertum der neuen preußischen Westprovinzen. Sie entzündete sich an der notwendig gewordenen wirtschaftlichen und handelspolitischen Reorientierung, implizierte aber von Anfang an die Fragestellung, ob überhaupt oder bis zu welchem Grad jene Industrieentwicklung Vorbildcharakter haben sollte, die sich im England jener Jahre bereits klar abzuzeichnen begann. Untrennbar verbunden mit, aber auch eine Voraussetzung für diese Debatte um die zukünftige Entwicklung war die Herausbildung einer regionalen bürgerlichen Presse als Zentrum einer „bürgerlichen Öffentlichkeit“. Der „Rheinisch-Westfälische Anzeiger“ aus Dortmund sowie der seit 1814 in Hagen und später in Schwelm erscheinende „Hermann“ entwickelten sich zu „Selbstverständigungsorganen“ des Bürgertums der Gewerbelandschaften Rheinlands und Westfalens. Der Schwerpunkt dieses über einzelne Städte hinausweisenden Konstituierungsprozesses eines regionalen Bürgertums lag anfangs eindeutig im ehemaligen Herzogtum Berg und der ehemaligen Grafschaft Mark. Die Debattenkonstellation in den ersten Jahren nach 1815 lässt sich wie folgt skizzieren: Bis 1820 hatten sich im Wirtschaftsbürgertum zwei klar voneinander unterschiedene Gruppen herausgebildet. Die eine setzte sich aus gewerblichen Unternehmern, vor allem etablierten Textil- und Kleineisenverlegern, zusammen, zu deren Wortführern häufiger der Barmer Siamosen-Verleger und Stadtrat Johann Schuchard (1782– 1855) gehörte. Sie zielte auf eine gemächliche Entwicklung der deutschen Gewerbe unter dem Schutz hoher Zölle und lehnte die englische Industrieentwicklung als Vorbild ab. Der Gegenpart, eine eher exportorientierte Interessengruppe, wurde von Großkaufleuten gebildet, wobei aber der Übergang einerseits zum Typ des Verlegers mit eigener Exportfirma, andererseits zu dem des Bankiers fließend war. Diese Gruppierung fand ihren unangefochtenen Repräsentanten bald in dem nun auch über Elberfeld hinaus bekannten Aders.⁸ Der Forderung nach einem durch hohe Zölle geschützten einheitlichen Binnenmarkt, die nach 1815 von zahlreichen Verlegern und Fabrikanten erhoben und

 Zu dieser Debatte grundlegend und weiterführend Boch: Wachstum (wie Anm. 2), S. 46 – 84.

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seit der Frankfurter Ostermesse 1819 vom „Deutschen Handels- und Gewerbeverein“ unter der Leitung von Friedrich List schließlich in organisierter Form propagiert wurde, standen die Großkaufleute um Aders scharf ablehnend gegenüber. Zwar waren sie der Schaffung eines von Binnenzöllen befreiten deutschen Marktes nicht grundsätzlich abgeneigt. Die Verknüpfung dieses wirtschaftspolitischen Ziels mit einem zukünftigen System hoher Außenzölle zum „Schutz der deutschen Gewerbe“ sowie Kampfzöllen gegenüber dem Ausland wiesen sie aber entschieden zurück. Das Credo der Gruppe um Aders war der unbedingte Freihandel. Daher betrachteten diese Großkaufleute sogar das preußische Zollgesetz von 1818 mit seinen zumeist mäßigen Zollsätzen als eklatante Fehlentscheidung. Noch im Juli 1818 hatte man durch eine von Aders verfasste „Adresse der Kaufherren von Elberfeld“ an den Staatskanzler Karl August von Hardenberg vergeblich versucht, das Inkrafttreten des Ende Mai vom König vollzogenen Zollgesetzes zu verhindern.⁹ Den rheinischen Großkaufleuten erschien das Gesetz als ein Schritt in die falsche Richtung, als eine Konzession an jene Denkströmung auf dem Kontinent, welche die wirtschaftliche Krisensituation der Nachkriegszeit durch nationalen Zollschutz zu lösen suchte. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen sah Aders den entscheidenden Grund für die anhaltende gewerbliche Depression nach 1815 nicht in dem weitgehend ungehinderten Import ausländischer, vor allem englischer Erzeugnisse, sondern im beschleunigten, viel zu raschen Wachstumsprozess des gesamten europäischen Produktionsapparates seit 1789 – auf dem Kontinent wie in England –, dem die Konsumtion unmöglich habe folgen können. Erst nach der Rückkehr zu „normalen Zeiten“ seit dem Kriegsende und der Wiederherstellung der alten Handelsströme in Europa sei diese dramatische Auseinanderentwicklung von Produktion und Konsumtion offenbar geworden. Auf die Situation in den deutschen Gewerbegebieten bezogen, schrieb Aders 1818 in einem programmatischen Artikel im „Anzeiger“: „Die Baumwollfabrikation und fast möchte ich dieses von den Fabriken im allgemeinen behaupten, haben sich in den letzten 25 Jahren zu sehr vermehrt und es wird mehr Ware gemacht, als der Verschleiß wegnehmen kann.“¹⁰ Aders konstatierte mithin eine allgemeine Überproduktionskrise, die Europas Handel und Gewerbe noch für einen längeren Zeitraum prägen werde. Den entscheidenden Hebel zur Wiederherstellung des – seiner Analyse nach – gestörten Verhältnisses zwischen „Bedürfnis und Produktion“ sah Aders – um es modern

 Diese Adresse, wie auch deren wohlwollende, aber konsequente Zurückweisung durch Hardenberg. In: Benzenberg: Handel (wie Anm. 5), S. 155 ff.; vgl. auch Jakob Aders: Meine Gedanken über das neue preußische Gesetz für die Zölle und die Verbrauchssteuer. Elberfeld 1819.  Zit. nach Aders: An Professor Benzenberg (wie Anm. 5), S. 43.

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auszudrücken – in einer notwendigen „Reinigungskrise“, die durch Zollschutzmaßnahmen nur verzögert werde: „Was dabei nicht erhalten werden kann, mag untergehen, ich kann kein Unglück für Deutschland darin finden.“ „Das Vertrauen, welches durch viele Fallimente sehr geschwächt ist, wird sich dann allmählich wiederherstellen.“¹¹ Aders war kein „Anti-Industrialist“, aber er hielt doch die Aufrechterhaltung eines einmal geschaffenen – jetzt seiner Meinung nach teilweise überflüssigen – Produktionsapparats im Staats- und Allgemeininteresse für wenig sinnvoll. Auch seinen jungen, hochbegabten Geschäftsfreund David Hansemann (1790 – 1864) versuchte er von seiner Position zu überzeugen, dass Fabriken kein „Nutzen und Glück für den Staat sein können, wenn sie eines Schutzes bedürfen.“¹²

Aders’ Ziel: Erschließung von Überseemärkten Das wirtschaftspolitische Rezept von Aders zur Lösung der gewerblichen Krise im Nachkriegseuropa beschränkte sich aber nicht allein darauf, den als notwendig erachteten Abbau von Überkapazitäten in einzelnen Produktionszweigen zu propagieren. Schon seit 1816 warb Aders für eine Exportoffensive nach Übersee. Eine verstärkte Warenausfuhr vor allem nach Lateinamerika sollte die Folgen der mittelfristig gedachten „Reinigungskrise“ abmildern und auch die Fabrikanten von einer Radikalisierung ihrer wirtschaftspolitischen Forderungen abhalten. Den politischen Chancen für einen deutschen Binnenmarkt wie auch der Aufnahmefähigkeit eines solchen Marktes äußerst skeptisch gegenüberstehend, wollte Aders – ganz im Einklang mit seiner Analyse der europäischen „Überproduktionskrise“ – Absatzmärkte erschließen, die am Rande des Systems der entwickelten gewerblichen Produktion und Konsumtion in Europa lagen. 1820 erläuterte er gegenüber Hansemann die diesem Plan einer Exportoffensive zugrundeliegenden historischen Erfahrungen: „An diesem Welthandel waren die deutschen Fabriken früher durch den Zwischenhandel mit Holland, Spanien und den Hansestädten beteiligt, sie haben ihn durch das Kontinentalsystem beinahe ganz verloren […] In diesem Handel mit der neuen Welt müssen die deutschen Fabrikanten wieder ihren Anteil haben, und es ist ihnen dann sicherer geholfen, als mit allen Retorsions- und Schutzmaßregeln.“¹³

 Rheinisch-Westfälischer Anzeiger 1820, S. 1849 und 502.  Ebd., „An David Hansemann in Aachen“, S. 1846.  Ebd., S. 1850.

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Aders wollte mithin jene Absatzgebiete zurückgewinnen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts für die westdeutschen Gewerberegionen immer bedeutender geworden waren und noch vor den Umwälzungen der Französischen Revolution ihr Wachstum beflügelt hatten. Er sah in diesem Plan auch eine Chance, die Führungsrolle des Handels gegenüber einem ökonomisch erstarkten Gewerbestand zu behaupten. Der Handel sollte dem Gewerbe den Weg aus der Krise weisen.

England aus der Sicht von Aders: Konkurrent, Vorbild, aber auch „warnendes Beispiel“¹⁴ Aders und seine Mitstreiter gingen realistisch davon aus, dass sie in den anvisierten überseeischen Absatzgebieten auf scharfe englische Konkurrenz stoßen würden. Sie hofften, durch die Ausschaltung des traditionellen Zwischenhandels und Speditionsgeschäfts in den Hafenstädten die Konkurrenzvorteile der englischen Handlungshäuser, die ebenfalls zumeist direkt exportierten, minimieren zu können. Aders argumentierte, dass die „Vormundschaft“ der Seestädte über die Handlungshäuser der rheinisch-westfälischen Gewerbedistrikte bisher erhebliche Kosten verursacht und sowohl die exportierten Gewerbeerzeugnisse als auch die importierten Rohstoffe und anderen Kolonialprodukte unverhältnismäßig verteuert habe. Eine binnenländische „Hanse“, eine gemeinnützige Handelsgesellschaft, die vor allem den Interessen der exportierenden Gewerbe verpflichtet sein, aber auch den Reimport von Kolonialwaren organisieren sollte, wurde als probates Gegenmittel vorgeschlagen. Damit sollten auch die Vorteile der englischen Konkurrenz auf das reduziert werden, was Aders als einzigen Vorsprung Englands gegenüber den rheinischen Gewerben gelten lassen wollte: Die „ausgedehnteren Spinnereien“ und „der vollkommenere Mechanismus der Maschinen und sonstigen Fabrikgerätschaften.“¹⁵ Aders war aber durchaus optimistisch, dass dieser technische Vorsprung aufgeholt werden könne. Er sah in der strikten Anwendung der „Prinzipien des Freihandels“ eine Garantie für eine – durch Konkurrenzdruck – zügig erfolgende Adaption technischer Innovationen. Aders machte nämlich die napoleonische Kontinentalsperre dafür verantwortlich, dass die rheinische Baumwollspinnerei hinter die englische zurückgefallen sei. Wenn Aders auch nicht das Ausmaß der industriellen Beschleunigung und ihrer gesellschaftlichen Folgewirkungen in England voll erfasste, hatte er doch klar er-

 Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 2), S. 54– 60.  Rheinisch-Westfälischer Anzeiger 1820, S. 946.

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kannt, dass die Zeit der Kontinentalsperre eine Zäsur gegenüber der englischwestdeutschen Konkurrenzsituation der letzten Jahre des 18. Jahrhunderts bedeutete. In seinem Werben um forcierte Konkurrenz mit England in Übersee vergaß Aders nicht, die ökonomischen Vorteile des Rheinlandes zu betonen und die „Schwachstellen“ des Inselreiches herauszuarbeiten. Er führte die Überbewertung der britischen Währung auf den Geldmärkten und auch die vergleichsweise hohen Steuern der englischen Gewerbetreibenden „aufgrund der sich immer vermehrenden Staatsschuld“ an.¹⁶ Sein entscheidendes Argument aber war das unterschiedliche Lohnniveau. Die englischen Arbeitslöhne waren deutlich höher als in den westdeutschen Gewerbedistrikten, und nach Aders’ Auffassung war das Lohnniveau nur sehr begrenzt abzusenken, da „das in England bestehende Ackerbausystem“ dies nicht erlaube. Aders meinte damit die unlängst von der großgrundbesitzenden Gentry durchgesetzten „Corn Laws“, die eine Einfuhr billigeren fremden Getreides verboten, solange die englischen Inlandspreise festgesetzte und vergleichsweise hohe Eckwerte nicht überschritten. Diese Gesetze zur Erhaltung eines hohen Preisniveaus der großgrundbesitzenden Erzeuger empfand Aders – nicht zu Unrecht – als eine „Systemfrage“ des Inselreiches. Die baldige Revision der die Lebenshaltung verteuernden „Corn Laws“ war für ihn nicht absehbar. In Übereinstimmung mit den gängigen nationalökonomischen Theorien seiner Zeit sah Aders eine enge, „gesetzmäßige“ Verbindung von Lebenshaltungskosten und Lohnniveau. Dass die teilweise sehr hohen englischen Löhne bereits Ausdruck einer gestiegenen Produktivität sein könnten, lag außerhalb seines Denkhorizontes und seiner Erfahrungen. Auf entsprechende Gegenargumente seines Freundes Johann Friedrich Benzenberg (1777– 1846) ging er nicht ein.¹⁷ Für Aders war England nicht nur ein Konkurrent, der über niedrige Arbeitslöhne zurückgedrängt werden sollte, sondern immer auch ein – partielles – Vorbild. Dieser Vorbildcharakter Englands beschränkte sich für ihn nicht nur auf die spezifische Organisation des Handels, den Direkthandel, oder die technische Überlegenheit einzelner Produktionszweige. Aders erahnte zumindest teilweise

 Ebd., S. 947.  Benzenberg hatte 1818 an Aders geschrieben: „Durch das Teilen der Arbeit haben sie eine ungemeine Zeitersparnis eingeführt, und sie tun in 365 Tagen so viel als wir in 2000. Das teure Brot, was sie essen, wirkt daher weniger nachteilig auf ihr Gewerbe als man glaubt. Denn während eine gewisse Summe von Arbeit fertig wird, essen sie nur 365 mal teures Brot – wir aber 2000 mal wohlfeiles […] Daher ihre kluge Berechnung auf die Geschwindigkeit in allem, was die Bewegungen der Gesellschaft betrifft; daher ihre Schnelligkeit im Reisen, im Arbeiten, im Versenden.“ Benzenberg: Handel (wie Anm. 5), S. 74 ff.

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die gesellschaftliche Dimension der überlegenen ökonomischen Dynamik des Konkurrenten. 1818 wies er bewundernd auf die Steigerung der ökonomischen Effektivität durch eine parlamentarische Willensbildung in wirtschaftspolitischen Fragen hin: „Jede ihrer Einrichtungen ist reiflich überdacht, und insofern sie in die ganze Gesellschaft eingreift durch den Verstand der ganzen Nation in beiden Kammern wohl erwogen, ehe sie Gesetzeskraft erhalten hat.“¹⁸ Wie fast alle seine freihändlerischen Mitstreiter zeichnete Aders sich durch ein pragmatisches Verhältnis zum Einsatz von Maschinen in der Produktion aus. „Was man auch gegen die Einführung der Maschinen in der Fabrikation sagen mag“, schrieb Aders in einem seiner programmatischen Artikel 1820, „sie sind einmal da und ein notwendiges Übel geworden, und wir dürfen im Kampf gegen unsere Mitbewerber nicht mit ungleichen Waffen streiten.“¹⁹ Die von ihm konstatierte „Überproduktionskrise“ sah er teilweise durch den verstärkten Einsatz von Maschinen mitverursacht, wie er auch die Vernichtung herkömmlicher Arbeitsgelegenheiten und die Verringerung der gesellschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten durch die Mechanisierung von Produktionszweigen als typische Gegenargumente der Maschinenkritiker durchaus anerkannte. Beide Folgewirkungen aber schienen ihm unausweichlich und langfristig kompensierbar. Je mehr man daher die Einführung von Maschinen beschleunigen werde, um Englands Vorsprung aufzuholen, umso eher war für Aders das Ende der schmerzhaften Umstrukturierungsphase und der forcierten Konkurrenz absehbar. Verschiedene Aussagen Aders’ deuten darauf hin, dass er danach eine neue Phase relativer Stagnation und erneuten „Equilibriums“ zwischen Produktion und Konsumtion anbrechen sah – trotz des von ihm bisweilen erahnten Potenzials einer einmal entfesselten Technik zu kontinuierlichen Innovationen. Aders glaubte offensichtlich an immanente Grenzen der Industrialisierung! Das wird an seinem Englandbild deutlich: England sollte der Rheinprovinz und Westfalen nur bis zu einem gewissen Grad als Vorbild dienen. Aders hielt es bereits 1820 für extrem krisenanfällig und überindustrialisiert. Für ihn war England ein „warnendes Beispiel, wie schädlich ein zu weit getriebenes Fabriksystem werden kann“.²⁰ Die Ursachen dieser „Überindustrialisierung“ meinte Aders einerseits in einer angeblich immer noch merkantilistischen Zollschutzpolitik Londons und andererseits in der englischen Usurpation und monopolistischen Ausgestaltung des Welthandels seit der Kontinentalsperre zu erblicken. Beides hielt er für funda-

 Aders: An Professor Benzenberg (wie Anm. 5), S. 47 f.  Rheinisch-Westfälischer Anzeiger 1820, S. 949.  Ebd., S. 500.

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mentale Verletzungen der allein eine organische, ausgeglichene Entwicklung garantierenden „Prinzipien des Freihandels“. Die anhaltend schwere ökonomische Depression auch und besonders im technisch überlegenen England sowie die durch sie provozierten Arbeiterunruhen – von den Ludditenaufständen der Jahre 1816/17 bis hin zum sog. Massaker von Peterloo 1819 – schienen Aders Beweis genug, dass in England Industriepotenziale entstanden seien, die einer verschärften Konkurrenz unter Friedensbedingungen nicht standhalten würden. Diese Industrie habe nunmehr überflüssige Menschenmassen angelockt und erzeugt, die, bindungslos und ohne Beschäftigung, die gesellschaftliche Ordnung gefährdeten. Der absehbare Verlust des Monopols im Welthandel werde die Krisen des „zu weit getriebenen Fabriksystems“ in einer Katastrophe enden lassen. Bis hin zu dieser düsteren Prognose trug Aders in den ersten Jahren nach den Napoleonischen Kriegen zur Entstehung eines spezifischen Englandbildes bei, das sich im Bürgertum der preußischen Westprovinzen bis weit in die 1840er Jahre als Stereotyp erhalten sollte. Obwohl Aders keine klaren Grenzen für einen Industrialisierungsprozess definierte, sondern diese pragmatisch unter den regulierenden Bedingungen der Handelsfreiheit ausloten wollte, scheint er doch eine eher statische Vorstellung von der gesellschaftlichen Konsumfähigkeit für industrielle Waren gehabt zu haben. Seine weitgehende Skepsis gegenüber der Entwicklungsfähigkeit eines Binnenmarktes und seine Fixierung auf „jungfräuliche“ Verbraucher in außereuropäischen Ländern sind Indizien dafür. Ein durch Erzeugung und Befriedigung immer neuer Bedürfnisse hervorgerufenes kontinuierliches Wachstum der Gewerbe, das notwendigerweise zu immer neuen Disharmonien zwischen Produktion und Verbrauch, mithin zu Überproduktions- und Unterkonsumtionskrisen führen musste, erschien Aders nicht erstrebenswert. Er hatte die Hoffnung, dass die durchlebte Krise ein einmaliges Ereignis bleibe – bedingt durch die außergewöhnlichen Umwälzungen seit 1789. Aders glaubte offenbar, dass es in der Macht der gesellschaftlichen Akteure stände, durch „richtige nationalökonomische Prinzipien“ sowie durch „sittliche Mäßigung“ ein krisenhaftes Ungleichgewicht als gesellschaftlichen Dauerzustand verhindern zu können: „Wahrscheinlich kommt erst dann eine bessere Zeit, wenn allgemeiner auf eine Beschränkung der erkünstelten Bedürfnisse gedacht wird und wir uns der Weise unserer Väter wieder nähern, von der wir uns seit 25 Jahren zu weit entfernt haben!“²¹

 Ebd., S. 502.

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Der Bürger als Entrepreneur: „Gemeinwohl“ und privatwirtschaftlicher Gewinn Als die übertriebenen Hoffnungen vieler Manufakturbesitzer und Verleger auf die preußische Zollgesetzgebung teilweise enttäuscht wurden, entwickelte die Aders’sche Idee einer Exportoffensive unter der Ägide einer „Rheinischen Hanse“ eine zunehmende, fast das ganze Wirtschaftsbürgertum des Rheinlands und Westfalens erfassende Anziehungskraft. Gegner des Projekts wie auch seiner immanenten wirtschaftspolitischen Orientierung wurden für einige Jahre in den Hintergrund gedrängt. Am 8. März 1821 wurde schließlich die seit 1816 von Aders verfolgte Errichtung einer „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ in die Tat umgesetzt. Die Gründung erfolgte in großem Stil: Mehr als 50 Kaufleute und Verleger, vor allem aus dem Bergischen Land und dem Gladbacher Raum, beteiligten sich an der als Aktiengesellschaft strukturierten „Kompagnie“. Neben Aders traten unter anderem Abraham Troost (1762– 1840) und ein Mitglied der großen Wuppertaler Textilindustriellenfamilie Jung in die Direktion der Gesellschaft ein. Der Beirat wurde u. a. von Caspar Engels (1792 – 1863), dem wohl bedeutendsten Textilverleger Barmens, dem Iserlohner Großkaufmann Friedrich von Scheibler (1777– 1824) sowie Josua Hasenclever (1783 – 1853) aus Remscheid gebildet.²² Das Ziel von Aders war es, innerhalb weniger Jahre ein Aktienkapital von einer Million Taler – eine für damalige Kaufmannskreise sehr hohe Summe – zeichnen zu lassen, um auf den Westindischen Inseln und im sonstigen Lateinamerika großzügig mit Handelsniederlassungen und langfristig vorfinanzierten Warensendungen operieren zu können. Bis zur Mitte des Jahres 1822, das heißt in einem Zeitraum von gut 16 Monaten, waren insgesamt 600 Aktien abgesetzt, denen ein Kapital von 300.000 Talern entsprach. Zu den Aktionären der „Kompagnie“ zählten inzwischen auch der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm sowie Prinz Carl von Preußen, die zusammen 70 Aktien erworben hatten. Zuvor war bereits König Friedrich Wilhelm III. der „Kompagnie“ beigetreten und hatte 40 Aktien für 20.000 Taler „zum Beweis Allerhöchst seines Beifalls an dem Streben des Vereins aus seiner Privatschatulle zu übernehmen geruht“.²³ Das Aderssche Projekt und seine immanenten Zielsetzungen wurden mithin von prominenten politischen Entscheidungsträgern im Staat gefördert. Seine letzte Ausformung hatte das Projekt durch das Zusammentreffen Aders’ mit dem Hamburger Kaufmann Carl Christian Becher (1776 – 1836) erfahren. Dieser verfügte über ausreichende Kontakte zu Hamburger und Antwerpener Reedern,  Zur Gründung und elfjährigen Geschichte der „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 2), S. 60 – 70 sowie Hans-Joachim Oehm: Die Rheinisch-Westindische Kompagnie. Neustadt a.d. Aisch 1968.  Zit. nach Oehm: Kompagnie (wie Anm. 22), S. 56.

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die sich auf die Geschäftsbedingungen der „Kompagnie“ einzulassen bereit waren. 1821 zum geschäftsführenden Subdirektor gewählt, wurde Becher nach 1825 die bei weitem einflussreichste Person innerhalb der „Kompagnie“.²⁴ Die Organisationsprinzipien der „Kompagnie“ und ihre handelspolitischen Zielsetzungen brachten die Janusköpfigkeit im ökonomischen Denken Aders’ erneut zum Ausdruck: Wie er mit den Mitteln der freien Konkurrenz und des freien Handels eine „Überindustrialisierung“ verhindern und die – tradiert ständisch gedachte – „bürgerliche Gesellschaft“ in ein neues „Equilibrium von Bedürfnissen und Produktion“ überführen wollte, so suchte er mit der „Kompagnie“ eine dem „Allgemeinwohl“ verpflichtete Gewerbeförderung alten Stils auf der Basis privatwirtschaftlichen Gewinns in der modernen Form einer Aktiengesellschaft zu verwirklichen! Die vielversprechenden Chancen der Assoziierung individueller Kapitalien und Interessen glaubte Aders mit jenem älteren bürgerlichen Wirtschaftsethos verknüpfen zu können, das noch die selbstverwalteten Kaufmannskorporationen seiner Jugendzeit im Herzogtum Berg für ihn zu repräsentieren schienen.²⁵ Zwar war das erklärte Ziel der „Kompagnie“ – die Hebung der Warenausfuhr – realistischer als die Vorschläge einiger Zollschutzbefürworter, die die traditionell auf einen hohen Exportanteil zugeschnittenen Kapazitäten der westdeutschen Gewerbezentren allein auf einen zukünftigen Binnenmarkt verwiesen. Die Mittel und Wege zur Umsetzung dieses Ziels entstammten aber den kaufmännischen Denktraditionen des 18. Jahrhunderts. Das Aders’sche Denken kreiste allein um die Restrukturierung und Intensivierung der alten kolonialen Austauschbeziehungen, wie sie sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatten. Eine gezielte Förderung des Warenexports in Staaten mit entwickelter Gewerbewirtschaft kam für ihn – wohl auch aufgrund seiner spezifischen Krisentheorie – nicht in Betracht. Die dezidiert überseeisch orientierte Handelspolitik der „Kompagnie“ war noch völlig frei von nationalistischen Untertönen. „Deutscher Kunstfleiß“ oder etwa „deutscher Handel“ wurden von Aders durchgängig im Sinne geographischer Attribute gebraucht. „Echte Vaterlandsliebe“ oder „Patriotismus“ waren für

 Vgl. auch Carl Christian Becher: Hauptmomente des Wirkens der Rheinisch-Westindischen Kompagnie, als Anhaltspunkt zur Beurteilung der Sache, bei Gelegenheit der General-Versammlung vom 2. März 1830, den verehrlichten Aktionären mitgeteilt von der Direktion. Elberfeld 1830.  Aders – ein scharfer Gegner aller Zünfte und Privilegien – konnte der 1810 ersatzlos aufgehobenen „Garnnahrung“, einer Korporation der privilegierten Kaufmannschaft des Wuppertals, positive Seiten abgewinnen. Aders suchte bis zu seinem Tod nach einer geeigneten Nachfolgeorganisation, die ohne Zwang das Element einer über Einzelinteressen hinausweisenden „Gemeinschaftlichkeit“ der Kaufleute und Fabrikanten der Region verkörpern sollte.

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ihn Synonyme für „Allgemeinwohl“. 1820 appellierte er an Hansemann: „Hier eröffnet sich ein neues Feld echte Vaterlandsliebe zu betätigen und ich lade Sie ein, in Ihrem Kreise dazu mitzuwirken […] denn wo man den eigenen Vorteil mit dem Patriotismus verflechten kann, gelingt es wohl auch noch in unserer Zeit ihn anzuregen.“²⁶ Die Aktien der Gesellschaft sollten den großen Kapitalien im Rheinland, ähnlich wie im gerade aufblühenden Versicherungswesen, ein vielversprechendes Anlagefeld eröffnen. Gewinnmaximierung und eine Verpflichtung zum „Allgemeinwohl“ wurden aber nicht als Gegensatz gesehen. Die durch Ausgabe von sukzessiv immer mehr Aktien – bis zum Limit von einer Million Talern – im Vorlauf eingehenden Geldsummen der Kapitalgeber wurden von der „Kompagnie“ zu Vorschüssen bis zu fünfzig Prozent des Warenwertes auf übernommene Exportaufträge, auch teilweise durch Käufe auf eigene Rechnung der „Kompagnie“ verwandt, um kapitalschwachen Verlegern und Fabrikanten die Teilnahme an den Überseegeschäften zu ermöglichen. Die „Kompagnie“ sollte mithin für die kleinen Kaufleute und Verleger die üblichen, langen Umschlagszeiten des Kapitals bei derartigen Geschäften reduzieren. Auch das Vorwort zum Statut betonte vor allem den „Dienstleistungscharakter“ der „Kompagnie“.²⁷ In den ersten Jahren ihres Bestehens prosperierte die „Kompagnie“ erstaunlich gut. Die ersten Verkäufe auf Haiti brachten Gewinnspannen von durchschnittlich fast 25 Prozent. Die „Kompagnie“ errichtete weitere Niederlassungen in Mexiko, auf Kuba, in Brasilien und Argentinien, und bereits 1825 musste das Aktienkapital auf ein Limit von zwei Millionen Talern verdoppelt werden, um die weiter ansteigenden Warensendungen vorfinanzieren zu können. Ende 1825 machte sich aber schon die begrenzte Aufnahmefähigkeit der lateinamerikanischen Märkte deutlich bemerkbar. Die bereits erheblichen Lagerbestände konnten teilweise nur unter Verlusten losgeschlagen werden, und neue Bestellungen trafen spärlich ein. Die „Kompagnie“ suchte sich 1826 dieser negativen Entwicklung durch eine weitere Expansion zu entziehen: Es wurden nun Exportsendungen für die südamerikanische Pazifikküste, ja sogar nach Singapur und Batavia zusammengestellt. Aufgrund der mangelnden Absatzorganisation endeten diese „Ex-

 Rheinisch-Westfälischer Anzeiger 1820, S. 1851.  „Sie wird den allgemeinen Bedarf zur allgemeinen Kenntnis bringen, wird den Fabrikanten unverhohlen und offen die Berichte aus den Kolonien mitteilen, sie zur Benutzung derselben auffordern und ihnen die Mittel zur Nachahmung fremder Fabrikate durch genaue Bezeichnung und Proben an die Hand geben; kurz, sie wird alles tun, was in ihren Kräften steht, um das Fortschreiten und Aufblühen der vaterländischen Fabriken und den so eng damit verbundenen allgemeinen Wohlstand zu fördern“. Zit. nach Hans Hörig: Die Entwicklung wirtschaftsbürgerlicher Aufgaben und Meinungen in Wuppertal 1800 – 1871. Wuppertal 1930, S. 46.

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peditionen“ aber in ökonomischen Misserfolgen, die den allgemeinen Negativtrend nur noch verstärkten. Die Spätfolgen der großen englischen Überproduktionskrise des Jahres 1825 machten auch die Krise der „Kompagnie“ offenbar. In den kommenden Jahren verschärfte sich die englische Konkurrenz, mithin der Preiskampf, auf den lateinamerikanischen Märkten ungemein. Die englischen Handelsagenten verfügten nicht zuletzt über einen erheblichen politischen Einfluss in diesen Absatzgebieten, dem sich die Importeure – teilweise staatliche Stellen – nicht immer entziehen konnten, und dem eine preußische Handelsgesellschaft nichts entgegenzusetzen hatte. Die Ausfuhrliste für das Geschäftsjahr 1827/28 zeigte im Vergleich zum Vorjahr einen weiteren, noch stärkeren Rückgang der Umsätze. Gegenüber dem Betrag von 1.354.700 Talern in den ersten zwölf Monaten des Jahres 1826 waren nunmehr in achtzehn Monaten (!) nur für 821.300 Taler Gewerbeerzeugnisse exportiert worden. Auch eine erneute ostentative Aktienübernahme des preußischen Königs über 20.000 Taler im Jahr 1827 konnte an dem schleichenden Vertrauensverlust in den Kreisen der Geldgeber und dem schließlichen Niedergang der „Kompagnie“ nichts mehr ändern: Der weitere Aktienverkauf stagnierte, 1832 musste die Liquidation des Unternehmens eingeleitet werden. Der Realbestand des Gesellschaftskapitals hatte sich auf 496.000 Taler, das heißt 31 Prozent des einstigen Nominalbetrages, vermindert. Die überwiegend rheinisch-westfälischen Finanziers mussten teilweise erhebliche Verluste hinnehmen.²⁸ Über viele Jahre blieb man daher in den Gewerbedistrikten am linken Niederrhein, des Wuppertals und der Mark überaus distanziert gegenüber der Gründung neuer Aktiengesellschaften. Erst in der zweiten Hälfte der 1830er Jahre gelang es einer jüngeren Generation von Unternehmern im Sog des Eisenbahnbooms, die Vorbehalte gegenüber dieser Gesellschaftsform aufzubrechen. Das geschah dann aber auf der Grundlage einer Neubestimmung der sozialen Funktion von Aktiengesellschaften: Jenes von Aders als fruchtbar angesehene Spannungsfeld von „Allgemeinwohl“ und kapitalistischem Privatinteresse wurde immer stärker in Richtung des Privatinteresses aufgelöst. Den ökonomischen Niedergang seines großen – für damalige Zeitverhältnisse sehr großen – Projekts erlebte Johann Jacob Aders nicht mehr. Er starb am 22. März 1825 im Alter von 57 Jahren, geschwächt durch die übermäßige Arbeitsanspannung der vergangenen Jahre, auf dem Höhepunkt der scheinbaren Prosperität der „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“. „Der frühzeitige Tod von Aders ist ein Verlust für Elberfeld“, schrieb der Fabrikant Johann Peter Baum am 31. März aus

 Die Liquidierung zog sich bis 1843 hin und erbrachte schließlich nur zehn Prozent des insgesamt eingeschossenen Kapitals. Vgl. Oehm: Kompagnie (wie Anm. 22), S. 126.

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Paris an seine Frau.²⁹ Und David Hansemann, das vielversprechende Kaufmannsund Bankierstalent aus Aachen und späterer preußischer Finanzminister (1848), bekannte in einem Brief an seine Schwester: „Kürzlich habe ich einen herben Verlust durch den Tod meines intimen väterlichen Freundes Herrn Jacob Aders in Elberfeld erlitten. Er war mein bester Freund auf Erden, ein ausgezeichneter Mann durch seine Kenntnisse, seinen Verstand und seinen vortrefflichen Charakter.“³⁰ Auch der 1793 geborene Friedrich Harkort (1793 – 1880), späterhin einer der Protagonisten der bewusst vorangetriebenen Industrialisierung Rheinland-Westfalens, gehörte noch 1825 zu den uneingeschränkten Bewunderern von Aders und stand ganz im Bann seiner ökonomischen Weltsicht. 1833 – ein Jahr nach dem endgültigen Scheitern der „Rheinisch-Westindischen Kompagnie“ – zog Harkort indes auf seine Art eine Bilanz des großen ökonomischen Projekts des Kaufmanns und Bürgers Aders sowie einen Schlussstrich unter das Kapitel der Überseeorientierung unter dessen Ägide: „Hätten wir früher Gelegenheit gehabt, unseren erwachenden Assoziationsgeist auf die inneren Bedürfnisse zu richten, so würden die Millionen nicht unnütz nach Amerika gewandert sein.“³¹

 Zit. nach Grote: Aders (wie Anm. 1), S. 30.  Zit. nach Alexander Bergengruen: David Hansemann. Berlin 1901, S. 43 f.  „Hermann“ 1833, S. 127.

III Industrie- und Unternehmensgeschichte

The Rise and Decline of “Flexible Production”. The German Cutlery Industry of Solingen since the Eighteenth Century (1760 – 1960) Introduction The production of cutlery of all sorts in the industrial area around the city of Solingen in the lower Rhineland of Germany can be seen as a “classical” example of a historical industrial system based on “flexible specialization.” In many aspects its inner structure as well as its development over a long period of time seems to have been typical of several other export-orientated trades, located in neighbouring districts: files and edge-tools in Remscheid, ribbon-weaving in Barmen and Ronsdorf, or the diversified silk industries of Elberfield, Cronenberg and Krefeld.¹ All of them grew out of fairly small artisanal trades, producing for regional and supra-regional markets in the seventeenth century. But they were shaped by the economic and social conditions and experiences of the eighteenth century, becoming large export industries, designed to serve the then existing “world market.” By the late eighteenth century they were seen by many contemporaries as the most important industries of the western parts of Germany. During the first decades of the nineteenth century the collapse of the old institutional framework, as well as fast changing market-conditions influenced by rising national tariff barriers and – in some cases – superior British competition, brought severe distress to the trades. Only in die second half of the nineteenth century, however, did most of these “flexible specialized” industries reach the peak of their development, now integrating new mechanical devices into their system and logic of production. By contrast, the twentieth century became a time of continuous crisis. By the 1960s – at the latest – these industries had changed substantially; they had lost their peculiar character and much of their former economic importance.

 For a short survey of the economic and working-class history of these export trades – most of them sited in the Bergisches Land, the former Duchy of Berg – see R. Boch/N. Krause: Historisches Lesebuch zur Geschichte der Arbeiterschaft im Bergischen Land. Cologne 1983, 13 – 90, and my recently published article: Tarifverträge und “Ehrenräte”. Unternehmer und Arbeiter im Regierungsbezirk Düsseldorf 1848/49, in: B. Dietz (Hg.): Industrialisierung, historisches Erbe und Öffentlichkeit (= Neues Bergisches Jahrbuch Bd. 3), Wuppertal 1990, S. 178 – 226 The most important – mainly older – literature about these trades is cited there.

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The following case study of the Solingen cutlery industry tries to set out the reasons and conditions for the rise of this regional system of “flexible production” up to the time of its greatest economic success in the last third of the nineteenth century as well as the causes of its decline after the First World War. In this chapter I argue that rather than an “immanent logic” of technological change, external forces led to a substantially altered industry orientating itself towards a model of mass production: two world wars and a world economic crisis as well as a shift in orientation among “social actors” – on the one hand the entrepreneurs, following a certain vision of future industry, and, on the other, a working population reacting to the deprivation of its former privileged status in an unforeseen way. The article describes how the continuous political and economic disasters of the first half of the twentieth century fostered the emergence of “national industries” – based on semi-skilled labour and “single purpose” machinery – as well as trade protectionism as a necessary precondition. It shows how “flexible production” as a form of industry not designed for such a world but heavily dependent on international trade was most severely hit. I argue that it was not the greater efficiency of standardized production on “single purpose” machines that led to a breakthrough in the direction of mass production of cutlery; instead, the destruction of the traditional apprenticeship system left no other alternative. Furthermore, I point out that the entrepreneurial debate about the future of the industry after the turn of the century had a decisive impact on the destruction of the traditional training system for skilled labour – the basic precondition for a system of “flexible specialization.” Proclaiming the death of the “old system” more than a generation before it really happened, this debate became a self-fulfilling prophecy. Although the present chapter – aiming at a compressed description of 200 years of history of a “flexible specialized” industry and the related public debates in the crucial phases of its development – is necessarily a sketch, the arguments proposed are based on many years of original research² concerning the

 R. Boch: Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870 – 1914. Göttingen 1985, and various articles on the Solingen cutlery industry, e. g.: Was macht aus Arbeit industrielle Lohn-Arbeit? Arbeitsbedingungen und -fertigkeiten im Prozeß der Kapitalisierung: Die Solinger Schneidwarenfabrikation 1850 – 1920. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 9 (1980), 61– 68; Changing Patterns of Labour Conflict and Labour Organization in the German Cutlery Industry. Solingen 1905 – 1926. In: L. Haimson/G. Sapelli (eds.): Strikes, Social Conflict and the First World War. Milan 1992.

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period between the late eighteenth century and the 1920s and on a recently published detailed study of the period up to the 1960s.³ In what follows I shall describe “flexible specialization” not only as a peculiar system of production, but also as a specific “social system”, i. e. a systemic relation between capital and labour. Only with this “social dimension” in mind can the history and the decline of “flexible specialization” as a distinct model of industrialization be fully understood.

The “golden age” of flexible specialization in cutlery production, 1870 – 1914 – The historical structure of the Solingen industry.⁴ Shortly before the First World War the system of “flexible specialization” in the Solingen cutlery industry had reached its greatest importance. At the beginning of the twentieth century the industrial region around the city of Solingen was the centre of German cutlery production. More than 80 percent of the annual cutlery production of the German Empire (i. e. knives of all sorts, scissors, razors, scalpels, swords etc.) and more than 90 percent of all cutlery exports came from this small district south of the Ruhr area. In 1907, a workforce of nearly 18,000 people was engaged in this regionally concentrated industry. Most of them were men; only some 900 female workers were employed an a few specialized work processes. But, out of the whole workforce of 18,000, only 7,000 were typical factory workers, while nearly 11,000 were either semi-independent outworkers or artisan workers owning their own workshop or sharing it with a dozen (or even more) colleagues. The manufacture of cutlery in the district of Solingen can be traced back well into the middle ages. One of the main reasons for the rise of a specialized metal industry in this hilly area seems to have been the abundance of water power. The waters of the river Wupper as well as of the many small rivulets drove the numerous wheels, which gave power to the forging hammers and grindstones required in the process of manufacture.

 J. Putsch: Vom Ende qualifizierter Heimarbeit. Entwicklung und Strukturwandel der Solinger Schneidwarenindustrie 1914– 1960. Cologne 1989; and by the same author: Vom Handwerk zur Fabrik. Ein Lese- und Arbeitsbuch zur Solinger Industriegeschichte. Solingen 1986.  For further details of the economic structure of the Solingen cutlery industry as well as the work situation and the social status of the diverse groups of workers (i. e. forgers, grinders, hafters etc.) within the industry, see Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 28 – 43, 94– 122, 181– 188.

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During the eighteenth century the growth of a world market fundamentally altered the social structure of the production system as it had historically developed. The medieval cutlery professions changed into sizable, capitalistic exportoriented trades. The new production system centred around the so-called Verleger-Kaufleute (merchant-capitalists), who not only controlled commerce but organized manufacture in a “putting-out” system. By the mid eighteenth century the formerly independent smiths, grinders and hafters had become mere artisan workers, getting their raw material or semi-finished products from the merchantcapitalists in advance and being paid by the piece. Well into the second half of the nineteenth century this production system remained unchallenged. Only the forging process from the 1860s onwards was increasingly mechanized. By the 1890s the traditional trade of the hand smith had nearly died out. The forging of the blades for scissors, knives and razors was now done under huge steam hammers by a largely semi-skilled workforce. Some forty forging factories supplied the whole cutlery district with this semi-finished product. But in the subsequent production processes of grinding and hafting (i. e. the integration of the finished blade with the handle), the “putting-out” system was still the dominant feature. For a proper understanding of the underlying industrial structure one has to realize that the cutlery grinders of Solingen were not domestic outworkers in the narrow sense of the word. In contrast to the cutlery hafters, who worked in domestic isolation scattered over the whole district, the grinders used to work in groups of between two and fifty grinders in the grinding mills, which were placed along the rivers and rivulets of the district. This work situation continued, after the 1850s, when steam-driven grinding halls started to supplement the existing water-mills. Up to 100 grinders now worked under one roof, but not as wage labourers for a single entrepreneur. Each grinder still owned his tools and worked on his own account for different merchant capitalists, only “paying for steam” power in the halls. Even in grinding halls, which were, as it happened, frequently built next to mechanical forges in order to use the surplus steam power, this system of “paying for steam” remained intact. While in the last decades before World War I a considerable number of forging factories developed into important cutlery firms, often with higher turnover than the old established merchant-capitalists, the grinders on the very premises of those firms remained independent. The rise of steam power – in sharp contrast to its effects on the forging sector – neither integrated grinding within centralized factory production nor led to a revolution in grinding techniques. Only the main source of energy had changed.

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Solingen’s performance on the world market in the early years of the twentieth century The cutlery industry of Solingen reached its peak economic expansion on the world market in the last decade before World War I. In 1907 Solingen obtained a 52 percent share in the world trade in cutlery, driving it up to nearly 60 percent by 1913.⁵ Solingen produced a wide range of products to suit the needs of highly differentiated regional markets abroad. In 1903 the industrial district exported cutlery of all sorts to forty-seven countries all over the world.⁶ Taking account of smaller export orders under 10,000 Reichsmark which are not covered by the above figures of the local Chamber of Commerce, the number of countries served by the industry was even substantially higher. During the 1880s Solingen exporters managed to break up the dominant position of the English cutlery industry located in and around the city of Sheffield. By the late 1890s Solingen matched the annual volume of exports of its English competitor on the world market. Not long afterwards Sheffield had fallen to a poor second in die league table of cutlery exporters, seldom reaching more than half of Solingen’s exports in volume and value up to 1914.⁷ One explanation for this dramatic victory is to be seen in Solingen’s greater readiness and ability to produce cutlery in small and even very small series economically. Solingen’s distinguishing feature during this epoch was its “babylonic variety” of types and models of cutlery. Many Solingen firms not only offered hundreds, but thousands of different models of cutlery. A second explanation, closely linked to the first, may be found in the fact that the mechanization of forging in Sheffield started comparatively late and assumed a different shape, a different social framework. In contrast to Solingen no independent mechanical forges developed, producing only a single product – the semi-finished, stamped blade – for a plurality of cutlery firms. In Sheffield nearly every cutlery firm of some size maintained its own department for mechanical forging, whose production capacity in most cases far outdistanced the possibilities of subsequent treatment, such as grinding and hafting. Standing idle for some days a week, these mechanical devices produced high overhead

 See H. Möhle: Der Exporthandel der Solinger Schneidwarenindustrie. Frankfurt 1931, 39.  Annual Report of the Solingen Chamber of Commerce (1906), 3 – 4.  For the competition between Sheffield and Solingen before World War I, see O. Beyer: Die handelspolitischen Hemmungen der Solinger Industrie. Gummersbach 1929; and the Brief summary in chapter 9.2 of Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 189.

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charges for the average Sheffield firm.⁸ It was for this reason, that small firms and long-established large firms in the high-quality sector still engaged traditional hand-smiths. In 1908 their numbers stood well above 600,⁹ while in Solingen this profession had nearly died out. The continued existence of a large group of hand-smiths, though “economical” for many individual firms, proved to be as disastrous for the competitive power of Sheffield’s cutlery exports as the application of modern forging machinery in scattered firms, attempting to become “fully fledged” factories. Solingen entrepreneurs, meanwhile, enjoyed the advantage of relying on only a few dozen of mechanical forges, which – by competition – were forced to keep a thousand or more dies for common and uncommon models of cutlery in their stores. These comparatively few modern forges served, though privately owned, as a kind of common institution for the whole cutlery district, creating a huge rationalization effect without losing the ability for “flexible specialization”. Long before the advent of the computer, these forges managed to supervise a complex and diversified inventory of patterns and semi-finished products enabling the whole cutlery industry to base their diversified final production on specialized intermediate goods. These some dozens of forges became the most expansive and innovative part of the whole region’s history from the 1890s onwards, using the latent overcapacity of their mechanical forging devices for the production of other goods, such as hardware, household equipment or bicycle parts. On the eve of the First World War some of these Solingen firms had become important subcontractors of the German bicycle and automobile industries already. In contrast, no development and diversification of this kind took place in Sheffield. Furthermore, the Solingen firms could – to an ever greater extent than their English competitors¹⁰ – rely on a dynamic, indigenous artisanal “brains-trust” in

 This is confirmed by interviews with prominent Sheffield entrepreneurs in 1910. See: Royal Commission on the Poor Laws and Relief of Distress. Appendix Vol. VIII. London 1910, 475.  S. Pollard: A History of Labour in Sheffield. Liverpool 1959, 333. Despite some blind spots and a partially outdated perspective, this book still offers a good account of the Sheffield cutlery industry, its outworkers and its trade-union movement. See also G. Tweedale: Sheffield Steel and America. A Century of Commercial and Technological Interdependence. Cambridge 1987.  The stagnation of Sheffield cutlery industry in the last third of the nineteenth century was caused not only by wrong entrepreneurial decisions, e. g. the adoption of the new forging techniques, but seems to have been closely linked to an ongoing destruction of the traditional apprenticeship following the decline of the local trade union movement, initiated by the spectacular report of the “Royal Commission on Trade Outrages” in 1867 (see S. Pollard: The Ethics of the Sheffield Outrages. Transaction of the Hunter Archeological Society 7 [1957], 118 – 139, and S. Pollard [ed.]: The Sheffield Outrages. The Minutes of Evidence and Report of the Royal Commis-

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the next stage of the production process, the grinding of the forged blades. Thousands of semi-independent, highly-skilled grinders, working on “universal” or “general-purpose” machines – as one can call the water- or steam-driven grindstones – could realize any buyers’ wish. The grinders’ skill and their traditional tools provided the “flexibility” the dominant market structure needed, being able to produce small series nearly as economically as bigger ones. But the economic prosperity of the Solingen cutlery industry in the last thirty years of the nineteenth century was not only due to its ability to produce for small markets with high differentiated tastes. The economic prosperity of the Solingen district was closely linked to the rise of the US market: the huge, constant demand for household wares it provided decade after decade.¹¹ In the 1860s and 1870s the United States held the biggest share of the Solingen cutlery exports. This constant demand helped the Solingen industry through the following period of the so-called “Great Depression,” when growing tariff-barriers in many countries endangered the future development of the district. Despite severe tariff increases by the American administration during the 1890s aiming at fostering the development of a national cutlery industry, the Solingen firms managed to export large amounts of cutlery, mainly high-quality products. But due to the growth of American cutlery production Solingen’s exports to the US stagnated at a high level until the outbreak of World War I. Instead, exports to Great Britain and its Empire – the last redoubt of “Free Trade” – grew in importance during the last decade before the war, overtaking the USA as the biggest single market for German cutlery by 1913.¹²

sion on Trade Outrages 1867. Reprint with Introduction. Sheffield 1971). From the 1870s onwards, the old cutlery unions lay in agony. They lost their grip on the trades and permitted the emergence of a system of sub-entrepreneurs, the so-called “little mesters.” These “little mesters” – in contrast to the old restricted apprenticeship system – relied on an unlimited number of (half-trained) apprentices and soon began to experiment with the introduction of piece-work (the further subdivision of labour) in the grinding of cutlery. This development in the long run not only ruined the wages, but also the traditional skill, the artisanal “brains-trust” as a basis of “flexible specialization.” In the early years of the twentieth century only a few large, well known firms producing for a high-quality market, maintained the old apprenticeship system and paid wages well above the average. – This destruction of crucial traditional patterns of industry is confirmed not only by English contemporary sources, but also by highly interesting reports of Solingen trade unionists, who visited Sheffield during the last decade before World War I.  For further description see chapter 9.2 in Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 192.  From 1903 to 1913 the exports of Solingen cutlery to the UK and its colonies increased from 2.5 to 7.45 million Reichmarks. In 1913 the UK and its colonies took 19.4 percent of all Solingen exports, while the US market’s share was a mere 18.5 percent. See Beyer: Hemmungen (note 7), 9,

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The “social system” of “flexible specialization” The economic success of the Solingen cutlery production before World War I was due in part to a “social contract” between the entrepreneurs and certain groups of workers, mainly the grinders, which had developed since the early 1870s.¹³ This “social contract” effected a limitation of competition within the district and secured high standards of quality. It contained crucial elements from the old institutionalized Fabrikverfassung (industrial code) of the Solingen industry during the ancien régime which had been nullified under Napoleonic rule in 1811. In the beginning, the contract was not a voluntary agreement, rather the workers’ movement of Solingen had to force it through against the will of a majority of the entrepreneurs. The highly skilled cutlery grinders in particular had been able to organize themselves in powerful local unions, once the prohibitive laws against freedom of association were abolished in 1869. During the favourable boom period of the early 1870s they succeeded in forcing the entrepreneurs to accept precisely defined wage rates for the different types of cutlery, substantially higher than the average wages paid previously. This system of minimum wages was intended to prevent – as had been the case in previous decades – the competition among the hundreds of Solingen cutlery firms from working to the workers’ disadvantage, i. e. resulting in ever lower wages. After a while the grinders’ unions’ project obtained the support of a number of larger, established firms. Given that under the prevailing market-conditions and general political circumstances they had to pay higher wages anyway, these firms were interested in fixed minimum wages across the whole industrial district. Thus the grinders’ unions and the established firms which at this point founded “trade associations” (Fabrikantenvereine) came to have identical interests, i. e. action against the so-called Preisdrücker-Firmen (“price cutters”) in the cutlery industry: usually small firms, only recently established by upwardly mobile artisans and “putting-out” merchants. These firms notoriously lowered wages – especially during slumps – in order to undercut the asking prices of the older firms maintaining long established commercial contacts. The number of newcomer firms had risen rapidly since the official introduction of “Freedom of Trade” (Gewerbefreiheit) in 1811 whereas the number of established firms had and C. Heitland: Der Handel mit Solinger Erzeugnissen. Unpublished manuscript. Cologne 1923, 128; see also Tweedale, Sheffield Steel (note 9).  For the renewed “social contract” between capital and labour as a necessary condition for a fully-functioning system of “flexible-specialized” production, see chapters 3, 4 and 5 of Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 44– 93.

