Die Ideologie der Tyrannei: Neognostische Mythologie in der amerikanischen Politik. Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Böttiger [1 ed.] 9783428541737, 9783428141739

Die »Ideologie der Tyrannei« führt den zeitgenössischen Jargon der politischen Korrektheit und die so genannte ›Politik

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German Pages 312 Year 2015

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Die Ideologie der Tyrannei: Neognostische Mythologie in der amerikanischen Politik. Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Böttiger [1 ed.]
 9783428541737, 9783428141739

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GUIDO GIACOMO PREPARATA Die Ideologie der Tyrannei

Die Ideologie der Tyrannei Neognostische Mythologie in der amerikanischen Politik

Von

Guido Giacomo Preparata

Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Böttiger

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

First published in English by Palgrave Macmillan, a division of Macmillan Publishers Limited under the title The Ideology of Tyranny by Guido G. Preparata. This edition has been translated and published under licence from Palgrave Macmillan. The author has asserted his rights to be identified as the author of this Work.

© 2007 Palgrave Macmillan, New York Für die deutsche Ausgabe alle Rechte vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany Umschlagbild: © fotolia – reinhard sester ISBN 978-3-428-14173-9 (Print) ISBN 978-3-428-54173-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84173-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinem Vater Giuliano (1942–2000)

Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Einleitung: Zur Genealogie der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Die Große Göttin und Dionysos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Gnostische Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Marquis de Sade: Ein liberaler Vater für Alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5. Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Die monströsen Archonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Erotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Kostenaufwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6. Foucault und die sozialwissenschaftliche Fiktion der Neo-Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . 119 7. Die „spöttischen Knappen“ der postmodernen Linken: Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Politische Korrektheit und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Empire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 8. Die Grabräuber der postmodernen Rechten: Jüngers Anarch, die Neocons und die Scheinhermeneutik des Leo Strauss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Jüngers Anarch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Martin der Dunkle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Kojève: Der Pierre Menard der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Leo der Schmutzige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Die Neocons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

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Inhalt

9. Die eigentliche Macht: Das Ende des Widerstands, Iran/Irak und der Krieg gegen den Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Veblen’s Testament und das Ende des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Mr. Foucault fährt nach Teheran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Golfkrieg I: Die Große Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Krieg gegen den Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Zusammenfassung und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Ausgewählte Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Abbildungen Abb. 1: Batailles Acéphale (der Kopflose), Originalzeichnung von André Masson, neu gedeutet von Evelyn Ysais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Abb. 2: Schemazeichnung zu Batailles „heiliger Soziologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Danksagung Mein tiefster Dank gilt Professor David MacGregor, der das Manuskript befürwortet hat, und für all die Ratschläge und Unterstützungen, die er mir im vergangenen Jahr angedeihen ließ. Sie waren wirklich hilfreich. Ich schulde meiner Frau Suzanne und Jim Norton Dank, die das Manuskript gelesen und mich in Fragen des Stils und des Inhalts beraten haben. Ihre Kommentare haben viel zur Verbesserung des ursprünglichen Textes beigetragen. Ich möchte auch Toby Wahl beim Verlag Palgrave Macmillan für die zügige Herausgabe des Textes danken und Roger van Zwanenberg wegen seines Titelvorschlags für das Buch. Schließlich bin ich für die Anwesenheit all der kleinen Freunde im Schlafzimmer dankbar, die während des Sommerlochs im Haus für Freude gesorgt haben.

Wie alle Propagandisten sind, um die Wahrheit zu sagen, die Apostel der Toleranz sehr oft die intolerantesten Leute. Das ist tatsächlich der Fall und ist zugleich auf seltsame Weise ironisch: Diejenigen, die alle Dogmen überwinden wollten, haben für den Hausgebrauch, um nicht zu sagen ein neues Dogma, sondern die Karikatur eines Dogmas geschaffen, das sie mit Erfolg [der westlichen Welt im Allgemeinen] auferlegt haben. Auf diese Weise wurden unter dem Vorwand der „Gedankenfreiheit“ die fantastischsten Glaubenssysteme, die man je zu Gesicht bekommen hat, in Gestalt verschiedener […] Götzen errichtet. René Guénon, East & West1

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René Guénon, East & West, Ghent, NY 2001 [1924], S. 28.

Vorwort Die Welt dürfte sich fragen, was den kollektiven Geist Amerikas in diesen Tagen bewegt. Pressestimmen behaupten, es handele sich um blinde Eroberungssucht, um hirnlose Gier oder ähnlich niederträchtige Antriebe, die für das um­ fassende Elend unserer Zeit verantwortlich seien. Die Apologeten zögern und halten dagegen: Was man beobachtet, sei nur die heftige und oft missverstandene Reaktion auf Gewalt von außen, die Antwort auf eine abgründige Bedrohung. Anerkannte Intellektuelle setzen das Schlusswort darunter und deuten damit für uns alle an, dass eine solche nicht beherrschbare Notlage das unumgängliche Ergebnis der Fragmentierung der Welt darstelle. Wir lebten, ermahnen sie uns, in einem Umfeld, das auf den globalen Zugriff westlicher Unternehmen mit dem explodierenden Wunsch reagiere, eine Fülle verschiedener, unterschiedlicher „Mienen“ aufzusetzen. Die Welt löse sich schließlich, sagen sie, in einem Gewirr von Ethnien, Dialekten, Einstellungen und Stimmungen auf, die sich auf keinen gemeinsamen Nenner zurückführen ließen. Das Zeitalter der Vernunft, des Fortschritts, des Richtig und Falsch, die Ära der Moderne sei am Ende. Statt dessen bliebe uns nichts übrig, als uns mit der Unsicherheit der postmodernen Epoche, unserer Epoche, auseinanderzusetzen. Nach dieser neuen Art, gesellschaftliche Vorgänge zu interpretieren, leben wir in einer Welt „dezentralisierter“ Macht. In ihr haben sich ehemalige Antagonismen in eine unendliche Vielzahl von „Partikularismen“ aufgelöst, so dass „Universalien“ nicht mehr gelten. Daher halten diese Apostel der neuen „Postmoderne“ die Auseinandersetzung im Namen solcher Universalien nur noch für Zeitverschwendung und für ein verfehltes Unterfangen. Auslöser für die vorliegende Schrift war der Wunsch, gewissermaßen die völlige Verwirrung nachzuzeichnen, welche die Bewegung des politischen Widerstandes in Amerika und im Westen befallen hat. Ich bin überzeugt, dass eine der Hauptursachen für diese Lähmungserscheinung die Tatsache ist, dass das Establishment dieses „Bekenntnis zur Diversität“ gefördert hat: Die sogenannte postmoderne Politik der Verschiedenheiten. Seit nunmehr über zehn Jahren hat das eingängige Schlagwort „Postmoderne“ sich in der englischen Sprache und im amerikanischen öffentlichen Diskurs auf breiter Basis behaglich eingenistet, und zwar so sehr, dass es kaum noch Aufmerksamkeit erregt. Die Aufregung, die seine Einführung vor einer Generation in den Vereinigten Staaten ausgelöst hat, beschäftigt dementsprechend nur noch wenige akademische Antiquare. Und doch ist – wie so häufig – die Geschichte dieses besonderen kulturellen Imports recht aufschlussreich – aufschlussreich in dem Sinne, dass die Denkweise der amerikanischen intellektuellen Elite unter den Ein-

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fluss von Überzeugungen geraten zu sein scheint, die im Vergleich zu denen, die in Europa und anderswo in der Welt vorherrschen, recht eigenartig sind. Wie diese Studie zeigt, hat die relativ neue Überzeugung in den USA – tatsächlich nur eine moderne Wiederaufbereitung antiker, chaotischer Formen der Systemopposition – ihre Anhänger veranlasst, sich Gebilde der jüngsten anti-humanistischen Schule in Frankreich umfassend auszuleihen, um damit den jüngsten politischen und religiösen Positionen der amerikanischen Linken einen formalen, würdevollen Ausdruck zu verleihen. Dies betraf eine Linke, die Ende der siebziger Jahre von dem System, das sie anderthalb Jahrzehnte lang so kopflos bekämpft hatte, voll und ganz bezwungen worden war. Mit anderen Worten, dieses Buch erzählt die Geschichte, wie die amerikanische Intelligenz dazu kam, sich aus Frankreich einen besonderen Jargon und eine spezielle Bildsprache zu importieren, um damit ihrer neuen Politik der Differenziertheit Ausdruck zu verleihen. Diese seltsame amerikanische Übernahme französischer, spekulativer Träumereien hat ein Hybrid erzeugt, das die kritischen und analytischen Fähigkeiten der unter ihren Einfluss geratenen Studierenden und Wissenschaftler außer Gefecht gesetzt hat. Immer wieder mussten wir kritische Meinungen hören, die Amerika eine barbarische Faszination für ein „Imperium“ und eine Vorherrschaft vorwerfen. Von ihr heißt es, sie würde derzeit zusammen mit dem übertriebenen Nationalismus der Neokonservativen und der neoliberalen Begeisterung für „Outsourcing“ und „Globalisierung“ eine zweite Jugend erleben. Noch interessanter ist, dass hinter der amerikanischen konservativen, kriegstreibenden Feindseligkeit eine andere Form der Frömmigkeit steckt, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem anderen bürgerlichen Götzendienst, dem Protestantismus der Weißen, zu stehen scheint, die aber letztlich die jüngsten patriotischen Erschütterungen und den von Angst getriebenen Trotz des Durchschnittsamerikaners speist. Diese andere Form des Fanatismus spricht durch, benutzt, und erneuert ständig die Lehren der postmodernen französischen Schule. Ein entsprechend eigentümlicher Katechismus hat in letzter Zeit plötzlich eine Vormachtstellung in der bunten Phraseologie der öffentlichen Meinung eingeräumt bekommen. Ihre außerordentliche Suggestionskraft beweist die Tatsache, dass ihre Rhetorik nicht nur die Ana­lysen der zeitgenössischen Linken, sondern auch die Visionen der neokonservativen Falken prägt. So kam es zum Beispiel in der Zeit nach dem Anschlag auf das World Trade Center vom 11. 9. 2001 (9/11) zu einer seltsamen „Übereinkunft der postmodernen Köpfe“. Ein Kulturkritiker, der einst dem anarchistischen Flügel der amerikanischen Linken angehörte, reichte im übertragenen Sinne den propagandistischen Bemühungen der US-First Lady die Hand und feierte den Überfall auf Af­ghanistan im Oktober 2001 als „den ersten feministischen Krieg der Geschichte überhaupt“.1 Daran zeigt sich, dass Amerikas Rache-Krieg gegen den 1

Paul Berman, Terror and Liberalism, New York 2003, S. 195.

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„Terrorismus“ und der alles überspannende „mitfühlende Konservatismus“ von Bush II auf plumpe Weise versucht, sich die aufquellende Bewegung der Unterschiedlichkeits-Befürworter einzuverleiben (Feminismus ist einer der Ableger der neuen Manie der Linken für Singularitäten und einen Bereich endloser Aus­ differenzierungen). Dies bedeutete: Die postmoderne politische Korrektheit arbeitet Hand in Hand mit dem Autoritarismus der Behörden zusammen: Das war etwas Neues. Solche Hinweise führen zu der Vermutung, dass die Vereinigten Staaten dem Einfluss von zwei verderblichen Kräften ausgeliefert sind: der Verehrung von Gewalt, welche die traditionelle Rechte verkörpert, und einem eifernden Materialismus der postmodernen Art, welcher die aktive Kritik und den Widerstand gegen das offenkundig oligarchische Fehlverhalten der modernen, sogenannten „liberalen“ Demokratien ausgehebelt hat. Dabei hat die Postmoderne der Linken die Rechte bestärkt. Bisher hatte sich die Debatte über die Postmoderne auf die Erörterungen hochgestochener Intellektueller beschränkt, auf einen Clan von Experten, die einander mit immer komplexeren Argumenten und Gegenargumenten aus der philosophischen Tradition des modernen Westens beharkten. Doch worüber haben sie eigentlich gestritten? Auf der einen Seite haben die französischen postmodernen Verkündiger und ihre amerikanischen Epigonen mit dem ständigen Verweis auf den Holocaust im Zweiten Weltkrieg das Ende der Vernunft, der Wahrheit und des absolutistischen Szientismus gefeiert, während ihre positivistischen Gegenspieler auf beiden Seiten des politischen Spektrums ebenfalls die gleichen genannten Ansprüche verwerfen. Auf längere Sicht haben sich jedoch die Postmodernen durchgesetzt: Die Lehrpläne der Schulen und Hochschulen in den Vereinigten Staaten wurden weitestgehend dem Diskurs der Unterschiedlichkeit, Mehrdeutigkeit und der unüberbrückbaren „Differenzen“ unterworfen. Offensichtlich gab es dafür politische Motive und Gewinnaussichten. Eines der wichtigsten Ziele dieses Buchs ist zu ergründen, welcher Art diese Motive und Gewinnaussichten sind. Im postmodernen Lager wird die aggressive Schmähung der Dogmen des „Guten, Wahren und Göttlichen“ auf die Spitze getrieben. Dadurch, dass man das „Unterschiedliche“, das post-koloniale „Andere“ feiert und „Farbige“ gegen „Weiße“, Frauen gegen Männer, Homosexuelle gegen Heterosexuelle ausspielt, hat sich die gebildete Klasse selbst in eine Sackgasse getrieben und einen allgemeinen Zustand der Apartheid geschaffen. Dabei nehmen mitunter Gruppen, die sich nach Geschlecht, Rasse oder Religion definieren, für sich radikale Positionen ein und brechen schließlich jede Verständigung untereinander ab. Dieses Sich-Verschanzen hat übrigens recht wirksam in die Propaganda der bürokratischen Maschinerie hineingespielt. Diese vermochte dadurch ihre geopolitischen Verstrickungen im Nahen Osten und in Zentralasien als Befreiungskriege im Namen von Freiheit und Demokratie (das „liberale“ Ethos), sowie als „Verschiedenartigkeit“ (die postmoderne Überzeugung) darzustellen.

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Die okkulten Motivationen und Neigungen, die der Sprache der Eroberung dazu verhalfen, sich des neuen Jargons der Gegenkultur zu bedienen, dürften auffliegen, wenn man in die Werke der jüngsten französischen Meister hineinschaut. Der Guru, dessen Arbeiten im Laufe der 70er und 80er Jahre importiert und neu erarbeitet werden sollten, war Michel Foucault (1926–1984). Foucaults Theorie der Macht wurde weitgehend zur Grundlage des öffentlichen Diskurses in Amerika. Angefangen hat das in der Wissenschaft und gelangte über die Lehrpläne bis in Regierungskreise. Seit ihrer erfolgreichen Einführung in den USA vor einem Vierteljahrhundert hat sich Foucaults Philosophie schrittweise als Phraseologie der intellektuellen Linken Amerikas durchgesetzt. Ganze Horden von begeisterten Wissenschaftlern, Publizisten und Pädagogen haben aus Foucaults Gesamtwerk Ideen, Metaphern, Neologismen und Gleichnisse herausgepickt, die es ihnen ermöglichten, nach Herzenslust die Verwerfungen im gesellschaftlichen Zustand Amerikas zu artikulieren. Nicht nur ist die Postmoderne seither zum staatlich geförderten Wegbereiter der politischen Korrektheit in Amerika geworden, sondern sie hat es paradoxerweise geschafft, sich in den höheren Lehranstalten als ausschließliche Stimme der Vernunft und Toleranz zu etablieren. Dies ist umso erstaunlicher, als Foucaults offensichtliche Verehrung der Verdammnis, des Blutes und der Vergehen – wie noch zu zeigen ist – in Wirklichkeit die rationale Formulierung einer seltsamen Neuentdeckung antiker, antitraditioneller Kosmogonien ist. Deren Wiederbelebung wurde tatsächlich zum größten Teil Ende der dreißiger Jahre vom eigentlichen Lehrer Foucaults und aller neueren französischen Philo­ sophen brillant vorbereitet: vom verfemten Soziologen und Pornographen Georges Bataille (1897–1962). Bataille hat sein literarisches und philosophisches „Projekt“ (le projet) konzipiert, um die Bindungen aufgrund von Mitgefühl, die, seiner Meinung nach, eine Gesellschaft lose zusammenhalten, zu schwächen. Die Soziologie Georges­ Batailles – eine eigenartige und genial beunruhigende Ansammlung von Einsichten, die dem englischsprachigen Publikum kaum bekannt sind – dürfte wohl eine der zentralen geistigen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften sein. Es handelt sich um ein kryptisches Unterfangen, eine Mischung aus Lyrik, politischer Ökonomie und umgestalteter Religion, die indirekt (meist aufgrund der Bearbeitung durch Foucault) eine nachhaltige Wirkung auf die Diskussion in Amerika ausübt. Die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Postmodernen scheint sich dessen nicht einmal bewusst zu sein, dass sie Zuträger zu einem derart seltsamen Projekt ist. Im Unterschied zu anderen Monographien über Bataille, die ihn lediglich als Nietzsche-Anhänger schildern, legt diese Arbeit den Schwerpunkt auf die tiefgründige Originalität Batailles. Sie beschreib sein „Werk der Vergiftung und Verseuchung“ – wie er selbst es anpries – als eine in der Tat einzigartige, weitgehend hypnotisierende und ästhetische Wiedereinführung der antiken, anti-monotheis­ tischen Kulte in ein modernes Ambiente: Eines wiederaufbereiteten Kults des

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Dionysos und der Weißen Göttin und seiner späteren philosophischen Ausdrucksformen in der Gnosis. Foucault hat verstohlen Batailles Mythologie überarbeitet und verändert, um sie den politischen Bedürfnissen der amerikanischen Linken, die in den siebziger Jahren zu einer Art „multikulturellem“ Dienst umgeformt worden war, anzupassen. Überraschend ist – und das wird die detaillierte Studie über Batailles Werk in diesem Buch zeigen –, dass die amerikanische Linke paradoxerweise ein Credo übernommen hat, dass, statt mitfühlend zu sein, genau das Gegenteil ist. Um es abzurunden, kommen wir zu dem Schluss, dass in Amerika heute die Partei der Emanzipation sich eines Jargons bedient und an einen Mythos glaubt, der ursprünglich von Frankreichs klarstem Befürworter religiöser Gewalt und moralischer Verworfenheit stilisiert worden war. Um das noch zu überbieten, herrscht auf der Gegenseite, bei den neokonservativen Rechten, im Wesentlichen dieselbe Glaubensgrundlage vor, wie sie den Argumenten und Metaphern der postmodernen Linken zugrunde liegt. Aus diesem Grund sprechen wir auch von einer „Postmoderne der Rechten“. Jede F ­ raktion gibt die Rolle wieder, die ihr aufgrund einer konsensbildenden Methode zugeschrieben worden ist und die sich auf den chronischen Antagonismus zwischen der offiziellen Rechten und der offiziellen Linken stützt. Wir werden bei Gelegenheit zeigen, dass das Glaubenssystem der neokonservativen Intellektuellen in der früheren Regierung von Bush II eine tiefe Verbundenheit mit den Ansichten Batailles aufweist. Das alles soll zeigen, dass das Spiel um einen angeblichen Gegensatz zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Postmoderne letztendlich einer Art Zusammenarbeit dient. Es handelt sich um eine institutionalisierte Form der Gegnerschaft, um einerseits die Fiktion einer offenen und demokratischen Debatte aufrecht zu erhalten, und andererseits in erster Linie um jede andere Form des Widerstands auszuschalten. Da sich die Postmoderne gegen Mitgefühl stellt und stark für die Aufsplitterung einsteht, ist es kein Zufall – und das ist die Hauptthese von „Die Ideologie der Tyrannei“ –, dass sie von der US-Regierung übernommen worden ist. Diese Regierung ist zunehmend effektiver und raffinierter im Bemühen geworden, jede Form des Widerspruchs zu zähmen, zu neutralisieren, abzulenken und zu unterdrücken. Die Kombination der üblichen Einschüchterungstaktiken (Polizei, Mobbing und Regierungssanktionen) mit der ideologischen Verbreitung eines Evangeliums der Aufspaltung der Gesellschaft (in den Schulen und am Arbeitsplatz) scheint sich bisher zur Zufriedenheit der Bürokratie bewährt zu haben. Der Zustand der Lähmung infolge der Verbreitung eines solchen Evangeliums ist wirklich außerordentlich und tatsächlich viel zersetzender als die alte Kontroverse zwischen Sozialisten und Liberalen. Und genau dazu wurde die Postmoderne als eine neue, starke Ideologie der Tyrannei auch geschaffen. Diese Studie beginnt mit einem knappen Überblick über die entarteten religiösen Kulte (Kapitel 2: Die Große Göttin und Dionysos), deren Tradition Bataille im zwanzigsten Jahrhundert auf Grund von Eigenerfahrung, Einfühlung, Neigung

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und Erforschung ästhetisch wiederzubeleben versucht hat. Wir gehen auch kurz auf die Gnosis und ihre Parallelen zur Postmoderne (Kapitel 3) ein und verweisen auf Marquis de Sade (Kapitel 4), bevor wir uns der zentralen Diskussion von Batailles Werk zuwenden. de Sade war für Bataille, Foucault und die post­moderne Gefolgschaft ein Held. Dem in fünf Unterabschnitte (Mystik, die monströsen Archonten, Erotik, Ausgaben, Macht) aufgeteilten Kapitel 5 über Bataille folgt die biographische Auseinandersetzung mit Foucaults Vision und seiner kritischen Bearbeitung des Projekts von Bataille. In diesem 6. Kapitel zeichnen wir den Weg nach, auf dem Foucault zu seiner Theorie über Macht/Wissen gelangte, und wie und warum es dazu kam, dass sie von amerikanischen Intellektuellen importiert und übernommen wurde. Kapitel 7 („Die spöttischen Knappen der postmodernen Linken“) bietet in zwei Abschnitten Stichproben aus der postmodernen Produktion. Der erste behandelt die gegenwärtige Pädagogik in den USA, die auf den postmodernen Franzosen Jean-François Lyotard zurückgeht, auf seinen Freiheitsbegriff und die Absurditäten, in welche die politische Korrektheit ausufern durfte. Dem folgt eine Kritik des politikwissenschaftlichen Bestsellers Empire von Hardt & Negri – ein uneingestandenes Bataillesches Fresko, das die offizielle amerikanische Presse mit Begeisterung beworben hat. Das achte Kapitel widmet sich der „Postmoderne der Rechten“: Es beginnt mit einer Untersuchung von Ernst Jünger, einem der begabtesten und umstrittensten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Jünger wird hier als das konservative Gegenstück zu Bataille eingeführt. Die tiefgehende Ähnlichkeit zwischen den beiden, und vor allem Jüngers viel frühere Analyse der „disziplinierenden Macht“, zeugen von dem faszinierenden Zusammengehen der Linken und der Rechten. Ihre Gemeinsamkeit besiegelt die beiderseitige Überzeugung, dass Opfer, Kriege und Gewalt (d. h. die Notwendigkeit des Holocausts) zum Wesen der Natur und deshalb des Menschen gehören. Obwohl der amerikanischen Öffentlichkeit kaum bekannt, ist Jünger eine herausragende Figur, die einen starken Einfluss auf Martin Heidegger ausgeübt hat. Heideggers Mythologie des „Daseins“ ist nur die deutsche Entsprechung zu Batailles Begriff „Kern“ (le noyau). Dieser Philosoph, der, wie Jünger, mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gestanden hat, ist in der Tat eine führende Erscheinung in der Postmoderne. Er wird auf Seiten der Linken, von Foucault und den französischen Anti-Humanisten, ebenso verehrt wie von den Rechten. Unter den konservativen Bewunderern Heideggers finden wir Batailles Lehrer, Alexandre Kojève, dessen „Ende der Geschichte“ Grundlage für den rechten und den linken Flügel der Postmoderne, insbesondere für Leo Strauss war, der neuerdings zur Galionsfigur des Neokonservatismus wurde. Nach der Erörterung von Jünger, Heidegger und Kojève geht dieses Kapitel auf die Schriften von Strauss und seiner Anhänger (allen voran auf Allan Bloom, Irving Kristol, und Francis Fukuyama) ein, welche die Gesamtheit des zu Wort kommenden, sogenannten Neokonservatismus umfassen. Dieser Teil der Studie will die beiden Seiten dieser bedenklichen Ideologie miteinander in Beziehung setzen. Wir wiederholen in diesem Fall die bekannte These, wonach die verbale Entgegensetzung

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dieser siamesischen Zwillinge der Postmoderne nur eine Vorspiegelung, ein Vorwand ist, der die völlige Ohnmacht und Unterwürfigkeit der Linken enthüllt. Diese beweist in der Tat durch ihre Einstellung und dadurch, dass sie Bündnisse über Trennendes hinweg verhindert, dass sie beim großen Fahrzeug der Macht, das die Rechte steuert, hinten aufsitzt. Diese Schlussfolgerung wird durch die Analyse im letzten, dem 9. Kapitel, ausgeführt. Es untersucht eingehend das vollkommene Versagen der sogenannten Linken, ihre kritische Rolle in der heutigen Zeit zu erfüllen. Dieser bunt zusammengewürfelte Chor spricht zwar im Namen des „Widerstands“, hat sich tatsächlich aber als unfähig erwiesen, eine wahrheitsgemäße Auslegung der internationalen Vorgänge zu liefern und damit eine einschneidende Kritik an dem übermäßigen Unrecht der Westmächte (vor allem der USA) an der Zivilbevölkerung im Nahen Osten zu üben – um nur eine der schmerzlichen, jüngsten Erfahrungen herauszugreifen. Ich bin überzeugt, dass die Ursprünge für das Versagen der amerikanischen Linken auf die letzte, wirkliche Revolte, welche die Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg erlebt haben und während der das Regime die sozialistische Bewegung zerschlagen hat, zurückzuführen ist. Die Brandfackel, die diese Phase der enttäuschten Hoffnungen verkörperte, war Thorstein Veblen, einer der größten Denker des Westens. Seine abschließende Analyse der Übel der modernen Wirtschaftsunternehmen und seine Vorschläge zu ihrer Überwindung werden hier in der Hoffnung vorgetragen, sie könnten einer neuen, verjüngten Bewegung des mitfühlenden Widerstands einen programmatischen Neuansatz bieten. Auf Veblens Testament folgt ein kurzer Ausflug in die jüngsten ideologischen Auseinandersetzungen Amerikas und des Westens, vom Schattenboxen im Kalten Krieg bis zur Anti-KriegsBewegung und ihrer Auflösung im multikulturellen Aufkauf mit Hilfe des Staates. Selbst hinsichtlich der gequälten Beziehung des Westens zum Nahen Osten ebnete Foucault den Weg der Linken in die kritische Unvernunft. Anlässlich der von Khomeini geführten „Revolution“ von 1970 stellte Foucault diese in einer Serie von Artikeln für eine italienische Tageszeitung als den plötzlichen und klangvollen „islamischen“ Gegenangriff, als reines Beispiel einer Macht dar, die von den Rändern aus zum offenen Widerstand gegen die Disziplinargewalt der Technokratie des Schahs blies. Er stellte sich im Namen der Blutrache auf die Seite der Mullahs. Foucaults Nacheiferer, Jean Baudrillard, tat das Gleiche im Jahr 1991, als er in einer Reihe von weit verbreiteten Artikeln provokativ schrieb, der Golfkrieg sei die theatralische Darbietung unterbewusster, kollektiver Vorgänge. Es handele sich dabei um einen Vorgang, bei dem die Beschämung des Westens darüber, dass er 1980 Saddam zum Krieg gegen den reinen, von Khomeini verkörperten Islam angetrieben hatte, verlangte, die Beweise zu vernichten und damit zugleich den kleinen Tyrannen im Irak zu liquidieren – was sich nur durch einen vorgetäuschten Krieg bewerkstelligen ließ. Baudrillard wagte eine ähnlich metaphorische Interpretation der 9/11-Anschläge und konstruierte daraus unser unbewusstes, benebeltes Verlangen, auf unsere eigene westliche Hegemonie auf dem Umweg über die „Virus-artige“ Macht des Terrorismus einzuschlagen.

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Vorwort

Allerdings gibt das Establishment konventionelleren Analysen im Sinne Foucaults, etwa denen von Hardt und Negri, den Vorzug. Sie beschreiben den Terrorismus als negativen, rebellischen Rückschlag gegen den allgemeinen Globalisierungsprozess, den zu lenken die Macht jeder einzelnen Behörde, der offiziellen oder sonst einer, übersteigen würde. Sophistische Spekulationen der Art werden zur Zeit von der akademischen Welt in Umlauf gebracht und von den Medien aufgegriffen, um alle geopolitischen Vorkommnisse seit dem Anschlag vom 9/11 zu verdauen. Nicht einmal die Theoretiker der alten Linken, die Überlebenden der Anti-Kriegs-Demonstrationen der sechziger Jahre, waren in der Lage, die jüngsten Ereignisse wesentlich anders als nach dem Foucaultschen Modell zu interpretieren. Im Endeffekt ist leicht zu erkennen, dass alle ähnlichen Erklärungen aus dem Bereich des „Widerstands“ tatsächlich den offiziellen Darstellungen der Regierung, wie etwa dem 9/11-Bericht entsprechen. Anscheinend sind die Postmoderne und die Segmente der alten Linken einen intellektuellen Kompromiss mit den Falken der US-Regierung hinsichtlich des Kriegs gegen den Terror eingegangen. Mit ihm anerkannten sie einerseits die Unvermeidbarkeit der Globalisierung und andererseits die Foucaultsche Fiktion, Al-Qaida sei ein „loses Netzwerke dezentraler Macht“ und Bin Laden leiste „symbolischen Widerstand“.

Kapitel 1

Einleitung: Zur Genealogie der Postmoderne Verfolgen wir die Ahnenreihe dieses hehren menschlichen Elends, so stehen wir am Ende vor den ursprungslosen Urvätern der Götter, so dass wir trotz der heiteren Sonnen, die über den Schnittern lachen, und trotz der runden Monde, die Zimbeln zur Ernte schlagen, uns dieser Einsicht nicht verschließen können, dass selbst die Götter nicht für immer fröhlich sind. Das untilgbare Muttermal der Trauer auf des Menschen Stirn ist nur der Schmerzensstempeln derer, die ihn aufgedrückt. Herman Melville, Moby Dick1

Zunächst hielt man „Politische Korrektheit“ (PC) nur für eine absurde und hoffentlich bald vorübergehende Travestie: eine Ansammlung kitschiger Beschönigungen, die wie Feigenblätter die Obszönitäten des heutigen Amerikas, seine Barbarei und seinen Rassismus bedecken sollten. Wie wir inzwischen wissen, wurde aus „Mrs.“ und „Miss“ „Ms.“, aus „Göre“ „Frau“, aus „Farbigen“ „Minderheiten“, aus „Typ“ der „Herr“, aus „Schwarzen“ „Afro-Amerikaner“, aus „fett“ „übergewichtig“, aus „Spics“ „Lateinamerikaner“ (oder „Hispano-Amerikaner“), aus „dürr“ „schlank“, aus „Wops“ „Italo-Amerikaner“, aus „Ländern der Dritten Welt“ „Entwicklungsländer“, aus „Orientalen“ „Asiaten“, aus „klein“ „zierlich“ – und so weiter. Nur so weit haben die kleinen Leute die Veränderungen wahrgenommen. Zu Beginn – in den frühen achtziger Jahren – klang das alles lächerlich. Man hätte diesem großen Aufwand einen Vertrauensvorschuss gewähren und zu dem Schluss gelangen können, dass PC der Ausdruck einer Bewegung war, die trotz allem versucht, Fehler und gehässige Vorurteile der Vergangenheit dadurch zu beheben, dass man bei den Worten selbst, bei der Redeweise ansetzte. Doch wurde schon bald klar, dass die Veränderungen nicht weiter getrieben werden sollten. Es kam nur auf die Rhetorik an. Es handelte sich um eine Art manieriertes Vorspiel zu den eingefleischten Zweideutigkeiten der „liberalen Demokratie“, die ihre Machenschaften, ihre internationale Ausbreitung und soziale Ungleichheit, alle ihre imperialen Intrigen zum einen im Namen der „Freiheit“ und der „Menschenrechte“ zu rechtfertigen pflegt und zum anderen die Schuld an der „wirtschaftlichen Ungleichheit“ ausschließlich der „Kultur“ zuweist. PC erwies sich also als bloßer Jargon, durch den die Mittelschicht ihr Versagen verschleiert hat: Nämlich die Unfähigkeit, das Land zu demokratisieren; ihre tiefsitzende Abneigung gegen all diejenigen ethnischen Gruppen zu überwinden, 1 Herman Melville, Moby Dick, neu übersetzt von Matthias Jendis, München: Random House, 2003, S. 714.

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die sich hinsichtlich technologischer und betriebswirtschaftlicher Kenntnisse als „beschränkt“ erweisen; den Anblick von Elend und Not zu tolerieren, ohne das Ziel, sie zu beheben sowie Armut zu lindern. Kurz gesagt: Die Unfähigkeit der Mittelschicht, „den sozialen Sonnenschein zu verbreiten“. Aus Verzweiflung über dieses ihr Versagen hielten es die Intelligenz und das Volk für besser, sich selbst zu belügen und weiter durchzumogeln. Wie Hacker drangen sie in das Netzwerk des täglichen Sprachgebrauchs ein, veränderten die Daten und frisierten die Wörter, und zwar solche Wörter, deren ausgesprochene Brutalität bereits nahelegte, wo die eigentlichen Probleme anzugehen wären. Doch zeigten sich zunächst noch keine Hintergedanken. Die Dinge entwickelten sich mit der Zeit. Die Alltagssprache wurde dabei nicht nur verfälscht. Als Folge davon wurden die intellektuellen Möglichkeiten zum Widerspruch geschwächt. Allmählich drängte sich der Schluss auf, dass dieser halb-improvisierte, sprachliche Fleckenteppich die Dimension eines Systems angenommen hat. In den Schulen galt es als modern zu vermitteln, „Wahrheit“ sei ein schwer fassbares Konzept. Daher sei auch der Begriff „unveränderliche Werte“, worunter man menschlichen Errungenschaften (und Verbrechen) zählen konnte, nicht nur falsch, sondern als verabscheuungswürdig zu verwerfen. Dies müsse schon deshalb geschehen, weil der Begriff implizit dazu auffordere, alles, was als „geringer wertig“ eingestuft würde, zu diskriminieren, es zu unterwerfen und es schließlich zu vernichten. Entsprechend dieser verbreiteten Glaubensbekenntnisse war an all diesen Abscheulichkeiten der weiße Mann europäischer Abstammung und mittleren Alters Schuld, der zugegebenermaßen der größte Klassifizierer und Schlächter in die Geschichte der Menschheit gewesen ist. Dies war kaum eine neue oder umstrittene Einsicht. Neu daran war jedoch die eigentümliche Logik, die zu diesen Schlussfolgerungen geführt hat. Sogenannte „Wahrheiten“, hörte man, bildeten nur ein Gewirr von Diskursen, und Diskurse würden sich ständig ändern. Dabei sei der eine Diskurs kaum „wahrer“ als der andere. Sie alle seien nur Manifestationen der sich entwickelnden Machtverhältnisse. Das roch verdächtig nach einem marxistischen Argument. Doch ein solches war es gerade nicht. Denn wenn man der Sache weiter nachging, entdeckte man, dass die menschliche Darstellung von Wirklichkeit insgesamt nur ein Gewebe von Diskursen sein soll, von denen manche Diskurse (die dominierenden) als die gewichtigeren gelten und andere (am Rande) als weniger bedeutsam. Das Neue daran war, dass nun mit Hilfe der Analyse ganz neue Kategorien von Benachteiligten – von Unterdrückten – geschaffen und mit eigenen Diskursen ausgestattet wurden. Deren Diskurse seien – wie mit Nachdruck verlangt wurde – kaum weniger (wenn nicht sogar sehr viel mehr) edel, legitim und ehrlich als diejenigen der eurozentrischen Weißen. Auf den ersten Blick schien sich darin so etwas wie Mitgefühl zu äußern, um den früher stummen Opfern von Folter und Missbrauch, den „ungeschützten Zielen“ westlicher Unterdrückung, eine Stimme zu verleihen: Den kolonialisierten Völkern, den Armen, Schwachen, Frauen, Kindern und Homosexuellen. Doch

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wieder einmal zeigt sich bei genauerem Hinsehen: Darum ging es gar nicht. Dieses neue philosophische „System“ bot nämlich keine Lösung, keine Synthese, keine Heilserwartung, kein Versprechen, sich um eine Form der Einheit zu bemühen, wie es zum Beispiel im Fall von Christentum und Marxismus zu einem gewissen Grad der Fall war. Weil der neue „Diskurs“ keinen wirklichen Ausweg aus dem Leiden zeigen konnte, überließ er die Welt anscheinend ihrer eigenen Verwirrung und Auflösung. Als beste Möglichkeit schlug er den verbissenen Widerstand gegen die etablierten Mächte der Unterdrückung und den Versuch vor, diese dadurch zu untergraben, dass man sich Zellen der Guerilla-Kriegsführung anschloss, welche die etablierten Mächte von den Rändern der Gesellschaft aus angreifen. Kurz gesagt, man lieferte eine Art Evangelium des intellektuellen Ungehorsams im Namen eines sentimentalen, heimlichen Einverständnisses mit den Unterdrückten dieser Welt. Tatsächlich lief – wie noch zu zeigen ist – diese neue intellektuelle Modeerscheinung auf etwas weitaus Komplexeres hinaus, als sich beim ersten Eindruck erkennen ließ. Doch waren dies im Großen und Ganzen die unmittelbaren Züge, die sich einem aus der ersten zufäl­ligen Begegnung mit diesem System zeigten. Die amerikanische Akademikerschaft stand in den achtziger Jahren an der Spitze des entsprechenden Umbau-Verfahrens. Ungeachtet ihrer Posen und sentimentalen Äußerungen hat die Akademikerschaft selten (wenn überhaupt) etwas mit Ungehorsam im Sinn. Unter den amerikanischen Erziehern führte der neue Trend, sobald er die Frage von „Widerstand“ berührte, praktisch zu etwas wie einer schelmischen Pantomime von Widersetzlichkeit. Mit anderen Worten, die „neuen Abweichler“ arbeiteten genau wie ihre Vorgänger (die Marxisten von gestern) nie außerhalb oder gar gegen das herrschende System, sondern immer nur innerhalb des vom System gesetzten Rahmens. Sie waren entschlossen, ein Spiel zu spielen, bei dem sich jede(r) in dem verbalen Bunker der „Toleranz“ verschanzen konnte. Von dieser Position aus, pflegten sie alle „kulturellen Artefakte“ („großartige“ Bücher, Filme, wissenschaftliche und mediale Artikel, usw.) zu analysieren und zu verreißen. „Dekonstruieren“ war die angemessene Bezeichnung für ihre – ihrer Ansicht nach – harte Kritik an einer Reihe von Werken ihrer Wahl, einer Auswahl, die immer auf das Gleiche hinauslief (worauf wir noch zurückkommen werden). Das Schöne daran war, dass man bei diesem Spiel viel zersetzen konnte, aber nichts aufzubauen brauchte. Vor allem wurde dadurch keine systematische Verbindung zwischen den verschiedenen, jeweils bezogenen Stellungen hergestellt. Denn dies wäre ein Schritt in Richtung eines Zusammenschlusses gewesen, und der hätte den „neuen Abweichlern“ als „totalisierender Diskurs“, als eine „Universalie“ und damit als ein Tabu schlechthin gegolten. Tatsächlich schmiedeten die „Dekonstruktivisten“ aber doch eine Art Bündnis: eine lockere, aber dennoch feste und tragfähige Allianz gegen alle, die sich bemühten, das gesamte politische Spektrum im Namen der Gerechtigkeit zusammenzuschließen. Anders ausgedrückt: Die „neue Widerstandskultur“ stand für ein Bündnis gegen jede Art von Bündnis.

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Der neue Trend nannte sich „Die Postmoderne“, und ihr Prophet war ein weißer, durch und durch europäischer Mann: Michel Foucault (1926–1984), ein Liebling der westlichen Propaganda. Seine entscheidende Anerkennung seitens der Pariser Intelligenzija im Jahr 1966 und ihrer New Yorker Entsprechung im Jahr 1975 machte aus ihm sogleich eine intellektuelle Ikone des Westens. Foucault nahm gerne die angebotene Rolle eines Guru an und wurde mit der Zeit zum Anführer einer veritablen französischen Invasion an den amerikanischen Hochschulen und Bildungseinrichtungen, einer Invasion, die sich 25 Jahre später, – zu einem Zeitpunkt, als der Foucaultsche Einfluss in Europa längst abgeklungen war – als eine starke Bastion des Denkens etablierte und immer mehr Geld, Gefolgschaft, Konvertiten, behördliche Zugeständnisse, und Publikationen zur Verfügung hatte und dabei vor allem Macht ausübte: Macht in ihrer reinsten Form: intolerant und korrupt. Mangels einer besseren Überzeugung und vermutlich enttäuscht vom völligen Versagen der marginalen und verstreuten sozialistischen und Hippie-Experimente der jüngeren Vergangenheit in ihrem Land haben derzeit offenbar reihenweise amerikanische Intellektuelle, Erzieher und Publizisten in der konstruierten „Rebellion“ dieser spätfranzösischen, postmodernen Schule Unterschlupf gefunden. Von der Philosophie über die Literaturkritik, Soziologie und Regierungslehre hat die Infektion vor kurzem auch die Ökonomie erreicht. In dem Durcheinander ergibt sich ein eigenartiges Bild: In den Reihen der Gebildeten sehen wir kaum noch eine „Linke“, es gibt keine kohärente Bewegung des Widerstands. Eine solche ist buchstäblich am Ende. Stattdessen führen wohlhabende, bürgerliche Intellektuelle – fast alle sind weiß, männlich und europäischer Abstammung – ein Schauspiel mit im Grunde zwei Fraktionen auf. Auf der einen Seite stehen die Liberalen (Modernisten) und auf der anderen die bübisch einander bekämpfenden Postmodernen. Unter dem Deckmantel eines politisch korrekten Abkommens im Namen des Anstands kann die eine Fraktion (kaum noch) die Launen der anderen ertragen. Während die Modernisten weitermachen wie bisher und ihren Schülern erzählen, dass das Leben ein Spiel des Zufalls ist, in dem einen nur „der Markt“ nach oben bringen kann, kommen auch die Postmodernen zu recht ähnlichen Schlüssen. Oder anders ausgedrückt: Postmoderne Professoren schulen ihre Studenten in relativistischen Übungen und „dekonstruktivistischen“ Techniken. Dabei sollen die Studenten einen Text auseinander nehmen und die sozialen Vorurteile, die den Text prägen, identifizieren. Nachdem die Dekonstruktion alle vermeintlichen Götzen erschlagen hat, bleibt den Studenten in der Tat keine andere Option als auf das jeweils aktuelle Glaubenssystem zurückzufallen, also auf das Credo vom Eigennutz und den Glauben an die „freie Marktwirtschaft“, mit denen jeder Angelsachse aufgezogen wird. In zehn von zehn Fällen werden die Studenten angehalten, auf die privilegierten Lieblingsfeinde der Postmoderne zu zielen und zu schießen, also auf das Patriarchat, die Phallokratie, die Bevormundung, auf Rassismus, Sexismus, Machismo, auf rassistische Umweltverschmutzung durch die Industrie (d. h. nur auf die Ver-

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schmutzung, die angeblich von der Weißen Elite erzeugt wurde und sich gegen „Minderheiten“ richtet), auf Europa, den Eurozentrismus, auf weiße, europäische Männer, auf alles Männliche, auf Columbus und die Katholiken, auf die Religion, Gott, die Transzendenz, die Metaphysik, den Geist, die Kolonisation und die früheren Imperialismen, und manchmal sogar mit stärker abnehmender Tendenz auf den „Kapitalismus“, der vorzugsweise als vages Synonym für wirtschaftliche Unterdrückung steht. Aber nie werden die Studenten angehalten, ihre Polemik gegen die konkreten Vorgehensweisen der Hierarchien der tatsächlichen Macht zu richten: das heißt, zur Untersuchung der tatsächlichen Zusammensetzung, Funktionsweise und Geschichte der politischen und finanziellen Elite des Westens. Vielmehr leiden die Sozialwissenschaften darunter, wenn modischer Unsinn und Wortspiele die kritische und strenge Analyse der gesellschaftlichen Realität verdrängen. Die Postmoderne hat vor allem drei negative Auswirkungen: die Zeitverschwendung in den Humanwissenschaften, eine kulturelle Verwirrung, die Obskurantismus begünstigt, und eine Schwächung der politischen Linken. … Keine Forschung (…) kann auf einer Basis weiterkommen, die sowohl konzeptionslos als auch völlig von empirischen Beweisen abgelöst ist. (…). Schlimmer sind (…) die negativen Folgen für Lehre und Kultur, wenn klarem Denken und klarem Schreiben eine Absage erteilt wird. Die Studenten lernen, Abhandlungen zu wiederholen und auszuschmücken, die sie kaum begreifen. Wenn sie sich auf den Umgang mit gelehrtem Jargon spezialisieren, können sie im günstigsten Fall sogar eine akademische Karriere einschlagen.2

Schließlich wird, nachdem in den Seminaren „Gott“ und das Patriarchat zum millionsten Mal vorgeknöpft, angeklagt und verurteilt worden sind, das System, in dem wir leben und wie es viele Kritiker (auch einige Postmoderne) gesehen haben, nie als ein Ganzes in Frage gestellt. Darüber hinaus ist schon des Öfteren bemerkt worden, dass sich die postmoderne Einstellung mit ihrer Sucht nach Differenzierung, Aufhebung von Landesgrenzen und Freizügigkeit tatsächlich gut mit den wesentlichen Merkmalen unseres von Großunternehmen und Marktorientierung geprägten Zeitalters verträgt. Diese Grunderkenntnis zeigt, dass der scheinbare Gegensatz zwischen Moderne und Postmoderne zum Teil vorgetäuscht, wenn nicht gar eingebildet ist. Soweit klingt dies alles wie ein schlechter Witz. Doch bleibt die Tatsache be­ stehen, dass seit dem Aufkommen der Postmoderne alles, was irgendwie auf eine abweichende Tendenz hingedeutet hatte, einen überstürzten Rückzug angetreten hat. Damit dürften die Auswirkungen der politischen Korrektheit auf das Bildungssystem der Mittelschicht etwas zu tun haben. Über zwanzig Jahre zersetzender Arbeit an den Schulen haben es schließlich geschafft, amerikanische Schüler zu disziplinieren, sie darauf zu konditionieren, sofort zu knurren, die Zähne zu fletschen und zuzubeißen, wenn irgendetwas nach „Sexismus“, „Absolutismus“ „Eurozentrismus“ oder „weißem, männlichen Chauvinismus“ riecht. Sie wurden durch den 2

Alan Sokal/Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen, München 1999, S. 255.

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politisch korrekten Mangel an jeder Art geistiger Gewissheit, sofern diese sich nicht auf patriotische Gefühle der Selbstgerechtigkeit bezieht, diszipliniert. Andererseits werden gerade solche Gefühle bei den Schülern von der liberalen Erziehungsmethode, der anderen pädagogischen Seite Amerikas, geweckt und verstärkt. Nimmt man beide Seiten zusammen und führt man unsere Argumentation bis ans Ende weiter, also bis zu der Annahme, dass mit der Zeit jede Empathie aus den Herzen junger Amerikaner ausgejätet sein wird, dann erhalten wir jenen sprichwörtlichen „Amerikanischen Bürger neuen Typs“: ein fanatisiertes Hybrid, das als Geschöpf des Liberalismus, das Leben in Kosten und Nutzen zerlegt, Mitgefühl für eine (teure und unnötige) Option hält und das von seiner geistigen und kulturellen Überlegenheit gegenüber all jenen Leuten überzeugt ist, die mit neuen Technologien oder den raffinierten Möglichkeiten des Handels nicht so recht vertraut sind. Als Geschöpf der Postmoderne wird sich der „neue Typ des westlich ein­ gestellten Menschen“ seine Überzeugung, kulturell überlegen zu sein, nicht immer offen einzugestehen getrauen. Im Grunde handelt es sich um einen Heuchler. Im Hinblick auf die Postmoderne ergibt sich diesbezüglich eine interessante Entwicklung: Da sich streng religiöse Völker in der Geschichte bei der Nutzung des Maschinenwesens und der Technologie als ziemlich ungeschickt erwiesen haben,3 verstärken sich der szientistische Stolz des Liberalen und die postmoderne Abneigung gegen traditionelle Religionen gegenseitig und drängen den „Bürgersinn“ in eine Sackgasse. Auf der einen Seite herrscht die Rationalität vor. Die Vision des Einzelnen verwandelt sich dort in die höchst intolerante Einstellung der Falken – dabei kann man z. B. an einen liberalen Anhänger des aktuellen „Kriegs gegen den Terror“ (d. h. gegen die gesamte arabische Welt, siehe Kapitel 9) denken. Andererseits gewinnt die schwammige Philosophie der bloßen Negation der Postmoderne die Oberhand und der Einzelne versinkt in einer apathischen Entscheidungslosigkeit und weiß nicht mehr, was er tun soll. In dieser Schwierigkeit liefert die sogenannte „neokonservative“-Variante eine faszinierende Lösung. Die neue republikanische Rechte bietet nämlich seit Mitte der neunziger Jahre diesbezüglich eifrig ein Amalgam an. Es setzt sich aus dem bürgerlichen, frommen Eifer, der in eine christliche oder irgendeine andere Fahne gewickelt ist, und aus dem liberalen Glauben an das angebotsorientierte Wirtschaften plus Technologie zusammen. Dieses Modell wurde von der faszinierenden „rechten Postmoderne“ (z. B. von Leo Strauss, Irving Kristol, Francis Fukuyama u. a.) mit Geduld und Methode konzipiert und in Szene gesetzt. Wenn sie anfänglich von den rivalisierenden Demokraten auch sehr verspottet wurde, so hat die rechte Postmoderne angesichts der aufkommenden Zwangslagen enorme Wirkung gezeigt. Das „neokonservative“ Beruhigungsmittel scheint zur Zeit besser zu wirken als alles, was sich die Liberalen in der Zeit nach dem Kalten Krieg an „globalem“, „multipolarem“ Wettbewerb ausgedacht hatten. 3

Siehe z. B. Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute, eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt a. M., 2. Aufl., 2007, Kap. XII, S. 281 ff. [Orig. The Theory of the Leisure Class, 1899].