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likewise decreased. The established firms were therefore under pressure and the organizational power of the independent workers movement was indispensable for the assertion of the joint interests of grinders and established firms against the newcomers. A significant feature of this situation was that only the unions were able to enforce the fixed minimum wages on those many entrepreneurs not organized in the Fabrikantenvereine. Minimum piece rates – in so complicated a production system as the Solingen cutlery industry – could only be determined through very detailed negotiations between trade Union officials and members of the employers’ association: For every traditional type of cutlery, for every model, for every different work process within the production of the diverse models a special rate, i. e. a minimum piece rate, was agreed on and written down in published booklets called Preisverzeichnisse (“piece price lists”). For the supervision of these agreements and future negotiations a kind of arbitration court called the Vergleichskammer was formed, consisting of employers and workers in equal number (cf. Conseils de Prud’hommes and English joint boards). Not only were the entrepreneurs forbidden by sanction of the trade unions from paying less than the minimum price-rate but in order to prevent the subversion of the complicated wage-system no Solingen firm was allowed to introduce a new sort of cutlery or to reduce the quality of an existing sort, without the agreement of the Vergleichskammer. By means of these agreements – an important feature of the social conflicts during the last decade before World War I – the trade unions got a grip on the quality of the cutlery, the methods of manufacture, and the mode of production. By no means did the fixed and comparatively high wages and the rights of co-determination granted to the unions lead to “the ruin of the Solingen cutlery industry,” as had been feared by the local Chamber of Commerce in the early 1870s. On the contrary, already in 1877 – a slump year – the Chamber of Commerce wrote in its official report on the continuing favourable development of cutlery production: “This favourable result is definitely due to the constancy of our high cost of grinding, the main labour factor, since 1875. Thus it was possible to secure the quality of the end product to a greater degree then had been the case under the previous conditions, much to the disadvantage of its reputation […] here the blessed results of a close cooperation of workers and employers can be clearly and undoubtedly seen.”¹⁴

 Annual Report of the Solingen Chamber of Commerce (1877), 4.

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The majority of the entrepreneurs – as a leading Solingen merchant expressed it in 1883 – “had to be forced into their luck.”¹⁵ Price-lists and arbitration courts were nothing new for the Solingen industry: they had been in existence two generations earlier at the end of the ancien régime. However, their positive effect on the system of production had been forgotten by the dominant new type of entrepreneur of the 1870s. This type of entrepreneur believed, totally and completely, in the dogma of freies Spiel der Kräfte des Marktes (“free play of market forces”) and indeed, was himself a historical product of the “unbound competition” after the destruction of the old “industrial code” (Fabrikverfassung) of the trade. Fixed minimum piece rates and arbitration courts had developed with the complex system of flexibly specialized cutlery production during the eighteenth century. It had been their function then to protect this system from the specific dangers of its tangled, diversified and complex way of manufacture and dependency on export as well as to regulate its adaptation to a quality-determined market. The system of production as well as the structure of the markets served by the Solingen cutlery industry had not changed substantially since the abolition of the old “industrial code”: Solingen cutlery firms still frequently competed with each other in export markets and constantly ran the danger of underselling each other. Since all the firms engaged the “self-employed” outworking grinders, and since all firms profited from rising productivity – such as effected by the introduction of mechanical forges – competition among the firms often resulted in lowering wages. Furthermore, the competition between the main European cutlery centres – Solingen, Sheffield and to a certain extent Thiers (France)¹⁶ – was still based on a high level of quality. During the whole nineteenth century – as in the centuries before – cutlery and even razors or spring-knives were not regarded as cheap consumer goods for everyday life. Even in better-off strata of the European working-classes or the petit-bourgeoisie they were bought “once in a life-time,” on the understanding that they could be passed down from generation to generation in the family. The working techniques, local industrial structure and social relations between capital and labour in Sheffield, Thiers and Solingen had much in com Carl August Bick, Chairman of the arbitration court (Vergleichskammer) in October 1883, see Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 57, 312.  The vast literature on the – in comparison to Solingen and Sheffield – fairly small cutlery industry in and around Thiers takes as its principal source the encyclopedic study by C. Page: La coutellerie depuis les origines jusqu’a nos jours. 6 vols. Chatellerault, 1896 – 1904.

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mon – all three still standing in the tradition of a supra-national “old European” organizational pattern of mercantile export trade. Under these conditions, and, given a more or less unaltered production system, a wage level which satisfied the traditional needs of the workers still had a positive impact on the quality standard of the products and could lead to a competitive advantage. This lesson, learned already in the 1770s by Solingen entrepreneurs, a time when the minimum-wage system had broken down for several years, with the outcome that the cutlery workers gradually lowered the quality standards of the products in order to earn their living or rather to survive in a downward spiral of wage-pressure, had been subsequently forgotten in the first half of the nineteenth century.¹⁷ Only the renewal of that old experience, that fairly high and equal wage rates could lead to a competitive advantage – now enforced by organized labour – brought prosperity back to Solingen in the last third of the century.

Flashback: a first crisis of the system of “flexible specialization” after 1815 In the early years of the nineteenth century the dramatic breakdown in quality standards during the 1770s, leading to a severe export crisis, was still well remembered within the circle of old-established “privileged” merchants and the official representatives of the cutlery guilds.¹⁸ But the influence of this local elite on the policies of the administration of the Duchy of Berg, to which Solingen as well as other important neighbouring export-trade cities belonged, was diminishing rapidly. Since the 1790s a new type of young civil servant was beginning to set the fashion within the administration in nearby Düsseldorf on the Rhine.¹⁹ Followers of the recently translated works of Adam Smith, these new ad-

 Rudolf Boch: Tarifvereinbarungen und Ehrenräte (note 1).  The last Obervogtsverwalter of the Solingen cutlery trades Adam Edler von Daniels gave a precise analysis of the crisis of the system of trade regulations in the 1770s and the disastrous effects in his widely read pamphlet: Vollständige Abschilderung der Schwert- und Messerfabriken und sonstigen Stahlmanufakturen in Solingen. Düsseldorf 1802 (reprint Remscheid 1981), 91– 96.  Theodor Ark, born in 1755 and from 1798 in the highest ranks of the regional administration, becoming Privy Councillor the same year, can be seen as a “prototype” of these new, “Smithian” civil servants. In 1807, time now fully on his side, in a survey on the Solingen cutlery industry he launched a furious attack against the “privileged despotism” of the traditional “industrial code” citing the Wealth of Nations page after page. In 1809 he wrote – in the same spirit of “unconditional freedom of trade” – an official report on the industry of the whole Grand Duchy of Berg, which served as standard information for the new Napoleonic reform legislation as well as for the Prussian administration in the years after 1814. See B. Dietz/F. Hoffmann: Das Fabriken- und

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ministrators believed that only the total abolition of all old regulations, privileges and guilds could secure the future of the export trades of the Duchy. In the summer of 1801 the government urged the local administration and magistrates to examine existing privileges, guilds and other regulations and to make proposals how to abolish or at least curtail their functions “for the public good.” This internal administrative instruction was made public in December 1801 by the Westfälische Anzeiger, the first regional bourgeois paper of wide circulation.²⁰ The publication provoked contradiction and – unusual for Germany of that time – a public debate.²¹ Not only the officials of the still-existing guilds but also a substantial section of the regional merchant-capitalists did not want an overall change. They were in favour of preserving at least those old institutions and rights which had regulated internal competition and controlled the standards of quality. The conflict was not fought out, but resolved by external forces when French troops invaded the Duchy in 1806. In 1809 the Duchy of Berg had become an enlarged Grand Duchy under strong French influence and a Napoleonic dynasty.

Manufakturwesen des Großherzogtums Berg zu Beginn des Jahres 1809. Eine ökonomische Zustandsbeschreibung des Staatsrats Theodor Ark. In: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 92 (1986/87), 173 – 195.  Der Westfälische Anzeiger. No. 85 (1801), 1354. The article, after having cited the internal instruction in fall length, expressed the hope that only the small town guilds (e. g. butchers, bakers, tailors) would be abolished, but not the “industrial codes” of the large export-trades: “One can not think of the abolition of these important privileges, existing for centuries.” Though the author admitted that abuses had become notorious even in these flourishing trades over time, he pleaded for abolishing merely these abuses while preserving “industrial order” (Ordnung) as a whole.  For the public debate which followed, see December 1801 and the whole year 1802 of the Westfälische Anzeiger (1801) 1533; (1802), 22, 192, 256, 545, 1041, 1057, 1073. This important regional bourgeois newspaper has not been scientifically evaluated up to now. The debate centred around the further existence of the privileged “Garnnahrung” of the Wupper Valley textiletrades, involving first of all merchants and factory-owners of the Duchy. The general one – despite two or three pleas for “freedom of trade” – was similar to the arguments proposed in the first article in no. 85 (1801): reforms “yes,” total abolition of the inner, historically developed regulations of the trades “no.” It seems as if only some big and influential merchants and bankers in die cities of Elberfeld and Remscheid as well as the small “unprivileged” merchants on the fringe of the small-iron industry fully supported a system of “freedom of trade.” The future of the “industrial code” of the Solingen industry stood in 1802 not in the foreground of public interest, though the above-mentioned (note 18) booklet by A. E. v. Daniels can be seen as a contribution to the debate. At the same time the same debate about the “reconstruction d’un ordre industriel” took place in the flexibly specialized silk-industry of Lyon. While the Lyon merchants were in favor of such a reconstruction, Paris officials and bankers tried to defend the “principes de liberté” established in the first years after the revolution of 1789.

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All privileges, guild-orders and trade-legislations, whenever and for whatever reason established, were abolished at once. The official deputies of the Solingen business profession (Kaufmannschaft), backed by some senior civil servants in the administration, petitioned against this decree. However, they only succeeded in postponing its commencement – for the cutlery industry – until 1811.²² The Prussian administration, taking over the Grand Duchy of Berg in 1814, followed the resolute French line in economic policy. The Prussian reform-orientated civil servants, many of them convinced Smithians, regarded themselves as custodians of the “freedom of trade,” always endangered – as they saw it – by “backward-looking local merchants and stubborn artisans” who desired to tread the beaten path and to cling to the old Schlendrian (“jog-trot”). The final abolition of the old Solingen industrial code in 1811 was not at once followed by disastrous effects. The Napoleonic Wars, by creating a constant demand for swords and bayonets, led to a boom in the manufacture of weaponry which for several years attracted many artisan workers from other sectors of the cutlery production. For a while it seemed that then the apparent winners of the deregulation of industry, the former unprivileged merchants, and the well-to-do artisans who could now become merchants without legal restrictions determined public opinion. They were backed by the experience of many out-working grinders, hafters and smiths whose wage level was on average higher than during the previous period of regulated minimum wages – though due only to the economic boom. This situation, however, changed dramatically when business returned to normal after 1815. As the result of an unrestricted influx of labour from neighbouring agrarian districts into the trade and the fierce competition between old established merchant-capitalists and “newcomers” described above, the wage level fell rapidly and sharply. In 1826 – a year seen by contemporary merchants as a “good business year” – a mayor of an industrial village within the cutlery districts reports to Düsseldorf on behalf of the wage earners “that despite  The effort to annul the decree of November 1809 is described in the old, but well-informed and sensible work of A. Thun: Die Industrie am Niederrhein. Leipzig 1879. II, 62– 63. While A. E. v. Daniels and the well-known factory-inspector (General-Fabrikeninspektor) Eversmann wrote supporting “expert reports” for the rase of the Solingen merchants, the young Solingen mayor K.L. Goebel enclosed a letter to the petition in which he tried to neutralize it from behind, arguing that only deregulation and the introduction of machinery (!) could meet the challenge of English competition in cutlery production. Goebel’s letter is printed in F. Hendrichs: Geschichte der Solinger Industrie. Solingen 1933, 174– 178. A. Thun in 1879 summarized the outcome of the abolition of the Solingen “privileges” as follows: “the most delicate of all industrial codes was replaced by nothing; nothing else but the naked despotism of the individuals.” See Thun: Industrie. II, 63.

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the cheapness of victuals the workers are unable to earn enough to satisfy their most necessary needs.”²³ The so-called truck system – i. e. payment in overvalued kind, instead of cash money – also became notorious in the Solingen industry of this period.²⁴ Between 1815 and 1836, however, the work force doubled and the volume of regional cutlery production tripled.²⁵ But this fast economic growth was paid for dearly: wages, profits and quality standards all fell dramatically. It was during this period of rapid growth that “Solingen” became a synonym for “cheap and shoddy wares.” Furthermore, the diminishing quality of the bulk of Solingen cutlery together with the enforced “sell-off” of the district’s industrial heritage and die continuous production “not for, but against the direct producers,”²⁶ turned temporary growth into structural crisis, cumulating during the 1840s. The systematic impoverishment of the artisan workers had made them unable to reinvest in tools and workshop facilities. The quality of technical equipment – from grindstones to waterwheels – not only stagnated, but deteriorated between 1815 and the Revolution of 1848. The merchant-class was unable or unwilling to invest in the sphere of production either. The high-quality sector of the international cutlery market was totally lost to Sheffield, which, due to the English infrastructural advantages after 1815, such as cheap transport, cheap coal, and cast steel was able to compete successfully with Solingen’s low wages even in the low-quality sectors.

 Report of the mayor of Höhscheid K. Höfer, February 1826, quoted in M. Henkel/R. Taubert: Maschinenstürmer. Frankfurt 1979, 188. Several other official sources confirm the dramatic fall of the average wage level, e. g. the reports and publications of the district magistrate G. v. Hauer in 1822, 1830, 1836. See Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 316, and Putsch: Handwerk (note 3), 75 – 77, 84. After a short recovery in the second half on the 1830s wages fell again – as contemporaries estimated – to well below the level reached in Napoleonic times.  These bizarre abuses even led to a debate in the provincial diet in 1843. A nearly unanimous address of the deputies to the king and the government in Berlin pleading for strict legal action was nevertheless turned down: the means of payment were declared a “private matter.” See G. Croon: Der Rheinische Provinzialtag bis zum Jahre 1874. Düsseldorf 1917 (reprint Cologne 1974), 204. A further description of enforced wage-cutting by the means of payment in kind in a deregulated system of “flexible specialization” is given in Henkel/Taubert: Maschinenstürmer (note 23), 166; Boch: Tarifvereinbarungen und Ehrenräte (note 1); Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 83 and 320.  Estimate by the mayor Höfer in 1936 in a report to the district magistrate, quoted from Hendrichs: Geschichte der Solinger Industrie (note 22), 190.  The conservative merchant Johannes Schuchard, member of the Chamber of Commerce in the neighboring Wupper Valley and deputy of the provincial diet used this expression in a programmatic article in the Westfälische Anzeiger (note 34 [1833], 168) to describe the economic changes since the abolition of the regional “industrial codes.”

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The flexibly specialized cutlery industry of Solingen had not been founded in and was not designed for a market situation shaped by consolidating or rising national states – many of them trying to build up a fully-fledged “national industry” complete from staples to specialized trades. Solingen suffered not only from the prohibitive or high custom-duties of the neighbouring European countries after 1815²⁷ but also from the strong political attempts of the German Zollverein to which Solingen belonged, to build up its own effective iron and steel industry. These political decisions for a certain path of industrialization deepened the structural crisis of the deregulated system of “flexible production” described above. In the late 1830s proposals by merchants from the Solingen and Remscheid industrial districts to lower the existing tariff on steel and iron from Great Britain and Sweden were rejected by Prussia and the Zollverein. The flexibly specialized industries of these cities depended heavily on these imports since the charcoalbased production of iron in the neighbouring Siegerland was technically outdated and the German cast steel production hardly existed. Contrary to the direct interests of the Solingen and Remscheid industries the tariff was instead increased substantially in 1844 in order to foster a future national heavy industry:²⁸ the result of constant political pressure from Rhenish bankers and wealthy industrialists, who had just begun to invest in the Ruhr area and to experiment with a – still comparably costly – coal-based production of steel. Thus, the flexibly specialized industries had to pay the price for a new paradigm of “national independent” industrialization consciously pushed by certain groups of entre-

 Take for example France, one of the most important markets for the cutlery and small-iron industry of the Duchy of Berg in the eighteenth century: While in the second half of the eighteenth century and over most of the Napoleonic period the import-duty on these products was only 10 percent by value – a figure not fitting very well into the image of a “prohibitive” mercantilist eighteenth century – the tariff rose to nearly 100 percent in the average in the years after 1816! See Bericht des 13. Ausschusses an die Plenarversammlung der Rheinischen Provinzialstände über die Verhältnisse des Ackerbaues, der Fabriken und des Handels in den Rheinprovinzen (1827), 41.  See Croon: Provinziallandtag (note 24), 198 – 199, and the highly interesting debates in the original protocols of the provincial diet in 1839, 1841 and 1843. In: Archiv des Landschaftsverbands Rheinland, Provinzialarchiv files no. 280 following, Brauweiler. The “Eisenzoll-Debatte” of 1843 was published by the Kölnische Zeitung on July 22 and July 23, 1843 without citing the names of the speakers. Many merchants and industrialists were members of the diet, the protagonists of the “new, national path” to industrialization as well as those of the traditional “flexible specialized” industries.

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preneurs from Cologne, Aachen and Elberfeld aiming to imitate the “English model” of industrial production at all costs.²⁹ Ever since the first severe effects of deregulation and the deteriorating market situation began to be felt in Solingen, groups of merchants and artisan workers had attempted repeatedly to put the reintroduction of some measures of the old regulation system on the agenda: between 1820 and 1824 former privileged merchants and artisan workers submitted several petitions to the administration in Düsseldorf and to the Prussian court in Berlin. In 1826 the cutlery grinders even went on strike – forbidden by Prussian law – and demanded the reintroduction of a system of minimum wages.³⁰ Though the grinders were forced back to work and the strike ended without results it had long-lasting effects: the whole working-class movement of the Solingen district from then on centred around this very issue: the reintroduction of minimum wages.³¹ In 1830 the artisan workers, led by their former guild masters and backed by established firms, again petitioned the Prussian administration. They formulated their demands – now ten years old – in four points: 1. The reintroduction of an arbitration court (Fabrikengericht), to be charged with the additional duty to supervise the quality of the products; 2. Reintroduction of the “master-piece” (Meisterstück) in order to secure a high standard of artisanal qualification; 3. Reintroduction of a minimum wage system with flexible adjustment to the rise and fall of raw material prices; 4. The legal abolition of the truck system. These demands were seriously discussed at a conference in Düsseldorf in November 1830, to which merchants, master artisans and mayors of the cutlery district were invited. But only a few weeks later three of the four points, including the central demand for a system of minimum wages, were rejected by the higher administration as “running counter to the existing laws of the Rheinprovinz.” Only the abolition of the notorious truck system was taken into “closer consideration.”³² This “closer consideration” took another eighteen (!) years. Only in 1848 did the social upheavals in the industrial districts of the Rhineland

 Rudolf Boch: Grenzenloses Wachstum? Das rheinischen Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814– 1857. Göttingen 1991.  A detailed description of the strike is given in Henkel/Taubert: Maschinenstürmer (note 23), 145. For the story of the petitions between 1820 and 1848, see Henkel/Taubert: Maschinenstürmer (note 23), 185; Boch/Krause: Historisches Lesebuch (note 1), 62; W. Bruckmann: Die Einrichtung des Fabrikgerichts zu Solingen und seine Tätigkeit in den Jahren 1841 und 1842. Unpublished manuscript. Münster 1976.  This is a central argument Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2).  Boch/Krause: Historisches Lesebuch (note 1), 63 – 64.

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force the government to serious legal action against the fraudulent paying in kind instead of cash money. In this very year of 1848 the social pressure of the working population for a while overwhelmed the resistance of the government and its allies, the thrifty entrepreneurial “newcomers” and the politically ambitious big capitalists. Some of the old regulations were re-established, not only in the Solingen district, but in all neighbouring export trades with a similar structure of production.³³ In spring 1848 the Solingen cutlery workers formed – with the help of some corporatelyorientated entrepreneurs³⁴ – guild-like Bruderschaften which instantly tried to negotiate a minimum wage and “closed-shop” system with firms of their respective production sectors. In a few sectors commissions representing artisan workers and entrepreneurs in equal numbers were formed in the traditional manner and equal piece rates, i. e. minimum wages, for every product and every working process stipulated. Such was for example the case in the sectors of the forging and grinding of weapons still dominated by the old established firms. But in other sectors, many firms at first consciously delayed negotiation and later on – in the summer of 1848 – refused to take part in a process of wage-fixing. While in neighbouring districts – the textile trades of the Wupper Valley and the Krefeld area – the artisan workers successfully carried through minimum wage systems and arbitration courts, which lasted well into the reactionary period of the 1850s, the efforts of the Solingen cutlery workers were abortive. In Solingen the social changes within the commercial class seem to have been more severe and the structural crisis deeper since the industrial deregulation of the Napoleonic period than in other neighbouring export regions. In the winter of 1848/49, the direct revolutionary pressure for political and social concessions had vanished. Meanwhile even established firms in the weapon industry refused to pay the wages fixed the previous spring, while established firms in other sectors of production, having paid higher wages voluntarily, now reduced them substantially. There were rumours about industrial action, discussed in secret meetings, by the artisan workers. Strikes as a last resort in solving a wage conflict were not absolutely unfamiliar to them, already having been used by the guilds

 Boch: Tarifverträge und Ehrenräte (note 1).  In Solingen and the Wupper Valley the merchant-capitalists who favored a corporate solution, already a minority within the commercial world, were themselves split into two extreme political wings: a royalist conservative group of older merchants and a left-wing, democratic group. Despite all differences both groups had central economic aims in common: minimum wages, rudimentary forms of “trade unions” and a system of ‘trade-based’ arbitration. For further information, see Boch: Tarifveträge und Ehrenräte (note 1).

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in the eighteenth century. Strike regulations, though described in flowery language, formed an integral part of the statutes of their 1848 Bruderschaften, too.³⁵ But the hope for a traditional compromise between capital and labour, supported by the poor prospects of a strike under conditions of economic crisis, was stronger still. The artisan workers still believed in those few patriarchal entrepreneurs who had become their leading figures over the years, and hoped for the good will of the Prussian administration. Only gradually did they begin to realize that the administration – despite all reform proposals of the years 1848/49 – did not take their specific interests into account. Further their traditional leaders had become more powerless than the workers themselves: they had even lost the influence on the “public opinion” of the district they had possessed as businessmen of integrity before and during the first months of the revolution. But the experiment of the Bruderschaften and the short lived system of fixed wages in the weapons industry was not in vain. Many of those artisan workers who took part in it were still alive in the early 1870s, when the local trade unions were founded. The statutes and regulations of the “new” trade unions were very similar to those of the Bruderschaften and their central demands the same as in petitions of the 1820s and 1830s or in the “wicked” year of 1848. In the early 1870s, the Solingen cutlery workers looked back on a sixty-year tradition of struggle for the reintroduction of certain features of the old “industrial code” of the eighteenth century. But, for the reinstitution of these elements they now trusted in their own strength alone.³⁶ Their success in this project led to the new unforeseen upswing of the district’s cutlery production. It was supported by the international political atmosphere favouring “Free Trade” (at least until the late 1870s), and by the ever-growing American market whose constant orders strengthened the bargaining position of the unions as well as their power to reinforce the quality standards. “Made in Solingen,” like “Made in Germany,” now became a label for products of excellent quality at a reasonable price.

 See Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), chapter 5, 89.  See Rudolf Boch: Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. In: U. Wengenroth (ed.): Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk und Kleinbetrieb im Industrialisierungsprozeß. Stuttgart 1989. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte), 37– 69, and Rudolf Boch: Die Entstehungsbedingungen der deutschen Arbeiterbewegung. Das Bergische Land und der ADAV”. In: A. Herzig/G. Trautmann (ed.): Entstehung und Wandel der deutschen Arbeiterbewegung. Hamburg 1989, 103 – 119; beide wieder abgedruckt.

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The last decade before World War I: the spread of a “sense of crisis”³⁷ At the beginning of the twentieth century, the Solingen cutlery industry held a strong position on the world market. It had reduced its Sheffield competitors to second place and was praised by foreign observers for its technological capacity.³⁸ Despite these facts, a sense of crisis spread among the entrepreneurs. In September 1908 the most important local newspaper published an article with the programmatic title: “On the crisis of the Solingen industries.”³⁹ The article was written by the chairman of the Solingen Employers’ Association (Arbeitgeberverband), an organization consisting not only of cutlery-producing firms but also of firms from the metal industries, which very often had developed out of the innovative mechanical forging plants. The organization consciously distanced itself from the corporate orientation of the old established “trade associations,” the so-called Fabrikantenvereine. The article demanded that fixed wages for individual models and work processes should be given up altogether. Otherwise, the Position of the Solingen cutlery industry was endangered. It was not foreign competitors such as the Sheffield and U.S. cutlery industries that the author of the article feared, but rather that Solingen’s leading position among the cutlery industries of the German-speaking area was in real danger. Within this area, a number of traditional producers in Württemberg, Saxony and Bohemia had recently changed to specialized production of, for example, pocket-knives or table-ware only. In contrast to the Solingen mode of production – i. e. formally independent artisan workers and the “putting-out” system – these specialized goods were produced by semi-skilled workers engaged on piecework, and their production took place in factories. Furthermore, many firms in the German Empire bought forged semi-products from Solingen firms and ground them on a piece-work basis in their factories. Both types of competitors, the author argued, were able to sell their products much cheaper than the Solingen industry was, and could therefore satisfy and thrive on the “growing demand for cheap cutlery.” In this “growing demand” he thoroughly believed. As a matter of fact the specialized production mentioned in this article was not unknown in Solingen either: a number of firms had produced cutlery in this

 The following is based on chapter 12 of Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 230 – 250.  For example by the contemporary cutlery expert G. I. H. Lloyd: The Cutlery Trades. Toronto 1913 (reprint London 1968), 381, or in the English trade union weekly The Metal Worker, nos. 17, 18, 19 (1908).  The article was published in die regional Kreis-Intelligenz-Blatt on September 12, 1908.

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way since the 1880s. In Solingen, however, these firms had so far been socially isolated. They were not part of the established corporate organization of capital and labour and their growth had been prevented by joint political action by the old entrepreneurs’ organization, the Fabrikantenvereine and the unions.⁴⁰ The production of cheap cutlery had been assigned a marginal place in the Solingen industry, as the bulk of Solingen products were to be of high quality. In his article the chairman of the new entrepreneurs’ organization, the Arbeitgeberverband, challenged this very policy. He threatened that unless the unions agreed to a general lowering of the wage standards, the members of his organization were determined to force a breakthrough for the piece-work, factorybased production of cheap cutlery. Before 1908, such polemics against the “excessively high wages” and longterm attempts of individual entrepreneurs to introduce piece-work in purposebuilt factories had not been heeded by the majority of Solingen entrepreneurs. A change of this dominant attitude occurred as a reaction to a serious export crisis. From 1907 to 1908, the export of Solingen cutlery dropped from 26.3 million Reichsmark in 1907 to 22 million Reichsmark in 1908/09 and returned to the 1907 figures only in 1911.⁴¹ This crisis was generally – by “old” and “new” entrepreneurs alike – regarded as a structural crisis. The growth-rates of the previous decades were regarded as unrepeatable. The times in which it had been possible to take over the market share of an important competitor on the world market, as had been the case with Sheffield, were gone. In recent years, a number of countries, e. g. Japan, Spain and Sweden, had started to increase tariffs and to develop national cutlery industries. They, too, like their competitors on the domestic German market, produced large series of cheap, low-quality products. In this situation the stagnation of sales on the U.S. market became a focal point of attention for the owners of large and small firms alike. Though the Solingen cutlery industry was much more efficient than the American and Japanese industries, and though the American cutlery industry was able to hold its ground in the domestic market only on the basis of very high protective tariffs,⁴² these very tariffs enabled it to compete successfully with Solingen for the rapidly grow-

 For the emergence of these workshops for cheap cutlery – nicknamed Bärenställe (bearpits) – on the fringe of the production system and the story of their social proscription by the Solingen public, see Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 65, 73, 148, 168, 173, 226, 235.  See Möhle: Exporthandel (note 5), 31.  According to the monthly special periodical Messer/Feile, edited in Ludwigshafen and financed by the employers of the German small-iron industry, the US import duties in 1913 were as follows: for spring-knives 77.6 percent by value, for scissors 53.7 percent, for knives and forks 41 percent, for razors even over 100 percent on average (Messer/Feile: June 15, 1913, 463).

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ing lower-priced segments of the American domestic market, and indeed frequently to undersell Solingen products. In the U.S. domestic market the Solingen export firms could observe a dramatic change in market structures. The enormous increase of the production of cheap cutlery was only possible on account of certain basic preconditions still largely unknown in Europe: a completely new system of sales and distribution, i. e. the chains of department stores, fixed-price stores (Woolworth, etc.) and mail-order sales had developed since the 1880s. Only a few larger Solingen firms such as Henckels had already gone into the marketing of their own products by establishing retail outlets in large European and American cities and producing catalogues. The majority of the small firms and putting-out merchants still manufactured to the varying orders of the wholesale traders and held minimal inventories. The bulk of the producers thus relied on either a huge number of small but established markets for ‘traditional’ types of knives and cutlery, which had emerged decades or centuries ago and underwent slight variations only, or adapted changing styles from the high-fashion sector for more popular markets. The creation of a vast new market by rigid mechanization and standardization of production⁴³ and a new system of distribution, fostered by the growing demand of the poor East European immigrants into the U.S. for basic and cheap household equipment and stimulated by a standardization of taste, reaching the stratum of skilled American workers well before World War I, became a new, alarming experience for Solingen exporters. The Solingen cutlery industry remained restricted to the higher quality segments of the U.S. market, which the American cutlery industry still was not able to supply. Though the cutlery industry of the U.S. and other countries, building up their domestic production, were not seen as a challenge of Solingen’s dominance of the world market in those years before the war,⁴⁴ the average Solingen entrepreneur became convinced that he had to react to the slow but constantly

 Still a good account of the development of American cutlery industry is M. van Hoesen/A. Taber: History of the Cutlery Industry in the Connecticut Valley. Northhampton 1955. See also N. Rosenberg: Economic Development and the Transfer of Technology. Some Historical Perspectives. In: Technology and Culture 11 (1970), 550 – 575.  See The programmatic article: Die heutigen Verhältnisse in der Solinger Stahlwaren-Industrie und ihre Zukunft. In: Messer/Feile: September 15, 1912, 742, or the article: Das Angstgeschrei der amerikanischen Feilen- und Messerfabrikanten. September 15, 1913, 709. This article very competently analysed the American cutlery production, coming to the conclusion: “First of all it clearly follows from this that the American superiority is sheer nonsense.”

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growing production of cheap, standardized cutlery.⁴⁵ It was now widely believed that – at least in the long run – the competitive power of the Solingen cutlery industry could only be maintained by abolishing the unions’ right to co-determine the quality standard of the products, which had impeded a change to the production of simple cutlery in the past.⁴⁶ Because the extended production of simple and cheap cutlery would necessarily carry with it a substantial reduction of the average wage level as well, the new attitude of the entrepreneurs meant in consequence the total abolition of the historical “social contract” between capital and labour in Solingen. The “hard-liners” with the Arbeitgeberverband tried to use this change of mentality of the average entrepreneur for a great confrontation with the local unions on the question of the introduction of factory-based piece-work, which was seen as a decisive step towards a transformation of production and a first step towards the introduction of “special-purpose” machinery in the grinding and hafting of cutlery. Though member firms of the Arbeitgeberverband and the local unions clashed several times, the majority of the entrepreneurs in the old Fabrikantenvereine remained neutral and all labour disputes ended in a tie. This was due on the one hand to the onset of a renewed boom from 1911 onwards, enabling the average Solingen entrepreneur once again to increase export profits. On the other hand, too many entrepreneurs – a large number still mere “putting-out” merchants – still profited from the “independent” social status of the grinders and hafters and their ability for “flexible specialization.” All they wanted was cheaper and socially unrestricted production, not a basic change of the structure and techniques. Therefore they avoided a great con-

 The employers’ periodical Messer und Feile began to propagate an enlarged specialized mass production instead of the traditional ‘flexible specialization.’ In an article on July 15, 1911 entitled “Suum cuique” it concluded: “The stream washing away the putting-out system can’t be stopped. Wouldn’t it be better, if the small entrepreneurs began to specialize, as the so-called bear-pits began to do during the last years? If they, instead of a large number of models, produced only some types of scissors and knives and developed the products on this line in every direction?” See also a more detailed proposal for specialized production in Messer/ Feile: September 15, 1912, 742.  See Messer/Feile: June 1, 1910, 19: “No objection can be made to wage agreements between workers and factory owners in the present stage of industry, but we must reject the character of the collective agreement in the Solingen district, which holds the whole industry in bonds, hindering a thriving development.” Messer/Feile: July 15, 1911, 18: “In particular it is such an abuse, if a workers’ organization commands the employers: ‘Only this way you are allowed to produce, in such a quality and using such a division of labor.” Or amounting to the same results: “If you produce a different quality, you have to pay a higher price to the worker, if you manage to introduce a better division of labor, you still have to pay the workers the old wages”.

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frontation with the still powerful and financially strong local unions. They preferred to fight small wars against the social Position and the “old” rights of the artisan workers, thus adopting a course leading towards the gradual dissolution of the corporate compromise of the 1870s. The course taken was indeed successful: from 1908 onwards the wages of the outworking grinders and hafters as well as the factory-based forgers stagnated. This development was helped by a deep split within the Solingen labour movement, which made it unable to act effectively against the entrepreneurs’ policies.

The reaction of organized labour to the emerging “sense of crisis”⁴⁷ At the time of this challenge to the social and industrial ‘status quo’ the old cutlery unions founded in the 1870s were no longer the only trade unions in the district. The German Metal Workers Union (Deutscher Metallarbeiterverband = DMV)⁴⁸ – a nationwide union, trying to organize the workers of the various fast growing German metal industries independently of their trade and qualifications – had established a local branch in the Solingen area. This “new model” union, aiming for mass membership, was first of all successful in newly industrialized areas and in the south of Germany. In Solingen as well as in other old industrial centres of the lower Rhineland it played an insignificant part, at least until the beginning of the twentieth century. By 1899 the local branch of the DMV in Solingen counted only 109 members, all of them working in metal trades outside the cutlery industry. By 1905, however, the local branch had organized nearly 2,500 workers, half of them working in the fast growing metal factories which were not involved in the traditional manufacture of cutlery. Nevertheless, the other half consisted of cutlery workers, most of them forgers working as factory workers in the mechanical forges. The DMV regarded the precisely defined wage rates and the old local unions’ right of co-determination with respect to the types of product produced as the main obstacle to the introduction of factory work. Therefore the DMV declared

 This section is based on Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 149 – 180.  The DMV has been the topic of much recent historical research in Germany. A good collection of contemporary sources, but with a rather conventional interpretation: K. Schönhoven: Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914. Stuttgart 1980, 91, 306. In contrast, a very critical assessment of the organization model and the impact of the DMV on industrial policy in Germany is given in E. Domansky: Arbeitskämpfe und Arbeitskampfstrategien des Deutschen Metallarbeiterverbandes 1891– 1914. Unpublished PhD, University of Bochum 1981.

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these rights and agreements to be against the interests of the factory workers, its own membership group. Whereas the artisan workers represented sectional interests of a guild-like type, the interests of factory workers were identical with the “general interest of the proletariat.” The DMV defined “factory work as such” – regardless if it was in reality skilled piece-work – as representing “technical progress,” as “a step in the natural technical and economic development.”⁴⁹ ‘Technical progress’ on the other hand was naively and optimistically seen as the natural ally in the preparation of the coming victory of the working class.⁵⁰ Due to this vulgar-marxist attitude the DMV did not support the old unions’ fierce struggle. Rather, in industrial conflicts, it frequently took the side of the entrepreneurs, accusing the old unions of causing technological Stagnation and of hindering the “necessary adaptation” to the “demand for cheap cutlery on the world market.” “Technical progress” – the DMV argued – could not gain ground without freedom of decisions for the entrepreneurs in these matters.⁵¹ In Solingen the Leaders of the DMV, representing a new political type of Social Democrat in pre-war Solingen as well, were the real protagonists of an “alternative” model of mass production in the cutlery industry. While – before the war – even the entrepreneurs within the Arbeitgeberverband took specialized mass production as a mere point of reference, a regulative idea predicting that only as a final – though undoubted – result of a long process the outworking grinders and hafters would die out,⁵² the DMV officials wanted this “necessary” change speeded up. They dreamt of huge factories, producing in large series for an international mass market; and this process – in their view – was not to be obstructed by the organized Labour movement. The answer of the local unions to the positions taken up by the entrepreneurs and the DMV can be reconstructed from a series of articles in the unions’

 DMV-Hauptvorstand [i. e. general committee] (ed.): Was bietet der Deutsche MetallarbeiterVerband den Stahl- und Schneidwarenarbeitern des Kreises Solingen? Stuttgart 1906.  For instance, the minutes of the general meeting of the DMV in 1905 read: “The faster the technical development, the earlier the capitalist mode of production will have reached the point […] at which it will have to be replaced by a higher stage of production.” See Protokoll des DMV-Verbandstages 1905. Stuttgart 1905, 138.  In a speech at a mass meeting in 1905 the local representative of the DMV in Solingen, Sendler, went so far as to produce the following statement, which was to become a “discussion point” within the old local unions: “If I were an entrepreneur, I would not permit workers to tell me what to do or not to do either” (Bergische Arbeiterstimme – the local daily newspaper of the Social Democratic Party – June 5, 1905).  See Messer/Feile: December 15, 1910, 17; September 15, 1912, 742.

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weekly journal:⁵³ The old unions believed in the possibility of influencing certain conditions in the world market. They did not credit the DMV and the entrepreneurs’ argument that the world market demanded cheaper cutlery and that the Solingen industry had to produce such goods before international competitors beat them to it. Instead, they were convinced: “Not the world market demands cheaper goods, but the capitalists greed for profit.”⁵⁴ In their judgment, the tendency towards the production of cheap and simple cutlery was based on competition among entrepreneurs, not on an existing demand. It was the function of unions to protect the workers from the laws of capitalist competition, and they did not see this function restricted to the protection of wages. It had been their experience for more than thirty years that by taking part in the determination of the types of products, competition among entrepreneurs could be reduced and influenced by the workers. Even if there existed a certain demand for cheap cutlery in the world market they did not accept that supply had to follow demand, but they believed that the demand for high-quality goods could be produced by a supply of such goods which shaped the tastes and habits of the buyers. In continuing to influence the type of demand for cutlery, the local unions saw their only opportunity to keep up the cutlery grinders’ relatively high standard of living and rights of co-determination. To the local unions, enforced production of cheap cutlery marked the beginning of the destruction of the Solingen cutlery industry. Such innovation would slowly destroy the basis of Solingen’s position on the world market, namely the skills of its highly trained workers, and in the end, competition for the cheapest wages would be the sole criterion for survival. Thus they accused the entrepreneurs of the Arbeitgeberverband and the local officials of the DMV of having forgotten or having never understood the historical lessons of the past century and of ignorance of the specific conditions of the industry.⁵⁵ Only a common interest in a high standard of quality could – in their view – avoid a real crisis in the future.⁵⁶

 Der Stahlwaren-Arbeiter, June 15, 22, 29, 1906, “Was bietet der Deutsche Metallarbeiter-Verband…” (note 49), and July 27, August 10, 1906, “Qualitäts- oder Schundwarenindustrie?”  Der Stahlwaren-Arbeiter (note 53), August 10, 1906.  Was bietet der Deutsche Metallarbeiter-Verband (note 49), December 3, 1909.  Ibid., October 2, 1908.

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The role of mechanization by means of “single-purpose” machinery Curiously, during the lively debate about the structure of industry in pre-war Solingen the question of the mechanization of grinding – still the stronghold of artisanal work based on the traditional “multi-purpose” grindstone – was of secondary or even less importance. In contrast to the ongoing entrepreneurial plans for the division of the artisanal grinding process into skilled piece-work – performed under the roof and the supervision of the factory owner – mechanization was seen as a challenge to the industry in a distant future. Though a “single purpose” grinding machine for the so-called hollow-grinding of razors was successfully introduced in the 1890s,⁵⁷ new types of grinding machines for knives⁵⁸ invented at the turn of the century showed poor results and lacked economic efficiency, because they could execute only some working processes on a restricted number of models. As late as 1911 a technically adequate grinding machine for a wider range of knives was invented, but its productivity per hour rarely reached that of a grinder working on a “multi-purpose” grindstone.⁵⁹ Even this level of productivity was only achievable, if the machine could be used in the manufacture of a large series of the same type of knives. Every adjustment to the shape of another model needed a lot of additional work by a skilled mechanic, thus lowering the productivity substantially. Thus, though mechanization of the grinding process had become possible from a purely technical point of view, there was no economic reason to follow this line⁶⁰ as long as no decisive change in the market structure and in the traditional structure of production by outworking grinders had taken place. Even those firms most engaged in changing the “status quo” saw the introduction of factory-based piece-work grinding and the employment of unskilled workers as a necessary first step towards mechanization. Less expensive than experiments with mechanical grinding, piece-work could alter – in the long run – the type of products offered by the Solingen industry in the direction of cheaper and more standardized goods.

 See Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 135.  A reasonable ‘single purpose’ grinding machine for scissors was only invented as late as 1928. See Putsch: Heimarbeit (note 3), 181.  Messer/Feile: December 15, 1911: “Die neue Messerschleifmaschine und die Solinger Schleifer.”  Though many entrepreneurs saw the possibility of introducing a functioning grinding machine as a welcome means to threaten the strong knife-grinder’s union, which had rarely lost a strike in the past thirty years. An article in: Messer/Feile: December 15, 1911, 17, expressed this clearly.

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Only the combination of piece-work and the centralization of grinding were seen as creating the market conditions for the introduction of advanced “single purpose” grinding machines. Under these conditions alone, mechanical grinding could become an alternative to the established system of production, because large series of fairly high-quality cutlery could be produced this way.⁶¹ But these were thoughts about future developments. In reality, production was much more changed by the unforeseen effects of World War I, which brought these debates and labour conflicts to a sudden end.

The impact of World War I on the Solingen cutlery industry and the rise of U.S. competition The first blow to the “artisanal backbone” of industry, i. e. the constant reproduction of skills needed for the established form of “flexible specialization” came with the disorganization of apprenticeship training during the war. Though this institution was reorganized until the early 1920s, it never regained the importance, strength and strictness it possessed in the years of the Kaiserreich. Since the greater part of the cutlery industry was not declared essential for the wartime economy,⁶² a large number of apprentices and skilled artisans were drafted, and a considerable number died. Many older “independent” out-workers lost work and had to look for a job in local factories or the important military industries of the nearby Ruhr area – joined by the apprentices too young for recruitment. When, in late 1916, the bulk of the Solingen cutlery industry was included in a new wartime scheme – aimed at mobilizing the productive capacities of the economy – mass production of standardized razors and knives for army use as well as equipment for field-kitchens was introduced. This made the introduction of machines and employment of unskilled labour possible and economical, at least for some larger firms profiting from the program. For these firms World War I initiated an unprecedented opportunity to experiment with new types of industrial production without the restrictions of the “normal” market structure and international

 This possible future development was proposed in: Messer/Feile: September 15, 1912: “The invention of a [highly productive, R. B.] grinding machine, designed only for the grinding of very few types of blades, could be achieved much more easily than that of a universal purpose machine, aiming to grind all types of knives and scissors.”  The production of weaponry – in the late eighteenth century the most important part of Solingen’s industry – held only a share of 10 percent of the overall cutlery productions in the district in 1913. Its enlargement and administrative protection did not alter the result that the “flexibly specialized” cutlery industry suffered severely from the war.

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competition. In addition, due to the conditions of the wartime economy, the local unions could not strike against the introduction of piece-work and new brands of cutlery or the employment of boys or women to work on the new machines.⁶³ But, while rationalization through standardization affected only a rather small sector of industry, the war had another, more disastrous effect. For almost five years Solingen was cut off from its international buyers. Its ability – seen by the old unions as a central strategy for the perpetuation of “flexible specialization” – to shape more or less, due to its dominant position on the world market, the general taste in cutlery according to the types of products Solingen supplied, was severely shaken. Some smaller countries were forced to build up their own cutlery production, while others, like Spain, Sweden and Japan took the opportunity to export their highly specialized cutlery products, enlarging their insignificant, tariff-protected pre-war capacities. But the main winner of the war was the American cutlery industry, becoming the most important supplier of many overseas markets, e. g. South America, formerly dominated by Solingen.⁶⁴ For the U.S. producers, World War I was a necessary precondition or at least an accelerator for establishing themselves as the main competitor of the Solingen cutlery industry on the world market, leaving Sheffield far behind. Due to a constant shortage of skilled labour – despite renewed immigration of European cutlery workers from Sheffield and Solingen – the American firms had experimented with mechanical devices from a very early stage.⁶⁵ The large homogeneous domestic market, new methods of selling and retailing as well as the “standardization of taste” in the lower segments of the market, fostered the production of large series of cheap cutlery which in turn favoured the employment of “single purpose” machinery. In determining patterns of design and levels of quality, the requirements of mechanized production therefore increasingly became the dominant factor. As a result, two-thirds of the cutlery produced in the USA – though mainly of lower quality – was machine-ground already in 1918.⁶⁶ The American production strategy is precisely described in the following contemporary quotation. “What has been the American response? Briefly that

 For a detailed account of the economic and social changes in wartime Solingen, see M. Krause: Die Gewerkschaftsbewegung und die sozialistische Arbeiterbewegung in Solingen 1914– 1925. Unpublished manuscript. University of Bochum 1981, and Putsch: Heimarbeit (note 3), 90.  See F. Fesenmeyer: Ursachen und Gründe der Wandlungen im Export deutscher Eisen- und Stahlwaren nach Südamerika. Köln 1933, 27, 49, 62.  For the European immigrant workers and for the technological development of the American cutlery industry, see van Hoesen/Taber: A History (note 43).  van Hoesen/Taber: A History (note 43), 46.

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where mechanical devices cannot be adjusted to the production of the traditional product, the product must be modified to the demands of the machine. Hence, the standard American tableknife is a rigid, metal-shape, handle and blade forged in one piece, the whole being finished by electroplating.”⁶⁷ The inherent tendency towards the development of a totally new product in order to overcome the “natural” advantages of a “flexibly specialized” competitor can most clearly be demonstrated by the example of the “safety razor” invented by the American Gillette company. The “safety razor” can be seen as the perfection of the American logic of production, hand forging and hand grinding having been practically eliminated. While at the turn of the century the U.S. production of razors had to be heavily protected against imports from Germany, the Gillette Company conquered the world market with its disposable blades during the war and its aftermath. The success of the company was apparently fostered by a new consumers’ attitude: the readiness to throw away instead of reshape partially used products.

The 1920s, the international economic crisis, and World War II With the end of the war economy and the return to peace it became apparent that during the war the productive capacities of the international cutlery industries had been multiplied – compared to pre-war conditions – through the enlargement of existing and the building of new factories. In Solingen, it was mainly the production capacity of cheap and simple cutlery in those larger firms having produced exclusively for the army that had risen substantially. Despite postponed consumer demand, prices fell after the war, due to the now fierce competition and over-capacity.⁶⁸ In addition, the structure of the world market was now partially shaped by the mass production introduced by Solingen’s U.S. competitor. U.S. exports to Latin America, and also Europe,⁶⁹ were growing rapidly. However, the new role of the American competitor must not be overestimated: as late as 1928 over 80 percent of the American export of cutlery products was made up of “safety razors” and changeable blades. Table and kitchen knives made up only 4.3 percent and scissors only 1.1 percent of the total export figures.⁷⁰

 Lloyd: Cutlery Trades (note 38), 394.  Large segments of this chapter are based on the recently published work of J. Putsch. Stimulated by the book of Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), he analysed the further development of the Solingen cutlery industry from the 1920s onwards from a similar perspective.  See Putsch: Heimarbeit (note 3), 360.  Putsch: Heimarbeit (note 3), 130, 131.

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Thus the only sub-market that was radically changed by the American methods of production was the production of razors. For the European firms and workers in this sector, this change had dramatic consequences. But, mass production using “single purpose” machinery during this time was thus economically superior to the traditional European system of cutlery production by means of “flexible specialization” only if accompanied by the introduction of a totally new product, i. e. in its most radical form. The Solingen cutlery industry met these new challenges in the world market by reactivating the full potential of the system of “flexible specialization” at all levels of the production process. Yet, as will be described below, the destructive forces that seem to be inherent in this system of production if not combined with a “special contract” between labour and capital were unleashed at the same time. In a surprisingly short time the Solingen industry was able to rebuild its network of foreign business connections and to profit from the incipient postwar boom. The policy that enabled Solingen to do so was two-fold. Wherever possible, the Solingen industry aimed at the market for the highest quality products which could not be served by the new national industries. Solingen pursued this policy not only in European countries with relatively young cutlery industries but also in the U.S. and Asian market. In the latter, the Japanese cutlery industry had started to dominate the market for cheap cutlery. In all other markets, by contrast, including those of England and France, the other traditional producers of cutlery, Solingen competed also for a share of the low and lowest-quality products.⁷¹ In contrast to the pre-war period, however, no limit for the down-grading of the standard of quality seemed to exist any longer: whereas in 1913 the difference between the lowest and the highest value of cutlery exported by Solingen had been 100 percent, the difference was 500 percent in 1920.⁷² The astonishing recovery of the Solingen industry in the immediate post-war period was based not only on the advantages of “flexible specialization” but to a considerable extent on the high German post-war inflation. With workers’ wages constantly lagging behind the inflationary rise in prices the industry was able to offer even high-quality products at “dumping prices.” In addition, the export of

 Putsch: Heimarbeit (note 3), chapter 3.3 “Dominanz unter veränderten Vorzeichen”, 108. Partially due to this flexibility the cutlery industry was one of the few German industries which already in 1925 exported more in volume and value than before the war.  Figures quoted from: Enquete-Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft. Die Deutsche Eisen- und Stahlwarenindustrie. Berlin 1930, 374.

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Solingen cutlery was favoured by the fact that the German exchange rate depreciated more rapidly than even the rapid rise of German prices. This was an ideal situation for manufacturers of cutlery who exported goods with a low import and a high labour content.⁷³ What proved to be good for the performance of industry was disastrous for the cutlery workers and the old social compromise in the district:⁷⁴ the lowering of wage levels introduced in the final years before the war continued during the inflation and came to a bizarre climax during the hyper-inflation of 1923. For several months the latter caused a complete breakdown of the wage system. For a short while even payment in kind instead of cash money became a common feature again. It was not only the shortlived revival of the “truck system” reminiscent of the times of crisis in the first half of the nineteenth century. In tendency the whole local industry – due to external changes in the market situation and internal changes in employers’ attitudes – was again running against the interests and the economic substance of the “direct producers.” During the whole Weimar period, wage levels remained below those of 1913. Furthermore, for the first time in many decades, long-term unemployment became a characteristic feature of the working life of the skilled artisan worker. It first hit the forgers, grinders and hafters in the large, traditional manufacture of razors which was severely shaken by American competition.⁷⁵ It became more widespread when the post-war boom, backed by inflation, came to an end in the mid-twenties, revealing Solingen’s structural overcapacity in the production of simple – and average – quality cutlery. Long-term unemployment became common, when the World Depression after 1929 destroyed the last chances for a readjustment of the industry to the demands of the international market. From their pre-war status as a labour aristocracy the Solingen cutlery workers were thrown back into the day-to-day struggle of proletarian existence as were their predecessors a hundred years ago after the abolition of the “industrial code” in 1811 and the substantial changes in the world market after 1815. The crucial weakness of the old local unions after World War I was due not only to these economic developments but also to internal changes within their most important membership groups, the “independent” outworking grinders and hafters. The “renaissance” of the “putting-out” system – the number of outworkers soon equalled and after 1920 exceeded the pre-war level – was only  This analysis was offered by: H. Townsend: World Trade in Cutlery 1920 to 1951. In: International Cutlers 2, 4 (1952), 10 – 16.  For the following see Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 294.  Several hundred razor grinders, forgers and hafters lost their work due to the conquest of the market by the American Gillette Company. See Boch: Changing Patterns (note 2).

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seemingly a connecting link to the “golden years” of the cutlery industry in the times of the Kaiserreich. The increase of outworkers continued until 1925. However, in contrast to the traditional outworkers of the Solingen system of production, these new out-workers were not properly trained and, like those grinders and hafters employed for piece-work on the premises of the larger firms, frequently produced cheap standardized goods. Since the training of young artisans had been seriously interrupted during the war the growing number of independent outworkers were recruited from the ranks of factory workers. Through the fast quantitative growth of halftrained outworking grinders and hafters quality standards dropped considerably. And, in addition, the economic conditions of the established artisan workers deteriorated. The percentage of unionists decreased, and did not keep up with the increase in outworkers. Most importantly, though, the old local unions totally lost the control over the everyday working life they had previously possessed.⁷⁶ The outworking grinders and hafters started to lose the common set of ethical and professional standards which had unified all members of the profession. These written and unwritten rules had been followed during the time of the guilds, had formed the content of an artisanal counter-culture from 1811 to 1870 and had been reinstituted by the workers’ movement in the last third of the nineteenth century. Now they were being lost. Not only did the number of artisan workers producing “shoddy wares” increase, but also the number of workers prepared to work at wages distinctly lower than those defined in the price-lists of the wage-agreements. Thus, in the late twenties, the workers’ movement no longer provided a social basis for the control of the (old-established) “social contract.” While the entrepreneurs were not interested to secure the observance of the legally still binding tariff wages, the old local unions had lost their ability to do so.

 This was partially due to the spread of electricity as a new and comparably cheap source of energy for the driving of the traditional ‘multi-purpose’ grindstones. It led to a sharp rise in the numbers of small grinders’ workshops in the backyard of their family homes during the last years of the pre-war period and in the first half of the 1920s. At the same time, many grinding halls – organized under the ‘paying for steam’ system – in which up to 100 still ‘independent’ grinders worked together had to close down. This development fostered the unlimited expansion and the ‘individualization’ of the grinders trade, making union control over work hours and quality standards very difficult. The spread of electricity, however, did not lead by necessity to individualization and the weakening of the labour movement. In Saint-Etienne (France) at the turn of the century, for instance, the ribbon weavers, acting through a Socialist municipal government, controlled the length of the working day simply by regulating the hours at which the local power station supplied current to the looms. See C. Sabel/J. Zeitlin: Historical Alternatives to Mass Production. In: Past and Present 108 (1985), 133 – 176.

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The discussion about the future of the Solingen industry became lively again with the end of the post-war boom in the middle of the twenties. At first sight, the issue was discussed even more abstractly than before the war: in the absence of the real changes of the previous decade, i. e. the many small technological improvements in several individual sectors of production⁷⁷ and the change in the number and status of the outworkers. Before 1914 the debate centred around the introduction of the factory system as the dominant form of production in order to create first of all the necessary precondition for standardized production of large series. Now, the organization of the process of production within this new form of production became the focal point. Much more explicitly than before the war, “Taylorism” and “Fordism” as a system of production were being discussed.⁷⁸ But, as before 1914, the American cutlery industry played no part, as a model, in the debate. J. Putsch, in his study of the twenties, found not a single article in the technical journals and special periodicals of the small-iron and cutlery industries which referred directly to the production of cutlery in the U.S. Earlier, I observed that at first sight the debate about the future of Solingen’s industries had a somewhat remote character, not touching on recent social and economic changes. In hindsight, however, the debate assumes a different social function: it finally made the new paradigm of industrial development acceptable to the majority of Solingen entrepreneurs and to the bourgeois public of the district. Furthermore, the owners of leading firms could now mentally link this paradigm to their own experience of wartime production. The debate about mass production with “single purpose” machines, however remote it was at the time from the conditions prevailing in Solingen, thus became an important factor in its final realization. I cannot say whether this function of the debate was consciously known to the participants. In contrast to the debate before 1914, after the war the old production system was no longer defended. Resistance was very weak, on the organized workers’ part, compared to the pre-war days. From 1926 onwards, the “German Metal-Workers Union” (DMV) was the only union representing the workers’ interests, and the Position of this organization on the issue of rationalization was very uncritical indeed. Whereas before the war the widely read weekly of the old local unions, the Stahl-

 See Putsch: Heimarbeit (note 3), 169.  Putsch: Heimarbeit (note 3), 160; for example the – in the local commercial world – intensively discussed article by Hermann Bick (owner of the important and old established cutlery firm Herder): Henry Ford und sein System. Zeitschrift des Vereins für Technik und Industrie 7 (1924), 199. See also – besides many articles on Taylorism – the programmatic contribution in the trade journal Messer und Feile: February 15, 1926: Wichtige Vorbedingungen bei der Umstellung der Solinger Industrie auf das ‚amerikanisch-Fordsche-Arbeitssystem‘.

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waren Arbeiter had functioned as a forum for precise arguments against the introduction of piece-work and “single purpose” machines, only one booklet continued this tradition after the war. Significantly it was written by a former artisan worker, now a functionary of the DMV.⁷⁹ Rationalization, though widely and publicly discussed, was in fact introduced by very few, large firms only.⁸⁰ Grinding machines were continuously developed and improved in Solingen and several new larger firms even produced grinding machinery. However, these machines were either exported or sold to the formerly small – now growing – factory-based cutlery districts of Thuringia and Württemberg. Ironically, the machines for the international mass production, so frequently deplored by the Solingen entrepreneurs for its competition with Solingen, were, to a great extent, produced in Solingen itself!⁸¹ In large parts of the Solingen cutlery industry itself, the installation of such grinding machines was still not profitable: the Solingen system still functioned according to a totally different logic of production, the means of production – the traditional “multi-purpose” grindstones – still being owned by the majority of the ‘direct producers,’ the artisan workers. Despite all technical improvements of grinding machines there was still no “multi-purpose” machine on the market. All current types were still inferior to the work performance of a trained grinder in terms of speed and precision. Only if used as “single or near single-purpose” machines in factory-based production of large series designed for certain segments of the market, were grinding machines economically superior. Considering the given

 J. Kretzen: Die Krise in der Solinger Stahlwarenindustrie und ihre Lage auf dem Weltmarkt. Solingen 1926. After the war the local unions only managed to publish a monthly bulletin. Only some numbers have survived in the City archive. The right-wing Social Democratic leadership of the local DMV remained close to the naive point of view on ‘technical progress’ this union had propagated before the war. In the now communist daily political newspaper Bergische Arbeiterstimme the word “rationalization” – appearing in many articles in the second half of the 1920s – became a more and more meaningless label, used to “analyse” and describes nearly every conflict within the industry. The Communists backed workers’ resistance to the introduction of piece-work on grinding machines for political reasons – enforced radicalization – only. The idea of an alternative model of future industrialization based on the old artisanal “brains-trust” – as proposed by the local unions before the war – was alien to the young functionaries of the Communist Party in Solingen.  As Putsch: Heimarbeit (note 3), 335, points out very clearly. But – furthermore – these few, larger factories for different sorts of cutlery were not reorganized according to “Fordist principles” either. The only sectors of the industry which were organized in this way were the production of the newly invented hair-cutting machines, and the production of “safety razors” in some former traditional razor factories, most of them having been taken over by the American Gillette Company. Putsch: Heimarbeit (note 3), 197.  Ebd., 175

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market structure – shaken though still dominant – and the production structure of the Solingen industry, this kind of superiority was at that time relevant only to a limited sector of the Solingen industry. In addition, in 1925, the climax of the debate about the future industrialization of Solingen, a central element of the traditional “social contract” between capital and labour was formally⁸² abolished: the local unions’ right to co-determine the products, i. e. their type and their process of production. When several firms introduced piece-work (typically not on grinding machines) by semitrained boys in the grinding of scissors without asking the unions, the latter made a last attempt to co-determine the methods of production through industrial action. The strike, beginning in the autumn of 1925, ended in total defeat. At the end of January 1926 the employers’ association locked out all workers, approximately 3,500, engaged in the production of scissors all over the district. In April 1926, after many weeks of industrial action and severely weakened by high unemployment due to the end of the post-war boom, the local unions were forced to sign an agreement in which they promised not to oppose any future changes of the process of production, whether introduced through piecework or machinery. From now on, only the employers were to have the right to decide all matters concerning the process of production and the types of product. As to the introduction of grinding machines it was rather a matter of principle – like the whole debate on the future of the industry – fought out a priori, in the absence of any economic necessity. After that crucial defeat the raison d’être of the local unions as independent unions became obsolete. In July 1926 they amalgamated with the “German Metal Workers” Union’ (DMV). A number of important concessions on the part of the DMV had eased the decision for the local unions. The outworking grinders and hafters were to man, for instance, half of the local administrative body of the DMV.⁸³ But neither the defeat of the local unions nor the rationalization measures implemented during the following two decades caused the direct and immediate destruction of the system of “flexible specialization”. Rather the system finally collapsed through the sudden breakdown of the already-shaken apprenticeship system and the effects of the unforeseeable international economic crisis, which

 For the following see Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 293, 358, and Changing patterns (note 2).  By the time of amalgamation, the DMV’s Position had weakened, too. It had lost several industrial conflicts as well and its membership had fallen from around 15,000 in 1921 to 6,940 by the end of 1925. The local unions during the same time-span had also lost half of their former 8,500 members. See Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 359.

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hit the mainly outworking producers of cutlery of bester qualities even harder than the rest of the crisis-ridden industry. Since pre-war times dedicated followers of factory-based mass production had euphorically propagated the necessary decline of the “putting-out” system based on artisanal skill. Suddenly the prophecy produced the first real – unforeseen and unwished for – effects: the youth of Solingen lost interest in the cutlery industry and hope in its future. From 1925 onwards more apprenticeship positions were offered than could be filled. Whereas in a survey of 1925 the Solingen labour office found forty-eight pupils of the last forms of the local elementary schools who wished to become grinders, this number suddenly dropped to thirteen pupils in 1927. For professional hafters, the respective numbers were nineteen in 1925 and three in 1927.⁸⁴ The high unemployment rate in 1926, the enforced public debate – reaching the level of the daily local newspapers again – but first of all the defeat of the local unions seemed to confirm the impression among the working populace that an immense, unfavourable restructuring of the cutlery industry was coming or already taking place. A growing number of artisan workers expressed this pessimism on the occasion of bringing their sons to the Solingen labour office for occupational counselling: “For God’s sake, no occupation in the Solingen industry, it will go to pieces for sure.”⁸⁵ A new attitude of denial spread across the Solingen industrial district: the sons of the artisan workers became unwilling to suffer the uncertainties of the export-dependent industry. They were tired of seeing their “independent” position used by large firms as a mere “buffer” to soften the effects of the business cycles and of being forced to bargain continuously for their wages and to undersell their colleagues. Thus, these sons of the artisan workers of Solingen – confronted with the face of their fathers – fled the system of “flexible specialization.” Without social bonds, responsibilities and regulations jointly respected by capital and labour alike, this system proved particularly anarchical and detrimental for the dependent “independent” producers. Like the out-workers after 1815, they had experienced only the negative side of the system. The advantages of the system experienced by the artisan workers during die Kaiserreich had all but disappeared: self-determination of work, rights of co-determination and comparatively high wages on the basis of high quality production. However, in contrast to the artisan workers after 1815, the young generation in the 1920s did have an alternative: the rise of a new metal industry out of the

 See Putsch: Heimarbeit (note 3), 225.  Bergische Zeitung: September 27, 1927, quoted from Putsch: Heimarbeit (note 3), 226.

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cutlery industry since the 1890s⁸⁶ created attractive training opportunities in the Solingen district. These industries, less dependent on export and, in the case of the machine-tool industry growing at high speed, were regarded less crisis-ridden and more diverse. To train as a turner or fitter, for example, opened up much more diverse chances for employment than the professions exclusively adapted to the specific Solingen industries which could not be practiced elsewhere. Also, due to the larger size of the firms in the new metal industry, they offered new chances for occupational mobility. The choice of a different occupation than one’s father and in many instances the whole family had held over generations was eased by the increasing individualization of working class life. In Solingen, this general development was accompanied – in the early years of the Weimar Republic – by the breakdown of the traditional occupational conditions and of the guild – like local unions which had shaped social life for more than fifty years. From 1925 there were more exits due to age than entries into the cutlery industry. This trend was speeded up during the Great Depression: there was not only a lack of apprentices but, also, of masters fit to train, either because they were unemployed at the time or because they had left the cutlery industry to seek gainful employment elsewhere. From 1928 to 1936 the number of cutlery workers dropped by 34.7 percent, the number of outworkers – most of them skilled artisan workers – even by 58.2 percent. Whereas in 1925 50 percent of the cutlery workers were outworkers, by 1936 the percentage had dropped to 23 percent. Of the total number of ca 4,600 outworkers merely sixty-five were younger than twenty-five years old in September 1937.⁸⁷ From 1932 onwards the average value of the exported cutlery wares dropped continuously: whereas in 1931 the value per two hundredweight of cutlery was 944 Reichsmark, its lowest value was reached at 573 Reichsmark in 1935, to be exceeded only minimally during the following four years. The decline was not solely a result of a number of price reductions. In addition, the structure of the Solingen products had changed: the greater part of the exported goods – and apparently also of those produced for the domestic market – had been shift-

 For the emergence of these new industries see Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 149, 181.  All figures are taken from Putsch: Heimarbeit (note 3), 227 and 391. During die Great Depression Solingen belonged – together with Plauen and Chemnitz – to the German cities most severely hit by unemployment. In the winter of 1933 nearly 40 percent (!) of the whole resident population had to be supported by public relief. In 1936 – while the Ruhr area was already in the midst of the rearmament boom – the Solingen district still counted more than 10,000 unemployed workers. See Boch: Handwerker-Sozialisten (note 2), 360.

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ed to a simpler quality level.⁸⁸ As a result, the skilled outworking grinders who made their living through the grinding and sharpening of higher quality cutlery were most severely hit by the lack of work. The dramatic decline in the number of outworkers during the economic crisis supports this interpretation. The motto for managing the crisis had already been announced on August 17, 1930, by the periodical Messer und Schere (“Knife and Scissor”), namely: “by changing the type of the Solingen cutlery products from durable goods to wear-and-tear products.” In Solingen the effects of the international economic crisis lasted longer than elsewhere and seemed to have removed the last obstacles against abolishing the traditional standards of quality. Thus the Great Depression finally accelerated the production of cheap cutlery and, therefore, factory-based grinding on piecework. Induced by consumer impoverishment and regulations and orders by the German state, simple, even very simple and cheap cutlery remained the bulk of the Solingen products through the Second World War and the post-war years well into the fifties.

The breakthrough of mass production in die absence of an alternative: Solingen 1948 – 1960 The destruction of the apprenticeship system beginning in 1925 and the halving of the number of outworking, “independent” artisan workers during the Great Depression can be seen as the decisive caesura between the system of “flexible specialization” and the system of specialized “mass production,” though in Solingen the latter never appeared in a pure form even after 1960. Neither the training system nor the number of “independent” artisan workers ever re-covered. Both developments proved lasting. World War II, similar in its impact on the “independent” grinders and hafters to World War I, brought the numbers of outworkers down to 3,215 in 1948; less than a quarter in comparison to the 13,000 in 1925.⁸⁹ When around 1950 production and exports began to normalize and a demand for higher qualities reappeared – especially in some of the traditional foreign markets for Solingen cutlery – the shortage of skilled artisan workers was badly felt. This shortage of skilled labour remained a problem despite considerable efforts by the Solingen employers’ association and the local labour office. Since the late 1940s both organizations had sought to raise the attractiveness of the apprenticeship system and to anchor it among the larger firms rather

 Ebd., 232  Putsch: Heimarbeit (note 3), 305, 391.

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than the outworking master-artisans. Skilled labour again proved a crucial element in the Solingen system of production: it was neither technically obsolete nor, given the organizational structure of the average Solingen firm, could it easily be replaced. In the early fifties the collapse of the training system, i. e. the constant lack of apprentices since the twenties, culminated in a structural crisis: despite favourable business conditions, the number of outworking grinders had not increased beyond a mere 3,600 in 1952. Of this number, 80 percent were older than forty-four years old and a remarkable 42.4 percent older than fifty-four.⁹⁰ After it became obvious that the reorganization of the apprenticeship system was doomed to failure a wave of mechanization and rationalization swept the Solingen cutlery industry. Significantly, the Solingen entrepreneurs introduced mechanization and rationalization on a large scale only after the disappearance of an alternative, i. e. the system of “flexible specialization.” In view of the imminent danger of having to stop production before long for lack of skilled labour trained on “multi-purpose” grindstones, mechanization by “single purpose” machines became unavoidable. Many entrepreneurs were conscious of the fact that this change made them a competitor of the many new cutlery industries developed on that line. However, for the entrepreneurs mechanization became all the more urgent, the more the remaining outworkers were able to raise their wages, taking advantage of their growing bargaining power during the boom of the Korean War. Indeed, the skills of the artisan workers had a high price once again. In the mid-fifties Solingen’s productive capacities were fully exhausted. Without basic changes in the methods of production no further growth was possible. This was the situation in small and large firms alike. Now, with a time-lag of thirty years between its announcement and its realization, the grinding and hafting of cutlery on “special-purpose” machinery in huge series was introduced. It was possible, however, to rely on technological research done in the 1920s. In 1960 artisan workers still lived and worked in Solingen; the process of dissolution of the “social formation” they represented had not yet reached its end.⁹¹ Yet from their former position of a social power co-determining the structure of the system of production, having been able in the last third of the nineteenth century to shape the development of mechanical forging according to their own needs and logic, they had been reduced to a position on the very margin of a factory-based industry.

 Putsch: Heimarbeit (note 3), 305.  In 1961 the Solingen outworkers (mainly grinders) still numbered 2,522, holding a share of 16.5 percent of the whole labour force of the cutlery industry.

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The training of highly-skilled artisan workers stopped with the introduction of mechanization or, rather, was shaped to the needs of the new logic of production. Despite the fact that the greater part of specific artisanal skills could not be replaced by mechanized work processes, these skills died out in the following years. The Solingen cutlery industry, once a stronghold of skilled artisan workers, was now dominated by semi-skilled workers, themselves soon to be replaced by female workers. Nothing distinguished Solingen from its international competitors any longer. The number of resident firms, the rate and volume of exports all decreased.⁹² Though after World War II the decrease of skilled outworkers was often deplored by Solingen employers, the incapacity of the Solingen cutlery industry to secure the training of new generations of skilled workers became a constant feature. Engulfed in mass production, Solingen was unable to maintain its traditional potential for the production of quality products, a potential which may well have been a source of innovation for its industry. The new model of industrialization which had become the dominant vision of future development by the 1920s was still too powerful during the following decades, when the euphoric hopes gave way to disenchantment about its technological possibilities.⁹³ Today mass production and the highest quality are no longer incompatible. It has been possible since then – due to further technological progress – to overcome the previous contradiction. Today, however, the Solingen cutlery industry

 Putsch: Heimarbeit (note 3), statistics 346, 356, 384.  Already in the 1930s the attitude of many entrepreneurs and of the technical journal Messer und Feile towards the future rationalization of die industry had changed. The euphoric presentation of the supposed technical possibilities for the mechanization of grinding and hafting (even in the higher quality sector) of the 1920s – which tended to deny the existing sharp contradiction between quality production and the desired mass production – had given way to a more realistic judgment. In 1934 Messer und Feile wrote that with respect to the future of the industry ‘nobody can take comfort with technical progress anymore, for, especially in the production of high-quality cutlery, the trained worker, doing his job with love and pride, cannot be replaced by machines in a foreseeable period of time.’ See Putsch: Heimarbeit (note 3), 259. Despite the continuity of this rather realistic approach to mechanization in post-war Solingen and despite the experience of the early 1950s that ‘normal’ times created a substantial demand for fine or very fine cutlery, nothing – aside from proclamations – was done to reconstruct or assist the comparatively small, but lively sector of artisanal ‘flexible specialization.’ This task, however, would have needed stronger efforts than the intensified search for more (and cheap) apprentices undertaken in Solingen. Only if the entrepreneurs had declared their readiness to pay high wages and to grant certain amount of self-determination and co-determination would the life of an outworking grinder have become attractive again.

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faces severe difficulties in keeping up with the revived demand for artisanal quality products and for special designs of cutlery produced in small series.⁹⁴

 According to Putsch, the French cutlery town of Thiers – having undergone the same destruction of its capacity for “flexible specialization” as Solingen – is now trying to reconstruct an artisanal sector of industry through municipal aid. A training program for traditionally specialized artisans as well as a retail cooperative are under way. See J. Putsch: Konzept für ein Industriemuseum. Solingen 1984, 139 – 140.

Die Wanderer-Werke AG. Historische Verortung und Forschungsstand Obwohl die industrielle Produktion dauerhafter Konsumgüter bzw. Gebrauchsgüter in Deutschland bereits in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erhebliches Gewicht erlangte und zur besonderen Dynamik des Wirtschaftswachstums jener Epoche beitrug, ja sogar in der krisengeschüttelten Zwischenkriegszeit zu den eher prosperierenden Branchen gehörte, ist dieser Industriezweig bisher vergleichsweise schlecht erforscht. Um so mehr ist es zu begrüßen, dass auf Anregung und unter Federführung des Industriemuseums Chemnitz zum 120-jährigen „Jubiläumsjahr“ der Chemnitzer Wanderer-Werke 2005 ein Sammelband erschienen ist,¹ in dem Beiträge zahlreicher Autoren vereinigt sind, die sich in den letzten Jahren in ganz unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen und Perspektiven – sei es in wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, sei es bei Recherchen für die Dauerausstellung des Industriemuseums oder in ihrer sonstigen Berufspraxis – mit dieser für die Industriegeschichte von Chemnitz und Deutschland bedeutenden Firma beschäftigt haben; sind doch die WandererWerke mit ihrem Produktionsprofil und ihrer Diversifikationsstrategie ein nachgerade „klassisches“ Beispiel für eine Unternehmung der modernen Konsumgüterindustrie und neuer Sparten des mit ihr verbundenen Maschinenbaus. 1885 gegründet, entwickelte sich die Firma aus kleinen Anfängen in der Reparatur und Herstellung von Fahrrädern zu einem Großbetrieb mit fast 3.000 Mitarbeitern kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Bis zum Ausbruch des Weltkrieges hatte man über die zumeist im Hochpreissegment angesiedelten Fahrräder hinaus Fräsmaschinen, Motorräder, Schreibmaschinen und kleine Automobile in die Produktionspalette aufgenommen. 1916 kamen schließlich noch Rechenmaschinen hinzu. Es waren zwei Jahrzehnte des Wachstums durch Diversifikation in – vom technischen Know-how und dem Facharbeiter- wie Ingenieurwissen her – zumindest verwandte Produktionsbereiche; ein Wachstumsprozess, der bei vergleichbaren deutschen Konkurrenzfirmen, wie etwa den Adler Werken in Frankfurt am Main oder den Dürkopp-Werken in Bielefeld, offenbar recht ähnlich verlaufen ist.² Dieses Wachstum gestaltete sich auch bei Wanderer keineswegs  Jörg Feldkamp/Achim Dresler: 120 Jahre Wanderer 1885 – 2005. Ein Unternehmen aus Chemnitz und seine Geschichte in der aktuellen Forschung. Chemnitz/Freiberg/Bochum 2005.  Vgl. etwa Karl Ditt: Industrialisierung, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Bielefeld. Dortmund 1982, S. 172 ff.; Werner Oswald: Adler Automobile 1900 – 1945. Geschichte und Typologie einer großen deutschen Automarke vergangener Jahrzehnte. Stuttgart 1981. DOI 10.1515/9783110534672-010

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krisenfrei, war doch die Erweiterung der Produktionspalette stets auch eine Reaktion auf Überproduktion und Preisverfall in bestehenden Märkten – etwa bei Fahrrädern seit den späten 1890er Jahren –, und verbunden mit vielfältigen Anlaufschwierigkeiten sowie zeitraubenden Anstrengungen, um durch modifizierende Eigenkonstruktion den Patentschutz von bereits im Markt etablierten Firmen (etwa im Schreibmaschinenbau) zu umgehen. Auch die Unternehmerfinanzierung, über die wir für die ersten Jahrzehnte des Bestehens der Firma leider wenig wissen, gelang sicherlich nicht ohne Schwierigkeiten. Anfangs erfolgte sie – durchaus typisch für die zahlreichen „start ups“ im metallverarbeitenden Gewerbe der 1880er/90er Jahre – aus den Familienkreisen der beiden Gründer der Wanderer-Werke, Richard Adolf Jaenicke (1858 – 1917) und Johann Baptist Winklhofer (1859 – 1949). Dann aber reichten die familiären Ressourcen für die Kapitalbeschaffung,vor allem nach dem Bau einer modernen Produktionsstätte,wie damals üblich werdend am Stadtrand von Chemnitz, nicht mehr aus. Man errichtete eine Aktiengesellschaft, um an neues Kapital zu kommen, wie es zahlreiche andere expandierende Unternehmen dieser Größenordnung in Chemnitz und sonstigen Industriestädten des Reiches erfolgreich vorgemacht hatten. 1896 wurde die Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und die Dresdner Bank half dabei, wie auch bei den immerhin drei Kapitalerhöhungen, die die prosperierende AG in den folgenden Jahren benötigte. Hauptaktionäre waren allerdings nicht mehr die beiden Firmengründer, die sich bald aus dem laufenden Geschäft zurückzogen, sondern offenbar die Dresdner Bank.³ 1897 verließ Jaenicke das Unternehmen ohne weiterhin enge geschäftliche Bindungen aufrecht zu erhalten, während Winklhofer 1902 in den Aufsichtsrat wechselte und noch über den Ersten Weltkrieg hinaus als „primus inter pares“ an strategischen Weichenstellungen des Unternehmens beteiligt blieb. Die zentrale Frage, die sich bei einer Firmengeschichte der Wanderer-Werke stellt, ist die nach den Gründen des großen unternehmerischen Erfolgs, vor allem in den Jahrzehnten bis zur Weltwirtschaftskrise 1929/33. Warum waren die Wanderer-Werke überhaupt so erfolgreich? Weder Winklhofer und Jaenicke noch die späteren Unternehmensleiter oder die leitenden Techniker gehörten zum Typus des „Erfinder-Unternehmers“, der aufgrund bahnbrechender Innovationen einen neuen Markt erschließt oder durch seine Erfindung einen gewaltigen Vorsprung vor der Konkurrenz sichert. Die Leiter der Wanderer-Werke waren, im Gegensatz zum angeblich typischen, ganz auf technische Originalität und Erfindungsgeist setzenden Chemnitzer Unternehmer, doch wohl eher begabte Marktanalysten,

 So Martin Kukowski: Einführung und Hinweise, S. XL. In: Ders. (Bearb.): Findbuch Auto Union AG Bd. 1. Hrsg. vom Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz/Halle 2000.

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„decicated follower of fashion“ – dabei freilich zugleich Techniker auf ganz hohem Niveau –, die eher anderen die Bewältigung von ingenieurs- und produktionstechnischen Startschwierigkeiten überließen, um nach deren Überwindung gewinnbringend zu partizipieren, ohne in der Regel eine marktbeherrschende Stellung auch nur anzustreben. Es ist schon auffallend, dass nahezu alle für die Produktionspalette dieses Zeitraums bedeutenden Basisinnovationen, aber auch deren produktionstechnische und industrielle Umsetzung, außerhalb des Unternehmens geschahen, und zwar nicht nur außerhalb der Wanderer-Werke, sondern außerhalb von Chemnitz und außerhalb von Deutschland: in Großbritannien und vor allem in den USA. Selbst die deutsche Basisinnovation des Verbrennungsmotors wurde bekanntlich erst über Frankreich zum marktreifen Produkt des Automobils weiterentwickelt. Allenfalls im Motorradbau standen deutsche Firmen und wohl auch die Wanderer-Werke an der Vorfront der Entwicklung und industriellen Fertigung von langlebigen Konsumgütern. Bei Fahrrädern setzte man früh auf den Nachbau britischer Modelle, bei Schreibmaschinen, später Buchungs- und Addiermaschinen, aber auch bei Fräsmaschinen für den Investitionsgütersektor, deren Aufstieg eng mit der beginnenden Massenproduktion von Kleinteilen in der Konsumgüterindustrie verknüpft war, auf den Nachbau amerikanischer Modelle, um sie dann in einem nächsten Schritt weiter zu entwickeln und auf dem deutschen Markt, schließlich auf dem Weltmarkt erfolgreich zu verkaufen. Nicht nur die Wanderer Werke handelten entsprechend, sondern die meisten deutschen Firmen der entstehenden Konsumgüterbranche und sogar der eigentlichen Werkzeugmaschinenindustrie. Ende der 1890er Jahre galt Chemnitz dem Konsul der Vereinigten Staaten – so der Beitrag von Ralf Richter im Wanderer-Jubiläumsband – gar als Region der „ärgsten Fälscher“. In der Tat war das Deutsche Reich, trotz seiner damals spektakulären Erfolge etwa in der schwerindustriellen Produktion oder der Chemieindustrie, nicht ein Pionierland des Massenkonsums und der Massenherstellung langlebiger Konsumund Gebrauchsgüter. Pionierländer waren vielmehr die aufstrebenden, wohlhabenden USA sowie das in Europa immer noch vergleichsweise reiche Großbritannien.⁴ Aber auch in Deutschland begannen sich die entsprechenden Märkte mit erstaunlicher Dynamik zu entwickeln, getragen von einer fast zwanzig Jahre anhaltenden, nur bisweilen kurzfristig unterbrochenen Hochkonjunktur zwischen 1896 und 1914, die damals historisch beispiellos war und ohne die auch der Unternehmenserfolg der Wanderer-Werke nicht schlüssig erklärt werden kann. Das Einkommensniveau stieg auf breiter Front, so dass sich zunehmend größere Schichten etwa eine Nähmaschine, ein Fahrrad oder gar ein Motorrad leisten

 Vgl. etwa Wolfgang König: Geschichte der Konsumgesellschaft. Stuttgart 2000, S. 108 ff.

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konnten. Der Erfolg der Wanderer-Werke wurde zudem von einer steten Ausdehnung des Büromaschinenmarktes getragen, bedingt durch die zunehmende Bürokratisierung des Staates, der Gemeinden und der Verwaltung rasch wachsender Unternehmen. Dieser Markt verlor auch in der Zwischenkriegszeit, die eher von einer Stagnation der Massenkaufkraft gekennzeichnet war, wenig von seiner Dynamik – gingen Verwaltungen und Büroabteilungen der Betriebe doch zunehmend zur Anschaffung von Rechen- und Buchungsmaschinen sowie HollerithMaschinen (die mechanischen Vorläufer des Computers) über. In der Zeit vor 1914 war die Wachstumsdynamik aller Zweige der Konsum- und Gebrauchsgüterindustrie so enorm, dass selbst die trendsetzenden, vergleichsweise großen amerikanischen und britischen Unternehmen nicht groß genug – und vielleicht auch nicht flexibel genug – waren, um alle Märkte flächendeckend beliefern zu können. Das ließ, trotz nur geringem Zollschutz vor anfangs überlegenen amerikanischen und britischen Produkten, Platz für „newcomer“, neue Mitbewerber wie die Wanderer-Werke, zumal der technologische Abstand zu den Pionieren sich allenfalls nach Jahren bemaß und nicht nach Jahrzehnten. Freilich brauchte man Kapital und Marktgespür, ein beachtliches technischen Know-how, genaue Kenntnisse etwa der amerikanischen Produkte und Produktionsabläufe und eine gut ausgebildete, flexible Facharbeiterschaft. All das war in Chemnitz an der Wende zum 20. Jahrhundert und zumal bei Wanderer vorhanden. Mit Winklhofer verfügten die Wanderer-Werke über ein „Naturtalent in allen Fragen der Marktbeobachtung, der Produkteinführung, der Werbung und der Kundengewinnung“ – so Karlheinz Schaller in seinem Beitrag zum WandererJubiläumsband. Winklhofer war eine Unternehmerpersönlichkeit, der man charismatische Züge nicht absprechen kann, und er war durch USA-Reisen bestens über die amerikanische Konkurrenz informiert. Auch Jaenicke hatte von 1881 bis 1884 in Philadelphia und Ohio in Maschinenfabriken gearbeitet und der langjährige Chefkonstrukteur der Büromaschinenabteilung (von 1910 bis 1919) John E. Greve die Konstruktion von Addier- und Buchungsmaschinen in den USA gelernt. Als ehemaliger Chefkonstrukteur einer bedeutenden amerikanischen Büromaschinenfabrik brachte er intime Kenntnisse über die in den USA bereits hochentwickelte Massenproduktion mit.⁵ Seit der Einführung der Schreibmaschinenproduktion ging Wanderer, neben einer zunehmend strikten Anwendung innerbetrieblicher Controllings, zur Einführung von Elementen des „american system of manufacturing“ über, einem Produktionssystem, das den verstärkten

 Vgl. den Beitrag von Günther Jornitz/Friedrich Naumann: Über ein halbes Jahrhundert Continental-Büromaschinen. In: Feldkamp/Dresler: 120 Jahre Wanderer (wie Anm. 1), S. 110 – 119.

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Einsatz angelernter Arbeitskräfte erlaubte.⁶ Daneben versuchte das Unternehmen sich – durch im Chemnitzer Vergleich hohe Löhne – einen qualifizierten Facharbeiterstamm als notwendige Voraussetzung seiner Diversifikationsstrategie zu schaffen bzw. zu sichern. Freilich waren auch kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Löhne in Deutschland immer noch wesentlich niedriger als in Großbritannien oder gar in den USA – ein nicht zu unterschätzender Konkurrenzvorteil. Freilich trug zur Erfolgsgeschichte der Wanderer-Werke bei, dass es sich bei den Märkten für dauerhafte Konsum- und Gebrauchsgüter vor 1914 um sogenannte „Verkäufermärkte“ – statt den heute dominierenden „Käufermärkten“ in diesen Branchen – handelte, die selbst gröbere unternehmerische Fehler verziehen, weil die Nachfrage nach wechselnden Produkten, trotz zyklischer Schwankungen, immer wieder dem Angebot vorauseilte, sich mithin der Verkäufer bei der Fixierung von Preis und anderen Konditionen häufig in einer dem Käufer gegenüber starken Position befand. Der Erste Weltkrieg gilt in der Wirtschaftsgeschichte als Zäsur in den großen historischen Wechsellagen der Konjunktur. Mit ihm endete der fast zwanzig Jahre währende Wirtschaftsboom in ganz Europa, und es sollte fast eine Generation dauern, bis in den 1950er/60er Jahren eine vergleichbare Hochphase wirtschaftlicher Entwicklung in den westlichen Industriestaaten, ja sogar in den sozialistischen Staaten, zu verzeichnen war. Auf den Weltkrieg folgte eine Phase ungleichmäßig verlangsamten Wachstums, vor allem aber tiefgreifender ökonomischer und finanzwirtschaftlicher Verwerfungen, die zur Weltwirtschaftskrise 1929/33 und zu einer Desintegration des Weltwirtschaftssystems führten. Auch die Wanderer-Werke gerieten in rauhes Fahrwasser, obwohl man im Weltkrieg zunächst wenig davon merkte. Wie in zahlreichen anderen Unternehmen der feinmechanischen Industrie, des Maschinenbaus und des Fahrzeugbaus, die sich schon bald als besonders geeignet für die Herstellung des Kriegsmaterials im ersten industriellen Massenkrieg erwiesen, explodierten auch bei den WandererWerken die Produktionszahlen und die Gewinne. In den Geschäftsjahren 1913/14 bis 1917/18 verdreifachten sich Bilanzsumme wie Gewinne und verdoppelten sich die Dividende und Superdividende der Aktiengesellschaft. Selbst vom ersten Automobil, das seit 1913 im Unternehmen gefertigt wurde, dem sog. WandererPüppchen, konnten immerhin ca. 1.500 Fahrzeuge an die Armee geliefert werden. Die seit längerem vorbereitete Rückkehr zur Friedensproduktion geschah trotz wiederholter Klagen über Streiks der nun noch selbstbewusster auftretenden  Vgl. den Beitrag von Andreas Künzel: Firmenstrategie Diversifikation als Erfolgsrezept? Wanderer 1885 bis 1914 aus firmeninterner Sicht. In: Ebd., S. 40 – 45, sowie Ders.: Die Entwicklung der modernen Konsum- und Investitionsgüterindustrie bis 1914, exemplifiziert an der Wanderer-Werke AG Schönau bei Chemnitz. Magisterarbeit TU Chemnitz 2004, S. 99 f.

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Arbeiterschaft oder über drohende Materialverknappung offenbar relativ reibungslos. Die Wanderer-Werke wurden – auch hier typisch für viele Unternehmen der metallverarbeitenden und massiv auf den Export setzenden Industrie – zu Gewinnern des durch eine hohe, bald absurd hohe Inflation erkauften Nachkriegsbooms. Die Geschäftsberichte bis zur Währungsreform 1924 sprachen von einem durchweg zufriedenstellenden Geschäftsverlauf, von hoher Auslastung und vom zügigen Ausbau des Werkes in Schönau und des neuen Werkes in Siegmar, dessen Gelände bereits während des Krieges erworben wurde.⁷ Der Erste Weltkrieg hatte aber auch zu einer Abkopplung von den technischen Trends im Automobilbau und im Fräsmaschinenbau geführt, die immer noch die amerikanischen Hersteller setzten. So dauerte es bis 1925, bis Wanderer im Fräsmaschinenbau, als krönender Erfolg eifrigen Kopierens, erneut Anschluss an die Weltspitze fand.⁸ In den Folgejahren bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 läßt sich zunächst weiterhin eine positive wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens konstatieren, die aber bereits seit 1926 durch eine krisenhafte Entwicklung in den Sparten des Automobilbaus und des Motorradbaus getrübt wurde. Wie zahlreiche andere Automobilhersteller in Deutschland hatte man nach dem Ende der inflationsbedingten Autokonjunktur die „Flucht nach vorne“ angetreten und die noch quasihandwerkliche Fertigung von Automobilen mit hohem Investitionsaufwand im Werk Siegmar auf Fließbandfertigung umgestellt;⁹ eine vom Grundsatz her vernünftige Entscheidung, wollte man nicht hoffnungslos hinter die überlegene, v. a. amerikanische Konkurrenz zurückfallen. Aber selbst die im Vergleich etwa zu den Horch- oder Audi-Werken in Zwickau hohen Stückzahlen der neuen Mittelklassewagen deckten nicht die Investitions- und die Fertigungskosten. So wurde schon vor 1929 der Automobilbau bei Wanderer zu einem erheblichen Verlustträger, und auch die Motorradfertigung war seit 1925 durch wiederholte Absatzeinbußen und Verluste gekennzeichnet. Die Wanderer-Werke mussten auf diese Verluste, die nur mühsam durch die Gewinne der anderen Produktionssparten ausgeglichen werden konnten, mit kaufmännischen Spar- und Rationalisierungsmaßnahmen reagieren. Die Konzernstrategie änderte sich grundlegend. Zum ersten Mal gab Wanderer Produktionslinien auf, statt neue einzuführen! Dieser Strategiewechsel manifestierte sich auch in einem personellen Wechsel: Im September 1929 wurde Hermann Klee – ein

 Vgl. Kukowski (wie Anm. 2), S. XLI.  Vgl. den Beitrag von Ralf Richter: Wanderer-Werkzeugmaschinen im internationalen Wettbewerb. In: Feldkamp/Dresler: 120 Jahre Wanderer (wie Anm. 1), S. 56 – 63.  Vgl. Fritz Blaich: Die „Fehlrationalisierung“ in der deutschen Automobilindustrie (1924– 1929). In: Tradition (1973), S. 18 – 33; weiterführend Reiner Flik: Von Ford lernen? Automobilbau und Rationalisierung in Deutschland bis 1933. Köln/Weimar/Wien 2001, v. a. S. 211 ff.

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neuer Typus von Manager – zum Generaldirektor berufen, während Winklhofers einflussreiche Beratertätigkeit endgültig endete. Im selben Jahr wurde der Motorradbau eingestellt und die Fertigungsanlagen und Lizenzen wurden verkauft. 1932 wurde schließlich der Automobilbau an die – unter der Ägide der Sächsischen Staatsbank gegründete – Auto Union abgegeben.¹⁰ Wanderer konzentrierte sich fortan auf die „Kerngeschäfte“ Büromaschinen und Werkzeugmaschinen. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das Unternehmen konnten durch umfangreiche Exporte von Werkzeugmaschinen in die Sowjetunion, die gerade in jenen Jahren gewaltige Industrialisierungsanstrengungen unternahm, abgemildert werden.¹¹ Nach Etablierung des nationalsozialistischen Regimes 1933 verband sich die Unternehmensgeschichte der Wanderer-Werke zunehmend mit dem Ablauf der deutschen Tragödie. Die für die nationalsozialistische Aufrüstung relevante Werkzeugmaschinenproduktion lief bald auf Hochtouren, aber auch der Büromaschinenmarkt erholte sich. Der säkulare Wachstumstrend für Büromaschinen wurde durch das neue Regime nicht unterbrochen. Im Gegenteil, der Aufbau einer schließlich nach Millionen zählenden Wehrmacht und auch die effiziente Organisation von Terror und Gewalt war auf technische Hilfsmittel wie Schreibmaschinen oder Hollerith-Maschinen angewiesen. Trotz der zunehmenden Überformung des Wirtschaftslebens durch die politischen Vorgaben des NS-Regimes blieben die Entscheidungsspielräume der Unternehmensleitung erstaunlich groß. Es gelang ihr – in berechtigter Sorge um zukünftige Überkapazitäten –, die Werkzeugmaschinenproduktion nicht über die bisherigen Proportionen im Unternehmen hinaus anwachsen zu lassen. Auch setzte man – ähnlich wie die Chemnitzer Auto Union AG¹² – auf eine offensive Exportstrategie, insbesonders bei den Büromaschinen. Da das Regime nicht nur Rüstungsgüter, sondern auch ausländische Devisen brauchte, konnte das Unternehmen trotz offizieller Autarkiepolitik bis Kriegsbeginn an seiner Weltmarktorientierung festhalten. 1939 war die Zahl der Beschäftigten auf über 9.000 gestiegen, und ein Jahr darauf erhielten die Wanderer-Werke die begehrte Auszeichnung „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“.

 Vgl. Kukowski, Einführung (wie Anm. 2), S. XLII ff., sowie Ders.: Auto Union AG. Grundzüge ihrer Unternehmensgeschichte sowie wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschungspotentiale ihrer Überlieferung im Sächsischen Staatsarchiv in Chemnitz. In: Rudolf Boch (Hrsg.): Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Stuttgart 2001, S. 109 – 132, v. a. 112 f.  Vgl. den Beitrag von Richter: Wanderer-Werkzeugmaschinen (wie Anm. 8), S. 56 – 63.  Vgl. Eva Pietsch: Griff nach dem Weltmarkt – Die Exporte und Exportstrategien der Auto Union AG Chemnitz 1932– 1945. In: Boch: Geschichte und Zukunft (wie Anm. 9), S. 133 – 176.

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Erst vergleichsweise spät wurden die Wanderer-Werke, wie viele andere Chemnitzer Firmen auch, in die eigentliche Kriegsrüstung einbezogen; galt doch die Chemnitzer Industrieregion in den Jahren bis 1938 als potentiell gefährdet, da zu nahe an der Grenze zur feindlichen Tschechoslowakei gelegen. Im Verlauf des Krieges dominierte dann der Primat der direkten Kriegsproduktion bald das Betriebsgeschehen, v. a. auf Kosten der Herstellung von herkömmlichen Büromaschinen. 1944 stieg der Rüstungsanteil an der Produktion – auch der Einsatz von Fremd- und Zwangsarbeitern erreichte in diesem Jahr seinen höchsten Stand – schließlich auf 78 Prozent! Entscheidend für die zunehmende Auftragsvergabe der Rüstungsämter an die Wanderer-Werke war deren anerkannte Fähigkeit, Produkte in Großserie und vorgeschriebener Qualität herzustellen. Doch eröffnete der Krieg für die Unternehmensleitung auch ungeahnte Chancen, neue Technologiefelder zu besetzen und die Entwicklungskompetenzen der Firma auszubauen, wie im Wanderer-Jubiläumsband für die Lochkarten- und die Chiffriermaschinentechnik beschrieben.¹³ Am Ende standen freilich die Niederlage und Teilung Deutschlands, Zerstörungen der Produktionsanlagen und Demontagen. Bereits im September 1944 wurde durch alliierte Luftangriffe das Fräsmaschinenwerk in Siegmar zu zwei Dritteln vernichtet. 1945 setzten dann umfangreiche Demontagen der sowjetischen Administration ein. Kurz darauf verließ das Vorstandsmitglied Hermann Gröschler Chemnitz in Richtung Bayern, gestützt auf ein „Startkapital“ wichtiger, zumeist verfilmter Fabrikationszeichnungen und Firmenunterlagen, die bereits im Februar 1945 dorthin ausgelagert worden waren, um schon bald mit Hilfe der Gründerfamilie Winklhofer einen neuen Anfang zu wagen. Im April 1948 erfolgte parallel zur sich abzeichnenden Teilung Deutschlands die Gründung der Wanderer-Werke AG München-Haar, die 1949 die Eigenproduktion von Fahrrädern und Fräsmaschinen aufnahm. Trotz der am Standort Köln neu belebten Büromaschinen-Tradition entwickelte sich der Fräsmaschinenbau zum eigentlichen Kerngeschäft der Firma. Obwohl die westdeutschen Wanderer-Werke bis zur Mitte der 1960er Jahre durchaus prosperierten, konnten sie doch nicht mehr an die Marktführerschaft der Vorkriegszeit anknüpfen. Die eher krisenhafte Entwicklung der Branche in den 1970er Jahren brachte auch den Wanderer-Werken erhebliche Anpassungsprobleme. 1981 wurde die Werkzeugmaschinenproduktion verkauft. Heute ist die

 Siehe die Beiträge von Michael C. Schneider: Unternehmerische Entscheidungsspielräume im Nationalsozialismus am Beispiel der Büromaschinensparte der Wanderer Werke AG (1933 – 1945). In: Feldkamp/Dresler: 120 Jahre Wanderer (wie Anm. 1), S. 120 – 129, sowie Michael Pröse: Wanderer im Zweiten Weltkrieg. Rüstungsbetrieb durch technische Kompetenz. In: Feldkamp/Dresler: 120 Jahre Wanderer (wie Anm. 1), S. 130 – 135.

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Die Wanderer-Werke AG

Wanderer-Werke AG eine Holding mit Geschäftsbeteiligungen in verschiedenen Branchen bzw. in Immobilien, ohne noch selber zu produzieren.¹⁴ Die Produktionsstätten der Wanderer-Werke AG in Chemnitz wurden, wie alle anderen bedeutenden Chemnitzer Betriebe, 1946 enteignet, die Fräs- und Büromaschinenherstellung – anfangs wegen der Demontagen auf teilweise bescheidenem Niveau – in verschiedenen Volkseigenen Betrieben fortgeführt. Die Büromaschinenproduktion wurde schließlich 1955 zugunsten des ehrgeizigen, freilich nur kurzlebigen Flugzeugbauprogramms der DDR aufgegeben, die bereits 1960 wieder frei werdenden Fertigungs- und Entwicklungskapazitäten wurden schließlich in die Orsta-Hydraulik – heute Sachsenhydraulik – überführt. Die Tradition des Fräsmaschinenbaus konnte sich dagegen in Chemnitz bis heute erhalten. 1951 verschwand jedoch die Namensplakette „Wanderer“ von den Maschinenständern neuer Fräsmaschinen, als der VEB Wanderer-Fräsmaschinenbau/Siegmar-Schönau im VEB Fritz-Heckert-Werk/Chemnitz umbenannt wurde. Das Heckert-Werk konnte – auf der Basis und in Weiterentwicklung der WandererKonstruktionsunterlagen – vom Produktionsumfang her an frühere Erfolge der Wanderer-Werke anknüpfen. Es wurde Stammbetrieb eines vergleichsweise modern ausgerüsteten „Vorzeigekombinats“, dessen Produktion an Fräsmaschinen freilich zu 70 Prozent in die Sowjetunion exportiert werden musste. Nach 1990, mit Einführung der Marktwirtschaft und dem Zusammenbruch des osteuropäischen Marktes, geriet daher auch Heckert in die Krise. Heute, nach vielen Turbulenzen in den 1990er Jahren, ist die Produktionsstätte in Chemnitz eines der beiden Standbeine der im Besitz eines schweizerischen Maschinenbauunternehmens befindlichen „Starrag-Heckert-Group“.¹⁵ Abschließend noch einige Bemerkungen zum Forschungsstand. Im Gegensatz zu Großunternehmen wie Krupp oder Siemens ist die Zahl der unternehmensgeschichtlichen Arbeiten zu den Wanderer-Werken überschaubar. Immerhin existieren Firmenfestschriften zum 25-jährigen und 50-jährigen Firmenjubiläum 1910 bzw. 1935 sowie jeweils eine Festschrift der Nachfolgefirmen ist Ost und West zum 100-jährigen Jubiläum im Jahr 1985. Da die Originalquellen für die Zeit vor 1900 dünn gesät sind, kommt der Festschrift zum 25-jährigen Bestehen, deren Verfasser unbekannt ist, eine besondere Bedeutung für die historische Forschung zu. Für die Festschrift zum 50-jährigen Bestehen konnte die Unternehmensleitung der Wanderer-Werke dann mit Conrad Matschoß einen damals bekannten Publizisten und wahrscheinlich ersten „hauptberuflichen“ Unternehmenshistoriker  Ausführlich dazu der Beitrag von Achim Dresler: Traditionslinien der Wanderer-Werke in Westdeutschland nach 1945. In: Feldkamp/Dresler: 120 Jahre Wanderer (wie Anm. 1), S. 152– 157.  Detailliert dazu Wolfgang Kunze:Traditionslinien der Wanderer-Werke in Ostdeutschland nach 1945. In: Feldkamp/Dresler: 120 Jahre Wanderer (wie Anm. 1), S. 146 – 151.

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Deutschlands gewinnen. Die Festschrift hat daher einen vergleichsweise hohen Informationsgehalt, trägt freilich trotzdem starke Züge einer für Festschriften lange Zeit üblichen „Haus- und Hofgeschichtsschreibung“. Diese Züge dominieren dann die zum 100-jährigen Bestehen in Dortmund erschienene Festschrift von Dieter Wildt, während die wenig später von einem Autorenkollektiv unter Federführung von Karl-Heinz Schubert verfasste Studie im – auch sprachlich – typischen Stil der damaligen betriebshistorischen Traditionspflege der DDR gehalten ist.¹⁶ Neben diesen vier Festschriften sehr unterschiedlicher Qualität und Aussagekraft kann sich die Forschung noch auf die Lebenserinnerungen des Gründers Johann Winklhofer aus dem Jahr 1940 stützen.¹⁷ Bereits früh hat sich eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit mit den Wanderer-Werken befasst. Die Dissertation von Rudolf Schneider an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen aus dem Jahr 1923 untersucht die Wanderer-Werke in einer vornehmlich betriebs- und volkswirtschaftlichen Perspektive. Zwar übernimmt Schneider unkritisch und teilweise wortgetreu ganze Passagen aus der Festschrift von 1910, seine Arbeit enthält aber zugleich Statistiken und für größere Zusammenhänge wichtige Daten, die in den Quellen zu den ersten Jahrzehnten des Bestehens des Unternehmens sonst nicht zu finden sind.¹⁸ Ähnlich dem von der Audi-AG/Ingolstadt 1992 publizierten, informativen Band „Im Zeichen der vier Ringe“ konzentriert sich auch die westdeutsche Publikation von Gerhard Mirsching aus dem Jahr 1981 auf den Automobilbau bei Wanderer und geht auf die anderen Unternehmenssparten nur in Form eines Überblicks ein.¹⁹ Wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten haben dann in den letzten Jahren die unternehmensgeschichtliche Forschung zu den Wanderer-Werken erheblich vorangebracht. Hier ist die Magisterarbeit von Andreas Künzel zu nennen, die die Entwicklung des Werkes als typisches Beispiel der modernen Konsum- und Investitionsgüterindustrie bis 1914 beleuchtet. Darüber hinaus befassen sich zwei

 Wanderer-Werke vorm. Winklhofer & Jaenicke A. G. 1885 – 1910. Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum. O. O. 1910; Conrad Matschoß: Vom Werden der Wanderer-Werke. 50 Jahre Wertarbeit 1885 – 1935. Berlin 1935; Dieter Wildt: Unternehmer sind keine Unterlasser. 100 Jahre WandererWerke AG. Dortmund 1985; Heckert-Werker machen Geschichte. Autorenkollektiv unter der Leitung von Karl-Heinz Schubert. Berlin (Ost) 1987.  Johann Winklhofer: Erinnerungen aus meinem Leben. München 1940.  Rudolf Schneider: Die Entwicklung der Wanderer-Werke A.-G. Schönau bei Chemnitz. Diss. Tübingen 1923.  Hans-Rüdiger Etzold/Ewald Rother/Thomas Erdmann: Im Zeichen der vier Ringe. Bd. 1. 1873 – 1945. Ingolstadt 1992; siehe auch den Beitrag von Thomas Erdmann: Die Frühphase des WandererAutomobilbaus. In: Feldkamp/Dresler: 120 Jahre Wanderer (wie Anm. 1), S. 72– 83; Gerhard Mirsching: Wanderer. Die Geschichte des Hauses Wanderer und seine Automobile. Lübbecke 1981.