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Sehr wichtig ist dabei, dass jüngste wissenschaftliche Analysen des Neokonservativismus die Existenz einer nicht mehr zu leugnenden Verwandtschaft zwischen der Philosophie der Postmodernen auf der Rechten und derjenigen ihrer Kollegen auf der Linken nachgewiesen haben.4 Diese Beziehung wird in Kapitel 8 näher durchleuchtet werden. Beide Seiten gehen nämlich davon aus, dass wir in einer Welt leben, die letztlich durch Zufall bestimmt ist und die man sich nur mit Macht (d. h. Gewalt) gefügig machen kann. Doch halten die neokonservativen Eliten diese ihre Wahrheit bedeckt und empfehlen statt dessen und im Interesse der sozialen Stabilität, sich offen für „traditionelle Werte“ und eine wirtschaftliche Oligarchie einzusetzen. Dagegen verkörpern die Foucaultschen Postmodernen auf der Linken mehr oder weniger aggressiv die andere Seite des Spiels, nämlich das unsichere und chaotische Treibenlassen des Lebens. Vom Versuch, dieses zu zähmen, leiten die Konservativen ihre politische Daseinsberechtigung her. In­ oucaultianer „an die Ränder der kulturellen Differenzen“ zurückziedem sich die F hen und hinter der Haltung verschanzen, bloß verbal gegen, sagen wir, Phallokratie oder Teleevangelisation kämpfen zu wollen, verweigern sie tatsächlich, einer Einheitsfront gegen die aktuellen Machthaber beizutreten. Oberflächlich betrachtet scheint das Widersprüchlichste an den Foucaultianer zu sein, dass sie ihre Vernunft gebrauchen, um die Vernunft auszuschalten und mit rationaler Argumentation (worauf sich ihr Begriff „Diskurs“ bezieht) das Chaos zu zelebrieren. Dies ist aber nicht nur ein Widerspruch, sondern auch „Betrug“ (une tricherie), wie George Bataille selbst zugibt. „Das Reich der Gedanken“, sagte er, „ist Horror. Ja, es ist der Horror an sich (…). Es ist, wie wenn man in der Nacht auf einem Dach ohne Brüstung ausrutscht und das während eines Sturms, der nichts abmildert. Je strenger das Denken verläuft, desto stärker ist die Bedrohung“.5 Worum geht es in dieser seltsamen Debatte eigentlich? Was stand auf dem Spiel? Es geht hierbei um mehrere Themen, nämlich um den Zustand der Bildung in Amerika, um die Lähmung der Kritikfähigkeit der Studierenden, um das Absterben des Dissenses und um die politische Orientierung der amerikanischen Intelligenzija. Alle diese Themen stehen mit einander in enger Beziehung. Einer der Verbindungsfäden ist in der Tat diese außergewöhnliche Übernahme des fran­zösischen Anti-Humanismus in das wissenschaftliche Netzwerk Amerikas. Schwerpunkt der vorliegenden Studie ist es, den Ursprung und die Natur dieses eigenartigen, philosophischen Imports aus Frankreich zu untersuchen. In Anlehnung an Foucaults Phraseologie schlagen wir vor, Foucault selbst „archäologisch“ zu untersuchen und eine Genealogie seiner geistigen Herkunft anzulegen: Wer ist Foucault und wo kommt er her?

4 Auf die wegweisenden Monographien über den Neokonservatismus und die Post­moderne von Professor Shadia Drury werden wir in Kapitel 8 näher eingehen. 5 Georges Bataille, Œuvres complètes (OC) (Paris: Gallimard, 1970), S. 12:223 (= Bd.12, S.  223) (Zitate Batailles wurden hier und im Folgenden aus Preparatas englischer Über­ setzung ins Deutsche zurückübersetzt).

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Foucault verdankte seinen Erfolg in Amerika dem Umstand, dass er ein Produkt entwickelt hat, das eine entscheidende Schwierigkeit der US-Eliten bei der Handhabung des Landes und in ihrer Propaganda beheben konnte. Es konnte verhindern, dass sich eine geschlossene Bewegung des politischen Widerstandes bildet, die durch den umfassenden Glauben an Gerechtigkeit geeint wird. Auch die Akademiker hatten Gründe, auf den fahrenden Zug aufzuspringen und die neue Mode aus Frankreich zu übernehmen. Denn diese bot als erstes einen Ausweg aus den widersprüchlichen Anforderungen, die sich aus einem marxistischen Klassenbewusstsein ergaben. Um es mit Foucault auszudrücken: das Bildungsbürgertum mit seinen romantisierenden Sehnsüchten konnte sich nun fürsprechend auf die Seite der Armen, Verrückten und Sträflinge stellen, ohne sich selbst diesen zuzurechnen. Das war für dieses sehr befreiend. Zweitens verteidigte Foucault in Schriften ausführlich, oft sogar leidenschaftlich, die Unterdrückten, die den verkrüppelnden Missbrauch in Heimen, Gefängnissen, Krankenhäusern zu erleiden hatten. Er schrieb dies als Verteidiger einer ursprünglichen Vitalität, die systematisch durch disziplinarische Maßnahmen gebrochen wurde und deren Mystik er sehr lebhaft dargestellte. Er hielt sein Plädoyer, ohne auf den scheinheiligen Stil all jener optimistischen Langweiler hereinzufallen, die nie eine Abhandlung über die menschliche Plagen und Ungleichheiten abschließen konnten, ohne an die Macht der göttlichen Vorsehung zu appellieren. Mit einem Wort: Foucault war „es“: anspruchsvoll, talentiert, tief, resolut, kreativ, politisch engagiert und scheinbar mitfühlend, gleichzeitig aber trug er genügend Bilderstürmerei und Respektlosigkeit zur Schau, um die ganze Sache „cool“ zu halten. Und so wurde er zum Star der neuen (bereits bankrotten) amerikanischen Linken. Aber hinter dem Ganzen scheint auch ein großes Missverständnis gesteckt zu haben. In den achtziger Jahren wurde Foucault an den amerikanischen Universitäten von manchen zum Säulenheiligen erhoben, zu einer kanonischen Figur, auf deren Autorität man sich immer dann berufen kann, wenn man seiner eigenen Version von „progressiver“ Politik den angemessenen Anstrich geben will. Die meisten dieser zeitgenössischen amerikanischen Foucault-Schüler haben hehre demokratische Ziele, sie wollen am Aufbau einer mannigfaltigen Gesellschaft mitarbeiten, in der Menschen verschiedener Hautfarbe, Hetero- und Homosexuelle, Männer und Frauen ihre ethnischen und geschlechtsspezifischen Unterschiede beibehalten und trotzdem harmonisch miteinander leben können und sich gegenseitig achten – ein schönes, doch schwer zu erreichendes Ziel, das tief in der judeo-christlichen Tradition wurzelt. Doch leider ist Foucaults Lebenswerk […] wesentlich vielschichtiger – und verwirrender –, als einige seiner „progressiven“ Bewunderer wahrhaben wollen. Ich müsste mich schon sehr irren, sollte Foucault nicht fast alles, was in der abendländischen Kultur als „wahr“ angesehen wird, mutig und grundlegend angezweifelt haben – einschließlich fast aller Glaubensbekenntnisse, die viele linke amerikanische Akademiker für „wahr“ halten.6 6 James Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault: Eine Biographie, Köln: 1995, S. 562 f.

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Diese Zeilen eines akademischen Foucaultianers treffen direkt ins Zentrum der ganzen Angelegenheit. „Leider“, schrieb er, als wollte er seine „wohlmeinenden demokratischen“ Kollegen bedauernd darüber informieren, dass sie alle Opfer einer erschreckenden Fehleinschätzung, wenn nicht einer Bauernfängerei, geworden sind. Noch von den Vorgaben ihrer „jüdisch-christlichen“ Bildung geprägt, aber unter dem Druck des mechanistischen Laufs der Zeit, ihrer Unsicherheit und ihrer Enttäuschung scheinen die „Progressiven“ ihre traditionell linken Parolen recht zufrieden gegen den neuere Fachjargon Foucaults eingetauscht zu haben. Sie meinten, ihr Mitgefühl sei nach all den Jahren nur „aktualisiert“ also „schicker“ geworden. Doch – und hier liegt das Problem – der Foucaultsche Diskurs hat, wie das Zitat oben richtig warnt, nichts mit Mitgefühl zu tun. Foucault hat sich nie für die Erhaltung des Lebens eingesetzt, sondern eher für das Gegenteil. Wenn ihm überhaupt an etwas gelegen war, dann war es dies: Während des ganzen Lebens den Gedanken an Selbstmord zu kultivieren. Seine Empathie für die Irren in Not, die Insassen der Strafanstalten war eine Form der Komplizenschaft mit all den Kreaturen, die ein ungehemmtes, gewalttätiges Sehnen antreibt, eine Anbiederung an alle Erscheinungsformen der wilden Gehorsamsverweigerung gegenüber jeglicher Form von Autorität, sei sie transzendent oder immanent mechanistisch (wie die Klassifizierungssucht der Moderne). Der unmittelbare Feind der Postmoderne scheint die technokratische Unterdrückung mit dem glattrasierten ÜberwachungsIngenieur im weißen Kittel als ihrem Symbol zu sein. Doch das ultimative Angriffsziel ist unverkennbar der Glaube an „das Gute“. Foucaults Werk ist Zeugnis einer rationalisierten Verzweiflung, deren Bestreben es ist, sich jedem Mit­gefühl zu widersetzen, und keine Mühe darauf zu verwenden, die weltweite Ungerechtigkeit um des Friedens willen zu reformieren. Die Foucaultianer haben  – wie gesagt  – keine politische Agenda, kein Programm und keine Reformpläne. Foucaults Vorstellung von Widerstand will nur die Kräfte des Ressentiments, die in den unteren Schichten und in der Gesellschaft („am Rande“, wie er es nannte) köcheln, bündeln und sich in einem endlosen Tauziehen mit den etablierten Behörden aufreiben lassen. Seine Aufforderung zu Überschreitungen (transgress) scheint einem Selbstzweck zu dienen: Mit ihr gelingt es, soziale Spannungen ständig aufgeheizt zu halten. Es erübrigt sich fast schon anzumerken, dass die Partei, die am meisten Nutzen aus einem solchen Zustand der ewigen Auseinandersetzungen zieht, die „disziplinierende Macht“ – der angebliche Feind ist. Aus seiner besondere Art der „Ketzerei“ könnte man ableiten, dass Foucault eine Art moderner Gnostiker ist, das heißt, eine zeitgenössische Neuauflage der Lehrer der Antike, die in Prosa rationale Ideen, Parabeln und Mythen als Antithese zu den orthodoxen Dogmen der Kirchenväter formuliert hatten. Es waren Lehrer, die Verhaltensweisen und Lebensstile predigten, welche die Kirchenväter als anrüchig und unmoralisch verurteilt hatten. Die Einführung Foucaults, eines Neo-Gnostikers, in die akademische Welt Amerikas dürfte als kleine Sensation erscheinen, als eine jener bizarren Wendungen in der Geistesgeschichte, die häufig

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vorkommen, aber in der Regel kaum länger als ein paar Jahre vorhalten. Zur Zeit wird Foucault aber immer noch stark gehandelt und seine akademische Popularität zeigt in den USA keine Anzeichen einer Abschwächung. Für eine Modeerscheinung, selbst für eine französische, ist ein Vierteljahrhundert eine lange Zeit. Eigentlich ist dieses Phänomen das auffällige Symptom einer Krisensituation. Die Krise ist so tiefgreifend, dass kluge Köpfe, wie sie amerikanische Wissenschaftler in so herausragender Weise zu besitzen beanspruchen, einen Priester der Zersetzung (Foucault) irrtümlich für einen Apostel der Barmherzigkeit halten, und ihn ohne weitere Fragen mit seinem ganzen Gefolge (anderen Französischen Geistesgrößen (maître à penser) wie Lyotard oder Baudrillard, über die noch zu sprechen sein wird) aufgenommen haben. Zur weiteren Klärung hätten aber zuvor Fragen gestellt werden müssen. Dabei hätte sich gezeigt, dass Foucault gar nicht so originell ist, wie ihn die US-Akademikerschaft sich ausmalt. Greift man auf die Quellen seines Diskurses zurück, so entdeckt man, dass Foucault lediglich Themen, die von einem anderen Denker erarbeitet worden waren, neu aufbereitet hat. Die Quelle ist nicht irgendein vager Magus der gnostischen Überlieferung. Der eigentliche zeitgenössische Inspirator der postmodernen Tendenz heißt: Georges Bataille (1897–1962), das schwarze Schaf unter den Schriftstellern (poète maudit) der zeitgenössischen, französischen Denkrichtung. Fast alle seiner Wortschöpfungen, Metaphern, Allegorien und philosophischen Konstruktionen hat Foucault von Bataille wie von einem Großhändler bezogen. Und wie alle ambitionierten und entsprechend undankbaren Schüler hat Foucault dies seinem Meister nur spärlich vergolten. Er zitierte ihn ordnungshalber und bewundernd (und nur wenn er dem Schatten des Meisters nicht ganz ausweichen konnte), aber so selten wie nur irgend möglich. Vertreter der Frankfurter Schule, die in den dreißiger Jahren eine Reihe von Seminaren Batailles in Paris besucht hatten, haben rasch auf das offensichtliche Erbe hingewiesen, das Foucault mit dem halb in Vergessenheit geratenen Bataille verbindet.7 Doch wie so oft in der modernen Geistesgeschichte gilt die Gussform für eine erfolgreiche Subversions-Überzeugung als viel zu aufschlussreich und bleibt somit lieber verdeckt. So geschah es auch hier: Bataille wurde, wie eine leninistische Größe während der stalinistischen Säuberungen aus den offiziellen Fotos getilgt. Seitdem erscheint sein Namen nur flüchtig in den Indizes post­moderner Texte, und sein riesiges Werk (das nur teilweise ins Englische übersetzt ist) wird der Pflege einer Handvoll zuverlässiger Nachlassverwalter anvertraut. Deren Hauptaufgabe war es natürlich, ständig hervorzuheben, wie deutlich unterschiedlich die beiden – Bataille und Foucault – hinsichtlich ihres Stils und ihrer Absichten eigentlich waren. Doch das stimmt nicht. Bataille hatte sein Werk in Form „eines Projekts“ (le projet) konzipiert. Dessen Brutalität und Extremismus verhinderte jedoch, dass es jemals auf die liberale herrschende Meinung Einfluss gewinnen konnte. Die Bataillesche Unternehmung war von dem ungebändigten Ehrgeiz getrieben, andere zu einer willigen 7

Vgl. z. B. Benjamin Noys, Georges Bataille, A Critical Introduction, London 2000, S. 43 f.

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Akzeptanz von Gewalt und Verschwendung zu bekehren. Dazu verwendete er ein Gemisch aus einleuchtenden rationalen Argumenten über die Unmöglichkeit, die Bedeutung der jeweiligen Folgen zu verstehen, und Rudimente einer Sprache, die sich aus Bildern zusammensetzte, die von Tod und blutigen Opferritualen inspiriert waren. Soll ich tiefschürfend über Freiheit oder über Gott spekulieren? Wir wissen darüber nichts, und wenn wir darüber sprechen, dann in der Art eines Spiels (c’est un jeu). Alles, was über gewöhnliche Wahrheiten hinausgeht, ist Spielerei.8

Es schien, als wollte Bataille konventionelles Sprechen und Denken (die er unter dem Begriff „Diskurs“ zusammenfasste) mit dem Ziel unterwandern, dadurch in den kollektiven Geist der bürgerlichen Gesellschaft einzudringen, diesen zu verbiegen, zu verwirren und neu auszurichten. So versuchte er im Denken des Einzelnen alle Erwartungen von Gerechtigkeit nach dem Tod, von einer Art Karma auszulöschen. Genauer gesagt, das „Projekt“ bestand darin, „Gewalttätigkeit“, die stumm ist (d. h. deren Erfahrung nicht auszudrücken ist) in der Hoffnung zu etwas Ausgesprochenem zu machen, damit dadurch alle Einstellungen, die traditionell als „heilig“ gelten, wie Frieden, Mitgefühl, Harmonie, Geschenke zu machen und entgegenzunehmen, untergraben werden. Als Endziel wollte er einen möglicherweise Bekehrten von derartigen Irrtümern abbringen, indem er ihn oder sie mit der spontanen Brutalität des Lebens und der Natur aussöhnte. Schließlich hegte Batailles als sozialen Traum die Vision, dass die Menschen nach einer derartigen Initiation Vereinigungen bilden, die das Geheimnis des kollektiven Lebens weitgehend wie diejenigen antiken, orgiastischen Kulte feiern, die ihn selbst so sehr fasziniert haben. Das neue, heilige Gebot war, gegen jedes Verbot zu verstoßen, jedes Tabu und jedes heilige Gebot zu übertreten – vor allem aber, den Glauben an einen „wohlwollenden, allwissenden Gott“ abzulegen. Diesen Glauben stellte er (ein ehemaliger Priesteranwärter) aus Rachsucht auf den Kopf, indem er ihn in die religiöse Verehrung der bloßen Materie verkehrte. Seine neue Überzeugung sollte ein kopfloses Monster symbolisieren: das Symbol eines von Bataille vergötterten Nichts, das er „l’Acéphale“ (der Kopflose) taufte. Als Ausgangspunkt wählte Batailles die Kritik an der modernen, verbürokratisierten Gesellschaft. Sie wollte er dadurch unterwandern, dass er alte Gewohnheiten mit Hilfe antiker, blutiger Kulte, wie den Kult der indischen Göttin Kali oder der aztekischen Gottheiten, ausmerzte. Er war der erste moderne Denker, der systematisch die eigentlich religiöse Herausforderung in Angriff nahm, in einem modernen, rationalistischen Umfeld alte infernalische Formen der Religionsausübung mit dem erklärten Ziel wiederzubeleben, in jedem Einzelnen die Sehnsucht nach Transzendenz auszulöschen – also im Menschen den Wunsch zu zunichte zu machen, dass es nach diesem Leben eine Art Abrechnung gäbe. Doch kam „das Projekt“ nie in Gang. An und für sich ist das Erbe Batailles ein eigen­ artig eklektisches Sammelsurium aus schmutziger Pornographie, surrealistischen 8

Bataille, OC, S. 12:223.

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1. Einleitung: Zur Genealogie der Postmoderne 1Einleitung: Zur Genealogie der Postmoderne

Gedichten, philosophischer Ästhetik, ikonoklastischer Mystik, dreister Theologie, genialer Soziologie und schillernder politischer Ökonomie. Das alles war in der Tonart von Tod und eitrigen, blutigen Ergüssen verfasst und viel zu bilderreich, unausgeglichen und brutal ernstgemeint, um die moderne Mittelklasse so pervertieren zu können, wie es sich sein Urheber gewünscht hatte. Mit seiner versponnenen Prosa und – wie wir noch sehen werden – seiner Beschwörung all der obszönen Monster, tristen Epiphanien, eitrigen Vaginen und wenig zweideutigen Traktaten über die Verdienste des Faschismus, war es wenig wahrscheinlich, dass sein „Projekt“ in diesem rohen Zustand den skeptischen Westen, der längst nicht mehr an Engel und Dämonen glaubte, überzeugen würde. Das war wiederum der Grund, warum Foucault in dieser Bewegung eine so enorme Bedeutung erlangen konnte: Er beseitigte aus Batailles Projekt die mystischen und esoterischen Fantasien und verlieh ihm dadurch eine diskursive Seriosität, dass er es in ein zusammenhängendes Gedanken-System, in eine Pseudo-Philosophie umformulierte. Diese gründete sich auf eine einfache Gegenüberstellung. Dem ursprünglich bestehenden Kern an rebellischer, ursprünglicher Vitalität (verkörpert von­ Foucaults wohlbekannten Irren im Asyl) stellte er die sterile, rationale Strenge des Maschinen-Zeitalters (verkörpert von den technokratischen Managern der Kliniken, Gefängnisse und Irrenhäuser) gegenüber, die den Kern aufspürt und erlegt. Batailles phantasievolle Metaphern über den aktuellen Überlebenskampf in der modernen Zeit sollte Foucault mit seiner gefeierten „Theorie“ über Macht/Wissen unsterblich machen. Schließlich übernahmen die amerikanischen Foucaultianer diesen Mythos, um ihre Rassen- und Geschlechts-Trennung zum Ausdruck zu bringen. Danach sollen sich die Farbigen angeblich von den Weißen abheben, die Frauen von den Männern, bis jede Partei sich auf die eigene Insel des genuin eigenen Wissen zurückzieht und sich verpflichtet, an ihren „Rändern“ Widerstand zu leisten und die gegenseitige Feindschaft ohne Chance auf Versöhnung gären zu lassen. In einer ganz ungewöhnlichen Unaufrichtigkeit erteilte das weiße Establishment dem Feminismus, der Homosexualität und den nicht-weißen Ethnien in der großen Arena des öffentlichen Diskurses einen gleichberechtigten Status, z. B. durch Proklamationen, exklusive Sondergesetze zu Chancengleichheit und Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen (sogenannte ‚Affirmative Action‘ Maßnahmen) und durch eigens hierfür eingerichtete Fachschaften an den Universitäten. Von dieser Art der Förderung bis zur Beschreibung des Rachefeldzugs in Afghanistan nach dem Anschlag vom 9/11 als „feministischen Befreiungskrieg“ war es nur noch ein kleiner Schritt. Somit ist unser Gegenstand eigentlich die Geschichte eines Systems der Machtausübung, das sich immer fester im Griff kriegstreibender Finanzoligarchen befindet, welche die berauschende Propaganda zu immer neuen Höhen an Virtuosität gesteigert haben. Sie hatten vor dreißig Jahren beschlossen, öffentlich die postmoderne Politik der Gruppenunterschiede in der offensichtlichen Absicht zu fördern, dadurch jede Form von Widerstand oder Opposition zu blockieren. Diese Politik der Gruppenunterschiede wurde wissen-

1. Einleitung: Zur Genealogie der Postmoderne 1Einleitung: Zur Genealogie der Postmoderne

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schaftlich von Foucaults Theorie über Macht/Wissen ausgearbeitet. Diese wiederum ist die systematische Wiederaufbereitung einer Art religiösen Glaubens, den Bataille in der Vorkriegszeit geschaffen hatte. Wenden wir uns also nun den antitraditionalistischen Wurzeln der Visionen Batailles zu!

Kapitel 2

Die Große Göttin und Dionysos Teiresias: … Zwei Dinge sind die wichtigsten Dem Menschenleben, Jüngling: Göttin Demeter – Das heißt die Erde; beide Namen gelten gleich –, Mit trocknen Früchten sättigt sie die Sterblichen; Der aber, Semeles Sprößling, kam aufs Gegenteil, Erfand der Traube flüssigen Trank, macht’ ihn der Welt Bekannt zur Tröstung mühbeladner Sterblicher Im Grame, wenn der Rebensaft den Geist belebt. Euripides, Die Bakchen1

Eine der wichtigsten Thesen dieses Buches besagt, dass der Bataille-Foucault Diskurs als eine Transliteration religiöser Gefühle verstanden werden kann,  – einer besonderen Art religiöser Gefühle. Bekanntlich leitet sich der Begriff Religion aus dem Lateinischen religare (anbinden, vereinen) ab2 und bezieht sich auf die bekennende Praxis der Zwiesprache mit einem „übernatürlichen Anderen“, einem nicht-menschlichen Wesen. Von ihm wird angenommen, dass es jenseits der Illusion von Materialität in Erscheinung tritt. Ein derart religiöses Verständnis des Lebens führt zu zwei Handlungsbereichen: Dem des Heiligen und dem des Profanen. Das Heilige umfasst die Sphäre des Lebens, in der die Menschen ihre „Vereinigung mit den Göttern“ vollziehen. Jenseits dieses heiligen Bereichs beginnt das Reich des Profanen, vom lateinischen „pro fano“ („vor dem Tempe“, vor dem „heiligen Bezirk“). Damit haben Menschen die Heiligkeit eines Raumes (Ort des Gebets), einer Zeitspanne (rituelle Feste), eines bestimmten körperlichen Verhaltens (Haltung und meditative Körperpflege) und des Denkens (die Welt der Bücher) eingerichtet. Für den religiösen Menschen ist alles außerhalb des religiösen Umfeldes ohne Sinn, zufällig, ungeweiht, bedeutungslos und letztlich „unwirklich“.3 Für den religiösen Menschen ist die Welt, wie er sie vorfindet, ein unfrucht-

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Euripides, Die Bakchen. Übersetzt von Oskar Werner. Ditzingen 1998. Als Alternative zur Herleitung von religio durch den hl. Augustinus führt Robert Graves das Wort etymologisch auf relligio, also auf rem legere zurück, was die Fähigkeit bedeuten soll „eine Sache auflesen oder aufgreifen“ Robert von Ranke-Graves, Die Weiße Göttin. Sprache des Mythos, Hamburg 1985, S. 575 f. Diese etymologische Herleitung entspricht in etwa dem griechischen Wort hairesis, der Wurzel für Häresie. Man kann Graves Vorschlag für eine etwas abgemilderte Verspottung halten. 3 Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a. M. 1998, S. 59. 2

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bares Feld, das er erst erschließen und der Gottheit seiner Wahl anheim geben muss, denn – und hier beginnen die Schwierigkeiten – seit undenkbaren Zeiten traten mehr als ein paar Götter in Erscheinung, unter denen zu wählen war. Mehr als ein paar Götter zogen den religiösen Menschen an. Heute wird konventionell unter „Religion“ die Annahme eines einheitlichen Glaubensbekenntnisses im engen Geltungsrahmen eines einzigen, gebietenden, übernatürlichen Herrn verstanden. Kurz: die traditionellen monotheistischen Konfessionen. Alles andere ist demnach profan. Dies ist allerdings ein irreführendes Verständnis, das zweifellos von den organisierten Kirchen gefördert wurde, um ihre jeweiligen Gemeinschaften von jeder konkreten götzendienerischen Versuchung abzuhalten. Um sich durchzusetzen, haben traditionelle Kulte lange und entschieden gegen „rivalisierende Gott­heiten“ gekämpft, die sie schließlich verbannt und als „teuflische Götzen“ bekämpft haben. Wenn sie den Kampf schließlich scheinbar gewonnen hatten, wurde jede „üble“ Tendenz dem alleinigen Inbegriff des Widersachers (Satan) zugeordnet. Dieser war aus dem Himmel geworfen und zum Herrn der profanen Finsternis gemacht worden. Diese traditionelle Darstellung hat Bataille aufs entschiedenste herausgefordert und seine Kritik daran markiert den Ausgangspunkt zur Gründung seines „akephalischen (kopflosen) Kults“. Er behauptete – und führte dabei handfeste Beweise aus Wissenschaft und Literatur an, dass Praktiken, die von den Kirchen als „übel“ bezeichnet wurden, früher einmal selbst heilig waren. Das heißt, sie waren nicht weniger heilig und religiös, als diejenigen mit Bezug auf – sagen wir – Jahwe oder Christus, nur eben mit einer anderen, entgegengesetzten Ausrichtung. Denn obwohl „üble Götter“ und ihre Praktiken aus dem kollektiven Verhalten aus­gemerzt und aus den heiligen Berichten gelöscht worden sein dürften, erinnerte Bataille uns daran, dass solche orgiastischen Gottheiten im Laufe der Jahrhunderte nie aufgehört haben, in Erscheinung zu treten, und zwar in ihrer ganzen Reinheit sogar noch blutiger und intensiver, obwohl die monotheistischen Kirchen sich unermüdlich bemüht haben, sie in Schach zu halten. Diese Behauptung ist unbestritten. Es gab tatsächlich vor dem Wiederauftreten des „Gottes aus der Wüste“ (Jahwe) eine Zeit, in der Heiligkeit von ganz anderer Natur war. Nach einem verbreiteten Mythos war die Welt in einem Goldenen Zeitalter ursprünglich von einem himmlischen höchsten Wesen gegründet worden. Dieses hat allmählich an religiöser Bedeutung eingebüßt. Zwar wurde es nicht ganz vergessen, verlor aber seinen herausragenden Platz in den Kulten und rückte in „immer größere Ferne, bis es schließlich zum untätigen Gott (deus otiosus) geworden war“.4 In die Lücke, die er hinterließ, drangen andere Arten von Gottheiten vor und führten ihre eigenen Verhaltensweisen ein. Gottheiten, insbesondere Göt-

4

Ibd., S. 108.

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tinnen, inspirierten die großen süd-asiatischen matriarchalen Kulte der megali­ thischen Periode.5 Neben einer materialistisch, d. h. als physische Kraft, Härte, Verschlossenheit, gewaltsame Behauptung aufgefassten Männlichkeit konnte die Frau durch ihre Gaben der Empfindsamkeit, der Opferbereitschaft, der Liebe und durch das Geheimnis des Gebärens als die Vertreterin eines höheren Prinzips erscheinen, so dass sie dank einer Anerkennung, die mehr als bloß materielle Kraft in Betracht zog, Autorität annehmen konnte und in gewisser Weise als ein Abbild der All-Mutter erschien. Somit bildet es keinen Widerspruch, dass in gewissen Fällen die geistige und auch soziale Vorherrschaft der Frau nicht nur in verweichlichten Gesellschaftsformen, sondern auch in kämpferischen und kriegerischen gegeben war.6

Die Mythendichtung der Gynaikokratie sprach Göttinnen als Mütter an, die ohne die Hilfe männlicher Götter Kinder gebaren. Dies war Ausdruck „für die Selbstgenügsamkeit und Fruchtbarkeit der Mutter Erde. Solchen mythischen Vorstellungen entspricht der Glaube an die spontane Fruchtbarkeit der Frau und ihre geheimen magisch-religiösen Kräfte, die auf das Leben der Pflanzen von entscheidendem Einfluss sind.“7 In den frühen Kulturen haben Ackerbau und Viehzucht und die elterliche Zuneigung „zusammen gewirkt, um die Frauen auf den ersten Rang der Technologiezuständigkeit zu heben“. Die Mutter-Göttin vermachte den Menschen durch die Gabe der Landwirtschaft „eine friedfertige Kultur“.8 Diese Art von Zivilisation wird zu Recht als chthonisch bezeichnet, das heißt, „sub­ terran“ – auf die Erde bezogen, – da sie die Zeugungsfähigkeit, die aus dem Unterirdischen, dem Mutterleib keimt, als heilig erachtet. Ebenso könnte man verallgemeinernd einen Zusammenhang zwischen der weiblichen Anschauungsform der Geistigkeit und dem Pantheismus herstellen, der alles als ein großes Meer auffasst, worin sich der innerste Kern des einzelnen Wesens auflöst und als Salzkorn verliert; wo die Persönlichkeit eine Illusion und kurzlebige Erscheinung der einzigen, unterschiedslosen Substanz darstellt, die gleichzeitig Geist und Natur und allein Wirklichkeit ist und wo kein Platz ist für einen wirklich transzendenten Bereich.9

Die friedliche Manifestation des Matriarchats bekam auch die Bezeichnung „Demetrianismus“ nach Demeter, der Mutter-Göttin der Fruchtbarkeit. Während der matriarchalen-chthonischen Festlichkeiten „fühlten sich alle Menschen frei und gleich. Kasten- und Klassen-Unterschiede bestanden nicht mehr und konnten frei übergangen werden. Tendenziell war eine allgemeine Zügellosigkeit und

5 Julius Evola, Revolte Gegen die Moderne Welt (orig. Rivolta contro il mondo moderno. 1934), als freie Ausgabe unter https://archive.org/details/RevolteGegenDieModerneWelt1935. S. 252. 6 Ibd., S. 259. 7 Eliade, Das Heilige und das Profane, S. 127. 8 Thorstein Veblen, The Instinct of Workmanship and the State of Industrial Arts, New York 1914, S. 94–101. 9 Evola, Revolte, S. 258 (Hervorhebung hinzugefügt).

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Freude an Promiskuität ziemlich weit verbreitet.“10 Die Große Mutter scheint die Schutzgöttin des Silbernen Zeitalters gewesen zu sein, bis es degenerierten Abarten von ihr gelang, störend in die überlieferten Mythen einzudringen. Neue Kulte begannen eigenartige Anforderungen an ihre Gläubigen zu stellen: „Kopfjagd, Menschenopfer, Kannibalismus, das alles hat der Mensch auf sich genommen, um das Leben der Pflanzen zu sichern. […] Damit die Pflanzenwelt weiter bestehen kann, muss der Mensch töten und getötet werden, muss er die Sexualität auf sich nehmen bis zu ihrer äußersten Grenze, der Orgie – treiben.“11 Das waren keine Spiele der Lust und keine moralische Perversionen im kleinlichen, modernen Sinne. Sacrificium (Opfer) war wörtlich zu nehmen, nämlich „Dinge heilig machen“ (vom lateinischen ‚sacrum facere‘). Die Anhänger der chthonischen, blutig-orgiastischen Kulte nahmen die Ausübung solcher gewalttätiger Ausschreitungen sehr ernst. Nach allen Berichten erlaubten ihnen diese Kulte, sich religiös mit denjenigen Einheiten zu vereinen, die das Blutvergießen (das Tieropfer) forderten und die das Gedeihen des menschlichen und pflanzlichen Lebens gewährleisteten. Diesen religiösen Exzessen wurde heiliger Ausdruck verliehen durch zwei einander entsprechende, entartete (und rebellische)  Veränderungen der „orthodoxen“ männlichen und weiblichen Kulte, nämlich des (männlichen) himmlischen Wesens im Goldenen Zeitalter und der Großen Mutter im Silbernen Zeitalter. Die beiden blutigen Abarten bildeten die aphrodisische und die dionysische Zivilisation. Die Verehrung der Großen Göttin in ihrer gewalttätigen Erscheinung erfolgte an speziellen heiligen Festen (Saturnalien, Bel-Feste, Cybele-Mysterien, etc.) mit einer Vielfalt von Liturgien, worin die Mutter Platz machte für die Hetäre (die Hure). Zu den berüchtigtsten Zeremonien gehörten: Die Tötung eines Menschen, der eine männliche, königliche Figur repräsentierte, welche die Große Göttin nur zum Vergnügen und nicht zur Fortpflanzung geliebt hatte;12 oder die Selbstkastration durch die Priester, die von der Göttin besessen waren und sich in etwas Weibliches zu verwandeln versuchten (Vgl. den berühmten Mythos des Hirten Attis, der sich in einer dionysischen Trance entmannte); oder Geschlechtsumwandlungen, wobei (1) Statuen der Göttinnen männliche Merkmale aufwiesen, und (2) Männer sich in den Mysterien mit Frauenkleidern und Frauen mit Kleidern der Männer schmückten. Das waren alles Anzeichen dafür, dass das männliche Element „als irrelevant“, „als Grund für Verlegenheit“ abgewertet wurde.13 Der Dionysos-Kult ist die männliche Variante der Aphrodisischen Entartung. Dionysos war der Gott der Bacchanalien, der Trunkenheit, des Sich-gehen-lassens, des orgiastischen Furors, der musikalischen Verzückung und poetischen Eruption – der Favorit des jungen Nietzsche. Dionysos war auch die Personifikation der 10

Ibd., S. 259 f. Eliade, Das Heilige und das Profane, S. 91. 12 Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Quellen und Deutung, Hamburg 1960, S. 14 f. 13 Evola, Revolte, S. 257 f. und 268 f. 11

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Macht des Erotischen, zugegebenermaßen einer der faszinierendsten Quellen fesselnder Energie der Menschen, aber vor allem der Frauen.14 Im Kult des Dionysos wird der Eros tatsächlich zum „heiligen Wahnsinn“, zum mystischen Orgasmus: Das ist wohl die höchste Möglichkeit in dieser Richtung, die darauf ausgeht, die Fessel der Materie zu lösen und durch die „Entfesselung“, das Übermaß und die Ekstase eine Verklärung herbeizuführen…Tatsächlich galt Dionysos auch als ein Wesen der Unterwelt – das oft mit dem Prinzip des Wassers … in Beziehung gesetzt wird…Hier im Mysterium, in der „heiligen Orgie“, die mit dem sexuellen Element verkoppelt ist, herrscht die ekstatisch-pantheistische Richtung vor: Vom Wahnsinn gezeichnete Kontakte mit den verborgenen Kräften der Erde, mänadische und pandemische Befreiungen geschehen in einem Bereich, der gleichzeitig der Bereich des entfesselten Sexus, der Macht und des Todes ist.15

Doch dann begannen ziemlich plötzlich nach nicht überlieferten Migrationsmustern Horden von Kriegern, die männliche Götter verehrten, die religiöse Landkarte des Westens zu verändern. Die Hellenistischen Invasionen (der Achäer, Ionier und Dorier) in Griechenland und Kleinasien zu Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. sorgte in der Tat für eine religiöse „Umorientierung“. Diese „Umorientierung“ aufgrund der neuen Invasionen bedeutete einen direkten Angriff der Ritter aus dem Norden auf die matriarchale Triade (der Göttin als Jungfrau, Mutter und Altes Weib), um den männlichen Kult des Goldenen Zeitalters wieder herzustellen. Das achäischen und ionische Eindringen in die im Süden bereits bestehende matriarchalische Zivilisation führte zu einem Amalgam aus der Verehrung der arischen Invasoren und der Großen Göttin vor Ort. Diese nahm die Eindringlinge als ihre Kinder an, welche die heiligen Könige stellten. „Auf diese Weise versöhnte sich eine männliche militärische Aristokratie mit der weiblichen Theokratie“: Zeus nahm Hera, die göttliche Furie zu seiner (widerspenstigen) Frau. „Alle frühen Mythen über die Verführung der Nymphen durch die Götter beziehen sich offenbar auf Ehen zwischen den hellenistischen Häuptlingen und den lokalen Mond-Priesterinnen. Solche Ehen waren von Hera, also vom konservativen religiösen Gefühl, verbittert abgelehnt worden.“ Ein höchst aufschlussreicher Mythos ist in diesem Zusammenhang Apollos „Vergewaltigung“ der Daphne. Im Gegensatz zur üblichen Interpretation „war Daphne alles andere als eine verschreckte Jungfrau. Der Name war eine Zusammenziehung von Daphoine, ‚die Blutige‘. Sie war die orgiastische Göttin, deren Priesterinnen, die Mänaden, Lorbeerblätter [die Kalium-Cyanid enthalten] als Rauschmittel16 kau 14

Die Unterwerfung der überlegenen sexuellen Ausstattung der Frau ist ein zentrales Thema in der Weltanschauung de Sades (siehe unten Kapitel 4). 15 Evola, Revolte, S. 269. 16 Graves gab an, dass die „Kentauren, Satyrn und Mänaden des Dionysos … den amanita muscaria rituell verzehrt (haben)“. Amanita muscaria ist der botanische Namen für Fliegenpilz. Halluzinogene Pilze waren auch der Aztekischen Gottheit Tlalóc heilig. „Tlalóc und sein europäisches Gegenstück Dionysos verbinden zu viele mystische Attribute, als dass es Zufall sein könnte: es muss sich um Versionen der gleichen Gottheit handeln“ (Graves, Die weiße Göttin, S. 49 und 213).

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ten und bei jedem Vollmond hinausstürmten, um ahnungslose Reisende zu überfallen und Kinder oder junge Tiere in Stücke zu reißen.“17 Um Apollo an der Vergewaltigung Daphoene zu hindern, verwandelte Hera diese in einen Baum. Statt ein verständnisvolles Eingreifen zugunsten der „Blutigen“ symbolisierte die Verwandlung wohl eher den Widerstand gegen die Restauration des Patriarchats. Damit bestätigt der Mythos, dass die Göttin selbst ein intoleranter Initiator der erbitterten Verhinderung war. Robert Graves schreibt in seinem Buch Griechische Mythologie: „Achaiische Invasionen im 13. Jahrhundert v. Chr. schwächten weiterhin die matrilineare Tradition“ und so wich sie der Institution der patrilineare Erbfolge. Daher wurde das Pantheon von der olympischen Familie unter der Herrschaft von Zeus regiert und Hera hatte sich bedingungslos zu unterwerfen. „Doch wurden die Göttinnen, obzwar in der Minderheit, niemals – wie in Jerusalem geschehen – gänzlich verdrängt.“ Die antike griechische Kultur schuf eine Art Kompromiss zwischen der maskulinen und der femininen Heiligkeit.18 Deutliche Spuren dieser etwas unbequemen Kohabitation kann man in der am weitesten gediehenen Zusammenfassung der Utopien im antiken Griechenland finden, nämlich in Platons Dialog Die Gesetze. Platon steht ganz im apollinischen Lager, doch gesteht er den „Göttern der Unterwelt“ (οι χτόνιoι) in der Hierarchie widerwillig und quasi nebenbei eine gewisse Ehrerbietung zu, die ihnen gebühre, sowie einen besonderen Monat für ihre Feiern, nämlich den zwölften, den Monat des Pluto (des Hades, des GottKönigs der Unterwelt).19 Das Schicksal des mythischen Königs Pentheus, dessen tragisches Ende Euripides in den Bakchen verewigt hat, war in der Schule Athens nicht vergessen: Denn weil der Monarch von Theben sich weigerte, Dionysos als Gottheit anzuerkennen, wurde er von seiner eigenen Mutter Agaue, einer Priesterin-Mänade im Laufe eines vom Gott der Ausgelassenheit inspirierten orgias­ tischen Wahns zerrissen. Agaue: Dionysos hat uns zerstört. Jetzt verstehe ich. Cadmus (ihr Vater): Er wurde beleidigt.20

Nach Platons Gesetzen waren Exzesse nicht zu fördern, aber Dionysos Macht – die des Trinkens, der Musik und des Tanzes – konnte in Maßen dem Ruhm Apollos dienen: Ein umsichtiges Zugeständnis unter dem wachsamen Auge des Zeus, des Einen. Zusammengefasst: Der Eine hatte Demeter geheiratet, Dionysos diszi­ pliniert und die blutige Daphoene im Keller angekettet. Sir James Frazer vom Trinity College hat in seinem gefeierten monumentalen Werk The Golden Bough (dt.: Der goldene Zweig) die Ethnographie und Mythen 17

Graves, Griechische Mythologie, S. 16. Ibd., S. 17 f. 19 Platon (Autor) Klaus Schöpsdau, Hieronymus Müller (Übersetzer), Nomoi, Tomoi 1–12 Gesetze, Darmstadt 1990. Zur Verehrung der Götter der Unterwelt siehe 717a (Bd. 1, S. 258), und 828d (Bd. 2, S. 113) über entsprechende Feste. 20 Euripides, Die Bakchen, unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1511/2. 18

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rund um die antiken, matriarchalischen und dionysischen Kulte, die sich während der Ära des Patriarchats noch ansatzweise zeigten, zusammengetragen. Darin deutete er, ohne es explizit zu sagen, mit den Worten Robert Graves an, „dass es sich bei den christlichen Legenden, Dogmen und Riten um die Weiterentwicklung eines großartigen Corpus primitiver primitiven und sogar barbarischer Glaubensinhalte handele und dass die Person Jesu praktisch das einzige ursprüngliche Element im Christentum sei.“21 In der Tat bestätigt Frazer, dass in Rom und Athen die weibliche Verwandtschaftslinie der männlichen vorausgegangen war. In seiner ausführlichen und vielfältigen Erkundung der sozialen Praktiken des antiken Matriarchats ging er näher auf die zentrale Rolle ein, welche dabei der Opferung des Gott-Menschen zukam, das heißt, auf das Ritual der periodischen Tötung eines Gottkönigs in seinen besten Jahren. Diese Tötung sollte gewährleisten, dass die jugendliche Vitalität des Königs aufgenommen wurde und auf die gesamte, daran beteiligte Gemeinschaft überging. Damit wollte man verhindern, dass die Gemeinschaft an Schwäche und Verfall leidet. Diese Tradition wurde eindeutig auch von dem Glauben durchdrungen, dass der König für Wetter und Ernte verantwortlich sei. Auf diese Weise könnte er vielleicht „zu Recht mit dem Leben für die Unbilden des einen und den Ausfall der anderen bezahlen, und zwar als Lösegeld, das den zürnenden Dämonen angeboten wird“.22 Mit der Zeit war der König darauf aus, das Herrschaftsprivileg, das er durch die Einheirat in die matrilineare Dynastie erworben hatte, zu behalten, während die Opfer-Verpflichtung auf den eigenen Sohn überging. Denn niemand „konnte so zutreffend an Stelle und durch den König, und damit für das ganze Volk sterben, als der Sohn des Königs“.23 Hätte es nicht die symbolische Zerstückelung gegeben, wäre es nie zu einer Eingliederung der alten Kultbestandteile gekommen und die neuen Lebens-Muster hätten nie die alten ersetzt, die durch die ständige Zuführung von Güte blutarm geworden waren.24 Unter den Namen Osiris, Tammuz, Adonis und Attis stellten die Völker Ägyptens und Westasien den jährlichen Verfall und die Erneuerung des Lebens, speziell des pflanz­ lichen Lebens dar. Sie haben es im Gott personifiziert, der jährlich stirbt und vom Tode auf­ersteht.25

Es scheint also, dass in der vor-orthodoxen Mythologie, der Gott-Mensch gespalten, zerrissen, unfertig ist: Im Mythos wird er in zwei Hälften aufgeteilt, einen „Geist des zunehmenden“ (z. B. als Osiris), und einen „des abnehmenden Jahres“ (z. B. als Set). Beide Hälften konkurrieren um die Liebe der Mutter-Göttin, die, anders als der Gott-Mensch, angeblich eine vollständige, ganze Gottheit ist, „weil

21

Graves, Die Weiße Göttin, S. 285 f. Sir James Frazer, Golden Bough, New York 1955 [1922], S. 179, 313, 340–1. 23 Ibd., S. 337. 24 Joseph L. Henderson/Maud Oakes, The Wisdom of the Serpent, The Myths of Death, Rebirth and Resurrection, New York 1963, S. 21 (Hervorhebung hinzugefügt). 25 Frazer, Golden Bough, S. 378. 22

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sie mit beiden Beinen am gleichen Ort sein kann ob im Himmel, in der Unterwelt oder auf dieser Erde“.26 Sie versucht beide [Osiris und Set] zu befriedigen; aber dies kann sie, in dem sie den einen oder den anderen ermordet. Und der Mann will darin nur den Beweis ihrer fundamentalen Schlechtigkeit sehen, nicht aber seiner eigenen, unvereinbaren Anforderungen an sie.27

Die Große Mutter ist Kali, die indische Göttin sowohl der Geburt als auch der Vernichtung. Sie ist zugleich die Mutter, Geliebte und Mäherin, die „in sich gegensätzliche Qualitäten, jungfräuliche und hurenhafte, mütterliche und zerstörerische“ vereint.28 Sie ist die Weiße Göttin, „die Mutter allen Lebens, die uralte Macht von Furcht und Wollust“, sie ist „lieblich und grausam, hässlich und milde zugleich“.29 „Als Nut ist sie der dunkle, mit Sternen übersäte Himmel, kreist sie um die Erde und bildet mit ihren Händen und Füßen den Zu- und Ausgang für Leben und Tod.“30 Von ihren vielen Verkörperungen hat, wie man noch sehen wird, die zerstörerische Hure Georges Bataille (und Ernst Jünger) am meisten angezogen. Vor der Ehe waren in Gemeinden, in denen die Göttin als Aphrodite oder Astarte herrschte, „alle Frauen aufgrund der Sitte verpflichtet, sich in ihrem Heiligtum den Fremden zu prostituieren, um ihr den Lohn zu weihen, den sie bei dieser geheiligten Hurerei verdient haben“,31 „denn die Ehe galt der Göttin als verhasst“.32 Den Archetyp der „Hure als Göttin“ sollten tatsächlich einige der lebhaftesten Persönlichkeiten in Batailles Erzählungen (z. B. in Madame Edwarda) und in seiner politischen Ökonomie (Der verfemte Teil) wieder aufleben lassen. Dieser Archetyp fußt auf der Vorstellung von Vergeuden und Verschwenden, das heißt auf erotischer Energie, die nicht auf Fortpflanzung abzielt.33 Die Göttin waltet als Geliebte und Mutter über die „einander abwechselnde“ Ermordung und Auferstehung des Gott-Menschen. Die grausame, kapriziöse, unbeständige Weiße Göttin und die milde, stetige, keusche Jungfrau sind unvereinbar miteinander, außer im Kontext der Heiligen Geburt.34

Die heiligen Dramen, die ihr zur Ehre aufgeführt wurden, wiederholen wie in unserer modernen Messe aktualisierend den Opfertod und die Wiedergeburt des heldenhaften Gott-Menschen. Wie im Fall des Attis heißt es vom heroischen Gott-Menschen, er sei wie durch ein Wunder von einer Jungfrau geboren worden. Im Fall des Dionysos erzählt der Mythos dagegen, dass er den Thron seines Vaters, des Zeus, eingenommen und schließlich von den Händen seiner Feinde, den 26