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Die Wanderer-Werke AG

Dissertationen zur Geschichte des Chemnitzer Maschinenbaus über weite Strecken mit den Wanderer-Werken: die weit fortgeschrittene, vergleichende Studie von Ralf Richter zum Werkzeugmaschinenbau in Chemnitz und Cincinnati/USA zwischen 1870 und 1930 sowie die 2005 erschienene Arbeit von Michael C. Schneider zu den Unternehmensstrategien im Chemnitzer Maschinenbau in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.²⁰

 Künzel: Die Entwicklung (wie Anm. 5); Michael C. Schneider: Unternehmensstrategien zwischen Weltwirtschaftskrise und Kriegswirtschaft. Chemnitzer Maschinenbauindustrie in der NSZeit 1933 – 1945. Essen 2005; Ralf Richter (Arbeitstitel): Netzwerke und ihre Innovationskraft im internationalen Vergleich. Die Cluster der Werkzeugmaschinen-Industrie in Chemnitz (Deutschland) und Cincinnati (USA). 1870 – 1930.

Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Sachsens als Basis der heutigen Industriekultur Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert verfügte Sachsen, von Zeitgenossen bewundert, über prosperierende Gewerberegionen, die ihre Waren auch in entfernte Gebiete Europas, in den östlichen Mittelmeerraum und nach Übersee exportierten. Schon bald wurde Sachsen zu einem Pionierland der Industrialisierung im deutschsprachigen Raum. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wies es – neben dem Ruhrgebiet – die höchste Industriedichte im Deutschen Reich auf. Auch die DDR konnte noch lange von der Leistungsfähigkeit der sächsischen Wirtschaft zehren. Die Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens haben in den vergangenen zwanzig Jahren einen bedeutenden Aufschwung erfahren – ohne bisher in allen Aspekten und Themenfeldern die in anderen wichtigen Industrieregionen Europas gesetzten hohen Standards bereits erreicht zu haben. Freilich wurde auch vor 1990, ganz abgesehen von der älteren geschichtswissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Literatur des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, substantielle Forschungsarbeit zum Thema in der DDR wie in der Bundesrepublik geleistet. Für die 1970er und 1980er Jahre sind vor allem die bedeutenden Arbeiten zur frühen Industrialisierung Sachsens von Rudolf Forberger und Hubert Kiesewetter zu nennen. Auch heute noch kann etwa die Studie von Ottfried Wagenbreth und Eberhard Wächtler zur Geschichte des Erzbergbaus als Standardwerk gelten. Ebenso bleiben für die sächsische Unternehmergeschichte Hartmut Zwahrs Untersuchungen zur Genese und Typologie der sächsischen Unternehmer im frühen Industrialisierungsprozess unverzichtbar und anhaltend anregend.¹ Dennoch ist der Zuwachs an Wissen über die Industriegeschichte Sachsens seit 1990 erheblich. Nicht zuletzt sind im Rahmen eines Schwerpunktprogramms

 Rudolf Forberger: Die industrielle Revolution in Sachsen 1800 – 1861. 1. Halbband: Die Revolution der Produktivkräfte in Sachsen 1800 bis 1830. Berlin 1981; 2. Halbband: Ursula Forberger: Übersichten zur Fabrikentwicklung. Berlin 1981; Band 2.1: Rudolf Forberger: Die Revolution der Produktivkräfte in Sachsen 1831– 1861. Stuttgart 1999; Hubert Kiesewetter: Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozess Deutschlands im 19. Jahrhundert. Köln/Wien 1988 (leicht überarbeitete Neuausgabe Ders.: Die Industrialisierung Sachsens. Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell. Stuttgart 2007); Ottfried Wagenbreth/ Eberhard Wächtler: Bergbau im Erzgebirge. Leipzig 1990; Hartmut Zwahr: Zum Gestaltwandel von gewerblichen Unternehmern und kapitalabhängigen Produzenten. Entwicklungstypen gewerblicher Warenproduktion in Deutschland. In: Jahrbuch für Geschichte 32 (1985), S. 9 – 64; ders.: Zur Entstehung und Typologie sächsischer Unternehmer in der Zeit des Durchbruchs der Industriewirtschaft. In: Ulrich Heß u. a. (Hrsg.): Unternehmer in Sachsen. Aufstieg – Krise – Neubeginn. Leipzig 1998, S. 21– 29. DOI 10.1515/9783110534672-011

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der Deutschen Forschungsgemeinschaft Untersuchungen zu wichtigen Branchen der sächsischen Wirtschaft durchgeführt worden.² Erfreulich vorangekommen ist auch die unternehmensgeschichtliche Forschung. Neben universitären Qualifikationsarbeiten und Studien, die etwa durch die Audi AG/Ingolstadt oder die Gerda-Henkel-Stiftung finanziert wurden, sind die zahlreichen Beiträge zu nennen, die in den seit 1998 vom Sächsischen Wirtschaftsarchiv e. V. mit unterschiedlichen Partnern herausgegebenen Sammelbänden erschienen sind.³ Mit der Audi AG gelang es 1998 erstmals, ein bedeutendes Unternehmen in den Alten Bundesländern für seine historischen Wurzeln in Sachsen zu interessieren. Unter meiner Leitung und in enger Kooperation mit dem Sächsischen Hauptstaatsarchiv konnte der zweitgrößte Aktenbestand zur Geschichte der deutschen Automobilindustrie computergestützt für die Forschung erschlossen werden. Dadurch wurden mehrere Studien angeregt, und eine Habilitationsschrift zur Geschichte der Auto Union wird in absehbarer Zeit durch eine Mitarbeiterin meiner Professur fertiggestellt werden.⁴ Es dürfte auch bekannt sein, dass sich die Audi AG mit nicht unbeträchtlichen Mitteln beim Aufbau des Horch-Museums in Zwickau engagiert hat. Besonders zu erwähnen ist, dass die in vierzig Jahren DDR weitgehend vernachlässigte Wirtschaftsgeschichte Sachsens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis 1945 mit einem Projekt der Volkswagen-Stiftung bereits zur Mitte der

 Susanne Franke: Netzwerke und Wirtschaftssystem: Eine Untersuchung am Beispiel des Druckmaschinenbaus. Stuttgart 1999; Matthias Judth: Zur Geschichte des Büro- und Datenverarbeitungsmaschinenbaus der SBZ/DDR. In Werner Plumpe/Christian Kleinschmidt (Hrsg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Essen 1992, S. 137– 153; Gerhard Barkleit: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952– 1961. Dresden 1995; Stefan Prott: Konversion der Rüstungsindustrie. Der mitteldeutsche Kriegsflugzeugbau und die zivile Flugzeugindustrie in der DDR 1945 bis 1965. Dissertation. Bochum 1999; Johannes Bähr: Substanzverluste, Wiederaufbau und Strukturveränderungen in der deutschen Elektroindustrie (1945 – 1955). Berlin 1995; Stefan Unger: „Eisen und Stahl für den Sozialismus“. Essen 1998; Rene Haak: Der deutsche Werkzeugmaschinenbau 1939 – 1950. Berlin 1996.  Ulrich Heß u. a. (Hrsg.): Unternehmer in Sachsen (wie Anm. 1); ders. u. a. (Hrsg.): Wirtschaft und Staat in Sachsens Industrialisierung. Leipzig 2003; ders. u. a. (Hrsg.): Unternehmen im regionalen und lokalen Raum 1750 – 2000. Leipzig 2003; Rudolf Boch u. a. (Hrsg.): Unternehmensgeschichte heute: Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends. Leipzig 2005.  Martin Kukowski (Bearb.): Findbuch zum Bestand der Auto Union AG im Staatsarchiv Chemnitz. Hrsg. vom Sächsischen Staatsministerium des Innern. 2 Bde. Halle/Saale 2000; ders: Die Chemnitzer Auto Union und die „Demokratisierung“ der Wirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1948. Stuttgart 2003; Rudolf Boch (Hrsg.): Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Stuttgart 2001; Peter Kohl/Peter Bessel: Auto Union und Junkers. Die Geschichte der Mitteldeutschen Motorenwerke GmbH 1935 – 1948. Stuttgart 2003.

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1990er Jahre eine erste Aufarbeitung erfahren hat.⁵ Schließlich galt das besondere Interesse der jüngeren universitären Forschung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirtschaftspolitik in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR.⁶ Erstmals wurde auch die Firmenabwanderung nach Westdeutschland zwischen Kriegsende 1945 und Mauerbau 1961 genauer analysiert.⁷ Es kann nicht in Gänze auf die jüngst publizierten oder derzeit noch laufenden Forschungen zur sächsischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte eingegangen werden. Zur Illustration, dass einiges passiert und die Forschungsaktivitäten in den letzten Jahren eher gesteigert werden konnten, seien nur kurz jene Projekte skizziert, die allein seit 2005 im Umfeld meines Lehrstuhls an der TU Chemnitz realisiert oder begonnen worden sind: 2007 wurde die von der GerdaHenkel-Stiftung geförderte Studie von Michael Schäfer zu Familienunternehmen und Unternehmerfamilien in Sachsen zwischen 1850 und 1940 publiziert, die ertragreich und vorbildlich die besondere mittelständisch geprägte Struktur der sächsischen Industrie analysiert. Sie wurde mit dem Preis der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte in Frankfurt am Main ausgezeichnet.⁸ Zurzeit arbeitet Schäfer, ebenfalls von der Gerda-Henkel-Stiftung gefördert, an einer die Besonderheiten betonenden Interpretation des sächsischen Industrialisierungswegs von der Früh- zur Hochindustrialisierung unter der Themenstellung „Regionale Industrialisierung – Globale Märkte“; in gewisser Weise eine Gegenerzählung zur Master-Erzählung der angeblich „typischen“ deutschen Industrialisierung. Finanziert durch die Sparkasse Chemnitz und die Ostdeutsche Sparkassenstiftung haben derselbe Autor und Rainer Karlsch die erste große Überblicksdarstellung zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter vorgelegt. Sie wurde 2006 in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung in ver-

 Vgl. Wemer Bramke/Ulrich Heß (Hrsg.): Sachsen und Mitteldeutschland. Politische, wirtschaftliche und soziale Wandlungen im 20. Jahrhundert. Weimar/Köln/Wien 1995; dies. (Hrsg.): Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20. Jahrhundert. Leipzig 1998.  Etwa Winfrid Halder: „Modell für Deutschland?“: Wirtschaftspolitik in Sachsen 1945 – 1948. Paderborn 2001; Ralf Engeln: Uransklaven oder Sonnensucher? Die sowjetische AG Wismut in der SBZ/DDR 1946 – 1953. Essen 2001. Ulrich Kluge u. a. (Hrsg.): Zwischen Bodenreform und Kollektivierung. Vor- und Frühgeschichte der „sozialistischen Landwirtschaft“ in der SBZ/DDR vom Kriegsende bis in die fünfziger Jahre. Stuttgart 2001.  Peter Hefele: Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aus der SBZ/DDR nach Westdeutschland unter besonderer Berücksichtigung Bayerns (1945 – 1961). Stuttgart 1998; Johannes Bähr: Firmenabwanderung aus der SBZ/DDR und aus Berlin-Ost (1945 – 1953). In: Wolfram Fischer u. a. (Hrsg.): Wirtschaft im Umbruch. St. Katharinen 1997, S. 229 – 249.  Michael Schäfer: Familienunternehmen und Unternehmerfamilien. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der sächsischen Unternehmer 1850 – 1940. Stuttgart 2007.

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gleichsweise hoher Auflage veröffentlicht.⁹ Zudem wurde im vergangenen Jahr – finanziert durch die VNG, den bedeutendsten selbständigen Gasversorger in Leipzig – eine Geschichte der ostdeutschen Gasversorgung fertiggestellt.¹⁰ Seit August 2008 läuft an meiner Professur ein wesentlich vom Bundeswirtschaftsministerium gefördertes großes Projekt mit dem Ziel einer umfassenden Dokumentation und Darstellung der Geschichte des ostdeutschen Uranbergbaus von 1946 bis einschließlich der Altlastensanierung der letzten zwanzig Jahre. Neben bisher kaum beleuchteten Aspekten sind neue Erkenntnisse durch die enge Zusammenarbeit mit russischen Archiven und Wissenschaftlern sowie durch internationale Vergleiche zu erwarten. Auch die deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft Wismut, für die zeitweilig mehr als zweihunderttausend Menschen gearbeitet haben, gehört zum wirtschaftsgeschichtlichen Erbe Sachsens.¹¹ Zum Abschluss dieser Skizze über den Zuwachs an Wissen über die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Sachsens ist noch zu erwähnen, dass neben der universitären Forschung in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Einzelpersonen, häufig ehemalige Betriebsangehörige, aber auch Firmen oder Vereine in Eigeninitiative die Geschichte sächsischer Unternehmen bzw. Branchen aufgearbeitet haben. Außerdem wurden von Wirtschaftsverbänden, Industrieund Handelskammern und Museen Chroniken oder sonstige Publikationen mit fundierten historischen Rückblicken herausgegeben.¹² Insbesondere jene Industriemuseen in Sachsen, die seit 1998 im Zweckverband Sächsisches Industriemuseum zusammengeschlossen sind, haben trotz schwindender Mittel eigene Forschungen betrieben und historische Forschung – etwa zu den WandererWerken Chemnitz – publiziert oder angeregt.¹³ Diese breite Rückbesinnung auf Vielfalt und Leistungsstärke der sächsischen Industrie hat zweifellos die Ausbildung eines neuen Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls sächsischer Unternehmen und Unternehmer unterstützt.

 Rainer Karlsch/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig 2006. Hier auch zahlreiche Hinweise auf weitere ältere und neuere Literatur.  Rainer Karlsch: Vom Licht zur Wärme. Geschichte der ostdeutschen Gaswirtschaft 1855 – 2008. Berlin 2008.  Eine aktuelle, gut lesbare Überblicksdarstellung bietet Rainer Karlsch: Uran für Moskau. Die Wismut – Eine populäre Geschichte. 3. Aufl. Berlin 2008.  Stellvertretend: Chronik des Verbandes der sächsischen Metall- und Elektroindustrie e.V.; 100 Jahre sächsischer Erfindergeist. Dresden 2000; Bildungswerk der sächsischen Wirtschaft e. V. (Hrsg.): Wirtschaft – Innovation – Bildung. Dresden 2000; Von 0 auf 100. Hundert Jahre Autoland Sachsen. Chemnitz 2001.  Besonders gelungen Jörg Feldkamp/Achim Dresler (Hrsg.): 120 Jahre Wanderer 1885 – 2005. Ein Unternehmen aus Chemnitz und seine Geschichte in der aktuellen Forschung (Industriearchäologie, Bd. 4). Chemnitz 2005.

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Die wirtschafts- und unternehmergeschichtliche Forschung, die an den vier sächsischen Universitäten und den zuletzt genannten Institutionen und Vereinen betrieben wird, hat sicherlich einen gewissen Beitrag zur Stärkung der kulturellen Identität Sachsens als einem Land der Industrie und der industriekulturellen Prägung geleistet. Doch bin ich der Meinung, dass diese Geschichte und Prägung im Selbstverständnis und in der Selbstdarstellung Sachsens nicht die ihrer Bedeutung im europäischen Vergleich gemäße Rolle spielt; in der Selbstdarstellung eines Landes, das sich immerhin seit mehr als zweihundert Jahren im internationalen wirtschaftlichen Wachstumsprozess zu positionieren und trotz mancher Widrigkeiten zu behaupten wusste. Die industrielle Tradition Sachsens hat mithin nicht nur eine historische Dimension. Das Wissen um eine lange Geschichte gewerblicher Leistungskraft und Wandlungsbereitschaft vermag auch Vertrauen in die Anpassungs- und Zukunftsfähigkeit der sächsischen Wirtschaft zu vermitteln. Trotz einiger Kontinuitätslinien in der Industriegeschichte des Landes ist doch seit dem 18. Jahrhundert der permanente Wandel – mal schneller, mal langsamer – der eigentliche Dauerzustand und beeindruckt die hohe Adaptionsfähigkeit der sächsischen Unternehmer und Arbeiter. Das ist eine Erkenntnis, die es verdient, stärker in die Selbstdarstellung des Landes und in die Vermittlung eines Geschichtsbildes an die junge Generation in Sachsen einzufließen. Der permanente Wandel, die bereits angedeutete Vielfalt der Branchen in Industrie, Gewerbe und Bergbau, aber auch das „mittelständische Gepräge“ der Unternehmerschaft, die nur wenige „große Namen“ oder große Betriebe mit „corporate identity“ hervorgebracht hat, weisen freilich auf die Schwierigkeiten hin, eine spezifische Industriekultur in Sachsen zu identifizieren. Wenn man sich nicht damit begnügen will, die Vielfalt der Unternehmen und Industriezweige, die uns eine Überfülle von Fabrikgebäuden und bisweilen auch architektonisch wertvollen Industriedenkmälern hinterlassen hat, und die Anpassungsfähigkeit der sächsischen Unternehmer und Arbeiter als die eigentliche industriekulturelle Prägung zu verstehen, so lohnt sich vielleicht ein Blick auf die wenigen prägnanten Kontinuitätslinien der sächsischen Wirtschaftsentwicklung. Er mag auch der Landesdenkmalpflege Kriterien vermitteln, welche historischen Fabrikgebäude als besonders erhaltenswert zu erachten sind, selbst dann, wenn sie vielleicht keine besonders herausragende bauliche Qualität aufweisen. Nimmt man auf der Grundlage der bisherigen wirtschafts- und unternehmensgeschichtlichen Forschungen eine Art „Vogelperspektive“ ein, lässt sich konstatieren, dass von den wichtigsten Industriezweigen vornehmlich der Maschinenbau als eine Verkörperung von Kontinuität über den gesamten Zeitraum der letzten zweihundert Jahre hinweg gelten kann. Das ist umso bemerkenswerter, als der Maschinenbau in den Turbulenzen des 20. Jahrhunderts gleich drei Mal in

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schwere, ja geradezu lebensbedrohliche Krisen geriet: in den Jahren der Weltwirtschaftskrise (1929 – 1933), während der Demontagen nach dem Zweiten Weltkrieg (1945 – 1947) und während der Transformationskrise beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft (1990 – 1993).¹⁴ Seine einstige Führungsposition in Deutschland konnte der sächsische Maschinenbau unter diesen spezifischen Bedingungen zwar nicht halten, aber es drängt sich die Erkenntnis auf, dass er doch ein vergleichsweise krisensicheres Fundament der Wirtschaft des Landes zu bilden scheint. Eine Kontinuitätslinie, auch wenn sie „nur“ über die letzten hundert Jahre führt, zeigt auch der Automobilbau in Sachsen. Von der Wende zum 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg war das Land auf dem besten Weg, mit Horch, Audi, Wanderer und DKW sowie der später aus diesen Firmen zusammengeschlossenen Auto Union, ein bedeutender Standort des Fahrzeugbaus in Europa zu werden. Während die Motorradindustrie noch längere Zeit Anschluss halten konnte, verlor jedoch der sächsische Automobilbau seine technische Spitzenstellung in den 1960er Jahren vollständig. Mit den Ansiedlungen von VW, BMW und Porsche konnte Sachsen in den 1990er Jahren indes an die einstigen Erfolge des Fahrzeugbaus anknüpfen, nicht zuletzt deshalb, weil tausende gut ausgebildete Fachkräfte die Basis einer Chance auf Kontinuität bildeten. Nimmt man die Zulieferer aus der Metall- und Kunststoffindustrie hinzu, dann hängt inzwischen jeder vierte Arbeitsplatz in Sachsen von der Automobilindustrie ab. Sie stellt heute – auch in der Krise – das „Herzstück“ der sächsischen Wirtschaft dar. Eine – freilich noch stärker durch innere Wandlungsprozesse gebrochene – Kontinuität in den letzten hundert Jahren vermag man letztlich auch in der weit gefassten Industriebranche Elektrotechnik/Elektronik/Feinmechanik/Optik und Büromaschinen zu erkennen. Während vom Jahrhundertbeginn bis zum Anfang der 1980er Jahre der Büromaschinenbau, die Elektrotechnik und der Kamerabau dominierten, wurden diese Zweige noch im letzten Jahrzehnt der DDR zunehmend von der Mikroelektronik abgelöst.¹⁵ Das Mikroelektronikprogramm der DDR erwies  Überblick bei Hans J. Naumann/Reimund Neugebauer (Hrsg.): Werkzeugmaschinenbau in Sachsen. Chemnitz 2002; Gelungene Fallstudie: Michael C. Schneider: Unternehmensstrategien zwischen Weltwirtschaftskrise und Kriegswirtschaft. Chemnitzer Maschinenbauindustrie in der NS-Zeit 1933 bis 1945. Essen 2005.  Etwa Friedrich Naumann: Feinmechanische Geräte- und Uhrenbau, Rechen- und Computertechnik. In: Bildungswerk der sächsischen Wirtschaft e.V. (wie Anm. 12); ders.: Vom Tastenfeld zum Mikrochip – Computerindustrie und Informatik im „Schrittmaß des Sozialismus. In: Dieter Hoffmann/Kristie Macrakis (Hrsg.): Naturwissenschaft und Technik in der DDR. Berlin 1997, S. 261– 281; Jörg Roesler: Im Wettlauf mit Siemens. Die Entwicklung von numerischen Steuerungen für den DDR-Maschinenbau im deutsch-deutschen Vergleich. In: Lothar Baar/Dietmar Petzina (Hrsg.): Deutsch-Deutsche Wirtschaft. St. Katharinen 1999, S. 349 – 389.

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sich als gigantischer industriepolitischer Fehlschlag, schuf aber ironischerweise Voraussetzungen dafür, dass unter Marktbedingungen ein staatlich erheblich geförderter Neuaufbau der Branche erfolgen konnte. Die IT- und die ihr verwandte Solarbranche bilden heute hinter dem Automobilbau und dem Maschinenbau die dritte Säule der sächsischen Industrie – trotz der derzeitigen ökonomischen Turbulenzen. Wenn man in den genannten Branchen nachgerade eine Renaissance der Industrieproduktion in Sachsen konstatieren kann, so fand dennoch ein gewaltiger Strukturbruch in der sächsischen Wirtschaft durch den rasanten Niedergang der Textil- und Bekleidungsindustrie in den ersten Jahren nach 1990 statt. Den Höhepunkt ihrer Entwicklung hatte die Textil- und Bekleidungsindustrie als ältester und bedeutendster Industriezweig Anfang des 20. Jahrhunderts erreicht. Mehr als 40 Prozent aller Industriebeschäftigten waren damals in dieser Branche tätig. Besonders die im kontinentaleuropäischen Kontext frühe Mechanisierung der Baumwollspinnerei oder späterhin der Wollweberei und der Strumpfwirkerei gilt es für die Forschung wie für die Landesdenkmalpflege für spätere Generationen zu dokumentieren, wenn auch der langfristige Einfluss der Textilindustrie auf die Ausbildung einer nachhaltigen sächsischen Industriekultur wohl relativiert werden muss. Seit 1914 ging ihr Anteil an den Beschäftigungszahlen in Gewerbe und Industrie vor allem in den Kriegszeiten relativ zurück. Freilich blieb die Textil- und Bekleidungsindustrie bis Mitte der 1960er Jahre der größte Arbeitgeber in Sachsen. Noch im letzten Jahr der DDR zählte sie über 200.000 Beschäftigte, das waren immerhin noch rund 17 Prozent aller Beschäftigten in der Industrie.¹⁶ Den in den 1970er Jahren in Westeuropa einsetzenden Strukturwandel der Branche – Verlagerung in Schwellenländer („Textilpipeline“) – konnte die häufig technisch rückständige sächsische Textil- und Bekleidungsindustrie Anfang der 1990er Jahre nicht im Zeitraffer nachvollziehen. Ein Land der Textilindustrie ist Sachsen mit rund 15.000 Beschäftigen in dieser Branche heute nicht mehr. Vergleicht man die sächsische Wirtschaftsstruktur vor dem Ersten Weltkrieg mit der am Beginn des 21. Jahrhunderts wird deutlich, dass die Industrie ihre einst überragende Bedeutung als wichtigster Wirtschaftsbereich verloren hat. Um 1914 waren mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Industrie tätig. Heute sind es knapp 20 Prozent. Dieser Prozess begann bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde dann aber durch zwei Weltkriege, mit ihren hohen Anforderungen an die industrielle Massenproduktion, und vier Jahrzehnte Planwirtschaft in der DDR, mit starker Industriefixierung, gebremst. In gewisser Weise war die sächsische  Allgemein Christian Heimann: Systembedingte Ursachen des Niedergangs der DDR-Wirtschaft. Das Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie 1945 – 1989. Frankfurt am Main 1997; Jörg Roesler: Mauersbergs Malimo: Legenden und Tatsachen um eine originäre DDR-Innovation. Hefte zur DDR-Geschichte (48). Berlin 1997.

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Wirtschaft seit Mitte des 20. Jahrhunderts – besonders durch die Aufrechterhaltung der Textilindustrie – überindustrialisiert. Der verzögerte Strukturwandel fand dann nach 1990 mit rasanter Geschwindigkeit statt. Doch ist Sachsen heute keinesfalls „schnurstracks“ auf dem Weg in die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft. Es weist immer noch den höchsten Besatz an Industriearbeitsplätzen in den Neuen Bundesländern auf. Die Dynamik der Dienstleistungsökonomie hat die Industrie nicht abgelöst, sondern nur in ein neues Verhältnis gesetzt, und Einiges was sich unter Dienstleistungen verbirgt, wurde früher dem industriellen Sektor statistisch zugeordnet. Außerdem sind wir mitten in einem Wandel des Zeitgeistes: Realwirtschaft ist wieder angesagt, nachdem sich der sog. finanzmarktgetriebene Kapitalismus als Verschuldungsorgie und Spekulationsblase entpuppt hat. Es ist – so meine Prognose – auch in Zukunft davon auszugehen, dass Arbeitsmodelle der Industriegesellschaft und der Dienstleistungsgesellschaft nebeneinander bestehen bleiben werden, Industriekultur in Sachsen mithin auch in der Gegenwart zu verorten bleibt – und nicht allein Historikern oder Denkmalpflegern überlassen werden sollte.

Fabriken Cromford, die „Mutter aller Fabriken“ 1784, vor 225 Jahren, gründete der Kaufmann und Baumwollverleger Gottfried Brügelmann (1750 – 1802) in Ratingen bei Düsseldorf eine mechanische Baumwollspinnerei „nach englischer Art“, die erste auf dem europäischen Kontinent. Er gab ihr den nachgerade programmatisch anmutenden Namen „Cromford“, in Anlehnung an die 1771 von dem englischen Erfinder-Unternehmer Richard Arkwright (1772– 1792) errichtete Cromford Mill in der Grafschaft Derbyshire. Diese, bereits von den Zeitgenossen weithin beachtete, wassergetriebene Baumwollspinnerei gilt als die erste „Fabrik“ überhaupt.Und in der Tat hatten das englische Original und seine rheinische Kopie bereits alles vorzuweisen, was den Begriff „Fabrik“ in seiner modernen Wortbedeutung ausmacht: Es waren insbesondere Stätten zentralisierter Produktion, in denen eine größere Zahl von Arbeitskräften in einem arbeitsteiligen Produktionsprozess und unter Verwendung von – zumeist nicht durch menschliche Kraft angetriebenen – Maschinen gleichförmige Güter (Baumwollgarne) in großer Stückzahl für den Verkauf herstellten.

Fabriken als Museen und Industriedenkmale Heute ist der ursprüngliche Gebäudekomplex in Ratingen mit seinen perfekten Nachbauten der Maschinerie des späten 18. Jahrhunderts ein vielbesuchtes Industriemuseum. Die tiefe Krise der europäischen Textilindustrie war die Ursache für die endgültige Schließung der zwischenzeitlich vergrößerten Fabrikanlage im Jahr 1977. 1984 wurden Produktionsgebäude und benachbartes „Herrenhaus“ des Fabrikbesitzers aus den 1780er Jahren im Gründungsboom von Industriemuseen in Nordrhein-Westfalen eine der Außenstellen des wesentlich vom Landschaftsverband Rheinland finanzierten Rheinischen Industriemuseums. Wurden stillgelegte Fabriken in Europa bis in die 1970er Jahre hinein zumeist als architektonisch wertlose, schmutzige und den modernen Städtebau störende Abrissobjekte behandelt, wandelte sich der Blick auf das „industrielle Erbe“ in den wirtschaftlichen Umbruchzeiten der folgenden Jahrzehnte – nach 1990 insbesondere auch in den Neuen Bundesländern – grundlegend. Dieser Wandel ging von Großbritannien aus, das nicht nur das Pionierland der Fabrikindustrialisierung, sondern auch als Opfer einer vergleichsweise frühen und drastischen Deindustrialisierung ein Vorreiter bei der Entdeckung des „industrial heritage“, des industriellen Erbes, war. Seitdem lässt sich eine Tendenz zur Umwandlung von

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Fabriken in „Erinnerungsorte“ konstatieren, sei es durch die Gründung von Industriemuseen, sei es – und dies geschah für eine weitaus größere Zahl von Fabriken in Europa – durch eine Aufwertung zu schützenswerten Industriedenkmalen. Einige von ihnen sind heute sogar zu attraktiven Spielstätten der Hochkultur avanciert, andere werden mehr oder weniger erfolgreich als Geschäftsund Wohnareale mit besonderem historischen Flair vermarktet. Freilich beschränkt sich diese Umwandlung von aufgelassenen Fabriken zu „Erinnerungsorten“ auf einen geringen Prozentsatz der Industriebrachen in Europa. Auch lässt sich diese Umnutzung nicht für alle Länder der Europäischen Union gleichermaßen konstatieren. Ausgehend von Großbritannien, erfasste diese Welle des Erinnerns an die Hochzeit der Fabrikarbeit vornehmlich den deutschsprachigen Raum sowie Belgien und Frankreich, mithin die Kernregionen der europäischen Industrie der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dennoch scheint dieser neue Umgang mit alten Fabriken ein vornehmlich europäisches Phänomen zu sein, hat sich doch etwa in den USA keine Industriemuseumsbewegung von Bedeutung entwickelt. Auch kulturelle Umnutzungen stillgelegter Fabriken finden dort viel seltener statt, und von amerikanischen Historikern und Architekten wird ein geringes Interesse von Bevölkerung und Politik an der eigenen industriellen Vergangenheit und deren architektonischen Hinterlassenschaften beklagt. In den genannten Teilen Europas ist jedoch ein fortdauerndes Interesse von Bürgerinitiativen, Vereinen, städtischen Öffentlichkeiten, Gewerkschaften und regionalen Medien an der Umnutzung bzw. Musealisierung von Fabriken mit gewissem architektonischen oder industriegeschichtlichen Wert erkennbar, wenn auch die finanziellen Ressourcen v. a. der Kommunen entsprechenden Bestrebungen noch engere Grenzen als vor zwanzig Jahren setzen. Doch ist eine Ausweitung dieser öffentlichen Wertschätzung alter Fabrikanlagen auf einige neue Beitrittsländer der EU mit industrieller Vergangenheit, aber auch auf ältere Industriestandorte in den Mittelmeerländern, nicht auszuschließen – lässt sich doch mit „Industriekultur“ ein durchaus erfolgreiches Stadt- und Regionenmarketing in Europa betreiben. So wurden in den letzten Jahren klassische Fabrikstädte wie Lille, Liverpool, Glasgow und Essen, die ein neues Selbstbewusstsein gegenüber ihrer Vergangenheit entwickelt haben, zu Europäischen Kulturhauptstädten gekürt. Selbst Katalonien wird bereits von einer „Route des industriellen Erbes“ durchzogen. Die gesellschaftlichen Ursachen und Motive, die in der eher spärlichen Literatur, die sich mit dem Phänomen der Umwandlung von alten Fabriken in „Erinnerungsorte“ auseinandersetzt, genannt werden, sind nicht immer überzeugend. „Wenn die Arbeit ausgeht, dann kommt sie ins Museum“ – diese in den 1970er Jahren in der alten Bundesrepublik geläufige Spruchweisheit hat sich z. B.

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als unzutreffend erwiesen. Die Arbeit ist nicht ausgegangen, sie ist nur im aufsteigenden Dienstleistungssektor eine andere geworden. Auch findet sie weiterhin als industrielle Arbeit in hochmodernen Fabrikhallen, häufig auf der „grünen Wiese“ statt. Den Akteuren der letzten dreißig Jahre bei ihrem Einsatz zum Erhalt von Fabriken schlicht Nostalgie zu unterstellen, dürfte ebenso unzureichend sein, wie den häufig beteiligten, zumeist sozialdemokratischen Landes- und Kommunalpolitikern allein wahltaktisches Kalkül oder das Bemühen um regionale Identitätsstiftung zu attestieren. Eher gehören Industriemuseen und Industriedenkmale zu den konservierenden Maßnahmen einer Gesellschaft, die nicht ganz besinnungslos in eine neue Epoche der kapitalistischen Wertschöpfung stolpern will. Musealisierung und Unterschutzstellung von Fabriken sind zugleich Ausdruck und integraler Bestandteil einer industriekulturalistischen Wende, v. a. in historisch älteren Industrieregionen Europas. Diese Aufwertung der kulturellen Bedeutung von Industrie für die Gesellschaft hatte dort überall ihre Vorkämpfer und Protagonisten. In der Bundesrepublik Deutschland war es Hermann Glaser, der langjährige Kulturdezernent der auch industriell geprägten Stadt Nürnberg, der vor mehr als dreißig Jahren diese Wende vorantrieb. „Industrie in ihrer ganzen Vielfalt wurde als Teil der Kultur der letzten 200 Jahre definiert und – noch wichtiger – als solche allmählich akzeptiert und in Objekten wahrnehmbar gemacht, in ‚Leitfossilien‘ der Industriekultur“, wie es der erste Direktor des Rheinischen Industriemuseums in den 1980er und 1990er Jahren, Rainer Wirtz, unlängst in der Rückschau formulierte.¹ Die wichtigste ‚Leitfossilie‘ ist zweifellos die Fabrik. Sie gilt weithin als eine Art Basisinnovation im Industrialisierungsprozess und als Symbol der Industriellen Revolution, manchen auch als deren vollendete Form. Das trifft in besonderem Maße auf frühe Fabrikanlagen und insbesondere auf die „Mutter aller Fabriken“, die fabrikmäßig betriebene mechanische Baumwollspinnerei, zu, wie sie etwa in Ratingen der Nachwelt erhalten blieb.

Fabriken in der frühen Industrialisierung: Mythos und Realität Diese hohe Symbolträchtigkeit konnte auch von der neueren wirtschaftsgeschichtlichen Forschung nicht erschüttert werden, welche die Bedeutung der Textilindustrie im Allgemeinen und der Fabrik im Besonderen für den Indu-

 Rainer Wirtz: Der Fortschritt und die Industriemuseen – oder: Ist die Geschichte von Industrie in Zukunft noch ausstellbar? In: Wohin führt der Weg der Technik – Zu historischen Museen? (Industriearchäologie, Bd. 2). Chemnitz 2002, S. 58.

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strialisierungsprozess bis ca. 1870 erheblich relativiert hat. Zahlreiche Forschungsarbeiten der letzten Jahrzehnte heben den anhaltend großen Stellenwert der im Verlagssystem organisierten, exportorientierten Heimweberei hervor. Sie gab in Europa hunderttausenden von Menschen noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts Arbeit und wuchs lange Zeit in enger Symbiose mit den Spinnfabriken als vorgeschalteter Produktionsstufe, welche, aus heutiger Sicht zudem quälend langsam, sukzessive die Handspinnerei vom Woll- und Leinengarnen verdrängten. Industrialisierung war zunächst ein Prozess extensiven Wachstums, das sich im gewerblichen Sektor konzentrierte. Erst in den 1830er Jahren war – 60 Jahre nach Arkwrights „Cromford Mill“ – schließlich das mechanische Spinnen von Flachs technisch so ausgereift, dass es ökonomisch rentabel in großem Stil eingeführt werden konnte. Erst seit den 1850er Jahren kann man außerdem von einer flächendeckenden Mechanisierung der Weberei unter Einsatz von Dampfmaschinen als Antriebskraft, über die Produktion von einfachen Baumwoll- und Leinengeweben hinaus, sprechen. Auch deshalb herrscht in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung heute weitgehend Einigkeit darüber, dass im kontinentalen Europa die zögerliche und überaus krisenhafte Etablierung von Baumwollspinnfabriken sowie die über viele Jahrzehnte gestreckte Mechanisierung der anderen Sparten der Textilfabrikation in Fabriken, niemals – weder vom ökonomischen Gewicht in der Gesamtwirtschaft noch von den Vor- und Rückkopplungseffekten auf andere Wirtschaftsbereiche – den Charakter eines „Leitsektors“ der Industrialisierung annehmen konnte, wenn auch von der Textilbranche bis in die 1830er Jahre die wichtigsten Impulse für den frühen Maschinenbau ausgingen. Sogar für Großbritannien, wo zur Mitte der 1850er Jahre über einhundertausend Frauen, Jugendliche und Männer in den Baumwollspinnfabriken mehr als 10 Millionen damals modernster Spindeln bedienten, zweifeln Historiker die Leitfunktion der Baumwollfabriken für den Industrialisierungsprozess heute an. Das gilt selbst für die Textilbranche als Gesamtheit, von deren 1,3 Millionen Beschäftigten – das Bekleidungsgewerbe nicht mitgerechnet – 1851 immerhin bereits 50 Prozent in zumeist dampfgetriebenen Fabriken arbeiteten; ein im Vergleich zu anderen Branchen sehr hoher Prozentsatz. Wie ohnehin für den deutschsprachigen Raum und Belgien, wird auch für Großbritannien zunehmend der Eisenbahnbau mit seinen gewaltigen Investitionssummen und mit seinen massiven Rückkopplungseffekten auf den Bergbau, die Hüttenindustrie und den kapitalintensiven Maschinenbau – nicht zuletzt auch wegen der Verbilligung der allgemeinen Transportkosten – als „Leitsektor“ einer beschleunigten Industrieentwicklung ab etwa 1830 gesehen. Was den Stand der Verbreitung von Fabriken im gewerblichen Sektor des Inselreichs angeht, so dürfte es bezeichnend sein, dass selbst das an der Spitze der Entwicklung stehende Großbritannien über die Mitte

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des 19. Jahrhunderts hinaus landläufig als „Werkstatt der Welt“ (workshop of the world) charakterisiert wurde.

Fabriken als „Erinnerungsorte an die Zukunft“ Trotz dieser relativierenden Ergebnisse der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung können Historiker nicht einfach darüber hinweg gehen, dass die Fabrik als neue Organisationsform der Arbeit, wie sie sich ausgehend von der Baumwollspinnerei vor allem in der Textilbranche allmählich durchsetzte, für die Zeitgenossen vornehmlich aus den bürgerlichen Schichten Europas einen hohen symbolischen Stellenwert besaß. War doch die Industrialisierung nicht allein ein ökonomischer und technologischer Prozess, sondern – aus kultur- und ideengeschichtlicher Perspektive betrachtet – unauflösbar verknüpft mit der Herausforderung älterer Muster der Weltdeutung und des Zukunftsentwurfs sowie neuen Sinnstiftungen ökonomischen Handelns. Die Fabrik wurde bereits für die Zeitgenossen der frühen Fabrikgründungen zu einem „Erinnerungsort“: zu einem „Erinnerungsort“ an die ursprünglichen Werte und Ziele des bürgerlichen Liberalismus und – so merkwürdig das klingen mag – zu einem „Erinnerungsort an die Zukunft“, an erstrebenswerte oder strikt abzulehnende Varianten von Zukunft. Die mechanische Baumwollspinnerei war daher schon kurz nach ihrer Einführung auch in den gewerblich entwickelten Teilen des kontinentalen Europa – verstärkt aber seit den 1820er Jahren – Gegenstand einer intensiven Debatte der gerade entstehenden „bürgerlichen Öffentlichkeit“, mit ihren zahlreichen „Selbstverständigungsorganen“, den Zeitschriften, Periodika oder Handelsblättern. Das historisch Neuartige, wenn man so will Revolutionäre, wurde den Zeitgenossen, die nur den Erfahrungshintergrund der von Verlegerkaufleuten organisierten Großgewerbe auf der Basis von Heimarbeit hatten, sehr rasch bewusst. Die Spinnfabriken bedeuteten: die weitgehende Ersetzung und zunehmende Dequalifizierung von Handarbeit durch Arbeitsmaschinen, die Zentralisation der Produktion unter einem Dach mit einer zentralen Antriebskraft, mithin auch die Trennung von Arbeit und Wohnen, die Anlage einer größeren Summe fixen Kapitals, die den Unternehmer zu einer im Heimgewerbe unüblichen Kontinuität von Produktion und Absatz zwang sowie schließlich das Anwachsen von auf Lohnarbeit begründeten Existenzen, die – im Gegensatz zu den nach Tausenden zählenden Heimarbeitern und Handwerkern der exportorientierten Großgewerbe – nicht einmal mehr den Schein von Selbständigkeit, dem damaligen Ideal bürgerlichen Gesellschaftsentwurfs, aufrecht erhalten konnten. Das dramatisch Andersartige der Baumwollfabriken und ihr hoher Stand der Mechanik beeinflußten die Phantasie der Zeitgenossen. Eine kleinere Gruppe von

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gebildeten Bürgern, Staatsbeamten und Unternehmern sah in der mechanischen Baumwollspinnerei rasch das Zukunftsbild der Entwicklung von Gewerbe und Industrie, spürte das Potenzial der Ersetzung von Handarbeit durch Arbeitsmaschinen als beständige Quelle bahnbrechender Veränderungen. Alles müsse über kurz oder lang zur Fabrik übergehen, das Handwerk und die Kleinbetriebe müssten der mechanisierten Massenproduktion erliegen. Wiederum einige davon glaubten gar in der „Vervollkommnung“ der automatischen Arbeitsmaschinerie, verbunden mit der schier unerschöpflichen Vermehrung der Dampfkraft, die Chance für die Emanzipation der Menschheit aus den Zwängen der Natur und der beengenden Mühsal der zum täglichen Leben notwendigen Arbeit entdeckt zu haben. Der ältere Fortschrittsbegriff der Aufklärung wurde über die Baumwollfabriken erstmals mit der Industrieentwicklung verknüpft, in der Hoffnung, dass durch gewaltige technisch-materielle Fortschritte kulturelle und moralische Werte gewonnen werden könnten. Der Brite Andrew Ure bestärkte und krönte diese Denkströmung mit seinem 1835 erschienenen, vielgelesenen Werk „The Philosophy of Manufactures“, in welchem er die Errichtung vollautomatischer Fabriken bereits in einer nicht allzu fernen Zukunft prognostizierte. Dieses Buch wurde nicht zuletzt deshalb – aber nicht nur deshalb – zu einer einflussreichen Schrift des 19. Jahrhunderts, weil der junge Karl Marx (1818 – 1883) es nachgerade mit Feuereifer verschlang und damit seine Zukunftshoffnung der Möglichkeit des Übergangs vom „Reich der Notwendigkeit“ zum „Reich der Freiheit“ begründete. Von diesem Zeitpunkt ab war der Marx’sche Sozialismus – trotz aller plakativen Kritik an den Schattenseiten der Industrialisierung und der sog. Entfremdung der Arbeiter in den kapitalistisch geprägten Fabriken – ein Sozialismus, der mit der „Großen Industrie“ und nicht gegen die Fabriken verwirklicht werden sollte, wie es die von Marx fortan als „utopisch“ gebrandmarkten Frühsozialisten der kleinen Warenproduktion und des Handwerks in Frankreich, der Schweiz und teilweise auch in deutschen Ländern erträumten. War die Mechanisierung des Baumwollspinnens, die – wie erwähnt – in der Realität nur erstaunlich langsam etwa die Mechanisierung des Webens oder der Leinen- oder Seidenfabrikation nach sich zog, für eine Minderheitsströmung im Bürgertum des kontinentalen Europa der Anlass, ganz auf die Karte der „Großen Industrie“ zu setzen, blieb sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts für eine Mehrheit eher Schreckbild als Zukunftsvision. Eine auf eine wachsende Zahl von Lohnarbeitern begründete Fabrikindustrialisierung wurde etwa im deutschsprachigen Raum nicht nur als konträr zum bürgerlich-liberalen Zukunftsentwurf einer – wie es der Historiker Lothar Gall prägnant formulierte – „klassenlosen Bürgergesell-

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schaft mittlerer, selbständiger Existenzen“ begriffen.² Die Spinnfabriken schienen Armut auch nachgerade zu produzieren und anzulocken, anstatt Armut und Beschäftigungslosigkeit zu bekämpfen, wie es die Spinnereibesitzer stets behaupteten, als sie nach Aufhebung der napoleonischen Kontinentalsperre immer wieder nach staatlicher Protektion, vor allem nach erhöhtem Zollschutz riefen; beruhte die Baumwollspinnerei doch zu einem guten Teil auf Kinderarbeit und darüber hinaus auf sehr schlecht entlohnter Frauenarbeit. Sollte so die Zukunft aussehen? Aus diesem Teil des Bürgertums heraus wurde über das Thema Kinderarbeit eine bewusste, anhaltende Skandalisierung der mechanischen Baumwollspinnerei betrieben, auch aus der festen Überzeugung heraus, dass die zwölfstündige, monotone Kinderarbeit in den als „Spinnhöllen“ oder „Jammerhöhlen“ bezeichneten Fabriken einen völlig anderen Charakter als im Heimgewerbe und in der Landwirtschaft habe. Es war freilich nicht nur dem Mitleid mit den Kindern geschuldet, dass die Kritik an den Fabriken bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht verstummte. Nicht wenige Kaufleute,Verleger, Pfarrer, Beamte sahen in der Kinderarbeit und dem mit ihr scheinbar verbundenen Absinken des allgemeinen Lohnniveaus ein Symbol für die destruktiven Kräfte, die eine entfesselte Industrie – im damaligen Wortgebrauch „der Industrialismus“ – freisetzen konnte. Wohin dieser „Industrialismus“ führen werde, glaubte man an England, seinen großstädtischen Slums und seinem „entsittlichten“, „bindungslosen“ Proletariat erkennen zu können. Großbritannien galt vielen Bürgern des kontinentalen Europa im Vormärz nicht als Vorbild, sondern als Irrweg einer zu weit getriebenen Industrie. Aber auch pragmatisch denkenden, weniger pessimistischen Kaufleuten und Unternehmern im kontinentalen Europa erschienen Spinnfabriken als eine äußerst prekäre Angelegenheit – ähnlich vielleicht den heutigen Computerchipfabriken. Zwar konnte man bei entsprechenden staatlichen Rahmenbedingungen – etwa Zollschutz und hohen Spindelprämien –, bei guter Konjunktur und zumindest zeitweiligem technischen Vorsprung gegenüber der inländischen Konkurrenz, für einige Jahre sehr viel Geld verdienen. Aber Großbritanniens sich immer noch vergrößernde technologische Überlegenheit, seine gewaltige Marktmacht auf dem Sektor der Rohbaumwolle und die extremen zyklischen Schwankungen der Nachfrage nach gesponnenem Garn machten ein unternehmerisches Scheitern sehr wahrscheinlich. Was blieb, war der in Deutschland oder Italien sehr gebräuchliche Ausweg einer Nischenexistenz in der Produktion grober Garne, denen man in Manchester wegen zu teurer Transportkosten und besonders hoher

 Lothar Gall: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 334 f.

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Zollbarrieren wenig Aufmerksamkeit schenkte. Aber bei groben Garnen lag die Verzinsung des Kapitals in den 1830er Jahren unter dem Durchschnitt der Verzinsung von Staatsanleihen der kontinentaleuropäischen Staaten, wenn man zeitgenössischen Beobachtern Glauben schenken darf. Gern hätten viele Verlegerkaufleute, die nicht selten hunderte bis tausende Weber und Wirker in hochspezialisierten Branchen in Heimarbeit beschäftigten – und in diesen Bereichen der Weiterverarbeitung, die sich seit 1800 gewaltig ausgedehnt hatten, wurde bis in die 1850er Jahre im kontinentalen Europa das „wirkliche“ Geld verdient – das gesponnene Garn – Fortschritt hin, moralische Entrüstung her – einfach zum Rohstoff deklariert und ohne verteuernden Zollaufschlag aus Großbritannien eingeführt.

Fabriken als Grundlage der Epoche einer europäischen Industriegesellschaft Die Aufgeregtheit, die Schärfe, die Symbolhaftigkeit und der futuristische Zuschnitt der Auseinandersetzung um die Fabrik in der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen in starkem Kontrast zu dieser eher pragmatischen Weltsicht, wie auch zu den Ergebnissen der historischen Forschung zum Verlauf der Industrialisierung während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts. Dennoch kann man dieser lebhaften Debatte um die Spinnfabriken, die sie zu „Erinnerungsorten an die Zukunft“ machte, ihre historische Berechtigung und Sinnhaftigkeit nicht absprechen, verkörperten doch bereits die ersten Baumwollspinnereien die allgemeine Form, das „Wesen“ eines heraufziehenden Fabrikzeitalters. Sie waren der Prototyp der Produktion unter einem Dach, des zentralen Kraftantriebs und der Trennung von Arbeit und Wohnen, wie sie für die Zeit der Hochindustrialisierung nach 1880 typisch wurden. Sie waren nicht zuletzt auch Experimentierfeld neuer Formen des Managements von Kapitaleinsatz und Arbeit. Zwar waren viele Fabriken außerhalb der Textilbranche im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von ihren inneren Produktionsabläufen her partiell eher noch Werkstätten, die weiterhin auf handwerklichen Arbeitsqualifikationen und Arbeitsprozessen basierten. Das war insbesondere im Maschinenbau der Fall, aber auch in der frühen Automobilfertigung. Doch verbreitete sich die standardisierte Massenproduktion, für die die Bauwollspinnerei prototypisch steht, im Laufe der folgenden Jahrzehnte beträchtlich. Sie prägte nach der elektrotechnischen Industrie bald auch die Automobilfabriken, mithin zwei „Schlüsselindustrien“ des 20. Jahrhunderts. Die beiden Weltkriege und der Boom der 1950er und 1960er Jahre, der weitgehend auf der Expansion der klassischen Wachstumsindustrien des frühen 20. Jahrhunderts beruhte, verstärkten

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die Ausbreitung hierarchischer, rigide aufgeteilter, oft tayloristisch genannter Fabrikarbeit zur Herstellung standardisierter Massenprodukte beträchtlich. Seit den 1880er Jahren wurde in Europa die Beschäftigung vergleichsweise sehr „industrieintensiv“, das heißt, in Europa arbeiteten in Fabriken weit mehr Erwerbstätige als in außereuropäischen Ländern. Nur in europäischen Gesellschaften war deshalb der Industriesektor bis in die 1970er Jahre, mithin für ein knappes Jahrhundert, größer als der Dienstleistungssektor. Diese Dominanz erreichte der Industriesektor in einer ganzen Reihe von europäischen Ländern schon vor dem Ersten Weltkrieg, etwa in Großbritannien, Deutschland, Belgien, der Schweiz, Österreich und Böhmen. Bemerkenswert ist freilich, dass in den 25 Jahren zwischen 1950 und der Mitte der 1970er Jahre sich diese Dominanz des Industriesektors auch in Europa als Ganzes durchsetzte. In diesen Jahrzehnten betrieben einige Länder der sog. Peripherie – Spanien, Finnland, Irland, Italien für seinen Süden – eine gezielte Industrialisierungspolitik, siedelten Fabriken an und förderten sie mit Steuergeldern. Auch im Osten Europas setzten die kommunistischen Regime ganz auf die Karte einer forcierten Industrieentwicklung, besonders nachdrücklich in früheren Agrarländern wie Polen oder Rumänien. In den RGW-Staaten wurde die Fabrik sogar vollends zum Organisationsprinzip der gesamten Gesellschaft. Sie strukturierte das Leben der Beschäftigten bis hin zum Betriebskindergarten, dem Betriebszahnarzt, dem Betriebsfriseur und dem Betriebsferienheim. Die Organisationsform der Fabrik hat die Implementierung gewerblicher Warenproduktion in einstmals dominant agrarische Regionen Europas enorm erleichtert. Selbst unter Einschluss weiterer peripherer Länder wie Portugal und Griechenland, die sich wenig industrialisierten, erreichte die europäische Beschäftigung insgesamt dadurch statistisch eine außergewöhnliche Industrieintensität. „Nur in europäischen Gesellschaften“, so das Urteil des Berliner Historikers Hartmut Kaelble, „lief die Geschichte der Beschäftigung streng nach unseren Lehrbüchern ab und enthielt nach der Periode der Agrargesellschaft eine wirklich Periode der Industriegesellschaft, in der die Industrie tatsächlich der größte Beschäftigungssektor war“.³ Viel stärker als anderswo auf der Welt breitete sich der Typ der reinen Fabrikstadt in Europa aus oder gaben Fabriken der Stadtentwicklung ein spezifisches Gepräge. Nirgendwo sonst hatten Gewerkschaften und Arbeiterparteien ein höheres Mitglieder- bzw. Wählerpotenzial. Nirgendwo sonst wurde auf Grund der gewaltig wachsenden Arbeiterzahlen eine staatliche Sozialpolitik, zunächst häufig noch allein auf die gewerbliche Arbeiterschaft zielend, so dringlich wie in

 Hartmut Kaelble: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880 – 1980. München 1987, S. 26.