Graves, Die Weiße Göttin, S. 126. Ibd. S. 126 f. 28 Ean Begg, The Cult of the Black Virgin, London / New York 1985, S. 43. 29 Graves, Die Weiße Göttin, S. 24, 293. 30 Begg, Black Virgin, S. 44. 31 Frazer, Golden Bough, S. 384. 32 Graves, Die Weiße Göttin, S. 202. 33 Siehe weiter unten Kapitel 5, den Abschnitt „Erotik“. 34 Graves, Die Weiße Göttin, S. 512. 27

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Titanen in Gestalt eines Stiers, den Tod durch Zerstückelung erlitten habe. Davon leitet sich her, dass der Stier von der religiösen Gemeinde als das heiligste aller Tiere verehrt wird. Für Frazer sind alle diese Geschichten der mythologische Ausdruck für das feierliche Opfer der göttlichen Könige unter matriarchalischer Herrschaft.35 Eine bemerkenswerte Erscheinung in den göttlichen Bestiarien dieser Kulturen ist das Schwein, vor allem wegen seiner ambivalenten Bedeutung. Obwohl es von vielen als unrein angesehen wurde, war das Schwein unantastbar, und dies hielten einige für ein Zeichen seiner Heiligkeit. Diese Meinungsverschiedenheit deutet auf einen verschwommenen Zustand im religiösen Denken hin, bei dem zwischen der Idee der Heiligkeit und der Unreinheit noch nicht scharf unterschieden wird; beides läuft auf eine Art dunstige Lösung hinaus, der wir den Begriff Tabu beigeben.36

Bataille studierte Frazers Arbeiten aufmerksam. Daraus schloss er: „Es ist schwer, daran zu zweifeln, dass Leiden und Auferstehung Jesu nicht die Ausführung von Gefühlen sind, die sich auf alte Legenden von Gottheiten, die zu Tode gebracht werden, beziehen.“37 Aus den Elementen, die er in Frazers The Golden Bough vorfand, versuchte Bataille eine Synthese des religiösen Gefühls für die Moderne zusammenzufügen – eine theologische Konstruktion, die das ewige Rätsel der Theodizee würde lösen können. Das heißt, er lieferte für die beunruhigende Anwesenheit von Perfidie in einem Kosmos, der scheinbar von harmonischen Gesetzen regiert wird, eine Begründung. The Golden Bough entnahm Bataille das Muster vom geopferten Gottkönig, seiner Zerstückelung und Wiedergeburt, die Götterbilder des Stieres und des Schweins und die Andeutung, dass das Heilige, wie bei Kali, mög­licherweise zwei Erscheinungsformen hat – eine saubere Ober- und eine schlimme Unterseite. Beide Gegensätze existieren unabhängig voneinander und werden nur durch die Barriere des Tabus getrennt. Diese Schranke wird nur periodisch im Toben der Saturnalien (und nach Batailles Verständnis, in den zyklisch wiederkehrenden Holocausts der Kriege)  aufgebrochen. „Heiliger Dreck“  – will sagen  – Menstrua­ tionsblut, das bei Männern lange Zeit Grauen ausgelöst hat, war in Folge mit einer Reihe von Verboten (Tabus) belegt worden, die auch für pubertierende Frauen galten.38 Darauf bezog Frazer die Annahme, dass moderne, „zivilisierte“ Nationen diese Rituale noch nicht ganz aufgegeben haben, da sie weiterhin ihr archaisches Verlangen nach Sündenböcken und feierlichem Mord durch die Exekution von Kriminellen befriedigen – und zwar als den ultimativen, modernen Ersatz für das Königsopfer längst vergangener Zeiten.39 Kriminalität und Religion verbinden 35

Frazer, Golden Bough, S. 401, 403, 449, 451. Ibd., S. 546 (Hervorhebung hinzugefügt). 37 Georges Bataille, Œuvres complètes (OC), S. 11:69. Batailles Bezüge auf The Golden Bough, siehe OC, 2:69, und L’érotisme, Paris 1957, dort die Anmerkung auf S. 136. 38 Frazer, Golden Bough, S. 694–703. 39 Ibd., S. 666–8. 36

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sich so unter dem Zeichen der „schrecklichen Heiligkeit“.40 Am Ende liest sich, wie oben angedeutet, der The Golden Bough wie eine unerbittlich entlarvende Widerlegung des christlichen Anspruchs auf religiöse Originalität (wenn nicht sogar seiner Authentizität). Die Geschichte von einem Sonnen-König, dem Sohn eines abwesenden Gott-Vaters, der (wie Attis) von einer Jungfrau zur Zeit der Wintersonnenwende (wie Dionysos, Apollo, und Mithras) geboren,41 vor den Augen der weinenden Mutter getötet und an Ostern als der Erlöser auferweckt und dessen Leib zu Brot transsubstantiiert wurde (eine Praxis, die auch die antiken Mexikaner gekannt haben),42 erweist sich als eine verbreitete mythologische Vorlage. Auf sie hat die neuere jüdisch-christliche Orthodoxie den wirtschaftlichen Radikalismus eines geheimnisvollen und bestechenden hebräischen Asket aufgepfropft: Den des jungen Lehrers Joshua. Wie wir sehen werden, sollte diese These Bataille inspirieren, der seinen spirituellen Weg als katholischer Seminarist begonnen hatte, und der gewichtige Erkenntnisse über die blutigen Züge des christlichen Mythos besaß. Offenbar wird Heiligkeit, magische Befähigung, Tabu, oder wie wir jene geheimnisvolle Qualität auch immer benennen wollen, die angeblich die heiligen oder tabuisierten Personen erfüllt, von den primitiven Philosophen als eine physische Substanz oder ein Fluidum verstanden, mit der der heilige Mann genauso wie eine Leidener Flasche mit Elektrizität aufgeladen ist. Und genau wie die elektrische Ladung dieser Flasche kann der Betreffende durch den Kontakt mit einem guten Leiter entladen werden. Somit kann sich die Heiligkeit oder magische Kraft in diesem Menschen entladen und durch den Kontakt mit der Erde abgeleitet werden, die nach dieser Theorie als ein ausgezeichneter Leiter für das magische Fluidum dient.43 Dieser von Frazer angestellte Vergleich zwischen Heiligkeit und Elektrizität könnte der Grund für Batailles davon abgeleitete Bildersprache sein. Er hat sie später kreativ genutzt, um seine Version von Theologie vorzustellen – eine Theologie, die darüber nachdenkt, wie man eine Gemeinde mittels einer besonderen Bindungsenergie um einen heiligen Kern (Mittelpunkt) herum sammelt.44 Sie bildete tatsächlich den Keim für eben die Konzeption, die wiederum Foucault aufgreifen sollte, als er sich daran machte, seine akademische Fiktion Macht / Wissen auszuarbeiten. Schließlich geriet der Westen im heftigen Kampf zur Unterwerfung der Großen Göttin aufgrund des patriarchalischen Glaubenssystems unter die Herrschaft des Einen Gottes. Doch unter den Trümmern der Auseinandersetzung, die rasch unter den Teppich der männlichen Herrschaft gekehrt worden war, nämlich unter das Verbot von Menschenopfern und das schichtenspezifische Regime des Eigen 40

Ibd., S. 260. Graves, Die Weiße Göttin, S. 373, 379. 42 Frazer, Golden Bough, S. 568. 43 Ibd., S. 688–9. 44 Vgl. Kapitel 5, Unterabschnitt „Macht“. 41

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tums, schwelte die Asche der chthonischen Furie weiter. Eine entsprechende Raserei konnte jederzeit und überall mit rachsüchtigem Trotz wieder ausbrechen. Krieg, systematische Vergewaltigung, Folter, Massenopfer, faszinierte Zerstückelung von Menschen durch Menschen, ungebändigte Sexualität, periodisch auftretender Wahn, Verstümmelung und Selbstverstümmelung waren in den Chroniken des Westens (und der Welt) immer wieder unauslöschliche Hinweise auf den unerklärlichen „Wahn“ in einer Zeit, in der man der männlichen, „rationalen“ Heiligkeit huldigte. Aber der auffälligste Aspekt all dieser beklagten Missetaten, die fromme Kommentatoren systematisch einer gewissen verwirrten Bosheit, einer „vergifteten“ Psyche und dem verstocken Herzen eines Einzelnen (sozusagen als eine private, psychologische Angelegenheit) zugeschrieben haben, war, dass dem eine universell erkennbare Methode, oft eine instinktive und unverantwortlicher Logik zugrunde lag, ein Ritual, dem Männer beim Töten oder Schänden ihre Mitmenschen folgten. Die Methode war von einer Art, dass sie nicht bloß auf den zufälligen, aggressiven Trieb männlicher Animalität, auf einen geistlosen Instinkt zurückgeführt werden konnte. Eingeweihte, Religions- und Esoterik-Forscher, verschiedene Gelehrte und andere, auch Bataille und seine Anhänger, haben diese wiederkehrenden und methodisch ablaufenden Blutorgien immer auf einen nicht zu unterdrückenden und unbewussten, der menschlichen Natur innewohnenden Antrieb zurückgeführt, in blutiger Ekstase zum dionysisch-aphrodistischen Pol hinüber zu wechseln. Bataille fragte sich: Wie konnte es sein, dass sich Männer allerorts ohne Absprache in einem übereinstimmenden rätselhaften Verhalten vorfanden, dass sie alle das Bedürfnis verspürt oder die Verpflichtung erlitten haben, Lebewesen auf eine rituelle Weise zu töten? … [Der „ruhige Mann“] muss zugeben, dass er bestimmt zu Tötung und zu den Schrecken heiliger Ekstase neigt. Weil sie [diese Frage] nicht beantworten konnten, haben alle Männer in Unwissenheit darüber lebten, was sie eigentlich sind. […] Dies ist der Schlüssel zur gesamten menschlichen Existenz.45

Es scheint also, dass unsere Gier nach Blut, Gewalt und Herrschaft ein Drang der Menschen mit weit zurückreichenden Wurzeln ist, eine ursprüngliche Neigung, welche die traditionellen monotheistischen Religionen über die Jahrhunderte mit Katechismen und Verhaltensvorschriften zu unterdrücken sich bemüht haben. Bis jetzt waren, wie Bataille andeutet, die Ergebnisse eines solchen missionarischen Bemühens bestenfalls gemischt. Neuerliche Berichte über Gräueltaten, die von den vereinigten Völkern der Christenheit begangen wurden, sind ziemlich atemberaubend. Sie bieten ein klares Indiz dafür, dass das dionysische Tier in uns bei weitem noch nicht domestiziert ist. Der periodische Vollzug von Brandopfern (Holocausts) stellt den okkulten Wunsch der Menschheit dar, eben die­jenigen Neigungen zu befriedigen, die vor der „patriarchalischen Umstellung“ frei und natürlich geduldet worden waren. In diesem Zusammenhang erwiesen sich die Tötung des Häuptling-Königs in primitiven Gesellschaften, die Saturna 45

Bataille, OC, S. 7:264.

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lien und dergleichen Feste, während derer Verbote aufgehoben wurden, als die klassischen Darstellungen des bewaffneten Waffenstillstands zwischen traditioneller Herrschaft und orgiastischen Manifestationen. Während dieser besonderen Zeiten – Tage, die eine starke Diskontinuität im traditionellen Kalender markieren – wurden Tabus und Verbote umgekehrt und die ursprünglichen Mächte des Chaos (zu unterschiedlichen Graden an Freizügigkeit) losgelassen. Anthropologen und Historiker haben über die wilde Gewalttätigkeit, die in solchen Zwischenzeiten explodiert war, berichtet: Die soziale Ordnung wird kurzzeitig ausgesetzt, Abgrenzungen werden aufgehoben, und, in zufälliger Reihenfolge, wird das Verlangen nach Rausch, Mord, Schlägerei, Vergewaltigung, Diebstahl, Plünderung und Promiskuität großzügig geduldet. Die Vermischung der sozialen Klassen (ähnlich wie bei den Saturnalien), erotische Freiheit, Orgien usw. – all das symbolisiert die Rückkehr des Kosmos ins Chaos. Am letzten Tag des Jahres löste sich das Universum in das Urwasser auf. Das Meerungeheuer Tiamat46 – Symbol der Finsternis, des Amorphen und nicht Manifestierten, stand wieder auf und wurde bedrohlich. Die Welt, die ein ganzes Jahr existiert hatte, verschwand wirklich. Da Tiamat wieder anwesend war, war der Kosmos vernichtet, und Marduk musste ihn noch einmal erschaffen [und zwar aus dem zerstückelten Körper des Ungeheuers], nachdem er Tiamat von neuem besiegt hatte.47

Es lässt sich also sagen, Bataille und später Foucault rechneten mit drei wesentlichen spirituellen Kräften, welche die Moderne geformt haben: (1) Eine erbarmungsvolle Tradition, die an den Glauben an eine Transzendenz (d. h., an etwas, das über dieses Leben hinausweist, aber für unsere Herzen und den Verstand nicht zu ergründen sein dürfte), an eine heilige Geometrie und an das Gute gebunden ist  – diese Tradition wollen wir ab jetzt die „apollinische“ nennen, (2) das mechanische Zeitalter der industriellen Macht, und die damit verbundenen Mentalität der Sparsamkeit und Effizienz; (3) und die blutigen Kulte der Vorzeit. Buddhismus, Platonismus und Neuplatonismus würden zum Beispiel unter die apollinische Kategorie fallen. Dagegen scheint das Christentum zwischen der ersten und der dritten Form der Religionsausübung hin- und hergerissen zu sein. Es ist zwar erbarmungsvoll, aber sein Mythos wurzelt, wie Bataille versessen anmerkt, tief in Blut- und Opfer-Ritualen (Kreuzigung) sowie im Vollzug unbeschränkter Verbrechen, die es – wie Bataille nicht ohne Grund einwarf – mit seinem beharrlichen Angebot grenzenloser Vergebung notgedrungen impliziert.48 Dies ist ein zentrales Problem, auf das wir detailliert in unserer Erörterung der Theologie Batailles eingehen werden. Was diese drei spirituellen Kräfte betrifft, so pflegte Bataille als junger katholischer Seminarist die erste zu fürchten. Doch hielt er sie allmählich für abklingend und überwunden, wenn auch nicht ganz für bedeutungslos. In der zweiten sah er die mittelmäßige Aneignung der „heiligen 46

Vgl. das schlangenartige Ungeheuer in der zoroastrischen Tradition, das von Marduk erschlagen wurde mit St. Michaels Drachenkampf in der westlichen Mythologie. 47 Eliade, Das Heilige und das Profane, S. 71. 48 Bataille, OC, S. 10:281.

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Energie“ (d. h. des Lebensnervs der Menschheit). Die „heilige Energie“ wird, sobald sie für die Maschinerie und die Logik des Profits nutzbar gemacht wird, gebändigt und nimmt die Form von dem an, was Bataille „Macht“ nennt. Die dritte spirituelle Kraft war in seinen Augen der richtige Weg. Wenn die Riten der Blutopfer auch schockierend waren, galt ihm, diese zu vereinnahmen, als das konsequenteste, ehrlichste und vernünftigste Verfahren, um sich aus dieser Welt angesichts ihrer endlosen Qual, der unerklärlichen Leiden und des klaffenden Todesabgrunds einen (Un-)Sinn zu machen. Mit anderen Worten, Bataille wünschte sich eine neue Herrschaft der Göttin Kali. Er sehnte sich danach, das Blühen der Blumen mit dem Gemetzel von Fleisch in einem Glaubensbekenntnis zu versöhnen. Angesichts des unverständlichen Wahnsinns des Lebens klagte er über eine blöde und grausame Empfindung der Schlaflosigkeit, über eine monströse Stimmung, über Unmoral im Einvernehmen mit der gesetzlosen Brutalität des Universums, über die Grausamkeit des Hungers, über einen hoffnungslosen Sadismus: Also über den abgründigen Geschmack Gottes an dem extremen Leid der Geschöpfe, an einem Leiden, das sie stranguliert und entehrt. Habe ich mich in eins mit dieser grenzenlosen Fassungslosigkeit, in der ich selbst ratlos bin, je mehr als nur als einfacher Mensch gefühlt?49

Eine Wiederbelebung orgiastischer Kulte in der modernen Zeit kann angesichts der Alltäglichkeiten unserer Zeit nur „gefiltert“ oder in einer verschiedenartig ausgearbeiteten Form erfolgen. Deshalb erkannte Bataille zu ihrer Wiederbelebung nur zwei Möglichkeiten: Entweder mit dem Faschismus (der italienischen Art) zu flirten, den er in den zwanziger und dreißiger Jahre zustimmend als ein triumphales, souveränes Regime auf der Grundlage heroischer Gewalt ansah; oder den Diskurs der liberalen Gesellschaft in der Absicht zu vergiften, sich in ihrer Mitte in subversiver Absicht einzunisten. Mit anderen Worten, was (anstelle des Faschismus) zur Veränderung versucht werden konnte, war eine ästhetische Umgestaltung der Sprache und damit auch des geistigen Lebens. Eine Umbildung der Sprache würde dem Subjekt ab­gewöhnen, das Tier in ihm selbst schamhaft zu verbergen, und würde jene hemmenden Widerstände lockern, welche seit den Tagen der religiösen Umorientierung Gesetzgeber der Vernunft seit Plato im Menschen unermüdlich errichtet haben. Nach dem Zusammenbruch des Faschismus im Zweiten Weltkrieg blieb nur noch die zweite Alternative. Diese hat Bataille in der Tat notgedrungen verfolgt, und sie war es, welche die Foucaultianer in den vier Jahrzehnten seit dem Tod Batailles, ihres Meisters im Jahre 1962, zu perfektionieren versucht haben. Wie in dem Kapitel über die Postmoderne im Einzelnen dargelegt werden wird, war ein Teil dieses von Bataille konzipierten und von Foucault später ausprobierten ästhetischen Umbaus erfolgreich, oder, besser gesagt, hat der Umbau bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, die sich zum größten Teil in der folkloristischen Szene abgespielt haben, erfolgreich begleitet. Die jüngsten Höhen und Tiefen unseres Lebensstils und der intellektuellen Moden, ganz zu schweigen von ihrer späteren Marktgängig 49

Ibd., S. 12:279.

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keit (auch das ein Zeichen dafür, dass Macht und „Opposition“ letztendlich Hand in Hand arbeiten), sind dafür der offensichtliche Beweis. Man beachte beispielsweise die zunehmend verbitterte Auslaugung der Männer und Frauen am Arbeitsplatz und das Gerede, die Literatur und Körpersprache, die damit einhergeht; die Flut an Büchern über das weibliche Göttliche, die Große Göttin und die damit zugleich unterstellte klägliche Unfähigkeit männlicher Herrschaft; die augenzwinkernde Aufwertung der primitiven, Blutopfer praktizierenden Kulturen seitens der Wissenschaft, die somit in den Rang von „Zivilisationen“ gehoben wurden; den „primitiven Punk“ als eine Art Freizeitbeschäftigung, dazu Tattoos und Piercings als die jüngsten Verkaufstricks, womit den unwissenden Massen aufs Neue ein rudimentäres System von Rang und Namen geboten wird, das sich auf die „Angst vor Prestige-Verlust“ gründet,50 oder den Umstand, dass Hollywood seit neuestem auf sexueller Ambiguität besteht. Schon diese kurze Aufzählung zeigt, dass unsere Gesellschaft noch nicht wirklich innehält, um sich und ihre neuesten Verhaltensmuster – schon gar nicht die endlosen Verbrechen und das Versagen ihrer jüngeren Erfahrung – bei dem umfassenden Versuch zu hinterfragen, um die geistige Natur der verderblichen Kräfte, die sie durchziehen, umfassend zu bewerten. Amerika und der Westen zeigen kein Verlangen nach Reflexion. Vielmehr scheint in diesen Tagen alle die Möglichkeit zu faszinieren, surrealistische Abbildungen und digitale Reproduktionen von alten matriarchalen Kulten und ihrer Blut- und Opfer-Rituale zu erkunden und damit so herumzualbern, wie dies von Visionären wie Bataille erträumt worden ist. „Zweifellos wird niemand sagen“, argumentierte Letzterer defensiv, „dass ich das Verlangen hätte, einen neuen Zyklus des Holocausts einzuführen: Ich bin bloß Vermittler der Bedeutung der antiken Gebräuche“.51 Doch genau das hat er getan. Und wie will man das Phänomen einordnen, dass dies die Medien unbestreitbar seit Jahren sehr stark gefördert haben. Sie haben antike Überlieferungen zu Pop-Einlagen und Kaufhausware umverpackt, insbesondere durch begeisterte Kritiken von Filmen, Romanen und Kunstausstellun 50 „Ethnologen ist bekannt, dass [Kosmetischer Farbauftrag und absurde Kleidungs­stücke, die Personen in der Absicht tragen, um ja nicht hinter den tadellos Besten und Anständigen zurückzustehen] von etwa dem gleichen ästhetischen Wert sind wie z. B., Tätowieren und Opferhandlungen, Zahn-Füllungen, Nasendurchbohren, Lippen-Erweiterungen bei den Völkern der weniger entwickelten Kulturen, und dass diese Praktiken direkt und unmissverständlich auf der Angst vor dem Verlust an Prestige beruhen. Und an diesem Punkt, wie übrigens an vielen anderen, ist es vorteilhaft, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass die überkommene menschliche Natur der Europäer und ihrer Kolonien noch immer die gleiche ist wie die ihrer wilden Vorfahren in der Jungsteinzeit vor etwa zehn- oder zwölftausend Jahren“ (Thorstein Veblen, Absentee Ownership, and Business Enterprise in Recent Times — The Case of America, New York 1923, S. 311, Hervorhebung hinzugefügt). Die jüngste Vorliebe für Piercings am Nabel und an der Nase, sowie von Ringen an den Zehen, könnte seinen nebulösen Grund im alten Brauchtum haben, Angelhaken an Körperteilen eines kranken Menschen zu be­ festigen, damit seine Seele, „falls sie versuchen sollte zu fliehen, angehängt und schnell festgehalten werden kann“ (Frazer, Golden Bough, S. 208). Auf die Praxis des Piercings werden wir noch einmal im Zusammenhang mit Batailles wichtiger Beziehung zur aztekischen Kultur zurückkommen. Vgl. Kapitel 5, dort der Unterabschnitt „Die monströsen Archonten“. 51 Ibd., S. 7:263.

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gen, die auf die eine oder andere Weise Faszinationen, wie sie Blut, Gewalt und Tod zu wecken verstehen, zum Mittelpunkt haben. Bataille und seine Jünger haben einen außergewöhnlichen Gefühlswert auf die Spuren dieser dionysischen und aphrodisischen Kulte gelegt. Wir werden sehen, wie diese häretische Nostalgie schließlich zur Farce gegenkultureller Einbildungen degeneriert, wie sie späte Fans von Foucault, wie z. B. Michael Hardt und Antonio Negri, vertreten. In der Ökonomie des Batailleschen Systems konnte diese Runderneuerung der dionysischen Kulte jedoch nicht ohne die Prägung von Mythen ein solches Leuchtfeuer der postmodernen Inspiration entfachen. Denn was wir im Westen letztlich Philosophie nennen, ist im Allgemeinen nicht mehr als eine abstrakte Umformulierung von einer begrenzten Reihe von Geschichten oder Mythen, welche die kollektive Anthologie der Glaubens- und Aberglaubens-Systeme unserer Kultur bilden. Das mythologische Becken, aus dem Bataille die meisten seiner Erzählvorgaben und kosmogonischen Ursprungsgeschichten für sein Projekt herausgefischt hat, war das der Gnosis.

Kapitel 3

Gnostische Fragmente Auch darf man nicht zugeben, dass diese Welt schlecht geschaffen sei, weil sich vieles Widrige in ihr befindet. Denn das heißt ihr zu viel Wert beilegen, wenn man verlangt, sie solle ebenso sein wie die intelligible und nicht vielmehr ein Abbild jener. Plotin, 2. Enneade1 In dieser Welt gibt es Gutes und Schlechtes. Aber ihr Gutes ist nicht wirklich gut und ihr Schlechtes nicht wirklich schlecht. Es gibt aber Schlechtes in dieser Welt, das wirklich schlecht ist – und das nennt man die Orte, die in der Mitte dazwischen sind. Dort ist der (wirkliche) Tod. Das (gnostische) Evangelium nach Philippus2

Die Gnosis war ein erster Aufbruch in die diskursive Richtung. Apostel des Chaos sind keine Individualisten. Sie sprechen nicht im Namen des Menschen oder zu seinem geltungssüchtigen Vorteil. Tatsächlich sprechen sie zugunsten der Unordnung, für ein unpersönliches Prinzip der Auflösung. Dagegen bewahren sich einsame Misanthropen, die ihre Bitterkeit und Marotten nur mit sich selbst ausmachen, einen Hauch von Anstand und Adel – eines Adels, den die Prediger der Auflösung von dem Moment an verlieren, an dem sie ihren Mund auftun, um andere über die Geschicke der Welt zu belehren. Der dickhäutige, sorglose Landstreicher hasst, wenn er dies wünscht; er zerstört auch sich selbst oder schändet in der Stille seiner Einsamkeit. Es ist seine Sache, eine, die er allein mit der Gottheit ausmacht, die er so tief verachtet, oder über deren Fernbleiben er sich so tief grämt. Sogleich kommt einem der Kyniker Diogenes in den Sinn. Er war schon immer der Held der französischen Pessimisten3; auch der Foucaults. Diogenes verachtete die Mächtigen, masturbierte auf öffentlichen Plätzen, lebte in einem Fass und spuckte den Reichen ins Gesicht, indem er ihnen ihre Heuchelei und Selbstgerechtigkeit nach 1 Plotin: Enneaden, Vollständiger, durchgesehener Neusatz mit einer Biographie des Autors bearbeitet und eingerichtet von Michael Holzinger, Dort: 2. Enneade. Abhandlungen zur Kosmologie und Physik, Abschnitt 4.  Im Internet unter: http://www.zeno.org/Philosophie/M/ Plotin/Enneaden/2.+Enneade.+Abhandlungen+zur+Kosmologie+und+Physik/9.+Gegen+ die+Gnostiker+oder+Gegen+die+welche+sagen,+der+Weltbildner+sei+schlecht+und+die+Welt +sei+schlecht. 2 Konrad Dietzfelbinger (Hrsg.): Apokryphe Evangelien aus Nag Hammadim, (Das Evangelium nach Philippus übersetzt von Walter Till Berlin 1963) 4.  Auflage, Hamburg 2004 S. 114. 3 Vgl. E. M. Cioran, Précis de decomposition, Paris 1949, S. 94–7 (dt.: Emil M. Cioran, Lehre vom Zerfall. Übers. v. Paul Celan. Reinbek 1953).

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3. Gnostische Fragmente 3Gnostische Fragmente

wies. Er war der Nihilist mit der Ethik eines Individualisten. Er ist sich selbst in seiner Respektlosigkeit treu geblieben und war bei Tage ein Erzähler der Absurditäten des Lebens. Er wollte keine Schule gründen und wünschte sich weder Schüler noch die Eitelkeiten eines Nachruhms. Doch wenn die Subversion zum Diskurs, zur Theorie oder „Tradition“ wird, wie es in Teilen des gnostischen Schaffens der Fall zu sein scheint, wird die Abneigung gegen etwas insgesamt Verlogenes auf einmal ausgekostet. Eine mit Gründen versehene Einladung zur Weltverachtung, wie sie die Gnosis in philosophische Form gebracht hat, ist „Projekt“, ein Versuch religiöser Bekehrung. Die Apostel des Chaos, wie die Gnostiker oder Bataille, leben, um die Ordnung, den Zwang, die Scheinheiligkeit, die Disziplin und vor allem den religiösen Eifer abzulehnen. Doch ertappen sie sich dabei, dass sie ihre Angriffe in Schrift und Sprache gegen die herrschende Ordnung mit religiöser Inbrunst führen, die nicht weniger virulent, militant oder intolerant ist, als die ihrer Gegner. Offensichtlich sehnen sich auch die Gnostiker nach Konvertiten. Aber wozu, könnte man fragen, wenn die Welt, wie sie sagen, hoffnungslos und sinnlos ist? Die Apostel des Chaos sind ganz klar in sich gespalten. Bataille hatte wiederholt mit diesem Dilemma zu kämpfen. Wenige Jahre vor seinem Tod gestand er: „Ich sollte es aufgegeben haben zu sprechen. Ich sollte meine Ohnmacht erkannt und den Mund gehalten haben.“4 Und doch hat er es nicht getan. Für die Apostel des Chaos kommt so etwas nie in Frage. Und so schreiben sie. Seit frühchristlicher Zeit schreiben sie, um zu klagen, dass wir Menschen  – mit den Worten eines modernen Kommentators – „im kosmischen Maßstab aus­ gebeutet werden“, dass wir das „Proletariat“ eines zweitrangigen Gottes (eines „Demiurgen und Henkers“) sind, der uns als „Sklaven“ verbannt und „in einer Welt ausgesetzt hat, die von innen heraus der Gewalttätigkeit unterworfen ist. Wir sind Abschaum und Niederschlag eines verlorenen Himmels, Fremde auf unserem eigenen Planeten.“5 „Der Auftrag des Bösen“ wird an der ununterbrochenen „Notwendigkeit zu vernichten und zu verschlingen erkannt. Diese Notwendigkeit ist so weit, so planetarisch verbreitet, dass sie Krieg und Ernährung auf gleiche Höhe setzt. Aus dieser Sicht sind Kriege nichts als ein unumgängliches Mittel der Gesellschaften, sich zu erhalten und zu überleben. Die Ernährung hat eine andere natürliche Folge: den Stuhlgang, das logische Ergebnis der körperlichen Korruption.“6 Dies und noch vieles mehr gilt auch für die Gnosis. Sie scheint eine ureigene Tradition zu haben, eine vorchristliche, die nach der Skizzierung der Evangelien in die religiöse Auseinandersetzung eintrat und sich die ketzerische Färbung zulegte, die ihr Markenzeichen ist. Wie in der Einleitung erwähnt, stellt sie kein homogenes Ganzes dar. Sie umfasst zum größten Teil eine Reihe verschiedener Lehr 4

Georges Bataille, Œuvres complètes (OC), Paris 1970, S. 12: 482. Jacques Lacarrière, The Gnostics, San Francisco 1989 [1973], S. 29. 6 Ibd., S. 37. 5

3. Gnostische Fragmente 3Gnostische Fragmente

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meinungen, über die die Kirchenväter im Bestreben, sie zu widerlegen, berichtet haben. Oft weichen die Berichte über Ideen der gleichen Schule extrem weit voneinander ab. In vielen Fällen klingen die gnostischen Kosmogonien und Mythologien – eine kompakte Mischung aus Mysterienlehren, biblischem Synkretismus und einer Flut von östlichen, religiösen Traditionen – für den modernen Leser so komplex und esoterisch fremdartig, als wären sie buchstäblich undurchdringbar. Dennoch dürfte eine gewisse Anzahl von Elementen für unsere Erörterung zutreffend in Frage kommen. Erstens wurde diese gnostische Tradition „nur wenigen, moralisch und intellektuell vorbereiteten Auserwählten als göttliche Offenbarung mitgeteilt und zwar ganz im Gegensatz zum gewöhnlichen Glauben der christlichen Massen“.7 Es handelte sich um einen elitären Diskurs. Zweitens tritt in verschiedenen Sekten durchgängig die Behauptung auf, dass die menschliche Seele ein Funke sei, der sich, in dichter Materie eingeschlossen, nach Befreiung sehnt. „Der Körper ist ein Gefängnis“, sagte der Gnostiker Carpocrates.8 Daher kann man Emanzipation nur durch Trennung, Entfremdung und Rückzug aus der Welt erlangen. Dieser Rückzug kann die Form von Askese annehmen, oder – noch interessanter – die Form einer souveränen Missachtung aller menschlichen Gesetze. Dies könnte man als ein selbstzufriedenes Gefühl der „Vollkommenheit“ beschreiben, das gegen die Skrupel einfacher, frommer Menschen immun ist. Mit anderen Worten, den „Vollkommenen“ sind alle Arten von „Schandtaten“ erlaubt9, damit sie sich von den versklavenden Zyklen der Wiedergeburt befreien und in ein höheres Reich des Geistes, das unterschiedlich definiert wird, eingehen können.10 Drittens befürworten viele Gnostiker, wie der junge Epiphanes, im Namen der Gerechtigkeit „eine Gemeinschaft der Gleichheit“ und damit einen hemmungslosen Kommunismus des Besitzes und der Sexualpartner. Sie luden dazu ein, alle von Menschen gemachten Gesetze zu übertreten, die eingeführt worden sind, um 7

Manlio Simonetti (Hrsg.), Testi gnostici in lingua greca e latina, Mailand 1999, S. xi. Dass die Seele ein Funken sei, der in der Materie gefangen gehalten wird, findet sich zum Beispiel in den Lehren des Simon Magus ibd., S. 16 und bei den Sethianern und Ophiten ibd., S. 124. Das Zitat stammt von Carpocrates, ibd., S. 194. 9 Der christliche Theologe Irenäus erwähnt in diesem Zusammenhang die Schule des Gnostikers Basilides. Seine Anhänger bezeichneten sich selbst als „die Perfekten“. Irenäus lehnte ‚die Perfekten‘ ab, weil sie sich am Götzendienst, an heidnischen Festen und an libidinöser Wollust beteiligten, und auch wegen ihrer übertriebenen Teilnahme an gewalttätigen Spektakeln, wie sportähnlichen Tötungen von wilden Tieren und tödlichen Kämpfen von Mann gegen Mann im Amphitheater. Ebenso begeisterten Bataille sehr stark spanische Stierkämpfe. Seine morbide Erfahrung beim Stierkampf in Sevilla, die er in seinem ersten Roman Die Geschichte des Auges, (in: George Bataille, Das obszöne Werk, Reinbeck 1972) erzählt, schlägt eine interessante Brücke zu den „Gräueltaten“ der gnostischen Perfekten (siehe Kapitel 5, Unterabschnitt „Erotik“). 10 Ibd., S. 312. Dies bezieht sich auf Eingeweihte in die Valentinianische Gnosis. 8

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3. Gnostische Fragmente 3Gnostische Fragmente

Eigentum abzustecken.11 Alle solche Glaubenssysteme wurden somit auf einem tiefen Gefühl der Kameradschaft errichtet, das die Adepten durch die Festigung der Bindung vereint. Diese hatte sich aus dem Elend und Leiden an dieser Welt gebildet, einer Welt, die als ein kalter, oft unwirtlicher Bereich beschrieben wird. In diesem Sinne könnte man die Gnosis als „Gegenkultur“ ansehen. Viertens scheint, was die unzähligen kreativen und visionären Erzählungen über die Erschaffung des Kosmos angeht, eine systematische Einteilung un­möglich zu sein, obwohl fünf Themen in verschiedenen Kontexten immer wieder­kehren: 1. Der Häresiarch Simon Magus behauptet, dass das Prinzip aller Dinge unendliche Macht (απεράντη δύναμισ) sei. Die unendliche Macht teilt sich in zwei andere grundlegende Kräfte, die selbst ohne Ende oder Anfang sind: die Große Macht, der männliche Geist, der alles lenkt, und das große listige Trachten (d. h. der „Diskurs“ επίνοια), das weibliche Prinzip, das alles erzeugt.12 2. Nach einem faszinierenden Mythos, den der Ophit Justin („ein Anhänger der Schlange“, von griechisch όφισ) berichtet, gibt es drei Prinzipien der Schöpfung: zwei männliche und ein weibliches. Der höchste Gute (ό αγαθόσ) befindet sich in einer höheren Sphäre, während Elohim, das Männliche, und Eden, das Weibliche, sich vereinen, um den Kosmos zu zeugen. Jeder bringt zwölf Erzengel (Äonen) hervor. Adam, der Mensch, besiegelt ihre Vereinigung: Eden gibt ihm die Seele, Elohim den Geist. Aber als Elohim zu einem Besuch zum Vater aufgestiegen war und beschlossen hat, bei Ihm zu bleiben und so Eden zu verlassen, da verzweifelte Eden und sandte ihren Engel Aphrodite (oder Babel), um durch die Aussaat von Streit und Zwietracht in den Herzen der Menschen Leid und Elend zu entzünden. Um Elohim dafür, dass er sie verlassen hat, zu treffen, quält Eden statt seiner den Menschen, weil er den Geist seines Vaters beherbergt. Die Existenz der Menschen verschlechtert sich jedoch noch mehr, wenn ein weiterer Engel Edens, Naas („die Schlange“ auf Hebräisch), sowohl Adam und Eva verführt und vergewaltigt, und so Ehebruch und Päderastie einführt. Auf diese Weise ist das Lebensgeschick der Menschen (conditio humana) besiegelt: Denn weil sich der Vater zurückgezogen hat, ist der Mensch zu einem erschütternden Zusammenleben mit dämonischer Präsenz und unter der Vorherrschaft weiblicher (mütterlicher) Rachsucht verurteilt. Danach werden Engel vom Vater Elohim auf die Erde geschickt, um seine Geschöpfe den Weg des Aufstiegs und der Befreiung aus der Falle zu lehren.13 3. Eine andere Geschichte aus der gleichen Schule postuliert die gleichen drei Prinzipien in der symbolischen Form des Geistes, der Finsternis (σκότος) und des Lichts. Die Anhänger des Basilides ziehen lediglich die beiden letztgenann 11

Ibd., S. 186. Ibd., S. 19 u. 33. Dies stammt aus den Lehren des Simon Magus laut der Widerlegung des Hyppolit. 13 Ibd., S. 87–95. 12

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ten in Betracht und behaupten ebenfalls, dass diese kein Ende und keinen Anfang haben. Die Finsternis wird wiederholt mit dem „Abyss“ oder dem Element Wasser in Verbindung gebracht – nämlich mit „dem Finsteren, Schrecklichen, Verdammten, Boshaften“, das in seiner ursprünglichen Leere und Intelligenz versucht, Licht an seine Brust zu locken. Über das erleuchtete Wasser bläst ein mächtiger Wind, dessen wogender Verlauf einer Schlange ähnelt. Als nun der Atem der Schlange über das Wasser strich, kam es zur Schöpfung der Erde.14 4. Dann gibt es von Basilides noch jene berühmte, dunkle Lieblingspassage der Dekonstruktivisten über „Gott, der nicht ist (ό ouκ ον θεόσ), der „ohne Gedanken, Empfindung, Wille, Absicht, Lust und Leidenschaft ist“, und den Keim der Welt schaffen wollte. Dort heißt es, dass „der Gott, der nicht existiert, aus dem Nichts die Welt schuf, die nicht existiert, der den Samen aussähte, der in sich den gesamten Ertrag der Welt enthielt“.15 5. Schließlich wird uns in der dunklen, verworrenen Mythologie der Valentinianer (benannt nach ihrem Lehrer Valentinus) etwas über die Erschaffung eines Dutzends von Äonen durch höhere Prinzipien berichtet. Als letzter Äon hat Sophia in einem Akt der Verwegenheit aus dem Stehgreif beschlossen, sich auf eigene Faust fortzupflanzen. Ihre Sehnsucht, ihren Vater – den Einen Gott, der in der höchsten Sphäre des Seins einwohnt  – zu besuchen, zu verstehen, und sich ihm anzuschließen, veranlasste sie, allein diesen sinnlosen Akt auszuführen: Ein Nachäffen der göttlichen Schöpfung. Sie inspirierte dazu einen unwissenden Untergott, den Demiurg, der sich fälschlicher Weise für das Höchste Wesen hielt, die Erde zu schaffen. Die Früchte dieser indirekten Schöpfung – der sogenannten Leidenschaft Sophia (το πάθος της σοφίας) – werden wahlweise als „amorph“ beschrieben, und die daraus sich ergebenden Menschen als „dumm, schwach, entartet“.16 Aus Sophias Gefühl des Entsetzens (eκπλήξις), der Angst und des Schreckens, diesen Fehler begangen zu haben, ist das materielle Universum entstanden, sowie dessen Herr, der Teufel  – der Fürst dieser Welt (o Αρχων του κόσμου) – und alle Elemente der Niedertracht, des Leidens und des Bösen.17 Fünftens, die meisten Lehrer der Gnosis erlaubten sogar den freien und uneingeschränkten Genuss von Sex und Rauschmitteln oder regten dazu an. Dies war die offensichtliche Folge eines Lehrsystems, das eine verächtliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal dieser entarteten Erde proklamierte.

14

Ibd., S. 101, 124–6, 140. Ibd., S. 156. 16 Schließlich machte sich der Vater, durch das Flehen der anderen Äonen gerührt, daran, die sündige Sophia wieder in das göttliche Firmament einzugliedern, indem er ihre übermächtige Leidenschaft und Unwissenheit mit Hilfe der Macht einer anderen Kraft, nämlich einer Emanation des Vaters selbst, der sogenannten Grenze (to óron), eindämmte. 17 Ibd., S. 288–90, 304, 308, 336, 386. 15

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Obwohl diese Glaubensbekenntnisse nicht en block als „teuflisch“ oder „satanisch“ charakterisiert werden sollten – beide Attribute bedeuten, dass die hierarchischen Prinzipien, welche die religiöse Orthodoxie diktiert hat, auf den Kopf gestellt wurden – so scheinen doch einige von ihnen wirksam genug gewesen zu sein, um im verführten Zuhörer die Weigerung auszulösen, eine übergeordnete Instanz anzuerkennen. In einem solchen Fall prangert die traditionelle religiöse Orthodoxie diese Vorstellungen als „luziferisch“ an.18 Wie dem auch sei, in dieser Zusammenstellung der Gnosis kann man verschiedene, diskursive Elemente ausmachen, die mit matriarchalischen und dionysischen Kulten verbunden zu sein scheinen, nämlich die Anerkennung des Mythos vom „müßigen, zurückgezogenen Gott“; die Qual, welche die Rachsucht der verärgerten oder anmaßenden Großen Mutter auf der Erde verursacht; die gleichzeitige Berufung auf Gleichheit, Zügellosigkeit und Promiskuität; den ekstatischen Wunsch, die Bande der Materie zu brechen; und die Duldung amoralischen Verhaltens, nämlich die sogenannte souveräne Verachtung, die auch ein bestimmendes Kennzeichen Batailles ist. Die Vergöttlichung des Nichts gleich zu Beginn entspricht der Analyse Batailles noch genauer, gemeint ist die Reduktion der kollektiven, menschlichen und existentiellen Dynamik auf den in sich geschlossenen Regelkreis von Macht / List (δύναμις / επίνοια), deren zufällige, unpersönliche Schocks und Gegenschocks symbolisch die düstere und enge Herrschaft eines eifersüchtigen, abgründigen Gewässers in Wallung bringt, das von einer allwissenden und allmächtigen Schlange durchfurcht wird. Wie später noch zu zeigen sein wird, bekannte sich Bataille zu einem schwärmerischen Sich-Einfühlen in alle diese fragmentierten Mythen. Er wollte schließlich versuchen, die Mythen aufzuklären und sie mit ihren speziellen Moralvorstellungen zu einer suggestiven und lebendigen Einheit zusammenzufügen, aus der eben sein „Projekt“ hervorgehen sollte. Mit anderen Worten, er dachte daran, die Fabeln der Gnosis zu einem Ganzen aus Visionen und einer politischen Ökonomie des Opferns umzumodeln, das von einer Theologie ohne Gott gekrönt wird. Er wollte sie, Thomas von Aquin zum Spott, seine summa atheologica nennen. Von den unzähligen Gottheiten, Archonten, Äonen und göttlichen Emanationen, welche die Gnostiker beschworen hatten, wollte Bataille nur die monströsen und abwegigsten beibehalten – diejenigen, die nach dem Mythos aus Ver­sehen gezeugt, geboren und gemacht worden waren, wobei als deren Nebenprodukte Trauer und Schmerz über die Sterblichen gekommen ist. Nur die wollte er für seine summa atheologica auswählen, denn nur sie machten für ihn in diesem halbapokryphen, fantastischen Pantheon der Gnosis symbolisch Sinn. Bataille fühlte, dass sie in der Tat – wie er sich ausdrückte – unser Gefühl des „Verlorenseins“, unser Gespür „nur Mensch zu sein“ ansprachen. All dies hat ihn schließlich davon überzeugt, dass es so etwas wie Wissen nicht gibt, sondern nur „Nicht-Wissen“, und dass „Gott“ in der Tat schmutzige Materie ist – Materie, welche die Menschheit zufällig ausgespuckt hat und ihren amoralischen, wechselnden Stimmungen zwi 18

René Guénon, Spiritual Authority and Temporal Power, Ghent, NY 2001, [1929], S. 30n.

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schen Geburt und Tod überlässt, um diesen Wesen einen Kampf vorzugaukeln, der nur auf Zufall, Spiel und rauschhaftes Sich-Ausleben hinausläuft. In all dieser unaussprechlichen Zufälligkeit, die wir Existenz nennen, bleibt uns wirklich nur ein unbändiges Gelächter, das die kurze, rationale Betrachtung eines solchen Lebens in uns hervorruft. Gott wurde auf den Kopf gestellt und dann enthauptet. Übrig bleibt davon nur der Kadaver der Materie, die bösen Engel der Gnosis als Bilder unserer Alpträume und unser verblüfftes Kichern, das im Hintergrund aus uns hervorbricht. Dies ist im Wesentlichen die finstere Theologie Batailles. Ohne dies offen zuzugeben, sollte Foucault sein frommster Gefolgsmann werden. Doch statt sich selbst, wie sein Meister, in literarischen Halluzinationen aufzuzehren, wollte sich Foucault auf das praktische Ziel konzentrieren, die Halluzinationen zu einem System  – das heißt, in ein geschlossenes philosophisches Werk – zu verdichten, das von einem entsprechenden Jargon untermauert wird; in ein System, mit dem man alle Facetten der sozialen, psychologischen, ästhetischen und existentiellen Wirklichkeit artikulieren kann; in ein System des rationalen Diskurses, das jedoch von einer religiösen (gnostischen und dionysischen) und heftigen Ablehnung aller Vorstellungen von Transzendenz und Wohlwollen getrieben wird. Das Endziel all dieser Bemühungen scheint der Wunsch gewesen zu sein, einen pädagogischen Leitfaden auszuarbeiten, nach dem sich moderne Menschen, die zumeist auf der Basis von Verstand funktionieren, mit ihren ursprünglich blutigen, chaotischen und hektischen Doppelwesen versöhnen sollten. Darüber, ob Foucault eine solch ehrgeizige Aufgabe gelungen ist, kann man streiten – wir werden dies später noch genauer erörtern. Sicher ist jedoch, dass sein zugegebenermaßen geniales Gebäude sich als brauchbar genug erwiesen hat, um das Interesse der amerikanischen Intelligenz in den späten siebziger Jahren zu gewinnen, zu einer Zeit, als die letzten Feuer der Rebellion in den USA zu verlöschen begannen und sich der Bedarf für eine Ideologie ergab, die Bourgeoisie ruhigzustellen, um zu verhindern, dass neue Funken je wieder das Feuer des Dissens entfachen konnten.

Kapitel 4

Marquis de Sade: Ein liberaler Vater für Alle Ich schätze, für jemanden, der herausfinden will, was den Menschen ausmacht, ist die Lektüre von de Sade nicht nur empfehlenswert, sondern unbedingt notwendig. Georges Bataille1

Zurück nach Frankreich. Wer oder was war de Sade (1740–1814)? Und warum legen Bataille und die Foucaul­tianer so großen Wert auf diesen Namen? De Sade war für sie äußerst wichtig, denn er stellte den ausgereiften Prototyp des lupenreinen modernen Menschen dar. Er war der Liberale und zugleich der souveräne Sohn der „Verschlingenden Mutter.“ Und als solcher musste er Bataille literarisch fesseln. De Sades Pornographie ist eine Sammlung von Kurzbeschreibungen, die der Reihe nach wie schlüpfrige Vorworte zu einem umfangreichen Vortragszyklus über das Leben wirken. Es handelt sich um eintönige Geschichten über fromme Jungfrauen, die ständig missbraucht werden. Sie geben – nach der gängigen Moral – die Schuld an ihrem Unglück und ihrer Drangsal eher ihren Schergen als ihrer eigenen keuschen Unvorsichtigkeit, in einer Welt, die ihrer Natur nach von Ungerechtigkeit und Tatsachen-Verdrehungen beherrscht wird. Der Leser wird zu der Erkenntnis geführt, dass törichtes Wohlwollen die Opfer, und den Mensch im Allgemeinen, ins Verderben führt. De Sade war insoweit ein Liberaler, als er voll und ganz die Werte der Aufklärung verfochten hat, nämlich in erster Linie die Verehrung der Natur und des Verstandes. Seine Einsicht war jedoch weit zutreffender als die seiner engstirnigen (französischen und schottischen) Wissenschaftlerkollegen. Denn er trieb die rationale Überzeugung an ihre äußerste Grenze und warf triumphierend die lähmende Heuchelei der aufgeklärten Enzyklopädisten über Bord. Er skizzierte diese Charaktere, – diese Schurken und Aristokraten, diese schizophrenen Geschöpfe der vor sich selbst gerechtfertigten Gier und fiebernden Wildheit – mit einem Ernst, der ihm ewigen Ruhm einbrachte. Bei de Sade verhält es sich so, als hätte der Archetyp des Menschen in der Moderne – Defoes kalter, fanatischer, berechnender und asexueller Robinson Crusoe, der allein auf seiner Insel haust – entdeckt, dass in ihm selbst monströse Leidenschaften brüten. Um sich ein Bild von de Sade zu machen, stelle man sich, wenn man will, Crusoe, den ge-

1

Georges Bataille, Œuvres complètes (OC), Paris 1970, S. 12:455.