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europäischen Staaten – nicht zuletzt zur Legitimation von Herrschaft in Industriegesellschaften. Dieser europäische Weg lässt sich in keinem außereuropäischen Land eines ähnlichen Entwicklungsstands finden, weder in den USA, Kanada, Australien oder Japan. In keinem dieser Länder gab es eine eigentliche Periode der Industriegesellschaft, vielmehr ging die Agrargesellschaft direkt in die Dienstleistungsgesellschaft über. Zu keinem Zeitpunkt der ökonomischen Entwicklung erreichte dort der Industriesektor den größten Anteil an den insgesamt in diesen Volkswirtschaften beschäftigten Personen. Fabriken können also mit Fug und Recht den Status eines spezifischen „europäischen Erinnerungsorts“ beanspruchen. Doch sind sie nicht einfach nur Relikte einer vergangenen Epoche, deren besonders schöne oder bedeutsame Exemplare man getrost Historikern und Denkmalpflegern oder Vermarktern von „Industriekultur“ überlassen kann. Sie sind auch heute fester Bestandteil des verarbeitenden Gewerbes in Europa und werden es auch in absehbarer Zukunft sein. Denn nachdem Europa seit den 1970er Jahren eine Dienstleistungsgesellschaft geworden war, d. h. der Dienstleistungssektor seither die meisten Beschäftigten aufweist, blieb eine besondere Industrieintensität – im Vergleich zu anderen „reifen“ Volkswirtschaften wie den USA oder Kanada, aber auch aufsteigenden Schwellenländern wie Brasilien oder Indien – erhalten. Problematisch ist freilich, dass sich diese Industrieintensität selbst in Kerneuropa zunehmend auf einzelne Volkswirtschaften zu konzentrieren scheint. Der Anteil der Beschäftigten in der Industrie wie auch der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wirtschaftsleistung ist in den letzten 20 Jahren etwa in Deutschland oder auch Italien deutlich geringer geschrumpft als in Großbritannien oder Frankreich. Während der Industrieanteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung 2008 in Frankreich nur noch bei gut 14 Prozent lag, erreichte er in Deutschland über 25 Prozent. Seit dem Jahr 1995 hat sich der Abstand der Industrieanteile beider Länder nahezu verdoppelt. Fiel der Industrieanteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung in Italien im gleichen Zeitraum nur von 22 auf knapp 18 Prozent, sackte er in Großbritannien dramatisch von 21 auf gut 12 Prozent ab. Hatte der fast flächendeckende Übergang zur Industriegesellschaft und zur Fabrikarbeit in dem Vierteljahrhundert zwischen 1950 und der Mitte der 1970er Jahre zweifellos einen integrativen Effekt, so dürfte die Auseinanderentwicklung der industriellen Kapazitäten von Mitgliedsstaaten der EU, trotz vorherrschender Dienstleistungsgesellschaft, desintegrative Wirkungen auf eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik entfalten.

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Literatur Boch, Rudolf: Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814 – 1857. Göttingen 1991; Die erste Fabrik. Ratingen-Cromford. Hrsg. vom Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Industriemuseum. Schriften. Bd. 11. Köln 1996; Ditt, Karl/Pollard, Sidney (Hrsg.): Von der Heimarbeit in die Fabrik. Industrialisierung und Arbeiterschaft in Leinen- und Baumwollregionen Westeuropas während des 18. und 19. Jahrhunderts. Paderborn 1992; Feldkamp, Jörg/Lindner, Ralph (Hrsg.): Industriekultur in Sachsen. Neue Wege im 21. Jahrhundert. Chemnitz 2010; Gall, Lothar: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324 – 356; Gorißen, Stefan: Fabrik. In: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 3. Stuttgart/Weimar 2006, S. 740 – 747; Grömling, Michael/Lichtblau, Karl: Deutschland vor einem neuen Industriezeitalter? Forschungsberichte aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Köln 2006, S. 14 – 17; Kaelble, Hartmut: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880 – 1980. München 1987; ders.: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart. München 2007; Roeckner, Katja: Ausgestellte Arbeit. Industriemuseen und ihr Umgang mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel. Stuttgart 2009; Ure, Andrew: The Philosophy of Manufactures, or: An Exposition of the Scientific, Moral, and Commercial Economy of the Factory System in Great Britain. London 1835 (Neudruck London 1967); Wirtz, Rainer: Der Fortschritt und die Industriemuseen – oder: Ist die Geschichte von Industrie in Zukunft noch ausstellbar? In: Wohin führt der Weg der Technik – Zu historischen Museen? (Industriearchäologie, Bd. 2). Chemnitz 2002, S. 53 – 63.

Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit. Die Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg Bis in die frühen 1980er Jahre waren das wissenschaftliche wie öffentliche Interesse in der Bundesrepublik Deutschland am Thema Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ und auch der Kenntnisstand darüber äußerst gering. Nur in der DDR waren einige Darstellungen von wissenschaftlichem Wert entstanden, auf welche die historische Forschung später zumindest partiell aufbauen konnte. Heute kann die Geschichte des deutschen Zwangsarbeitereinsatzes während des Zweiten Weltkriegs dagegen als gut erforscht gelten. Es liegen mit den Werken von Ulrich Herbert und Mark Spoerer bedeutende Gesamtdarstellungen vor, die durch zahleiche Lokal- und Regionalstudien sowohl vorbereitet als auch ergänzt wurden.¹ Besondere öffentliche Aufmerksamkeit wurde jedoch den unternehmensgeschichtlichen Studien zur Zwangsarbeit zu Teil, die in begrenzter Zahl bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entstanden, aber durch die Debatte um Entschädigung von Zwangsarbeitern und die Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) seit den 1990er Jahren einen enormen Zuwachs erfuhren.²  Mark Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939 – 1945. Stuttgart/München 2001; immer noch unverzichtbar: Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländereinsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin 1985, Neuaufl. Bonn 1999. Zu den zahlreichen lokal- und regionalgeschichtlichen Studien vgl. die ausführlichen Forschungsberichte von Florian Lemmes: „Ausländereinsatz“ und Zwangsarbeit im Ersten und Zweiten Weltkrieg: neuere Forschungen und Aufsätze. In: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 395 – 444; Laura J. Hilton/John J. Delanay: Forced Foreign Labourers, POW’s and Jewish Slave Workers in the Third Reich. Regional Studies and New Directions. In: German History 23 (2005), S. 83 – 95; Ralph Klein: Neue Literatur zur Zwangsarbeit während der NS-Zeit. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 40 (2004), S. 56 – 90.  Beispiele zur Zwangsarbeiterforschung als wichtigem Teilaspekt der neueren Unternehmensgeschichtsschreibung bieten: Oliver Rathkolb (Hrsg.): NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der Reichswerke Herman Göring AG Berlin, 1938 – 1945, 2 Bde., Wien 2001; Bernhard Lorentz: Industrieelite und Wirtschaftspolitik 1928 – 1950. Heinrich Dräger und das Drägerwerk. Paderborn 2001, S. 245 ff., 317 ff.; Werner Abelshauser: Rüstungsschmiede der Nation? Der Krupp-Konzern im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit 1933 bis 1951. In: Lothar Gall (Hrsg.): Krupp im 20. Jahrhundert. Berlin 2002, S. 267– 472, 400 ff.; Raymond G. Stokes: Von der I. G. Farbenindustrie bis zur Neugründung der BASF (1925 – 1958). In: Werner Abelshauser (Hrsg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 221– 358, 311 ff.; Bernhard Lorentz/Paul Erker: Chemie und Politik. Die Geschichte der Chemischen Werke Hüls (CWH) 1938 – 1979. München 2003, S. 312 f; DOI 10.1515/9783110534672-012

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Bei diesen unternehmensgeschichtlichen Forschungen hatte die deutsche Automobilindustrie eine gewisse Vorreiterrolle. Hans Mommsen und Manfred Grieger in ihrer Studie über das Volkswagenwerk und Neil Gregor über DaimlerBenz in der NS-Zeit haben eindrucksvoll gezeigt, dass den Zwangsarbeitern und – als letzte Arbeitsressource – den KZ-Häftlingen im operativen wie strategischen Kalkül der Unternehmen eine zentrale Funktion zukam.³ Sie gewährleisteten die Aufrechterhaltung und Steigerung der Rüstungsproduktion sowie die Sicherung von zukünftigen Marktchancen oder gar ausgelagerten Maschinenparks über das Kriegsende hinweg. Der gesellschaftliche Druck in Folge der Zwangsarbeiterentschädigungs-Debatte der 1990er Jahre hat nicht nur die Archive namhafter deutscher Firmen geöffnet und damit dazu beigetragen, Ausmaß sowie Strukturen und Prozesse dieses in der Geschichte bespiellosen Vorgangs zu rekonstruieren. Im Verlauf der zahlreichen Forschungsarbeiten schälte sich vielmehr heraus, dass millionenfache Zwangsarbeit nicht nur ein Bestandteil, sondern das „Signum“ dieser Epoche deutscher Wirtschaftsgeschichte war. Ohne das Millionenheer zur Zwangsarbeit gepresster Frauen und Männer hätte die Mittelmacht Deutsches Reich niemals einen so langen Krieg gegen weit überlegene Gegner mit Zugriff auf die Masse der Ressourcen der Welt führen können. Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Es geht um 8,4 Millionen ausländische Zivilarbeiter, ca. 4,6 Millionen Kriegsgefangene sowie ca. 1,7 Millionen KZ-Häftlinge und „Arbeitsjuden“, die allein auf dem Gebiet des „Großdeutschen Reiches“ das „Menschenmaterial“ des „Arbeitseinsatzes“ bildeten.⁴ Die 2014 veröffentlichte Studie von Martin Kukowski und mir zu Kriegswirtschaft und „Arbeitseinsatz“ bei der Auto Union AG Chemnitz reiht sich in diese Forschungen zu den großen, für die motorisierte Kriegführung enorm wichtigen

Peter Hayes: Die Degussa im Dritten Reich.Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft. München 2004, S. 249 ff.; Hans-Liudger Dienel: Die Linde AG. Geschichte eines Technologie-Konzerns, 1879 – 2004. München 2004, S. 178 ff.; Manfred Overesch: Bosch in Hildesheim 1937– 1945. Göttingen 2008, S. 213 ff.; Hans-Christoph Seidel: Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen – Bergarbeiter – Zwangsarbeiter. Essen 2010, S. 165 ff.; Guter Überblick: Oliver Rathkolb: Zwangsarbeit in der Industrie. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/2, hrsg. von Jörg Echternkamp, München 2005, S. 667– 728; Unlängst auch: Andreas Heusler/Mark Spoerer/Helmuth Trischler (Hrsg.): Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“. München 2010. Die Herausgeber vermerken in ihrer Einführung eine immer noch mangelnde Erforschung der Zwangsarbeit in der Elektroindustrie. „AEG existiert nicht mehr und Siemens verfolgt eine sehr eigenwillige Geschichtspolitik“, ebenda, S. 2.  Hans Mommsen/Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich 1933 – 1948. Düsseldorf 1996; Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich. Berlin 1997.  Zahlenangaben nach Spoerer: Zwangsarbeit (wie Anm. 1), S. 223.

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Automobilfirmen im Deutschen Reich ein.⁵ Diese Studie bildet in gewisser Weise auch den Abschluß, so dass den Autoren ein vergleichender Blick auf die Branchenkonkurrenz Daimler-Benz, BMW, Volkswagen, Opel und mit Abstrichen den Adler-Werken in Frankfurt und Borgward in Bremen möglich war.⁶ Die Grundlage für unsere Untersuchung bildete das Auto-Union-Unternehmensarchiv, das infolge der Sozialisierung des Unternehmens nach 1945 heute im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz aufbewahrt wird. Auf Initiative der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der TU Chemnitz wurde vor geraumer Zeit ein gemeinsames Erschließungsprojekt mit dem Referat Archivwesen im Sächsischen Staatsministerium des Innern durchgeführt, das die computergestützte Erstellung von Findbüchern zu diesen Beständen ermöglichte und die Forschungsarbeit wesentlich erleichterte. Finanziell gefördert wurde dieses Vorhaben durch die AUDI AG/Ingolstadt.⁷

 Martin Kukowski/Rudolf Boch: Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 2014. So weit nicht anders vermerkt, beruht der vorliegende Beitrag auf dieser Studie und faßt deren wichtigste Ergebnisse zusammen.  Zu Opel und Ford vgl. Anita Kugler: Flugzeuge für den Führer. Deutsche Gefolgschaftsmitglieder und ausländische Zwangsarbeiter im Opelwerk in Rüsselsheim 1940 bis 1945. In: Bernd Heyl/ Andrea Neugebauer (Hrsg.): „… ohne Rücksicht auf die Verhältnisse.“ Opel zwischen Weltwirtschaftskrise und Wiederaufbau. Frankfurt am Main 1997, S. 69 – 92; dies.: Das Opel-Management während des Zweiten Weltkrieges. Die Behandlung „feindlichen Vermögens“ und die „Selbstverantwortung“ der Rüstungsindustrie. In: ebenda, S. 35 – 68; Gerhard Kümmel: Transnationale Wirtschaftskooperation und der Nationalstaat. Deutsch-amerikanische Unternehmensbeziehungen in den dreißiger Jahren. Stuttgart 1995 (zu Opel/GM und Ford, S. 103 – 140); Henry Ashby Turner: General Motors und die Nazis. Das Ringen um Opel. Berlin 2006; Reinhold Billstein/Karola Fings/Anita Kugler/Nicholas Levis: Working for the enemy. Ford, General Motors and Forced Labor in Germany during the Second World War. New York/Oxford 2000; Günter Neliba: Die Opel-Werke im Konzern von General-Motors (1929 – 1948) in Rüsselsheim und Brandenburg. Produktion für Aufrüstung und Krieg ab 1935 unter nationalsozialistischer Herrschaft. Frankfurt am Main 2000; zu BMW vgl. Constanze Werner: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW. München 2006; zu Adler vgl. Ernst Kaiser/Michael Knorn: „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten.“ Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit und Vernichtung in den Frankfurter Adlerwerken. 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York 1998; dies.: Die Adler-Werke und ihr KZ-Außenlager – Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit in einem Frankfurter Traditionsbetrieb. In: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 3 (1992), S. 11– 42; zu Borgward und Hanomag vgl. Dieter Pfliegensdörfer: Wehrwirtschaftsführer Carl F. W. Borgward lässt rüsten. An allen Fronten. In: Ulrich Kubisch: Borgward. Ein Blick zurück auf Wirtschaftswunder, Werksalltag und einen Automythos. Berlin 1984, S. 26 – 35; mit einer Reihe von Informationen zur Kriegsproduktion der Hanomag-Werke in Hannover Horst-Dieter Görg (Hrsg.): Pulsschlag eines Werkes. 160 Jahre Hanomag. Soltau 1998.  Rudolf Boch: Der Bestand Auto Union AG Chemnitz und seine Bedeutung für die historische Forschung. In: Für Bürger, Staat und Forschung. 10 Jahre Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, hrsg.

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Die „Auto Union Aktiengesellschaft Chemnitz“ selber war eigentlich ein von der landeseigenen Sächsischen Staatsbank auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1931/32 initiiertes Rettungsprojekt für die existenzbedrohten „Reste“ der vormals sehr zahlreichen sächsischen Automobilhersteller. Mit Millionenkrediten des von der Sächsischen Staatsbank angeführten und vom Freistaat Sachsen mit Landesbürgschaften bedachten Bankenkonsortiums wurden die noch verbliebenen zukunftsträchtigen Teile des sächsischen Automobilbaus entschuldet und zu einem neuen Großunternehmen der deutschen Autobranche vereinigt. Bald nach der Gründung der Auto Union aus den Firmen DKW, Audi, Horch und der Automobilabteilung der Wanderer-Werke zog bekanntlich über Deutschland das „Dritte Reich“ herauf. Das an die Macht gelangte NS-Regime begünstigte die Automobilwirtschaft, lockerte Steuerrestriktionen, subventionierte den werbeträchtigen Motorsport und gab als Leitbild für die Zukunft Deutschlands eine „Volksmotorisierung“ nach dem Vorbild der USA aus. Im Sog des einsetzenden Konjunkturaufschwungs und dank des ebenso breit gefächerten wie marktgerechten Typenprogramms konsolidierte sich die Auto Union rasch. Der sächsische Auto-Konzern etablierte sich als nach Opel zweitgrößter deutscher Automobilhersteller und wurde zur mit Abstand größten Firma in Sachsen. Zum Aufschwung der Auto Union trug unzweifelhaft auch die Aufrüstung Deutschlands nach der „NS-Machtergreifung“ bei. Seit 1934 baute die Auto Union in ihren Werken Siegmar und Horch am Standort Zwickau in eigens eingerichteten Abteilungen Wehrmachtskraftfahrzeuge. Ihr Zschopauer DKW-Werk steuerte zum Rüstungsgeschäft noch Motorräder und Einbaumotoren bei. Der Rüstungsanteil am Jahresumsatz belief sich bis zum Zweiten Weltkrieg dennoch zumeist auf deutlich unter zwanzig Prozent. Die Aufrüstung war ein erkleckliches „Zubrot“ zum Zivilfahrzeuggeschäft – aber eben auch nicht mehr. Da die Auto Union in wichtigen Bereichen der Aufrüstung keine oder nur geringe Aktivität entwickelte, nahmen sich ihre Rüstungsumsätze – im Konkurrenzvergleich etwa zu DaimlerBenz oder BMW – doch eher bescheiden aus. Bei der „Luftrüstung“ zeigte die Auto Union jedoch größeres Interesse und baute mit Anschubfinanzierung durch das Reichsluftfahrtministerium in Taucha bei Leipzig eine Flugmotorenfabrik (MMW)

vom Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, Chemnitz 1998, S. 48 – 56; Martin Kukowski: Auto Union AG – Grundzüge ihrer Unternehmensgeschichte sowie wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschungspotentiale ihrer Überlieferung im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz. In: Rudolf Boch (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Stuttgart 2001, S. 109 – 132; ders. (Bearb.): Findbuch zum Bestand der Auto Union AG im Staatsarchiv Chemnitz. 2 Bde., Halle 2000.

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für die Belieferung der nahen Junkers-Werke auf.⁸ Die anstehende Privatisierung durch Ablösung des millionenschweren Staatsanteils an den Mitteldeutschen Motorenwerken (MMW) zögerte die Auto Union aber bis weit über den Beginn des Zweiten Weltkrieges hinaus. Bis dahin zog sie als Zehn-Prozent-Minderheitspartner der „Bank der deutschen Luftfahrt“ aus dem Taucha-Projekt wenig Nutzen, hatte im Gegenteil die personellen und organisatorischen Lasten des Werkaufbaus zu tragen. Die Gelegenheit zum Einstieg in den Nutzfahrzeugbau schließlich, eine weitere Säule der NS-Kriegsrüstung, ließ die Auto Union 1936/37 verstreichen. Der Kriegsausbruch im Spätsommer 1939 kam der Auto Union ungelegen. Sie befand sich inmitten eines Umstrukturierungsprozesses, mit dem das Unternehmen auf den anstehenden Markteintritt des vom NS-Regime massiv bevorteilten „KdF“- bzw. „Volkswagen“ zu reagieren trachtete. In den beiden ersten Kriegsjahren verzeichnete die Auto Union AG empfindliche Umsatzeinbußen und verlor überdies durch Rekrutierungsaktionen der Wehrmacht und Dienstverpflichtungen zu wichtigeren Rüstungsbetrieben rund ein Viertel ihrer Belegschaft, insonders kaum ersetzbare Fachkräfte. In der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende zeigte sich die Auto Union anfänglich nicht um jeden Preis um Kriegsaufträge bemüht. Sie versuchte eine umfassendere Umstellung ihrer Werke auf die Kriegsproduktion im Gegenteil erst einmal zu vermeiden. Man betrieb obligatorische Projekte wie die Einrichtung frontnaher Kundendienstwerkstätten für die Wehrmacht, investierte aber doch vor allem in potenzielle „Engpaßteile-Lieferanten“ für das Nachkriegsprogramm, freilich auch in Verkaufs- und Kundendienstniederlassungen wie die Filialen Straßburg und Krakau in den eroberten West- und Ostgebieten. Ab dem Spätfrühjahr 1940 wandte sich die Auto Union „umständehalber“ mehr der Kriegsrüstung zu und „mobilisierte“ unter weitgehender Einstellung des Zivilfahrzeugbaus die eigenen Werke. Ende 1940 übernahm sie in einem finanziellen Kraftakt den Flugmotorenbauer MMW, wodurch sich ihre Rüstungsumsätze nahezu verdoppelten. Einschließlich ihrer beiden Tochterfirmen DKK (Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen GmbH/ Scharfenstein) und MMW erzielte sie 1941 dann schon 70 Prozent ihres Umsatzes im Rüstungsgeschäft. Die nachgeordnete Priorität der Kriegsrüstung bei der Auto Union in der Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges ist auch insofern bemerkenswert, als es sich bei ihr nicht um ein herkömmliches Unternehmen der Privatwirtschaft handelte, sondern de facto um ein privatwirtschaftlich geführtes Staatsunter-

 Vgl. Peter Kohl/Peter Bessel: Auto Union und Junkers. Die Geschichte der Mitteldeutschen Motorenwerke GmbH Taucha 1935 – 1948. Stuttgart 2003.

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nehmen. Die Sächsische Staatsbank hielt immerhin knapp achtzig, später sogar über neunzig Prozent der Gesellschaftsanteile. In den ersten Jahren nach der „NSMachtergreifung“ und der politischen „Säuberung“ der Sächsischen Staatsbank regierte die Sächsische Staatsregierung in Person des „Reichsstatthalters“ und Gauleiters in Sachsen, Martin Mutschmann, und seines Staatsministers für Wirtschaft und Arbeit, Georg Lenk, denn auch recht unverhohlen in die Belange des Unternehmens hinein. Der Einfluss des Freistaats bildete sich nach Bereinigung von Leitungskonflikten in der Auto Union deutlich zurück.⁹ Von Seiten der Mutschmann-Regierung wurde der Auto Union jedenfalls kein stärkeres Rüstungsengagement aufgenötigt. Solange sie glaubhaft ihre grundsätzliche Verbundenheit mit der Partei und den Interessen der deutschen Kriegswirtschaft bekundete, hatte ihre Führung in Strategie- und Sachfragen freie Hand. Man gestattete der Auto Union über den Kriegsausbruch hinaus, den Fokus auf den Zivilfahrzeugbau und die Absicherung ihrer Marktstellung in einem von Deutschland dominierten Nachkriegseuropa zu legen. Wie an den Beispielen der aus der Rüstungsbürokratie verordneten Nachbauten des Steyr-LKW statt der Eigenentwicklung „Auto Union 1500“ und des Maybach-Panzer-Motors „HL-42“ deutlich wird, verlagerten sich allerdings beim Fertigungsprogramm seit 1940 die Entscheidungsspielräume des Managements zunehmend zu den vorgesetzten Kriegswirtschaftsinstanzen. Die Spielräume des Managements reduzierten sich im Prinzip auf die Frage, ob man der Luftwaffe, dem Heer oder der Marine zuarbeiten wollte, ansonsten nur auf die Ausgestaltung der Rüstungsprogramme. Es gelang dem Auto-Union-Management dabei immerhin, mögliche Verpflichtungen und Bindungen gegenüber anderen Firmen aus Nachbauprogrammen für die Nachkriegszeit abzuwehren. Die anhaltenden Lieferrückstände – bei von der Rüstungsbürokratie höher geschraubten Sollzahlen – waren stets sachlicher Natur und konnten mit übergeordnet zu verantwortenden Faktoren – Materialengpässen, Mangel an Maschinen und Arbeitskräften – begründet werden. Sie führten deshalb in keinem Fall zu persönlichen Konsequenzen bei Meistern, Werksleitern oder Konzernlenkern. Trotz heftiger Konflikte konnten ganz erhebliche Produktionssteigerungen erzielt werden – mit fachlich minderqualifiziertem Personal durch verschärfte Arbeitsbedingungen und Rationalisierungen. Freiräume eröffneten sich bei diesen  Zu den Leitungskonflikten vgl. Eva Pietsch: Kommunikationsproblem oder Kommunikationsstrategie? Zum Führungsstreit in der Auto Union AG Chemnitz 1931– 1938. In: Rudolf Boch, u. a. (Hrsg.): Unternehmensgeschichte heute: Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends. Leipzig 2005, S. 187– 205; Immo Sievers: Jorgen Skafte Rasmussen: Leben und Werk des DKW-Gründers. Bielefeld 2006.

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Auftragsfertigungen allerdings bei den Bedarfskalkulationen. Man zielte möglichst auf eine maschinelle Mehrausstattung ab – schließlich waren Maschinen angesichts der erwartbaren Zerrüttung der Reichsmark eine Sachwährung von bleibendem Wert. In Verlauf des Krieges wurden die Handlungsspielräume aller Unternehmen im Deutschen Reich deutlich geringer, da staatliche Interessen bei betrieblichen Entscheidungen stärker als im Frieden zu gewichten waren, aber Zwangsmaßnahmen spielten zumindest in der rüstungsrelevanten Industrie eine untergeordnete Rolle, da der Staat weiterhin über genügend ökonomische Anreize gebot und ohnehin Zwang kontraproduktiv für die vom Regime verfolgten Ziele sein konnte. Wichtige Entscheidungen wurden daher nicht befohlen, sondern ausgehandelt, und stets beachtete der Staat betriebswirtschaftliche Argumente und akzeptierte das kapitalistische Gewinnmotiv.¹⁰ Damit verblieben den Unternehmen auch im Krieg nicht unerhebliche Handlungsspielräume, die sie nutzen konnten. Die v. a. in der älteren historischen Forschung der Bundesrepublik vertretene These von der nationalsozialistischen „Zwangswirtschaft“, die Unternehmer letztlich zu „entrechteten“, nicht verantwortlich zu machenden „Befehlsempfängern“ degradierte, gilt heute deshalb weithin als widerlegt.¹¹ Für den erstaunlich raschen Ausbau der Auto Union zu einem veritablen Rüstungskonzern ließen die Kriegswirtschaftsinstanzen im deutlichen Unterschied zu den Fertigungsprogrammen der Auto Union „freie Hand“. Wehrmacht und NS-Staat traten hier meist nur in Erscheinung, wenn sie von der Auto Union selbst als Verhandlungspartner oder auch Vermittler direkt eingeschaltet wurden. Das Ziel des Managements bei der Unternehmensexpansion war die eigeninitiierte Sicherung von weiteren Rüstungsaufträgen und zukünftigen Marktchancen.

 Vgl. Heusler/Spoerer/Trischler: Eine Einführung (wie Anm. 2), S. 2 f; Jonas Scherner: Das Verhältnis zwischen NS-Regime und Industrieunternehmen – Zwang oder Kooperation? In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51 (2006), S. 166 – 190; Christoph Buchheim/Jonas Scherner: The Role of Private Property in the Nazi Economy. The Case of Industry. In: The Journal of Economic History 66 (2006), S. 390 – 416.  Vgl. Lemmes: „Ausländereinsatz“ (wie Anm. 1), S. 407. Siehe auch die in einzelnen Fragen durchaus differierenden Bilanzierungen des Forschungsstandes zum Verhältnis von Staat und Unternehmen bei Christoph Buchheim: Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933 – 1945. Versuch einer Synthese. In: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 351– 390; Werner Plumpe: Unternehmen im Nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz. In: Werner Abelshauser/Jan-Ottmar Hesse/Werner Plumpe (Hrsg.): Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neuere Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Festschrift für Dietmar Petzina zum 65. Geburtstag. Essen 2003, S. 243 – 266. Unlängst auch: Norbert Frei/Tim Schanetzky (Hrsg.): Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur. Göttingen 2010.

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Auch das Bemühen der Auto Union um die Einbindung ausländischer Betriebe in ihre Fertigungsprogramme v. a. in Frankreich und Belgien erfolgte nicht auf Aufforderung staatlicher Stellen hin, sondern eigeninitiativ – und nicht zuletzt in der Absicht, bei der Erschließung eines eroberten großdeutsch-europäischen Marktes mit den einschlägigen Konkurrenzfirmen mithalten zu können. Die grundlegenden Verhaltensmuster waren dabei völlig einseitige Vorteilsorientierung und strikte Kontrollausübung. So folgte man der Maxime deutscher Besatzungspolitik in Westeuropa bewusst oder unbewusst im Kleinen. Die Eingliederung des Flugmotoren-Großwerkes MMW in den Konzern markierte dann den rasanten Aufstieg der Auto Union in eine höhere Liga der deutschen Rüstungsproduzenten. Im Mai 1941 – die Auto Union war unlängst in die Wirtschaftsgruppe Luftfahrt aufgenommen worden – berief Hermann Göring die Vorstände Dr. Richard Bruhn (1886 – 1964) und Dr. h. c. William Werner (1893 – 1975) in seinen neu gegründeten Industrierat, der die Luftrüstung reorganisieren sollte. Nun recht nahe am Zentrum der Macht des Rüstungsapparats, erwies sich die Etablierung des „Speer-Systems“ seit 1942, die sogenannte Selbstorganisation der Wirtschaft, weniger als Handlungsspielräume weiter einschränkender Nachteil – wie für zahlreiche kleinere Firmen – sondern vielmehr als große Chance für den Bedeutungsgewinn und die weitere Expansion des Auto-Union-Konzerns. Rüstungsminister Albert Speer zeigte sich von diversen Ausführungen Werners über die Großserien-Planung bzw. Fließstreckenfertigung bei Luftwaffengerät derart angetan, dass er sie als Denkanstoß für eine Neuordnung der deutschen Panzerproduktion an der Jahreswende 1942/43 sah. Auch im Panzerbereich sollte die Großserien-Planung und Fließbandfertigung Einzug halten. Speer forderte die Produktion des schweren Maybach-Panzermotors HL-230 für die Tiger- und Panther-Panzer in monatlicher Kammlinie von je tausend Stück bei Maybach und der Auto Union sowie von vierhundert Stück bei Nordbau in Berlin. Ende April 1943 erfolgte die endgültige Bestätigung des großen Panzermotoren-Auftrags durch Speer, im Winter 1943/44 begann die Fertigung im Werk Siegmar. Die Auto Union genoss nun die Vorzüge höchster Dringlichkeitseinstufung wie bevorrechteter Maschinen- und Arbeitskräftezuteilung, zumal sie nach der Ausbombung Maybachs in Friedrichshafen am Bodensee die Führungsrolle im PanzermotorenProgramm übernahm. Kaum hatte Speer den Großauftrag erteilt, forderte die Auto Union nachträglich die Verankerung einer „Kriegsrisikoklausel“ bzw. erhöhte Auftragsvergütung, da das Werk Siegmar durch die Übernahme der Panzermotoren-Fertigung mit Sonder- und Einzweckmaschinen für die Nachkriegszeit seine Elastizität verliere. Bei aller Beschwörung patriotischer Pflichterfüllung verlor man mithin die Sicherung des Gewinns nicht aus den Augen. Das Motorenprogramm für die Panther- und Tiger-Panzer beschäftigte, anders als die bisherigen Rüstungsprogramme in den Werken der Auto Union, permanent

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höchste Stellen der deutschen Kriegsrüstung. Die spätere Untertageverlagerung nach Leitmeritz erfolgte auf „Führerbefehl“, ihre Realisierung in Regie Speers über den SS-Baustab Kammler bzw. den Reichsführer-SS. Denn der nur wenige Monate anhaltende Höhenflug der Panzermotorenfertigung in Siegmar wurde durch die Bombardierung des Werkes am 11. September 1944 abrupt gestoppt. Bei allen Zweifeln an der Eignung der Kalkwerkstollen im böhmischen Leitmeritz und Sorgen um die hier einzubringenden wertvollen Maschinenbestände setzte man im Panzermotorenbau nun ganz auf die Untertageverlagerung – mit der Folge, dass sich der „Arbeitseinsatz“ bis zum Äußersten radikalisierte und das Unternehmen nach eher zögerlichen Anfängen immer mehr auf die schiefe Bahn in den Abgrund nationalsozialistischer Verbrechen geriet. Dabei ist hinsichtlich der verbliebenen Handlungsspielräume der Rüstungsbetriebe aufschlußreich, dass sich die Auto Union erst nach langwierigen Verhandlungen dazu bequemte, sich auf einen Kompromissvorschlag des Rüstungsministeriums einzulassen, der ihren Beitrag für die gesamten Erschließungskosten in Leitmeritz auf den sehr geringen Höchstbetrag von 100.000 Mark begrenzte. Von besonderer Bedeutung für die kriegswirtschaftliche Entwicklung der Auto Union war die Entwicklung ihrer Belegschaft. Durch Einberufungen zur Wehrmacht und Dienstverpflichtung zu kriegswichtigeren Betrieben büßte die Auto Union in den beiden ersten Kriegsjahren, wie bereits erwähnt, rund ein Viertel ihrer Arbeitskräfte ein. Dieser zahlenmäßige Verlust, der mit der Ausdünnung des tragenden Facharbeiterstamms einherging, konnte durch Rationalisierung, Dienstverpflichtung von Textilarbeitern und Propagierung zuvor verfemter Frauenarbeit nicht wirklich kompensiert werden. Für die nach und nach zum Anlauf anstehenden Rüstungsprogramme fehlten der Auto Union zunehmend die Arbeitskräfte, insbesondere die Fachkräfte. Deshalb griff auch die Auto Union ab Sommer 1942 massiv auf eine durch das NS-Regimes neu eröffnete Quelle für die Rekrutierung von Arbeitskräften zurück: den Einsatz ausländischer Zivil- und Zwangsarbeiter. Von März 1942 bis September 1944 nahm die Belegschaft um insgesamt mehr als vierzig Prozent zu. Nachdem die Verluste der ersten beiden Kriegsjahre ausgeglichen waren, kletterte sie im März 1943 konzernweit über die Marke von 40.000 Beschäftigten und reichte Ende 1944 schon an die 50.000 heran. Sieht man einmal von der Flugmotorenherstellung bei MMW ab, erfolgte der Einsatz ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter im Auto-Union-Konzern im Branchenvergleich spät. Im Laufe des Jahres 1942 glich sich die Entwicklung zumindest des Zivil- und Zwangsarbeitereinsatzes aber zunehmend an die Branchenkonkurrenten an. Ab der zweiten Jahreshälfte 1942 rekrutierte das Unternehmen mehr ausländische als inländische Arbeitskräfte. Im ersten Quartal 1943 erreichte der Anteil ausländischer Arbeitskräfte konzernweit gut 31 Prozent,

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erhöhte sich dann aber bis Juni 1944 nur noch geringfügig auf knapp 35 Prozent. Die Nationalitätengliederung der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter zeigt, dass sie in ihrer überwiegenden Mehrheit einschneidenden Einschränkungen ihrer Freizügigkeit und Lebensgestaltung unterworfen waren, d. h. mehrheitlich als Zwangsarbeiter zu betrachten sind.¹² Auch die größte Gruppe der ausländischen Beschäftigten, die aus Westeuropa und vornehmlich Frankreich stammte, verfügte – wie nicht zuletzt die behördlich zwangsverordnete Überstellung von rund 2.000 Citroen-Facharbeitern aus Paris zur Auto Union nach Chemnitz verdeutlicht – über eine bereits recht eingeschränkte Freizügigkeit und einen sehr begrenzten Einfluss auf die eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Als Gruppe waren sie – anders als die bald an Zahl zunehmenden Polen und „Ostarbeiter“ sowie ab Winter 1943/44 die sogenannten „italienischen Militärinternierten“ – freilich nicht unmittelbarer rassistischer Diskriminierung, Verfolgung und Gewaltandrohung ausgesetzt.¹³ Gewalt wurde insbesondere den Ostarbeitern und russischen Kriegsgefangenen nicht nur angedroht, sondern war im Alltag durchaus verbreitet. Sie erreichte in den Werken des Konzerns eine unterschiedliche Intensität und hing in ihren Ausmaßen von den jeweiligen Personenkonstellationen ab. Die Unternehmensleitung missbilligte Gewaltexzesse aus ökonomischen Gründen, wich einer Konfrontation mit NS-Aktivisten im eigenen Konzern aber in aller Regel aus und deckte deren Untaten. Selbst Mord- und Totschlagshandlungen fanatisierter Werkschutzangehöriger blieben so ungesühnt. Die freiwillige und zwangsweise Rekrutierung von Arbeitskräften im Inland und den vom Deutschen Reich beherrschten Gebieten Europas vermochte mit den Anforderungen der Auto Union im Kriegsjahr 1944 längst nicht mehr Schritt zu halten. Der Rückgriff auf das in den Konzentrationslagern vorhandene „Menschenpotenzial“ erlaubte es ihr nun abermals, wie bereits der forcierte Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter zwei Jahre zuvor, die drohende Kapazitätsgrenze zu transzendieren. Sie wurde dadurch in die Lage versetzt, im besten Einvernehmen mit dem NS-Regime und den Kriegswirtschaftsorganen, den eingeschlagenen Kurs unbedingter betrieblicher Expansion in Verfolgung ehrgeiziger Rüstungsprogramme fortzusetzen und – aus humanitärer Sicht – mit dem Masseneinsatz

 Unsere Studie zur Auto Union folgt dem weithin akzeptierten Definitionsvorschlag von Zwangsarbeit und der Kategorisierung von Zwangsarbeitern im Standardwerk von Spoerer: Zwangsarbeit (wie Anm. 1), S. 16 f.  Nach der Kapitulation Italiens im September 1943 in deutsche Gefangenschaft geratene italienische Soldaten wurden unter Mißachtung der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention zu fast rechtlosen „Militärinternierten“ degradiert und in großer Zahl auch in Rüstungsbetrieben eingesetzt.

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entrechteter „Sklavenarbeiter“ auf die Spitze zu treiben. Ein direkter Zwang für den Rückgriff auf KZ-Häftlinge bestand für die Auto Union und vergleichbare Unternehmen nach heutigem Forschungsstand nicht. Die Firma Opel verzichtete ohne erkennbare Konsequenzen auf den Einsatz von KZ-Häftlingen.¹⁴ Gern gesehen war der Einsatz der KZ-Häftlinge von Seiten der Rüstungsbehörden jedoch allemal. Nach vergleichsweise fragmentarischer Quellenlage kann davon ausgegangen werden, dass die interne Initiative zum Produktionseinsatz von KZ-Häftlingen durch den Konzernvorstand der Auto Union erfolgte. Offenbar wurde mit der Reichsführung-SS eine Art Rahmenvereinbarung getroffen. In der Forschung geht man heute überwiegend davon aus, dass Zwangsarbeiter, aber auch KZ-Häftlinge nicht (oder nur unwesentlich) billiger oder im Durchschnitt gar produktiver waren als deutsche Arbeitskräfte, mithin kein „Extraprofit“ von den Unternehmen erzielt werden konnte. Einem „Extraprofit“ standen allein schon die hohen fiskalischen Abschöpfungen des Reichsfinanzministeriums entgegen. Doch weisen gerade die neueren Studien und auch die Studie zur Auto Union mit Nachdruck darauf hin, dass Zwangsarbeit in allen ihren Formen das entscheidende Mittel zur betrieblichen Expansion war und zugleich Chancen zu Fertigungsrationalisierung eröffnete. Nur durch den immer größer werdenden Umfang der Zwangsarbeit war in der heißlaufenden Rüstungskonjunktur eine „Gewinnmitnahme“ in großem Stil möglich, die sonst nicht hätte realisiert werden können. Also war der Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen, zivilen Zwangsarbeitern und schließlich KZ-Häftlingen auf jeden Fall profitabel, weitgehend unabhängig von Lohnniveau, geringerer Produktivität oder fiskalischen Abschöpfungen des Staates.¹⁵ Die Ausgestaltung des Häftlingseinsatzes überließ die Konzernspitze der Auto Union den einzelnen Werken selbst. Diese klärten mit der SS die Details der Unterbringung und Bewachung. Die Bewachung erfolgte in der Regel durch kleinere SS-Wachmannschaften und für die weiblichen KZ-Häftlinge zusätzlich

 Vgl. Billstein/Fings/Kugler/Levis: Working for the enemy (wie Anm. 6), S. 12, 63, 260. Ob das Verhalten der Unternehmensleitung von Opel in ethischen Motiven begründet lag, geht aus der Aktenüberlieferung nicht hervor. Im Gegensatz zu Opel verfügten die Ford-Werke in Köln über ein Arbeitskommando von Häftlingen mit Facharbeiterausbildung aus dem KZ Buchenwald – ein Hinweis darauf, dass es nicht unbedingt die Eigentumsverhältnisse bei Opel als früherer Konzernteil von General Motors in Detroit waren, die für die Entscheidung, keine KZ-Häftlinge anzufordern den Ausschlag gaben (zu Ford ebd., S. 155 f.).  Vgl. Cornelia Rauh-Kühne: Hitlers Helfer? Unternehmensprofite und Zwangsarbeiterlöhne. In: Historische Zeitschrift 175 (2002), S. 2– 55; Mark Spoerer: Profitierten Unternehmen von der KZArbeit? Eine kritische Analyse der Literatur. In: Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 61– 95; resümierend Manfred Grieger: Industrie und NS-Zwangsarbeitersystem. Eine Zwischenbilanz. In: Dittmar Dahlmann u. a. (Hrsg.): Zwangsarbeiterforschung in Deutschland. Essen 2010, S. 87– 97.

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durch dienstverpflichtete Frauen aus den Belegschaften der Auto-Union-Werke bzw. der Auslagerungsbetriebe, die in „Kurzlehrgängen“ durch die SS zumeist im Konzentrationslager Ravensbrück entsprechend ausgebildet wurden. Die Arbeits- und Lebenssituation der KZ-Häftlinge war in den verschiedenen Werken bzw. Werkteilen des Konzerns auf dem Gebiet des Landes Sachsen durchaus unterschiedlich. Gemeinsam war diesen Standorten jedoch die vielfach nachgewiesene,völlig unzureichende Ernährung der KZ-Häftlinge, die sich seit der Jahreswende 1944/45 offenbar noch einmal drastisch verschlechterte. Für die Versorgung mit Lebensmitteln und den Unterhalt der Kantinen waren die jeweiligen Werke zuständig. Doch liegen kaum aussagekräftige Quellen im Aktenbestand der Auto Union zu diesem prägenden Aspekt des KZ-Häftlingseinsatzes vor. Anders als in den übrigen KZ-Außenlagern bei der Auto Union in Sachsen kam es im Außenlager beim Horch-Werk in Zwickau zu gezielten Tötungshandlungen durch das SS-Wachpersonal. Zudem war dieses Außenlager durch eine hohe Fluktuation mit ständigen Rücküberstellungen wegen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit in das bayerische Stammlager Flossenbürg sowie durch eine vergleichsweise hohe Sterberate der Häftlinge gekennzeichnet.¹⁶ Dort wie auch in den Außenlagern bei der Agricola GmbH in Oederan und der DKK in Wilischthal waren Essens- und Kleidungsentzug, Schläge und sonstige Schikanen feste Bestandteile des Alltags der Häftlinge.¹⁷

 Vgl. die veröffentlichte Masterarbeit von Franziska Hockert: Zwangsarbeit bei der Auto Union: Eine Fallstudie der Werke Audi und Horch in Zwickau. Hamburg 2012.  Hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der KZ-Häftlinge in einigen Zweigwerken der Auto Union in Sachsen kann auf die umfangreichen und bereits quellenkritisch aufbereiteten Zeitzeugenberichte zurückgegriffen werden, die der Historiker Pascal Cziborra zusammengetragen hat; vgl. Pascal Cziborra: KZ Zschopau. Sprung in die Freiheit. Bielefeld 2007; ders.: KZ Oederan. Verlorene Jugend. Bielefeld 2008; ders.: KZ Wilischthal. Unter Hitleraugens Aufsicht. Bielefeld 2007; ders.: Frauen im KZ. Möglichkeiten und Grenzen der historischen Forschung am Beispiel des KZ Flossenbürg und seiner Außenlager. Bielefeld 2010. Ergänzt wird die Quellenlage noch durch die Überlieferung des KZ Flossenbürg, welches die Masse der bei der Auto Union eingesetzten Häftlinge stellte. Vgl. auch Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.): Flossenbürg. Das Konzentrationslager Flossenbürg und seine Außenlager. München 2007, S. 141 ff., 169 ff., 216 ff., 253 ff., 264 ff., 276 ff., 279 ff.; Hans Brenner: Der „Arbeitseinsatz“ der KZ-Häftlinge in den Außenlagern des Konzentrationslagers Flossenbürg – ein Überblick. In: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hrsg.): Die Nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. 2 Bde., Göttingen 1998, S. 682– 706; Ulrich Fritz: Von der Moral der Effizienz zur Effizienz der Moral – der Einsatz von KZ-Häftlingen in sächsischen Unternehmen und seine Aufarbeitung. In: Veronique Töpel/Eva Pietsch (Hrsg.): Mehrwert, Märkte, Moral. Interessenkollision, Handlungsmaximen und Handlungsoptionen in Unternehmen und Unternehmertum der modernen Welt (Sachsen und Europa). Leipzig 2012, S. 33 – 53.

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Das größte Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg im böhmischen Leitmeritz hatte nicht nur eine ganz andere Dimension als die Außenlager bei der Auto Union in Sachsen, sondern wies auch wesentliche Unterschiede in Zielsetzung, Organisation und Lageralltag auf. Das Lager diente vor allem zur Unterbringung der „Bau-Häftlinge“, die in unmittelbarer Unterstellung unter den SSFührungsstab B5 unter unsäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen zum Ausbau der maroden Leitmeritzer Kalkwerkstollen in eine schlüsselfertige unterirdische Panzermotorenfabrik für die Auto Union eingesetzt wurden. Eine Zurechnung dieser KZ-„Bau-Häftlinge“ in den unmittelbaren personellen Verantwortungsbereich der Auto Union wird den Verhältnissen nicht gerecht. Die Auto Union trug für die „Bau-Häftlinge“ weder Personalverantwortung noch hatte sie gegenüber der SS und den eingebundenen Bauunternehmen irgendeine Weisungsbefugnis. Eine direkte, justiziable Personalverantwortung kam ihr lediglich beim „Kommando Elsabe“ zu, mithin für die ab Ende 1944 in der anlaufenden Produktion eingesetzten und auf Betreiben der Auto Union zunehmend von den „Bau-Häftlingen“ separierten etwa 800 „Produktions-Häftlinge“.¹⁸ Die Auto Union ließ sich dessen ungeachtet aus kriegswirtschaftlichen Interessen heraus in einem skandalösen Maße in den KZ-Komplex einbinden. Ihre moralische Mitverantwortung für die Zustände in Leitmeritz – dort wurden 1944/45 insgesamt rund 18.000 KZ-Häftlinge eingesetzt, von denen wohl 4.500 den Tod fanden – steht außer Frage. Angesichts ernüchternder Produktionsergebnisse rückte die Auto Union im Winter 1944/45 allerdings von Leitmeritz ab. Sie bemühte sich in gewissen Rahmen um Separierung und Besserstellung ihrer KZ-„Produktions-Häftlinge“ und stoppte

 Das Außenlager Leitmeritz mit seiner hohen Zahl von Todesfällen – es war in den letzten Kriegsmonaten auch das Ziel von sog. Todesmärschen aus anderen KZ-Lagern – hat schon vergleichsweise früh die Aufmerksamkeit von Historikerinnen und Historikern aus der Tschechoslowakei erfahren. Deren Forschungsergebnisse wurden mit einiger zeitlicher Verzögerung teilweise auch auf Deutsch veröffentlicht. Sie enthalten wichtige Informationen, doch wird nur selten zwischen den besser versorgten und räumlich separierten „Produktions-Häftlingen“ von „Elsabe“ und der großen Masse der „Bau-Häftlinge“ des SS-Stabs B5 unterschieden. Vgl. v. a. Jiři Křivsky/ Marie Křižkova: Richard. Unterirdische Fabrik und Konzentrationslager in Litoměřice. Theresienstadt 1967; Miroslav Kárny: „Vernichtung durch Arbeit“ in Leitmeritz. Die SS-Führungsstäbe in der deutschen Kriegswirtschaft. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4 (1993), S. 37– 61; Miroslava Benešová: Das Konzentrationslager in Leitmeritz und seine Häftlinge. In: Theresienstädter Studien und Dokumente (1995), S. 217– 240; Miroslava Langhamerová: Leitmeritz (Litoměřice). In: Benz/Distel: Flossenbürg (wie Anm. 17) S. 169 – 179. Unlängst auch die Publikation eines deutschen Historikers: Alfons Adam: „Die Arbeiterfrage soll mit Hilfe von KZ-Häftlingen gelöst werden“. Zwangsarbeit in KZ-Außenlagern auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik. Berlin 2013, hier S. 332– 364.