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strandeten Utilitaristischen ganz ohne alle puritanische Keuschheit vor. De Sades und ­Crusoes Politik ist die gleiche. Doch dazu gibt es mehr zu sagen. Blicken Sie auf die Natur, die der Marquis an Justine veranschaulicht! Hat die Natur nicht Wesen hervorgebracht, die stärker sind als andere? Und wenn das der Fall ist, legt sie damit den einen nicht stillschweigend nahe, die anderen zu versklaven, sie zu tyrannisieren? Über den Tod hinaus gibt es nichts, das sagt uns der Verstand.2 Und so verschwinden Laster und gute Taten in jedem Augenblick gleichermaßen in einer ewigen Bedeutungslosigkeit. Warum soll man sich um Moral oder Vergeltung kümmern, wenn nach unserem letzten Atemzug nur Würmer im Schmutz auf uns warten? Nehmen Sie nun noch das Kalkül der Glückseligkeit des Utilitaristen hinzu: Wenn wir zugeben, dass unser Ziel im Leben darin besteht, Gewinn und Vergnügen (mit möglichst wenig Schmerzen) zu maximieren, und wenn wir dazu noch bedenken, dass Stärke das Gesetz der Natur ist und der Tod alles vernichtet, wie ist es dann möglich, das Eigeninteresse zu verfolgen, ohne gegen das der anderen zu verstoßen und rücksichtslos gegen ihren Willen anzugehen? Das ist in der Tat nicht möglich, und daher ist für den Marquis Reue und der Appell an moralische Gefühle ein verspätetes Aufbegehren von Pharisäertum und Feigheit: „Alle Menschen“, sagte er, „werden vereinzelt, neidisch, grausam und despotisch geboren; sie wollen alles haben und nichts anderen überlassen“.3 Die Natur, unterstreicht de Sade, will uns als Interessierte, vor allem als Egoisten, die Macht ausüben, sei es die körperliche Kraft von gestern oder die finanzielle Stärke von heute: Die Starken werden die Reichen, die Schwachen die Armen.4 Selbstsucht, erklärt er, ist das erste Gesetz der Natur.5 Der Wolf frisst das Lamm, ohne dass die Natur protestiert, warum also sollten wir es tun? „Gewöhnen wir uns also an das Böse“, rät er uns.6 Die Natur teilt sich zu gleichen Teilen in das Gute, das wir erhalten, und das Böse, das uns vernichtet. Solche Vorstellungen werden schließlich relativ, wenn nicht sogar beruhigend. Nur der Rhythmus dieses Wechsels zwischen Lebendigkeit und Verwesung scheint einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Der Zustand der Natur, schließt der Marquis, ist der eines permanenten Krieges. Das ist das einzige, was wir wissen, das einzige, was sich wirklich für uns ziemt. Warum denn, höhnte er, sollen die Starken mit den Schwachen einen Vertrag schließen, wobei sich jede Partei darauf einlässt, ein gewisses Maß an Voreingenommenheit für ein Mindestmaß an Frieden einzutauschen? Wenn sich die Menschen so verhielten, würden die Starken das Vergnügen ihrer Privilegien verlieren und die Schwachen würden ihre geringe, aber noch immer greifbare Chance 2 de Sade, Justine ou les malheurs de la vertu, Paris 1957 [1791], S. 279, (dt.: Marquis de Sade (Autor), Martin Isenbiel (Übersetzer), Die Geschichte der Justine oder die Nachteile der Tugend, Berlin 2013). 3 Ibd. S. 60. 4 Ibd. S. 310. 5 Ibd. S. 219. 6 Ibd. S. 277.

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aufgeben, ihre Drangsalierer zu überwältigen. Keiner hätte einen Vorteil. Doch da sich die Gesellschaft nur aus schwachen und starken Individuen zusammensetzt, kann die friedliche Übereinkunft tatsächlich keine demokratische Basis für sich beanspruchen, und daher sollten alle Verständigen dagegen rebellieren.7 Wir stehen also vor zwei Optionen: Entweder das Verbrechen, das uns glücklich macht, oder der Galgen, der uns davon abhält, unglücklich zu sein.8

Gott: Gott ist ein „deifiziertes Phantasma“. Der Geist fragt: Gibt es nicht einen ersten Beweger, einen universalen Geist…? Wie lange, fragte sich de Sade, soll unser Geist die Feinheiten einer solch „erbärmlichen Überspanntheit“ dulden? „Es gibt keinen Gott“, erwiderte er. „Die Natur genügt sich selbst.“9 Daher ist der religiöse Mythos Betrug, eine miserable Geschichte, deren Handlungen ebenso unstimmig wie abstoßend sind. Das schlimmste, „das verhassteste“ von allen war ihm das „barbarische Gesetz“ des Christentums. Welchen Wert hat schon ein aussätziger Jude, der einer Schlampe und einem Soldat in der schäbigsten Ecke des Universums geboren wurde und der es wagt, sich als das Instrument dessen auszugeben, der angeblich die Welt erschaffen hat?10

Wie kann sich der Glaube, fragte er, im rituellen Verzehr des Leib Gottes erschließen, welcher jeden Sonntag von unseren tiefsitzenden Eingeweiden zu Exkrementen gemahlen wird, und dies alles „um diesen lieben Sohn zufrieden zu stellen, den abscheulichen Erfinder dieser monströsen Gottlosigkeit?“ Wenn sich Gott wirklich nach unserer Liebe sehnte, tobte de Sade, warum sollte er zu uns in Rätseln reden oder durch diesen „verächtlichen Banditen“ Jesus?11 Warum das Mysterium, die Absurdität und die absolute Unsinnigkeit des geoffenbarten Wortes? Natur: Natur macht für den Marquis dagegen Sinn: Die Leidenschaften der Menschen sind ihre Vorgehensweisen. Ihre Gesetze sind manchmal gewalttätig, aber verständlich. Die Natur wünscht Schöpfung? Dazu inspiriert sie uns mit viel Liebe. Und wenn es ihr Wunsch ist, dass es danach zu einem Blutbad kommen soll, pflanzt sie „Rache, Gier, Lust und Ehrgeiz in unsere Herzen“, macht aus uns allen Kriminelle, „leichtgläubige Agenten ihrer Launen“.12 Ein Zustand der Balance muss eingehalten werden, und das kann nur durch Verbrechen geschehen. Verbrechen dienen somit der Natur. Wenn sie ihr dienen, wenn sie diese verlangt, wenn sie sich nach ihnen sehnt, wie können diese sie dann beleidigen, und wer könnte sich daran stoßen, wenn sie es nicht ist?13

7

Ibd. S. 60–1. Ibd. S. 61. 9 Ibd. S. 61. 10 Ibd. S. 89. 11 Ibd. S. 92. 12 Ibd. S. 98. 13 Ibd. S. 99. 8

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Wie steht es mit Liebe, Bindung, Almosen (l’aumône)? „Das Vergnügen der Liebe“, verurteilte der Marquis, „ist nichts anderes als der Genuss der Eitelkeit“, als würde das Almosen-Geben nur erfolgen, um den Empfänger dazu zu nötigen, sich dem höchst unedlen aller Gefühle auszusetzen: der Dankbarkeit.14 De Sade verkehrt die Logik des Almosen-Gebens: Wenn die Annahme einer Spende bedeuten soll, uns an eine unterwürfige Schuld der Dankbarkeit zu binden, dann verlangt der edle Stolz der Stärke, dass wir das Angebot ablehnen, den Austausch beenden, uns das Benötigte durch Tatsachenverdrehungen sichern, und so unseren täglichen Umgang allein auf das Prinzip der eigennützigen eigenen Kraft gründen. Dies ist das souveräne Verhalten, das Bataille so tiefgreifend fesselte: ein geläuterter Sinn des („nach mir die Sintflut“) Hochmuts. Und die Frauen? Die Frau, sagte de Sade, ist ein Geschöpf mit einem heftigen Temperament, in ihr brennt das Feuer des erotischen Überschwangs in weit größerem Maße als im Mann. Auch das entspricht dem Wunsch der Natur: Und so lasst die Männer die „widernatürliche“ Konventionen der ehelichen Fortpflanzung brechen und zu ihrem individuellen Genuss so viele Frauen unterjochen, wie sie wollen, lasst ebenso die Frauen so viele Männer besitzen wie sie können, um ihren (gefräßigen) sexuellen Hunger zu stillen. Der Marquis hat neben dieser Art von Feminismus15 auch die Todesstrafe abgelehnt. Denn (so begründete de Sade seine Ansicht) einen Mann, der auf Grund seiner Natur einen anderen getötet hat, mit dem Tod zu bestrafen, bedeutet, sinnlos zwei Männer anstelle von einem umzubringen. Wenn man dieses berücksichtigt, so überrascht es nicht, de Sade unter die Champions der liberalen Utopie gezählt zu sehen16 – und das völlig zu Recht. Doch er ging noch weiter. Hinter seiner Schmähkritik lauerte die dunkle, religiöse Seite eines Abtrünnigen. De Sade war sicherlich einer von denen, die aus Verzweiflung gehasst haben. Er klagte einen Gott an, der seinen Bittstellern nicht beisteht, der sie in den Krieg schickt, sie mit Hunger plagt, sie dem Todeskampf von Epidemien aussetzt. Ein guter Gott, schloss de Sade, der ein solches Übel toleriert, „eine 14

Ibd. S. 311. Dies wird natürlich von seinen berüchtigten, frauenfeindlichen Ausbrüchen abgemildert, wenn nicht gar überschattet. Sie veranlassten ihn, die Frau als „schwaches Geschöpf [darzustellen], das dem Mann immer unterlegen ist, unendlich weniger schön, weniger genial, weniger klug als er ist, das auf eine ekelhafte Art, in völligem Gegensatz zu dem, was ihm gefallen, ihn vielleicht begeistern könnte, geformt war. … als ein während drei Viertel des Lebens unvernünftiges Wesen, das während der Zeit, in der die Natur sie zwingt, Kinder zu gebären, ihren Gatten nicht befriedigt, mit einer schlechten Veranlagung, das streitsüchtig, und rechthaberisch, ein Tyrann ist, wenn man ihm nicht Recht gibt, das niedrig und kriecherisch ist, wenn man es gefangen hält, das aber immer falsch, immer gefährlich, eine perverse Kreatur ist. […] Haben die Perser, die Meder, die Babylonier, die Griechen, die Römer diesem verhassten Geschlecht, das wir heute zu unserem Idol zu machen wagen, großzügig Ehre angedeihen lassen? Ach! Ich sehe es überall unterdrückt, überall rigoros von Geschäften ausgeschlossen, überall verachtet, erniedrigt, eingesperrt. Kurz, Frauen werden überall wie Tiere behandelt, über die man in der Stunde der Not verfügt und die danach prompt zum Schafstall zurück geschoben werden.“ (D. A. F. De Sade, Justine, ou les malheurs de la vertu, Paris 1958 [1791], S. 279–80). 16 Camille Berneri, Journey Through Utopia, London 1950, S. 179–182. 15

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solche Unordnung in Auftrag gibt“, kann nur „ein barbarischer Gott, ein schwacher Gott“ sein. Und so werden wir wieder auf die quälende Frage der Theodizee zurückverwiesen – auf das Paradox eines gütigen Gottes hoch über einer teuflischen Welt – wie sie auch als denkwürdige Herausforderung im Roman „Die Brüder Karamasow“ auftauchte: Kann der Schmerzensschrei eines einzigen Kindes den unergründlichen Plan einer wohlwollenden Gottheit legitimieren? De Sade entfuhr dazu, wie vielen anderen, ein heiseres „Nein“  – eine verbitterte Leugnung, welche die Tore zu seinem gefeierten Auswurf an Lästerungen und trost­ losem Dreck aufgerissen hat. De Sades Pornographie ist eine Sammlung phantasievoller Sticheleien über Priester, die mit Kruzifixen wehrlose Jungfrauen schänden oder sie von hinten angehen, nachdem sie ihnen Hostien in den After gesteckt hatten.17 Andererseits stellt de Sade in einer Vielzahl anderer (wiederholter) Szenen dar, wie Bankiers, Richter, Ärzte, Lehrer und Adlige jeweils getrennt und in Gruppen die Mädchen und Jungen ihrer Harems-Gefängnisse vergewaltigen und sich dabei an eine sorgfältig geplante Reihenfolge halten mit Koprophilie, harten Schlägen, Prügeln, Foltern, endlosen Séancen verletzender, analer Penetration, mit blutigen und zermürbenden Orgien, bei denen sie nach Wahl ein oder mehrere gegeißelte Opfer herumreichen. Nach der Vollendung der Brutalität wenden sich die Täter regelmäßig ihrer am Boden liegenden Beute zu und stiften sie zum Spotte an, ihren schützenden Gott oder die Schicksalsmächte der Vergeltung zu beschwören, von denen sie dummerweise glauben würden, dass sie die Leiden des Gerechten rächten.18 Die eskalierende Wildheit der Orgie, die zusätzlich durch mutwillige Brandstiftung, Überwältigung, Diebstahl, weitere Vergewaltigung, Mord, private Enthauptungen usw. angereichert wird, findet ihre Entspannung im Höhepunkt der Ejakulation der vulkanischen Protagonisten, die darüber jubeln, alle Gesetze ungestraft gebrochen zu haben, und die befriedigt erklären, die Untaten zum Zweck ihrer Entleerung (foutre) begangen zu haben. Als Geschichten über erbarmungslose Exzesse sind de Sades Romane unwirklich. Er kann viel von dem, was er erzählt hat, ausgelebt haben (und dafür ins Gefängnis gegangen sein). Doch das Neue in seinen Erzählungen ist weniger die liberale Predigt oder ihre Profanität als eben die Kreation des Sadismus: das heißt, die Vereinigung von sexueller Ausschweifung mit „dem Bedürfnis, zu verletzen und zu töten.19 Indem sie das eine mit dem anderen verbinden, streben seine Helden einen verdammten Orgasmus an, der die sexuelle Stimulation völlig übersteigt und das fleischliche Pulsieren in Gang bringt. Diese gewalttätige Erotik, die sich mit Vehemenz in der Literatur der Moderne über die Stränge der extremen, aber dennoch authentischen, (rationalen) Diskurse der Aufklärung ausbreitet, faszinierte Bataille. Denn für ihn sind die krankhaft entartete Lust, die Ausschweifun 17

Sade, Justine, S. 232. Ibd. S. 319. 19 Bataille, L’érotisme, Paris 1957, S. 202. 18

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gen oder die vage definierten sexuellen Perversionen insgesamt psychologistische Zuschreibungen, die in der Tat nichts mit der kriminellen Attraktivität der obsessiven Romane de Sades zu tun haben. Diese Geschichten wurden nicht erfunden, um die träge Schlüpfrigkeit libertärer Lüstlinge zu erbauen. De Sades Libertäre, die zum Vergnügen leben, sind groß und souverän, sagte Bataille, weil sie in sich selbst alle Empfänglichkeit für Vergnügen vernichtet haben. Indem sie in sich alles Wohlwollen zerstört haben, haben sie im Gegenzug eine ungeheure Verwüstungsmacht angesammelt, die sich schließlich in Übereinstimmung mit einer umfassenden göttlichen „Bewegung der totalen Zerstörung“ befindet.20 In de Sade erkannte Bataille den Ausbruch der ursprünglichen Gewalttätigkeit in ihrer beklemmenden Sakralität, deren Wesen der Marquis nur ansatzweise wahrgenommen hatte. Bataille schätzte de Sades Romane wegen ihrer zeitgemäßen Interpretation jener heiligen Flamme der Auflösung und des Überdrusses, die immer brennt, und die scheinbar keine organisierte Religion, Machtstruktur, oder sentimentale Moral austreten kann. De Sade ist ein Vater der Postmodernen, denn er war der erste „klassische“ Romancier, der, zwar noch etwas unbewusst, die antiken und einst religiösen Praktiken der orgiastischen Gewalt vor einem modernen, vorindustriellen Hintergrund wiedererweckt hat. Er lieferte die früheste Formulierung dessen, was Bataille als „Projekt“ vorgeschwebt ist. Sein Projekt ist die delikate Kunst, verschwiegene, unaussprechliche (infernale) Mysterien in den alltäglichen Synkopen moderner Prosa anzudeuten und Gewalt, Blut und den stillen Terror am schwindelerregenden Abgrund in ausgewogener Zurückhaltung philosophischer Argumentation auszudrücken. Wie bereits erwähnt, ist ein solches Projekt eine Fälschung. Eine ordentliche, syntaktisch saubere Erzählung einer brutalen Orgie entfernt uns von der Hitze der Gewalttätigkeit. Sie versucht, uns einen Moment emotionaler Störung bewusst zu machen, die stattdessen von einer unbewussten Bestialität angetrieben wird.21 Es ist eine Fälschung, ein Kunstgriff – eine Vorspiegelung, die Bataille jedoch für notwendig hält. Für Bataille besteht die Größe de Sades darin, dass er angesichts der Beschränktheiten des Diskurses es dennoch geschafft hat, der Gewalttätigkeit ein Stück weit Bewusstsein zu verschaffen und ihr dadurch erlaubt hat zu sprechen, etwa wenn der Marquis während einer der leibhaftigen, sadistischen Sitzungen sich selbst zur Auspeitschung angeboten, aber die Züchtigung hin und wieder unterbrochen hätte, um ein Protokoll der Schläge als Strichliste durch Einritzen von Kerben mit einem Messer zu führen.22 Niemand vor [de Sade] hat den allgemeinen Mechanismus erfasst, der solche Reflexe wie Erektion und Ejakulation mit Gesetzesübertretungen in Verbindung bringt. De Sade ignoriert die grundlegende Beziehung von Verbot und Übertretung […], doch unternahm er den ersten Schritt dahin.23 20

Ibd. OC, S. 8:154. Ibd. L’érotisme, S. 212. 22 Ibd. S. 214. 23 Ibd. S. 216. 21

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Wenn das Projekt nie über das Fabrizieren von Fälschungen hinauskommt, läuft die ganze Sache auf einen unnützen Zeitvertreib hinaus. Doch wenn die „Perfekten“ in der Gemeinde der Postmodernen – das heißt, die Meister und ihre begabtesten Schüler, wie Foucault  – fähig sind, die Fälschung zu vergeistigen, nämlich die Fälschung in etwas Neues und Authentisches umzuwandeln, dann haben sie die Sprache pervertiert und zu einem Vehikel des subversiven Einflusses gemacht. Mit den Worten Batailles, sie werden ein Projekt zu Wege gebracht haben, das selbst dem Projekt entkommt. Es handelt sich um eine besondere Art von Alchemie – eine Alchemie von der Bataille behauptete, den Schlüssel zu besitzen. Also, de Sade „unternahm den ersten Schritt“: Er erkannte, dass die Paarung von Sex und Gewalt nicht eine lockere Form der Ausschweifung ist, sondern ein Muster, eine „Notwendigkeit“, fast eine zutiefst beunruhigende. Dieser Zusammenhang zeigt sich wiederholt und in verstreuen Taten und Attraktionen der Menschen überall zu heftig und zu oft, um als bloße perverse Entgleisung abgetan zu werden. Was der Marquis nicht begreifen konnte, merkte Bataille jedoch an, ist, dass diese Explosion von Brutalität und Erotik die schwindelerregende Hingabe an unsere verwegene Neigung als Menschen ist, das Tabu zu brechen und das Verbotene zu tun. Angeblich hatte de Sade, geblendet von seiner liberalen, individualistischen Besessenheit, seine eigenen Einsichten nicht vollständig einzuschätzen verstanden, als er von unserer Welt als einer voller Laster sprach, in der Verdorbenheit „ganz allgemein mitschwingt“. In diesem Umfeld durchleben wir – wie der Marquis glaubte, „eine Vielzahl von wechselseitigen Schocks und Verletzungen, wobei sich jeder, wenn er das wiedererlangt, was er gerade verloren hat, immer wieder neu in einem Glückszustand vorfindet“.24 „Glück“ ist für Bataille aber nicht das Problem. Glück ist ein liberales Konstrukt, eine Fiktion. Ihm galt als die eigentliche Aufgabe, eine Theorie für ein kollektives Verhalten in einen Bereich zu entwickeln, dessen Zweck nicht erkennbar ist. Bataille fand diese Theorie in genau der Annahme, dass unsere wahre Tätigkeit darin besteht, zu leben, zu erschlagen, und zu sterben. Über eben solche „Schocks, Verletzungen“, und Wunden (Bataille entlieh sich vom Marquis diese und viele andere Bilder) verkehren wir miteinander. Zu seiner Theorie gehörte ferner die Annahme, dass Denken (la pensée, le discours) nur ein – zwischen diese biologischen Lebens-Prozesse der Expansion und Kontraktion – eingeschobenes Flackern des Bewusstseins sei, ein Vorgang, der vom Aufstellen von Tabus (während der Phase der Vernunft) und die entsprechende, nicht zu unterdrückende Übertretung des Verbots (in der Phase des Wahns) unterstrichen wird. Die Ebbe und Flut, die nirgendwo hinführt und sich selbst zyklisch hervorwürgt, wird bei Bataille durch die Vision vom kopflosen Monster (l’Acéphale) symbolisiert. Aus diesem fantasievollen Bestand entnimmt Foucault den zentralen Begriff der Transgression (Übertretung), die später einen Pfeiler in seiner Idee vom „Widerstand an den Rändern“ bildet.

24

Sade, Justine, S. 348.

Kapitel 5

Bataille Ein weggeworfener Schuh, ein verfaulter Zahn, eine zu kurze Nase, der Koch, der in die Speise seiner Herren spuckt sind für die Liebe das, was die Flagge für die Nationalität bedeutet. Georges Bataille1

Mystik Georges Bataille war ohne Frage ein religiöser Typ. Das heißt, er gehörte zu den Personen, die sehnsuchtsvoll nach dem metaphysischen Anderen verlangen. Er war überzeugt, dass etwas Unaussprechliches aus dem Jenseits lenkt, oder besser gesagt, aus dem Inneren des greifbaren Bereichs. Als religiöser Typ mit einem erstaunlichen Gespür für metaphorische Konstruktionen war Bataille schon früh in seinem Leben zum Katholizismus übergetreten. Mit zwanzig trat er in ein Priesterseminar ein, um sich zum Priester ausbilden zu lassen. Er war ein Mann mit einer Berufung. Doch drei Jahre später schien er seinen Glauben vollständig verloren zu haben. Statt sich dem selbstzufriedenen Atheismus und mittelmäßigen Agnostizismus seiner Zeitgenossen zu überlassen, marschierte er, seinem religiösen Verlangen getreu, geradewegs in die entgegengesetzte Richtung. Er erfand ein ausgeklügeltes System der religiösen Verehrung – einen echten Schauplatz hingebungsvollen Glaubens mit einem nicht weniger phantasievollen soziologischen Anhang. Letzterer sollte das authentische Zentrum bilden, um das Foucault eine Generation später für das amerikanische Publikum seinen Diskurs wickeln sollte. Wir sind gewohnt, Religion mit dem Gesetz, mit der Vernunft in Verbindung zu bringen. Doch wenn wir uns auf das beziehen, auf das sich alle Religionen insgesamt gründen, müssen wir dieses Prinzip ablehnen. Religion ist zweifellos, oder vielmehr, grundsätzlich subversiv. Sie lenkt den Blick von den Gesetzen weg. Jedenfalls fordert sie den Exzess, das heißt Opfer, Feier, deren Höhepunkt die Ekstase ist.2

„Meine Forschung“, schrieb Bataille 1934, „hatte zunächst ein doppeltes Ziel: Das Heilige und die Ekstase“.3 Angeblich wurde die Bekehrung Batailles von der

1

Georges Bataille, Œuvres complètes (OC), Paris 1970, S. 1:82. Hier wie im Folgenden wurden die Zitate Batailles aus dem englischen Text Preparatas ins Deutsche übersetzt. 2 Ibd. S. 10:610. 3 Zitiert nach Pierre Prévost, Georges Bataille & René Guénon, L’expérience souveraine, Paris 1992, S. 15.

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5. Bataille 5Bataille

Vision einer ekstatischen Offenbarung (außerhalb des Körpers) ausgelöst, an die er sich als sogenannte Erfahrung des Regenschirms erinnerte.4 Die Rue de Rennes war menschenleer. Aus Saint-Germain kommend überquerte ich die Rue du Four. Ich hielt einen geöffneten Regenschirm, doch es regnete, glaube ich, nicht. (Ich hatte aber nicht getrunken: Das sage ich hier, ich bin mir ganz sicher). Ich hatte diesen Schirm unnötig geöffnet. […] Ich war damals sehr jung, chaotisch und voll luftiger Schwärmerei: Ein Wirbel ungehobelter, schwindelerregender Ideen, aber bereits voller Sorge und Strenge, der mich kreuzigte, war ausgebrochen. […] Bei diesem Schiffbruch des Verstandes hielten Angst, einsame Verlorenheit (déchéance), Feigheit und Falschheit entsprechend Einzug: und darüber setzte das Fest erneut ein. Sicher ist, dieses Abdriften genauso wie das „Unmögliche“ erschütterten, explodierten in meinem Kopf. Ein Raum, der vor Lachen bebte, riss seinen finsteren Abgrund vor mir auf. Beim Überqueren der Rue du Four wurde ich in diesem Nichts ganz plötzlich ein Fremder. […] Ich leugnete die grauen Wände, die mich umgaben, ich rannte in einer Art Verzückung los. Ich hatte ein göttliches Lachen: Dieser Schirm, den ich wie eine Kapuze über den Kopf trug, deckte mich ganz zu (ich bedeckte mich absichtlich mit diesem schwarzen Leichentuch). Ich lachte, wie noch niemals zuvor. Der tiefe Grund von allem öffnete sich, entblößte sich mir, als ob ich tot wäre.5

Zunächst empfand er sich wie ein Insekt, das „auf den Rücken gefallen“ war. Er fühlte sich hilflos (désemparé), aber nicht von Panik gelähmt. Als er darüber nachdachte, hielt er die Situation nicht für „schlecht“, sondern eher für „aufregend“.6 Dieser Moment mystischer Wahrheit war für Bataille der Beginn seiner inneren Erfahrung (l’expérience intérieure). Er sollte auch den Ausgangspunkt für ein Buch (gleichen Titels) bilden, das zu seiner ausgereifteren Produktion zählt (1943). In ihm ist die Chronik seiner ekstatischen Empfindungen zum größten Teil unverständlich dargestellt, und die zahlreichen Allegorien und Metaphern, die seine Erinnerungen würzen, sind nur von bescheidenem Nutzen zur Klärung der wirklichen Farbe dieser Erfahrung. Doch, nochmals, solche Epiphanien sind per Definition unaussprechlich, und ihren Protagonisten sollte man niemals vorwerfen, ihre Erleuchtung nicht richtig in konventionelle Prosa übersetzen zu können. Darüber hinaus gibt es kaum einen legitimen Grund, am Wahrheitsgehalt und an der Tiefe seiner Vision zu zweifeln. Wir nehmen ihn beim Wort. Er kann sehr wohl etwas gesehen haben. Er muss die Leere, das Nichts erfahren haben. Dies für sich genommen, war keineswegs außergewöhnlich. Doch hatte er vermutlich unter dem Regenschirm auf der Rue du Four tiefer in diese Leere hineingeblickt und war schließlich zu einer Art von Erkenntnis gelangt – eine Erkenntnis, aus der sein „Projekt“ die grundlegende Inspiration bezogen haben muss. Ich weiß, während ich scheitere, dass die einzige Wahrheit des Menschen, die letztendlich ins Auge fällt, die ist: ein Bittgebet ohne Antwort zu sein.7

4

Ibd. S. 29. Bataille, OC, S. 5:46. 6 Ibd. S. 11:19. 7 Ibd. S. 5:25. 5

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Das Nichts ist das, was der katholische Philosoph Miguel De Unamuno (1864–1936) – ein eigenständiger Denker und Gegner Batailles8 – am meisten gefürchtet hatte.9 Unamuno wurde durch die abgrundtiefe Verzweiflung terrorisiert, die sich aus dem Gedanken ergibt, dass es vielleicht nichts jenseits unserer Existenz geben könnte. „Ich hatte immer das Gefühl“, gestand Unamuno, „dass das Nichts viel schrecklicher ist, als die Beschreibungen der Höllen-Qualen“.10 In das klaffende Nichts (la nada) zu starren, ist die Stunde der Wahrheit. Das ist, wenn eines jeden Menschen Ego wie ein Schriftsteller in seinem Inneren entscheidet, was auf menschlich sinnvolle Weise zu hoffen, zu erwarten, zu glauben sei. Denn im Glauben läuft alles auf eine Frage dieser Wahl hinaus: Unamunos Sehnsucht war es, selbst Gott zu werden, „doch ohne aufzuhören, ich selbst zu sein, das Ich, das gerade zum Du spricht.“ Er führt das weiter aus: Zu glauben, dass es keinen Gott gibt, ist eine Sache; sich damit abzufinden, dass Gott nicht existiert, ist eine ganz andere, und zwar eine schreckliche und eine unmenschliche. Doch nicht zu wünschen, dass es einen Gott gibt, übertrifft jede andere Ungeheuerlichkeit […]. [Einige Menschen] sind Atheisten aus einer Art Wut heraus, Wut darüber, nicht glauben zu können, dass es einen Gott gibt. […] Sie haben das Nichts mit Substanz und Persönlichkeit ausgerüstet, und ihr Gott ist ein Anti-Gott. […] Ist diese Wut, mit der diese ihn leugnen und sogar beschimpfen, weil sie es nicht über sich bringen, an ihn zu glauben, und die sie wünschen lässt, dass er nicht existiere, ist diese Wut nicht vielleicht eine Weise, an Gott zu glauben? […]. Als Menschen von einer schwachen und passiven oder einer bösen Ge­sinnung, in denen der Verstand stärker ist als der Wille, […] geraten sie in Verzweiflung, und weil sie verzweifelt sind, leugnen sie ihn.11

Wie Bataille meint Unamuno: Im Schatten des Nichts „kann sich das Leben nicht dem Verstand unterstellen, denn das Ziel des Lebens ist zu leben und nicht zu verstehen.“ Und weil der Geist unfähig ist, die Fragen zu beantworten, die im Rachen des Nichts lauern, können die Menschen nur noch „in Liebe und Leid, […] und im Darben nach [Gott]“ dazu gelangen, das Geheimnis kennenzulernen, sagte der baskische Philosoph. „An Gott zu glauben“, schloss Unamuno, „ist der Wunsch, dass es einen Gott geben möge, und nicht in der Lage zu sein, ohne ihn zu leben“.12 Doch Bataille dachte „aus einer Art von Wut heraus“ nicht so, und wünschte daher auch nicht auf eine solche Art und Weise. Er blieb zu sehr Verstandesmensch, wenn auch einer, der mit apokalyptischer Hellsichtigkeit gesegnet war. Und nach seiner Verzückung sagte ihm der Verstand, dass man vielleicht auf anderen (heiligen) Wegen dazu gelangt, sich mit der Aussicht, mit dem Terror leben zu müssen, zu versöhnen. 8 Eine knappe Erwähnung des baskischen Autors als eine Art Gegenstück zu Bataille findet sich zum Beispiel bei Roland Champagne, Georges Bataille, London 1998, S. 7. 9 Miguel de Unamuno, Tragic Sense of Life, New York 1954 [1912], S. 9. 10 Ibd. S. 43. 11 Ibd. S. 184, 122, und 193. 12 Ibd. S. 46–7, 116, 167, 168.

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Vieles, was Bataille in seinem Buch Die Innere Erfahrung schrieb, ist die Frucht einer Meditation über eben diese Unerträglichkeit des Lebens, die er sich selbst beigebracht hat. Dabei hatte er sich ertappt, wie er eifrig eine Reihe von Fotografien untersuchte. Sie stammten aus der Zeit des Boxer-Aufstands in China, und zeigten einen jungen Chinesen, der methodisch in Stücke gehackt wurde, „schön wie eine Wespe“, schrieb Bataille darunter.13 Dies war die Strafe dafür, dass der Mann einen Prinzen ermordet hatte. [Dieser] junge und verführerische chinesische Mann, ergab sich der Arbeit des Henkers. Ich liebe ihn mit einer Liebe, an welcher der sadistische Trieb keinen Anteil hat: Er vermittelt mir sein Erdulden, oder eher den Exzess seines Erduldens. Das war genau das, wonach ich gesucht habe, nicht um mich daran zu ergötzen, sondern um in mir das zu vernichten, was sich gegen die Vernichtung selbst auflehnt. […] Der Teil von mir, der schluchzt und flucht, ist mein Verlangen, in Frieden zu schlafen, ist meine Wut dabei gestört zu werden. Exzesse sind die Zeichen dessen[…], was die Welt in ihrem selbstständigen An-undfür-sich-sein (Souveränität oder souverainement) ist: Ich konnte nicht umhin, ihn bis zum Bodensatz und ohne Hoffnung zu lieben.14

Bataille hatte die Fotoserie im Jahr 1925 erhalten. Er war von den Fotos besessen. Oft erwähnt er „die Bestrafung der hundert Stücke“, wie die Hinrichtungsart genannt wurde, und trennte sich niemals von diesen Bildern.15 So beginnen wir jetzt zu verstehen. Nach dem irren Gelächter auf der Rue du Four, war Bataille klar geworden, dass Gott tatsächlich abwesend war. Doch die verlockende Kluft, die zurückgeblieben war, die finstere See der Gnosis, war selbst nicht leer, sondern voll von „Liebe“. Das war eine eigenartige, hoffnungslose Liebe, nämlich eine Liebe zur Zerstörung. Bataille fand am Gemetzel etwas Süßes, etwas Mildes am Zerreißen von Fleisch: Dementsprechend machte es keinen Sinn, zu schluchzen, zu schreien, zu fluchen und gegen die schreienden Schmerzen und Ungerechtigkeiten des menschlichen Tuns zu protestieren. Dafür bedurfte es keiner Rechtfertigung, denn dies war die (souveräne) Art zu leben. Daran ließ sich nichts ändern, und daher sollte man sich, statt sich verbohrt und idiotisch wie die begriffsstutzigen Mädchen bei Marquis de Sade dagegen aufzulehnen, in den Strom, in den natürlichen Kreislauf von Erzeugung und Chaos ergeben. Bataille gab den Ratschlag: „Zerstöre in dir selbst, was die Zerstörung ablehnt.“ Das Leben zu erhalten, es zu verehren, war das Gefühl, das der traditionellen Religion, den Feiglingen eigen war. Kampf ist dasselbe wie Leben. Der Wert eines Menschen hängt von seiner aggressiven Stärke ab.16

Der Ton seiner Beichte entsprach nicht wirklich derjenigen von de Sade: B ­ ataille hatte etwas Neues hinzugefügt. Er brachte eine Art Empathie für das Blutbad zum 13

Bataille, OC, S. 5:139. Ibd. S. 140–1. 15 Michel Surya, Georges Bataille, La mort à l’œuvre, Paris 1993, S. 120–1. 16 Bataille, OC, S. 1:550. 14

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Ausdruck. Der souveräne Aristokrat, den de Sade skizzierte, war ein vereinzeltes Wesen. Bataille wollte statt dessen ein „Gemeinwesen“ konstruieren. Er wollte de Sade ohne die liberale Egozentrik. „Erfahrung“ ist für Bataille eine Reise an die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten. Es ist ein Endspiel der Grenzüberschreitung (transgression), mit dem Ziel, alle „Grenzen, Werte und Behörden“ zu verbrennen, zu negieren und zu überwinden.17 Bataille stellte so den zentralen Zwiespalt zwischen ekstatischer Verzückung auf der einen Seite und dem Denken, auf der anderen Seite heraus. Letzteres nannte er gleichbedeutend Diskurs oder diskursives Denken. Doch am Ende der Erfahrung, nachdem Objekt und Subjekt ineinander verschmolzen sind und sich das Ich aufgelöst hat, entdeckt der Seher, dass das Leben ein Fragezeichen ohne Antwort ist. Wenn diese Entdeckung die Ordnungsinstanz ist, dann gibt es keinen Gott.18 Mit Gefühl und Verstand allein erscheint es einfach unmöglich, den Atem unserer physiologischen Existenz, das Einerlei der Plackerei und die verrückten Vorfälle unserer sentimentalen Verhaltensmuster, in einen einzigen, ordentlichen Seufzer zu verweben. Perfektion und Störung, Anfang und Ende, Gott und Teufel: Wie lässt sich je eines mit dem anderen umgreifen und das alles auf einmal in Theorie fassen? Es würde nicht gelingen, und Bataille schlug hastig den ästhetischen Ausweg ein: Tief in der unendlichen Leere der Möglichkeiten verrückt geworden, träumte Gott, in einem Anflug von Klarheit, selbst ein kranker Mensch zu sein, den die Wanzen beißen. Danach wurde er zu einer Wanze, die der kranke Mann, nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, in einer Falte der Laken fand und zwischen seinen Nägeln zerquetschte. Dieser Kranke schlief wieder ein und träumte: er sei ausgekippter Sand, ohne eine untere oder obere Begrenzung, ohne Ruhe, oder erträgliche Möglichkeit.19

Von dieser Erkenntnis aus beginnt die „Dramatisierung des Lebens“. Anscheinend wollte Bataille das Folgende sagen: Wenn der gütige Gott des traditionellen Glaubens uns verlassen hat, damit wir in einer Welt zyklischer Gemetzel selbst für uns sorgen, müssen wir aus unseren Lebenswegen ein dramatisches Gedicht machen, um sie in den offenen Raum der Leere neu zu erfinden. Dies solle aber nicht willkürlich, sondern nach Ritualen geschehen, welche die Krämpfe des Lebens und der Natur unserem Verständnis nahelegen. Falls die Dramatisierung, warnte er, innerlich und egozentrisch ausfällt (wir könnten an Unamunos „Ich“ denken, das es nach Gott dürstet), fällt man wieder in das Delirium der christlichen Mystiker zurück und läuft Gefahr, vor der üblicherweise eifersüchtigen und ausschließlichen Autorität des rachsüchtigen EINEN zu stehen. Wir könnten, beteuerte er, „zu viel Druck geben, um darüber zu stehen“, und übernehmen damit die Haltung eines „geizigen Händlers“. Das ist dann keine Frage der Erlösung, denn Erlösung ist „die schlimmste aller Ausflüchte“.20

17

Ibd. S. 5:19. Ibd. S. 20, 21. 19 Ibd. S. 11:230. 20 Ibd. S. 5:22, 24. 18

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5. Bataille 5Bataille

Die Stimmung hinter diesem zitternden Versuch, Theologie neu zu definieren, ist, wie immer, Verbitterung: „Oh Gott, Vater,“ jammerte Bataille, „Du, der Du in einer Nacht der Verzweiflung den eigenen Sohn gekreuzigt hast, der Du in dieser Nacht des Geschlachtet-Werdens, als der Todeskampf unmöglich geworden war, – um es herauszuschreien – selbst der Unmögliche geworden bist und der Du die Unmöglichkeit gefühlt hast, bis sie zum Entsetzen wurde, Gott der Verzweiflung, gib mir dieses Herz, Dein Herz, das ins Stocken gerät, das überkocht und nicht mehr erträgt, dass es Dich gibt!“ In Batailles lyrischer Anklage gegen das Christentum, weiß Gott nicht mehr, was er tun soll, er verzweifelt und nimmt sich selbst das Leben, indem er sich ans Kreuz nagelt. Was Bataille rational am Christentum ausmacht, scheint nichts anderes gewesen zu sein, als „der Hass, den Gott auf sich selbst hat“. „Würde Gott diesen Hass zu irgendeinem Augenblick verlieren“ schrieb Bataille „würde die Welt logisch, intelligibel werden“.21 Von Gott zu sprechen wäre – unehrlicher Weise – etwas, über das ich nur in der Verneinung reden kann, mit der unmöglichen Erklärung von etwas zu verbinden, das existiert […]. GOTT, wenn es ihn gäbe, wäre ein Schwein.22

So kann der Höhepunkt der Freude nicht selbst Freude sein, denn diese wird enden. Doch in der Verzweiflung gibt es Freude, denn nur der Tod beendet sie, und dann sind wir nicht mehr. Es gibt eine Schönheit der Verzweiflung, ihre „Einfachheit“; sie ist das Nicht-Vorhandensein eines „Köders“ (leurre) – das, was den Geschmack der Hoffnung hat, nachdem wir anbeißen. Freude macht keinen Sinn, sondern Verzweiflung, … Verzweiflung ist logisch.23 Zu behaupten, das Universum ähnelte nichts und sei nur amorph, ist gleichbedeutend mit der Aussage, das Universum sei so etwas wie eine Spinne oder wie Matsch.

Bataille ist ein Verstandesmensch, der leugnet, weil er verzweifelt, und der, damit immer noch unzufrieden, die Vorstellung von Gott ablehnt, um – mit den Worten Unamunos – das „Nichts mit Substanz und Persönlichkeit“ auszustatten. Dies ist, kurz gefasst, die Einführung in Batailles Projekt und das (nicht so) verdeckte Aleph (‫ )א‬des postmodernen Betrugs, jenes alten Zyklus von Wut, einer Wut, die sich selbst immer wieder einbringt. Und so sind wir dank Bataille in der gleichen Lage: verlassen von einem sich selbst hassenden und letztlich nicht existierenden Gott und gefangen zwischen den Wassern des Chaos und dem Dunkelblau der diskursiven See. Wissen. Die innere Erfahrung, betont Bataille, führt zu Nichtwissen (le nonsavoir): Dieses ist die letzte Wahrheit, die für bare Münze genommen, bemerkenswert dem ähnelt, was die traditionelle Weisheit lehrt, nämlich eine bescheidene Kapitulation vor dem Unerklärlichen und eine Bekundung des Glaubens trotz alledem. Bataille lässt sich natürlich nicht auf Resignation ein. Er hatte sein eigenes 21

Ibd. S. 30 f, 50 (Hervorhebung hinzugefügt). Ibd. S. 12:284; 3:30. 23 Ibd. S. 5:51. 22

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programmatisches Konzept. Wie die Gnostiker hatte Bataille keine Lust, mit sich allein in seiner eigenen Verzweiflung zu ringen, und die anderen in ihrer eigenen privaten Dummheit, dem Glauben zu überlassen. Nein, er wollte reden (j’ai voulu parler), veröffentlicht werden, nach außen auftreten, er wollte bekehren. Und so musste er zu ihnen mittels des Diskurses sprechen. Doch „die Sprache ist arm“.24 Sprache könnte beschränkt sein, wie Bataille einräumt, aber sie ist notwendig. „Das Wort Stille“, gestand er, „ist selbst immer noch ein Geräusch: […] Ich habe meine Augen geöffnet, aber ich hätte es nicht sagen sollen“.25 Wenn Unwissenheit – die große Unbekannte – das Endstadium der Erfahrung ist, „ist absolutes Wissen nur eine Form der Überlieferung (connaissance) unter vielen“.26 In diesem Stadium stand Bataille kurz davor, den entscheidenden Übergang von der Abstraktion zur Praxis zu entwickeln. „Was die Menschen betrifft“, schrieb er, „so ist ihre Existenz an die Sprache geknüpft: Jeder bildet sich seine Existenz ein, kennt sie mit Hilfe der Worte.“27 Doch Wissen – der Diskurs – kann „versklaven“. Das Problem ist daher, sich die Sprache als Mittel der Kommunikation zu erhalten, ohne dabei wieder in die Fallen der göttlichen Autorität, von etwas, das Befehle von oben erteilt, zu geraten. Dazu stehen einem zwei Instrumente zur Verfügung: der Diskurs und „das Projekt“. Der Diskurs ist im Gegensatz zu dem, was später die Foucaultianer vorschlagen werden, in seiner ursprünglichen Formulierung keine Bezeichnung für irgendeine Art von Rhetorik, die von einer etablierten Autorität ausgeht, sei sie nun religiös, bürokratisch oder utilitaristisch. Das kann nur bedeuten, dass „Diskurs“ jene symbolische Redeweise ist, in der die Menschen in der Tat von dem Moment an Wissenschaft artikuliert haben, als sie zum ersten Mal „Ich“ sagten. Der Diskurs ist unverkennbar die Sprache der Wahrheit. Menschen lassen sich, nachdem sie sich ihrer Einzigartigkeit bewusst werden, auf ihr Nachforschen ein. Und sobald ihr Bewusstsein in Bewegung kommt, schreiten sie voran: Sie messen den Umfang der Erde, formen die Laokoon-Gruppe, schreiben Richard II., oder komponieren die Pastorale. Sie können sich auch verrennen, lügen, sie können irren, sie können die Leinwand beklecksen, sie können auch nichts tun. Doch bleibt das Spiel offen. Und selbst wenn der Diskurs sie mit dem Unnennbaren konfrontiert, bleiben sie unbeirrt: Über alles lieben sie, kreativ zu sein. Bataille konnte auch selbst dem kreativen Impuls nicht widerstehen, obwohl er sich damit den Martern einer qualvoll misslichen Lage aussetzte, und sich angesichts der ausweglosen Unmöglichkeit in Stücke riss. Aus dem Grunde fürchtete er die Menschlichkeit des Diskurses, denn sie führt zu einer Bejahung des Lebens. Aber Bataille war dennoch zuversichtlich, den herkömmlichen Diskurs genug „verseuchen“ zu können, um die Seele zu verwirren und als Ergebnis einen speziellen Wortschatz zu erhal 24

Ibd. S. 8:146. Ibd. S. 25. 26 Ibd. S. 69. 27 Ibd. S. 99. 25

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ten, mit dem moderne Individuen dem verbliebenen spirituellen Restbestand an widerlich blutiger Heiligkeit huldigen und Gebete an ihn entrichten könnten. Und „das Projekt“? Das Projekt war Batailles Wunsch, eine Philosophie zu entwickeln, deren perverser Diskurs ein Gefühl der Verbundenheit unter den Menschen – ein Gemeinwesen – bilden könnte, ohne dass sie sich dazu einem überlegenen, transzendenten Prinzip der Autorität, dem grausamen, gleichgültigen Gott des orthodoxen Monotheismus, beugen müssten. Die Tür muss dazu gleichzeitig offen und geschlossen bleiben. Was ich wollte: eine tiefgreifende Kommunikation zwischen den Lebewesen unter Ausschluss der notwendigen Verbindung zu Projekten, die der Diskurs prägt.28

Die innere Erfahrung ist für das Projekt das, sagte Bataille, was eine eiternde Wunde für die Zusicherung einer baldigen Genesung ist: das eine ist das Leben, das andere ist nichts als eine Rationalisierung des menschlichen Leidens. Selbst wenn wir uns eine gewisse Erholung einbilden, bleibt die Wunde unseres Körpers im Hier und Jetzt nicht weniger qualvoll. Das Projekt ist jenes alte Experiment des de Sade, Gewalt und Leiden, die von Natur aus sprachlos sind, zum Sprechen zu bringen. Wie bereits erwähnt, gibt es etwas grundlegend Nicht-Authentisches an einem solchen Projekt – das gibt selbst Bataille eindeutig zu. Man muss jedoch davon Gebrauch machen, gibt er zu verstehen: „Es muss beibehalten werden.“ Im Fall von Leiden, sollte der Verstand intervenieren, um die Qual durch die Aufforderung an das leidende Individuum zu überwinden, eine sachliche und zynische Distanziertheit zu den eiternden Wunden, die uns unsere Existenz zufügt, einzunehmen. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Realisierung des Projekts ist „Harmonie“ im Gegensatz zu Leidenschaft, die stattdessen die Ungeduld des Begehrens entzündet. Bataille hatte daher vorgeschlagen, die Individuen sollten sich des „diskursiven Denkens“ als eines „spöttischen Knechts“ (un Valet Moqueur) bedienen, der „skeptisch, ohne etwas zu ignorieren“ zu Diensten steht, die Erfahrung stützt und der entsprechend geschult werden soll, damit er sich diskret zurückzieht, wenn immer die Erfahrung, sein Herr und Meister, absolute Privatheit für die Dauer der Offenbarung beansprucht.29 Ich habe das Projekt skizziert, um dem Projekt zu entkommen! Und ich weiß, dass alles, was ich tun muss, ist, den Diskurs in mir zu unterdrücken.30

Dieses dunkel definierte „Projekt“, das Bataille nie ganz verwirklichen konnte, bestand darin, ein Kommunikations- und Ausdrucksmedium für eine Zusammenkunft von Einzelpersonen zu schaffen, deren sozialer Austausch wie Energie entlang eines Netzwerks von Wechselbeziehungen umlaufen sollte. So wurde 28

Ibd. S. 121. Ibd. S. 69, 73. 30 Ibd. S. 74. 29

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Kommunikation für Bataille so etwas wie Energie, wie „elektrischer Strom“ oder „Sonnenwärme“31 – die Analogie hatte er Frazers Werk, The Golden Bough („Der goldene Zweig“), entnommen. Um bei der Metapher zu bleiben – die Energie sollte die Menschen über ihre offenen Wunden und Verletzungen durchdringen (de Sades déchirures, blessures).32 Hier können wir bereits die Blaupause für Foucaults Theorie der Macht erkennen. Bataille drehte unsere moderne Überzeugung um, wonach der Mensch weitgehend als rationales Wesen handelt, der sich in einem Zustand des aufgeweckten Bewusstseins befindet. Er kehrte das Verhältnis von Denken und gedankenloser Zeit um und warnte: „Der Fehler beginnt erst, wenn dieses (unser) reflektierendes Bewusstsein die kurze Atempause ernst nimmt, die ihm die Umstände einräumen. Diese kurze Frist ist nichts anderes als ein Intervall zum Aufladen. Bewusstsein an sich hat nur Bedeutung, wenn es kommuniziert wird.“33 Daraus folgt für Bataille, dass der ganze Bereich von Existenz und Wahrnehmung um uns her tatsächlich in Gewalt besteht, und dass „diskursives Denken“ nichts anderes ist, als ein Schluckauf, ein kurzer Lichtblick in der Nacht des Terrors, der für einen Moment – „die kurze Atempause des Wiederaufladens“ – dem Individuum eine Nische des Selbstbewusstseins erschließt, in der sich diese verzweifelte Wahrheit selbst grausam manifestiert. „[Verstand] ist insoweit Verstand“, schrieb Bataille, „als er Ausgrenzung ist, d. h. die Grenze der Gewalt“.34 Gegen Halbheiten, Ausflüchte und Delirien, welche die große poetische Impotenz verraten, kann es nur den Gegenstoß unserer Wut, die Schwärze, und sogar eine unaussprechliche Bestialität geben: Wie sonst soll man agitieren, wenn nicht indem man sich wie ein Schwein im Mist wälzt, im Schlamm frisst, an allem mit der Schnauze wühlt, angetrieben von einer widerlichen Gefräßigkeit, die nichts stoppen kann. […] WIR SIND TROTZIG RELIGIÖS und zwar in dem Maße, als unsere Existenz die Verdammung von allem ist, was heute akzeptiert wird. Ein inneres Bedürfnis verlangt, dass wir gebieterisch handeln. Was wir hier unternehmen, ist Krieg.35

Auf diese Weise würde der Mensch nicht mehr, wie der Stier beim Stierkampf, das Spielzeug der Leere sein, sondern das Nichts würde zum Spielzeug des Menschen. Im Abgrund, betonte Bataille, verlieren wir uns in Wogen von ansteckendem Gelächter, das sich schnell von einer (menschlichen) Quelle zur nächsten fortpflanzt. „Wörter, Bücher, Denkmäler, Symbole, schallendes Gelächter sind nichts anderes als die unzähligen Spuren dieser Ansteckung, dieser Passagen.“36 Ich bin, und Sie sind im unermesslichen Fluss der Dinge nur ein Punkt, der für den Rückschlag (rejaillissement) günstig ist. […] Dieses menschliche Leben, das unser Schicksal ist, das Bewusstsein von ein wenig Stabilität, aber auch der absolute Mangel an wahrer Stabi 31

Ibd. 7:265. Ibd. S. 8:74, 99. 33 Ibd. S. 7:271 (Hervorhebung hinzugefügt). 34 Ibd. S. 12:484. 35 Ibd. S. 1:211 f. und 443. 36 Ibd. S. 8:109–11. 32

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5. Bataille 5Bataille lität, entfesselt den Zauber des Lachens. […] Gemeinsames Lachen setzt die Abwesenheit einer regelrechten Qual voraus, und doch hat es keine andere Quelle, als die Qual selbst.37

Und so war der Keim des Projekts gepflanzt, der Diskurs etwas gebändigt und die Tür zum Teil verschlossen, … um nur zeitweise wieder geöffnet zu werden, um die Wahngebilde der Gnosis herein zu lassen.

Die monströsen Archonten Die Azteken waren zu Beginn eine Krieger-Zivilisation, die auf Erbrecht und Klassenhierarchie beruhte. Sie verfügten über einen Sonnenkalender und eine imperiale Verwaltung. Als die Spanier ins Land kamen, um sie zu vernichten, haben sie anscheinend eine Degeneration durchlebt, nämlich „eine typische Degeneration in Richtung eines besonderen und unheimlichen Dionysos-artigen Kults, den man einen Blutrausch nennen könnte. [Ihre Menschenopfer] in Form kollektiver Abschlachtungen wurden durchgeführt, um den Kontakt mit dem Göttlichen aufrecht zu erhalten, aber mit einer finsteren, wilden Begeisterung an der Vernichtung von Leben, wozu auf der Welt nichts Vergleichbares gefunden wurde.“38 Die Blutorgien wurden von einer einschüchternden Priesterkaste verwaltet. Sie hielten sich mit den Göttern dadurch in spirituellem Einklang, dass sie auch das eigene Blut vergossen. Sie hielten es ständig dadurch in Fluss, dass sie sich mit Dornen der blauen Agave an den Schläfen, am Hoden und an der Zunge aufritzten und stachen. Die Menge an Blut, die die Götter forderten, bestand nicht nur in den Rinnsalen aus den Schläfen und den Genitalien der Priester, sondern in den Mengen an Lebenssaft, den sie den Opfern, die sie manchmal in der kurzen Zeit eines Tages zu Tausenden abgeschlachtet hatten, abgezapft haben. „Im Jahre 1428 begann der Herrscher Itzcoatl und sein Berater Tlacoclel eine Eroberungspolitik, welche die Azteken ermutigte, sich für das auserwählte Volk [der Götter] zu halten, dessen Mission es war, die Sonne zu ernähren“ und zwar mit Kriegsgefangenen. Ab da wurde eine Tradition begründet, die jährlich die Menge an Blut aus zwischen 10- und 50-tausend ausgebluteten Körpern und herausgeschnittenen Herzen verlangte.39 Bei der Geburt durchschnitten die Hebammen die Nabelschnur der künftigen Krieger des Imperiums und stimmten dabei ein besänftigendes Wiegenlied an, das den Neugeborenen als Geschöpf begrüßte, „dessen Vaterland woanders liegt“, und der geboren wurde, um zu kämpfen und mit der Feinde Blut die Sonne zu ernähren.40 Bekanntlich wurden die Opfer einem reichhaltigen Programm an Ritualen unterzogen. Zum Beispiel wurden sie als Opfer für den Feuergott bei lebendi 37

Ibd. S. 112 f. Evola, Revolt, S. 233. 39 Warwick Bray, Everyday Life of the Aztecs, New York 1968, S. 172. 40 Georges Bataille, La part maudite, précédé de la notion de dépense, Paris 1967 [1949], S. 90. 38

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gem Leib geröstet. Doch vor Eintritt des Todes wurden ihre mit Brandblasen und Verbrennungen übersäten Körper mit Haken vom Feuer gezogen und aufgeschnitten, um das Herz zu entnehmen.41 Als Alternative „häuteten Priester Männer und folterten Kinder zu Tode, um mit ihren Tränen [den Regengott Xipe Totec] dazu zu bringen, mehr Regen zu schicken“.42 Die Häute der geschundenen Männer und Frauen zogen sich die Opferpriester jeweils im Hinblick auf ihre männlichen und weiblichen Götter über, deren Bilder anthropomorphe Figuren darstellten, die mit Kapuzen, Kleidern und Masken aus menschlichem Fleisch bestückt waren. Die ausgeweideten und enthaupteten Körper der Opfer wurden zerteilt, und die besten Stücke auf den Markt gegen einen guten Preis in Schokolade feilgeboten. Daphoene hieß bei den Azteken Caotlicue, und trug wie die indische Göttin Kali, an einer Halskette einen Schädel. „Ihr Kopf war abgetrennt und vom Hals [flossen] zwei Ströme Blut, die von Schlangen dargestellt wurden, deren Köpfe sich im Profil treffen, um eine groteske Karikatur eines Gesichts zu bilden.“43 „Tod bedeutete den Azteken nichts“, kommentierte Bataille. „Die Mexikaner baten ihre Götter nicht nur mit Freude um den Tod, sondern auch darum, ihnen zu helfen, in ihm Reiz und Anmut zu finden.“ „Die Azteken“, sagte er, „waren wohl ebenso religiös wie die Spanier, mischten aber in ihre Religion ein Gefühl des Grauens, des Terrors, verbunden mit einer Art von schwarzem Humor, der noch erschreckender als Horror ist.“ Bataille schätzte die Azteken: Inmitten der Komplexität einer imperialen Verwaltung, hatten sie einen tragfähigen Ausgleich zwischen Leben und Tod, Lachen und Entsetzen gefunden, ein Gleichgewicht, das in seiner blutigen Eleganz, in Batailles Augen, den verdrehten christlichen Westen mit seinen Verwüstungen beschämte. Denn die westliche Welt war selbst durch endlose Gewalt und die schlecht verdaute Verehrung des biblischen, gütigen Gottes deformiert. „Mexiko“, fuhr Bataille fort, „war nicht nur der blutigste unter den menschlichen Schlachthöfen, es war auch eine reiche Stadt, ein wahres Venedig mit Kanälen und Brücken, geschmückten Tempeln und vor allem mit sehr schönen Blumengärten.“ „Diese wilden Krieger“, sagte er abschließend „waren wie alle anderen auch nur freundliche und gesellige Männer“. Sie trafen sich zu lebhaften Gelagen, bei denen der Konsum von Rauschmitteln üblich war.44 Die Art und Weise wie die Mexikaner den Tod missbrauchten, zerrt uns an den Abgrund. Angezogen wie vom Terror (l’effroi) werden wir uns auf diesen Abgrund zweifellos unaufhörlich immer näher zubewegen. Doch möchte ich mich davon kurz abwenden, und ausschließlich nur den Ruhm betrachten, den die Mexikaner suchten.45

Ausgehend von dem aztekischen Kult begann Bataille eine gewaltige anthro­ pologische Suche nach den Spuren der ursprünglichen dionysischen-aphrodisischen 41

Bray, Aztecs, S. 174. Jack Weatherford, The History of Money, New York 1997, S. 17. 43 Bray, Aztecs, S. 163. 44 Bataille, OC, S. 1:152–7. 45 Ibd. S. 7:198. 42

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Tradition, zu deren heutigem Hierophant er sich selbst ernannt hatte. Die Erforschung bestand darin, alle jene Hinweise im Bereich der Schöpfung und sozialen Erinnerung zu identifizieren, welche den Aufdruck von Finsternis trugen, und dabei ihren Status wieder aufzufrischen. Er verstand klar, dass in den vergangenen Jahrtausenden die Kirchen des eifersüchtigen Gottes, den er unwiderruflich abzulehnen begonnen hatte, energisch daran gearbeitet hatten, diese Tradition zu beseitigen, zu verwischen, zu brechen, zu verändern und alle Spuren dieser alten, gewalttätigen Kulte zu verbergen (dies nicht ohne selbst eine Flut von Gewalt anzuwenden). Für Bataille wurde es jetzt, da er für immer dem katholischen Gott seiner grünen Jugend abgeschworen hatte, Teil seiner heiligen Mission, diese Tradition wieder zu erwecken und sie neu zu verankern, jedoch in einem Umfeld, das demjenigen fremd war, in dem diese Kulte ursprünglich entstanden waren. Daher rührten all jene nebulösen Vorbemerkungen über Erfahrungen, Projekt und Diskurs. Batailles gesamte Produktion war in der einen oder anderen Form mit diesem Bemühen befasst, sie wiederzubeleben. Von einem bizarren Hinweis auf den großen Zeh, den viele Kulturen angesichts ihrer offensichtlichen Bestialität dem Blick entziehen, bis hin zum Studium der Erotik oder der Wirtschaft mit Hilfe der Gnosis, verfolgt Bataille das Projekt, den modernen Geist zu bekehren, um an die blutigen Altäre der heiligen Ahnen zurückzukehren. Verbliebene Spuren des antiken Wahns finden sich in der Tat überall in unserer modernen Welt. Bataille befasste sich mit Selbstverstümmelungen und zitiert den berühmten Fall von van Goghs Ohr, das überhaupt nicht zufällig, – wie Bataille bemerkte – seinen Weg in ein Bordell (einen zentralen Ort der heiligen, erotischen Zerstreuung unter dem Vorsitz der Hure Aphrodite) gefunden hatte. Dazu ging er auf andere Beispiele aus dem täglichen Geschehen ein, wenn gewöhnliche Menschen in plötzlichen Anfällen von unerklärlicher Wut etwa ihre Finger abbissen und dergleichen.46 Gnosis. Hier stand Bataille, wie bereits gesagt, auf vertrautem Boden: „Im Grunde“, schrieb er in diesem Zusammenhang, „ist es möglich, als Leitmotiv der Gnosis die Vorstellung hervorzuheben, nach der die Materie das wirkende Prinzip ist, das seit Ewigkeit autonom existiert. Es ist die Existenz der finsteren Tiefen (die nicht in der Abwesenheit des Lichts besteht, sondern in den monströsen Archonten, die diese Abwesenheit offenbart)47, und des Bösen (das nicht im Fehlen des Guten besteht, sondern ein kreativer Akt ist).“48 Es ist bezeichnend zu se­ ataille die gnostische Tradition in eine Neigung, den Teufel zu lieben, hen, wie B um­modelt, die sich nicht so offensichtlich aus den gnostischen Originalen ergibt. Bataille gibt in der Tat seine Voreingenommenheit zu und räumte ein, dass die „bösen Erzengel“ von den Gnostikern systematisch als (abartige) Emanationen höherer Wesenheiten heraufbeschworen wurden. „Doch“, beharrte er, „die despotische und bestialische Besessenheit von bösen und gesetzlosen Mächten tritt unbe-

46

Ibd. S. 1:201–4. Erzengel des Bösen, siehe weiter unten in diesem Kapitel. 48 Ibd. S. 1:223. 47

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streitbar sowohl in der metaphysischen Spekulation als auch im mythologischen Alptraum in Erscheinung. Es ist schwer zu glauben, dass die Gnosis, als Ganzes genommen, nicht in erster Linie von einer unheimlichen Liebe zur Finsternis und von einem monströsen Geschmack an obszönen und gesetzlosen Archonten zeugt.“49 So seine eigenen Worte. Alles, was daraus folgt, – Orgien, Rauschmittel und Praktiken der schwarzen Magie – ist für Bataille ein positiver Ausdruck dessen, was er „Urmaterie“ nennt. Sie ist das genaue Gegenteil der spirituellen Transzendenz und muss unbedingt angenommen und in bewusster Missachtung aller vom Himmel sanktionierten Verbote vollständig durchdrungen werden. Insoweit schien sein Projekt auf die karnevaleske Attraktivität der modernen Lucifer-Kirchen zuzutreiben; und, um die Wahrheit zu sagen, der Geruch seines antichristlichen Manifests, auf das wir in Kürze eingehen werden, unterschied sich nur wenig von den Pop-Proklamationen jener anzüglichen Handbücher der heimlichen Satanisten, die während HaightAshbury-Ära so in Mode gelangt waren.50 Bataille fuhr fort: Wenn wir heute offen die idealistische Sicht aufgeben, wie es die Gnostiker implizit getan haben, […] erscheint die Haltung derer, die im eigenen Leben eine Auswirkung der kreativen Aktion des Bösen erfahren haben, sogar radikal optimistisch. Es ist möglich, in aller Freiheit ein Spielzeug des Bösen zu werden, wenn das Böse selbst sich nicht vor Gott verantworten muss, vor einer Autorität wie der Gottes, welche die Archonten mittels einer ewigen Bestialität widerlegt haben. Denn es kommt vor allem darauf an, nicht das Selbst und den Verstand irgendeinem Erhabeneren zu unterwerfen. […] Dieses [unser] Sein und [unser] Verstand kann nur dem Gemeinsten unterworfen werden, das auf keinen Fall irgend­ eine Art von Autorität nachäfft. Ich unterwerfe mich ganz der Materie, die außerhalb von mir existiert. Die Urmaterie ist allen menschlichen idealen Bestrebungen fremd und abhold und weigert sich auf die großartigen, ontologischen Konstrukte reduziert zu werden, die sich aus solchen Anwandlungen ergeben.51

Um es zusammenzufassen, Bataille ersetzte nicht – sozusagen naiv – Gott durch Satan, jedenfalls nicht seinen Worten nach. Er setzte sich für eine Art pantheis­ tische Ästhetik ein, die er vorzugsweise auf die „obszönen Erzengel des Bösen“ bezieht, deren Bestialität eine dauernde Verhöhnung des Königreichs des Himmels darstellt. Statt sich nach oben zu bewegen, entschied er sich nach unten zu sinken, soweit hinunter, um einen Punkt der Annullierung zu erreichen. Dort würde er keinen invertierten Affen-Gott, sondern eine turbulente Versöhnung mit einer ambivalenten Mischung aus Dunkelheit und Helligkeit antreffen – die Ambivalenz seiner geliebten Kali, der Herrin der Zerstörung, des Chaos, der Nacht, der Prostituierten, der Cholera und der Friedhöfe.52 Doch Kali, die Archonten und die aztekischen Dämonen schienen für Bataille bloße allegorische Auswüchse zu

49

Ibd. S. 224. Der offensichtliche Beleg bei Anton Lavey, The Satanic Rituals, New York 1972. 51 Bataille, OC, 1:224–5. 52 Ibd. S. 244. 50

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sein. Er hatte nicht die Absicht, den Fehler zu machen und einen anderen Götzen auf ein Podest zu stellen. Doch gibt es Grund zur Annahme, dass er es an dieser Absicht etwas hat fehlen lassen. Dieser Satan mit dem Ziegengesicht, den Krallenfüssen, und einem stark riechenden Arsch, wie man ihn dargestellt hat, der am Sabbat kraft einer kollektiven Einbildung erstrahlte, ist derzeit in der Defensive. Dieses abscheuliche Gesicht, das von der aus den Angeln gebrachten Nervosität der Christen beschworen wird, ist es nicht die Emanation des Dionysos, die uns so nahe steht?53

Jedenfalls erkannte er an, dass dämonische Einflüsse, die unentwegt verführen können, außerhalb von ihm selbst existieren. Das ist an sich schon ein schallendes Eingeständnis religiösen Glaubens. In der Tat ist für ihn das Prinzip des Dionysos, „des Göttlichen in seinem reinsten Zustand“, ein Grundsatz, „der nicht durch die Besessenheit, eine vorgegebene Ordnung verewigen zu wollen, verletzt wird“. Dionysos Poesie besteht nicht in der Melancholie des einsamen Wanderers, noch seine Tragik in dem Gemurmel eines ekstatischen Einsiedlers. In Dionysos sah Bataille stattdessen die Masse.54 Bacchus ist der subversive Gott der rasenden Meute. „Satan“, schrieb er, „führte den Hexensabbat an, Dionysos die Mänaden, und die Ausschweifung war in beiden Fällen die giftige Hitze der Spiele. […] Die beiden Gottheiten (denn der Teufel ist göttlich) verkörperten in ihrer Person die gleichen Riten, den orgiastischen Wahn und die nächtliche Raserei: und wenn es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen diesen Riten gibt, so doch zumindest Kontakte, Ansteckung.“55 Doch statt ihn durch Kniefall anzubeten, beabsichtigte Bataille dem Dionysos und den Archonten mit ihrer eigenen Währung rituell heimzuzahlen. Er wollte nicht vor ihnen die Knie beugen, sondern, wie er in seinen Romanen phantasierte, mit ihnen als Gleichberechtigter zechen und auf sie den Dreck, das Blut und die Exkremente zurückspucken, die sie täglich den Menschen rein zum Spaß in das Gesicht schmieren (in diesem Zusammenhang spielte Bataille auf den schwarzen Humor der aztekischen Götter an). Zu sagen, ‚Gott ist böse‘ ist überhaupt nicht das, was man sich vorstellt. Es ist die zarte Wahrheit, die Liebe zum Tod, ein sich in die Leere, in Richtung Abwesenheit ­Davonstehlen.56

Doch wie verhält er sich zu den traditionellen Archonten des Lichts, zu Apollo, Michael, Marduk und den anderen? Ganz einfach: Sie existieren für ihn nicht. Kali ist wie geschaffen, um beide Seiten der Gleichung abzudecken, als Erzeugerin und Zerstörerin des Lebens, alles in einer Person. Auf diese Weise gibt es keine Zweiteilung oder Theodizee mehr. Dies ist Batailles rächende Heimzahlung an die Kirche, weil sie, wie ein elender Betrüger, die monströsen Archonten aus den heiligen Berichten getilgt habe. Die religiöse Orthodoxie hat in der Tat heimlich Satan aus dem heiligen Kreis ausgeschlossen und zur bloßen Profanität herabgestuft. 53

Ibd. S. 11:67. Ibd. S. 7:68. 55 Ibd. S. 68–9. 56 Ibd. S. 3:43. 54

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Sie hat ihn als einen Gott lästernden, rebellischen Engel auf den Haufen der Verweigerungen und psychischen Verirrungen geworfen, und zwar mit der verdeckten Absicht, den bloßen Gedanken an ihn in den Köpfen der Menschen auszumerzen. Bataille drückte das aufschlussreich so aus: „Das unreine Heilige wurde in die profane Welt eingegliedert. […] Das Durcheinander aus unreinem Heiligen und dem Profanen erschien für eine lange Zeit als Gegensatz zu dem Gefühl, das sich die Erinnerung für die vertraute Natur des Heiligen bewahrt hat. Doch verlangt hat dies die verkehrte religiöse Struktur des Christentums. Eines der Anzeichen für diese Zurücksetzung ist die geringe Aufmerksamkeit, die man in unserer Zeit der Existenz des Teufels zollt: man glaubt an ihn immer seltener. […] Dies bedeutet, dass das schwarze Heilige immer schlechter definiert wird und auf lange Sicht jede Bedeutung verliert.“57 Und so war es Batailles Pflicht, dem „schwarzen, unreinen Heiligen“ das einzuräumen, was ihm nach Jahren der konspirativen Unterdrückung seitens der Judeo-Christen zusteht. Zu dem Zweck führte er die umgekehrte Operation durch: Er tötete die Vorstellung des gütigen Gottes, verdrehte die Bestimmungen der Orthodoxie und fügte Gott in den profanen Bereich ein, indem er ihn mit Verstand, Diskurs oder Rationalität identifizierte. Mit anderen Worten, er sortierte die (katholischen) Christen und die Utilitaristen gemeinsam in die verabscheute Schublade der verdorrten Philister und irreligiösen Unterdrücker ein. Er warf ihnen beiden vor, die (blutigen, unreinen und wahrhaften) Opferrituale pervertiert zu haben.58 Diese gleicherweise betrügerische Verkehrung und, wenn auch nicht ganz unzutreffende, mystifizierende Verquickung der jüdisch-christlichen Heiligkeit mit dem Utilitarismus hat den Test der Zeit bestanden und ist tatsächlich zum wichtigsten Kampfgeschrei der postmodernen Legionen ­ atailles. „Ich geworden. Dieses folgt weitestgehend der schlauen Konstruktion B hasse Gott überhaupt nicht“, erklärte er „im Grunde ignoriere ich ihn. Wenn Gott das wäre, was sie über ihn sagen, wäre er Zufall. Zufall durch Gott zu er­setzen, wäre meinem Verständnis nach nicht weniger beleidigend, als für eine gläubige Person das Umgekehrte zu tun. […]. Die einzige Gnade, für die wir beten könnten, wäre, dass jener [Zufall] uns auf tragische Weise vernichtet, statt uns an Lethargie sterben zu lassen.“59 Nach Batailles Ansicht hat sich der Christ mit seinem fanatischen Verzicht krank gemacht. Er hat darauf verzichtet, den Wert des Menschen zu erkennen, um sich statt dessen eines Prinzips zu versichern, das ihn zu einer resignierten Knechtschaft verurteilt. Für Bataille ist der gläubige Christ ein umnachteter Sklave.60 Indem er dem abschwört und die monströsen Archonten vereinnahmt, hat Bataille sich frei gemacht: Er und sein ehemals katholisches Selbst waren sich nun quitt. Die Frage war geklärt.

57

Georges Bataille, L’érotisme, Paris 1957, S. 134, 135. Bataille, OC, S. 5:240. 59 Ibd. S. 6:116. 60 Ibd. S. 2:380. 58

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5. Bataille 5Bataille Ich kann mir mich blutbedeckt vorstellen, gebrochen, aber verklärt und in Übereinstimmung mit der Welt, sowohl als Opfer, das unablässig getötet wird, und auch als Rachen der Zeit, der unermüdlich tötet.61

Dies ist in Zusammenfassung Batailles akephale Theologie oder „Theopathie“ (eine schmerzhafte Empfindung des Göttlichen).62 Sie beginnt mit einem Abstieg in den Abgrund, das ist „die Erfahrung“. Die Erfahrung ist eine Art Übertretung, ein Akt der Revolte (contestation) – Beides ist ein und dasselbe. In der Dunkelheit der Ekstase entdeckte Bataille keinen Gott, sondern den finsteren Zyklus (Erzeugung, Zufall und Untergang), der von Sonnenenergie ständig in Fluss gehalten wird. Die Bewegung des Zyklus hat in der Vergangenheit der menschlichen Vorstellungskraft die Existenz einer beunruhigenden Verschwörung nahegelegt, die von einem reich dekorierten Pantheon obszöner Erzengel ausgeheckt worden war. Die Ebbe und Flut der Macht durch die Urmaterie wird vom Gelächter der Menschen begleitet und schaukelt sich schließlich zu einem Höhepunkt der ewigen Niederlage auf – zur Vernichtung der Materie, die sich weigert, in irgend­etwas zu kulminieren, sondern schließlich zu ihrem Ursprung zurückschwindet, um von dort eine neue Runde zu beginnen. Wir haben ein Gelächter rein und ohne Reue angestoßen, das uns ermöglichte, gemeinsam zu dem geheimen Kern der Dinge durchzudringen […]. Wer immer seine Handlung auf diesen Punkt des schwindelerregenden Absturzes ausrichten will, muss von einer großen Kraft besessen sein […]. Alle Schutzräume kollabieren und die krampfhaften Kontraktionen des Gelächters werden entfesselt und hallen einstimmig nach. Nicht nur hat jeder von ihnen Teil an der unbestimmten Strömung des Universums, sondern er verschwimmt im Gelächter der anderen so vollständig, dass es im Raum nicht mehr mehrere voneinander unabhängige Lacher gibt, sondern nur noch eine einzige Welle heiteren Übermuts […]. Jenseits der erkennbaren Wirklichkeiten durchquert das Gelächter die Menschen-Pyramide wie ein Netzwerk endloser Wellen, die sich in jede Richtung hin erneuern. Der Wiederhall dieser Krämpfe stranguliert das unermessliche Wesen des Menschen von einem Ende bis zum anderen und findet seinen äußersten Höhepunkt in der Qual Gottes in der Schwärze der Nacht.63

Um die Idee dieser ewigen Wiederkehr, die in das ewige Nichts hinein aufbricht, zu charakterisieren, beschwört Bataille die Allegorie eines kopflosen, akephalen Gottes, den Acéphale, den Batailles Freund, der französische, surrealis­ tische Künstler André Masson (1896–1987) dargestellt hat (siehe Abbildung 1) . Hinter dem, was ich bin, treffe ich auf ein Wesen, das mich zum Lachen bringt, weil es keinen Kopf hat. Es erfüllt mich mit Angst, weil es aus Unschuld und Verbrechen gemacht ist: Es hält eine eiserne Waffe in seiner linken Hand und Flammen, ähnlich einem heiligen Herzen, in seiner Rechten. Es vereint im gleichen Ausbruch Geburt und Tod. Es ist weder Mensch, noch ist es ein Gott. Es ist nicht ich, sondern mehr als ich. Sein Bauch ist das

61

Ibd. S. 1:557. Ibd. S. 8:147. 63 Ibd. S. 7:273, und 1:441 (Hervorhebung hinzugefügt). 62

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Abb. 1: Batailles Acéphale (der Kopflose), Originalzeichnung von André Masson, neu gedeutet von Evelyn Ysais. Labyrinth, in dem es sich selbst verloren hat, und ich mich mit ihm, und in dem ich mich, man muss es so sagen, als ein Monster wiederfinde.64

Sprudelnd vor Erregung angesichts seines neu gestalteten Religions-Spielzeugs, gründete Bataille im Jahr 1936 seine eigene „Geheimgesellschaft“, L’Acéphale (und brachte eine gleichnamige Publikation heraus). Sie führte eine Genossenschaft Pariser Ästheten, Literaten und Künstler (darunter Masson) zusammen, die darauf versessen waren, mit obszönem Okkultismus zu experimentieren. De Sade, Dionysos und Nietzsche waren die Schutzheiligen von L’Acéphale. Diese Bruderschaft von Dilettanten und Möchtegern-Aleister-Crowleys, „führte seltsame Rituale durch, darunter auch ein Ziegenopfer“, obwohl das, was diese „Eingeweihten“ notfalls wirklich „unwiderruflich“ aneinander gebunden hätte, ein Menschenopfer gewesen wäre. Als muffige Kleinbürger, die sie leider waren, hat sich anscheinend keines der Gründungsmitglieder freiwillig selbst zur Schlachtung angeboten. Allerdings vermutet Batailles Biograph, dass sich tatsächlich ein bereitwilliges Opfer gefunden hatte, möglicherweise jemand außerhalb des inneren Kreises, aber keiner der heiligen Anhänger, um das Opfer durchzuführen. 64

Ibd. S. 1:445.

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Unabhängig von der Wahrheit dieser Torheit schirmten alle Mitglieder die Gesellschaft mit größter Verschwiegenheit nach außen ab. Wie Bataille später bekennen sollte, würden „mit der Zeit seine gesammelten Werke sowohl über die Fehler als auch den Wert dieser monströsen Absicht berichten“.65 Das war wohl kaum ein Widerruf oder ein Ausdruck der Reue. „Die Gruppe war“, wie ein akademischer Bataille-Anhänger ernsthaft und respektvoll berichtete, „eine Gemeinschaft, die zu dem Zweck gebildet worden war, um Schuld aufzuheben, die Rolle der Zersetzung auf positive Weise anzuerkennen, um Askese, das akephale Spiel und Perversion zu praktizieren, um die universelle Natur aller Vereinigungen zu würdigen und die Welt dadurch zu verändern, dass man die Funktion der Aggression der Macht bekräftigt“.66 „Das akephale Spiel?“ Obwohl niemand je herausgefunden hat, was das „akephale Spiel“ tatsächlich war, ist es jedoch enthüllend zu entdecken, wie völlig unbeeindruckt die modernen Bewunderer Batailles von der handfesten Realität und Feier des Brandopfers im L’Acéphale gewesen sind. Das „Programm“ von L’Acéphale umfasste unter anderen folgende Punkte: 3. Betrachten Sie die Funktion der Zerstörung und Zersetzung als Errungenschaft und nicht als Negation des Seins. […] 6. Nehmen Sie Perversion und Kriminalität nicht als exklusive Werte auf sich, sondern als notwendige Werte, um sich in die menschliche Totalität zu integrieren. […] 9. Beteiligen Sie sich an der Zerstörung der vorhandenen Welt, und freuen Sie sich auf die Welt, die sein wird. […] 11. Bekräftigen Sie den Wert von Gewalt und des Willens zur Aggression, insofern sie die Grundlage aller Macht bilden.67

Solch ein Manifest mag in den späten dreißiger Jahren lächerlich geklungen haben. Doch wenn man bedenkt, wie weit dieses Projekt im postmodernen Diskurs gediehen ist – der, wie wir in unserem Überblick zu Foucault und zu den Foucaultianer zeigen werden, insgesamt ihrem Original Bataille gegenüber treu geblieben ist, – kann man nur zutiefst bestürzt über die unheimliche, posthume Überzeugungskraft dieses Denkers sein. In seinem Roman, Das Blau des Himmels (Le bleu du ciel) von 1936, hatte Bataille geschrieben: „Getrieben von einer glücklichen Unverfrorenheit musste ich alles umstürzen, mit allen Mitteln alles umstürzen.“68 Man könnte fragen: Und zu welchem Zweck? Wofür? Für eine unmögliche Rückkehr zu den vom himmlischen Prinzip entleerten, blutigen Anfängen auf der Erde? So scheint es. Der Satanskult ersetzte die alten Gottheiten. Deshalb kann man ohne Widersinn im Teufel einen Dionysos redivivus erkennen.69 65

Surya, Bataille, S. 288, 303 (Hervorhebung hinzugefügt). Champagne, Bataille, S.13, 15. 67 Bataille, OC, S. 2:274. 68 Ibd. S. 3:455. 69 Ibd. S. 8:114. 66

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Erotik Wenn ich nun sage: ‚um zu beten‘, so folge ich einem eingeborenen Trieb, der nicht schwächer als der Geschlechtstrieb, ja noch stärker ist. Die sind sich auch insofern ähnlich, als Widriges droht, wenn sie unterdrückt werden. Ernst Jünger, Eumeswil70

Als er mit dem katholischen Fasten gebrochen und die Soutane abgelegt hatte, hat Bataille viel „akephalisches Spiel“ praktiziert: Als bis ans Ende seines Lebens fleißiger Besucher der Pariser Bordelle hatte er den Geschmack von Ausschweifungen genossen und in einer Vielzahl scharfer Aromen in sich aufgenommen. „Meine wahre Kirche“, sollte er später schreiben, „ist ein Bordell“. In seiner Jugend wurde er „von allem, was sexuell war, gequält“.71 In den späten zwanziger Jahren war Bataille als ein etwas kleingeratener Satellit in den Umkreis des Pariser Künstler- und Literaten-Milieu eingeschwenkt, vor allem in dessen surrealistischen Flügel, in dem er in den Ruf eines „Perversen“ (un obsédé) geraten war – so beurteilte ihn jedenfalls der Gründer der Surrealisten, André Breton, der Bataille andererseits auch als „philosophe excrément“ bezeichnete. Der berühmte Sartre hielt Bataille stattdessen für un fou (einen Irren).72 Um seine aufkeimende Verrufenheit auszuleben, hatte sich Bataille auch auf Russisch-Roulette eingelassen. Er überlebte die „Erfahrung“ und ging dann dazu über, Pornographie zu schreiben, das heißt, solche der „intellektuell aufwendigen Art“. Sein erstes Buch ist eine dieser „schwefelhaltigen“73 Novellen, die nicht unbekannte Geschichte des Auges, die er 1926 unter Pseudonym veröffentlichte, um nicht seine beiden Identitäten zu vermischen: Bei Tag ein respektabler Bibliothekar und ein akephalisches Monster bei Nacht. Der renommierte New Yorker Verlag Penguin, brachte 1982 eine neue englische Übersetzung davon heraus. Batailles erstem Opus wurde somit in der englischsprachigen Welt der Status „klassisch“ zuerkannt. Worum handelt es sich? Es ist eine krankhafte, quasi-autobiographische Skizze, die mit Erinnerungen an die Einführung in das Fleischliche irgendwo tief in der französischen Provinz beginnt. Bald nach dieser Einleitung wechselt der Ton in eine surrealistische Bildsprache von Urin und Eiern, die ständig als symbolische Requisiten an Stelle des Auges auftauchen. Sie werden mit den erotischen Fantasien des Protagonisten/Erzählers und seiner jungen Geliebten Simone verflochten (Bataille erzählt uns im Anhang, dass sein in Folge von Paralyse erblindeter Vater regelmäßig eingenässt hat, daher die Assoziation). Die Erzählung fährt fort und berichtet, dass Simone mit Eiern spielt, auf sie uriniert und Sex im Grünen hat. Eine dieser kleinen Orgien geht schief, die dabei auftretende Gewalt schockiert ein junges Mädchen, das ih 70

Ernst Jünger, Sämtliche Werke Bd. 17, Eumeswil, Stuttgart 1980 [1977], S. 206. Surya, Bataille, S. 128. 72 Ibd. S. 105, 158, und 178. 73 Prévost, Bataille & Guénon, S. 63. 71

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ren Verstand verliert und Selbstmord begeht. Durch die Leiche des Mädchens und deren Ausstrahlung erregt vollziehen die beiden jungen Protagonisten zum ersten Mal richtigen Geschlechtsverkehr. Danach wechselt die Situation vollständig, und wir folgen den sexuellen Übertreibungen Simones und des Erzählers bis nach Sevilla, wohin sie als Bedienstete eines britischen Voyeurs, eines Sir Edmond, reisen. Im Zuge einer der verschiedenen Episoden verfolgt das Trio einen Stierkampf, bei dem der wütende Stier den Torero aufspießt. Das Blutvergießen, das zerfetzte Fleisch und die sengende Hitze wirken so intensiv, dass Simone und der Erzähler zu den nach Mist riechenden Ställen unter den Tribünen eilen, wo sie wild kopulieren. Danach wird Simone ein Teller mit den weißlichen Hoden des geopferten Stieres serviert. Die Apotheose wird in der letzten Szene erreicht. Diese findet in der Kathedrale Santa Caridad statt, in der die drei den willensschwachen Priester, Don Aminado, auflauern. Sie zwingen ihn in einen tödlichen Zweikampf, – einen symbolischen Stierkampf – bei dem dieses Mal die Kirche vertreten durch den Priester den rasenden Stier stellt, der durch den akephalischen Matador, den das subversive Trio verkörpert, bedrängt wird. Der junge, hübsche Don Aminado wird im Beichtstuhl von Simone, die sich erhebt, um vor seinen Augen zu masturbieren, angegangen. Völlig benommen wird der Priester anschließend in die Sakristei gezerrt, wo ihn Sir Edmond zuerst zwingt, in ein Ziborium zu urinieren und daraus seinen eigenen Urin zu trinken. Danach, während der Erzähler mit ihr Anal­verkehr hat, masturbiert Simone die „fette, rosige Stange“ Aminados bis er „quiekend wie ein Schwein beim Schlachten“ auf die eucharistische Oblate ejakuliert. Sir Edmond und der Erzähler halten ihr Opfer schließlich fest, so dass Simone ihn besteigen und reiten kann. Sie treibt den Geistlichen schnell auf den Höhepunkt und würgt ihn beim Orgasmus zu Tode. Nachdem das geschehen war, bricht Simone, feucht und ekstatisch, neben dem Leichnam des Priesters zusammen. Der Erzähler, der sie wiederum vergewaltigen will, wird plötzlich von der „Liebe“, die er für die Frau empfindet und vom „Tod des Unsagbaren“ gelähmt. In der Eingebung des Augenblicks gesteht er: „Ich bin noch nie so glücklich ge­ wesen“. Ein Auge wird dem Priester schließlich herausgerissen, erst damit jongliert und dann zwischen den schmatzenden Nabeln der Liebenden eingeklemmt, als sie wieder den Geschlechtsverkehr aufnehmen, bevor es von Simones Vagina aufgesogen wird.74 Wenn das kein „Klassiker“ ist! Bataille versuchte wiederholt, de Sade zu überbieten, indem er seine Porno­ graphie entweder mystisch gestaltet, etwa wie 1937 in Madame Edwarda (1937), oder krass wie 1943 in Le Mort (Der Tote).75 Er hatte damit wenig Erfolg. Als­ Romancier (von Schmutz und Schund) hat er, so sehr er (und der Penguin Verlag) es auch versucht haben, nie ganz den Durchbruch geschafft.

74 75

Bataille, OC, S. 1:13–69. Erschien 1967 posthum.

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Le Mort ist, kommentiert Batailles Biograph, die „obszönste“ seiner Erzählungen, „aber auch die strengste und Allerheiligste“.76 Le Mort ist die gebrochene Geschichte einer Frau, Marie. Nach der Begegnung mit dem Tod an einem stürmischen, trostlosen Abend geht Marie fiebrig und unter ihrem Regenmantel nackt aus dem Haus. Sie geht zu einem Gasthaus, um sich wie Schlamm am Rande des Abgrunds zu beschmutzen. Dort trifft sie auf den Teufel in Gestalt eines übersexualisierten Zwerges, den Grafen, dazu auf einen lustvollen Jugendlichen, Pierrot und noch auf eine Gruppe von Kneipengängern unter der Fuchtel einer langweiligen Wirtin. Nachdem der Dreier zwischen Marie, Pierrot und dem Graf in einem vorläufigen Kreuzfeuer von Sauferei, Ejakulationen und Strömen von Urin abgewickelt ist, fordert Marie von Pierrot „gefickt zu werden“ („baisemoi“). Die Gruppe legt sie auf den Tisch, spreizt ihre Beine und schaut „überwältigt vom nun folgenden unglaublichen gewaltsamen Durcheinander der Körper“ schwer atmend zu. „Die Szene“, erzählt Bataille, „erinnert in ihrer Langsamkeit an das Schlachten eines Schweins oder die Beerdigung eines Gottes.“ Pierrot gelingt die Opfer­handlung mit einem sabbernden Aufbrüllen, während Mary „ihm mit einem Todeskrampf antwortet.“ Danach blickt Marie auf den Grafen und erbricht. Der Teufel, sagte Mary, ich scheiße vor dem Teufel! … Sie hockte sich hin und schiss auf das Erbrochene.77

In Madame Edwarda  – die anderen Romane sind wirklich nicht erwähnenswert – werden ähnliche Themen angeschnitten. Madame Edwarda ist eine Bordell-Mutter, die Göttin Vestal in Batailles Tempel. Eines Tages entfaltet sie dem betrunkenen Erzähler ihre Vagina mit methodischer Sorgfalt. In sitzender Position hielt sie ein Bein hoch und streckte es aus. Um so den Schlitz bequemer zu erweitern, zog sie das Fleisch mit beiden Händen auseinander. So starrten mich ­Edwardas „Fetzen“ (les guenilles) behaart und rosa, voller Leben wie ein widerlicher octopus an.78

Die anschwellende, sich rötende Fleischlichkeit ihrer Genitalien lockte wie die klaffende Grimasse einer brandigen Wunde. Das Tempo und die Gründlichkeit der Zurschaustellung sind derart, dass der Wirt Edwarda stotternd nach ihrer Absicht fragt. Sie antwortet: „Du siehst, ich bin GOTT“. Wie Christus den zweifelnden Aposteln seine Wundmale zeigt, befiehlt Edwarda dem Erzähler „lege Deine Finger hinein“ und küsse die eiternde Wunde (la vive plaie).79 Er fügt sich und merkt: „Sie war schwarz, ganz einfach beängstigend wie ein Loch. […] Ich wusste nun, dass sie nicht gelogen hatte […], dass sie Gott war.“80 Und hier nun die überspitzte Interpretation von Batailles Biograph: „Edwarda weiß, und was sie weiß, gehört rechtmäßig zu Gott: Was nur Gott wissen würde, wenn er es wüsste, aber 76

Surya, Bataille, S. 392. Bataille, OC, S. 4:47–50. 78 Ibd. S. 3:22. 79 Vgl. Surya, Bataille, S. 372. 80 Ibd. S. 24. 77

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nicht weiß, ist der Grund, weshalb er nicht existiert. Was eine Hure weiß, ignoriert Gott, und nur deshalb ist eine Prostituierte heilig, wenn Gott tatsächlich eine Farce ist. Hätte er gewusst, wäre er gestorben […] Wäre er entlarvt. Edwarda ist nicht nur eine außerordentliche Animalität. […] Sie ist die Offenbarung, dass GOTT TOD ist.“81 Dies ist eine Variante des Theodizee-Themas über die Unmöglichkeit, die zwei Gesichter der Heiligkeit miteinander zu versöhnen: Einerseits Fäulnis (das Profane), die Bataille in diesem Flachrelief durch den fleischlichen Eiter der menschlichen Genitalien symbolisiert, dagegen auf der anderen Seite die Reinheit, repräsentiert durch Mitgefühl und all die Kunst, die von den olympischen Idealen beseelt ist. In Batailles Produktion leitet dieses ordinäre Zusammenleben von idealen Anwandlungen und dem turbulent wabernden Abschaum im Menschen, der durch jenen gesamten Kosmos von Wut, Mord, Schändung und Verfall gestützt wird, über in jene reißerischen Aporien, deren Vorspiegelung illusorischer Perspektiven immer die gleiche ist. Wir haben schon die Skizze eines Gottes angeführt, der träumt, von Wanzen gestochen zu werden, sich dann in dieses ekelhafte Insekt verwandelt – denn sind nicht auch sie Geschöpfe Gottes? – um von dem ebenso gequälten Menschen vernichtet zu werden. Und ist eben dieser Mensch nicht wiederum derjenige, der angeblich von Gott geformt und so von Gott entworfen worden ist, dass er Angst erfahren kann, die Gott, weil er per Definition unerschütterlich ist, jedoch nicht selbst fühlen kann, das heißt, außer durch die Inkarnation in seine Schöpfung (als Mensch). Und wenn Gott das tut, wird er eins mit der verzweifelten Einsamkeit. Wenn man davon ausgeht, dass dies nicht einer von der Schöpfung vorweggenommener Gedanke war, entdeckt Gott durch die gequälte Menschheit, dass es keine wohlwollende, allwissende Gottheit geben kann. Es ist das Gleiche wie in Madame Edwards Auftritt: Wäre Gott der Gott der Physik und der kindlichen Frömmigkeit, wie konnte er die Energie aufbringen, um etwas so Unergründliches wie eine Vulva zu schaffen? Denn diese verbreitet, abgesehen von ihrer verständlichen generativen Funktion, wirklich Macht und Schrecken aufgrund der Kraft, die Monstranz der heiligen Hurerei erotischer Vergeudung zu sein. Und wieder: Hätte Gott, der Geometer, sich in der Frau eines Bordells verkörpert, würde er durch sie den Schmutz der Orgie erleben, was niemals der archetypische Wunsch des Mathematiker-Gottes hatte gewesen sein können. Auch das beweist wieder, dass in dieser unserer Welt eine förderliche, allwissende Gottheit ein Ding der Unmöglichkeit ist. Für Bataille bleibt nur Angst, Urmaterie, ausgekippter Sand, das heilige Geheimnis der Erotik, und dies weder „hoch“ noch „niedrig“. All dies wurde phantasievoll zusammengefasst und ergab die Allegorie des kopflosen Monsters – das Mannequin für Schmutz, Gedärm, Bewegung und Unruhe, das mit Gelächter die Sackgasse der nächtlichen Schwärze durchquert.

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Ibd. S. 374.

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Abgesehen vom „Schwefelgeruch“ seiner schlechten Romane bleibt Erotik jedoch ein wesentlicher Bestandteil in Batailles soziologischer Theorie der Macht, die das Herzstück seines Werkes ist. Von de Sade übernahm Bataille – wie wir sahen – den entscheidenden Begriff der Souveränität, die er wie eine Wucherung, eine physiologische Reminiszenz an eine Zeit behandelte, als der Gedanke an Zerstörung und Ruin als deutliches Verlangen im Bewusstsein der Menschen noch gegenwärtig war. „Doch Souveränität“, fügte er hinzu, „ist nichtdestotrotz […] Sünde. Nein, es ist die Macht zur Sünde ohne den Gedanken, das Ziel verfehlt zu haben, oder es ist selbst das Verfehlen, das zum Ziel verkehrt wird.“82 Souveränität ist eine uralte Erinnerung an unseren göttlichen Wunsch, die Welt ohne Not in Brand zu setzen, ohne sich davon einen Vorteil und Nutzen zu erwarten.83 Sie ist jene besondere Stimmung, die unseren Blick über die herkömmlichen Kategorien von Gut und Böse hinaushebt. Souveräne Wesen bewegen sich in einer krampfartigen Strömung, sie nehmen Leben, wenn sie sich natürlicherweise zeigt. Der von einem „souveränen Empfinden“ besessene Ritter fürchtet nicht Schmerz oder Unglück – er will vielmehr beiden ins Gesicht sehen und es mit ihnen aufnehmen; er ist wie ein Tier frei von rationaler Zurückhaltung, schert sich nicht um morgen und lebt nur in der Gegenwart.84 Der Impuls des souveränen Menschen macht ihn zum Mörder […] Mord ist nicht das einzige Mittel, um die souveräne Lebensweise zurückzugewinnen, doch verlangt die Souveränität die Kraft zu vergewaltigen; […] sie verlangt auch nach der Todesgefahr […]. Der Souveräne ist der einzige der existiert, als gäbe es den Tod nicht. Und er ist sogar derjenige, der nicht stirbt, denn er stirbt nur, um wiedergeboren zu werden. […] Souveränität ist im wesentlichen die Weigerung die Grenzen hinzunehmen, die zu respektieren uns die Angst vor dem Tod gebietet, um unter dem Schirm eines mühseligen Friedens, das Leben der Individuen zu gewährleisten.85

Für Bataille besteht das Experiment der Moderne darin, das schwarze Heilige wieder in Besitz zu nehmen, und das – glaubte er – kann nur durch die rituelle Vereinnahmung dessen erreicht werden, was unser durch die Tradition geprägter Geist für empörend, ekelhaft, widerlich und erschreckend hält. Den Sprung in die Finsternis dürften Schwindelgefühl und Brechreiz begleiten – man denke an die Atemnot der Zuschauer in Le Mort. Doch eben diese Schwindligkeit, sagte Bataille, ist das unanfechtbare Zeichen, dass wir in den methodischen und materiellen Bereich des „Bösen“ mit seinen Opferritualen, Prozessionen, Beschwörungen, Liturgien und Wirkprinzipien eindringen. Fäulnis, Zersetzung, Gestank sind Attribute des Todes. Sie stellen ein Prinzip dar, dem man ausgesetzt sein muss, um die innere Erfahrung einzuleiten, wie es das Programm der Zeitschrift L’Acéphale mitteilt:

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Bataille, OC, S. 12:280. Bataille, L’érotisme, S. 204–5. 84 Bataille, OC, S. 11:181–5. 85 Ibd. S. 8:268–70.