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zugleich intern alle Planungen zur weitergehenden Nutzung der Leitmeritzer Stollen. Den Krieg gab das Management zu dieser Zeit längst verloren. Seit dem Sommer 1944 arbeitete man klammheimlich und verbotenerweise im höchsten Managementkreis an Planungen für die Nachkriegszeit und erörterte in diesem Kreis Anfang 1945 wohl auch eine Evakuierung der Unternehmensspitze nebst Verwaltungsstab nach Süddeutschland. Auf das Schloß Sandizell in Oberbayern – unweit von Schrobenhausen – wurden anscheinend bereits wichtige Unterlagenbestände verbracht. Offiziell folgte die Auto Union der Politik des untergehenden NS-Regimes aber bis in die letzten Kriegstage. In der Konsequenz schloss dies die Aufrechterhaltung des Zwangsarbeitskomplexes und insbesondere einen forcierten KZ-Häftlings-Einsatz ein. Auf dem Höhepunkt im Februar/März 1945 beschäftigte die Auto Union in ihren Werken nach den vorliegenden Stichtagserhebungen rund 3.700 KZ-Häftlinge. Das entsprach einem Anteil von 7,4 Prozent an ihrer zu dieser Zeit fast 50.000-köpfigen Belegschaft – und nur das nahende Kriegsende verhinderte einen noch umfänglicheren KZ-Häftlings-Einsatz. Mit ihrem KZ-Häftlings-Anteil bewegte sich die Auto Union aber durchaus noch im branchenüblichen Rahmen. Der vergleichbare Wert lag bei BMW bei 4,8 und bei Daimler-Benz bei 7,6 Prozent – in der Forschung weniger beachtete Hersteller wie Adler oder Borgward kamen sogar auf Werte von deutlich über zehn Prozent.¹⁹ Auch der Gesamtumfang des Zwangsarbeitskomplexes bei der Auto Union, der sich durch die Übernahmen tschechischer Firmen und den Einsatz „rückverlagerter“ Justizstrafgefangener im letzten Kriegsjahr auf bis zu 45 Prozent erhöhte, blieb im Rahmen der deutschen Kraftfahrzeugbranche. Die zu Rüstungskonzernen mutierten Automobilhersteller agierten in den Kriegsjahren in erschreckender Gleichförmigkeit. Die Auto Union war zweifelsohne tief in das NS-Regime eingebunden und zunehmend integraler Bestandteil seiner Verbrechen. Sie war dabei aber keineswegs ein herausgehobener „faschistischer Musterbetrieb“, der der Branchenkonkurrenz hier zeitlich oder qualitativ in protagonistischer Weise vorange-

 Bei BMW machten Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge nach Spoerer etwa 51 Prozent der Beschäftigten aus, beim Daimler-Benz-Konzern rund 53 Prozent. Adler kam nach Kaiser/Knorn: Adlerwerke (wie Anm. 6), S. 21 f. schon 1943 auf knapp 40 Prozent ausländischen Belegschaftsanteil. Borgward erreichte diesen Wert im Sommer 1944. Beim Kdf-Werk (Volkswagen) machte der Zwangsarbeiterkomplex nach Spoerer 1944/45 sogar rund 65 Prozent der Beschäftigten aus. Vgl. Mark Spoerer: Umfang und Interpretation des Einsatzes von Zwangsarbeitern für den Auto-Union-Konzern im Zweiten Weltkrieg (Gutachten im Anhang der online-Ausgabe des Artikels „Öffentliche Verbrechen“ von Harald Schumacher/Martin Seiwert in: Wirtschaftswoche Nr. 39 vom 27.9. 2010, S. 138 – 141).

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schritten wäre. Wie ihre Konkurrenten nutzte sie aus Profitinteresse, nationalistischer Verblendung und vor allem im Hinblick auf die Positionierung in einer „europäisch-großdeutschen“ Nachkriegswirtschaft zu jeder Zeit des Krieges die ihr durch das NS-Regime dargebotenen Expansionschancen. Trotz Bombenschäden vergrößerte sich z. B. der durchweg modernisierte Maschinenpark allein der Stammbetriebe der Auto Union AG von 1939 bis 1945 um 51,2 Prozent!²⁰ Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs koppelte sich die Entwicklung der Auto Union freilich von der überwiegend in den „Westzonen“ beheimateten Konkurrenz ab. Während diese – bei ähnlich starker Vermehrung der Maschinenbestände – eher verschmerzbare Demontageverluste erlitt oder im Falle Volkswagen sogar noch Unterstützung durch die britische Besatzungsmacht erfuhr, wurde die Kraftfahrzeugbranche in der Sowjetischen Besatzungszone rigoros zur Rechenschaft gezogen.²¹ Die Führungskräfte der Auto Union, die sich bei Kriegsende in die Besatzungszonen der Westalliierten begaben, kamen dagegen – salopp formuliert – mit einem „blauen Auge“ davon. Ohne Schuldbewußtsein empfanden sie es nachgerade als Schikane und Zumutung, dass einige von ihnen von den Amerikanern in den „automatischen Arrest“ genommen wurden, der bis zu einem Jahr dauern konnte. Doch stimmte der beginnende „Kalte Krieg“ die westlichen Siegermächte rasch milde. Dr. Richard Bruhn, der als „Wehrwirtschaftsführer“ die Auto Union fast alleinverantwortlich durch den Weltkrieg geführt und 1949 maßgeblich ihre Ingolstädter Neugründung inspiriert hatte, bekam bereits 1953 das Große Bundesverdienstkreuz verliehen!²² Über die Auto Union zwischen 1939 und 1945 wurde in Ingolstadt eher geschwiegen. Wenn man den Krieg dennoch thematisieren wollte, konnte man in der jungen Bundesrepublik nun seine Ansichten recht ungeschminkt kundtun – so wie Dr. Carl Hahn (bis 1945 stellvertretendes Vorstandsmitglied und ebenfalls Ingolstädter Neugründer) beim Presseempfang der Auto Union zur Internationalen Automobilausstellung 1953. Hahn führte in seiner Rede wörtlich aus: „Ja, während des Krieges, und das sage ich nicht etwa heimlich oder mit einem Entschuldigungsbeiwerk, haben wir selbstverständlich unsere Pflicht getan und uns in die Kriegswirtschaft eingeschaltet und haben im Jahre 1945 noch an die 46.000

 Angabe nach dem Unternehmensbericht an die Sowjetische Militäradministration (SMAD) vom 23. 8.1945, in StAC, Best. 31050 Auto Union Nr. 1804. Vgl. Kukowski/Boch: Kriegswirtschaft (wie Anm. 5), S. 313.  Siehe v. a. Martin Kukowski: Die Chemnitzer Auto Union und die „Demokratisierung“ der Wirtschaft in der Sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1948. Stuttgart 2003.  Zur Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes am 25. Juni 1953 vgl. DKW-Nachrichten Nr. 24/1953, S. 555.

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Arbeiter in Sachsen beschäftigt. […] Wir waren eine grosse Firma, eine stolze Firma mit eigener Tradition, mit einem eigenen Geist, mit einem grossen Sozialwerk. […] Am 7. Mai 1945, als Herr Dr. Bruhn und ich […] die Stätten unserer Tätigkeit verliessen, sagte er: Warum soll ich weg, ich habe doch ein gutes Gewissen, weshalb soll ich mich absetzen? Als wir dann kaum aus Chemnitz heraus waren […] da haben wir dann oben auf der Strasse noch mal gehalten und wir sahen […] noch einmal auf das unter uns liegende Chemnitz zurück. Eigentlich nicht, um Abschied zu nehmen sondern nur, um zu sagen […] jetzt wollen wir das Bild noch mal in uns aufnehmen.Wir werden in Glück wiederkommen und werden wieder dort arbeiten können.“²³

 Unternehmensarchiv AUDI AG-Handapparat-Personalunterlagen Dr. Carl Hahn.

IV Staat und Wirtschaft

Das Patentgesetz von 1877. Entstehung und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung Das Patentgesetz des Deutschen Reiches vom 25. Mai 1877 legte für lange Zeit die Rechtsgrundlage für die Entwicklung des Patentschutzes in Deutschland, aber auch in Nord- und Mitteleuropa. Doch nicht nur für eine Geschichte des Patentwesens in rechtsgeschichtlicher Perspektive ist dieses Gesetz von Bedeutung, sondern auch für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung zum Kaiserreich sowie für eine politikgeschichtliche Forschung, die sich als moderne Entscheidungsprozeßanalyse versteht. Das Patentgesetz von 1877 markiert den Beginn einer neuen Epoche aktiver Wirtschaftspolitik des Staates. Es wurde – nur sechs Jahre nach der Reichsgründung – erster Ausdruck einer Abwendung vom bis dahin tonangebenden Freihandelsliberalismus, der durch die langanhaltende Wirtschaftskrise nach dem Börsenkrach von 1873 einen drastischen Legitimationsverfall erlebte.¹ Das Patentgesetz von 1877 steht aber nicht nur am Anfang einer Epoche zunehmender staatlicher Intervention, es ist zugleich eine beredtes Beispiel dafür, daß in einem Staat, der sich bereits auf dem besten Weg zu einem Industriestaat befand, staatliches Handeln nicht mehr allein Ausdruck reinen Staatswillens sein konnte, sondern bereits erheblicher Einflußnahme von organisierten Interessen ausgesetzt war. Das Entstehen des Patentgesetzes ist ein frühes Exempel dafür, wie in verhältnismäßig kurzer Zeit eine – modern ausgedrückt – „pressure group“ entsteht, die einen Stimmungswandel in Ministerien und öffentlicher Meinung herbeiführt oder zumindest einen sich abzeichnenden Stimmungswandel nachhaltig unterstützt und diesen dann rasch in eine legislative Form gießen kann.² Kern dieser „pressure group“ wurde der „Deutsche Patentschutz-Verein“ unter dem Vorsitz von Werner Siemens, einem der erfolgreichsten Unternehmer seiner Zeit,

 Diesen Zusammenhang hat bereits Alfred Heggen in seiner grundlegenden Arbeit: Erfinderschutz und Industrialisierung in Preußen 1793 – 1877. Göttingen 1975, hervorgehoben. Er verknüpft aber das Patentgesetz von 1877 meinem Urteil nach unzulässig stark mit der Wende zur Schutzzollpolitik im Jahr 1879.  Das betont nachdrücklich Wilhelm Treue in seinem Aufsatz: Die Entwicklung des Patentwesens im 19. Jahrhundert in Preußen und im Deutschen Reich. In: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert. Bd. 4. Hrsg. von Helmut Coing/Walter Wilhelm. Frankfurt a. M. 1979, S. 163 – 182. Seine Beurteilung des Patentgesetzes als großbürgerliches unternehmerfreundliches Komplott erscheint dem Vf. überzogen. DOI 10.1515/9783110534672-014

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mit bereits langer Erfahrung im Umgang mit preußischer Bürokratie und politischer Öffentlichkeit. Der Umschwung der öffentlichen Meinung geschah innerhalb von nur fünf Jahren. Noch um 1870 schien der Patentschutz in Deutschland keine Zukunft mehr zu haben. Seit dem Sommer 1868 lag dem Reichstag des Norddeutschen Bundes ein offiziell durch Bismarck gestellter Antrag vor, der auf die völlige Abschaffung des Erfindungsschutzes zielte. „Spiritus rector“ dieses Antrages war freilich nicht Bismarck selber, sondern Rudolf Delbrück (1817– 1903), die wohl bedeutendste Beamtenpersönlichkeit der 1850er bis 1870er Jahre. Delbrück, seit 1859 Ministerialdirektor im Preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe sowie Leiter der mit Patentanträgen befaßten sog. Technischen Deputation und seit 1867 schließlich einflußreicher Präsident des Norddeutschen Bundesamtes (und späteren Reichskanzleramtes), war ein zutiefst überzeugter Wirtschaftsliberaler und Freihändler. Er war Anhänger einer internationalen Denkströmung, die bereits Zeitgenossen – gelegentlich abwertend – als „Manchesterliberalismus“ bezeichneten. Delbrück war kein isoliert handelnder Spitzenbeamter. Er konnte sich einerseits auf jüngere, bereits im Vormärz in wirtschaftsliberaler Tradition erzogene Beamte in den preußischen Ministerien für Handel und Finanzen stützen. Andererseits war er sozusagen mit dem ökonomischen „Zeitgeist“ im Bunde, der sich in den 1860er Jahren vor allem im „Kongreß deutscher Volkswirte“ manifestierte, der öffentlichkeitswirksam für absolute Gewerbefreiheit, Deregulierung, Freizügigkeit und internationalen Freihandel eintrat. Der zunehmende Einfluß auf die preußische Wirtschaftspolitik gelang freilich nicht nur über die öffentliche Meinungsbildung, sondern ging mit personalen Verflechtungen Hand in Hand. So war der bekannte Freihandelstheoretiker Otto Michaelis (1826 – 1890) der engste Wirtschaftsberater von Delbrück und John Prince-Smith (1809 – 1874) als Haupt der deutschen Freihandelsschule einflußreiches Mitglied und Wortführer im Preußischen Abgeordnetenhaus und später, bis zu seinem Tod, im Reichstag.³ Die Freihandelsbefürworter in der Administration konnten schließlich auf handfeste Erfolge verweisen: Sie hatten den Abschluß am Freihandel orientierter europäischer Handelsverträge vorangetrieben, die in den 1860er Jahren dann den Export der deutschen Zollvereinsstaaten beflügelten. In der Öffentlichkeit wurde außerdem ihren wirtschaftspolitischen Rezepten der industrielle Boom seit Mitte der 1850er Jahre – mit jährlichen Wachstumsraten von zehn und mehr Prozent –

 Vgl. Heggen: Erfindungsschutz (wie Anm. 1), S. 70.

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und die erfolgreiche industrielle Aufholjagd gegenüber der westeuropäischen Konkurrenz zugerechnet. Alle gesellschaftlichen Hoffnungen richteten sich in den 1860er Jahren auf die Kräfte eines von traditionellen Bindungen entfesselten, freien Marktes. Selbst die „soziale Frage“, die „Arbeiterfrage“, wie sie neuerdings genannt wurde, schien vielen allein durch ökonomisches Wachstum lösbar. Die Freihändler waren der festen Überzeugung, daß der vergleichsweise sehr mächtige, immer wieder mit starken Eigeninteressen in die Ökonomie hineinwirkende Staat in Preußen endlich – wie im Maßstäbe setzenden England – auf eine nur die Rahmenbedingungen setzende, dienende Rolle zurückgestuft werden könnte. Ihr Ideal war der „liberale Nachwächterstaat“. Daß diese am Freihandel und Rückzug des Staates orientierten Liberalen schließlich für einige Zeit die Richtlinien Berliner Politik bestimmten, verdankten sie freilich – außer den genannten Gründen – auch dem Umstand, daß der Freihandel zum wirtschaftspolitischen Kampfmittel Preußens gegen Österreich wurde, welches nur um den Preis schwerer ökonomischer Probleme dem Freihandelskurs hätte folgen können und nun verstärkt an Attraktivität für die süddeutschen Zollvereinsstaaten verlor. Das weist darauf hin, daß dieser wirtschaftspolitische Kurs Preußens nicht unbedingt einer tiefen manchesterliberalen Überzeugung der Mehrheit der Bürokratie und der Staatsspitze entsprang. Es war ein „gouvermentaler Liberalismus“⁴, der gewährt wurde, solange er wichtigen politischen Zwecken diente, der aber – wie die 1870er Jahre zeigen sollten – fallengelassen werden konnte, wenn er sich als nicht mehr nützlich erwies. Spätestens seit dem 6. Kongreß Deutscher Volkswirte in Dresden im Jahr 1863, der sich vorrangig mit dem Patentwesen beschäftigte, war die Abschaffung jeglichen Patentschutzes zu einem vereinheitlichten Ziel der Freihandelsbewegung geworden. Erfindungsschutz wurde von diesem Kongreß als ein der freien Konkurrenz abträgliches Gewerbemonopol gebrandmarkt, als Relikt aus merkantilistischer Zeit. Auch die Idee des geistigen Eigentums wurde in Dresden grundsätzlich verworfen, da – so die Begründung – jede Idee eines Einzelnen Ausfluß des gesamtgesellschaftlichen Wissensstandes wäre, so daß jederzeit mehrere Personen die gleiche Idee haben könnten – was viele Doppelerfindungen beweisen würden. In der festen Überzeugung, daß das jüngst erzielte Wachstum nur dem endlich ungehinderten, freien Austausch von Waren, Arbeitskräften und Ideen geschuldet war, konnte Prince-Smith seine programmatische Rede in Dresden in folgendem Antrag gipfeln lassen: „In Erwägung, daß Patente den

 Helmut Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848 – 1881. 2. Aufl., Köln/Berlin 1972, S. 209.

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Fortschritt der Erfindung nicht begünstigen, vielmehr deren Zustandekommen erschweren, daß sie die rasche allgemeine Anwendung nützlicher Erfindungen hemmen, daß sie den Erfindern selbst im Ganzen mehr Nachteil als Vorteil bringen und daher eine höchst trügerische Form der Belohnung sind, beschließt der Kongreß deutscher Volkswirte zu erklären: daß Erfindungspatente dem Gemeinwohl schädlich sind.“⁵ Da die – noch eine Generation zuvor unvorstellbare – Rasanz der technischen Entwicklung die inhaltlichen Bestimmungen fast aller bestehenden Patentregelungen längst überholt hatte und sich der preußische Behördenapparat für die technische Vorprüfung bei Patentanmeldungen als hoffnungslos zu klein und häufig vom Wissensstand überfordert erwies, hatte die Freihandelsschule nicht nur die ökonomische Theorie, sondern auch den realen Erfahrungshorizont zahlreicher Unternehmer auf ihrer Seite. Eine Umfrage des preußischen Handelsministeriums unter den Handelskammern im selben Jahr 1863 bestätigte das: 31 Handelskammern stimmten für die ersatzlose Aufhebung des Patentschutzes; nur 16 Kammern plädierten für die prinzipielle Beibehaltung, forderten aber mit Nachdruck eine Reform sowie eine zukünftige Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Zollvereins.⁶ Diese Umfrage und ein vom preußischen Handelsministerium im Auftrag gegebenes Gutachten des „Eidgenössischen Polytechnikums Zürich“, welches dezidiert hervorhob, daß sich der fehlende Patentschutz in der Schweiz keineswegs negativ auf den technischen Fortschritt und das wirtschaftliche Wachstum ausgewirkt hätte, führten in den kommenden Jahren zu weiteren Restriktionen in der ohnehin schon restriktiven preußischen Patentpolitik. Zwischen 1863 und 1874 erteilte Preußen im Durchschnitt jährlich nur ein Drittel bis ein Viertel der Zahl an Patenten, die das wesentlich kleinere Sachsen zuerkannte und zumeist sogar weniger als das schwach industrialisierte Bayern. Auf dem Tiefpunkt des Niedergangs des preußischen Patentwesens im Jahr 1869 wurden nur 49 Patente zugelassen, dagegen in Bayern 119, in Sachsen 190 und in Großbritannien 2407. Zwar muß bei einem solchen Vergleich in Rechnung gestellt werden, daß die genannten Vergleichsstaaten das Patentwesen als Anmeldesystem mit keiner oder nur oberflächlicher Vorprüfung organisiert hatten. Doch war die Vorprüfung in Preußen äußerst hart und nachgerade patentfeindlich. Rund 75 bis 80 Prozent der Patente wurden in den 1860er und frühen 1870er Jahren abgelehnt und viele Patente bereits nach kurzer Laufzeit wieder aufgehoben. Waren in den Ausläufern der vormärzlichen Gewerbepolitik bis 1855 noch länger dauernde Patente erteilt worden, so waren seit 1855 fünf Jahre die oberste Grenze und

 Zit. nach Heggen: Erfindungsschutz (wie Anm. 1), S. 74.  Heggen: Erfindungsschutz (wie Anm. 1), S. 81.

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Regeldauer.⁷ Innerhalb von sechs Monaten nach Erteilung eines Patents mußte die betreffende Erfindung zur Ausführung gelangt sein oder der gewährte Schutz verlor seine Wirksamkeit.⁸ Mit dem „Publicandum“ von 1815, der ersten umfassenden Regelung des Erfindungsschutzes in Abgrenzung zum älteren landesherrschaftlichen Privilegienund Monopolwesen, besaß Preußen innerhalb der Staatenwelt des Deutschen Bundes zwar eine Vorreiterrolle. Doch war – was bisweilen übersehen wird – die preußische Regelung von 1815 nicht als Gesetz ergangen. Der Erfinder hatte keinen Anspruch auf das Patent und die Patentgewährung erfolgte ohne formale Rechtsgrundlage administrativ durch das Handelsministerium. Der Erfindungsschutz wurde, in bewußtem Gegensatz zu der in den USA und Frankreich vorherrschenden urheberrechtlichen – noch aus dem Naturrecht des 18. Jahrhunderts stammenden – Motivierung, ausschließlich vom Standpunkt der gewerbepolitischen Nützlichkeit betrachtet.⁹ Die Haltung der preußischen Administration zum Patentschutz, der herrschende Geist, der sich in der Freihandelsära seit Beginn der 1860er Jahre noch einmal radikalisierte, kommt in einer Aussage des preußischen Geheimrats Wedding vor einer Kommission des britischen Oberhauses im Jahr 1851 – man trug sich in England damals mit Reformbestrebungen – zum Ausdruck: „Wir haben den Grundsatz in unserem Lande, jedem Zweig der Industrie und Kunst alle mögliche Freiheit zu gewähren, und da wir jede Art von Patenten als ein Hindernis in ihrer freien Entwicklung betrachten, so sind wir nicht sehr freigiebig mit dem Patentieren.“¹⁰

 Vgl. ebd., S. 76 ff.  Alfred Müller: Die Entwicklung des Erfindungsschutzes und seiner Gesetzgebung in Deutschland. München 1898, S. 15.  Marcel Silberstein: Erfindungsschutz und merkantilistische Gewerbeprivilegien. Winterthur 1961, S. 268. Der mit dem Patentschutz verbundene Gedanke des Monopols auf Zeit paßte eigentlich nicht in die wirtschaftsliberale Konzeption der von 1815 bis 1848 wesentlich vom Staatsrat Peter Christian Beuth (1781– 1853) beeinflußten preußischen Wirtschaftspolitik. Nur der zeitgleichen merkantilistischen Komponente seiner Gewerbeförderung verdankte es das Patentwesen, daß es in Preußen überhaupt in Anwendung blieb. Diese merkantilistische Komponente der Erziehung bestimmter Gewerbezweige zu Markt- und Wettbewerbsfähigkeit entfiel dann nach Beuths Rücktritt 1848 und dem Aufstieg einer jüngeren Generation von Beamten um Delbrück in den 1850er Jahren völlig, was zu einer Radikalisierung der offiziellen Haltung Preußens zum Patentschutz nicht unwesentlich beitrug. Vgl. Ilja Mieck: Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806 – 1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus. Berlin 1965; vgl. auch Heggen: Erfindungsschutz (wie Anm. 1), S. 34 ff.  Müller: Entwicklung (wie Anm. 8), S. 15.

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Aus diesem Geist heraus blockierte der Großstaat Preußen fast vierzig Jahre lang eine von den süddeutschen Staaten und Sachsen geforderte patentfreundliche Vereinheitlichung des Patentwesens im Zollverein und die Schaffung eines gemeinsamen Patentamtes. Die Zollvereinsübereinkunft von 1842 enthielt keine wirklichen Zugeständnisse Preußens und bedeutete – so das Urteil Alfred Heggens in seinem Standardwerk über den Erfinderschutz in Preußen – „in ihrer praktischen Relevanz nicht mehr als der vorherige vertragslose Zustand, denn jeder Regierung blieb die Handhabung des Patentschutzes ins Belieben gestellt.“¹¹ In der neueren Forschung wird daher die Behauptung der älteren, borrusophilen Literatur zurückgewiesen, die Zollvereinsübereinkunft wäre ein wesentlicher Schritt zur Rechtsvereinheitlichung in Deutschland gewesen, quasi ein Vorläufer des Reichspatentgesetzes von 1877. Mit der grundsätzlichen Infragestellung des Erfindungsschutzes seit Anfang der 1860er Jahre erhoben sich vermehrt Gegenstimmen, aber es verbietet sich m. E. bereits von einer „Propatentbewegung“ zu sprechen. Eine Plattform fanden die Patentbefürworter im 1856 gegründeten „Verein Deutscher Ingenieure“ (VDI), der seit 1861 mit zahlreichen Denkschriften und Petitionen hervortrat. Unter den Einzelpersonen, die sich seit 1863 in der Öffentlichkeit mit dem Problem beschäftigten, ragte bereits Werner Siemens heraus, der nach schlechten Erfahrungen mit der „Technischen Deputation“ in den 1850er und 1860er Jahren in Preußen kaum noch Patentgesuche einreichte.¹² Im Gegensatz zum VDI, der den Anspruch auf geistiges Eigentumsrecht in den Mittelpunkt gestellt hatte, hob Siemens mit klarer Spitze gegen die vorwiegend ökonomische Argumentation der „Freihandelsschule“ die volkswirtschaftliche Bedeutung der Patente und ihren Wert als Anregung für innovationsbezogene Investitionen der Unternehmer hervor. Erst als an der Wende von den 1860er zu den 1870er Jahren die letzte Stunde des Erfindungsschutzes gekommen schien, die benachbarten Niederlande 1869 den Patentschutz aufhoben¹³ und sogar in England – mit seiner langen Tradition des Erfindungsschutzes – sich Stimmen zu seiner Abschaffung erhoben, kam es zu einer massiven Zunahme von öffentlichen Interventionen aus Unternehmerkreisen für die Fortführung und Vereinheitlichung des Patentschutzes. Man kann fast von einer Konfrontation der Erfinderunternehmer der Elektro-, Maschinenbauund Chemischen Industrie mit tonangebenden Nationalökonomen und dem – häufig indifferenten –, die damaligen Handelskammern noch stark dominieren Heggen: Erfindungsschutz (wie Anm. 1).  Vgl. Guido Heß: Die Vorarbeiten zum Deutschen Patentgesetz vom 25. Mai 1877. Schweinfurt 1966 (Diss.), sowie Treue: Entwicklung (wie Anm. 2), S. 174.  Marcel Silberstein: Erfindungsschutz (wie Anm. 9), S. 276.

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den Typus des Kaufmannsunternehmers sprechen. Nicht zufällig rückte neben Siemens in diesen Jahren Eugen Langen, ein ausgebildeter Ingenieur und wohlhabender Kölner Unternehmer, der mit Nikolaus August Otto an der Entwicklung des Otto-Motors arbeitete und sich seit den 1860er Jahren mit den technischen Problemen der Schwebebahn beschäftigte, als Protagonist der Patentbefürworter in den Vordergrund. Die Juristen bezogen in diesem Meinungsstreit der Reichsgründungszeit interessanterweise zunächst keine Position; mit wenigen Ausnahmen verhielten sie sich neutral und schlugen sich erst später auf die Seite der Gewinner. Einer dieser Ausnahmen war der Rechtsprofessor und preußische Bergrat Wilhelm Klostermann, dessen 1869 erschienenes Werk „Die Patentgesetzgebung aller Länder“ sich um eine objektive Darstellung der Probleme des Patentwesens in einer entstehenden Industriegesellschaft bemühte und als Plädoyer für den Patentschutz wirkte.¹⁴ Nicht zuletzt der Krieg gegen Frankreich hatte die Beratungen über die Abschaffung des Patentschutzes in den Gremien des Norddeutschen Bundes 1870 zum Erliegen gebracht. Die Reichseinigung von 1871 drängte nun erneut auf eine Entscheidung hin: entweder ein einheitlicher Patentschutz für das gesamte Reichsgebiet oder die konsequente Aufhebung des Erfindungsschutzes wie in den Niederlanden. Auch das gewachsene internationale Gewicht des neuen Kaiserreiches, die gesteigerte Erwartungshaltung des Auslandes hinsichtlich einer richtungsgebenden Gestaltungsfähigkeit der neuen Macht in der Mitte Europas, ließen die Frage des Patentschutzes wieder an Aktualität gewinnen. Dieser internationale Aspekt der Patentfrage begann sich nun zugunsten der Patentbefürworter auszuwirken. So galt es seit 1872 als ausgemacht, daß Großbritannien als die größte Industriemacht der Welt, nach langen eingehenden Beratungen am Erfindungsschutz festhalten würde. Auch der Internationale Patentschutzkongreß von 1873, am Rande der Wiener Weltausstellung abgehalten, und maßgeblich von den Brüdern Siemens initiiert, machte die Gefahr einer Isolierung des jungen Reiches deutlich; hatte der unmittelbare Anlaß dieses Kongresses doch darin bestanden, daß sich führende amerikanische Firmen wegen des mangelhaften preußischen Patentschutzes geweigert hatten, ihre technischen Innovationen auszustellen.¹⁵

 Vgl. Friedrich-Karl Beier: Gewerbefreiheit und Patentschutz. Zur Entwicklung des Patentrechts im 19. Jahrhundert. In: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert. Bd. 4. Hrsg. von Helmut Coing/Walter Wilhelm. Frankfurt a. M. 1979, S. 183 – 205, hier S. 200 f.  Karl-Heinz Manegold: Der Wiener Patentschutzkongreß von 1873. Seine Stellung und Bedeutung in der Geschichte des deutschen Patentwesens im 19. Jahrhundert. In: Technikgeschichte 38 (1971), S. 158 – 165, hier S. 159.

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Aber wichtige Protagonisten des Patentschutzes erkannten sehr klar, daß das Argument der internationalen Isolierung nicht ausreichte, den Patentschutz gesetzlich zu sichern, solange die Patentgegner in der durch Preußen hegemonisierten Administration des Reiches noch derart stark waren und in den liberalen Parteien des Reichstages noch über eine erhebliche Anhängerschaft verfügten. In einem Brief an Eugen Langen, den die Forschung als „Geburtsurkunde des Deutschen Patentschutzvereins“ bezeichnet hat,¹⁶ schrieb Werner Siemens im Februar 1874: „Ich bin der Ansicht, daß die Frage für parlamentarische Behandlung noch nicht reif ist. Es muß erst mehr öffentliche Meinung gemacht und Stützpunkte in den Regierungen, im Bundesrat und bei einflußreichen Verwaltungsbehörden gewonnen werden. In diesem Augenblick sollten wir weder petitionieren noch interpellieren, sondern organisieren. Wir müssen den Beweis führen, daß nicht mehr nur einige Erfinder um Schutz schreien, sondern daß wirklich achtungsgebietende Klassen und Interessen ihn fordern. Die internationale Agitation […] kann jetzt gar nichts nützen. Das Einzige, was wir tun können, ist daher die Bildung eines rein deutschen Organismus einzuleiten, welcher die weitere Agitation in die Hand nimmt.“¹⁷ Ende März 1874 trafen sich Werner Siemens, Wilhelm André (1827– 1903), der Dresdener Ingenieur Carl Pieper (1838 – 1908) und andere in Berlin, um die Vereinsgründung vorzubereiten, und schon zwei Monate später konnte Siemens seinem Bruder Wilhelm in London die Erfolgsmeldung geben: „Die ganze deutsche Großindustrie und wissenschaftliche Technik ist im Verein vertreten, und eine Menge Vereine haben ihren Betritt mit ansehnlichen Beiträgen zugesagt.“¹⁸ Siemens gewann darüber hinaus auch erstmals Unterstützer in der Ministerialbürokratie, wie den – erst im Juni 1874 ernannten – neuen Leiter der Technischen Deputation Leonhard Jacobi, der schließlich 1877 auch der erste Präsident des Kaiserlichen Patentamtes werden sollte. Der entscheidende Durchbruch gelang den Patentbefürwortern aber erst nach dem Rücktritt Delbrücks auf dem Höhepunkt der schweren Wirtschaftskrise 1876, ein Rücktritt, der von den Zeitgenossen durchweg als Ende einer Ära wahrgenommen wurde. Delbrücks Nachfolger, Karl von Hofmann (1827– 1920), empfing schon kurz nach seiner Amtsübernahme den Vorstand des Patentschutzvereins zu einem Gespräch und sicherte ihm volle Unterstützung für seine Ziele zu.¹⁹

 Vgl. Karl-Heinz Manegold: Vom Erfindungsprivileg zum „Schutz der nationalen Arbeit“. In: Zeitschrift der TU Hannover 1976/2, S. 13.  Conrad Matschoß:Werner Siemens. Berlin 1916, Bd. 1, S. 445; vgl. auch Treue: Entwicklung (wie Anm. 2), S. 176.  Matschoß: Siemens (wie Anm. 17), S. 521.  Heggen: Erfindungsschutz (wie Anm. 1), S. 129 f.

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Es war aber nicht in erster Linie das Resultat einer geschickten Lobby-Politik, und auch nicht nur die Verunsicherung der Administration durch die unerwartet zähe Wirtschaftskrise, sondern die Argumentationsweise von Werner Siemens, seine beeindruckende Krisenanalyse in Verbindung mit der Forderung nach Patentschutz, die die patentfeindliche Stimmung umschlagen ließ. Ich möchte deshalb diese Analyse des Wirtschaftsstandorts Deutschland an der Schwelle zur Hochindustrialisierung und Siemens’ Vorschläge für eine neue technologische Kultur, die sich in seinen Publikationen der 1860er Jahre bereits andeuteten, aber erst in seinen Denkschriften und Briefen zwischen 1873 und 1876 voll entfaltet wurden, in den Grundzügen knapp darstellen. Für Siemens war die Wirtschaftskrise nach 1873 keine einfache Handels- oder Konjunkturkrise, sondern eine sich schon länger anbahnende Strukturkrise der industriellen Produktion in Deutschland, nicht zuletzt eine Krise der Technologiekultur. Der Aufschwung der deutschen Industrie in den 1850er und 1860er Jahren war – folgt man Siemens – durch zwei Kostenvorteile begünstigt worden: Durch die reine Nachahmung ausländischer Innovationen in den meisten Industriezweigen waren Investitionskosten für Forschung und Entwicklung weitgehend entfallen. Durch diese Ersparnis und die sehr niedrigen deutschen Löhne hatten deutsche Waren – trotz geringerer Produktivität – häufig billiger angeboten werden können als ausländische. Diese notorische Nachahmungspraxis hätte den deutschen Produkten im Ausland aber den Ruf „Billig und Schlecht“ eingetragen und zu Exportverlusten geführt, während die Streikwellen von 1871 bis 1873 und die erheblichen Lohnsteigerungen in ihrem Gefolge diese Billigexporte zusätzlich erschwert hätten. Das Lohnniveau werde langfristig weiter steigen, und eine Rückeroberung fremder Märkte sei nur dadurch möglich, daß die Warenqualität englischen Standard erreiche oder diesen übertreffe. Eine Grundvoraussetzung dafür sei – so Siemens – ein industrielles Leistungsdenken, welches nur entstehen könne, wenn die gesellschaftliche Anerkennung der technischen Arbeit gefördert werde. Diese Anerkennung drücke sich in der sozialen Achtung der Techniker und im Schutz der geistigen Arbeit und deren Belohnung durch ein Patent aus. Erfindertätigkeit beruhe außerdem nicht auf jenem „mühelosen Einfall“ – so Siemens –, wie ihn die Freihandelsschule behauptet hatte, sondern die Umsetzung einer Idee in die Praxis erfordere Kapital und Arbeit; die hierdurch bewirkte Förderung des technischen Fortschritts und des wirtschaftlichen Wachstums rechtfertige wegen des „gesellschaftlichen Nutzens“ das Patent qua Belohnung und weiteren Ansporn der technischen Aktivität. Technischer Fortschritt werde außerdem – so argumentierte Siemens ganz modern – durch Unternehmen zunehmend bewußt induziert, d. h. technische Problemlösungen würden gesucht, weil wirtschaftliche Notwendigkeiten dies geraten erscheinen ließen. Dem Patent

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falle hierbei die Aufgabe zu, diesen Prozeß rechtlich gegen die Konkurrenz abzusichern. Die steigende Gewinnerwartung mindere das Investitionsrisiko einer Neuerung und steigere die Investitionsbereitschaft des Unternehmers. Nationale Töne waren Siemens nicht fremd. Trotz seiner vielfältigen internationalen Geschäftsaktivitäten dachte auch er in den Kategorien nationaler Industrieentwicklung, der Stärkung der deutschen Industrie als Basis für eine starke deutsche Nation. Siemens stand auch den nach 1879 von wichtigen Industriezweigen immer lauter geforderten Schutzzöllen nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Trotzdem hat er den Patentschutz – das sollte hervorgehoben werden – nicht als ein Instrument protektionistischer Wirtschaftspolitik oder als flankierende Maßnahme einer umfassenden Schutzzollpolitik angepriesen. Er begrüßte freilich eine zeitweilige Absicherung des deutschen Marktes nach außen, zeitlich begrenzte Erziehungszölle, als Voraussetzung einer Konsolidierung nach innen, mit dem Ziel eines Zeitgewinns zur Verbesserung der Produktqualität. Patentschutz war für ihn zwar ein Hebel zur Verbesserung der Produktqualität, aber nicht einfach „Waffe im Handelskrieg“. Siemens und der Patentschutzverein haben sich 1878 nachdrücklich für die Einberufung eines zweiten internationalen Patentschutzkongresses in Paris eingesetzt. Auf diesem wurden die wesentlichen Grundsätze der „Pariser Verbandsübereinkunft“ geschaffen, die, 1883 unterzeichnet, die Basis eines internationalen Patentsystems bildete. Die PVÜ war ihrem Charakter nach weltoffen, untersagte jede fremdenrechtliche Beschränkung des nationalen Patentschutzes und förderte so eher den internationalen Wirtschaftsverkehr als dass sie ihn behinderte. Auf der Grundlage des Gesetzentwurfes des „Patentschutzvereins“ ernannte das Kanzleramt unter der Leitung von Hofmanns im September 1876 eine durchweg mit Patentbefürwortern besetzte Patent-Kommission, die ein Reichsgesetz vorbereiten sollte. Die parlamentarische Behandlung der Patentfrage verlief nun auf zwei Ebenen, denen der Länder und des Reiches. Denn auch die Länder richteten Enquête-Kommissionen ein. Allerdings übernahm das Reichskanzleramt die vorbereitende Arbeit und bestimmte damit in gewisser Weise die Richtung der Überlegungen. Die Landesregierungen erklärten sich mit dem Reichsentwurf einverstanden, und die süddeutschen Staaten akzeptierten sogar das so lange kritisierte preußische Verfahren der Vorprüfung als wesentliche Grundlage der Patenterteilungspraxis. Ende Mai 1877 nahm ein mehrheitlich eigentlich noch freihändlerisch gestimmter Reichstag die Gesetzesvorlage an. Das glatte Passieren der parlamentarischen Hürden läßt sich – ich folge hier der Deutung Marcel Silbersteins – auch damit erklären, daß das Gesetz „als eine vorläufige politische

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Konzession an die notleidende Industrie gedacht war.“²⁰ Der zentralen Forderung der Schwerindustrie und der einflußreichen Landwirtschaft – der Einführung von hohen Schutzzöllen als Markteintrittsbarriere für die ausländische Konkurrenz – verschloß sich die Reichstagsmehrheit noch. Die Revision der bisherigen Zollpolitik war weitaus komplizierter und durch noch geltende internationale Handelsverträge gehemmt. Sie erfolgte erst 1879, als die Hoffnung vieler Parlamentarier, ein grundlegender Konjunkturaufschwung werde die schrille Schutzzollagitation zum Verstummen bringen, sich immer noch nicht erfüllte. Das Patentgesetz von 1877 war mithin keine direkte „Ausgeburt“ der protektionistischen Wende, kein Zwillingsbruder der Schutzzollgesetze, wenn auch viele Kampfschriften jener Jahre, die zugleich mit Schutzzöllen den Patentschutz als Allheilmittel empfahlen, das suggerieren mochten. Das Patentgesetz war aber der erkennbar erste Schritt hin zu einer neuen aktiven Wirtschaftspolitik des Staates; hin zu einer – neue Wachstumsvoraussetzungen bewußt gestaltenden und soziale Folgeprobleme der Industrialisierung kompensierenden – Rolle des Staates, die zeitgleich bereits in den staatlichen Planungen zur Verkehrs– und Infrastrukturpolitik in Preußen sowie zur Sozialversicherungspolitik im Reich vorbereitet wurde. Diese Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft hätte sich im Deutschen Reich auch ohne den Übergang zu Schutzzöllen durchgesetzt, deren ökonomische Wirkungen von Zeitgenossen und historischer Forschung lange Zeit erheblich überschätzt wurden. Aufgrund der jahrzehntelangen nationalökonomischen Grundsatzkontroverse „Zollschutz versus Freihandel“ war dieser Übergang freilich symbolträchtig und überschattete Wandlungen im Verhältnis von Staat und Wirtschaft von weitaus größerer Tragweite.²¹ Das Patentgesetz war ein erster Schritt hin zu einer aktiven Wirtschaftspolitik des Staates, es war aber auch ein erster Schritt vieler von der Freihandelsschule beeinflußter liberaler Abgeordneter, deren Blütenträume zerstoben waren, den wirtschaftlichen Akteuren, den Unternehmern und ihrer Sicht der Dinge – jenseits vorgefertigter Lehrmeinungen – zuzuhören. In ihre Bereitschaft, die Krisenanalyse eines Siemens aufzunehmen, mischte sich freilich eine kräftige Dosis des alten freihändlerischen Mißtrauens gegenüber den Ansprüchen des Erfinders. Im Kräfteparallelogramm von industriellen Interessen und Geringschätzung der individuellen Erfinderleistung gestaltete sich das deutsche Patentgesetz von 1877 der Tendenz nach einzelerfinderfeindlich. Vor allem der Ausführungszwang (§11), die progressiven Patentgebühren bis zu einer Höhe von 5.000 Mark (§8), aber auch  Silberstein: Erfindungsschutz (wie Anm. 9), S. 283.  Weiterführend dazu z. B. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3:Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914. München 1995, v. a. S. 662– 680.

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das sog. Anmelderprinzip (§3) führten in der Folgezeit, als auch das Problem der Arbeitnehmererfindungen immer gewichtiger wurde, zu ständig wachsender Kritik. Diese Kritik verdichtete sich im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg derart, daß sich die Reichsregierung gezwungen sah, einen neuen, die Interessen der Einzel– und Arbeitnehmererfinder besser berücksichtigenden Entwurf vorzubereiten. Ob nur der Ausbruch des Weltkrieges dieses reformierte Patentgesetz verhinderte oder aber tiefere, strukturelle Gründe – etwa die Nähe der Reichsregierung zu den organisierten Unternehmerinteressen – einer Novellierung im Wege standen, darüber gehen die Meinungen in der Forschung auseinander.²² Trotz dieses „Geburtsfehlers“ blieb das Patentgesetz von 1877 in vielfacher Hinsicht von epochemachender Bedeutung; auch in rechtsgeschichtlicher Perspektive. Denn durch die Anerkennung des gesetzlichen Anspruchs des Patentanmelders an Stelle des bisherigen Gnadenrechts wurde dem Erfindungsschutz endlich der Charakter eines Persönlichkeitsrechts gegeben. Nicht nur Schweden, Dänemark und Norwegen, sondern auch Österreich-Ungarn und 1907 schließlich auch die Schweiz, lehnten sich an die deutsche Patentgesetzgebung an.²³ Hat nun das Patentgesetz den Aufschwung der Erfindertätigkeit, eine neue technologische Kultur im Deutschen Kaiserreich und das damit hoffnungsvoll verknüpfte erneute wirtschaftliche Wachstum, ermöglicht oder gefördert? Ohne Zweifel kann man nach 1877 eine rasch steigende Zahl von Patentanmeldungen und Patenterteilungen beobachten; ein Zeichen von verstärkter technologischer Aktivität. Sicherlich förderte das Patentgesetz auch jene Entwicklung von Technik, Leistungsdenken und Arbeitsstolz, die bis zur Jahrhundertwende aus dem Handelszeichen „Made in Germany“, welches das britische Parlament noch 1887 als Warnung vor billigen deutschen Nachahmungen eingeführt wissen wollte, ein Markenzeichen für Qualitätsproduktion und Produktinnovation werden ließ.²⁴ Den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands bis zum Ersten Weltkrieg zur zweitstärksten Industrienation nach den USA vor allem oder gar monokausal aus dem erfolgreichen Patentwesen erklären zu wollen, verbietet sich freilich von selbst. Der quantitative wie qualitative Beitrag von patentierten Erfindungen zum Wirtschaftswachstum ist für die deutsche Volkswirtschaft oder auch nur für einen Industriezweig bisher von der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung noch nicht

 Kees Gispen: National Socialism and the Technological Culture of the Weimar Republic. In: Central European History 25 (1992), S. 387– 406, hier S. 394 f.  Silbermann: Erfindungsschutz (wie Anm. 9), S. 284 und Anm. 132.  Der vom Londoner Parlament beschlossene Merchandise Marks Act schrieb vor, daß aus Deutschland nach Großbritannien eingeführte Waren die Herkunftsbezeichnung „Made in Germany“ tragen mußten.

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eingehend untersucht worden. Es mangelt sogar an Untersuchungen, die diese Frage anhand einer Erfindung in einem Unternehmen verfolgen. Solche Analysen sind schwierig, aber m. E. nicht völlig unmöglich. Die Korrelation zwischen steigenden Patentzahlen und Wirtschaftswachstum ist freilich zumindest ein klares Indiz für den positiven Nutzen des neuen, vereinheitlichten Patentschutzes; das wurde auch von den zeitgenössischen Experten so gesehen. Von nur 190 Patenten im Jahr 1877 sprang die Zahl auf über 4.000 erteilte Patente im Jahr 1890. Als im Jahr 1891 das Patentgesetz nach den Vorstellungen der Chemischen Industrie novelliert wurde und auch Stoffpatente zugelassen wurden, weil die Chemieindustrie bewußt neue Stoffe suchte und nicht mehr nur das Verfahren, sondern auch das Produkt selber geschützt haben wollte, stieg die Zahl sofort auf 5.500 Patente.²⁵ Bis zur Jahrhundertwende verharrte sie auf dem Niveau von 5.000 bis 6.500 jährlich erteilten Patenten. Dann gab es einen erneuten Sprung in den Patenterteilungszahlen. In den letzten fünf Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden im Durchschnitt jährlich über 12.000 Patente zugesprochen. Die Verteilung der Patente über die Industriezweige in der Periode zwischen 1877 und 1914 mag vielleicht noch etwas aufschlußreicher sein, als die absoluten Zahlen der Patenterteilungen. Der Löwenanteil der Patente ging weder an die Chemische Industrie noch an die Elektrotechnische Industrie, die in der wirtschaftshistorischen Forschung gemeinhin als die innovativsten Industriezweige im Kaiserreich gelten, sondern an die Metallverarbeitende Industrie, speziell an den Maschinenbau. 1877/78 wurden fast 40 Prozent aller Patente im Deutschen Reich für den Bereich der Metallverarbeitung (sogar unter Ausschluß des Dampfmaschinenbaus, des Fahrzeugbaus und des elektrischen Anlagenbaus) vergeben, während die Chemieindustrie nur 4 Prozent und die Elektroindustrie nur 1 Prozent aller Patente erhielt. 1913 führte die Metallverarbeitende Industrie immer noch mit 32,5 Prozent, während der Anteil der Chemischen Industrie auf 11 Prozent und der Anteil der Elektrotechnischen Industrie auf 8,4 Prozent gestiegen war. In Relation zur relativen Größe der Industrie lag die Zahl der erteilten Patente für die Chemieindustrie aber weit über dem Durchschnitt, beschäftigte sie doch nur 1,4 Prozent aller gewerblich Beschäftigten im Jahr 1878 und nur 2,5 Prozent aller industriell Beschäftigten im Jahr 1913. Doch auch die Metallverarbeitende Industrie – selbst unter Einschluß des Dampfmaschinen- und Fahrzeugbaus und der Elektrotechnischen Industrie – hatte einen verhältnismäßig schmalen Anteil

 Dazu grundlegend Arndt Fleischer: Patentgesetzgebung und chemisch-pharmazeutische Industrie im Deutschen Kaiserreich (1871– 1918). Stuttgart 1984.

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Das Patentgesetz von 1877

an der Gesamtzahl der gewerblich Beschäftigten: nur 12,3 Prozent im Jahr 1878 und 17,4 Prozent im Jahr 1913, während diese Industriezweige gemeinsam in beiden Jahren über 46 Prozent aller Patente zugesprochen bekamen.²⁶ Dieser Vergleich sehr kruder Strukturdaten kann natürlich nur begrenzte Aufschlüsse vermitteln. Der Berliner Wirtschaftshistoriker Wolfram Fischer hat schon vor geraumer Zeit darauf hingewiesen, daß man über den Zusammenhang von Patenterteilung und Wirtschaftswachstum mehr herausbekommen könne, wenn man sich die von Walter G. Hoffmann in den 1960er Jahren ermittelten Wachstumsraten spezifischer Industriezweige im Kaiserreich genauer anschauen²⁷ und Patentzahlen und Wachstum in kleineren Brancheneinheiten als der monströsen Metallverarbeitenden Industrie untersuchen würde. Eine zukünftige Forschung muß – so Fischer – dabei den Zeitfaktor, den time-lag zwischen einer Erfindung und ihrem ökonomischen Effekt berücksichtigen und auch Methoden entwickeln, um die ökonomische Bedeutung eines Patents zu gewichten.

 Alle Zahlen nach Wolfram Fischer: The Role of Science and Technology in the Economic Development of Modern Germany. In: Science, Technology and Economic Development. A Historical and Comparative Study. Hrsg. von Walter Beranek/George Ranis. New York u. a. 1978, S. 71– 113, hier. S. 95 f.  Walther Gustav Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin/Heidelberg/New York 1965.

Staat und Industrialisierung im Vormärz. Das Königreich Sachsen (mit Vergleichen zu Preußen) 1 Einleitung Die neuere Forschung hat die Bedeutung des Staates im deutschen Industrialisierungsprozeß erheblich niedriger veranschlagt, als es die ältere Geschichtsschreibung tat. Nicht zuletzt ist der borussophile Mythos eines industrialisierungsfördernden Preußen in den 1990er Jahren einem differenzierteren Bild gewichen.¹ Für Sachsen haben die wichtigen Arbeiten von Hubert Kiesewetter dazu beigetragen, daß die vor allem von Rudolf Forberger kultivierte Behauptung, der sächsische Staat habe stets und immer das Gedeihen der Industrie wohlwollend unterstützt, relativiert wurde.² Das gilt aber nur für die Zeit vor 1830. Nach 1830 bis zum Ende seines Untersuchungszeitraums 1871 sieht auch Kiesewetter die Rolle des sächsischen Staates im Industrialisierungsprozeß in einem positiven Licht, wenn er auch konzediert, daß der Staat keine langfristige wirtschaftspolitische Konzeption zur Unterstützung industrieller Unternehmen gehabt habe und Darlehen oder Zinsbeihilfen nur in Ausnahmefällen oder Notsituationen gewährte, weil die Überzeugung vorherrschte, der privatwirtschaftliche Kapitalismus würde sich selber finanzieren. Trotz Nuancierungen und Zwischentönen überwiegt bei ihm mithin ein positives Bild des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft im Vormärz. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Kiesewetter der Herausbildung einer massiven Unternehmeropposition seit Mitte der 1830er Jahre im industriellen Kerngebiet Südwestsachsen, die Hartmut Zwahr bereits in den 1970er

 Vor allem Eric D. Brose: The Politics of Technological Change in Prussia. Out of the Shadow of Antiquity 1809 – 1848. Princeton 1993; Rudolf Boch: Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814– 1857. Göttingen 1991; auch Clemens Wischermann: Preußischer Staat und westfälische Unternehmer zwischen Spätmerkantilismus und Liberalismus. Köln 1992.  Hubert Kiesewetter: Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im regionalen Industrialisierungsprozeß Deutschlands im 19. Jahrhundert. Köln 1988; ders.: Staat und Unternehmen während der Frühindustrialisierung. Das Königreich Sachsen als Paradigma. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 29 (1984), S. 1– 32; Rudolf Forberger: Die Industrielle Revolution in Sachsen 1800 – 1861. 2 Bde. Berlin 1982/Leipzig 1999; Ursula Forberger: Der sächsische Staat und die Fabrik in der Sicht von Rudolf Forberger 1800 – 1861. Unveröfftl. Manuskript 2000. DOI 10.1515/9783110534672-015

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Jahren eindrucksvoll beschrieben hat, nicht genügend Beachtung schenkt.³ Selbstverständlich erwähnt Kiesewetter die stets von der Regierung unerhört bleibenden Schutzzollforderungen der südwestsächsischen Baumwollspinnereibesitzer und Maschinenbauer. Er weiß auch um die eklatante Benachteiligung der Chemnitzer Region beim Eisenbahnbau der 1830er und 1840er Jahre. Den völlig unzureichenden Finanzierungsmöglichkeiten der frühindustriellen Wachstumsbranchen und dem mangelhaften Banksystem des Königreiches – ein weiterer, wichtiger Konfrontationspunkt der Unternehmer Südwestsachsens mit der Dresdner Regierung – räumt er in seinem Standardwerk aber nicht den gebührenden Platz ein. Der erheblichen Bedeutung dieser Unternehmeropposition im Vormärz, die letztlich eine neue Rolle des Staates im Industrialisierungsprozeß einforderte sowie schließlich der realen Fortentwicklung des Staates, der seit Mitte der 1840er Jahre – mehr durch die Verhältnisse gezwungen als gewollt – in ein neues Aufgabenregime einrückte und vor allem durch den nun staatlichen Eisenbahnbau in großem Stil sein antiquiertes Finanzgebaren revolutionieren mußte, wird Kiesewetters über weite Strecken brillante Darstellung sächsischer Wirtschaftsgeschichte insgesamt nicht gerecht. Kiesewetters Urteil über die Rolle des sächsischen Staates im Wirtschaftsprozeß des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts – dezidiert gegen Forbergers Interpretation gerichtet – verdient freilich Zustimmung. Allenfalls hätte stärker hervorgehoben werden können, daß sich die Dresdner Wirtschaftspolitik seit ihrer Neuorientierung 1827 in hohem Maße am Vorbild der von Peter Christian Beuth (1781– 1859) seit 1818 vorangetriebenen preußischen Gewerbeförderungspolitik orientierte.