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„Gelächter, Tränen, Poesie, Tragödie, Komödie, Spiel, Wut, Trunkenheit, die Ekstase des Tanzes, der Musik, des Kampfes, der Horror am Grab, der Charme der Kindheit, das Heilige, das Göttliche und das Teuflische, Erotik (gewalttätig oder zart, bedacht oder bösartig), Schönheit, Schrecken, Ekel“,86 „tote Fliegen, Blut, Menstruationsblut“,87 Sputum, Stuhl, Mist, Abschaum, Schweiß und Maden sind alles göttliche Absonderungen des „heiligen Unreinen“, die mit und in uns leben, und in unseren immer häufigeren Momenten der Panik und Angst zu uns herüberwinken. Von allen Formen der Souveränität war Erotik für Bataille wohl die wichtigste.88 Im Gegensatz zu Sex ist Erotik „teuflisch“.89 Wie sexuelles Spiel getrennt vom Besitzanspruch (des Ehepartners) und von der Fortpflanzung (z. B. die Fixierung auf Sodomie) ist Erotik ein Hauptsymbol für den Verlust und das Versprühen (sexu­ eller Energie und Flüssigkeit). Sie ist ein reiner Akt des Vergeudens, ein Kraft­ aufwand, der keine andere Vergütung beansprucht und erwartet als den hinreißenden Wunsch, sich in Ekstase zu verlieren. Daher rührt die religiöse Verbindung zwischen Tod und Erotik, wobei letztere in einer kurzen Zeitspanne den auf- und abebbenden Höhepunkt des anderen nachahmt. Sexualität und Tod sind nur die sich zuspitzenden Momente eines Festes, das die Natur mit der unerschöpflichen Vielzahl der Lebewesen feiert. Der eine oder andere versteht den Sinn der grenzenlosen Verschwendung, wodurch die Natur den Wunsch zu überdauern belohnt, der zu jedem Lebewesen gehört.90

Daher rührt die Übereinstimmung zwischen Grauen und Lust, „die der heiligen Welt ihren paradoxen Charakter verleiht.“ Der Gegenstand des heiligen Schmutzes ist „stinkend, klebrig und grenzenlos, er wimmelt von Leben und symbolisiert den Tod“. „Hätte unser Verlangen nicht so viel Mühe, unseren unbestreitbaren Widerwillen zu überwinden, würden wir ihn nicht für so stark gehalten haben.“91 Prostitution, das erotische Vokabular, der unvermeidliche Ort der Sexualität und der Schmutz macht aus der Welt der Liebe dennoch eine Welt des Verfalls (déchéance) und des Todes. Wir erleben das wahre Glück nur, wenn wir uns umsonst anstrengen. Wir wollen uns ständig der Nutzlosigkeit unserer Kosten versichern, um uns so weit wie möglich entfernt von einer Welt der Ernsthaftigkeit zu fühlen, für die die Zunahme der Ressourcen die Regel ist. […] Wir wollen das Gegenteil eines solchen Bereichs sein. Der Erotik haftet üb­licherweise eine Regung des Hasses, des Verrats an. Das ist der Grund, warum sie mit Angst verbunden ist, und warum umgekehrt, wenn Hass zur Ohnmacht und Verrat zum Versagen wird, das erotische Element lächerlich wird.92

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Ibd. S. 277. Bataille, L’érotisme, S. 60. 88 Bataille, OC, S. 8:12. 89 Ibd. S. 10:581. 90 Bataille, L’érotisme, S. 68. 91 Bataille, OC, S. 8:81, 83. 92 Ibd. S. 152. 87

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Hier hebt Bataille die subversive Natur der Erotik, ihren rebellischen Charakter hervor. Das Potenzial dauernder Rebellion ergibt sich aus der sexuellen Quelle der sinnlichen Energie, von der die Frauen, wie de Sade ausdrücklich anerkannt hatte, das bevorzugte heilige Gefäß zu sein scheinen, z. B. der Sex von Madame Edwarda als Gott. Von daher kam es zu dem strickten Gebot der Frömmigkeit (z. B. im Islam), Frauen unter strenger Überwachung zu halten – sie wie ein Stromkabel vorsichtig mit dem Hijab (Schleier) und unter männlicher Führung zu isolieren. Erotische Zerstreuung ist bekanntlich am erregendsten, wenn sie mit Gewalt einhergeht; sie erscheint dann am authentischsten. Deshalb inszeniert zum Beispiel Pornografie oft kollektive Vergewaltigung, die eine weibliche Beute als Achse darstellt, um die sich der rasende Durst der männlichen Speichen dreht. Dabei muss die Andeutung von Brutalität und Schmerz immer deutlicher werden, um den Betrachter noch zu erregen. Gewalt, sagte Bataille, ängstigt, aber fasziniert auch.93 Er warnte jedoch, eine solche Vorführung ohne das Gefühl von Hass und Gewalt, ohne jene schwindelerregende Macht, welche die Sinne verwirrt und die Prüden in der Brust sticht, wird im Spott scheitern und seine Energie wird vom Hohngelächter begleitet verpuffen. Solche Pornografie sei miserabel. Bataille erklärte, dass er immer schon „alles umstürzen wollte“. Umstürzen bedeutet, das Tabu zu brechen. Und Tabus sind die Verbote, die der traditionelle Gott im Laufe der Geschichte aufgestellt hat. Bataille lässt uns glauben, er habe sich von der sperrigen Gottheit, welche Tabus erlässt, befreit, indem er sie zu­ sammen mit rationalen Vortäuschungen (Diskurs) in den Mülleimer der Profanität gestoßen habe. Sein Anspruch war jedoch nicht überzeugender als der seiner frommen Gegner, welche vorgeben, die gleiche Behandlung erfolgreich dem Satan vor­behalten zu haben. Denn Bataille schreibt tatsächlich, dass das Ver­ lockende an der Über­tretung darin bestehe, „das Verbot aufzuheben, ohne es zu unterdrücken“.94 Die Wahrheit des Verbots ist der Schlüssel zu unserer menschlichen Einstellung. […] Wir fühlen im Moment der Übertretung die Angst, ohne die das Verbot nicht existieren würde: Es ist dies die Erfahrung der Sünde. […] Religiöse Sensibilität ist das, was Verlangen immer eng mit Angst und intensives Vergnügen mit Qual verbindet.95

Wenn also Übertretung die „erwartete Entsprechung“96 zum Verbotenen darstellt, mit anderen Worten, wenn das eine nicht ohne das andere sein kann, dann gestand Bataille in der Tat ein, dass es das Vergnügen, sich der „meditierten Grausamkeit“ der monströsen Archonten zu ergeben, nicht geben würde, wenn nicht Jehova / Zeus / Christus zuerst das Tabu aufgerichtet hätte. Bataille brauchte den EINEN nicht weniger als den bösen EINEN. Bataille scheint demnach nicht die (tatsächlich unrealistische) Wieder-Auferstehung des Azteken-Regimes ge 93

Bataille, L’érotisme, S. 57. Ibd. S. 41. 95 Ibd. S. 43. 96 Ibd. S. 72. 94

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wünscht zu haben. Sein Projekt war seiner Empfindung nach eher darauf an­ gelegt, eine traditionelle, auf Tabus errichtete Gesellschaft wie ein Virus zu infizieren, mit der ausschließlichen Mission, sie umzustürzen und das gesamte System seiner Verbote zu untergraben. Das ist ein Unterschied von einigem Gewicht, denn er qualifiziert sein Werk im Wesentlichen eher als intellektuelle Destabilisierung und nicht als unqualifizierte Wiedererweckung des MatriarchalischDionysischen. Es ist kein Wunder, dass Foucaults frustrierte Anhänger so oft über die Unschlüssigkeit und Unentschlossenheit seiner Politik der Übertretung geklagt haben, weil sie nicht über die Emanzipation vom System nachdenke. Daher ist Gott nach alledem doch nicht tot, er ist lebendig und munter und verbietet wie eh und je. Doch trotzdem scheint Bataille zu glauben, dass noch viel Zeit und Raum für Straffreiheit gegeben sei. Unerschrocken und immer noch pessimistisch hoffnungsvoll lud er alle ein, ihr Leben der Gefahr auszusetzen,97 die Kräfte und Ressourcen durch erotische Aktivität zu verschleudern. Dies sollte vor allem in deren üblen Erscheinungsformen, wie in Orgien geschehen, die ihre „ruhige und majestätische Art“ von „fundamentaler Gewalttätigkeit“ herleiten, wie er sie charakterisiert hat.98 Und fürs erste könnte damit das Christentum, dieser eingefleischte Feind von Übertretung und Erotik, in Schach gehalten werden. Bataille erläutert seine frühere Verführung: Das Christentum war einst selbst eine Bewegung der Revolte. Es versuchte, die ganze dämonische Brutalität in den Körper des Erlösers einzusaugen, und schuf so die Vision einer vollstän­digen Überwindung des Wahnsinns der Gewalt durch Umpolung ihrer Ladung, das heißt, vom Zustand des ewigen Krieges in das Reich der Sanftmut. „Etwas Erhabenes und Faszinierendes steckt in diesem Traum“, schrieb er.99 Christus schätzte „die Armen, die Ausgestoßenen, die Verkommenen“, er brachte sich als Verteidiger der Kriminellen „ins Spiel“, und erlaubte sogar den Behörden, ihn selbst als einen solchen zu behandeln. Er identifiziert sich daher mit dem Heiligen der „linken“, der unreinen Seite.100 Er hielt schließlich Zwiesprache mit Gott durch die Virulenz des Bösen, den quälenden Todeskampf am Kreuz. „Die Kommunikation unter Lebewesen“, schloss Bataille wieder einmal, „wird vom Bösen gewährleistet“.101 Und die letzte Wahrheit ist, dass „die Menschheit“ selbst wie der Mob in Palästina Christus quälte und seinen Tod forderte. Wieder war es die Menschenmenge, die verlangte, dass der Königs-Sohn getötet wird. Das ist für Bataille die heilige Entfaltung der „Tragödie“. Und die Tragödie verlangt wiederum, dass wir uns mit den Verbrechern und nicht mit dem Opfer identifizieren, wie schockierend und erschütternd seine Qual auch sein mag.

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Ibd. S. 96, und Bataille, OC, S. 8:90. Bataille, L’érotisme, S. 125. 99 Ibd. S. 131. 100 Bataille, OC, S. 2:344. 101 Ibd. S. 6:43. 98

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Das Christentum empfiehlt [den Menschen], sich mit dem Opfer zu identifizieren, mit dem erschlagenen König. Diese christliche Lösung hat sich bisher durchgesetzt. Doch diese Bewegung erfolgt in einer Welt, die im Widerspruch dazu steht.102

Bataille sah im Christentum einen bedrängten Traum mit stark verminderter Anziehungs- und Überzeugungskraft, trotz seiner blutigen Verehrung des Martyriums und der Geschichten über das sanfte Heldentum Jesu. Zusammengefasst besteht Batailles dionysische Herausforderung darin, nach Mitteln zu suchen, durch die souveräne Gewalt eine Rolle in der Welt spielen kann, nachdem sich der einmal vielverheißende Traum des Katholizismus allmählich der Liberalen Macht unterworfen hat. Dieses Anliegen der religiösen Subversion, das direkt mit dem virusartigen Ziel seines Projekts verbunden ist, bestätigt Bataille des weiteren dadurch, dass er auf dem dualen Charakter der modernen Gesellschaften beharrt. Das heißt, er bestand darauf, dass in ihren zivilisierten Benehmen, das sich nach außen wohlwollend, mit einer humanen Struktur von „Menschenrechten“ und „Demokratie“, umgibt, ein ganz seltsamer Kern an Brutalität, Verworfenheit und Hass steckt. Bataille erkannte den Inbegriff dieser spirituellen Schizophrenie in dem Klischee des familiären Menschen: Am Tag ein Engel an Vornehmheit, und bei Nacht ein Teufel, der in Ausschweifungen schwelgt – ein „zivilisierter Barbar“.103 Eine Beschreibung, die übrigens auf Bataille selbst und natürlich auch auf de Sade zutrifft. Das Fortdauernde am Testament de Sades ist für Bataille, die Welt daran erinnert zu haben, dass Gewalttätigkeit die ursprüngliche Angelegenheit der Menschheit ist, und dass von dem Moment an, als die Menschen aufhörten, diesem souveränen Zerstörungswillen einen Ausdruck zu verleihen, sie begannen, ein verlogenes Leben zu führen. De Sade hat diese Verlogenheit aufgedeckt.104 Er enthüllte die Tatsache, dass sich „das menschliche Leben aus zwei heterogenen Teilen zusammensetzt, die nie zusammenkommen werden. Ein Teil ist der Verstand mit dem Sinn für nützliche Ergebnisse […]: Dieser Teil tritt im Bewusstsein in Erscheinung. Der andere Teil ist souverän: Bei Gelegenheit nimmt er die Gestalt einer Störung des ersten Teils an, er ist finster, oder wenn er hervorleuchtet, blendet er eher und weicht mit allen Mittel der bewussten Wahrnehmung aus.“105 Wenn also der Ursprung des Wunsches zu übertreten (sowie zu vergewaltigen, „souverän“ zu ejakulieren, zu töten, zu opfern und zu zerstören) im Substrat der grundlegenden und monströsen Materie gefunden und dem Gewissen durch die innere Erfahrung geoffenbart wurde, bleibt nur noch, diesem Anruf aus der Finsternis Ausdruck zu verleihen, und zwar nicht als stolzer Schrei eines Liberalen, eines libertinären Solisten – wie es de Sade getan hatte, sondern als unpersönliche

102

Ibd. S. 2:346. Ibd. OC, S. 8:17. 104 Bataille, L’érotisme, S. 206. 105 Ibd. S. 213. 103

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Stimme einer Gemeinschaft von Lebewesen, die sich durch dieselbe geistige, dionysische Kommunion unter dem Zeichen der Übertretung vereint hat. Das Heilige […] ist im Wesentlichen Kommunikation, ist Ansteckung. Es herrscht Heiligkeit, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas losgelassen wird, das unbedingt auf­ gehalten werden sollte, aber nicht mehr gestoppt werden kann, und das sich ans Zerstörungswerk macht  – etwas, das riskiert, die bestehende Ordnung in Schwierigkeiten zu bringen. […] Profanität, so scheint mir, entspricht genau dem Verstand […]; und Verstand ist im Wesentlichen der Bereich, der den Begriff der Gleichheit einführt.106

„Sein“ – führt Bataille aus – „ist niemals nur das Ich allein, es ist ich und meine Mitkreaturen.“107 Aushängeschild und Symbol der souveränen Erotik Batailles ist der Ritter der Französischen Renaissance, Gilles de Rais (1404–1440). Gilles De Rais, Lord von Machecoul, ist eine historische Persönlichkeit. Der kriegerische Heldenmut dieses Adeligen war so außergewöhnlich, dass er im Alter von 25 Jahren bei der Rückkehr zu seiner Burg als glorreicher Reichsmarschall Frankreichs ausgerufen wurde, nachdem er die Stadt Orléans mit seiner Waffengefährtin, Johanna von Orléans, befreit hatte. Nach seiner Erhebung schien ihm – beobachtete Bataille – ein „unvergleichliches Schicksal“ bevorgestanden zu haben.108 Doch dann geriet er unerklärlicherweise aus der Bahn. Möglicherweise hat sich die Wildheit des Krieges an ihm furchtbar gerächt. Plötzlich empfand de Rais die brennende „Notwendigkeit zu glänzen“. Sie überkam ihn wie eine „Höhenangst“: „Er [konnte nicht] dem Impuls zu Blenden widerstehen, er [musste] sich mit seinem unvergleichlich glänzenden Aufwand selbst untergraben.“109 Er begann sein immenses Vermögen ohne Sinn und Verstand zu verschwenden, verbissen jagte er dem hinterher, als ginge es um seinen eigenen vollständigen „Ruin“.110 „Zu abscheulichen Grausamkeiten fähig“, deren Anwendung er in den Schlachten des Krieges gelernt hatte, war er „unfähig zu berechnen“.111 Für Bataille, der ihn bewunderte, war Gilles de Rais der reinste Ausdruck der Souveränität, der Sakralität. Er verschwendete, rechnete weder, noch war er auf Gewinn aus. In allem, was er tat, schwor Gilles de Rais dem Verstand ab, was nach Batailles Anti-System dem Gottesdienst der Profanität entsprach. „Das Reich des Verstandes“, schrieb er, ist das Reich der „Identität mit den Dingen, der Dauer, der Berechnung“.112 Dagegen seien souveräne Herren zur Unvernunft geboren, zu de-kumulieren, schnell in einem zeitlosen Wutanfall zu verbrennen, und im Ausbruch zu verschwinden. Während er seine Reichtümer als der freigiebigste der Befehlshaber verprasste, begann Gilles

106

Bataille, OC, S. 7:369. Ibd. S. 8:297. 108 Ibd. S. 10:295. 109 Ibd. 110 Ibd. S. 279. 111 Ibd. S. 294. 112 Ibd. S. 9:204. 107

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de Rais mit der Komplizenschaft einer Handvoll treuer Gefolgsleute Jungen aus dem Dorf zu entführen, um sie nach Folter und Vergewaltigung zu töten, zu zerstückeln und zu köpfen. Zweifellos setzte sich [Gilles de Rais] auf den Magen des Opfers, masturbierte, und verteilt auf dem Sterbenden den Samen des Lebens. Für ihn zählte dabei weniger die sexuelle Lust als den Tod bei seiner Arbeit zuzusehen. Er liebte es, zu beobachten. Er hatte die Leichen geöffnet, eine Kehle aufgeschlitzt, die Glieder abgetrennt; er liebte es, Blut zu sehen.113

Schweinisch betrunken und mit einer „gewöhnlichen Glefe namens Braquemard“ bewaffnet schnitt er die Halsschlagader seiner Beute auf, und erfreute sich an der Gewalt des herausspritzenden Blutes. Er bemühte sich die Ejakulation mit den Todeszuckungen der Jungen zu verbinden. Die Köpfe trennte er von den Leibern und wählte „die schönsten“ dieser Schädel aus, um sie zu küssen. Danach brach der Herr vom Rausch verwirrt und durch die Nacht des Aberwitzes erschöpft auf dem Boden zusammen. „Die Diener räumten die Hallen auf, wuschen das Blut ab und verbrannten, während der Meister schlief, die Leichen im Kamin.“114 Weil er einen mächtigen Ranghohen in der Kirche bekämpfte, und weil sich das (wohl wahre)  Gerücht in der Grafschaft verbreitete, er habe energisch versucht, den Satan zu beschwören, – der sich jedoch nicht die Mühe machte, sich seinem ergebenen Gilles zu zeigen – geriet er in eine Untersuchung der feudalen Rechtsprechung. De Rais wurde angeklagt und eher für diese beiden Straftaten verurteilt als für die sexuellen Morde, deren Urheberschaft und Details während des Gerichts­ verfahrens tatsächlich auch zur Sprache kamen. Überwältigt von Gram übergab sich Gilles de Rais der Gnade der Behörden und erbettelte ebenso die Vergebung des Pöbels. Im wahnsinnigen Zusammentreffen von Schuldgeschrei, Tränen und dem faszinierten Erbarmen der Dorfbewohner, gewährte ihm eben dieser Pöbel, als würde er in seinem eigenen Volkstribunal ein Urteil fällen – tief bewegt und weil er aufgrund einer mitempfindenden Verwandtschaft dem Verbrecher zuneigte – einen symbolischen Freispruch. Gilles de Rais wurde jedoch im Alter von 35 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zwei Jahre vor seinem Tod konnte Bataille diese außergewöhnliche Episode im Rahmen des innovativen Gerüsts seiner „Theopathie“ gründlich untersuchen. Zuerst sah Bataille in der einzigartigen und zufälligen Manifestation dieser „dominierenden, verführerischen Kräfte“, deren „Adel den Sinn für Gewalt besitzt“, die keine Grenzen kennt, eine Bestätigung seiner Theorie.115 Diese Kraft spiegelt eine jener eigentümlichen Tugend wider, die in Französisch unter der Bezeichnung „désinvolture“ läuft. Die deutsche Bezeichnung „Ungeniertheit“, „Leichtfertigkeit“ trifft nicht ganz die Qualität dieser souveränen Einstellung.

113

Ibd. S. 10:278. Ibd. S. 310–1. 115 Ibd. S. 312. 114

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5. Bataille 5Bataille Diesem Mann droht ein rasanter Ruin, ständig schwebt er am Rande der Reue, er geht über dem Abgrund: Er benimmt sich dennoch mit Leichtigkeit (il n’en a pas moins ce mouvement désinvolte), er lebt jene unpassende Vertrauensseligkeit aus, welche die Katastrophe unvermeidlich macht.116

Ernst Jünger – den Bataille bewunderte und dessen religiöse Anschauung den seinen tatsächlich bemerkenswert ähnlich waren (näheres zu Jüngers Werk in Kapitel 8) – fing die Stimmung in einem Axiom ein: „Désinvolture ist die Unschuld der Macht – die Haltung einer höheren Natur, die den freien Menschen ziert, der sich uneingeschränkt in der Kleidung bewegt, die Gott ihm verliehen hat.“117 Zweitens erkennt Bataille mit stiller Zustimmung den insgesamt souveränen Zeitgeist des feudalen, vormodernen Zeitalters an: nämlich einer Epoche, die es für weit verwerflicher hielt, den Teufel zu beschwören, oder, schlimmer noch, einen souveränen Kirchenfürst zu beleidigen, als in Orgien eine Anzahl willkürlich aufgegriffener Jugendlicher abzuschlachten. (Welchen Wert hatten die, fragte Batailles Biograph, „im Vergleich zu dem beeindruckenden Vermögen des Herrn von Machecoul?“).118 Der Mensch war in den Augen des Gilles nichts als ein Element lüsterner Umstände.119

Drittens, die überraschende Brutalität der Bevölkerung, die bereit war für das Monster einzutreten, ihm Beifall zu zollen, ist überhaupt nicht abwegig, bemerkte Bataille, oder „im Gegensatz zum eigentlichen Christentum, das seit jeher ein erschreckender Kult war!“ Tatsächlich bestand Religion – darauf beharrte Bataille – die längste Zeit ihrer Existenz in Gewalt und Blut, und in der Regel war die lockere Körperschaft ihrer Gläubigen noch nie wirklich von Störungen beunruhigt, wie sie sich in Leuten wie Gilles de Rais verkörperten. „Könnte das Christentum“ – sinnierte Bataille  – „in seinem tiefsten Grund vielleicht dringend Verbrechen, den Horror nötig haben, weil es die in einem gewissen Sinne für seine Vergebung braucht? […] Könnten wir das Christentum ohne die extreme Gewalttätigkeit, die uns in den Verbrechen eines Herren de Rais geboten werden, verstehen?“120 Zum Vierten und Letzten ist da noch die wirtschaftliche Seite des Verbrechens. Bataille bemerkte, „der Abstieg Gilles de Rais“ stellt „bestimmte Aspekte der Prachtentfaltung bei Begräbnissen dar. Dieser Verbrecher“, fährt Bataille fort, „dem das Spiel des Krieges abging, brauchte für sich dringend Ersatz. Es scheint, dass er den im Spiel der bombastischen Ausgaben gefunden hat.“121 Denn, be­ denkenlos zu verschwenden und Macht auszuüben, – das heißt, in Straffreiheit – 116

Ibd. S. 327. Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Bd. 9, Das Abenteuerliche Herz, Figuren und ­Capriccios, Stuttgart 1979 [1938], S. 260, vgl. auch Ernst Jünger, Heliopolis, Rückblick auf eine Stadt, Tübingen 1949, S. 101. 118 Surya, Bataille, S. 561. 119 Bataille, OC, S. 10:311. 120 Ibd. S. 281. 121 Ibd. S. 318. 117

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ist das souveräne Recht des ungenierten (désinvolte) Ritters: Er, und nur er allein, führt Krieg. Folglich ist es jedes anderen Pflicht, Nahrungsmittel und Rüstung für diese Herren bereitzustellen, die sie für die Durchführung des Brandopfers benötigen. Kurz gesagt: die unterprivilegierten, besitzlosen Massen arbeiten, während ihre ausschweifenden Beschützer verschwenden.122 Heutzutage ist in der Tat eine institutionelle Maschine von gewaltiger Komplexität erforderlich, um genauso den Wahnsinn der Techno-Kriege in Gang zu halten: nämlich unsere eigene liberale Wirtschaft. Batailles grundlegende Überlegungen über „ostentative Ausgaben“ stellt seine Version insgesamt in eine Beziehung zu den grundlegenden Fragen der politischen Ökonomie. Denn diese untersucht, wie und wozu eine Gesellschaft ihren Überschuss, ihre freie Energie einsetzt. Dies ist das Thema des nächsten Abschnitts. In diesem Fall hat Bataille richtig verstanden, dass der Holocaust und die Profanität (für ihn die Sakralität) des Krieges, Prostitution, die falsche Verteilung des Eigentums unter oligarchischen Regimen und die Extravaganz herrschaftlicher Festivitäten allesamt wirtschaftliche Manifestationen sind, die sich in Gemeinwesen mit der gleichen geistigen Ausrichtung – das heißt – mit einem souveränen, barba­ rischen Bestreben beobachten lassen. In diesem Sinne vollzog Bataille eine er­ hebliche, methodische Verlagerung in Bezug auf den konventionellen Ansatz der Sozialwissenschaften. Er zeigte, dass man nur nach einer vorausgehenden Analyse ihrer religiösen Grundlagen eine realistische Darstellung der Wirtschaft einer Gesellschaft bekommen kann. Es gibt drei Ebenen gesellschaftlicher Aktivität: die spirituelle, die wirtschaftliche und die politische. Nachdem wir nun die erste (die Spiritualität des Gottesdienstes und der Erotik) detailliert behandelt haben, bleibt zu erkunden, wie Bataille seiner speziellen Auffassung von Gemeinwesen aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Organisation Ausdruck verleiht. Diesen beiden Bereichen kollektiven Handelns sind jeweils die folgenden Abschnitte gewidmet.

Kostenaufwand Bataille sagte einmal über sein Denken, es sei „wie eine Prostituierte beim sich Ausziehen“.123 Die Prostituierte bezieht sich auf die metaphorische Kreuzung seines Projekts. Es handelt sich um die belebte Kreuzung seiner wiederkehrenden Gedanken über den Verfall. Die Prostituierte ist eine erste Emanation der erotischen Macht, aber einer Erotik, die sich mit einer wirtschaftlichen Wertigkeit ausstattet: das Vergnügen muss erworben werden. Prostitution lässt die gegen­ seitige und exklusive Anziehung zwischen Personen erlöschen, die nach der rechtmäßigen Religion die Voraussetzung für das Band der Ehe, der ehelichen Liebe 122 123

Ibd. S. 321. Ibd. S. 5:200.

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und Zeugung ist. „Wenn das Bedürfnis zu lieben und sich darin zu verlieren stärker ist als die Mühe, einander zu finden“, folgert Bataille, „gibt es kein anderes Thema als Verletzung und die Perversionen stürmischer Leidenschaft“. Er dachte nämlich, dass „Liebhaber eine maßlose Vernichtung in gewaltigen Kostenaufwendungen suchen, in denen der Besitz einer neuen Frau oder eines neuen Mannes nur der Vorwand für einen Kostenaufwand noch aufzehrender Art ist“.124 Das „Konzept Kostenaufwand“ (dépense) ist eins der bekanntesten Konstrukte Batailles. Es ist die direkte Anwendung seiner Konzeption der erotischen Aktivität auf dem Gebiet der Wirtschaft. Es beginnt mit einem unmittelbaren Angriff auf die utilitaristischen Prinzipien der liberalen Wirtschaftstheorie. Bataille bildet zu Recht eine Ausnahme in der modernen Wirtschaftslehre, die sich beharrlich weigert, die fundamentale Rolle der Verschwendung im Rahmen der wirtschaftlichen Aktivität anzuerkennen. Die liberalen Ökonomen begreifen die ökonomische Sphäre prinzipiell nur als eine der Investitionen, der Produktion und des Konsums. Alle ihre Pseudo-Theoreme wurden entwickelt, um die bestehende Verteilung des Reichtums zu rechtfertigen, die bekanntlich immer schief ist. Sie tun dies auf mehr oder weniger obszöne Weise zugunsten der Elite, jenes abgeschirmten Kerns der finanziellen, bürokratischen und militärischen Interessen, der über einen überproportional starken Anteil des Volksvermögens verfügt. In der parteilichen Darstellung des sich selbst regulierenden Marktsystems betrachten politische Ökonomen Armut nur als ein Epiphänomen und Steuern gelten ihnen als eine Art Ärgernis, ohne wesentlich andere Auswirkungen auf das Wohlergehen zu haben, als für die Bereitstellung staatlicher Güter (Gesetze, Sicherheit und Verteidigung) zu sorgen. Es gibt eine andere Tradition der politischen Ökonomie, die in der anthro­ pologischen Analyse verwurzelt ist und von einigen der feinsinnigsten Ökonomen der Moderne (z. B. Thorstein Veblen, Marcel Mauss, Karl Polanyi und Rudolf Steiner) vertreten wird. Sie analysieren die Wirtschaft aus einem Blickwinkel, der dem der klassischen liberalen Wirtschaftwissenschaft entgegengesetzt ist. Statt wie die Liberalen in der Wirtschaft das Problem der effektiven Verwaltung von Ressourcen, die als knapp gelten, zu sehen, geht die andere Schule – nennen wir sie „die politische Ökonomie der Gabe“ – davon aus, dass die Ressourcen nicht knapp sind, sondern reichlich und dass die wirtschaftlichen Probleme, die sich aus einer solchen Fülle (d. h. einem Überschuss) ergeben, darin besteht, wie man dieses wunderbare Geschenk – die gemeinsame Spende der Natur und des menschlichen Einfallsreichtums  – am besten einsetzt. Die Ökonomie Batailles stellt in einem gewissen Sinn die dunkle Ergänzung dieser „politischen Ökonomie der Gabe“ dar. Im Gegensatz zu den anderen Vertretern dieser Schule, deren Ansatz er jedoch teilt, war Bataille nicht an einer wohltuenden Verwendung des Überschusses interessiert, sondern mehr an seiner Verwendung in Gemeinwesen, die unter dem spirituellen Einfluss gewalttätiger, dionysischer Kulte stehen. Barbarische Zivilisationen haben in der Tat einen sehr eigenartigen Gebrauch ihrer Überschüsse 124

Ibd. S. 8:372.

5. Bataille 5Bataille

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gemacht. Sie haben unsägliche Mengen an Ressourcen in Gepränge, Opferdarbringungen, monumentalen Prachtbauten und in Kriegen verschleudert. Genau dieser Aspekt der „politischen Ökonomie der Gabe“ begeistert Bataille: die Finanzierung der souveränen Verschwendung und religiösen Raserei. Doch interessierte ihn nur dieser Aspekt, nicht aber die vernünftigen Aufwendungen für Kunst und Wissenschaften, und schon gar nicht die utilitaristische Voreingenommenheit der Liberalen mit Sparen und Kapitalakkumulation, die er als „eine miserable Konzeption“ verabscheute.125 Was Bataille wirklich an dem Prozess wirtschaftlicher Produktion für außergewöhnlich hielt, war nicht so sehr die Akkumulation und die enormen technologischen Ressourcen, die zum Zwecke der Produktion gebunden worden sind, als vielmehr der Gebrauch, der von der entsprechenden Überschussproduktion gemacht wurde. Das ist offensichtlich ein Problem von metaphysischer Dimension: die Verteilung des Überschusses (über den Reproduktionsaufwand) enthüllt die „Seele“ des zu beobachtenden Gemeinwesens. Im Allgemeinen produziert eine Gesellschaft immer mehr als zu ihrem Erhalt notwendig ist, sie verfügt über einen Überschuss. Genau dieser Verbrauch [eines solchen Über­ schusses] bestimmt [ihre Physiognomie]. Der Überschuss ist die Ursache der Unruhe, der strukturellen Veränderungen während eines großen Teils der Geschichte. Wachstum selbst hat viele Formen, von denen jede, auf lange Sicht, irgendwann an ihre Grenze stößt. Zum Vergleich, Bevölkerungswachstum wendet sich dem Militär zu […]: Erreicht das Militär seine Grenze, nimmt der Überschuss die luxuriösen Formen der Religion an, daraus er­ geben sich Spiele und Spektakel oder die persönliche [zur Schaustellung] von Luxus.126

An der Allokation des Überschusses (sei es in Krieg, Unterricht, Gesundheitswesen, Technik, etc.), kann man erkennen, ob ein bestimmtes Kollektiv azte­k ische Gottheiten, apollinische, eine grobe Mischung aus beiden oder andere Gottheiten oder gar keine verehrt. Dies zu untersuchen, ist faszinierend und schwierig und hat trotz der Zensur, welche die liberale Schule der Nationalökonomie gegen widersprechende Ansichten durchgesetzt hat, einige bemerkenswerte Studien, darunter die von Bataille, hervorgebracht. Sie stellen möglicherweise zur Zeit die einzige wahrheitsgemäße, interdisziplinäre und aufschlussreiche Art der ökonomischen Analyse dar. Was ist denn nun „Kostenaufwand?“ „Luxus“, antwortete Bataille, „Trauer­ zeremonien, Kriege, Kulte, monumentale und aufwendige Bauten, Spiele, Schauspiele, Kunst und perverse sexuelle Aktivitäten (also vom Fortpflanzungszecke abgekoppelte)  stellen Aktivitäten dar, die […] ihren Zweck nur in sich haben.“ Dekorative Extravaganz, Juwelen und auffällige Kleidung der Prostituierten und Sodomie sind alles Formen der verschwenderischen Kosten ohne Gegenleistung. „Die gesamte Herstellung heiliger Dinge [d. h. Opferhandlungen] erfordert einen blutigen Verschleiß von Menschen und Tieren.“127 Das meint Batailles Begriff 125

Ibd. S. 1:303. Bataille, La part maudite, S. 143. 127 Bataille, OC, S. 1:305. 126

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„Schöpfung durch Verlust“, nämlich im Wesentlichen die Verwendung menschlichen, irdischen und tierischen Lebens zur Feier der monströsen und obszönen Archonten. Was hat das mit Elend und Armut zu tun? Warum wurde, fragt Bataille zu Recht, der Überschuss im Laufe der Jahrhunderte nicht systematisch dazu verwendet, Unausgeglichenheiten bei der Verteilung zu beheben? Warum gab es in der Welt der Menschen immer enorme Verschwendung gleichzeitig neben äußerster Armut? Die Antwort kann man wiederum, sagte Bataille, in der kollektiven, archetypischen, menschlichen Neigung zur souveränen Verschwendung finden – zur Schaustellung, Prunkentfaltung, Rangordnung, Vergnügungen, Hass oder Willkür. Gleichgültig, wie sehr der Anblick des Elends unser Empfinden verletzen könnte, den Drang, Ressourcen in die Luft zu blasen, unseren ero­ tischen Regungen nachzugeben, scheint historisch gesehen immer der stärkere Impuls gewesen zu sein – in Wahrheit haben wir bisher wie die Monster in de Sades Novellen gelebt.128 Es gibt Kathedralen in der Wüste, Wolkenkratzer in den Ghettos und massenweise Opfer in Zeiten des „Friedens“: Batailles Argument scheint unangreifbar zu sein. Ihn hatte zu diesen wirtschaftlichen Überlegungen besonders Marcel Mauss’ berühmtes Essai sur le don (1923/24; dt.: „Die Gabe“) inspiriert, in dem der französische Anthropologe auf die Macht der unerwiderten Schenkung eingeht. Freigebigkeit, beobachtete Mauss, führte zur sogenannten Ökonomie des Potlatsch. Sie bestimmte in zwei bemerkenswerten Beispielen die Praktiken der Polynesier und der amerikanischen Eingeborenen. Mauss verfolgte die typischen Geschenkwerte, wie sie unter verwandten Stämmen ursprünglich in Umlauf waren und die das Wachstum stimuliert und die Verständigung entlang der Tausch-Kette gestärkt haben. Liberale Lehrbücher beginnen immer damit, dass dem modernen Geldsystem eine Tauschwirtschaft vorangegangen sei. Doch das ist falsch. Mauss zeigte, wie durch einen Akt der Schenkung eines Stammesführers an einen anderen, und von diesem zu wieder an einen andern Nachbarn ein Netz von Zusicherungen geknüpft wurde, das die Inseln des Archipels miteinander verband. Es bildete sich dadurch ein Kreis, dem entlang die Gabe endlos kreiste. Dabei ging zwar der Begriff des Ursprungs oder des Ziels verloren. Doch wurde dadurch die kommunale Bindung der beteiligten Inseln gefestigt. Die Gabe sollte und musste nicht wechselseitig sein, sie musste weggegeben werden, und kehrte mit der Zeit über den Kreis sicherlich in anderer Form wieder zurück, oft stark vermehrt durch ein Spiel des Wetteiferns, das eine Dynamik generösen Wachstums auslöste. Die Gabe ist die heilige Manifestation des wirtschaftlichen Austauschs, und als solche verehrte Mauss sie als rudimentäre Analogie zur griechischen, apollinischen Liturgie (λειτουργία: die Verpflichtung der Reichen, Kunst und Verteidigung der πόλις zu finanzieren), zu den Almosen der Buddhisten und Christen, zum Jubel-Jahr des Alten Testaments und zum islamischen zaqat (eine der fünf Säulen des Glaubens). Als religiöse Spende, als Beitrag zur Wissenschaft und als Einebnung der über­ 128

Ibd. S. 306–8.

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mäßigen Reichtums-Konzentration erneuerte die Gabe durch den Erhalt des Lebens aller einbezogenen Gemeinden das Leben unserer Gattung. Von den Geschichten, die Mauss erzählte, griff Bataille ausschließlich die perversen Varianten des Geschenk-Kreislaufs auf. Er genoss jene Berichte über den Wettstreit der Clanführer untereinander, die in einer Orgie der Verschwendung von Leben und Reichtum ihren Status festigten. Wie immer war Bataille mit dem Reich des Chthonischen befasst und nicht dem der apollinischen Götter, deren Tabus er zu übertreten drängte. Er verfolgte dadurch ein doppeltes Ziel: Er wollte beweisen, dass sich der Überschuss in einer Einbahnstraße erschöpfte, und er wollte die traditionelle Vorstellung untergraben, dass sich der Überschuss in einem kreisförmigen Umlaufverfahren ordentlich regeneriert. Bezüglich der religiösen Gefühle, seien es apollinische oder dionysische, erklärte Bataille, dass „alle Schöpfung aus der Hülle und Fülle hervorgeht.“ „Die Götter erschaffen aus Übermaß an Macht, aus Überfülle an Energie. Die Schöpfung entspringt einem Überschuss an ontologischer Substanz.“129 Was war mit diesem Überfluss des Seins anzufangen? „Die entscheidende Frage für den Menschen“, war nach Bataille die folgende: „Sein ist ein Effekt, der immer in zwei Richtungen drängt: die eine führt zur Bildung von dauerhaften Ordnungen und Eroberungskräften, die andere durch die Verausgabung der Kraft und Verschwendung zu Zerstörung und Tod.“130 In diesem Gegensatz stoßen wir auf das übliche Schema Batailles. Es stellt den „echten“, heiligen, dionysisch-aphrodisischen Kräften der Verschwendung die profane Macht des Diskurses und der Akkumulation entgegen (den Gott der Christen und das bürgerliche Regime der Vernunft). Letzteres ist die Welt der Nützlichkeit und der Arbeit, erstere umfassen den souveränen Bereich der Muße, des Krieges, der Erotik, der Freizeit und der Opfer. Die Freizeit, die Prostitution möglich macht, ist nicht dasselbe wie Schönheit. Schönheit existiert oft zusammen mit Arbeit, und Hässlichkeit mit Freizeit. Doch nie ist Arbeit für Schönheit günstig, deren eigentliche Bedeutung darin besteht, überwältigenden Zwängen zu entkommen. Ein schöner Körper, ein schönes Gesicht erwecken das Gefühl von Schönheit, wenn die Nützlichkeit, die beide repräsentieren, sie auf keine Weise verändert hat, wenn sie nicht die Idee eines Daseins rechtfertigen, das dem Dienen gewidmet ist.131

In seinem Kommentar zum Gerichtsverfahren gegen Gilles de Rais hatte Bataille ähnlich argumentiert. Es sei „für die Mehrheit der Menschheit notwendig zu arbeiten, ebenso wie für die Privilegierten zu spielen, selbst manchmal das Spiel, einander zu töten.“ Der Schweiß, der den Massen von der Stirn rinnt, ist in den Augen des souveränen Individuums nur der Aufwand, der dem Spiel vorausgeht. „Wir neigen dazu, oft zu vergessen“, ging Bataille noch weiter, „dass das Prinzip des Adels selbst seinem Wesen nach nichts anderes ist, als die Weigerung, den Abbau, den Verfall zu erleiden, welche die unvermeidliche Wirkung der [Hand-] 129

Eliade, Das Heilige und das Profane, S. 87. Bataille, OC, S. 2:371. 131 Ibd. S. 8:126 (Hervorhebung hinzugefügt). 130

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Arbeit ist! Für die Gesellschaft von gestern, ist Arbeit auf grundlegende Weise beschämend.“132 Ein Vierteljahrhundert vor der Veröffentlichung von Maussens Essay hatte Thorstein Veblen bereits in seinem Meisterwerk Die Theorie der feinen Leute (1899) Batailles späteren Begriff „Kostenaufwand“ (dépense) voll entwickelt. In dem Werk schrieb der norwegisch-amerikanische Sozialwissenschaftler detailliert, dass die „verschwenderischen Ausgaben“ (oder den „auffälligen Verbrauch“ conspicuous consumption) unter dem Einfluss dessen stehen, was er den barbarischen Geist nannte. Doch lasen die Franzosen damals noch kein Englisch. Bekanntlich führte Veblen alle schädliche Verschwendung wie Krieg, Spiele, Spektakel, Rituale des Ausflüchte Suchens, ausgefallene luxuriöse Verschwendung, und scheinbar unerklärliche, absurde Modestile auf das Überleben archaischer, das heißt, barbarischer Züge in der modernen, von Maschinen an­ getriebenen Gesellschaft zurück.133 Mehr als 30 Jahre vor Bataille hatte Veblen den entscheidenden Übergang vom Stadium der Tierhege und des Ackerbaus unter Demeters Schirmherrschaft zur männlichen „Raub-Kultur“ des Krieges und seiner wirtschaftlichen Entsprechung, der Sklaverei, beschrieben. Welche Faktoren für diesen besonderen Übergang verantwortlich waren, wussten Veblen und sogar Bataille nicht genau, obwohl beide Autoren behaupteten, dass der Übergang einen „spirituellen Unterschied“ anzeige.134 „Bis zum Aufkommen von Krieg und Sklaverei“, schrieb Bataille, „beruhte die embryonale Zivilisation auf der Aktivität von freien, im wesentlichen gleichgestellten Mitgliedern. Doch wurde die Sklaverei vom Krieg hervorgebracht.“135 Ähnlich sprach Veblen im Hinblick auf dieses Zeitalter von „primitiver Technik“ von „Menschen ohne Vorgesetzte“ und von „Gruppen-Solidarität“.136 Doch mit Erscheinen der räuberischen Krieger wurde Arbeit zur „Last“.137 Dann betrat der moderne Mensch die Bühne. Veblen stellte ihn als einen raffinierten Werkzeugmacher vor, der seine archaische, eifrige Neigung – auch seinen Hang zu kämpfen und zu töten – auf den Erwerb von Reichtum umlenkte, aus dem dank des technologischen Wandels ein Entnahme-Überschuss hervorging. Bataille, andererseits, färbte den Bericht mit seiner üblichen Verbissenheit ein und sagte, der Mensch habe „durch den Verzicht auf seine ursprüngliche Einfachheit den todgeweihten Weg des Krieges gewählt“. Aus dem Krieg ging die Sklaverei 132

Ibd. S. 10:313. Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute, eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt a. M., 2. Aufl., 2007; vgl. z. B. Kapitel VII bis X. 134 Ibd. S. 20. 135 Bataille, OC, S. 10:602. 136 Vgl. Thorstein Veblen, Instinct of Workmanship, and the State of Industrial Arts, New York 1914, Kapitel 2, und Theorie der feinen Leute, S. 219. 137 Veblen, Theorie der feinen Leute, S. 18. 133

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hervor, die schließlich die Prostitution hervorbrachte.138 Beide Autoren stimmten überein, dass der Urantrieb des Menschen in einem sozialen Umfeld sein Wunsch nach Anerkennung, nach Status sei. Diese Feststellung wird von der anthro­ pologischen Forschung bestätigt und sie liegt der politischen Ökonomie der Gabe zu Grunde. Karl Polanyi hat das in seinem Klassiker, The Great Transformation endgültig formuliert. Im Unterschied zu den voreingenommenen Mythen des Liberalismus – die zuerst von Denkern wie Smith, Hobbes und Rousseau aufgestellt worden waren – beruht die politische Ökonomie der Gabe auf der grundlegenden und realistischen Annahme, dass das erste Element der kollektiven Interaktion die Sehnsucht des Individuums nach Anerkennung ist. Der ursprünglich wilde Zustand der Gesellschaft, hielt Polanyi dagegen, war weder von der Verfolgung der Eigeninteressen, noch von einem wohlwollenden Kommunismus, noch von einem Zustand des Krieges des Menschen gegen den Menschen gekennzeichnet.139 Auch ein russischer Hegelianer namens Alexander Kojève teilte diese Über­ zeugung. Er ging von analogen Voraussetzungen aus, um eine eigenartige Interpretation des deutschen Idealismus auszuarbeiten. Dieser russische Emigrant sollte sich in den dreißiger Jahren bei den Intellektuellen von Paris einen Namen machen. Seine Kurse über Hegel an der Sorbonne besuchte ein ihm ergebener Kreis von Anhängern. Dem gehörte auch Bataille an. Kojèves Arbeit wurde auch für eine Randgruppe konservativer Gelehrter in Amerika zu einer Quelle der Inspiration. Ihr stand ein anderer Emigrant, Leo Strauss, vor. Diese interessante Kreuzung brachte einen ganz anderen Ableger im Bereich der Postmoderne hervor. Mit ihm werden wir uns in einem eigenen Kapitel (Kapitel 8) befassen. Beim Thema Verschwendung wird man zwangsläufig bald auf Götter zu sprechen kommen. Bei Veblen war dies ein egalitärer, feministischer und kommunistischer Demeter-Kult, dessen Behandlung unter Veblens Verachtung für den launischen Animismus und seiner Leidenschaft für Maschinen litt. Denn bei der Ermittlung der Hauptantriebskräfte der verschwenderischen Stimmungen kam Veblen nicht umhin, Begriffe wie „Geist“ oder „Genie“ zu bemühen. Interessanterweise fand er, wie Bataille, überhaupt kein Gefallen an dem „rachsüch­ tigen Gott der Schrift“ (z. B. Jehova oder Allah), den er ohne Hintergedanken einer der höchsten und abstoßendsten Formen der Barbarei zuordnete. Würde er aber mit den anatomischen Geheimnissen des Dionysos, und mit Batailles und de Sades Prinzip der Souveränität konfrontiert worden sein, hätte Veblen aller Wahrscheinlichkeit nach sprachlos reagiert. Dieser Sohn skandinavischer Einwanderer glaubte leidenschaftlich an die Handwerksethik, an die Eleganz und Wahrheit der Wissenschaft, an ästhetische Gradlinigkeit und an die „Fülle des Lebens“. Ihm wäre Bataille mehr als geschmacklos, nämlich als äußerst abgründig vorgekommen. Veblen war einer der genialsten Sozialwissenschaftler der Neuzeit (auf ihn 138

Bataille, OC, S. 10:603–4. Karl Polanyi, The Great Transformation, The Political und Economics Origins of Our Time, Boston 1957, S. 48–58. 139

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kommen wir in den Kapiteln 7 und 9 zurück). Er glaubte auch nicht, wie alle Viktorianer, an den Teufel. Satan und die Weiße Göttin konnten für ihn nur der primitive Ausdruck eines abergläubischen, „unausgegorenen Animismus“ sein. Wie wir sahen und Gelegenheit haben werden, es zu wiederholen, hat Bataille nicht die Existenz der barbarischen Götter anerkannt, sondern nur eine diony­ sische Macht einerseits und eine moderne, degenerierte, rationale Übernahme dieser ursprünglichen, wilden Macht andererseits. Souveränität ist Barbarei. Wenn eine ganze Zivilisation auf der Grundlage einer solchen Usurpation der „Urkraft“ errichtet wird, ist das Ergebnis, so dachte Bataille, die Grundlage der eigentlich modernen Gesellschaft: Gott und Bürokratie wird in dieser Kategorie durcheinander gewürfelt. Da Veblen seine wissenschaftliche Auseinandersetzung im Namen eines universellen Mitgefühls, der Arbeiterschaft, der Gleichheit, des Friedens und der Erhaltung des Lebens geführt hatte, ist seine Vision mit derjenigen von Bataille unvereinbar. Jedoch lässt sich sagen, dass Bataille die Untersuchungen Veblens durch das Studium der Ökonomie der monströsen Archonten ergänzt, die Veblen aufgrund seines materialistischen Aberglaubens gänzlich ignoriert hat. In diesem Sinne ist Bataille Veblens finsterer Doppelgänger. „Die Gabe“ schrieb Bataille, „ist nicht die einzige Form des Potlatsch. Es ist genauso möglich, den Konkurrenten durch spektakuläre Zerstörung von Reichtum zu trotzen. Erst durch die Vermittlung der letztgenannten Form gerät der Potlatsch in Verbindung zum religiösen Opfer, wobei die Akte der Zerstörung theoretisch den mythischen Vorfahren der Begünstigten dargeboten werden.“ Aus dem Buch von Mauss zitiert Bataille in diesem Zusammenhang das Beispiel eines Häuptlings, der als wilden Ausdruck dessen, dass er anderen eine Nasenlänge voraus sei, mehrere Sklaven aus seinem Gefolge herbeirief und seinem Genossen dadurch Referenz erwies, dass er den Sklaven vor diesem die Kehle durchschnitt.140 Bataille hielt diese „Spende“ für viel bedeutsamer als Beschenkungen in Reihenfolge. Sie veranlasste ihn, die Angelegenheit neu zu definieren. Die Gabe muss als Verlust und damit als teilweise Zerstörung betrachtet werden: Der Zerstörungswunsch wird zum Teil auf den Empfänger übertragen: In ihren unbewussten Formen, wie sie die Psychoanalyse beschreibt, symbolisiert die Gabe die Ausscheidung, die selbst mit dem Tod gebunden ist und dem grundlegenden Zusammenhang von AnalErotik und Sadismus entspricht.141