2 Staat und Wirtschaft in Sachsen bis 1830 Seit 1798 hatte die Dresdner Regierung durch gezielte Förderung im alten merkantilistischen Stil – zehnjährige Quasimonopole für ausgesuchte Unternehmer, zinsverbilligte Darlehen, später dann Barzuschüsse und Spindelprämien – in großer Zahl die mechanische Baumwollspinnerei im Lande etabliert. Das war eine Branche, die durch den Schutz der Kontinentalsperre vor der überlegenen englischen Konkurrenz und den gesicherten Absatz der Garne in der bereits ver Hartmut Zwahr: Zur Klassenkonstituierung der deutschen Bourgeoisie. In: Ders.: Proletariat und Bourgeoisie in Deutschland. Studien zur Klassendialektik. Köln 1980. Vgl. auch Ders.: Vereinbarer und Bourgeoisrepublikaner. In: Ders.: Revolutionen in Sachsen.Weimar 1996, S. 109 – 121. Neuerdings auch Michael Rudloff: Industrielle Interessenvertretungen im Königreich Sachsen vor und in der Revolution 1848/49. Unveröfftl. Manuskript 2000.

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breiteten Baumwollweberei im Heimgewerbe bis 1814 einen ungeahnten Boom erleben sollte: 1812 zählte man 108 Maschinenspinnereien mit 255.904 Spindeln, mehr als in jedem anderen Staat des deutschsprachigen Raumes. Nach Aufhebung der Kontinentalsperre gingen freilich viele dieser kleinen, technisch mangelhaften Betriebe, da sie auf einem relativ freien Markt nicht bestehen konnten, wieder ein. In der langanhaltenden ökonomischen Nachkriegskrise nach 1815 verlor der sächsische Staat das Interesse an einer besonderen Förderung der Baumwollspinnerei. Mehr noch: In Abkehr von einigen merkantilistischen Denkmustern gewann offenbar – durchaus typisch auch für andere Staaten im Deutschen Bund – ein wirtschaftsliberales Credo in der Dresdner Bürokratie für eine Reihe von Jahren an Einfluß. Man glaubte, das Beste für die Wirtschaft zu tun, wenn man sich Eingriffen in die Wirtschaft möglichst enthalte. Einen adäquaten Rahmen für eine in die Freiheit entlassene Wirtschaft, etwa durch eine konsequente Reform des Zoll- und Abgabensystems, vermochte man in Dresden – im Gegensatz etwa zu Bayern oder Preußen – für quälend lange Jahre aber auch nicht zu setzen. Stattdessen behielt Sachsen zunächst ein System von Handelsbeschränkungen bei, in dem es weiter Brücken-, Wege- und Akzisegelder erhob. Erst 1827, als Friedrich August I. nach 64jähriger Regierungszeit im Alter von 77 Jahren starb, wurde im Königreich Sachsen ein Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik eingeleitet. Obwohl zur allgemeinen Enttäuschung der liberalen Kräfte im Lande der über 70jährige Anton, ein Bruder des verstorbenen Königs, den Thron bestieg, gelangten doch eine ganze Reihe zumeist junger und fähiger Beamter in wichtige Staatsämter. Zu dieser neuen Gruppe in der Spitze des Regierungsapparates gehörten etwa Bernhard August von Lindenau und Hans Georg von Carlowitz als Mitglieder des Geheimen Rats. Um sie herum entstand ein Personenkreis, der die Reformen von 1830/31 teilweise bereits konzeptionell vorbereitete und wesentlich mit prägen sollte. Zu diesem Kreis gehörte auch Eduard von Wietersheim, der als Kreishauptmann von Plauen in seiner Denkschrift „Die Unterstützung des Fabrikwesens betreffend“ im Oktober 1827 mit der sächsischen Gewerbepolitik seit 1815 ins Gericht ging: „Die Mittel Sachsens zu direkter Unterstützung des Gewerbes haben sich seit 1815 beinahe in dem Grade vermindert, in welchem der innere Bedarf einer solchen sich vermehrt und auswärts ein neues, reges Leben in den Nachbarstaaten sich entwickelt hat.Was Regierungen und Volk in Preußen, Bayern und selbst in Österreich auf vielfache Weise jetzt für das Gewerbe tun, ist bedeutend und die Frucht unverkennbar.“ Wietersheims Vorschläge zielten letztlich auf eine Nachahmung der Beuth’schen Gewerbeförderungspraxis, um den sichtbaren Niedergang der sächsischen Maschinenspinnerei und des Maschinenbaus – Wietersheim stellte ihn in seiner Denkschrift schonungslos dar – aufzuhalten. Er forderte einen jährlichen Fond

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von 100.000 Talern „ausschließlich zur Unterstützung des Fabrikwesens“, die „Bildung mechanischer Institute“, „Anschaffung von Modellen, Reisen“ usw. und kritisierte scharf, „dass es den Behörden noch an derjenigen innigen Verbindung mit dem Handelsstande selbst fehlen würde“.⁴ Die von Chemnitzer Kaufleuten und Fabrikanten seit Ende 1826 erwogene Gründung eines „Industrievereins für das Königreich Sachsen“ stieß bei von Wietersheim und anderen Repräsentanten dieser Reformgruppe in der sächsischen Administration seit 1828 auf wohlwollende Unterstützung, erhofften sie sich doch eine Vermittlerrolle dieses Vereins zwischen Staat und gewerblicher Wirtschaft. Der im Februar 1829 vom König bestätigte „Industrieverein“ sollte mehr oder weniger explizit dem Vorbild des 1821 in Preußen unter Federführung Beuths gegründeten „Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes“ folgen – auch im anfänglichen Selbstverständnis seiner Chemnitzer Protagonisten.⁵ Obwohl sich sein neunköpfiges Direktorium nur aus Kaufleuten und Fabrikanten zusammensetzte, und der Verein seit 1830 recht selbstbewußt eigene Vorschläge zur Staatsreform unterbreitete, verstand sich der Industrieverein anfangs keineswegs als erste „Selbstorganisation“ der Wirtschaft in Sachsen.⁶ Er agierte bestenfalls als industrielle Interessenvertretung und sachverständiges Konsultativorgan der Dresdner Regierung zugleich. Die Regierung stellte für mehrere Jahre sogar den Geschäftsführer des Vereins, dessen Mitglieder sich zu einem großen Teil aus dem Wirtschaftsbürgertum der südwestsächsischen Gewerberegionen rekrutierten, und subventionierte die Vereinsarbeit mit 500 Talern jährlich. Erst in den späten 1830er Jahren ging der Verein auf eine gewisse Distanz zum Staat, und begann die Dresdner Wirtschaftspolitik zunehmend heftiger zu kritisieren. Dem Beispiel des 1827 von Beuth in Berlin gegründeten „Gewerbe-Instituts“ folgte auch die Eröffnung der „Königlich Technischen Bildungsanstalt“ im Jahr 1828 in Dresden. Sie sollte, dem Berliner Vorbild und dem Zeitgeist folgend, die Entwicklung von Technik und Wissenschaft an zukünftige Mechaniker, an Fa-

 Alle Zitate aus: Untertänigstes Memoire, die Unterstützung des Fabrikwesens betreffend. Abgedruckt in: Curt Bökelmann: Das Aufkommen der Großindustrie im sächsischen Wollgewerbe. Heidelberg 1906, S. 88 ff. (Beilage 3).  Die anvisierten Aufgaben wurden von den Initiatoren aus Chemnitz wie folgt umrissen: „1. Aufklärung über die Bedürfnisse der sächsischen Industrie und technischen Bildung verbreiten; 2. Gemeinnützige Unternehmungen und Einrichtungen aller Art ins Werk setzen, oder wenigstens fördern und anregen; 3. Bei allen, von den Staatsbehörden für nötig befundenen, Vernehmungen mit dem sächsischen Fabrikstande gleichsam als sachverständiges Organ dienen […]“ St.A.D., LMKD, Loc. 11172, vol. Ib, Bi. 617. Acta. Die Einrichtung eines Industrievereins für das Königtum Sachsen betr., 1827– 1830, zit. nach Kiesewetter: Industrialisierung (wie Anm. 2), S. 87.  Vgl. hierzu auch das kritische Urteil bei Heinrich Best: Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Göttingen 1980, S. 87 f.

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brikantensöhne usw. vermitteln, die diese dann wiederum direkt und rasch in der gewerblichen Produktion anwenden sollten. Es dauerte aber noch fast ein Jahrzehnt, bis eine solche Anstalt auch im eigentlichen gewerblichen Zentrum des Königreichs, in Chemnitz und seinem Einzugsbereich, eingerichtet werden sollte. In Ansätzen orientierte sich die sächsische Regierung bereits vor den Verfassungs- und Verwaltungsreformen im Gefolge der Unruhen von 1830 an der in Preußen – nachdem die frühen liberalen „Blütenträume“ dort rasch zerstoben waren – seit fast einem Jahrzehnt etablierten Gewerbeförderungspolitik, die durch Methoden, deren merkantilistischer Charakter häufig nicht zu leugnen war, die Privatwirtschaft zu einem adäquaten Agieren in einer liberalen Konkurrenzwirtschaft „erziehen“ oder – schwächer ausgedrückt – „anleiten“ sollte. Zu dieser starken Bezugnahme auf preußische Vorbilder stand keinesfalls im Widerspruch, daß Sachsen mit der von ihm forcierten Gründung des „Mitteldeutschen Handelsvereins“ 1828 bestrebt war, nicht zu sehr in das ökonomische und machtpolitische Gravitationsfeld des nördlichen Nachbarn zu geraten.

3 Die untergeordnete Rolle der Industrie im Gesamtsystem und die Herausbildung einer Unternehmeropposition Als der gemäßigt liberale, vom Geist der Aufklärung und der romantischen Klassik geprägte von Lindenau im September 1830 den bis dahin allmächtigen Kabinettsminister von Einsiedel ablöste, orientierten sich die Reformgesetze der Regierung Lindenau in den folgenden Jahren ebenfalls in hohem Maße – im Sinne einer nachholenden Modernisierung – an den Preußischen Reformen von 1807 bis 1812, gingen zum Teil aber deutlich darüber hinaus. Die Verfassungs-,Verwaltungs-, Agrarund Städtereformen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, schufen zweifellos – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – wesentliche Voraussetzungen für eine Institutionalisierung anhaltenden ökonomischen Wachstums in Sachsen. Für eine Darstellung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft im Königreich Sachsen der 1830er und 1840er Jahre war es freilich von erheblicher Bedeutung, ob die Reformer dezidiert eine forcierte Industrieentwicklung anstrebten oder – wie in Preußen – nur die institutionellen Rahmenbedingungen für ein allgemeines und sozialharmonisches gewerblich-agrarisches Wachstum schaffen wollten. Leider gibt es keine Untersuchung zu den Denkkategorien, dem Erfahrungshorizont und den Handlungszielen der historischen Akteure in der sächsischen Administration, wie sie Eric D. Brose⁷ für das vormärzliche Preußen geleistet hat. Spezifische Defizite in-

 Vgl. Anm. 1. Der „Schöngeist“ von Lindenau, bekannter Sammler der Kunst der Antike und der

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nerhalb der Reformgesetzgebung sowie die Praxis der Gewerbeförderung und der Entscheidungsfindung bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen des Staates deuten aber unmißverständlich darauf hin, daß die entscheidenden Kräfte innerhalb der neuen Dresdner Regierung den Fabrikanteninteressen keineswegs einen Vorrang einräumten. Allenfalls war man in Dresden bereit, spezifische industrielle bzw. kommerzielle Interessen angemessener als zuvor zu berücksichtigen. Das drückte sich etwa darin aus, daß man für die Zweite Kammer der neuen Ständeversammlung dem „Handels- und Fabrikwesen“ fünf Vertreter zusätzlich zu den 25 Abgeordneten der Städte zugestand; eine Entscheidung, die höchstens als wohlwollende „Aufmerksamkeit“ bewertet werden kann, änderte sie doch an der agrarisch dominierten Zusammensetzung beider Kammern gar nichts. Dieses Zugeständnis ging kaum über jenen „konservativen Kompromiß“ (Lademacher) hinaus, in welchem die preußische Regierung bereits in den 1820er Jahren in ihrer gewerbereichen Rheinprovinz dem Wirtschaftsbürgertum der Städte ein Drittel der Abgeordneten im Provinziallandtag als Ausnahmeregelung im Gesamtstaat zugesprochen hatte, um die verbreitete Unzufriedenheit in dieser – in napoleonischer Zeit politisch bevorrechteten – Sozialgruppe einzudämmen. Entgegen den preußischen Provinziallandtagen hatte die sächsische Ständeversammlung zwar das Recht, den Staatshaushalt und die Gesetze zu bewilligen. Die Dresdner Ständeversammlung durfte aber selbst keine Anträge einbringen und zur Ablehnung der Vorlage der Krone war die Übereinstimmung beider Kammern bzw. eine Zweidrittelmehrheit in einer Kammer erforderlich. Daß die neu etablierten Kammern ohnehin nicht industriellen Interessen, sondern agrarischen und – falls dazu nicht in Widerspruch stehend – den Interessen der Leipziger Großhändler und Bankiers folgten, zeigten einige Entscheidungen der frühen 1830er Jahre. Obwohl der Chemnitzer Industrieverein einige Regierungsmitglieder offenbar davon überzeugen konnte, daß für ein weiteres ökonomisches Wachstum Fundamentalbranchen, wie der Maschinenbau und die Eisenindustrie, offensiv – trotz geringer Innovationsbereitschaft des wohlhabenden Bürgertums – gefördert werden müßten,⁸ ging ein entsprechender parlamentarischer Vorstoß unter. Die von der sächsischen Regierung 1833 offiziell beantragte Bildung eines Aktienvereins zur Unterstützung besonders wichtiger industrieller Unternehmen, mithin von „Schlüsselindustrien“, für den der Staat eine bescheidene Garantie von 50.000 Talern übernehmen wollte, wurde von

Renaissance, hatte möglicherweise ein ähnlich ästhetisches Verhältnis zur Industrie, wie es Brose für Beuth beschrieben hat. Beuth strebte deren „Vervollkommnung“ und die Fabrik als ein die Antike übertreffendes Kunstwerk an. Gleichzeitig sollte die deutsche Industrie, eingebettet in ein „gesundes“ agrarisches Umfeld, jener des Pioniers England moralisch überlegen sein. Die Industrialisierung als Prozeß permanenter Umwälzung lag außerhalb seines Denkhorizonts.  Vgl. Kiesewetter: Industrialisierung (wie Anm. 2), S. 678.

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beiden Kammern mit großer Mehrheit abgelehnt. Im selben Jahr 1833 vertagten die Kammern die Behandlung des Entwurfs einer neuen Gewerbeordnung, von der sich die Chemnitzer Industriellen und Textilverleger, aber auch einige Mitglieder des Dresdner Regierungsapparats wie von Wietersheim, eine erhebliche Lockerung des Zunftszwangs versprochen hatten. Erst der Landtag von 1839/40 stimmte einer mehrfach abgeschwächten Teilreform der Gewerbegesetzgebung aus dem Jahr 1767 (!) zu. Diese Reform beschränkte sich auf die Regelung bzw. nachträgliche gesetzliche Sanktionierung der gewerblichen Entwicklung auf dem Lande – klammerte mithin die Städte dezidiert aus – und hielt am wohlwollenden, freilich mit dem Geruch von Willkür behafteten Konzessionswesen der Dresdner Verwaltung fest.⁹ Von einer auch nur eingeschränkten Gewerbefreiheit war das sächsische Wirtschaftsbürgertum – es hatte ohnehin niemals eine unbedingte Gewerbefreiheit, wie in Preußen realisiert, auf seine Fahnen geschrieben – am Ende der 1830er Jahre genauso weit entfernt wie ein Jahrzehnt zuvor. Freilich waren die Industriellen und Verleger-Kaufleute der südwestsächsischen Gewerberegionen durch den Beitritt Sachsens zum Deutschen Zollverein im März 1833 erst einmal mit Dresden versöhnt worden. Dieser Beitritt gegen den massiven Widerstand des einflußreichen Leipziger Handelsbürgertums¹⁰ schien ihnen Beweis dafür, daß der sächsische Staat willens und fähig war, auch für ihre Interessen – der Industrieverein hatte schon seit Jahren eine entsprechende Handelspolitik eingefordert – zu agieren. Die zeitgleich gute Konjunktur der Jahre 1834 bis 1837 und die gesteigert optimistischen Zukunftserwartungen taten ein Übriges, um kritische Stimmen in der industriellen Unternehmerschaft verstummen zu lassen. Die Regierung gab außerdem gelegentlich Vorschüsse zur Neuerwerbung von Maschinen oder für die Erweiterung von Fabrikationsanlagen und setzte Prämien für Erfindungen und Verbesserungen aus. Schließlich hatte nach der Dresdner Polytechnischen Schule endlich auch 1836 in Chemnitz eine Gewerbeschule ihre Arbeit aufnehmen können.

 So wurden Konzessionen für Aktiengesellschaften nur vergeben, wenn sie nach Einschätzung der Bürokratie dem „Gemeinwohl“ dienten und die Produktion nicht genauso gut von einem einzelnen Unternehmer betrieben werden konnte. Darüber hinaus konnten empfindliche Auflagen erteilt werden. So durfte Johann Andreas Schubert (1808 – 1870), der 1838 in der Übigauer Maschinenbaufabrik Dampflokomotiven herstellen wollte, nicht mehr als 2,5 % Gewinn machen! Möglicherweise – leider bisher nicht untersucht – ist daran sein Unternehmen gescheitert.  Als „Trostpflaster“ für die Anpassung des Leipziger Großhandels an das preußische Zollsystem erhielt Leipzig für die Messezeiten den gleichen Zollrabatt, wie er bereits den preußischen Messestädten zugesprochen worden war. Vgl. Hans-Werner Hahn: Geschichte des Deutschen Zollvereins. Göttingen 1984, S. 75.

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Die nach 1837 im Gefolge der sog. amerikanischen Handelskrisis stark zurückgehende Konjunktur und eine anschließende mehrjährige „Stockungsphase“, die vor allem die jüngst expandierende Baumwollspinnerei und den aufstrebenden Maschinenbau empfindlich trafen, trieben den Chemnitzer Industriebezirk und mit ihm den Industrieverein aber in die Konfrontation mit der Staatsregierung. Die Krise machte nicht zuletzt die schwerwiegenden Mängel des Bank- und Finanzsystems des Königreichs Sachsen offenbar. Darunter hatte vor allem die „New Economy“, der Chemnitzer Maschinenbau, der wesentlich auf fremdes Kapital angewiesen war, zu leiden. „Als nach 1837 die Geschäfte stockten und die Kurse der meisten Aktiengesellschaften unter Pari sanken, fürchteten die Kapitalisten für ihr Geld und drängten manches Unternehmen zur Auflösung“.¹¹ Zwar genehmigte die Regierung 1838 die Gründung der Leipziger Bank als erste Notenbank auf Aktienbasis mit einem Kapital von 1,5 Millionen Talern. Der Auflage der Regierung zur Gründung einer Filiale in Chemnitz kam die wesentlich den Interessen des Leipziger Handelskapitals verpflichtete Bank jedoch nicht nach. Unter verschiedenen Vorwänden wurde die Eröffnung einer Zweigstelle immer wieder hinausgeschoben, da es in jenen Jahren offenbar lukrativere Geschäftsfelder als den Maschinenbau oder die Maschinenspinnerei gab.¹² Ernüchtert schrieb im Dezember 1839 Friedrich Georg Wieck, ein Protagonist des Chemnitzer Industrievereins, in seinem in Chemnitz erscheinenden „GewerbeBlatt für Sachsen“: „Eine Bank ist in Leipzig errichtet, aber im Lande merkt man nichts davon. Der dresdner Bank ist eine hinreichende Beteiligung zu wünschen, damit der leipziger Separatismus etwas besser balanciert wird.“¹³ Aber die Errichtung einer von Unternehmern aus Chemnitz geforderten „Nationalbank“ unter staatlicher Regie, „um Operationen der Industrie und des Handels zu erleichtern“,¹⁴ stieß in Dresden auf Ablehnung. Die Regierung überließ

 Zit. nach Fritz Hauptmann: Sachsens Wirtschaft und der soziale Gedanke 1840 – 1850. In: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 59 (1938), S. 129 – 172, hier S. 145. Hauptmann stützt sich auf eine Aussage des Gewerbe-Blatts für Sachsen, V, 1840, S. 242. Zwischen 1838 und 1840 meldeten fünf Chemnitzer Maschinenbaufabriken Konkurs an, nicht zuletzt auch deshalb, weil Aufträge aus der Textilindustrie fehlten.  „Die Unsicherheit des industriellen Status quo hält die Kapitalisten ab, sich bei der Industrie zu interessieren.“ Zit. nach Gewerbe-Blatt für Sachsen, IV, 1839, S. 283.  Ebd., S. 387.  Mitteilungen des Industrievereins, Nr. 7, 1839, S. 49. Noch 1835 waren führende Unternehmer Südwestsachsens freilich der Ansicht, auf eine staatliche Initiative im Bankwesen verzichten zu können, da ihnen von anlagesuchenden privaten Finanziers genügend und vergleichsweise billiges Kapital zur Verfügung gestellt wurde (vgl. Kiesewetter: Sachsen als Paradigma [wie Anm. 2], S. 11). Die Attraktivität der „New Economy“ für private Kapitalgeber hatte aber seitdem stark

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dieses Feld auch in der Folgezeit den Leipziger Bankiers. Bis zur Gründung der Chemnitzer Stadtbank im Jahr 1849 verstummten daher die Klagen aus dem Chemnitzer Industriebezirk nicht. Zu einem zweiten Konfrontationspunkt entwickelte sich die Forderung der in Südwestsachsen konzentrierten Baumwollspinnereibesitzer nach höherem Zollschutz für gesponnenes Garn. Auch hier folgte die Regierung den Interessen der großen Handels- und Bankhäuser in Leipzig, die in großem Stil englische Garne für die Weiterverarbeitung in der weithin noch heimgewerblichen Weberei importierten. Freilich nahm sie damit zugleich auch auf die Interessen der von billigem englischem Garn profitierenden, quasi-handwerklichen Baumwollweberei Rücksicht, die in Sachsen immerhin sechsmal soviel Personen beschäftigte wie die mechanischen Spinnereien.¹⁵ Die sächsische Regierung stimmte daher auf den Zollvereinskonferenzen stets mit Preußen zusammen gegen die süddeutschen Staaten, die die schutzzöllnerischen Interessen der vor allem in Baden und Württemberg konzentrierten, vergleichsweise modernen Baumwollspinnereien vertraten. Erst 1846 konnten die süddeutschen Regierungen eine Kompromißlösung durchsetzen, aber die vorgenommene Erhöhung der Garnzölle von 2 auf 3 Taler half den Baumwollspinnereibesitzern nur wenig, da sie die feineren Garne, in denen Großbritannien den Zollvereinsmarkt beherrschte, zu wenig schützte. Die Zollerhöhung bot mithin den Unternehmern keinen Anreiz, um in neue Anlagen zur Herstellung feinerer Garnsorten zu investieren. Zu einem dritten Streitpunkt zwischen Chemnitzer Unternehmerschaft und Dresdner Regierung entwickelte sich der Eisenbahnbau. Schon vergleichsweise früh hatte sich das Chemnitzer Wirtschaftsbürgertum für den Eisenbahnbau und eine bessere verkehrstechnische Anbindung der Stadt und der umliegenden Gewerberegion engagiert. 1835 wurde ein provisorisches Eisenbahnkomitee gegründet, dem führende Kommunalpolitiker der interessierten Städte und Persönlichkeiten aus dem Wirtschaftsleben angehörten. Aus ihm erwuchs zwei Jahre später die „Erzgebirgische Eisenbahngesellschaft“. Da die „Erzgebirgische Bahn“ in Riesa an der Elbe an die bereits weitgehend fertiggestellte Leipzig-Dresdner Strecke angeschlossen werden sollte, sah das Leipziger Handelsbürgertum in dieser ein gefährliches Konkurrenzunternehmen für die von ihr geplante Linie über Altenburg und Plauen nach Bayern. Sie fürchtete, daß alle über den Elbhafen Riesa gehenden und nach Bayern oder den Südwesten Sachsens bestimmten

nachgelassen, und die Finanzierungsmöglichkeiten verschlechterten sich – für mehr als ein Jahrzehnt – drastisch.  Vgl. Hauptmann: Sachsens Wirtschaft (wie Anm. 11), S. 150.

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Waren unter Umgehung der Messestadt auf der „Erzgebirgischen Bahn“ transportiert werden würden. Der Landtag von 1839/40, auf dem die künftige Eisenbahnpolitik Sachsens festgelegt wurde, endete mit einem eindeutigen Sieg des Leipziger Handelsbürgertums. Angesichts der Möglichkeit einer Umgehung des Landes Sachsen im Westen durch den Bau einer Fernstrecke Nord-Süd durch die thüringischen Kleinstaaten traten beide Kammern dafür ein, zunächst die direkte Eisenbahnlinie Leipzig-Bayern zu bauen, bevor die Linie Zwickau-Chemnitz-Riesa oder jene nach Schlesien und Böhmen ausgeführt wurden.¹⁶ Für die Pläne des Leipziger Eisenbahnkomitees sprach aus Sicht der Staatsregierung auch, daß die Leipziger Großhändler und Bankiers die Gewähr dafür zu bieten schienen, das Kapital für den Bau ihrer Strecke auf dem privaten Kapitalmarkt zu organisieren, und daß sich der sächsische Staat – im Gegensatz zu fast allen anderen deutschen Mittelstaaten – weiterhin weitgehend aus der Eisenbahnfinanzierung heraushalten konnte, trotz vergleichsweise gesunder Staatsfinanzen. Die Chemnitzer hatten dagegen in ihrer Petition an den Landtag eine Beteiligung des Staates in der zukünftigen Eisenbahnfinanzierung eingefordert.¹⁷ So geschah es, daß bis in die zweite Hälfte der 1840er Jahre – im Gegensatz zu Rheinland und Westfalen, wo der preußische Staat ähnlichen Ambitionen der Handelsstadt Köln hinsichtlich der Streckenführung entgegentrat – die Kernregion der Industriellen Revolution in Sachsen von den Eisenbahnen umgangen wurde. Erst am 1. Juli 1845, acht Jahre nach dem ersten Konzessionsantrag, gab die Regierung die Erlaubnis für den Bau der Strecke Chemnitz-Riesa; man hatte sich in Dresden aber nur zu einer Staatsbeteiligung von 25 Prozent durchringen können, der Rest der geplanten Baukosten sollte durch private Aktienzeichnung aufgebracht werden. Wertvolle Jahre gingen ins Land, in denen m. E. die industrielle Entwicklung in Südwest-

 Alle Angaben nach Peter Beyer: Leipzig und der Plan einer Eisenbahnverbindung zwischen Sachsen und Bayern. In: Sächsische Heimatblätter 11 (1965), S. 98 – 125, hier S. 107, 111.  Vgl. Petition an die hohe Ständeversammlung für Erbauung einer Eisenbahn von der Lausitz durchs Erzgebirge und Voigtland bis zur baierischen Nordgrenze. Abgedruckt in: Gewerbe-Blatt für Sachsen, IV, 1839, S. 288 ff.: „Definitive Vorschläge für die Modalität der Ausführung werden nicht eigentlich unterbreitet. Sie würde, bei dem blühenden Zustande der Finanzen unseres Landes, weniger Schwierigkeiten begegnen, als in irgendeinem anderen Staate […] sollte es in dem Ermessen der Staats-Regierung liegen können, den Unternehmern nur 3 p. C. Zinsen des angelegten Kapitals zu verbürgen: so würde die Ausführung aus Privatmitteln nicht die entfernteste Schwierigkeit finden […] Nicht minder ist dies zu versichern, wenn der Staat zu gleichen Teilen mit den Mitgliedern der bereits bestehenden Eisenbahn-Vereine die benötigten Kapitale […] aufzubringen für gut findet […]“

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sachsen – mit Ausnahme der Kohleförderung im Zwickauer Kohlebecken¹⁸ – durch ein unzureichendes Bankensystem und v. a. durch die fehlende Eisenbahnanbindung an Dynamik verlor. Dennoch leistete etwa der Chemnitzer Maschinenbau als junger Industriezweig Erstaunliches: 1845 wurden für ca. eine Millionen Taler Maschinen gefertigt¹⁹ und von 197 im Jahr 1846 in Sachsen laufenden Dampfmaschinen waren immerhin 97 in Chemnitz produziert und weitestgehend im Pferdetransport an ihre Bestimmungsorte geliefert worden.²⁰ Das Wirtschaftsbürgertum Südwestsachsens – insbesondere die Spinnereibesitzer und Maschinenbaufabrikanten, in gewichtigen Punkten aber auch die Verleger-Kaufleute der „Old Economy“, der Hausweberei, Strumpfwirkerei usw. – sah sich bis zur Mitte der 1840er Jahre mithin mit einem Staat konfrontiert, der in seinem antiquierten Finanzgebaren dem Nachbarstaat Preußen, trotz wesentlich besserer Finanzlage, kaum nachstand, und dem es an Bereitschaft zu mangeln schien, adäquate infrastrukturelle, finanz-, bank- und zollpolitische sowie gewerberechtliche Rahmenbedingungen für anhaltendes wirtschaftliches Wachstum herzustellen.²¹ Dieser Staat betrieb zweifellos Gewerbeförderung, aber mit vergleichsweise bescheidenen Summen und zumeist symbolisch. Mit Maschinengeschenken und gelegentlichen Kreditvergaben an einige wenige Unternehmer ließ sich – das war auch die Kritik rheinisch-westfälischer Wirtschaftsbürger in den 1840er Jahren am preußischen System Beuth²² – keine gezielte Modernisierung des Produktions-

 Durch das Engagement finanzstarker Leipziger Kaufleute und Bankiers (Carl und Gustav Harkort, Albert Dufour-Feronce) hatte der Ausbau der Steinkohleförderung nicht unter Kapitalmangel zu leiden. Außerdem wurde das Steinkohlerevier bereits 1845 durch eine Seitenbahn mit der ersten fertiggestellten Teilstrecke Werdau-Leipzig der Sächsisch-Bayerischen Eisenbahn verbunden.  Herbert Pönicke: Die wirtschaftlichen Führungsschichten in Sachsen von 1790 – 1850. In: Herbert Helbig (Hrsg.): Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350 – 1850. Teil I. Limburg/Lahn 1973, S. 167– 201, hier S. 183.  Wolfgang Uhlmann: Die Konstituierung der Chemnitzer Bourgeoisie während der Zeit der bürgerlichen Umwälzung von 1800 bis 1871. Diss. (MS) Dresden 1988, S. 45.  Wie stark das antiquierte Gewerberecht die Herausbildung moderner Handelsstrukturen als notwendiges Pendant zur gewerblich-industriellen Entwicklung in Sachsen behinderte, hat Heidrun Homburg in ihren Studien zum Leipziger Einzelhandel herausgearbeitet.  Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 129, 336. Bereits 1832 kritisierte der Elberfelder Baumwollspinnereibesitzer Peter Conrad Peilt in einem Separatvotum für die dortige Handelskammer, daß es nicht mehr genüge, den Unternehmern hin und wieder neue Maschinentypen zu schenken, Mechaniker in Gewerbeschulen auszubilden und auf die Faszination der Technik bei den Fabrikanten zu setzen. Die Regierung müsse ihre neue Rolle akzeptieren, den wirtschafts- und zollpolitischen Rahmen für ausreichende Rentabilität des eingesetzten Kapitals zu schaffen, denn „die Menschen sind schon zu klug geworden, als daß sie an die Wunder der Mechaniker glauben, die ohne irgendeine vernünftige Basis Fabriken bauen und einrichten sollen“ (S. 129).

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apparats erreichen, wenn sich der Staat gleichzeitig der neuen Rolle, wachstumsfördernde Rahmenbedingungen zu setzen, verweigerte. Die Staatsräson des sächsischen Staates im Vormärz war der Erhalt des Status quo. In dieser Zielsetzung konnte der vergleichsweise entwickelte Gewerbesektor eine Rolle bei staatlichen Entscheidungsprozessen spielen, aber doch eher im Sinne des Erhalts und der sozialen Befriedung des Kleingewerbes, wie sich an der Zollpolitik, der überaus zögernden Einführung von Elementen der Gewerbefreiheit und verschiedenen Vorstößen des Staates zur Förderung der Konkurrenzfähigkeit der Hausindustrie nachweisen läßt.²³ Im Zweifelsfall aber waren die vom Staat definierten Interessen des gewerblichen Sektors, einschließlich der Industrie im modernen Sinne, den sich in den beiden Kammern des Landtages manifestierenden großagrarischen Interessen²⁴ oder den Interessen des Leipziger Handelsund Bankkapitals, das 1846 fast die gleiche Steuersumme aufbrachte wie alle Fabriken, Manufakturen und Kohlegruben Sachsens zusammengenommen,²⁵ untergeordnet – deutlich sichtbar bei den Entscheidungen zum Eisenbahnbau bis 1845, der Bankpolitik und, mit Einschränkungen, der Zollpolitik. Die offenbar sehr enge, „vertrauensvolle“ Verbindung von Teilen der Dresdner Bürokratie mit dem Leipziger Handels- und Bankkapital²⁶ fand im vormärzlichen Preußen, in dem vor allem die rheinischen, aber auch die Stettiner oder Breslauer Bank- und Handelshäuser bereits stark in der Industriefinanzierung engagiert waren, keine eigentliche Entsprechung. Dagegen waren die bürokratischen Eigeninteressen besonders der konservativen Teile des preußischen Staatsapparates, in den Bergbaubehörden, im Postwesen sowie in der staatseigenen Industriefinanzierungsbank und Industrieholding „Seehandlung“ ohne Entsprechung in Sachsen, ja im gesamten Zollverein. Mit einer Bürokratie, die sich einen direkten Einfluß auf Industrie und Energiegewinnung sichern oder gar einen dauerhaft staatlichen Sektor im Wirtschaftsleben, wie die „Seehandlung“, etablieren wollte,

 Hauptmann: Sachsens Wirtschaft (wie Anm. 11), S. 149 f.  So stimmten beide Kammern 1843 anläßlich der Herstellung der steuerlichen Gleichbehandlung bei der Grundsteuer der Ausgabe der erheblichen Summe von 4 Mio. Talern Staatsobligationen „zur Entschädigung der bis dahin Steuerfreien“ (d. h. der Rittergutsbesitzer) zu. Vgl. Karl Borchard: Staatsverbrauch und Investitionen in Deutschland 1780 – 1850. Göttingen 1968, S. 95.  Vgl. Wolfgang Zeise: Die bürgerliche Umwälzung. In: Karl Czok (Hrsg.): Geschichte Sachsens. Weimar 1989, S. 333 – 380, hier S. 346.  Vgl. Anette Zwahr: Zur Politik der Bourgeoisie in Sachsen von Februar bis September 1848. In: Helmut Bleiber (Hrsg.): Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789 – 1871. Berlin 1977, S. 331– 360, hier S. 331 f.; Zwahr: Vereinbarer (wie Anm. 3), 109 ff.

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hatten die sächsischen Unternehmer nicht zu kämpfen.²⁷ Ein Peter Christian Beuth fand zwar in Sachsen sein Pendant in von Wietersheim oder in von Lindenau, einen Staatsrat Christian Rother brachte der sächsische Staat des Vormärz, der letztlich dem liberalen Credo der für die Allgemeinheit positiven Wirkung der Marktkräfte verpflichtet blieb, aber nicht hervor.²⁸ Für die gewerblichen und industriellen Unternehmer in Sachsen und Preußen galt freilich gleichermaßen, daß ihre materiellen und ideellen Interessen – mithin auch ihre Vorstellungen von einem neuen Aufgabenregime des Staates – von untergeordneter Bedeutung blieben. Das brachte Georg Friedrich Wieck ernüchtert 1839 im Gewerbe-Blatt für Sachsen zum Ausdruck: „In England ist diese neumodische Industrie zur größten Macht gelangt; sie sitzt wie eine Königin Viktoria auf dem Thron und alle Verhältnisse des Volkes sind ihr unterthan. In Deutschland aber wird die Industrie als eine Magd betrachtet. – Sie ist da, um zu arbeiten; man rühmt sie, man sucht für sie ein gutes Unterkommen, gibt ihr ein vortreffliches Attestat; aber an dem Ehrentische des Staates sitzen Damen und – moquiren sich. – Das ist der Unterschied: Die deutsche Industrie ist einfach, bürgerlich schlicht, sie bittet höflich, macht bescheidene Ansprüche und läßt sich mit höheren staatswirtschaftlichen Rücksichten abspeisen.“²⁹

 Die einflußreichen preußischen Bergbaubehörden hielten zäh am Lenkungsanspruch über den privaten Bergbau, am sog. Direktionsprinzip, fest und investierten in den 1840er Jahren massiv in die staatseigenen Kohlegruben in Schlesien und an der Saar, vor allem aber in neue Puddel-Werke und Hochöfen. Die „Seehandlung“ war im Zeitraum von 1830 bis 1848 immerhin für fast 10 % der industriellen Nettoinvestitionen in Preußen, schwerpunktmäßig in Schlesien und Brandenburg, zuständig. Zusammen mit den Investitionen der Bergbaubehörden in die Schwerindustrie und der Armee in neue Geschützfabriken und Pulvermühlen wurde dadurch der Staatsanteil an den industriellen Nettoinvestitionen von ca. 4– 5 % zu Beginn der 1820er Jahre auf durchschnittlich 11– 12 Prozent im Zeitraum 1830 – 1848 gesteigert. Kurz vor der Revolution lag er bei immerhin 17 %. Alle Angaben nach Brose: Technological Change (wie Anm. 1), S. 207.  Staatsrat Christian Rother (1778 – 1849) leitete die „Königliche Seehandlung“ von 1818 bis 1848, mithin über 30 Jahre. Im Gegensatz zum liberalen Beuth war er ein dezidierter Konservativer mit starkem Einfluß auf Friedrich Wilhelm III. und seinen Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. Nur der Staat, davon war Rother überzeugt, agiere im Interesse des Allgemeinwohls, während die privaten Unternehmer nur ihrem Profitstreben folgten, das nicht notwendig mit dem Gemeinwohl zusammenfalle. Daß Rother und die hinter ihm stehenden hochkonservativen Kreise an einem dauerhaft einflußreichen staatlichen Sektor in der Gewerbewirtschaft interessiert waren, zeigt die Tatsache, daß trotz Absichtserklärungen selbst florierende Seehandlungsbetriebe bis 1848 nie an interessierte Privatleute verkauft wurden.  Gewerbe-Blatt für Sachsen, IV, 1839, S. 323 f.

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4 Auf dem Weg zu einem neuen staatlichen Aufgabenregime Die Ernüchterung und Verbitterung in großen Teilen des Wirtschaftsbürgertums vor allem Südwestsachsens zu Beginn der 1840er Jahre ging mit dem Aufleben einer liberalen Opposition im Königreich einher, die sich an der Pressezensur, dem ständischen Landtagswahlrecht und der noch von feudalem Geist geprägten Strafprozeßordnung entzündete. Alles in allem breitete sich eine bisher nicht gekannte Atmosphäre freier öffentlicher Diskussion politischer, wirtschaftlicher und sozialer Angelegenheiten aus. Zwar bezog das Gros der Unternehmer eine abwartende, politisch indifferente Haltung,³⁰ und nur eine kleine Gruppe junger Textil- und Maschinenbaufabrikanten aus dem Raum Chemnitz und dem Vogtland um Jakob Bernhard Eisenstuck, Evan Evans und Franz Mammen entwickelte linksliberale – 1848 sogar republikanische – Positionen.³¹ Der Legitimationsverlust der Regierung von Lindenau nahm aber offenbar eine solche Dimension an, daß sich die sächsische Dynastie – ermuntert durch den zeitgleichen „Rechtsruck“ in der preußischen Politik – zu einem konservativen Kurswechsel entschloß. Im September wurde von Lindenau als Vorsitzender des Gesamtministeriums durch Traugott von Könneritz, der seit den 1830er Jahren immer konservativere Positionen eingenommen hatte, abgelöst. Wie in Preußen folgten auch in Sachsen diesem Kurswechsel nach einiger Zeit, zwecks innenpolitischer Befriedung, dosierte Zugeständnisse an wirtschaftsbürgerliche Interessen. In Preußen, das weiterhin auf privaten Bahnbau setzte, wurden unter anderem eine staatliche Zinsgarantie für alle Bahnlinien in Höhe von 3,5 Prozent sowie eine weitgehende Steuerbefreiung der Bahngesellschaften eingeführt und die „Staatsholding“ mit Namen „Seehandlung“ – zum Verdruß vieler privater Unternehmer der größte Gewerbetreibende in Preußen mit einem Anlagekapital von 8,5 Millionen Talern – in ihren geschäftlichen Aktivitäten gebremst. In Sachsen wurde 1845 die Chemnitz-Riesaer Bahn mit Staatsbeteiligung an einem Viertel der Baukosten konzessioniert. Beide Regierungen ließen außerdem auf der Zollkonferenz von 1846 eine leichte Erhöhung der Zölle für Baumwollgarne zu. Nach dem Vorbild der preußischen Regierung hatte das sächsische Ministerium des Innern bereits im Mai 1845 als wohlwollende Geste zu einer „Beratung von Sachverständigen“ nach Dresden eingeladen, die eine Abkehr von den selbstherrlichen bürokratischen Entscheidungsprozessen versprach. Doch ähnlich wie die Berliner Veranstaltung für die rheinischen Unternehmer wurde die nur auf zwei Tage begrenzte „Dresdner

 Das war durchaus auch bei dem zeitgleichen Entstehen einer eher wirtschaftsbürgerlich geprägten liberalen Bewegung in der preußischen Rheinprovinz der Fall.  Vgl. Zwahr: Vereinbarer (wie Anm. 3), S. 109 – 121.

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Konferenz“ für die Unternehmer Südwestsachsens eine Enttäuschung. Bedeutende Fabrikindustrielle und Protagonisten einer forcierten Industrieentwicklung wie Eisenstuck oder Heinrich Bodemer³² hatte das Innenministerium überhaupt nicht eingeladen, dafür aber zahlreiche unbedeutende Vertreter aus der heimgewerblichen Textilweberei und Importeure englischer Baumwollgarne. Die Industrie nahm also weiterhin – das blieb das vorherrschende Gefühl in Südwestsachsen – am Katzentisch einer intransigenten Bürokratie und nicht am „Ehrentisch“ des Staates Platz. Durch die landwirtschaftliche Unterproduktionskrise 1846/47, die das nahrungsmittelimportabhängige Sachsen besonders hart und mit besonders schnellen und drastischen Rückwirkungen auf das gewerblich-industrielle Leben traf, sowie durch die dramatischen Krisensymptome im Eisenbahnbau wurde die Regierung von Könneritz aber – unerwartet und ungewollt – zu einer partiellen Modernisierung des staatlichen Aufgabenregimes mittels einer Revolutionierung ihrer Finanzpolitik gezwungen. Die Regierung berief überraschend einen außerordentlichen Landtag ein, der eine hohe Geldsumme zur Bekämpfung der Krise bewilligen sollte. Man hatte die Ausführung zahlreicher Notstandsarbeiten, insbesondere Straßenbauarbeiten, eingeleitet, um beschäftigungslose gewerbliche Arbeiter „in Brot“ zu bringen. Das war nichts Neues, sondern – in Sachsen wie in Preußen – bereits in den Krisenjahren 1816/17 und 1830/32 in geringerem Umfang betrieben worden. Neu war freilich der Plan, den krisengeschüttelten sächsischen Eisenbahngesellschaften, die unter immer stärkerem Kapitalmangel litten, je weiter ihre Streckenbauten und die allgemeine Wirtschaftskrise voranschritten, finanziell massiv unter die Anne zu greifen, nicht zuletzt um zig-tausende Arbeitsplätze im Bahnbau und in der Zulieferindustrie zu sichern. Die sächsischbayerische Bahn, an der der Staat schon in begrenztem Umfang beteiligt war, sollte auf Staatskosten weitergebaut und schließlich vollends in Staatsbesitz überführt werden. Der Chemnitz-Riesaer und der Löbau-Zittauer Bahn sollte ein Staatskredit in der beachtlichen Höhe von 10 Millionen Talern gewährt werden.³³ Der konservative Landtag genehmigte unter dem Eindruck der Krise und aufgrund der Tatsache, daß es sich um eine konservative Regierung handelte, widerspruchslos eine Staatsverschuldung großen Stils. Zuvor hatte die Regierung bereits den Beschluß gefaßt, durch staatliche Intervention einen vom Ausland unabhängigen sächsischen Lokomotivbau zu fördern. Mit einem für fünf Jahre  Heinrich Boderner (1800 – 1883), Besitzer einer Kattundruckerei in Großenhain, gehörte zu den „intellektuellen Köpfen“ der südwestsächsischen Unternehmerschaft und setzte sich in zahlreichen Schriften und Gutachten für eine forcierte Industrieentwicklung, Mechanisierung und polytechnische Bildung ein.  Vgl. Hauptmann: Sachsens Wirtschaft (wie Anm. 11), S. 171 f.

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zinsfreien Vorschuß von 30.000 Talern und einer Bestellgarantie für mehrere Lokomotiven wurde die Chemnitzer Maschinenfabrik Hartmann in der Aufnahme der Produktion von Lokomotiven bei erheblicher Ausweitung ihrer Fabrikanlagen bestärkt – sie sollte sich zum Pendant der Borsigschen Maschinenbauanstalt Berlin entwickeln. Früher als in Preußen, das erst durch die Revolution von 1848 auch eine Finanzrevolution vollziehen konnte,³⁴ zeichnete sich mithin in Sachsen bereits seit Mitte der 1840er Jahre eine Ausdehnung der ökonomischen Staatsaufgaben ab. Bis 1850 nahm der sächsische Staat Anleihen für den nun forciert betriebenen staatlichen Bahnbau und die Übernahme von Privatbahnen in Höhe von 13 Millionen Talern auf – die regulären Staatseinnahmen eines Haushaltsjahres lagen in dieser Zeit bei ca. 10 Millionen Talern. Darüber hinaus wurden als zinsfreie Staatsverschuldung und Mittel der staatlichen Geldschöpfung 4 Millionen Taler durch die Ausgabe oder die Übernahme der Gewähr für Eisenbahnkassenscheine kreiert.³⁵ Diese kräftige investive Staatsverschuldung und Geldschöpfung stabilisierte die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung der Jahre 1846/1847 etwas und milderte in Sachsen offenbar Liquiditätsengpässe im Geschäftsverkehr ab.³⁶ Den Kollaps des Kreditsystems und den dramatischen Rückgang der Auftragseingänge in Industrie und Gewerbe seit Beginn des Jahres 1848³⁷ – von den Chemnitzer Maschinenbaufabriken arbeitete im Mai 1848 nur noch die Firma Hartmann³⁸ –

 Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 254 ff., 274 ff.; Richard H. Tilly: Vom Zollverein zum Industriestaat. München 1990, S. 34 ff., 49 f. Bis Februar 1848 herrschte in Preußen äußerste Sparsamkeit. Das bürgerliche „Märzministerium“ Camphausen/Hansemann errichtete danach rasch in 13 preußischen Städten Darlehenskassen zur Unterstützung der Wirtschaft, die mit 10 Mio. Talern staatlicher Kassenanweisungen – eine Art Papiergeld – ausgestattet waren. Darüber hinaus hatte der Vereinigte Landtag dem Ministerium eine Anleiheberechtigung von 25 Mio. Talern bewilligt, die weitgehend als Finanzhilfe an Großunternehmen (etwa die Rheinische Eisenbahngesellschaft) oder gut organisierte wirtschaftliche Interessenverbände floß.  Vgl. Borchard: Staatsverbrauch (wie Anm. 24), S. 95, 299.  Die Vehemenz des Preisanstiegs für Agrarprodukte bis zum Frühsommer 1847 belastete freilich die Wirtschaft erheblich. Ein erneuter Rückgang der Produktion in den Baumwollspinnereien und z.T. auch im Maschinenbau führte außerdem zu einem Anwachsen der Befürworter einer radikalen Wende in der Zollpolitik. Eine von 100 Chemnitzer Fabrikanten und Kaufleuten unterzeichnete Denkschrift Eisenstucks an das Ministerium des Inneren vom Februar 1847 forderte die Einberufung eines außerordentlichen Zollvereinskongresses und den Übergang zu einem Schutzzollsystem. Vgl. Uhlmann: Konstituierung (wie Anm. 20), S. 103 f., 181.  Eine internationale Banken- und Börsenkrise Ende 1847 drang durch das „Einfallstor“ Hamburg so schnell in den mitteleuropäischen Kapitalmarkt ein, daß sie innerhalb weniger Wochen zu gravierenden Erschütterungen des Kreditsystems führte. Seit dem Spätherbst 1847 deutete sich zudem in wichtigen Industriebereichen des Zollvereins eine Rezession an.  Zwahr: Zur Politik der Bourgeoisie (wie Anm. 26), S. 331– 360, hier S. 342.

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konnten diese Maßnahmen freilich nicht verhindern. Das erste Resultat der „Geldknappheit“ des Frühjahrs 1848 war die Zahlungseinstellung des großen Leipziger Bankhauses Hammer und Schmidt, das vor allem Firmen aus Südwestsachsen und der Lausitz mit Krediten versorgt hatte. Jetzt rächte sich die fehlende Bereitschaft der Dresdner Regierung seit den 1830er Jahren, eine ausreichend leistungsfähige staatliche oder halbstaatliche Notenbank zu errichten,³⁹ die als „Lender of Last Resort“ auftreten konnte. Das neue „Märzministerium“ griff zwar sehr schnell ein, schickte 2.000 Taler zur Entlohnung der Arbeiter ins Erzgebirge und errichtete als provisorischen Ersatz für das Bankhaus Hammer die „Diskonto und Warenvorschußbank“ in Leipzig mit Filialen in Annaberg, Zittau und wahrscheinlich auch Chemnitz – aber das war offenbar nur ein Tropfen auf den heißen Stein.⁴⁰ Jedenfalls sahen sich prominente Chemnitzer Fabrikanten und Kaufleute genötigt – gewissermaßen als Vorstufe zur 1849 errichteten „Stadtbank“ – eine sog. Zettelbank konzessionieren zu lassen, die Noten von ein und fünf Talern ausgeben konnte, um die „grassierende Geldknappheit“ abzumildern. Die Stadt Chemnitz bürgte für diese „Zettelbank“ mit ihrem gesamten Vermögen.⁴¹ Der Forderung einer Versammlung des Chemnitzer „Fabrik- und Handelsstandes“ vom 7. April 1848 auf Bereitstellung eines Darlehens von einer halben Million Talern „zur Diskontierung guter Valuten und zu Vorschüssen auf Waren“ entsprach die neue Dresdner Regierung nicht. Sie gewährte lediglich ein Darlehen von 50.000 Talern; ein Verhalten, das in Chemnitz die Vermutung aufkommen ließ, daß auch das „Märzministerium“ Braun/Georgi den Leipziger Interessen aufgeschlossener gegenüberstünde, da die Leipziger Bankiers zeitgleich 200.000 Taler Stützungsgelder zugesprochen bekamen.⁴² Immerhin scheint Chemnitz vom sächsischen Staat bei der Finanzierung der Beschäftigung Arbeitsloser bevorzugt behandelt worden zu sein.⁴³ Es fehlt jedoch

 In Preußen wurde zwar die „Königliche Bank“ bereits 1846 in die – einer Staatsbank ähnlichen – „Preußische Bank“ umgewandelt, sie erwies sich aber trotz erhöhter Kapitalausstattung, erhöhtem Notenemissionsrecht und einer Erweiterung des Filialnetzes in den Provinzen als nicht leistungsfähig bzw. unfähig, auf die Krise zu reagieren. Die „Preußische Bank“ verfolgte weiterhin eine restriktive Geldpolitik, griff in die Krise seit 1847 kaum ein und ließ zu Beginn des Jahres 1848 einige bedeutende Unternehmen, darunter die Schaaffhausensche Bank in Köln, faktisch zusammenbrechen. Vgl. Boch: Wachstum (wie Anm. 1), S. 180, 254 f.  Vgl. Hauptmann: Sachsens Wirtschaft (wie Anm. 11), S. 174 ff.  Vgl. Uhlmann: Konstituierung (wie Anm. 20), S. 110 f.  Zwahr: Politik der Bourgeoisie (wie Anm. 26), S. 343.  So Tilly: Zollverein (wie Anm. 34), S. 35, und Hauptmann, Sachsens Wirtschaft (wie Anm. 11), S. 177 f.