Inzwischen ist Batailles Methode transparent geworden: Sie besteht darin, traditionell heilige Symbole herauszugreifen, sie eins nach dem anderen zu schänden, ihr Verständnis zu verzerren und sie schließlich noch als Profanitäten der „umfassenden Kleinkariertheit“ der Bourgeoisie abzutun. Auf diese Weise vermischt er absichtlich wieder das Mittelklasse-Gefühl mit traditioneller Religiosität.142 Schließlich hat Bataille den Begriff des Kostenaufwands in seinem Buch 140

Bataille, OC, S. 1:309. Ibd. S. 310. 142 Ibd. S. 314. 141

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„Der verfemte Teil“ (La part maudite) theoretisch breiter ausgeführt. In diesem wichtigen Spätwerk, das er für sein erfolgreichstes hielt, erweiterte er den allgemeinen Begriff der Verschwendung durch die ausführliche Beschreibung der daran beteiligten Machtstruktur. Zunächst unterschied er zwischen heterogenem (widerstrebendem) und homogenem (gleichgeschaltetem) Verhalten. Das „heterogene“ Verhalten – ein weiteres Konzept, das er sich bei de Sade ausgeliehen hat – ist nur ein Synonym für „Souveränität“: Es ist die religiöse Akzeptanz der zusammengesetzten Persönlichkeiten, der dualen Natur des Menschen (nett und doch auch wild), sowie eine stolze Zustimmung zu dieser spirituellen Schizophrenie, die schließlich sogar hochgehalten und als Quelle unmenschlicher Kraft begrüßt wird. So verstanden ist die KriegerGesellschaft der Azteken mit ihrer Durchführung des Brandopfers ein gutes Beispiel eines heterogenen Regimes. Den Gegensatz dazu stellt die „homogene“ Gesellschaft dar: das heißt, die zeitgenössische soziale Organisation der Bourgeoisie, mit ihrer „schrecklichen Heuchelei“143 und „Gier“, deren Prinzip eine alles verzehrende „Angst vor dem Tod“ ist.144 Homogenität ist die Bezeichnung für eine neue spirituelle Kraft. In Batailles Theorie markiert sie den Anbruch der neuen mechanischen Epoche. Die Grundlage gesellschaftlicher Homogenität ist die Produktion. Eine homogene Gesellschaft ist eine produktive, das heißt, eine utilitaristische Gesellschaft. Alle nutzlosen Gebrauchsgegenstände sind ausgeschlossen, nicht aus der Gesellschaft als Ganzer, sondern aus ihren homogenen Bestandteilen.145

Bataille hat es gesagt: Die Moderne wurde auf Sklavenarbeit errichtet. Deshalb ist Produktion zusammen mit den ihr zugehörigen Untermenüs (Sparen und Investitionen) eigentlich die Sache von Sklaven, niemals von Kriegern. Erstere schwitzen für Letztere. Daraus folgt, dass die Mentalität der sparsamen Mittelklasse eine servile ist. Industrieller Reichtum, den die Welt derzeit genießt, ist das Ergebnis der tausendjährigen Mühsal versklavter Massen, der unglücklichen Viel zu Vielen.146

Mit Freude beobachtete Bataille die regelmäßige zur Schaustellung der Im­ potenz des Kapitalismus, nämlich wenn er zyklisch gezwungen ist, die Ernte zu verbrennen, um die Profite zu retten. Dies zeigte ihm nur den miserablen Umgang einer homogenen Gesellschaft mit dem Überfluss der Natur (le trop-plein). Es scheint, dass wir nur zu viel zur Verfügung haben, überlegte Bataille. Trotz des schamlosen Verbrennens von Weizen und Orangen, und der Versenkung von Gütern auf den Grund des Ozeans, um die Preise am Markt hoch zu halten, gibt es bei ihm keinen Widerstand gegen das Übel, dass der Überschuss, der Fluch die 143

Bataille, La part maudite, S. 38. Bataille, OC, S. 7:211, 217. 145 Ibd. S. 1:340. 146 Ibd. S. 10:604. 144

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ser Quoten-Überschreitung unweigerlich der orgiastischen Vernichtung zugeführt wird. Dionysos und Diaphoene nehmen sich immer das ihnen Gebührende. Wieder schien Bataille anzudeuten, man solle sich in diesen Zustand ergeben. Auf seine Azteken-Romantik zurückkommend schrieb Bataille, das Übermaß an Menschen, Tieren, Pflanzen, Lebensmitteln und Leben gehe auf die „strahlende Sonne zurück, die ohne Entschädigung austeilt“.147 Die eigentliche Gabe ist „die unaufhörliche Verschwendung“ der Sonne: die auslösende Einstrahlung der Solarenergie, die durch Opfer ausgeglichen wird. Daraus ergibt sich kein positiver Kreislauf, kein wiederkehrendes, stabilisierendes Wachstum. Für Bataille kann der Überschuss nur durch Blutvergießen unterdrückt werden: so hatten die Azteken die solare Spende durch die Liquidierung der „Überbevölkerung“ auszugleichen. Und so geschieht es in der Regel mit Kriegen, Massakern und Zerstörungen aller Art. In der traurigen Sichtweise Batailles verlangt der verfluchte Überschuss an Leben letztlich durch einen blinden Akt der Gewalt wieder vernichtet zu werden. Der Überschuss ist ein „verfemter Teil“, eher eine Verdammnis als eine Wohltat, er ist Kot, eines jener göttlichen Sekrete, das als Initiationsschritt der schrecklichen Kulte den Archonten geheiligt und verbraucht werden muss. Bataille gesteht zu, dass wir alle von dieser verhängnisvollen Angst vor der „Bewegung des Verfalls“ tiefgreifend erschüttert werden; „die Folgen davon sind von Anbeginn quälend“.148 Doch scheint es kein Entkommen zu geben – kein Entkommen vor dem Geopfert-werden und dem Leiden. Dies ist die Ökonomie der Tragödie. Die Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit wird von dem gewaltigen, aber enttäuschenden Versuch räuberischer Menschen geprägt, der Erde ihre Reichtümer zu entreißen. Die Erde wurde ausgeweidet. Doch was die Menschen aus dem Inneren ihres Magens herausgeholt haben, ist vor allem Eisen und Feuer, mit denen sie sich unaufhörlich gegenseitig ausnehmen. […] Die Erdmutter ist die alte chthonische Gottheit geblieben, aber mit den Menschenmassen hat sie auch den Herrn des Himmels mit einem unaufhörlichen Aufruhr gestürzt.149

Veröffentlicht nach dem Zweiten Weltkrieg löste Der verfemte Teil schließlich eine Diskussion über den Marshall-Plan aus. Das Buch war zwar kryptisch geschrieben, ließ aber keinen Zweifel an seinen (nicht so geheimen) Absichten und (perversen) Erwartungen. „Sein Erfolg“, schrieb er listig über den Marshall-Plan, war verbunden „mit dem Anstieg des Niveaus der Sozialhilfe [und] einer ernsthaften Neupositionierung der sozialen Existenz. […] Blind legt [Präsident] Truman heute den Grundstein für die ultimative, heimliche Apotheose.“150 Mit anderen Worten, Bataille fürchtete das Geschenk, aber er fühlte 1948 keinerlei Angst vor Amerikas imperialem Plan, ein verwüstetes Europa durch einen sehr eigennützigen und ziemlich armseligen Zuteilungs-Plan in seinen Einzugs­ 147

Bataille, La part maudite, S. 66. Ibd. S. 76. 149 Bataille, OC, S. 1:472. 150 Bataille, La part maudite, S. 224–5 (Hervorhebung hinzugefügt). 148

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bereich zu ziehen. Dieser Plan belief sich auf unter zwei Prozent des amerikanischen Brutto-Inlandprodukts und umfasste somit weniger als den Aufwand für den jährlichen Alkohol-Konsum der USA im Jahr 1947. Fast erfreut schien sich Bataille für den großen imperialen Feldzug der USA gewappnet zu haben, der vom liberalen Truman „blind“ in Gang gesetzt wurde und die „ultimative, geheime Apotheose“ vorbereitete: Das Versprechen eines unsagbaren Gemetzels, das die neuen Mittel der industriellen Produktion und die Atombombe zu gewährleisten schien. Die obszönen Archonten würden dieses unweigerlich als ihre verfemte Gebühr vereinnahmen. Dionysos liebt trotz allem die liberale Ordnung. Hoffte Bataille damals etwa auf den endgültigen nuklearen Holocaust? Wer weiß. Es liegt etwas Beängstigendes im Schicksal der Menschheit, etwas, das schon immer an der Grenze des uneingeschränkten Alptraums stand, das von der immer moderneren Bewaffnung und durch die Atombombe eingeläutet worden ist.151

Macht Gewalt, Missverhältnis, Delirium, Wahnsinn charakterisieren zu einem unterschiedlichen Grad die heterogenen Elemente: als Einzelpersonen oder als Masse beteiligen sie sich aktiv daran, die Gesetze des sozialen Zusammenhalts (Homogenität) zu brechen. […] Heterogene Realität schockiert mit einer unbekannten und gefährlichen Macht. Sie stellt sich als eine Ladung, als einen Wert dar, der mehr oder weniger willkürlich von einem Objekt zum nächsten übergeht. […] Während die Struktur des Wissens in einer homogenen Gesellschaft die Form der Wissenschaft annimmt, lässt sich leicht feststellen, dass das Wissen in einer heterogenen Gesellschaft statt dessen in der mystischen Vorstellung der Primitiven und in Traumbildern entdeckt wird: Es deutet auf die Struktur des Unbewussten hin.152

Diese Passage umreißt Batailles Theorie der Macht. Eine echte Sozialwissenschaft beschäftigt sich mit der kollektiven Dynamik der sozialen Aggregate, der Gruppen. Aus diesem Blickwinkel ist das Verhalten von Individuen insoweit signifikant, als es sich in ein kohärentes Ganzes einschreibt. „Insoweit“ soll heißen, als man in ihm die einzigartige Reflexion eines Herdentriebs erkennt. Menschen lassen sich in der Tat von Kräften wie Meinungen, religiöser Inbrunst, Waldfesten, solarer Euphorie, Kriegsbegeisterung und dergleichen beeinflussen. Diese Kräfte waren weit stärker und qualitativ verschieden vom bloßen Instinkt, von psychologischen Reflexen, die kurzfristig unsere alltägliche Tätigkeit bestimmen, und die wir für das A und O der Wechselfälle unseres Lebens halten. Es gibt beeindruckende Wellen der kollektiven Organisation, die uns ins­ gesamt miteinander in eine geordnete Bewegung versetzen, wie bei einem Bienenschwarm – dessen summendes Wogen Bataille anspricht153 – oder wie bei einem Schwarm von Fischen. 151

Bataille, OC, S. 12:515. Ibd. S. 1:347. 153 Ibd. S. 5:99. 152

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Ist die Gesellschaft ein Wesen? ein Organismus? Oder ist sie nur eine Anhäufung von Individuen?154

Als eine exoterische Frontorganisation seiner geheimen Bruderschaft, der Acépahle, konzipiert Bataille die Gründung einer wissenschaftlichen Einrichtung. Sie sollte aus einem Team von Forschern und Literaten bestehen, deren Aufgabe es sein sollte, Forschung zum Thema soziale, kollektive Bewegungen zu betreiben.155 Er nannte das Unternehmen Kollegium der Soziologie. Sein Lehrplan sollte eine Reihe von Seminaren umfassen, die zwischen 1937 und 1939 an mehreren Stellen in Paris stattfinden sollten. Die programmatischen Vorträge, die Bataille für diesen Anlass entworfen hatte, enthielten nahezu das Ganze seiner einflussreichen und betörenden sociologie sacrée (heiligen Soziologie). Die heilige Soziologie kann als Studium nicht nur der religiösen Institutionen, sondern der Gesamtheit der kommunalen Bewegung der Gesellschaft betrachtet werden.156

Wie im vorherigen Abschnitt detailliert dargestellt, unterscheidet Bataille zwei Hauptantriebe des kollektiven (sozialen) Verhaltens in der heutigen Welt, nämlich Heterogenität und Homogenität. Erstere wird gespeist aus der Macht der inneren Erfahrung und der Gemeinschaft mit dem „Bösen“, während letztere den verdrießlichen Bereich der rationellen Produktion und der Verbote umfasst. Ein Tauziehen erfolgt zwischen den beiden Kräften. „Die heterogene Sache“, warnte Bataille, ist „mit einer unbekannten und gefährlichen Kraft aufgeladen“.157 Stellen Sie sich nun die Heterogenität als eine heiße Unterströmung vor, die durch ein System von Metallröhren zirkuliert und periodisch genügend Druck aufbaut, um an den Verbindungsstellen herauszusprühen und diese aufzubrechen. Die Vorstellung legt ferner nahe, dass diese nebulöse, heterogene Strömung ein subver­ sives Ziel haben könnte, dass sie in der Tat die Rohre so gründlich korrodieren lässt, dass sie mit Gewalt herausspritzt, sodass das heilige Fluidum schließlich das gesamte System überflutet. Die Entfesselung der Leidenschaften ist das einzig Gute. […] Von dem Moment an, an dem die Vernunft nicht mehr göttlich ist, von dem Moment an, an dem es keinen Gott mehr gibt, gibt es auch nichts mehr in uns, das als gut bezeichnet zu werden verdient, wenn nicht die Entfesselung der Leidenschaften.158

Die Unterströmung ist „die Entfesselung der Leidenschaften“ nach der heiligen Vorgabe der Archonten. Für Bataille gilt, dass sie die einzigen übriggebliebenen Götter sind und es unsere Pflicht ist, ihnen durch die zugewucherten Pfade un­seres drückenden Mittelklasse-Labyrinths den Weg zu bereiten.

154

Ibd. S. 1:291. Surya, Bataille, S. 318. 156 Bataille, OC, S. 1:291. 157 Ibd. S. 346. 158 Ibd. S. 7:323. 155

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Wie soll man die Rohre korrodieren, die homogenen Gesetze brechen und die heilige Wut entfesseln? Mit Hilfe des „Projekts“, mit Worten und Gelächter. Das ganze Dasein, soweit es Menschen betrifft, ist in besonderer Weise an Sprache ge­ bunden. […] In seiner [private Existenz] kann Sein nur durch Worte vermittelt werden, die es als „autonomes Wesen“ nur willkürlich aber grundlegend nur als „Sein im Zusammenhang“ hervorbringen kann.159

Nach Bataille spricht niemand nur für sich selbst. Menschen sind angeschlagene Ventile, verklemmte Druckventile am System, durch das die heilige Energie der Gewalt strömt. Jedoch können die Worte so geordnet werden, dass sie eine Sprache bilden, die für alle gemeinsam verständlich sein kann. Wenn ein Individuum diese besondere gemeinsame Sprache spricht, sollte es erkennen, dass es nur „ein Partikel in einem unstabilen und durcheinander gebrachten Gefüge ist“.160 Sich selbst zu erkennen, ist nach Bataille, sich im Wissen anderer zu verlieren. Man stürzt sich in ein „Labyrinth aus einer Vielzahl von Erkenntnissen (connaissances), mit denen Lebensäußerungen und Phrasen ausgetauscht werden können“. In dem Labyrinth ist der Mensch ein „Satellit“, ein „peripheres Element, das um einen Kernbereich, in dem das Dasein sich verdichtet, gravitiert“.161 Konkrete Beispiele der eigentümlichen Redeweise, die im „Labyrinth“ gepflegt wird, können den poetischen Ergüssen Batailles entnommen werden. In allen diesen Stücken einer delirienhaften Prosa verschwinden die Grenzen und schwelgt man in zerfließenden Bildeindrücken und in für de Sade typischen Übungen ausgesprochener Verworfenheit. Es scheint, Bataille wollte den Leser einladen, sich darin zu versuchen, den Horror so anzunehmen, niederzuschreiben und auszusprechen, wie man eine neue Fremdsprache lernt. Foucault sollte es auf diesem Gebiet zu höchster Beredsamkeit bringen. Es handelt sich auch um eine Einladung, unter Genossen ähnliche Erfahrungen auszutauschen. Dabei soll jedes Empfinden für das eigene Selbst in etwas Fremdes hinein verschwunden sein, nämlich in jene Welt des schwarzen Heiligen, die Bataille in seiner gesamten Produktion zu ergründen versucht hat. Ich schreibe, um meinen Namen auszulöschen.162

Von grundlegender Bedeutung ist die Erwähnung des „Kerns“ (le noyau). Der „Kern“ oder „soziale Kern“ ist „ein Gefüge von Objekten, Orten, Glaubens­ systemen, Personen und Verhaltensweisen mit einem heiligen Charakter“, das zu einer speziellen Gruppe von Individuen und zu keiner anderen gehört. „Der soziale Kern ist in der Tat tabu, unberührbar und unsagbar, er hat von Anfang an

159

Ibd. S. 1:436. Ibd. S. 437. 161 Ibd. S. 438 (Hervorhebung hinzugefügt). 162 Zitiert nach Surya, Bataille, S. 114. 160

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Teil an der Natur der Leichen, des Menstruationsbluts oder der Parias.“163 Somit nahm Bataille an, dass es ursprüngliche Glaubenssysteme einer höllischen (ent­ arteten) Natur von Todeskulten, die von einem Kern belebt werden, gegeben hat; er behauptete das ausdrücklich im Zusammenhang mit der Heterogenität. Das richtige Aufsagen besonderer Gebete und Mantras von bestimmten Personen an bestimmten Orten bringt die großen Wellen der kollektiven Beteiligung in Gang. Die Wellen brechen aus diesem Kern hervor. Sie gestalten die bizarren geometrischen Verschachtelungen wie jenes „Labyrinth des Wissens“, in dem sich die Gläubigen sammeln, sich verlieren und als Ergebnis eine gemeinsame Überlieferung teilen. Diese Überlieferung vermittelt durch Worte die Vielzahl an inneren Erfahrungen, welche die Teilnehmer dazu beigetragen haben. Bataille hat den Kern als gegeben hingenommen: Er ist dort immer vorhanden. Von dem Moment an, an dem zwei Wesen in seinen „schrecklichen“ Orbit eintreten, werden sich ihre gegenseitigen Beziehungen stark verändern, und sie werden durch die Energie, die aus dem Kern ausströmt, ständig geläutert.164 Der Kern übt die doppelte Bewegung von Anziehung und Abstoßung aus, „welche die einmütige Anhänglichkeit [der Gläubigen] in respektvollem Abstand hält“. Gemeinschaft wird durch die sich rasch steigernde Bewegung eines „anfänglichen Gelächters erreicht, das durch das ständige Austreten spezifischer Energie angeregt wird, von heiligen Kräften, die aus diesem zentralen Kern hervorgehen“.165 Das von Bataille beschriebene Phänomen ist modernen Menschen nicht unbekannt. Sie erleben häufig ein schwaches Echo dieser Mächte der heiligen Ausstrahlung, wenn sie sich dabei ertappen, auf starke, „grafische“ Bilder (sei es Pornographie, Slasher-Filme oder Todesszenen auf dem Bildschirm) oft mit Lachen zu reagieren – sie lachen, um sich zuerst dem packenden, jedoch schwindelerregenden Sog, den diese Bilder auf sie ausüben, zu entziehen. Dies ist im Keim eine theoretische Darstellung der Liturgie, die notwendigerweise hinter allen „tragischen“ Ritualen und Zeremonien wirkt, die zu Ehren der Gottheiten vollzogen wird und Blutvergießen in Form eines verbrecherischen Tabubruchs verlangt.166 „Blut“, sagte Jünger, „hat seine eigenen Gesetze. Es ist un­ bezähmbar wie das Meer“.167 Die alten souveränen Imperien mögen verschwunden sein, doch Bataille glaubte immer noch, dass für den Menschen nichts wichtiger ist, als „sich als jemand zu erkennen, den das, was ihn am meisten entsetzt, fesselt“.168 Auf die eine oder andere Weise müssten diese heterogenen Gebete wieder evoziert werden. Bataille durchforschte die Vergangenheit nach der Entwicklung des „Kerns“ und gelangte zu der Auffassung, dass dann, wenn „eine Ansammlung durch Zentralität geprägt ist, wie in den primitiven und feudalen Gesellschaften, sie noch eine Bewegung in Richtung Machtkonzentration aufweist. Diese ist 163

Bataille, OC, S. 2:310. Ibd. S. 311. 165 Ibd. S. 331. 166 Ibd. S. 331. 167 Jünger, Eumeswil, S. 248. 168 Bataille, OC, S. 2:319. 164

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[selbst] an die Bewegung gebunden, die sich um heilige Dinge dreht. […] Es ist die Macht, welche die Polizeikräfte hervorbringt, und nicht die Polizei, welche die Macht schafft.“169 Bataille wurde verständlicherweise sehr von den KriegerGesellschaften angezogen und zwar nicht nur von den Azteken oder den Kannibalen Melanesiens, sondern auch und vor allem, von den stolzen Rittern des christlichen Mittelalters. Das mittelalterliche Europa mit seinen getrennten Ansammlungen von heiliger und militärischer Macht und seiner Hingabe an das Schwert leuchtete wie der feurigste Rubin im großen Buch der souveränen Geschichte. Doch handelte es sich bereits um eine dekadente Phase dieser Geschichte. Die Sonne ging über einem Gilles de Rais unter. In diesen Gesellschaften konnte sich „der Kern“ an ihrer Integrität beobachten lassen: Er wurde fest und rundum in den Händen einer Priester-Krieger-Kaste gehalten. Militärische und religiöse Gewalt sollten sich zusammengetan haben, um eine stabile Konfiguration der Macht zu bilden: Macht reift, wenn religiöse und militärische Autorität im Körper eines einzelnen Führers zusammenfallen, der sie souverän über die Köpfe der Menschen hinweg, wenn nicht sogar gegen sie, ausübt.170 Dann kam es zu einer außerordentlichen Dynamik: „Zu diesem harten Kern der Macht kommt eine Formation hinzu, die von ihr abgeleitet ist, ihr aber äußerlich bleibt.“ Diese seltsame „Formation“ war in der Lage, aus dem Kern alle Energie abzusaugen, die sie benötigte, um sich in Maßnahmen außerhalb der Sphäre des Kerns zu engagieren. Diese Usurpation, „diese fatale Veränderung der kollektiven Bewegung“, wie Bataille sie kennzeichnete, hat der Macht ihre neue, und heute vorherrschende Form gegeben. Zwischen „der kreativen Bewegung der heiligen Formen“ und diesem neuen Protagonisten kam es plötzlich zu einer Konfrontation: das Heilige empfand „eine tiefe Abneigung“ gegen alles, was diese neuartige politische Realität „aus Gründen der Erhaltung“ in sich aufnahm.171 Mit anderen Worten, es gab in der Geschichte einen Punkt, an dem die alten souveränen Imperien die Geburt und die Übergriffe der modernen Staaten zu erleiden hatten. Der moderne Staat kam zur Herrschaft durch Gesetze, und zwar nicht durch solche der erotischen Pracht, sondern durch solche der Sparsamkeit und kapitalistischen Akkumulation. Das bürgerliche Ethos wollte im Gegensatz zum souveränen eher erhalten als ruinieren. Das war, kurz gesagt, Batailles Prolog zu einer allgemeinen Theorie der Entstehung der Moderne. Er definierte schließlich als „Macht“ das, was Max Weber zum Beispiel als den „Geist des Kapitalismus“ oder als die „bürokratisch, zweck­ rationale Rationalität“172, Thorsten Veblen als „den maschinellen Prozess“173,­ 169

Ibd. S. 336. Ibd. S. 341. 171 Ibd. S. 342–3. 172 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1922 [1905], und Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, Teil III Kap. 6, S. 650–78. 173 Thorstein Veblen, The Theory of Business Enterprise, New York, 1904, S. 196–244. 170

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Rudolf Steiner als den „ahrimanischen Geist“174, Marx als das „Kapital“, Polanyi als die „große Transformation“, Werner Sombart als den „bürgerlichen Geist“175, Ernst Jünger und Martin Heidegger als den „Nihilismus“ (siehe Kapitel 8) und René Guénon (dessen Bericht interessanterweise dem von Bataille am nächsten kommt) als „weltliche Macht“176 oder als „die Herrschaft der Menge“177 identifizierten. Der Aufstieg des „Mechanischen Zeitalters“ bildet die große Kluft im kollek­ tiven Gedächtnis der westlichen Kultur. In den letzten 150 Jahren hat sich der Westen in der Tat einer großzügigen Mechanisierung unterzogen, nicht nur bezüglich seines wirtschaftlichen Stoffwechsels, sondern auch seines kollektiven Geistes – alles ist nun Zahl, Regel, Disziplin, Stahl und Glas, Kosten und Nutzen, Routine und Zeitplan. Der Lebensnerv der Menschen wurde in ein Gitter eingesperrt. Für Bataille stellte sich „Macht“ also als die „fatale Veränderung der kollektiven Bewegung“ dar, welche die Krieger-Könige mit Hilfe eines Verwaltungsapparats aus dem Kern herausgedrängt hat. Wahrscheinlich ist Macht die institutionelle Vereinigung der heiligen Kraft mit der militärischen Macht (puissance) in einer einzigen Person, die sie zum persönlichen Vorteil und damit zum ausschließlichen Vorteil der Institution ausübt.178

Macht ist, mit anderen Worten, das institutionelle (und historische) Ergebnis eines Prozesses der Aneignung: Die souveränen Tempel der Altvorderen wurden geplündert und die heilige Kraft, die sie beschützten, wurde zum ersten Mal von den Königen des Mittelalters angetastet, bevor sie sich in den stählernen Apparat der heutigen Bürokratie eingeschlossen und verhärtet vorfand. Im Mittel­alter fand dieser Dualismus in den Begriffen „geistige und weltliche Macht“ seinen Ausdruck. Nach Bataille machte die durch diese Trennung geschaffene Unruhe den Weg für die obsessive Darstellung der Opferung des Königs frei. Diese dürfte in der quasi industriellen Herstellung von Kruzifixen und Darstellungen des ans Kreuz geschlagenen Gesalbten/Königs (Christus) in katholischen Werkstätten nacherlebt werden.179 Heterogenität spaltet sich in ein Ethos des Herren und ein Ethos des Sklaven, und beide Ethiken sind miteinander unvereinbar.

174

Rudolf Steiner, Das Mysterium des Bösen, Stuttgart 1993. Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, Berlin 1913. 176 Für Guénon ist das Königtum, „um die Macht des gesamten Adels zu ‚zentralisieren‘ und auf sich zu vereinen, in den Kampf mit dem Adel eingetreten und arbeitete unermüdlich auf die Zerstörung eben des Feudal-Systems hin, aus dem es selbst hervorgegangen war. Es konnte dies nur mit der Unterstützung des dritten Standes wagen […]. Ebenso ist die Phrase ‚Staatsreligion‘ eine bewusste Zweideutigkeit und bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass die Religion von der weltlichen Macht benutzt wird, um ihre eigene Herrschaft abzusichern. Die Religion wird auf kaum mehr als einen Faktor der sozialen Ordnung reduziert.“ (René Guénon, Spiritual Authority und Temporal Power Ghent, NY 1929, S. 59, 61). 177 René Guénon, The Reign of Quantity and the Sign of the Times, New York 1972 [1945]. 178 Bataille, OC, S. 2:342. 179 Ibd. S. 345, 346. 175

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Bataille spekulierte: Während der Zustand des Sklaven dem Dreck entspricht, in dem er zu leben verdammt ist, arbeitet der Herr daran, das Gesindel von seinem Herrschaftsbereich fernzuhalten. Der Akt des Ausschlusses – den Bataille „politische Souveränität“ nennt – „tritt zunächst als sadistische Aktivität in Erscheinung, die deutlich differenziert ist“. Mit anderen Worten, der Herr macht seiner instinktiven Abneigung gegen den Abschaum durch sadistische Grausamkeiten Luft, wie in den „Blutorgien“ des Gilles de Rais. Er könnte dafür auch sublimere Ausdrucksformen finden. Auf diesem Weg gelangte der Sadismus „in einer großen Zahl von religiösen Einstellungen zur glänzenden Reinheit (pureté eclatante)“. Im Allgemeinen und im Laufe der Zeit wählte „die königliche Befehlsgewalt“ einen Kompromiss, indem sie unreine Heterogenität durch homogene Maßnahmen verdrängte: Durch Umerziehung, milde Strafen, kurz, durch Lebenserhaltung.180 Eroberungskriege gegen das Ausland wurden nun zur bevorzugten Form aller „sublimierten Ausdrucksformen“. Es ist also so, dass sich die zerstörerische Leidenschaft (Sadismus) der Befehlsinstanz im Prinzip entweder ausschließlich gegen ausländische Gesellschaften richtet, oder gegen die elenden Klassen, also gegen all die internen und externen Elemente, die der Homogenität feindlich gegenüber stehen.181

Batailles allgemeine Theorie der Macht kann mit einer sozialen Kartierung des komplexen Zusammenspiels dreier Kräfte verglichen werden: der Souveränität der Priesterkönige, der Wut des Pöbels und der sich herausbildenden, nivellierenden Macht der homogenen Moderne. Ein solches Modell erlaubt es, die Entwicklung der Gesellschaften von ihren heiligen Anfängen bis zu ihren späten institutionellen Arrangements zu charakterisieren. Solche Arrangements lassen sich am heutigen Großbritannien veranschaulichen, das die fatale „Veränderung“ auf seinem Weg vom Königtum zu einer liberalen / industriellen Demokratie veranschaulicht, die von der ausgehöhlten Souveränität des Buckingham Palace gekrönt wird und in den Abschaum der Hooligans ausartet. Seine Theorie ist auch deshalb von Gewicht, weil sie faszinierende Rückschlüsse auf den gegenwärtigen Krieg Ame­rikas gegen den Terror (siehe Kapitel 8 und 9) erlaubt, und vor allem, weil eben dieser Einblick in die Evolution der Macht der Gedankenblitz ist, den Foucault stehlen und als seinen eigenen ausgeben wird. Was ist „Macht“ in einem modernen Umfeld? Es ist ein autoritärer Alptraum, wie derjenigen, den sich Dostojewski in der Geschichte vom Großinquisitor ausgedacht hat. Im Leben, sagte Bataille, nimmt Macht die Form eines Regimes an, das, wenn es von der „[heiliger] Kriminalität bedroht wird, [die dionysische Raserei] durch die Beschwörung der Gegendrohung mit der Axt der Schergen zu lähmen versucht: Macht ist die einzige Kraft, die blind versucht, Verbrechen auf der Erde auszurotten, wenn tatsächlich alle religiösen Formen von ihm (dem Verbrechen)

180 181

Ibd. S. 1:351–3. Ibd. S. 353.

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durchdrungen sind.“182 Im Bemühen, die Religionsausübung von allen kriminellen Aktivitäten zu reinigen, argumentiert Bataille, hat die Macht allmählich den Weg für den „Rationalismus“ freigemacht und bei diesem Vorgang die Solidität seiner einstigen heiligen und militärischen Autorität verspielt. Auf diese Weise haben die Krieger, die souveränen Imperien von einst, eine Veränderung, ein Verkommen ihrer ursprünglichen Energie erlitten. Diese ist stattdessen zu einem starren, eisigen, ministeriellen Organ geronnen: Zum Staat. Der „Staat“ ist das profane und „feige“ Instrument der Philister der bürgerlichen Mittelklasse – der aufkommenden und sich durchsetzenden Klasse der modernen Epoche. Sie ist „feige“, weil sie „zu interessiert“, zu habgierig ist, das für sie vorteilhafte Leben zu erhalten, und weil sie nicht den Mut hat, dem Verbrechen oder dem Tod ins Auge zu sehen.183 Das moderne liberale Regime hat die Todesstrafe zu einem sterilisierten Akt gemacht, den sie dadurch handhabt, dass sie das Verbrechen und die Verbrecher aus dem System hinausdrängt. Auf die gleiche Weise entfernt die homogene Gesellschaft, wie gezeigt, alle menschlichen Ausscheidungen und die gleichartige Menge an Müll und Ungeziefer aus ihrem desinfizierten Apparat. Sie ist nicht in der Lage, das heterogene, heilige Material des ursprünglichen Kerns zu assimilieren, nämlich „den Mob, Kriegerkasten, Aristokraten und Rüpel, Gewalttätige wie Verrückte, Monster, Dichter, etc.“.184 Dieses turbulente Herumwerfen mit religiösen Gefühlen, politischen Verschiebungen und geistigen Streitereien lief auf drei Haupttypen des Menschen hinaus. Sie inspirierten Bataille, ihnen ein Trip­tychon zu malen: (1) den bewaffneten Großkotz (butor), (2) die tragische Figur, und (3) den Mann des Rechts und des Diskurses. Der „butor“ ist der moderne Tyrann: Ein grobschlächtiger Typ, der mit Gewalt alles, was ihn berührt, nach „außen“ ableitet. Der Tod ist etwas, das ihn nur von außen amüsiert, etwas, das nur dem Feind vorbehalten bleibt. „Butor“ das sind die großspurigen Condottiere von Gilles de Rais bis hin zu Mussolini. Man könnte andererseits auch sagen, dass Lyndon Johnson oder Bush II. nur schwache Ab­ bilder dieser Archetypen sind, zu denen sie das Fernsehen gestaltet. Die tragische Figur ist eine, die sich statt dessen mit der Gewalt im Leben abgefunden hat; die dem Gestank ihres Zerfalls und der Brühe ihrer Fäulnis nicht aus dem Wege geht. Sie ist das souveräne Individuum. Sie ist Bataille selbst, und­ Foucaults Rollenmodell. Schließlich ist der Mann des Gesetzes und Diskurses der kleinbürgerliche Mitarbeiter in Großunternehmen (wirtschaftlichen oder anderen). Er lässt sich, sagte Bataille, leicht vom Großkotz anstellen. Doch lässt sich die tragische Figur auf keine Weise dem Tyrannen dienstbar machen.185 Hier tritt also der eingefleischte Rebell in der Haut des postmodernen Batailleaners in Erscheinung. 182

Ibd. S. 2:342. Ibd. S. 347. 184 Ibd. S. 1:346. 185 Ibd. S. 351. 183

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Wir sollten uns die Freiheit nehmen, den Wahrheitsgehalt dieser Vermutung anzuzweifeln. In Wirklichkeit scheint die tragische Figur neben all den mittleren und höheren Angestellten sich nicht weniger den Wünschen des Schlägertyps zu fügen als der Mann des Diskurses. Wir erklären kurz, warum das so ist. Die Dreiteilung ist weder erstaunlich noch originell: Bataille gab nur eine Binsenweisheit wieder. Wie schon erwähnt, bestehen alle Gesellschaften, in jeder Epoche und überall, nur aus drei Bestandteilen: aus dem Staat, das ist der Bereich des Rechts, aus der Wirtschaft und aus dem spirituellen Sektor, nämlich den Künsten und Wissenschaften. Batailles Schläger (butor) stellt die staatliche Sphäre dar; der Mann des Rechts und des Diskurses ist ein Geschöpf für den bürokratischen und wirtschaftlichen Bereich und die tragische Figur ist Batailles Vertreter der spirituellen Sphäre. Sie ist der zeitgenössische Exponent der alten chthonischen Kulte. Wieder hat Bataille absichtlich die apollinische Tradition ausgelassen. Dank seiner speziellen Behandlung der „fatalen Veränderung“ der Macht unterstellt er schlau alle nicht-dionysische Traditionen der rationalistischen Degeneration des Maschinen-Zeitalters. Und trotzdem machte er einen Fehler. Ende der dreißiger Jahre, als er seine heilige Soziologie ausarbeitete, neigte er dazu, in seinen Arbeiten das Lob auf den Faschismus zu singen. Die faschistische, heterogene Aktion gehört in das Reich der überlegenen Formen. Er appelliert an die Gefühle, die traditionell als die erhabenen und edlen gelten, und neigt dazu, Autorität als unbedingten Grundsatz hochzuhalten, der über allen Nützlichkeitserwägungen steht.186

Er sah im Faschismus den reinen Ausdruck der Heterogenität. Hier war eine militarisierte Partei unter dem Befehl eines souveränen Chefs (Mussolinis, des Duce), ­ iserables187 – und die angeblich erfolgreich die Massen der Elenden – les classes m die Wirtschaftsführer (das „homogene“-Element) um das höchste Prinzip der unbestrittenen Autorität geschart hat – um eine Behörde, die den/die Herrscher in die Lage versetzt „die eigenen Mitmenschen aufgrund ihres Alters, ihrer körperlichen Schwäche etc. zu beherrschen, wenn nicht sogar zu unterdrücken.“ War dies nicht eine echte Verkörperung der „königlichen“ Vorrechte, „in der sich in höchstem Maße die grausamen Tendenzen und die Notwendigkeit zeigten, Ordnung zu idealisieren?“188 Dies waren für Bataille alles souveräne, positive Züge. Den Nationalsozialismus mochte er überhaupt nicht, aber nicht wegen seiner kriegerischen Streitlust – diesen Charakterzug hätte er gebilligt. Es war eher der Rassismus des Nationalsozialismus, der Bataille ärgerte, da ihm, wie er meinte, jede wissenschaftliche Grundlage fehlte. Mehr noch ärgerten ihn die abfälligen Bemerkungen über den Kult der Großen Mutter, die Hitlers Chefideologe in Sachen Rasse, Alfred Rosenberg, in seinem Buch Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts 186

Ibd. S. 350. Ibd. S. 364. 188 Ibd. S. 351, 352. 187

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fallen ließ.189 Bataille wusste, dass Rosenberg, trotz seines öffentlich hohen Ranges als Wahrer der heiligen Kunde des Nationalsozialismus tatsächlich nur eine Randfigur war. Allerdings hatte Bataille zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht bemerkt, dass der Mythos der Nationalsozialisten in seiner höchsten, esoterischen Ausarbeitung der Großen Mutter und Luzifer, dem Sonnengott, gegenüber überhaupt nicht feindlich eingestellt war – wenn überhaupt etwas daran, dann war genau das Gegenteil richtig.190 Bataille hätte vorsichtiger vorgegangen sein sollen. Wie wir in einer Episode in Kapitel 8 erinnern werden, hat Bataille einen begeisterten Kommentar zu Ernst Jüngers apokalyptischer, aber lüstern begeisterter Darstellung der Schlachten des Ersten Weltkriegs geschrieben. Er hat in der Tat einen Autor gefeiert, der sich an den Benebelungen des Nationalsozialismus beteiligt hatte. Doch diese Tat­sache sollte niemanden verblüffen. Wenn einer die Blutkulte zu sehr und zu lange verficht, wird er sich bald den Mythen aller Regime, die Blutopfer praktizieren, einschließlich des Nationalsozialismus, anschließen. Das ist unvermeidlich. Um sich aus dieser Position, die heute als unerträglich „inkorrekt“ gilt, herauszu­reden, sollte Foucault selbst später eine verzerrte Entschuldigung anbieten (siehe das folgende Kapitel). So oder so ist das Stelldichein Batailles mit dem Faschismus ein Stück, das seine ihm ergebenen Kritiker systematisch zu umgehen versuchen. Wenn ihnen das nicht möglich ist, gehen sie darüber so schnell und so kurz wie nur möglich hinweg. Bataille sah in der fortschreitenden Mechanisierung der modernen Regime eine vollständige Kapitulation und Auflösung „des Kerns“. Moderne Staaten haben die heilige Energie der alten heterogenen Menschenansammlungen an sich gerissen. Sie schafften es aber eine Zeit lang, den Anschein der alten heiligen Ordnung durch Investitionen in – sagen wir – „Vaterlandsliebe“ (la patrie) mit einer Feierlichkeit aufrechtzuerhalten, die für die alte heilige Macht typisch war.191 Als die technisierte Bürokratie schrittweise alle derartigen Gefühle als überholt und letztlich unverständlich verworfen hatte, wurde der Kern „beweglich und diffus, und es ist unmöglich, von etwas anderem als von einer Reihe von Orten, Gegenständen und Personen zu sprechen […] Der diffuse Charakter änderte aber wenig am Rhythmus der Bewegung.“192 Somit kommen wir auf unsere Metapher vom fließenden unterschwelligen Druck, sich aus den Verstrickungen im eiserenen Röhren­gewirr zu befreien, zurück. Was ist, zusammengefasst, das letzte Engagement in unserer Welt? „In der letzten Analyse“, prophezeite Bataille, „wird das Reich denjenigen gehören, deren Leben in einem solchen Maß aus den Fugen gerät, dass sie den Tod lieben“.193 Diese 189

Ibd. S. 457–8. Vgl. z. B. Otto Rahn, Luzifers Hofgesind / Eine Reise zu den guten Geistern Europas, Rade­berg 2004 [1937]. Otto Rahn war ein begabter Ethnologe, der in die SS eingetreten war. 191 Bataille, OC, S. 2:347. 192 Ibd. S. 326 (Hervorhebung hinzugefügt). 193 Ibd. S. 1:361 (Hervorhebung hinzugefügt). 190

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Liebhaber des Todes, Träger der chthonischen Tradition, sind der diffuse Kern; sie beleben seinen Rhythmus und bilden eine Brühe an „Wissen“. Diese zirkuliert im Untergrund und ihre Vitalität saugt das „Regime der Macht“ auf, um zu überleben. Das „Projekt“ soll den uneingeschränkten Umlauf der Energie des Kerns ermöglichen und dafür sorgen, dass sie die Röhren des Disziplinierungsnetzes zerfrisst. Man müsse diejenigen, die abseits stehen, bekehren, überzeugen, dass sie selbst nur die Sprachrohre der Kräfte sind, die größer als sie selbst sind. Man müsse sie zum Todeskult bekehren, oder zumindest dahingehend, dass sie dem Mitgefühl nicht mehr vertrauen. Denn es gäbe auf dieser Erde keinen Ort für Empfindsamkeit (sensiblerie). Der Mensch solle wie ein Tier seinen souveränen Platz behaupten.194 Ob er nun viele oder nur wenige für seine Sache gewinnen würde, Bataille war sich allein schon wegen der schieren Zunahme der von der Industrie aus­gestoßenen Ressourcen sicher, dass dieser immense Durchsatz von sich aus in der einen oder anderen Form zu der verfemten Explosion lang andauernder und un­begrenzter Hekatomben verleiten würde. Gemetzel und Massaker konnten das Projekt nur enorm fördern. Bataille würde ganz klar den Auftrag des SS-Gruppenführers, Generalleutnant der Polizei, Amtschef im Reichssicherheitshauptamt, Otto Ohlendorf, des akademisch gebildeten Kommandeurs der Einsatzgruppe D, angenommen haben. Dieser war für den Tod von 90.000 Juden an der Ostfront verantwortlich. Ohlendorf bestand bei seinem Prozess darauf, dass „die Nachwelt nicht in der Lage sei, einen Unterschied zwischen seinen Massenexekutionen an der russischen Front und dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki zu erkennen“.195 Aus der Vogelperspektive war das eine wie das andere Holocaust. Genau so stellte es sich für Bataille dar. Im Grunde hatte er damit nicht ganz Unrecht. Wenn man die Katastrophe von Hiroshima frei, vom Standpunkt einer Empfindung aus, die sich nicht täuschen lässt, betrachtet, kann sie nicht von anderen getrennt werden. Die Zehntausende von Opfern der Atombombe liegen auf der gleichen Ebene wie die zig Millionen, welche die Natur jährlich dem Tod opfert. Man leugnet vielleicht nicht die Unterschiede in Alter und Leiden, doch sind der Ursprung und die Konzentration ohne Folgen für das Endergebnis: Das Grauen ist überall dasselbe.196

Er schloss daraus die Aufforderung: Der Mensch mit einem souveränen Empfinden, der dem Elend ins Gesicht sieht, sagt nicht vorschnell: „Lasst es uns um jeden Preis unterdrücken“, sondern eher: „Lasst uns leben.“ Lasst uns unser tägliches Leben in eine Form bringen, die auf das Schlimmste abgestimmt ist. […] Es ist besser mit der Herausforderung von Hiroshima klarzukommen, als sie zu beklagen und unfähig zu sein, den Gedanken daran zu ertragen.197

194

Ibd. S. 11:182. Edward Crankshaw, Gestapo, Instrument of Tyranny, New York 1956, S. 232. 196 Bataille, OC, S. 11:180. 197 Ibd. S. 185. 195

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Wieder weigerte er sich, gegen die Gewalt zu rebellieren, und nahm sie als für immer gegeben hin. Er war ein durch und durch Konservativer. Alle Elemente, die heraufbeschworen wurden, um die Diskussion des Batailleschen Systems zu strukturieren, lassen sich grafisch in dem folgenden Schema zusammenfassen (siehe Abbildung 5.2). Es handelt sich im Wesentlichen um den Zyklus der wirtschaftlichen Reproduktion. Er beginnt abstrakt mit dem Überschuss. Von diesem Ausgangspunkt gehen die Ressourcen in den Bereich der „heiligen Autorität“ über. Der Gottesdienst lässt sich (an der Verzweigung A) entweder in die apollinische Gepflogenheit (das heißt, Anerkennung eines transzendenten Prinzips der geordneten und harmonischen Schönheit, verstärkt durch die Be­zeugung von Mitgefühl und Friedfertigkeit)198 oder in die chthonische Praxis aufteilen, in die dionysisch-aphrodisischen Kulte der Gewalt und des Holocaust. Der Weitergabe an diese unterschiedlichen, entgegengesetzten Prinzipien entsprechen ihre typischen Formen (reiche Ernte, Regen, und das mit einer unterschiedlichen, entgegengesetzten Wertigkeit aufgeladene Wissen). Die Bewegung der Verschwendung bezieht sich auf die den Göttern gewidmete Hingabe. Das vergoltene Geschenk fließt zurück in den profanen Bereich der „profanen (oder zeitlichen) Macht“ und überquert dabei die Barriere des Tabu (Verbot), die die beiden Welten gegen einander abgrenzt. Der profane Bereich ist jener der Akkumulation und der Produktion. Das den Göttern dargebrachte Geschenk findet seinen Weg zurück in den profanen Bereich, in dem es die beiden anderen Bereiche der gesellschaftlichen Aktivität versorgt: den Staat und die Wirtschaft. Die Verwaltung (Verzweigung D) erhält ihre Gesetze aus der Priesterschaft (die im heiligen Bereich angesiedelt ist). Und die Wirtschaft (Verzweigung C) verarbeitet von neuem die Gaben der Natur und des Einfallsreichtums, die beide als Geschenke des Heiligen anfallen. Staat und Wirtschaft setzen gemeinsam einen neuen Zyklus der Akkumulation in Bewegung, der sich auf die eben beschriebene Weise erweitert. Mit dem Aufkommen der modernen Zeit schafft es ein Unterkreislauf (Verzweigung B), sich durch Aneignung in das ursprüngliche System der Akkumulation einzunisten, oder besser, einen immer größeren Anteil des Überschusses umzuleiten und für sich zu behalten. Dies bezieht sich auf das moderne Eigentumssystem des unbeteiligten Eigentümers (absentee ownership), das „Steuern“ verachtet. In diesem Fall ergibt es sich, dass die Gabe immer seltener in die Sphäre des Heiligen gelangt, und in einem sich selbst erweiternden Zyklus eingebunden wird: (1) Durch Anschwellen der bürokratischen Penetranz und der allgegenwärtigen Militarisierung („Aufwendungen für Krieg und Kontrolle“) und (2) durch Zugewinn der Oligarchie, der dadurch erreicht wird, dass die produktive Realwirtschaft ständig durch den Banken- und Finanzsektor ausgeblutet wird. Dieser Unterkreislauf fügt ein Subsystem (Fläche in grau) in den Hauptzyklus ein. Es ist 198

Man könnte hierzu auch den friedfertigen Demeter-Kult heranziehen.