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eine verläßliche Überblicksdarstellung über die staatlichen Krisenbekämpfungsund staatlichen wie kommunalen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Sachsen, wo im Frühjahr 1848 angeblich 60.000 Arbeitslose aus öffentlichen und teilweise privaten Mitteln unterstützt wurden.⁴⁴ Festzuhalten bleibt, daß sich der Staat von nun an in letzter Instanz für das Funktionieren des Wirtschaftslebens verantwortlich fühlte und eine generelle Bereitschaft zeigte, der Wirtschaft mit erheblichen Finanzmitteln behilflich zu sein. Diese Finanzmittel kamen nicht – wie bei der Arbeitsbeschaffung 1830/32 oder bei den Maßnahmen der Gewerbeförderung des Vormärz – aus dem laufenden Haushalt, sondern mußten aufgrund der schieren Größenordnung durch Staatsverschuldung oder Geldschöpfung gewonnen werden. Dadurch wurde eine neue Qualität erlangt, d. h. die Funktion und Funktionsweise des Staates als industrieller Produktionsfaktor, das staatliche Aufgabenregime selber, veränderte sich. Sachsen lag damit im Trend der deutschen Staaten, deren Papiergeldumlauf sich von 1847 bis 1850 von ca. 30 auf 53 Millionen Taler vermehrte. Es kam mithin zu einer Steigerung der zinsfreien Staatsverschuldung in Höhe von vielleicht einem Drittel der geschätzten damaligen Nettoinvestitionen. Dazu kam die durch Anleihen finanzierte Vermehrung der Ausgaben, die allein für das nun rasch aufholende Preußen in den Jahren 1848 bis 1850 33 Millionen Taler betrug. Diese Expansion der Staatsverschuldung und der Staatsausgaben hat zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens in den Krisenjahren 1848/49 wesentlich beigetragen.⁴⁵ Der Bankier und Abgeordnete Heinrich Carl (1795 – 1867) umschrieb das neue Rollenverständnis des Staates und den Konsens der neu etablierten Landtage 1849 in einer Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus wie folgt: „Vielleicht hat die vorige Verwaltung darin gefehlt, daß sie oft engherzig die Summen verweigerte, die zur Kultivierung des Landes gereicht hätten. Aber jetzt stehen wir der Regierung zur Seite, wir werden immer das bewilligen, was zur besseren Förderung des Verkehrs, zur Aufrechterhaltung des Handels und der Gewerbe, sowie des Ackerbaus nötig ist, wenn dadurch auch das Staatsbudget anwächst, so werden doch die Verwendungen eine Kapitalanlage bilden, welche auf gute Zinsen gelegt ist.“⁴⁶

 Zeise: Umwälzung (wie Anm. 25), S. 357. Überhaupt ist eine zusammenfassende Studie über Wirtschaftspolitik und Krisenbekämpfungsmaßnahmen in den Staaten des Deutschen Bundes ein Forschungsdesiderat.  Vgl. Tilly: Zollverein (wie Anm. 34), S. 35.  Zit. nach ebd., S. 36.

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Dieses neue Rollenverständnis, für den Wirtschaftshistoriker Richard Tilly „eine der wichtigsten Errungenschaften der Krise der 1840er Jahre“,⁴⁷ blieb fortan bestehen – auch im Sachsen der Reaktionszeit. Den Bedürfnissen der industriellen Entwicklung entsprechend, wurde der staatliche Eisenbahnbau weiter forciert, mit dem Ergebnis, daß Sachsen 1870 das mit Abstand dichteste Bahnnetz aller deutschen Staaten besaß. Auch ein Telegraphennetz und das Postwesen wurden massiv ausgebaut. Den industriellen Interessen wurde auch insofern stärker Rechnung getragen, als Konzessionen für Fabriken und vor allem Aktiengesellschaften nun großzügiger erteilt wurden, Sachsen als erster deutscher Mittelstaat 1861 die Gewerbefreiheit einführte und – wenn auch zögerlich – das Bankenwesen den industriekapitalistischen Erfordernissen anpaßte. 1856 erteilte der sächsische Staat die Konzession zur Gründung der „Allgemeinen Deutschen Credit-Anstalt“ (ADCA), die zu den ersten deutschen Aktienbanken gehörte, die vorrangig Industriefinanzierung betreiben sollten. 1865 gründete Sachsen endlich eine Staatsbank, die mit Filialen, darunter in Chemnitz, flächendeckend tätig wurde.⁴⁸ Als der amerikanische Bürgerkrieg in der Baumwollindustrie Sachsens, die von amerikanischer Rohbaumwolle und dem amerikanischen Exportmarkt abhängig war, eine schwere Krise hervorrief, wurde der sächsische Staat – ohne auf Petitionen zu warten – von sich aus tätig. Unbürokratisch und vorerst sogar ohne Beschluß der Ständeversammlung wurde der Stadt Chemnitz im Sommer 1866 ein Darlehen von immerhin einer halben Million Talern zum Diskontieren der Wechsel von Fabrikanten und zum Lombardgeschäft zur Verfügung gestellt. Die Ständeversammlung billigte diese schnelle Hilfe nachträglich und erhöhte die Darlehenssumme für die betroffenen sächsischen Industriestädte, einschließlich des bereits für Chemnitz bewilligten Betrags, auf insgesamt 1,5 Millionen Taler.⁴⁹ Bereits im Krisenjahr 1857 hatte die sächsische Regierung der Chemnitzer Industrie einen Vorschuß von 100.000 Talern als Soforthilfe bewilligt, von dem aber nur 20.000 Taler in Anspruch genommen werden mußten, da sich diese internationale Handels- und Finanzkrise weit weniger auf die industrielle Produktion auswirkte als anfangs befürchtet. Die Selbstverständlichkeit, der präventive

 Ebd., S. 37.  Alle Angaben nach Zeise: Umwälzung (wie Anm. 25), S. 371. In den 1850er und 1860er Jahren war die Anlage von Kapital in der boomenden Chemnitzer Industrie aber bereits so gewinnversprechend, daß sich vor der Staatsbank Filialen der „Weimarschen Bank“ und der „Geraer Bank“ dort niedergelassen hatten und die Chemnitzer „Stadtbank“ aus kleinen Anfängen ihren Umsatz von 2,5 Mio. Mark 1850 auf 48 Mio. Mark 1870 fast verzwanzigfachen konnte.Vgl. Karl-Marx-Stadt. Geschichte der Stadt in Wort und Bild. Berlin 1988, 95.  Vgl. Kiesewetter: Industrialisierung (wie Anm. 2), S. 664 f.

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Charakter und die Größenordnung des Krisenmanagements von 1857 und 1866 deuten neben den genannten Veränderungen darauf hin, daß sich der sächsische Staat seit der Wirtschafts- und Legitimationskrise der späten 1840er Jahre zunehmend als Industriestaat begriff und den Primat, zumindest aber die Gleichberechtigung industrieller Interessen jetzt weitgehend internalisiert hatte.

Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex. Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus im sächsisch-böhmischen Grenzraum „Wismut“ – hinter diesem harmlos klingenden Namen verbarg sich der weltweit größte Bergbaubetrieb zur Förderung von Uranerzen und Produktion von chemischem Urankonzentrat. Auch wenn die USA, Kanada und die Sowjetunion zwischen 1945 und 1990 jeweils noch etwas mehr Uran förderten als die DDR, gab es doch selbst in diesen großen Ländern keinen einzelnen Uranbergbaubetrieb, der die Dimensionen der „Wismut“ hinsichtlich der Menge des geforderten Urans und der Mitarbeiterzahl erreichte. Gegründet wurde die „Zweigstelle der Staatlichen sowjetischen Aktiengesellschaft der Buntmetallindustrie, Wismut“ im Mai 1947 auf Grundlage eines Beschlusses des Ministerrates der UdSSR. Ihren Hauptsitz hatte die Gesellschaft in Moskau. Die „Zweigstelle“, das heißt die Generaldirektion, residierte anfangs in Aue und ab 1949 in Chemnitz (1953 – 1990 Karl-Marx-Stadt). Die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft fand ausschließlich in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Deutschland bzw. der späteren DDR statt. Um den wirklichen Geschäftszweck nicht offenzulegen und unter Verweis auf den Abbau von Wismuterzen in den Minen des Altbergbaus von Johanngeorgenstadt und Schneeberg, kam es zu der ungewöhnlichen Namensgebung. Ähnliches geschah in den anderen Ostblockländern und der Tschechoslowakischen Republik, auch dort durfte das Wort „Uran“ nicht in den Firmenbezeichnungen, Frachtpapieren usw. auftauchen. Freilich ließ sich nicht geheim halten, was der eigentliche Bestimmungszweck der Wismut AG war. Die Bergleute wussten nur zu gut, was für ein Erz sie tagtäglich förderten, und auch die Einwohner in den betroffenen Regionen waren im Bilde. Die Abschottung des Unternehmens von der Außenwelt funktionierte dennoch so gut, dass nur spärliche Informationen über das Innenleben des Betriebes nach außen drangen, was naturgemäß umso mehr Raum für Gerüchte und Mutmaßungen gab. Daran änderte sich auch nichts, als die DDR ab 1954 zur Hälfte Miteigentümer der nunmehr in eine Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) umgewandelten „Wismut“ wurde. Die SDAG war ebenso ein „Staat im Staate“ wie ihre Vorläuferin. Insbesondere die Verleugnung bzw. Verharmlosung der vom Uranbergbau ausgehenden Gefahren für die Beschäftigten, die Anwohner der umliegenden Gemeinden und die Umwelt wurde im negativen Sinne zu ihrem „Markenzeichen“. Erst nach der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 konnte der

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Schleier der Geheimhaltung gelüftet werden. Es kam zu emotionalen und heftigen Auseinandersetzungen um die Vergangenheit des Betriebes, die persönlichen Verantwortlichkeiten für das ökologische und wirtschaftliche Desaster und über den künftigen Umgang mit den Altlasten. Noch im Sommer 1990 beschloss die erste und letzte frei gewählte Volkskammer der DDR die Aufkündigung des Wismut-Abkommens mit der Sowjetunion. Der in zunehmenden Turbulenzen befindlichen sowjetischen Regierung war dies recht, da das deutsch-sowjetische Gemeinschaftsunternehmen seinen strategischen Wert inzwischen verloren und sich zu einem höchst kostspieligen Zuschussbetrieb entwickelt hatte. In gewisser Weise widerspiegelte damit auch die Entwicklung der SDAG Wismut das Dilemma der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, deren Wirtschaften nicht zuletzt von der jahrzehntelangen Hochrüstung mehr und mehr ausgezehrt waren, und die ihren Bevölkerungen die postulierte Alternative zum westlichen Gesellschaftsmodell nicht zu bieten vermochten. Am 16. Mai 1991 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland, da es die DDR schon nicht mehr gab, und die Sowjetunion ein Abkommen über die Beendigung der Tätigkeit der SDAG Wismut. Auch die Sowjetunion sollte nur noch wenige Monate existieren. Nur gut ein Jahr später schlossen die USA mehrere Verträge über Uranimporte aus Russland und fünf GUS-Staaten, das heißt ehemaligen Sowjetrepubliken, die inzwischen ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. Das einstmals so begehrte strategische Erz war zum gewöhnlichen Handelsgut geworden. Der Kalte Krieg gehörte der Vergangenheit an. Erst jetzt konnten Historiker beginnen, sich auf breiter Quellengrundlage mit der Geschichte der Wismut auseinanderzusetzen. Bei Null mussten sie nicht anfangen. Schon Ende der 1940er Jahre, als der Kalte Krieg einen ersten gefährlichen Höhepunkt erreicht hatte und die Furcht vor einem Nuklearkrieg grassierte, stand der Uranbergbau im Erzgebirge im Fokus zahlreicher Publikationen.¹ Angesichts der Tatsache, dass die Leitung des sowjetischen Atomprojekts ganz in den Händen des Innenministeriums (MWD) lag, war die Vermutung naheliegend, dass es beim Aufbau der Wismut AG zur Übertragung des sowjetischen Systems von Zwangsarbeiterlagern, bekannt geworden unter dem Kürzel Gulag, gekommen sei. In fast allen Publikationen, die darüber im Westen erschienen, wurde das Zwangsregime im Uranbergbau betont. Es war von „Sklavenarbeit“ die Rede und von Unfällen mit Hunderten Toten. Dabei ging es weniger um den Wahrheitsgehalt einzelner

 Vgl. Werner Knop: Prowling Russia’s forbidden Zone. A secret journey into Sowjet Germany. New York 1949, S. 133 – 141; Parteivorstand der SPD (Hrsg.): Uranbergbau in der Sowjezone. o J. [1950]; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.): Der Uranbergbau in der sowjetischen Besatzungszone. Bonn o.J. [1951].

Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus

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Flüchtlingsberichte als um die Brandmarkung des Besatzungsregimes und des kommunistischen Systems. Im Gegensatz zu vielen Presseartikeln ist die Studie eines geflüchteten sowjetischen Offiziers noch heute lesenswert. In seinem unter dem Namen Nikolai Grishin in den USA publizierten Insiderbericht wurde der herausragende Stellenwert der Wismut AG für das sowjetische Atomprojekt hervorgehoben und auf die beginnende Stabilisierung der Verhältnisse im Uranbergbau des Erzgebirges verwiesen.² Seit Mitte der 1950er Jahre – inzwischen verfügten die USA und die Sowjetunion über die Wasserstoffbombe – ließ im Westen das Interesse an der Wismut deutlich nach. Einen sowjetischen Uranengpass gab es nicht mehr, und der Nachrichtenfluss aus den Bergbaubetrieben begann nachzulassen. Die WismutForschung kam nahezu zum Stillstand. Dies erklärt auch, zumindest bis zu einem gewissen Grade, warum die These von den „Uransklaven“ noch in neueren Arbeiten perpetuiert wurde.³ Eine kritische Auseinandersetzung mit den vom Uranbergbau verursachten Umweltschäden stieß in der späten DDR mit großem Mut der Umweltaktivist Michael Beleites Mitte der 1980er Jahre an. Seine Studie „Pechblende“, die 1988 mit Hilfe des kirchlichen Forschungsheims Wittenberg im Selbstdruck gefertigt und in Umlauf gebracht wurde, brandmarkte die von der SED-Führung zu verantwortenden Umweltsünden in der „Uranprovinz“. Erst nach der Friedlichen Revolution konnten die Bücher von Beleites legal erscheinen.⁴ Für die Geschichte des ostdeutschen Uranbergbaus begannen sich zunehmend auch Historiker zu interessieren. Im Mittelpunkt ihrer Forschungen standen vor allem zeit-, wirtschafts- und sozialhistorische Fragestellungen. Dazu erschien 1996 der von Rainer Karlsch und Harm Schröter herausgegebene Studienband „Strahlende Vergangenheit“.⁵

 Vgl. Nikolai Grishin: The Saxony Uranium Mining Operation („Vismut“). In: Robert Slusser (Hrsg.): Soviet Economic Policy in Postwar Germany. A Collection of Papers by Former Officials. New York 1953, S. 127– 153.  Vgl. Joachim Breuer: Die sozialrechtlichen Folgen der Wismut. Eine staatliche Verantwortung. In: Die Berufsgenossenschaft. Januar 1993, S. 13 – 30; Norman M. Naimark: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 – 1949. Berlin 1997, S. 239.  Michael Beleites: Pechblende – der Uranbergbau der DDR und seine Folgen. Wittenberg 1988; ders.: Altlast Wismut. Ausnahmezustand, Umweltkatastrophe und das Sanierungsproblem im deutschen Uranbergbau. Frankfurt a. M. 1992.  Rainer Karlsch/Harm Schröter (Hrsg.): „Strahlende Vergangenheit“. Studien zur Geschichte des Uranbergbaus der Wismut. St. Katharinen 1996; Rainer Karlsch: „Ein Staat im Staate“. Der Uranbergbau der Wismut AG in Sachsen und Thüringen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 49 – 50 (1993), 3.12.1993, S. 14– 23; Rainer Karlsch: Der Aufbau der Uranindustrien in der SBZ/

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Aus welchen Gründen es zur Bildung der Wismut AG kam, ist inzwischen gut erforscht. Eine vergleichende Analyse der Entwicklung des Uranbergbaus in der SBZ/DDR und der ČSSR legten Rainer Karlsch und Zbynek Zeman im Jahr 2002 vor.⁶ Während auf der tschechischen Seite des Erzgebirges bis 1960 ein System von Zwangsarbeitslagern bestand, gab es diese in Sachsen nicht.⁷ In dieser Hinsicht stellte die Wismut AG eine Ausnahme unter den Uranbergbaubetrieben des Ostblocks dar.⁸ Auch in den USA lebte das Interesse an der Geschichte der SDAG Wismut in den 1990er Jahren auf. Nunmehr ging es in erster Linie um die Diskussion von Konzepten zur Sanierung der Altlasten. Dies war naheliegend, denn in den USA und in Kanada stand man vor vergleichbaren Problemen. Dort waren Teile des Uranbergbaus bereits in den 1980er Jahren stillgelegt worden und mussten aufwendig und größtenteils auf Staatskosten saniert werden. Neben den mit der Sanierung betrauten Fachleuten und Behörden befassten sich auch amerikanische Historiker und Publizisten mit dem Uranbergbau in Ostdeutschland.⁹ Dies geschah aus vergleichender Perspektive, da der Uranboom der 1950er Jahre im Mittleren Westen der USA eine Reihe von Parallelen zu den „wilden Jahren“ bei der Wismut AG aufwies.¹⁰ Eine neue Qualität im Niveau der historischen Forschungen zum Uranbergbau wurde mit den Studien zur Sozialgeschichte der Bergleute von Ralf Engeln und Juliane Schütterle erreicht.¹¹ Beide heben in ihren Dissertationsschriften die soziale Sonderstellung der Uranbergleute hervor. Schließlich hat Rainer Karlsch den bis dahin erreichten Forschungsstand zusammengefasst und erstmals eine po-

DDR und CSR als Folge der sowjetischen Uranlücke. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44 (1996), S. 5 – 24; Rainer Karlsch: Der Uranwettlauf 1939 bis 1949: In: Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau 50 (1998), S. 1– 23.  Vgl. Rainer Karlsch/Zbynek Zeman: Urangeheimnisse. Das Erzgebirge im Brennpunkt der Weltpolitik 1933 – 1960. Berlin 2002. Eine englische Ausgabe dieses Buches erschien im Jahr 2008.  Vgl. Otfrid Pustejovsky: Stalins Bombe und die „Hölle von Joachimsthal“. Uranbergbau und Zwangsarbeit in der Tschechoslowakei nach 1945. Münster 2009. Siehe neuerdings auch den Roman von Josef Haslinger: Jachymov. Frankfurt a. M. 2011.  Vgl. Rainer Karlsch/Vladimir Zacharow: Ein Gulag im Erzgebirge? Besatzer und Besiegte beim Aufbau der Wismut AG. In: Deutschland-Archiv 32 (1999), S. 15 – 34.  Vgl. Traci Heitschmidt: The Quest for Uranium. The Soviet Uranium Mining Industry in Eastern Germany 1945 – 1967. Santa Barbara 2003; Tom Zoellner: Uranium: War, Energy, and the Rock that shaped the World. New York 2009, S. 130 – 179.  Vgl. Ralf Engeln: Uransklaven oder Sonnensucher? Die sowjetische Wismut AG in der SBZ/DDR 1946 – 1953. Essen 2001.  Vgl. Juliane Schütterle: Kumpel, Kader und Genossen. Arbeiten und Leben im Uranbergbau der DDR. Die Wismut AG. Paderborn 2010.

Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus

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puläre Gesamtdarstellung der Geschichte der SDAG Wismut anlässlich der 2007 in Ronneburg und Gera stattfindenden Bundesgartenschau vorgelegt.¹² Neben der einseitigen Konzentration auf die frühen Jahre stellte die unzureichende Berücksichtigung russischer Quellen das größte Manko der bisherigen Forschungen dar. Auch erwies es sich jetzt als wünschenswert, die dominierende Innenperspektive aufzubrechen und die Geschichte des Uranbergbaus in der DDR aus vergleichender Sicht zu analysieren. Ein Ziel des im Jahr 2008 an der Technischen Universität Chemnitz begonnenen Forschungsprojektes war es daher, genau an diesen Punkten anzusetzen und in Kooperation mit russischen Historikern bislang unzugängliche bzw. noch nicht genutzte Quellenbestände in russischen Archiven zu erschließen und auszuwerten. Dabei stellte sich auch heraus, dass entgegen manch ungeprüften Behauptungen ein unbeschränkter Zugang zu den für das Thema relevanten Beständen im Archiv der Staatlichen Korporation Rosatom, des Staatlichen Militärarchivs (RGWA), des Staatlichen Archivs der sozialen und politischen Geschichte (RGASPI) und des Staatlichen Archivs der Russischen Föderation (GARF), um nur die wichtigsten zu nennen, möglich war. Lediglich im Staatlichen Archiv für ökonomische Geschichte (RGAE) und im Dienstarchiv des Außenministeriums blieb die Nutzung leider eingeschränkt. Der im Herbst 2011 von Rainer Karlsch und mir veröffentliche Studienband widmet sich insbesondere den Themenfeldern, die zuvor noch nicht oder erst in Ansätzen untersucht werden konnten. Dies betrifft insbesondere die Einbindung der Wismut AG in den sowjetischen Atomkomplex, den Stellenwert des Unternehmens im Kalten Krieg, das im Uranbergbau herrschende rigide Sicherheitsregime und seine Folgen, den Herrschaftsanspruch der SED im Betrieb, den Umgang mit den Strahlenrisiken, die Ausgestaltung des betrieblichen Sozialleistungssystems und die Versuche zur Identitätsstiftung durch Kultur und Sport. Weder die USA noch die Sowjetunion verfügten 1945 über einen leistungsfähigen Uranerzbergbau. Zwar gab es in beiden Ländern bereits erkundete Vorkommen, doch waren diese von minderer Qualität und hätten allein nicht ausgereicht, um die im Auf- bzw. Ausbau befindlichen Atomkomplexe zu versorgen. Beide Supermächte waren in den ersten Jahren des nuklearen Wettlaufs zwingend auf Uranimporte angewiesen. Zugleich forcierten sie den Ausbau der einheimischen Uranförderung. Die USA hatten sich gemeinsam mit Großbritannien noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs den Zugriff auf den allergrößten Teil der damals weltweit bekannten Uranreserven gesichert und deckten bis Mitte der 1950er Jahre mehr als 85 Prozent ihres Uranbedarfs durch Importe aus Belgisch-Kongo, Südafrika und Kanada. Die Sowjetunion reagierte auf den Uranengpass mit einer

 Vgl. Rainer Karlsch: Uran für Moskau. Die Wismut. Eine populäre Geschichte. Berlin 2007.

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Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex

Suche auf „breiter Front“ nicht nur im eigenen Land, sondern in ihrem gesamten Machtbereich. Vor Kriegsende besaßen weder die Geologen von der Bergakademie Freiberg und erst recht nicht sowjetische Regierungsstellen gesicherte Kenntnisse über die Uranvorkommen in Westsachsen. Die einzige bedeutende Uranlagerstatte in Mitteleuropa war die von Joachimsthal (Jachymov) in Böhmen. Die Stadt hatte vor allem dank der Radiumproduktion und des Kurbades weltweite Bekanntheit erlangt. Insofern verwundert es nicht, dass sich die sowjetischen Geologen bei ihrer Uransuche in Mitteleuropa zuerst auf Jachymov konzentrierten. Aufgrund von Gutachten Freiberger Geologen, die im Herbst 1945 angefertigt wurden, und eigener Recherchen vor Ort wurde ihnen alsbald klar, dass es sich beiderseits der deutsch-tschechischen Grenze um ähnliche geologische Formationen handelte. Wir wissen heute, nach Abschluss des Forschungsprojekts, sehr viel genauer über die Anfangsjahre des ostdeutschen Uranbergbaus, dessen Einbindung in die Strukturen des sowjetischen Atomprojektes, die Herrschaftsmechanismen, die Probleme des Strahlenschutzes und auch über die Spannungen – vor allem bezüglich der Kosten der Uranproduktion – zwischen der DDR und der Sowjetunion Bescheid, als noch vor drei Jahren. Auch können wir einige zählebige Legenden demontieren, wie etwa die Behauptungen, die Einteilung der Besatzungszonen 1944/45 sei auf Grund bereits vorhandender sowjetischer Kenntnisse über die Uranvorkommen im Erzgebirge erfolgt oder die Wismut-Belegschaft habe sich hauptsächlich aus Umsiedlern oder Zugereisten rekrutiert. Eine Bilanz der wichtigsten Untersuchungsfelder kommt zu folgenden Ergebnissen: (1.) Die russischen Archivmaterialien lassen den Schluss zu, dass das Uran aus dem Erzgebirge entscheidend dazu beitrug, dass die erste sowjetische Atombombe bereits am 29. August 1949 gezündet werden konnte. Auch das folgende ehrgeizige Rüstungsprojekt der Sowjetunion, bei den Nuklearwaffen möglichst rasch mit den USA gleich zu ziehen, hatte bis Mitte der 1950er Jahre nur durch das Uran aus dem Erzgebirge eine Chance auf Realisierung. Bereits 1952 produzierte der Ostblock mehr Uran als der Rest der Welt. Maßgeblich dafür verantwortlich war der Ausbau der Uranförderung in der DDR. 1952 überholte die Wismut AG die Uranerzförderung von Belgisch-Kongo und rückte an die erste Stelle aller Uranproduzenten in der Welt. Diese Spitzenposition behauptete das Unternehmen bis 1957. Da die Uranförderung im gesamten Ostblock ausgeweitet wurde, begann der relative Anteil der Wismut am Uranaufkommen des Ostblocks langsam kontinuierlich zu sinken, von 59 Prozent 1950 auf 36 Prozent 1960, 34 Prozent 1970 und 21 Prozent 1980. Die Wismut ermöglichte mithin in den frühen Jahren des Kalten Kriegs den Aufstieg der UdSSR zur nuklearen Supermacht.

Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus

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(2.) Deutsche und russische Dokumente belegen, dass die sowjetischen Verantwortlichen in der Generaldirektion der Wismut AG und der SMAD von Anfang an um die spezifische gesundheitliche Gefährdung durch Strahlung im Uranbergbau wussten. Zur Wiederinkraftsetzung der Zwickauer „Bergpolizeiverordnung für Radiumbergwerke“ von 1944, in der weltweit erstmals ein Grenzwert für die Radonbelastungen der Grubenluft festgesetzt worden war, kam es dennoch nicht. Es ging den Verantwortlichen hauptsächlich um die rasche Ausdehnung der Produktion. Die Wismut-Direktion blieb bei ihrer Linie: Über die Strahlengefahr wurde nicht gesprochen, stattdessen sollten die gesundheitlichen Risiken für die sowjetischen und deutschen Mitarbeiter durch Gehaltszuschläge kompensiert werden. Ab Mitte der 1950er Jahre erfolgten erste Messungen und ernsthafte Bemühungen zur Verbesserung des Strahlenschutzes. Aber erhebliche Probleme mit dem Strahlenschutz blieben bestehen. Erst ab Mitte der 1970er Jahre kam es nur noch vereinzelt zu Grenzwertüberschreitungen. (3.) Der Schutz der Umwelt wurde ebenfalls erst ab Ende der 1950er Jahre ernst genommen. Der erste Umweltbericht der SDAG Wismut von 1959 dokumentiert z.T. großflächige radioaktive Verschmutzung. Die Situation besserte sich in den 1960er/1970er Jahren. In den 1980er Jahren traten jedoch neue Probleme durch den Abbau arsenhaltiger Uranerze und ein auch Untertage praktiziertes Laugungsverfahren bei der Uranerzgewinnung auf. Ein kontinuierliches Problem stellten die nicht abgedeckten Abraumhalden und Schlammteiche dar. (4.) Der Vergleich mit der Bundesrepublik erwies sich trotz des dort weitaus geringeren Umfangs des Uranbergbaus als hilfreich. Auch dort gab es bis in die 1970er Jahre hinein gravierende Defizite in der Strahlenschutz-Praxis, v. a. wegen mangelnder staatlicher Überwachung der Bergbaubetriebe. Ein besserer Strahlenschutz wäre in beiden deutschen Staaten möglich gewesen. Er hätte freilich Geld gekostet, wäre technisch aber zumeist relativ einfach umzusetzen gewesen. (5.) Auch für den Uranbergbau großer westlicher Uranproduzenten (USA, Kanada, Südafrika) waren der leichtfertige Umgang mit menschlicher Gesundheit sowie immense ökologische Schadensverursachung typisch. Erst in den späten 1960er Jahren besserten sich die Verhältnisse etwas. Der westliche Uranbergbau nutzte koloniale Abhängigkeitsverhältnisse (Kongo in den 1940er/1950er Jahren) und trug bisweilen Züge der „inneren Kolonisation“ (in den USA auf Navajo-Gebiet mit indigenen Arbeitskräften). Im Unterschied zum Ostblock konnte in den USA freilich in den 1970er Jahren eine kritische Öffentlichkeit entstehen, die den Staat zum Handeln zwang (erste Sanierungsmaßnahmen ökologischer Schäden, Entschädigungszahlungen an ehemalige Bergleute). (6.) Erstmals konnte eine Soziographie der Wismut-Belegschaft für zumindest einen Standort – Ronneburg in Thüringen – erstellt werden (prozentualer Anteil von Umsiedlern, Frauen, Ungelernten, an Qualifizierungsmaßnahmen Teilneh-

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Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex

menden, SED-Mitgliedern usw.). Verschiedene Teilprojekte verdeutlichen zudem die Effekte der Sozial-, Kultur- und Sportpolitik der Wismut hinsichtlich Identitätsstiftung, Privilegierung und Aufstiegschancen. Sie tragen dazu bei, „Die rätselhafte Stabilität der DDR“¹³ am Beispiel eines besonders leistungsfähigen und politisch gewichtigen Großbetriebes mit motivierter Stammbelegschaft zu erklären.¹⁴

 So der deutsche Titel der Studie von Andrew I. Port: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Aus dem Amerikanischen von Sylvia Taschka. Berlin 2. Aufl. 2010.  Die Ergebnisse sind in einem Studienband mit 14 umfangreichen Beiträgen und einem Dokumentenband mit zentralen (übersetzten) russischen und deutschen Archivfunden veröffentlicht worden. Vgl. Rudolf Boch/Rainer Karlsch (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex. Bd. 1: Studien; Bd. 2: Dokumente. Berlin 2011.

Nachweis der Erstveröffentlichungen 1.

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Die Entstehungsgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Das Bergische Land und der ADAV. In: Arno Herzig/Günter Trautmann (Hrsg.): Entstehung und Wandel der deutschen Arbeiterbewegung. Hamburg 1989, S. 103 – 119 Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion mit besonderer Berücksichtigung des Handwerks im Verlagssystem. In: Ulrich Wengenroth (Hrsg.): Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk, Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozeß. Stuttgart 1989, S. 37– 69 Das „rote Königreich“. Eine etwas andere Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung. In: Oliver Brehm/Jürgen Kabus (Hrsg.): 25 Jahre Industriemuseum Chemnitz. Industrie im Wandel erleben. Chemnitz 2016, S. 264– 274 Von der „begrenzten“ zur forcierten Industrialisierung. Zum Wandel ökonomischer Zielvorstellungen im rheinischen Wirtschaftsbürgertum 1815 – 1845. In: Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Göttingen 1991, S. 133 – 155 Unternehmensnachfolge in Deutschland. Ein historischer Rückblick. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte (1999), Heft 2, S. 164– 171. Notabelntradition und „Große Industrie“. Soziale Wurzeln und gesellschaftliche Zielvorstellungen des Liberalismus der Rheinprovinz 1820 – 1850. In: Politische Strömungen und Gruppierungen am Rhein 1848/49. Vorträge gehalten auf dem Symposium anlässlich des 150. Jahrestages der Revolution von 1848/49 im Rheinland. Düsseldorf 1999, S. 1– 20 Johann Jacob Aders (1768 – 1825). In: Ralf Stremmel/Jürgen Weise (Hrsg.): Bergisch-Märkische Unternehmer der Frühindustrialisierung (RheinischWestfälische Wirtschaftsbiographien Bd. 18), Münster 2004, S. 215 – 233 The Rise and Decline of „Flexible Production“. The German Cutlery Industry of Solingen since the Eigthteenth Century (1760 – 1960). In: Charles F. Sabel/ Jonathan Zeitlin (Hrsg.): World of Possibilities: Flexibilitiy and Mass Production in Western Industrialization. Cambridge 1997, S. 153 – 187 Die Wanderer-Werke AG. Historische Verortung und Forschungsstand. In: Jörg Feldkamp/Achim Dresler (Hrsg.): 120 Jahre Wanderer 1885 – 2005. Ein Unternehmen aus Chemnitz und seine Geschichte in der aktuellen Forschung. Zwickau 2005, S. 9 – 15

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

10. Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Sachsens als Basis der heutigen Industriekultur. In: Jörg Feldkamp/Ralph Lindner (Hrsg.): Industriekultur in Sachsen. Neue Wege im 21. Jahrhundert. Chemnitz 2010, S. 11– 17 11. Fabriken. In: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa. München 2012, S. 435 – 452. 12. Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit. Die Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg (unveröffentlicht) 13. Das Patentgesetz von 1877. Entstehung und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung. In: Rudolf Boch (Hrsg.): Patentschutz und Innovation in Geschichte und Gegenwart. Berlin/Frankfurt am Main 1999, S. 71– 84 14. Staat und Industrialisierung im Vormärz. Das Königreich Sachsen (mit Vergleichen zu Preußen). In: Manfred Hettling/Uwe Schirmer/Susanne Schötz (Hrsg.): Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, S. 355 – 371 15. Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex. Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus im sächsisch-böhmischen Grenzraum. In: Frank-Lothar Kroll/Milos Reznik/Martin Munke (Hrsg.): Sachsen und Böhmen. Perspektiven ihrer historischen Verflechtung. Berlin 2014, S. 133 – 142

Schriftenverzeichnis Rudolf Boch Selbständige Veröffentlichungen 1.

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Handwerker-Sozialisten gegen Fabrikgesellschaft. Lokale Fachvereine, Massengewerkschaft und industrielle Rationalisierung in Solingen 1870 bis 1914. Göttingen 1985 Historisches Lesebuch zur Geschichte der Arbeiterschaft im Bergischen Land (1760 – 1945). Köln 1986 (gemeinsam mit M. Krause) Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte von 1814 bis 1857. Göttingen 1991 Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte Bd. 70). München 2004 Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 2014 (gemeinsam mit M. Kukowski)

Herausgeberschaften 1. 2. 3. 4. 5.

Patentschutz und Innovation in Geschichte und Gegenwart. Berlin/Frankfurt am Main 1999 Geschichte und Zukunft der Automobilindustrie in Deutschland. Tagung im Rahmen der „Chemnitzer Begegnungen“ 2000. Stuttgart 2001 Unternehmensgeschichte heute: Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends. Leipzig 2005 Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Leipzig 2006 Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex. Bd. 1: Studien, Bd. 2: Dokumente. Berlin 2011 (gemeinsam mit R. Karlsch)

Aufsätze 1.

2.

Proto-Industrialisierung. Zur Entwicklung des Kapitalismus auf dem Lande. In: Sozialwissenschaftliche Information für Unterricht und Studium (1979), Heft 8, S. 113 – 121 Was macht aus Arbeit industrielle Lohn-„Arbeit“? Arbeitsbedingungen und -fertigkeiten im Prozeß der Kapitalisierung: Die Solinger Schneidwarenfabrikation 1850 – 1920. In: Sozialwissenschaftliche Information für Unterricht und Studium (1980), Heft 9, S. 61– 66

DOI 10.1515/9783110534672-016

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Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Buch „Maschinenstürmer“ von M. Henkel und R. Taubert. In: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins. Bd. 89 (1980/81), S. 174– 178 Ein kommunales Forschungsprojekt zur Geschichte der bergischen Arbeiterschaft. Forschungsstandsbericht zu ausgewählten Themenbereichen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 19 (1983), S. 373 – 397 Lokale Fachvereine im Bergischen Land – eine vergessene Phase in der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung. In: Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hrsg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter. Bd. 2. Wuppertal 1984, S. 170 – 176 Die Entstehungsgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Das Bergische Land und der ADAV. In: Arno Herzig/Günter Trautmann (Hrsg.): Entstehung und Wandel der deutschen Arbeiterbewegung. Hamburg 1989, S. 103 – 119 Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung. Ein Beitrag zu einer beginnenden Diskussion mit besonderer Berücksichtigung des Handwerks im Verlagssystem. In: Ulrich Wengenroth (Hrsg.): Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk, Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozeß. Stuttgart 1989, S. 37– 69 Dasselbe auf Japanisch in: Ritsumeikan Economic Review, Bd. XLI, 2/1992, S. 87– 108 und 3/1992, S. 95 – 111 Tarifverträge und „Ehrenräte“. Unternehmer und Arbeiter im Regierungsbezirk Düsseldorf 1848/49. In: Burkhard Dietz (Hrsg.): Industrialisierung, historisches Erbe und Öffentlichkeit (= Neues Bergisches Jahrbuch Bd. 3). Wuppertal 1990, S. 178 – 226 Von der „begrenzten“ zur forcierten Industrialisierung. Zum Wandel ökonomischer Zielvorstellungen im rheinischen Wirtschaftsbürgertum 1815 – 1845. In: Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.): Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Göttingen 1991, S. 133 – 155 Der Krieg im Osten 1941– 45. Bilanz und Perspektiven der bundesdeutschen Forschung. In: Manfred Hettling/Claudia Huerkamp/Paul Nolte/Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. Hans-Ulrich Wehler zum 60. Geburtstag. München 1991, S. 248 – 258 Changing Patterns of Labor Conflict and Labor Organization in the German Cutlery Industry 1905 – 1926. In: Leopold H. Haimson/Giulio Sapelli (Hrsg.): Strikes, Social Conflict and the First World War. An International Perspective. Mailand 1992, S. 253 – 268 Das bergisch-märkische Wirtschaftsbürgertum von 1814 bis 1840. In: Wolfgang Köllmann/Wilfried Reininghaus/Karl Teppe (Hrsg.): Bürgerlichkeit zwischen gewerblicher und industrieller Wirtschaft. Beiträge des wissen-

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schaftlichen Kolloquiums anläßlich des 200. Geburtstags von Friedrich Harkort vom 25. bis 27. Februar 1993. Dortmund 1994, S. 25 – 41 The Rise and Decline of „Flexible Production“.The German Cutlery Industry of Solingen since the Eigthteenth Century (1760 – 1960). In: Charles F. Sabel/ Jonathan Zeitlin (Hrsg.): World of Possibilities: Flexibilitiy and Mass Production in Western Industrialization. Cambridge 1997, S. 153 – 187 Das „Kind der Industrie“: David Hansemann (1790 – 1864). In: Sabine Freitag (Hrsg.): Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. München 1998, S. 171– 184, 324– 326 Gesellschaft und Konflikt in Thüringen 1848/49 – ein Kommentar. In: HansWerner Hahn/Werner Greiling (Hrsg.): Die Revolution von 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume, Handlungsebenen, Wirkungen. Rudolstadt/Jena 1998, S. 111– 121. Der Bestand der Auto Union AG und seine Bedeutung für die historische Forschung. In: Für Bürger, Staat und Forschung. 10 Jahre Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz. Hrsg. vom Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden. Dresden 1998, S. 48 – 54 Das Patentgesetz von 1877. Entstehung und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung. In: Rudolf Boch (Hrsg.): Patentschutz und Innovation in Geschichte und Gegenwart. Berlin/Frankfurt am Main 1999, S. 71– 84 Die mechanische Baumwollspinnerei – Mythos und Bedeutung einer Innovation im Industrialisierungsprozeß. In: 200 Jahre erste Baumwollmaschinenspinnerei in Sachsen. Chemnitz 1999 (= Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins 68, N.F. VIII), S. 199 – 207 Unternehmensnachfolge in Deutschland. Ein historischer Rückblick. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte (1999), Heft 2, S. 164– 171. Notabelntradition und „Große Industrie“ Soziale Wurzeln und gesellschaftliche Zielvorstellungen des Liberalismus der Rheinprovinz 1820 – 1850. In: Politische Strömungen und Gruppierungen am Rhein 1848/49. Vorträge gehalten auf dem Symposium anlässlich des 150. Jahrestages der Revolution von 1848/49 im Rheinland. Düsseldorf 1999, S. 1– 20 Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie: Eine Einführung. In: Rudolf Boch (Hrsg.): Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Tagung im Rahmen der „Chemnitzer Begegnungen“ 2000. Stuttgart 2001, S. 7– 22. Staat und Industrialisierung im Vormärz. Das Königreich Sachsen (mit Vergleichen zu Preußen). In: Manfred Hettling/Uwe Schirmer/Susanne Schötz (Hrsg.): Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, S. 355 – 371

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Schriftenverzeichnis Rudolf Boch

23. Johann Jacob Aders (1768 – 1825). In: Ralf Stremmel/Jürgen Weise (Hrsg.): Bergisch-Märkische Unternehmer der Frühindustrialisierung (RheinischWestfälische Wirtschaftsbiographien Bd. 18), Münster 2004, S. 215 – 233 24. Unternehmensgeschichte heute: Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends. In: Rudolf Boch (Hrsg.): Unternehmensgeschichte heute. Theorieangebote, Quellen, Forschungstrends. Leipzig 2005, S. 7– 14 25. Die Wanderer-Werke AG. Historische Verortung und Forschungsstand. In: Jörg Feldkamp/Achim Dresler (Hrsg.): 120 Jahre Wanderer 1885 – 2005. Ein Unternehmen aus Chemnitz und seine Geschichte in der aktuellen Forschung. Zwickau 2005, S. 9 – 15 26. Die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Sachsens als Basis der heutigen Industriekultur. In: Jörg Feldkamp/Ralph Lindner (Hrsg.): Industriekultur in Sachsen. Neue Wege im 21. Jahrhundert. Chemnitz 2010, S. 11– 17 27. Die Geschichte des Uranbergbaus der Wismut. Forschungsstand und neue Erkenntnisse (mit Rainer Karlsch). In: Rudolf Boch/Rainer Karlsch (Hrsg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex. Bd. 1: Studien. Berlin 2011, S. 9 – 32 28. Fabriken. In: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa. München 2012, S. 435 – 452. 29. Der Deutsche Zollverein und das rheinische Wirtschaftsbürgertum im Vormärz. In: Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hrsg.): Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2012, S. 139 – 150 30. Die „Wismut“ im sowjetischen Atomkomplex. Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte des Uranbergbaus im sächsisch-böhmischen Grenzraum. In: Frank-Lothar Kroll/Milos Reznik/Martin Munke (Hrsg.): Sachsen und Böhmen. Perspektiven ihrer historischen Verflechtung. Berlin 2014, S. 133 – 142 31. Transatlantikhandel Reloaded: Die Rheinisch-Westindische Kompagnie. In: Michael Schäfer/Veronique Toepel (Hrsg.): Sachsen und die Welt. Eine Exportregion im Vergleich 1750 – 2000. Leipzig 2014, S. 75 – 86 32. Das „rote Königreich“. Eine etwas andere Geschichte der sächsischen Arbeiterbewegung. In: Oliver Brehm/Jürgen Kabus (Hrsg.): 25 Jahre Industriemuseum Chemnitz. Industrie im Wandel erleben. Chemnitz 2016, S. 264– 274 33. Das Bergische Land im 19. Jahrhundert (1814– 1914). In: Stefan Gorißen/Horst Sassin/Kurt Wesoly (Hrsg.): Geschichte des Bergischen Landes. Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2016, S. 171– 267

Personenregister Aders, Johann Jacob 79 – 84, 86 – 90, 92, 130 – 144, 146 f., Adolph, Johann 113 André, Wilhelm 248 Anton, König von Sachsen 257 Ark, Theodor 161 f. Arkwright, Richard 211, 214 Baum, Johann Peter 95, 146 Bebel, August 48, 54, 59 – 61, 65, 69 Becher, Alfred J. 95, 144 Becher, Carl Christian 95, 143 f., 144 Beckerath, Hermann von 43, 95 f., 119, 122, 127 f. Benzenberg, Johann Friedrich 80 f., 134, 137, 140 f. Bernstein, Eduard 66 Beuth, Peter Christian 245, 256, 258, 260, 265, 267 Bismarck, Otto von 62, 242 Bodemer, Heinrich 269 Born, Stephan 56 f. Brinck, Anna Helene 131 Brose, Eric D. 255, 259 f., 267 Bruck, Johannes von 90 Brügelmann, Johann Gottfried 40, 211 Brüggemann, Karl Heinrich 98, 122, 125 Bruhn, Richard 229, 236 f. Brünig, Rüttger 113 Camphausen, Ludolf 96, 115 f., 123, 13, 75 – 77, 96, 99, 118 f., 124 – 128, 270 Camphausen, Otto 13, 75 – 77, 96, 99, 118 f., 124 – 128, 270 Carl, Heinrich 32, 121, 143, 160, 224, 265, 272 Carl, Prinz von Preußen 32, 121, 143, 160, 224, 265 Carlowitz, Hans Georg von 257 Compes, Gerhard Joseph 98, 124 Conze, Werner 18 Degenkolb, Karl 95 Delbrück, Rudolph von

242, 245, 248

Diederich, Johann Gottlieb Diergardt, Friedrich 119 Diez, Bernhard 113 Duisberg, Carl 108 DuMont, Josef 127

82

Eisenberg, Christiane 3 f., 23 – 28, 30 – 32, 57 Eisenstuck, Jakob Bernhard 14, 128 f., 268 – 270 Elberding, Peter 13 Engelhardt, Ulrich 21 f., 24, 28 f. Engeln, Ralf 205, 278 Engels, Caspar 58, 143 Engels, Friedrich 58 Fischer, Wolfram 205, 254 Fisenne, Peter von 113 Forberger, Rudolf 203, 255 f. Friedrich August I., König von Sachsen 257 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 119, 143, 267 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 267 Gall, Lothar 90 f., 110, 216 f., 222 Glaser, Hermann 213 Göring, Hermann 222, 229 Greve, John E. 195 Grieger, Manfred 223, 232 Gröschler, Hermann 199 Habermas, Jürgen 130 Hahn, Carl 236 f., 261, 287 f. Hansemann, David 13, 86, 91, 115, 117 – 128, 138, 145, 147, 270 Hardenberg, Karl August von 137 Harkort, Carl Friedrich 93, 131, 147 Harkort, Gustav 93, 131, 147, 265 Hasenclever, Josua 13, 80, 113, 143 Hecker, Carl 14, 129 Heggens, Alfred 246 Heilmann, Ernst 67 Herbert, Ulrich 19, 38, 44, 222, 233, 265

290

Personenregister

Herwegh, Friedrich 113 Herzig, Arno 4, 9, 24, 51, 58, 168 Heß, Moses 98, 203 – 205, 246 Heydt, August von der 13 f., 31, 95 f., 99, 119, 131 Hoffmann, Walter G. 161, 208, 254 Hofmann, Karl von 248, 250 Hülsmann, August Wilhelm 131 Jacobi, Leonhard 248 Jaenicke, Richard Adolf 193, 195, 201 Jellinghaus, Wilhelm 14, 129 Jung, Georg 98 – 100, 127, 143 Kaelble, Hartmut 106, 108, 219 Kamp, Heinrich 93 Karlsch, Rainer 58, 64 f., 205 f., 277 – 279 Kiesewetter, Hubert 203, 255 f., 258, 260, 262, 273 Klee, Hermann 197 Klostermann, Wilhelm 247 Kocka, Jürgen 13, 18, 21, 50, 103 f., 106, 108 f. Koselleck, Reinhart 130 Krupp, Alfred 101, 200, 222 Kukowski, Martin 193, 197 f., 204, 223 – 225, 236 Künzel, Andreas 196, 201 f. Lademacher, Horst 112 f., 260 Langen, Eugen 247 f. Lassalle, Ferdinand 4, 7, 13, 15 – 17, 58, 63 Lässig, Simone 65, 67 Lenger, Friedrich 3, 24 f., 61 Lenk, Georg 227 Lenssen, Diedrich Wilhelm 125 Leyen, Friedrich Heinrich von der 113 Liebknecht, Wilhelm 59 – 61 Lindenau, Bernhard August von 257, 259, 267 f. Lipinski, Richard 64 List, Friedrich 80, 88, 97 f., 113, 137 Lotz, Johann Friedrich 81 Louis-Philippe I., König der Franzosen 121, 124 Ludwig XVIII., König von Frankreich 77

Mallinckrodt, Arnold 78, 90 Mammen, Franz 268 Marx, Karl 58 f., 61 – 63, 98, 127, 216, 273, 275 Moszkowski, Alexander 69 Matschoß, Conrad 200 f., 248 Mehnert, Paul 66 Merkens, Peter Heinrich 80, 91, 96, 99, 114 Mevissen, Gustav von 75 – 78, 96, 98 – 100, 122, 124 Michaelis, Otto 242 Mirsching, Gerhard 201 Mommsen, Hans 223 Motteler, Julius 54 Müller, Adam 22, 24, 32, 81, 245 Mutschmann, Martin 227 Noske, Gustav

68 f.

Oppenheim, Dagobert Otto, Nikolaus August

98 123, 132 f., 247

Peltzer, Wilhelm 93 f. Pieper, Carl 248 Prince-Smith, John 242 f. Richter, Ralf 78, 194, 197 f., 202 Rother, Christian von 201, 267 Rotteck, Carl von 121 Rudolph, Karsten 46, 59, 63 – 70 Schäfer, Michael 58, 64 f., 205 f. Schaller, Karlheinz 60, 69 f., 195 Scheibler, Friedrich von 143 Schneider, Michael C. 23 – 28, 30 f., 63 199, 201 f., 208 Schneider, Rudolf 23 – 28, 30 f., 63, 201 Schröter, Harm 277 Schubert, Johann Andreas 261 Schubert, Karl-Heinz 201 Schuchard, Johannes 79, 86 – 94, 96, 99, 136, 164 Schulz, Heinrich 90 Schulze-Delitzsch, Hermann 58 Schumann, Dirk 105 – 107 Schütterle, Juliane 278 Schwenniger, Franz 56

Personenregister

Siemens, Werner von 200, 208, 223, 241, 246 – 251 Silberstein, Marcel 245 f., 250 f. Sismonde de Sismondi, Jean-Charles-Léonard 89 Smith, Adam 81, 130, 161 Speer, Albert 229 f. Spoerer, Mark 222 f., 228, 231 f., 235 Stein, Heinrich 63, 98, 271 Stresemann, Gustav 66 Suhr, Otto 109 Sybel, Heinrich von 122 Thompson, Edward P. 4, 18 Tilly, Richard 270 – 273 Troost, Abraham 80, 143 Ure, Andrew

216

Viktoria, Königin von Großbritannien und Irland 267 Vopelius, Carl 113

291

Wächtler, Eberhard 203 Wagenbreth, Ottfried 203 Welcker, Karl Theodor 121 Welskopp, Thomas 57 f., 60 f. Werner, William 21, 192, 204, 222, 224, 228 f., 241, 246, 248 f., 261, 276 Wieck, Friedrich Georg 262, 267 Wietersheim, Eduard von 257 f., 261, 267 Wilberg, Johann Friedrich 135 Wilhelm I., deutscher Kaiser und König von Preußen 62 Winklhofer, Johann Baptist 193, 195, 198 f., 201 Wirtz, Rainer 213 Zeman, Zbynek 278 Zwahr, Hartmut 7, 20, 35, 38, 64, 203, 255 f., 266, 268, 270 f.,