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Abb. 2: Schemazeichnung zu Batailles „heiliger Soziologie“.

das Subsystem der „Macht“ im Batailleschen Sinn. Mit anderen Worten, „Macht“ ist die neue Physiognomie unserer modernen „Liberalen Demokratien“. Unter der Ägide der Macht entarten die heilige Rolle des Staates, statt Verantwortung zu tragen, zwingt er die Wirtschaft von der Zusammenarbeit zur Schuldabhängigkeit (der Schwachen von den Oligarchen) überzugehen. Batailles brutaler Großkotz (le butor) wird zum Führer des Zwangsstaates und der „Mann des Rechts und Diskurs’“ wird zum Vorstand der Finanzwirtschaft. Von der „tragischen Figur“ wäre zu erwarten, dass sie sich durch den Hauptzyklus hindurch auf den chthonischen Pfad begibt. Doch wir behaupten, dass er eher als ein „Teilchen“ voll in das System der Macht eintaucht, in deren Produktions­ kapazitäten und militärischer Aufrüstung er ideale Chaos-Szenarien aufkommen sieht. Demnach haben wir letztlich drei Strömungen: die ideale apollinische, die chthonische, und die eigentumsbezogene, liberale. Die aus institutionellen Gründen tote Strömung widerspricht der tendenziösen Argumentation Batailles, sie ist der Zyklus des Holocaust. Was nicht heißen soll, dass sich Holocausts nicht mehr ereignen werden. In einem solchen Fall wäre ein Bataille nicht mehr im Geschäft. Aber als heiliger Kult wäre der Kern der Azteken und ähnlicher heterogenen Kulturen ausgelöscht. Das proprietäre System des unbeteiligten Eigentums ist eindeutig die lebendigste Wirklichkeit der modernen Welt. Das liberale Credo, das es antreibt, beruht auf Materialismus, scharfer Konkurrenz, einem grenzenlosen Ausbeutungsverlangen um des bloßen Entgelts willen, und auf der schrittweisen Abschaffung des Gebens, der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Hilfe. Es handelt sich um ein durch und durch antitraditionelles, nicht mehr mitempfindendes Denksystem. Davon leiten wir her, dass die „tiefe Abneigung“, die nach Bataille Dionysier – wie er

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selbst – angeblich gegen das knausrige Bürgertum hegen, nur oberflächlich, wenn nicht sogar illusorisch sein kann. Sie mögen einander vielleicht nicht, aber beide Fraktionen stehen letztlich vereint gegen Mitgefühl und Pazifismus. Das Objekt einer solchen gemeinsamen Gegnerschaft – der apollinische Zyklus – ist zwar aus internen und externen Gründen stark geschwächt, aber institutionell noch lebendig. Er lebt in allen mitfühlenden Traditionen der Welt und in den Herzen aller Menschen. Daher kann dieses Potential für positive Veränderungen auch dadurch realisiert werden, dass man seinen Kopf von allen dagegen angehenden und schädlichen Denksystemen, wie demjenigen Batailles, frei macht. Denn diese werden zusammengestellt und skrupellos verbreitet, um unser Urteilsvermögen zu trüben. In der Grafik haben wir die Ströme so gezeichnet, dass die gesamte Argumentation Batailles als eine Konstruktion von Barrieren erscheint, die errichtet wurden, um den Geist der harmonischen Ordnung abzuwehren: Macht wird in der Tat dargestellt, als wäre sie von zwei Grabensystemen umgeben, von einem ihr selbst dienenden, entfernteren und einem ihr näher liegenden, chthonischen Strom, als ob es nur darum ginge, das Apollinische für immer „außerhalb der Stadtmauern“ zu halten, wo es sich zur Zeit auch befindet. Schließlich bleibt zu erklären, woher möglicherweise der Wunsch herrühren könnte, Ansichten wie diejenigen Batailles zu fördern, und das in Anbetracht der Tatsache, dass eine wirkliche Wiederbelebung der chthonischen Verehrung in einem liberalen System tatsächlich unerreichbar ist. Bataille blickte nicht zu tief in die eventuellen Feinheiten des Macht-Netzwerkes der Moderne, und er würde sicherlich den Vorwurf entschieden zurückgewiesen haben, er verfolge in Absprache mit liberalen Intellektuellen ein feindlich gegen das Mitgefühl gerichtetes Manöver. Batailles Abscheu gegen seine Epoche war echt, aber seine Pläne waren nicht durchführbar. Von den Rändern der Pariser Szene aus schrieb er dämonische Phantasiestücke und phantasievolle sozialwissenschaftliche Texte in der Tonart des Todes. Gegen Ende seines Lebens brachte er es zu einer bescheidenen Berühmtheit, wurde aber kein gefeierter Star. Im März 1961, ein Jahr vor seinem Tod, wurde Bataille von einer Journalistin der Zeitung L’Express, Marguerite Chapsal, interviewt. Dieselbe Publizistin war fünf Jahre später maßgeblich daran beteiligt, Foucaults öffentliche Karriere in Gang zu bringen. In dem Interview bekannte Bataille, dass der intellektuelle Beitrag, auf den er am meisten stolz sei, darin bestand, die turbulenteste, schockierendste und skandalöseste Form der Rede mit dem religiösen Geist der tiefsten Art in Verbindung gebracht zu haben. Es ist ganz klar, um welchen Typ Gesellschaft es sich auch handeln dürfte, diese Wut ist letztendlich auf die eine oder andere Weise überall zu finden, weil ich nicht glaube, dass wir einen Zustand erreichen, der uns erlaubt, diese Wut zu überwinden.199

Ein Massenpublikum scheint heute kaum einen unmittelbaren Geschmack für die mürrische und zerfließende Artistik Batailles entwickeln zu können. Doch 199

Surya, Bataille, S. 597.

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wenn letztere irgendwie zurechtgemacht und kunstvoll dargeboten wird, dann gibt es in unserer Zeit unbestreitbar eine aktive und koordinierte Bemühung, eine solche Philosophie der Verzweiflung unter so vielen Menschen wie möglich zu verbreiten. Also, um die Frage zu wiederholen: Warum sollten bestimmte Kreise daran interessiert sein, Batailles Werke zu veröffentlichen und in die Öffentlichkeit hineinzudrücken? An sich stellt Batailles Produktion sicherlich eine faszinierende Kostprobe der Literatur des 20. Jahrhunderts dar, ein in der Tat faszinierendes Zeugnis. Wissenschaftlich gesehen ist das meiste davon irrelevant. Davon ausgenommen sind seine „Vorstellung über den Kostenaufwand“ und Auszüge aus der „heiligen Soziologie“. Batailles Werk wird hier also letztendlich nach seiner propagandis­tischen Form bewertet, als inspirierende Quelle eines späteren Schutzheiligen für das intellektuelle Amerika (Foucault). Der einzige Grund, der die Förderung und Verbreitung seiner Werke über Foucault – ob direkt oder indirekt – rechtfertigt, ist ihre spezielle Bilderstürmerei. Diese Bilderstürmerei ist ein seltsames Gebräu aus Gewalttätigkeit und Partikularismus, sowie eine unverantwortliche Einladung zu Verbots-Übertretungen. Alle diese Anreize haben, wenn sie nachhaltig und lang genug angepriesen werden, insgesamt nur die eine Wirkung, den Leser zu betäuben und an der Empfindung zweifeln zu lassen, dass Leben um jeden Preis zu schützen und zu erhalten sei. Die Situation des Menschen – der Zustand seiner Existenz – ist derart, dass er über sein Verlangen hinweggetäuscht sich mit diesem Universum, in dem er offensichtlich nur ein Unfall ist, identifiziert. Die ewige Zwietracht, die Opposition, die einen Stamm gegen den anderen, eine Nation gegen die andere, eine Gruppe gegen die andere verschleißt, machen den Anspruch des Menschen auf Universalität lächerlich. [Eine solche Uneinigkeit] hat die Gemüter der Menschen einem ständigen Selbstbetrug ausgesetzt. Gibt es schließlich vom Standpunkt der Universalität etwas Krankhafteres, als letztere (seine Universalität)  […] mit den „Ideen“ und „Existenzweisen“ zu verbinden, die nur eine bestimmte Anzahl von Menschen gemeinsam besitzen? Jede Weltanschauung, jeder Glaube und jede Irrlehre stellt ebenso viele Versuche dar, [diese Sehnsucht nach Universalität] auf etwas Schmales, in sich Geschlossenes, Partikulares zu reduzieren.200

Natürlich klingt hier nicht der Wunsch an, anzunehmen, alle normalen, ausgeglichenen Personen könnten durch die Lektüre Batailles sofort zu den Möglichkeiten der souveränen Verwahrlosung und der gewalttätigen Erotik bekehrt werden. Doch ist es nicht unklug, eindeutig klarzustellen, worum es dem Autor, den wir gerade behandeln, mit seiner sexualisierten Sprache und den suggestiven Metaphern wirklich geht. Und obige Passage, die heute sehr leicht entweder von einem Foucaultianer oder einem neokonservativen Falken geschrieben werden könnte, be­ stätigt noch einmal zweifellos den Willen, durch die Veröffentlichung und Verbreitung von Autoren wie Bataille unser Verlangen nach Wissen und unser Sehnen nach einer über das Trennende hinweggehenden Gemeinschaft nachhaltig lächer 200

Bataille, OC, S. 12:223.

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5. Bataille 5Bataille

lich zu machen und unerbittlich darauf zu beharren, dass Trennung und Krieg die Art und Weise ist, wie die Welt funktioniert. Aber sollte es uns allen nicht frei stehen, diese Sehnsucht nach Frieden und Wissen auszuleben und uns kategorisch zu weigern, die Wege des Krieges ein­ zuschlagen, gleichgültig wie tief sie uns angeboren sein könnten? Anscheinend nicht. Eben weil Batailles Wunsch, den Dionysismus wieder einzuführen, wie wir alle wissen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war, folgt daraus nach dem logischen Verfahren der Ausgrenzung, dass das wahre Ziel seines postmodernen Angriffs, das oft die Liberalen selbst wiedergeben, nicht der liberale Staat an sich, sondern nur die Züge an Mitgefühl war, die in ihm überleben. Keine andere gangbare Politik oder klare Absicht ergibt sich aus Batailles soziologischen Skizzen. Man muss nur auf die Schnelligkeit und Tiefe achten, mit der sich diese Art von Bataillescher Ideologie dank Foucault in den höchsten Kreisen der Gebildeten und sogar in den Zirkeln der politischen Macht der Vereinigten Staaten – die sich alle regelmäßig zu dem unauslöschlichen Glauben an die „höchsten menschlichen Werte“ bekennen – ausgebreitet hat, um zu erkennen, dass etwas viel Verhängnisvolleres im Gange ist, als die ästhetische Aufforderung zu orgiastischer Ekstase und deliriöser Dichtung für die Wochenendlektüre. Die Pest hat sich ausgebreitet, aber sie hat noch nicht das Feld übernommen. Das ist einerseits auf die inhärente Stärke der mitfühlenden Tradition zurückzuführen, und andererseits auf den Zustand geistiger Orientierungslosigkeit, der unter den neueren Jüngern der Postmoderne herrscht. Viele der „wohlmeinenden Demokraten“ haben, wie in der Einleitung hervorgehoben, diese Probleme noch immer nicht in ihrem Inneren gelöst. Ihr Zögern hat dementsprechend die unterschwellige Militanz Batailles geschwächt. Aber eine solche Unentschlossenheit, auch wenn sie als Bremse wirken mag, verheißt eindeutig nichts Gutes für die Zukunft der amerikanischen Lehranstalten sowie der Gesellschaft und den breit definierten Bereich des Dissenses. Zusammengefasst handelt es sich um die Geschichte Batailles, eines französischen Seminaristen, der in einer Nacht des Wahns, ohne dass es regnet, einen geöffneten Schirm gen Himmel hält und dabei eine Vision hat, also eine ‚innere Erfahrung‘ macht. Er erlebte eine Versöhnung mit dem verlorenen Gottglauben, die die Menschen einlädt zuzustimmen, dass um der religiösen Gemeinschaft willen Blut zu vergießen sei. Er begann daraufhin nicht nur, das Geheimnis der Unterwerfung durch Opfer zu ergründen, sondern geriet auch in die Lage, eine Menge sonst unerklärlicher Erscheinungen von bizarrem oder abstoßendem menschlichen Verhalten zu verstehen und auf entsprechende Glaubenssysteme der frühen Vorfahren zurückzuführen. Im Rahmen der Prinzipien dieses wiederentdeckten Infernos bekamen alle diese Hinweise Bedeutung und einen angemessenen Stellenwert. Er war so hingerissen von der Aussicht, die Erfahrung seinen Kollegen mitzuteilen, dass er eine Reihe von Riten, eine spezielle Gesellschaft und, noch wichtiger, eine brandneue „Soziologie des Heiligen“, die als Handbuch für seinen improvi-

5. Bataille 5Bataille

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sierten Kult dienen sollte, erfunden hat. Aus der Einsicht, dass diese alte Religion vielleicht in ihrer ursprünglichen Form nicht wiederbelebt werden könne, entwickelte er Mittel, seine spirituellen Anregungen in die herkömmliche Denkweise einzupassen. Er verfolgte zu diesem Zweck die Methode, nach einander alle Tabus anzugreifen, welche die Tradition errichtet hatte: Promiskuität, Sodomie, Mord, Exkremente, Vorherrschaft, Holocaust und Rauschgift. Er versuchte, jede dieser Untaten der Reihe nach zu rehabilitieren. Er führte alle derartigen Handlungen der Übertretung aus, lud andere ein, seinem Beispiel zu folgen, und legitimierte im Diskurs alle diese Übertretungen als ordnungsgemäße Gebote einiger monströser Engel. Diese sogenannten Archonten stellten nichts anderes dar, als die Ergänzung einer Welt des Lichts und der Schöpfung. Beide zusammen bildeten Manifestationen des ursprünglichen Keims, den ein muskulöses Gespenst ohne Kopf, das einen Spieß (Glefe) schwingt, symbolisiert. In dem er die Welt aufruft, mit einander zu verkehren, ersann er auch eine Theorie der Macht, die von einem pulsierenden Kern ausgeht. Der Kern war der Funke eines Glaubenssystems der Vorfahren, der die Menschen zu einem souveränen Verhalten inspiriert hatte. In Krieger-Gesellschaften lag dieser Kern der heiligen Autorität in der Obhut einer militanten Priesterschaft. Doch im Laufe der Zeit hat die moderne Staatsbürokratie den Kern in einem solchen Ausmaß entleert, dass er seine Solidität verloren hat und langsam verkommt. Die Fragmentierung hat sein Potential nicht verringert, sondern ihn nur als Quelle der Zerstreuung dezentralisiert. Heute ist der Kern überall verstreut und wartet darauf, sich in den Aktionen eines jeden von uns zu äußern. Der Mensch ist nur ein Partikel dieses Wirbels aus ursprünglichem Wissen. Er muss die Sprache dazu verwenden, das Bewusstsein darüber, wer er ist, aufzulösen und jederzeit zu erkennen, dass er nichts ist als die Übermittlung der Macht dieses fragmentierten Kerns. Er lässt die Kunde jener monströsen Götter erkennen, mit denen wir jetzt auf Dauer unseren Frieden schließen sollen. Wenn dies nur ein Scherz wäre, dann wäre es ein guter. Aber leider ist es kein Scherz. Viele haben das ernst genommen. „Zu wagen, Bataille zu lesen“, heißt es in einem Nachruf eines seiner vielen zeitgenössischen akademischen Anhänger, „ist das Wagnis, ethisch zu leben und dem Tod auf souveräne Art und Weise ins Auge zu sehen“.201 Bataille muss in seinem Grab lachen, wenn er „einen mit der tödlichen Gewalt des Seins aufgeladen Blick in die Leere des Lebens“ wirft.202 Ein anderer überschwänglicher Fan Batailles stellte besorgt die quälende Frage: Wie können [in der heutigen Welt] die Möglichkeiten der heterogenen Gesellschaft wieder erschlossen werden? Würde nicht jeder potentiell soziale Mythos gegen die Backsteinmauer des Individualismus anlaufen? […] Wenn soziale Solidarität einmal in einem Gefühl der Kollektivschuld an dem Ur-Verbrechen, das uns von unseren Wurzeln in der Natur ge 201 202

Champagne, Bataille, S. 103. Bataille, OC, S. 1:440.

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trennt hat, ihren Grund hatte, kann dann eine freudige Hinnahme der Schuld – wie sie Bataille durch seine innere Erfahrung erlebt hat – die Möglichkeit für eine erneute Belebung der Gesellschaft bieten? Wie kann Individualismus wieder in soziale Zugehörigkeit umgewandelt werden? Dies sind Fragen, die Bataille auf eine so bewegende Weise zu bewäl­tigen versucht hat. Zu sagen, er sei nicht in der Lage gewesen, sie zu beantworten, kann seine Leistung kaum schmälern, sondern zeigt im Gegenteil, wie wichtig sie war.203

„Soziale Zugehörigkeit“ war nie das Problem. Bataille sprach gelegentlich von „Gemeinschaft“, hatte aber offensichtlich nicht das geringste Interesse daran. Er würde in einer solchen gelebt haben, hätte er sich das insgeheim gewünscht. Sein Ziel war es, wie er selbst erklärte, „alles mit allen Mitteln umzustürzen“. Zugegebenermaßen hat er zu Lebzeiten nicht ganz die richtigen Mittel gefunden, um dies zu Stande zu bringen. Doch hat er den Weg dahin gewiesen. Die Theorie stand bereit, jetzt war es eine Sache der Praxis, des Versuchs. Das war die Lage, als Foucault ins Spiel kam.

203

Michael Richardson, Georges Bataille, London 1994, S. 130.

Kapitel 6

Foucault und die sozialwissenschaftliche Fiktion der Neo-Gnosis Ich galt bei den Liberalen als Technokrat, als Agent der gaullistischen Regierung und bin von Leuten auf der Rechten, den gaullistischen und anderen, für einen gefährlichen linken Anarchisten gehalten worden. Es gab da einen amerikanischen Professor, der fragte, weshalb ein Krypto-Marxist wie ich, offensichtlich ein KGB-Agent, nach Amerika ein­ geladen wurde, und so weiter. Michel Foucault1

Michel Foucault war nicht nur ein Nachahmer. Er hat eindeutig das Bataillesche Projekt  – im Grunde eine diskursive Blaupause der chthonisch religiösen Erweckungsbewegung – in eine praktikable, anwendbare Richtung weiterentwickelt. Er tat das so anwendungsorientiert, dass die weitere Ausarbeitung dieser höllischen Themen Ende der sechziger Jahre in die offizielle Rhetorik des liberalen Regimes in Frankreich aufgenommen wurde. Nachdem er ein Jahrzehnt lang seine spezielle Denkweise wie eine zertifizierte Sorte Rotwein aus dem sonnigen Süden ver­feinert hatte, war sie „zu einem bedeutenden Export-Schlager geworden“.2 Seitdem war sie in allen Gängen aller akademischen Supermärkte der Vereinigten Staaten anzutreffen – und immer ein Verkaufsschlager. Heute sind „viele, wenn nicht die meisten der Studien über Foucault, die man in Pariser Buchhandlungen findet, Übersetzungen aus dem Englischen“.3 Eine bemerkenswerte Leistung. „Experten“ führen Bataille als eine von Foucaults Inspirationen auf, auch wenn sie dem akephalen Guru keineswegs eine herausragende Stellung im geistigen Stammbaum des „großen Foucault“ einräumen. Bataille spielt dabei kaum mehr als die Rolle eines exzentrischen Literaten, dessen nächtliche Einsichten Foucault geschmackvoll in das reiche Gefüge seiner philosophischen Konstruktionen eingearbeitet hat. Natürlich war Foucault diesbezüglich selbst für die Irreführung der Historiker verantwortlich. Er verwies mit Nachdruck vor allem auf die intellektuelle Schuld, die er Heidegger oder natürlich vor allem Nietzsche verdanke. In diesem Zusammenhang wurde Bataille selbst in Quellenangaben häufig als Nietzsche­ianer ausgegeben. Wenn man dem noch die sichtbaren Züge des Hegel 1

Michel Foucault, The Foucault Reader, New York 1984, S. 346. Hier, wie im Folgenden werden die Zitate Foucaults aus dem englischen Text Preparatas ins Deutsche übersetzt. 2 James Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, Köln 1995, S. 22. 3 David Macey, The Lives of Michel Foucault, London 1993, S. XI.

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schen Einflusses auf beide, Foucault und Bataille, hinzufügt – der sich nicht bestreiten lässt –, dann wird die Vermischung undurchdringlich und es steht einem frei, zu dem Thema zu sagen, was einem gefällt. Doch das wäre nicht richtig. Wir übergehen das Furnier des deutschen Idealismus,4 das oft als teleolo­gisches Hilfsmittel dient, um über alles, was man will, zu fabulieren. Und wir lassen auch Nietzsche außen vor. Er wird hier so wenig wie an unzähligen anderen Stellen gebraucht, an denen seine Gedanken beliebig und für unterschiedliche Zwecke verbogen wurden.5 Wir werden vielmehr nachweisen, dass Foucault dort ansetzte, wo Bataille aufgehört hat. Die Berührungsfläche, welche die beiden verbindet, ist das entscheidende Bindeglied und die originäre Geschichte, die Foucaults Modell zum philosophischen Exportartikel des letzten Jahrhunderts gemacht hat. Wenn es stimmt, dass dieses Modell in Amerika als „Macht / Wissen“ eingepaukt wird, dann brauchen wir nicht viel weiter als auf Batailles Vermächtnis zurückzugreifen, um den Ursprungskeim zu identifizieren, den tatsächlichen Kern dieses verführerischen Ansatzes. Aufgabe dieses Kapitels ist daher nicht, Foucaults Werk insgesamt zu untersuchen. Zu dem Thema gibt es eine umfangreiche Literatur in englischer Sprache, die diesem Wunsch genügt. Uns geht es nur um die Natur und die Originalität der „größten Hits“, die ihn seit Ende der siebziger Jahre an die Spitze der US-Charts gebracht haben. Als der renommierte Pariser Verlag Gallimard 1970 das Gesamtwerk Batailles in zwölf Bänden veröffentlichte, war es kein Zufall, dass man Foucault, damals bereits einer der anerkanntesten Wissenschaftler Frankreichs, auswählte, die Einleitung zu dem Sammelwerk zu schreiben. „Heute wissen wir“, schrieb Foucault im Vorwort des ersten Bandes „dass Bataille einer der bedeutendsten Schriftsteller seines Jahrhunderts ist. Die Geschichte vom Auge, Madame Edwarda haben den Erzählstrang unterbrochen, um etwas zu berichten, was noch nie zuvor erzählt wurde, nämlich das, was mit der tiefgründigen Sexualität in Verbindung steht, zum Beispiel Blut, Ersticken, plötzlicher Terror, Kriminalität, alles, was menschliches Glück und Ehrenhaftigkeit für immer zerstört.“6 Mit dem Attribut „einer der größten“ gibt Foucault dem Leser zu verstehen, dass er ein Verehrer von Bataille war. Das ist aufschlussreich genug. Doch die Verbindung reicht viel weiter als das, was diese ehrende, aber keineswegs emphatische Laudatio einen vermuten lässt.

4

Mehr dazu im Zusammenhang mit dem Werk Kojèves (in Kapitel 8). Wir verwenden die Gegenüberstellung des Apollinischen zum Dionysischen wie Friedrich Nietzsche (in: Die Geburt der Tragödie). Auch wenn man diese dichotome Auffassung als eines der Standard-Themen der klassischen Philologie übernimmt, will dies keineswegs besagen, dass Nietzsches Gedanke im Grunde eng mit Batailles Versuch verbunden ist, die „monströsen Archonten“ zu rechtfertigen. 6 Michel Foucault, Présentation of Georges Bataille Œuvres complètes (OC), Paris 1970, S. 1:5. 5

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Trotz seines offensichtlichen Interesses an Bataille, hatte Foucault nie versucht ihn zu ­treffen.7

„Im Gegensatz zu Bataille, von Beruf Bibliothekar und kein Hochschullehrer […], war Foucault in vielerlei Hinsicht ein Produkt des Systems.“8 Der Unterschied im Stil der beiden war in der Tat dramatisch. In den fünfziger Jahren hatte sich Foucault der qualvollen Disziplin der elitärsten Schule Frankreichs, der Ecole Normale Supérieure, unterzogen. Im akademischen Fachjargon auf höchstem Niveau dressiert und gedrillt, ähneln seine Schriften kaum der Prosa Batailles. Doch war es die besondere Umsetzung der „Heiligen Soziologie“ Batailles in das herkömmliche akademische Versmaß, die ihm zum Ruhm verhelfen sollte. Anfang der sechziger Jahre, schon in seinem ersten großen Werk, Wahnsinn und Gesellschaft (Folie et Deraison, 1961), begann Foucault seine Darstellung der Batailleschen „Erfahrung“ zu artikulieren. Auf der Grundlage umfangreicher Archivrecherchen und Praktika im medizinischen Umfeld, entwickelte er als Doktorand an der ersten Hochschule Frankreichs die These, dass Wahnsinn tatsächlich eine Konstruktion, eine Erfindung darstellt. Wahnsinn gibt es nur aufgrund der klinischen Zuordnung einer selbstherrlichen Bürokratie. Weil diese keine Ahnung von der Vitalität des heiligen Feuers (Batailles „Erfahrung“) hat, verwies sie alle ihr fremden Erscheinungsformen dieses Feuers in eine vorgefertigte Schublade so definierter Anomalien, stuft sie dort ein, bestraft und zähmt sie. Sein erstes Kapitel beginnt mit einem Überblick über die Verwüstungen, welche die große Pest und die Lepra, die in der vormodernen Zeit gewütet hatten, hinterlassen haben. Die Lepra zieht sich zurück und lässt [die Leprosorien und ihre Rituale] ohne Beschäftigung. Diese hatten nicht die Aufgabe, die Krankheit zu unterdrücken, sondern sie auf eine heilige Distanz zu projizieren, um sie an ein umgekehrtes Hochgefühl zu heften.9

Der Tenor war unverkennbar der Batailles: Es handelte sich um ein Vorspiel zum Ringen zwischen der Homogenität (das Leprosorium) und der Hetero­genität (die entstellende Krankheit). Von der Zersetzung der Seuche verlegt Foucault seine erzählende Bildsprache an Bord des literarischen Topos Narrenschiff. Dieses historisch nicht erwiesene, aber eindrucksvolle Narrenschiff (la nef des fous) verschifft Irre und Ausgestoßene an den Ufern feindlicher Gefilde entlang. Damit versuchte Foucault dem Anlass, den „Wahnsinn“ zu kämpfen, neue Kraft einzuimpfen, indem er zu Batailles „Heterogenität der Sklaven“ stillschweigend ein neues Kapitel hinzufügt. Diese Schifffahrt der Irren endet schließlich damit, dass sie entlang den Umrissen einer Geographie, die halb real, halb imaginär ist, die Grenzerfahrung des Irren nachzeichnet. […] Der Wahnsinnige kann seine Wahrheit und seine Heimat nur in diesen kargen Weiten zwischen den beiden Welten finden, die nicht zu ihm gehören konnten. […] Was-

7

Macey, The Lives, S. 137. Ibd. S. 109. 9 Michel Foucault, Histoire de la folie à l’age classique, Paris 1972 [1961], S. 18. 8

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ser und Wahnsinn waren schon lange im Traum der europäischen Menschen eine Verbindung eingegangen.10

Der Wahnsinn ist eine „Grenzerfahrung“, die „an den Rändern“ brütet, und sein rebellischer Antrieb entspricht demjenigen der Flüssigkeit, der Feuchtigkeit. Mit Übernahme einer gnostischen Bildersprache bringt Foucault die lebendige Reinheit des Wahnsinns mit dem Wasser in Verbindung: „Wahnsinn ist eine Flüssigkeit, die außerhalb der felsigen Vernunft fließt. […] Wasser [ist] ein unendlicher, unsicherer Raum, [das ozeanische Element] eine finstere Unordnung, ein bewegtes Chaos.“11 Der Verstand gleicht dem Diskurs, der die Energie des Chaos eindämmt. Bataille hatte von einem „Horror des Seins“ geschrieben. Dieser Horror sollte sich aus der „abstoßenden Animalität“ ergeben.12 Als Foucault das fortsetzte und die Physiognomie des Geisteskranken von der des „Sünders“ ableitete, lieh er sich genau diese Bilder von dem Meister (und auch dessen Stil): Wenn der Mensch der Sünde in der letzten Stunde in seiner scheußlichen Nacktheit in Erscheinung tritt, bemerkt man, dass er die monströse Gestalt eines deliriösen Tieres besitzt. […] Das Tier, das in [den] Albträumen des Menschen herumgeistert […] ist seine eigene Natur, das, was die gnadenlose Wahrheit der Hölle enthüllt. […] Bereits an dieser Un­ ordnung, an diesem Universum des Wahnsinns, kann man die Umrisse dessen erkennen, was die letzte Grausamkeit sein wird.13

Als nächstes brachte er die Herausforderung des Wissens, oder besser gesagt, des Batailleschen Nichtwissen (non savoir) mit einem Päan (einer Hymne) auf­ Batailles apokalyptische Satanssekte des akephalen Dionysus redividus zusammen. Hier der Beleg: Wahnsinn fasziniert, weil er Wissen ist. Er ist in erster Linie Wissen, weil alle [seine] absurden [Manifestationen] in Wahrheit Elemente eines schwierigen, esoterischen, geschlossenen Wissens darstellen. […] Was tut dieses Wissen des Wahnsinnigen kund? Zweifellos nimmt es, weil es verbotenes Wissen ist, zugleich die Herrschaft Satans und das Ende der Welt, die endgültige Glückseligkeit und die ultimative Strafe, die Allmacht auf Erden und den infernalen Untergang vorweg. […] Die Erde fängt Feuer. […] Die Welt versinkt in einer universellen Raserei. Der Sieg gehört weder Gott noch dem Teufel, er gehört dem Wahn.14

Foucault verlieh dem Wahnsinn göttliche, ausbalancierte Qualitäten. Es sind in der Tat diejenigen der Weißen Göttin – der Spenderin von Geburt und Schöpfung (einschließlich des geistigen Genies), die zugleich die rachsüchtige Spenderin von Tod, Elend und Zerstörung ist.

10

Ibd. S. 26. Zitiert nach Miller, Leidenschaft, S. 145. 12 Bataille, OC, S. 8:102. 13 Foucault, Folie, S. 37. 14 Ibd. 11

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Das absolute Privileg des Wahnsinns: Er regiert über alles Schlechte im Menschen. Aber herrscht er nicht indirekt auch über all das Gute, das der Mensch erreichen könnte: über den Ehrgeiz, der die politischen Führungspersonen befördert, über die Gier, die Reich­ tümer wachsen lässt, über die indiskrete Neugier, die Philosophen und Gelehrten beseelt?15

Ehrgeiz und Gier? Sind das nicht die „Tugenden“, welche die liberal-konserva­ tiven Verehrer des freien Marktes regelmäßig preisen? Seit wann sind diese Eigenschaften Gegenstand der Zuneigung eines Radikalen? Foucault behauptet, dass Wahnsinn als eine positive Disziplin aus einem Konflikt, nämlich dem zwischen dem kritischen Bewusstsein und der tragischen Erfahrung, hervorgegangen ist. Hier stoßen wir wieder auf Batailles gnostische Spannung zwischen Diskurs und Erfahrung. Verrücktheit, fährt Foucault fort, könne nur „mit Verweis auf“ das antagonistische Reich des Verstandes begriffen werden. „Wahnsinn hat dem Verstand eine zweifache Weise des Seins voraus: er befindet sich gleichzeitig jenseits von ihm und unter seinem strengen Blick. Wahnsinn ist so dann in den Strukturen des Rationalen gefangen.“16 Wie es Bataille für „das Böse“ getan hatte, mahnt auch Foucault eindringlich an: „Wir müssen [die Verrücktheit] akzeptieren, ja selbst umarmen.“17 Schließlich konnte er, um das Bild abzurunden, nicht auf den linken Anstrich verzichten: „Der Wahnsinnige“, fügte er hinzu, „hat Teil an der obskuren Macht des Elends“.18 Es kommt politisch immer gut an, sich für die Armen einzusetzen. „Die Armen“, deklamierte Foucault, „bilden das Fundament und die Glorie der Nationen. Man muss sie hervorheben und ihrem unabwendbaren Elend huldigen. […] Der Arme: das ewige Gesicht der Not, das symbolische Durchgangsstadium des von Gott geschaffenen Menschen.“19 Foucault hatte also seine Fraktion gewählt: Die Heterogenität des Sklaven. Beachten Sie aber vor allem den predigthaften Tenor des obigen Zitats. Er entspricht kaum der Sprache eines bekennenden Religions-Hassers. Und achten Sie auch darauf, wie konservativ diese Einstellung wirklich ist: Foucault nahm die Armen als unverrückbaren Fixpunkt der Welt wahr. Er hypostasierte sie und hisste die Fahnenlumpen der Armen im Plüsch-Komfort seiner großbürgerlichen Wohnung. Und als guter Gnostiker konnte er dabei nicht einmal auf den Christus-Mythos verzichten. Tatsächlich eignete er ihn sich an, indem er die gleiche Bataillesche Trumpfkarte, Christus als Vertreter der „heiligen Unreinen“, ausspielte. „Man darf nicht vergessen“, ermahnte er, „dass Christus in gewisser Weise den Wahnsinn im gesamten Verlauf seines menschlichen Lebens geehrt hat. Er hat ihn ebenso geheiligt wie er die Schwäche geheiligt, die Sünde vergeben, und Armut für das ewige Reich ausersehen hat.“20 15

Ibd. S. 40. Ibd. S. 237. 17 Ibd. S. 46–53. 18 Ibd. S. 89 (Hervorhebung hinzugefügt). 19 Ibd. S. 510–1. 20 Ibd. S. 205. 16

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Foucaults Kritiker fanden das Projekt interessant, obwohl sie missbilligend damit gerechnet haben, dass der Kandidat „in Allegorien“ dachte,21 und dass das Werk bei genauester Analyse überhaupt nicht vom Wahnsinn handelte, sondern vom intellektuellen Stil bei der Klassifizierung psychischer Pathologie. Foucault betrieb, wie er sagte, die „Archäologie einer Entfremdung“. Er wollte ergründen, wie der moderne Mensch den Wahnsinnigen „seine entfremdete Wahrheit“ übergestülpt hat.22 Doch legte er das Hauptgewicht seiner These nicht auf die gewaltsame Strafbehandlung, welche die Insassen zu erleiden hatten, wozu einen eine mitfühlende Einstellung hinsichtlich der Beurteilung dieser Maßnahmen geführt haben würde, sondern auf die Konditionierung der Psyche dieser Patienten. Er klagte implizit den Wunsch der Ärzte an, „Schuldgefühle“ der Wahnsinnigen „zu organisieren“, nicht aber die körperliche Züchtigung der Geisteskranken.23 „Geschlechtskranke, Homosexuelle, Lästerer, [und] libertinäre Alchemisten“ wurden zu Insassen des Irrenhauses, und es war ihre Sünde der „Unvernunft“ (déraison), die sie dorthin gebracht hatte. Hinter „ihren Verbrechen und Neurosen versteckt lauerte eine Art verbreiteter Erfahrung von Angst“. Eingeschlossen in der Anstalt woben diese Anderen spontan an einem „Untergrund-Netzwerk“. Marquis de Sade, für die meiste Zeit seines Lebens ein berühmtes GefängnisOpfer, wurde ihr Barde und war derjenige, der zum ersten Mal in der Geschichte eine Theorie über „dieses Leben in Unvernunft“ formuliert hatte. Für Foucault steckte in solchen Chroniken von Wahnsinn und Ausgrenzung die wahre Erkenntnis, das „große kollektive Gedächtnis der Völker“.24 Sein Kommentar zu de Sades Episoden gleicht demjenigen Batailles. „Das Aufkommen des Sadismus“, schrieb Foucault, „geschah zu einer Zeit, als Unvernunft, die schon über ein Jahrhundert lang eingesperrt und zum Schweigen gebracht worden war, wieder auftauchte und zwar nicht mehr als ein weltlicher Charakter, nicht mehr als ein Bild, sondern als Diskurs und Begehren. Und es ist kein Zufall, dass der Sadismus, der als ein individuelles Phänomen den Namen eines Mannes trägt, aus der Internierung hervorgegangen ist. […]“.25 Die eigentliche „Sünde“ war für Foucault der Versuch der Moderne, die „das dunkel Wüten, den unfruchtbaren Wahnsinn, der in den Herzen der Menschen wohnt“26, zu neutralisieren. Die wirkliche Torheit war es, den Wahnsinn zu einem „beruhigten Objekt“ der klinischen Beobachtung gemacht zu haben.27 Foucault hatte nichts gegen die antike, souveräne Vorstellung vom Wahnsinn als einer Krankheit, eines Leidens oder eines Fluchs, den Gott den Menschen überstülpt, um sie zu bestrafen. Was er unerträglich fand und für ein Sakrileg gegen seinen 21

Miller, Leidenschaft, S. 151. Foucault, Folie, S. 113. 23 Foucault, Reader, S. 146. 24 Foucault, Folie, S. 139–47. 25 Ibd. S. 453. 26 Zitiert nach Miller, Leidenschaft, S. 146. 27 Foucault, Folie, S. 552. 22

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Begriff der Existenz hielt, war, dass der moderne Gott nun in Gestalt eines Buchhalters den Wahnsinn nach seinen „Erscheinungs-Formen katalogisierte“ und seine „verschiedenen Arten aufzählte“.28 Diese Anklage ist, wie wir wiedererkennen, nur eine Variante der Klage Batailles gegen die in der Moderne „veränderte Macht“, die in die ursprüngliche Vitalität des Kerns eindringt. In Foucaults Variante nahm die Energie des Kerns die Form des Wahnsinns an, und die „Gemeinschaft“ wurde zur großen Familie der Geisteskranken, deren gnostischen Lobpreis Bataille sein ganzes Leben lang gesungen hatte. „Der Wahnsinnige“, klagte Foucault, „wurde von seiner Animalität, oder zumindest von dem Teil der Animalität gereinigt, die sich in Gewalt, Räuberei, Wut, Grausamkeit äußerte“. Was ihm belassen blieb, war nur eine „domestizierte Animalität“.29 All die brutalen Züge des Wahnsinns hielt Foucault für verlockend, verführerisch und in ihrer Echtheit positiv – für echte Attribute „des Kerns“. Das missversteht sein heutiges akademisches und bürgerliches Publikum oder gibt vor, dies nicht zu verstehen. Des weiteren rechtfertigte er seine Position und legt andeutungsweise nahe, dass sein Buch „nicht eine Geschichte des Wissens, sondern eher eine Geschichte der rudimentären Bewegungen einer Erfahrung“ sei.30 Von welcher „Erfahrung“ er sprach, ist wiederum kein Geheimnis: es ist die eines Batailles. Wenn ein Text, wie Foucault betont, zum Labyrinth wird, lauert im Zentrum dieses Labyrinths ein Mino­ taurus.31 Bataille ist der Minotaurus in Foucaults Irrgarten. Wie zu erwarten, gipfelte Wahnsinn und Gesellschaft in einer mit hagiographischem Pathos vorgetragenen Hommage an Nietzsche, der als „Geisteskranker“ gestorben war, und an das grausame Genie des Marquis de Sade. Diese beiden waren Foucaults frühe „tragische Helden“ und Söhne des Dionysos, „erfahrene […] Lehrmeister der Trunkenheit, der Zerrissenheit, des sich stets erneuernden Todes“. Seine Macht konnte „an den Toren der Zeit“ erfahren werden32 – das heißt dort, wo Wissen, wie Bataille sagen würde, zu Nichtwissen wird, und die monströsen Archonten zu Hause sind. „Wahnsinn“ folgert Foucault schließlich, „beschwört eine innere Welt übler Instinkte, Perversionen, des Leidens und der Gewalt, die bereits vorher in das Reich des Schlafes verbannt worden war. [Wahnsinn] evoziert eine Tiefe, die der Freiheit des Menschen Bedeutung verleiht. Wird diese Tiefe vom Wahnsinn ans Tageslicht gebracht, dann ist sie das Böse in seinem rohen Zustand. […]. Der Wahnsinn der Gier, des sinnlosen Mordens und der unvernünftigsten Leidenschaften sind Weisheit und Vernunft, denn sie gehören zur Ordnung der Natur. Alles, was Moral und Religion, all das, was eine schlecht organisierte Gesellschaft im Menschen ersticken konnte, wird wieder lebendig im Haus der Mörder (Le Château des Meurtres).“33 28

Ibd. S. 245. Ibd. S. 593. 30 Ibd. S. 104. 31 Macey, The Lives, S. 129. 32 Zitiert nach Miller, Leidenschaft, S. 153. 33 Foucault, Folie, S. 642 und 657. 29

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Wahnsinn und Gesellschaft bekam einige gute Besprechungen (darunter einen positiven Kommentar von dem berühmten Historiker Fernand Braudel) und begründete Foucaults akademischen Ruf. Er hatte sich eine „große öffentliche Anerkennung“ gewünscht. Sie war damit noch nicht erreicht, aber das Buch war ein wichtiger Anfang.34 Danach begann Foucault zu experimentieren. Er machte sich daran, Batailles Erfahrung und seine intuitive Gegenüberstellung von Macht und Diskurs als ein abstraktes Sprachspiel zu konstruieren. Es sollte eine Reihe angepeilter strategischer Ziele erreichen. Zum einen sollte die Entwicklung der sprachlichen Abstraktion die Verbindung zu all den „akephalischen“ Bildeindrücken kappen. Diese Bildsprache hätte sich in der Umgebung der westlichen Wissenschaft der Nachkriegszeit, die tiefgreifend und unwiderruflich von der kompromisslosesten Form der intellektuellen Spekulationen eingenommen worden war, niemals voll einbürgern können. Mit anderen Worten, das moderne Verständigungs-Protokoll verlangte, dass die mystischen und religiösen Wurzeln der „Erfahrung“ aus dem Kontext getilgt werden. Gott und Satan waren bereits zu lange aus der Mode gekommen. Doch noch wichtiger war, dass Foucault sich dadurch einen größeren Spielraum erwarb, seine Gedanken und seine Liebe zum Chaos so perfekt in Sprache umzusetzen, wie es Bataille nicht vermocht hatte. Foucault gelang dies, indem er den Diskurs über die Erfahrung mit einer Reihe anderer in Mode gekommener Stile, nämlich dem Nihilismus, Neo-Marxismus, Strukturalismus und der surrealistischen Literaturkritik vermischte, um so den Zweck der Übung voll zu erreichen. Das war offensichtlich eine (frischere) Neuformulierung der Politik der Opposition, die selten, wenn überhaupt, offenes religiöses Verlangen, selbst der infernalischen Art, programmatisch aufgreift. Um es der neuen liberalen Leserschaft schmackhaft zu machen, sollte Batailles Projekt in den Jargon der Linken umgemodelt und zusätzlich noch dem atheistischen (und oft absichtlich obskuren) Ästhetizismus der französischen Avantgarde verpasst werden. In den zwei Jahren unmittelbar nach der Veröffentlichung seines ersten Buches reinigte Foucault die Behandlung des Diskurses, der in der Sprache des Bösen redete, von seinen mystischen Ursprüngen, und wandelte ihn in dieses eigenartig abstrakte Sprachspiel um: Die Gesamtheit der Sprache erleidet die Sterilisation durch die alleinige und identische Bewegung zweier untrennbarer Figuren: die bloße, umgekehrte Wiederholung dessen, was bereits gesagt worden war und die einfache Bedeutung von dem, was an der Grenze dessen liegt, was wir sagen können. Der genaue Gegenstand des „Sadismus“ ist nicht der andere, weder sein Körper noch seine Souveränität: Er ist alles das, was vielleicht gesagt worden ist. […] Er ist der stumme Kreislauf, in dem sich die Sprache entfaltet.35

34

Macey, The Lives, S. 114, 117, 158. Michel Foucault, Aesthetics, Method und Epistemology, vol. 2, New York 1998, S. 2:96.

35

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Nun gab es keinen mystischen Kern mehr, kein Symbol des Bösen, keine parallele Realität, eingebettet in die Urmaterie der akephalen Theologie. Alles, was uns bleibt, ist „Leben“ als eine in sich geschlossene Struktur der Sprache, die mit sich selbst spielt, sich selbst reflektiert, die sich selbst ohne Möglichkeit, dem zu entkommen, bis ins Unendliche verdoppelt. Es handelt sich um einen Raum, durch dessen verzweifelte Abgeschlossenheit und Endlichkeit das Echo der gewalttätigen Schreie der Wahnsinnigen hallt (Sade, Nietzsche, et al.). In diesem Sinne war Dionysos’ Trunkenheit nicht mehr der Wink von etwas „ganz anderem“, sondern eher der befremdliche Aufruf, dass es nichts anderes als diese Welt eines Diskurses ohne jeden Inhalt gab. Im Wesentlichen blieb es bei der Ansicht Batailles, doch in der Praxis wurde durch diese Wortspiele die Sprachlosigkeit der Gewalt als eine Laterne verwendet, um damit ausschließlich die Grenzen der Realität, wie wir sie durch Konzepte und geäußerte Argumente begreifen, auszuleuchten. Alles andere galt als Mystik, die rational gesehen nichts bedeutet. Und so konnten alle Atheisten und Agnostiker, nicht nur die Verehrer der Exkremente und „akephalen Spiele“, der Partei beitreten. Mit den Worten des gnostischen Lehrers Basilides, sind wir wieder beim „Gott, der nicht ist“ und der aus dem Nichts schafft, obwohl, ihn zu erfahren, von Foucault gerade zu einem linguistischen Spiel verflacht worden war. Somit wurde „Gott“ zu einem „Abbild“, das heißt, zu „einem leeren Bild“, zu „einer Verfälschung, die einen veranlasst, eine Sache für eine andere zu nehmen“, die „alles gleichzeitig sagt, und ständig etwas anderes vortäuscht, als das, was es aussagt“.36 In Glossen zum literarischen Werk seines Freundes Pierre Klossowski, eines weiteren Mitglieds dieser Bruderschaft, sowie Batailles Gefolgsmann bei den Ziegenopfern der L’Acéphale,37 beerdigte Foucault den von Bataille aus­gelösten Religionskrieg in die Falten von Götterbildern. Klossowskis Erfahrung wird annäherungsweise in eine Welt verlegt, die von einem bösen Geist regiert wird, der seinen Gott nicht gefunden haben dürfte oder der sich vielleicht auch als Gott darstellt, oder vielleicht sogar selbst Gott sein könnte. […] Gott selbst legte sich das Gesicht Satans zu, um den Verstand derer, die nicht an seine einsame Allmacht glauben, zu vernebeln. […] In diesen Drehungen und Wendungen werden die gefährlichen Spiele extremer Ähnlichkeit vermehrt: Gott ähnelt so Satan, der wiederum Gott gekonnt nachahmt. […] Diese Welt würde nicht Himmel oder Hölle oder Vorhölle sein, sondern ganz einfach unsere Welt, schließlich eine Welt, welche die gleiche wie die unsere ist, außer dass sie genau diese ist. […] Weder Gott noch Satan erscheinen jemals in diesem Raum … [In diesem Raum] durchquert man […] eine Gegenwart, die nur insoweit real ist, als Gott sich von der Welt entfernt und nur eine Spur und eine Lücke hinterlassen hat, so dass die Realität der Gegenwart die Abwesenheit dort ist, wo sie stattfindet.38

Nicht länger will sich Gott in eine Wanze verkörpern, um qualvoll heraus­ zufinden, dass er nicht existiert. Diesmal sind es die Wörter, die in einem albernen Kartenspiel, das keinen Zweck, nicht einmal einen Anfang oder ein Ende zu 36

Ibd. S. 127–8. Roland Champagne, Georges Bataille, London 1998, S. 13. 38 Foucault, Aethetics, S. 124, 126 (Hervorhebung hinzugefügt). 37

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haben scheint, ausgespielt werden. Die Wörter „Wanze“ und „Gott“ sind zu etwas wie Kritzeleien auf einem Zettel geworden, die in einem Handel, der auf seine eigene Sinnlosigkeit hindeutet, hin und her geschoben werden. Die Bezeichnungen sind Abbilder – nur Etikette – und das Spiel selbst macht die Ideen, die diese Bezeichnungen repräsentieren, so unwirklich wie die Symbole selbst. Wir haben den Raum der „Hyper-Realität“ betreten, in dem die Kluft zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmt. Foucaultianern wie Baudrillard bekamen von der AuslandsPresse phantastische Gelegenheiten geboten, diese Art Hokuspokus vor einem großen Publikum aufzuführen, nämlich während des ersten Golfkriegs von 1991, den sie „kommentieren“ sollten (siehe Kapitel 9). Auf diesem neu gestalteten Spielplatz konnte Foucault Bataille einen andauernden Tribut zollen und dabei in einem von aller „äußeren“ Göttlichkeit gereinigten Raum in gnostischen Gleichnissen schwelgen; er konnte mit der Selbst­ überheblichkeit eines Schülers auftrumpfen, der seinen Lehrer übertroffen hatte. In Ein Vorwort zur Überschreitung („Préface à la transgression“), einer Gedenkschrift von 1963, ein Jahr nach dem Tod Batailles, dankte Foucault Bataille für die Ermordung des transzendenten Gottes. Er habe dadurch jedem ermöglicht, „eine Erfahrung“ mitzuteilen, „in der wiederum nichts auf etwas Außerhalb des Seins hindeutet, folglich […] eine Erfahrung, die innerlich und souverän ist“.39 Das antimonotheistische Gefühl, das die Ode an den toten Lehrer durchzieht, ist zwangsläufig mit dieser frömmelnden Leugnung Gottes durchtränkt, die das unverwechselbare Kennzeichen der Totengräber der Religion, jener religiös fanatischen Inquisitoren in eigener Vollmacht ist. Die Glaubenskriege waren alles andere als vorbei, wenn überhaupt, so wurden sie nun noch wilder geführt. Doch was bedeutet, Gott zu töten, wenn er nicht existiert, einen Gott zu töten, der nie exis­ tiert hat? Vielleicht bedeutet es beides, Gott zu töten, weil er nicht existiert, und zu gewährleisten, dass er nicht existiert. Sicherlich ist es Grund zum Lachen, Gott zu töten, um das Leben von dem Dasein zu befreien, das es begrenzt, und zwar als eine Opfer­handlung. […] Gottes zu töten, um Sprache in einer ohrenbetäubenden Nacht zu verlieren, und weil diese Wunde ihn bluten lässt, bis „ein gewaltiges Halleluja, das in der unendlichen Stille verklungen war“ wieder hervorbricht – und dieses ist Kommunikation. Der Tod Gottes stellt uns nicht wieder für eine begrenzte und positivistische Welt her, sondern für eine Welt, die der Erfahrung ihrer Grenzen ausgesetzt ist, die durch jenen Überschuss gemacht und beseitigt wird, der sie überschreitet.40

Und somit dürfte der Bataillesche Begriff „Kommunikation“ gänzlich ge­rettet und recycelt, oder besser gesagt, ausgenutzt werden. Das geschieht durch einen Sprachgebrauch, der seine „transgressive Macht einer entgegengesetzten Beziehung, einer von unreiner Rede bis zum reinen Schweigen, verdankt“. „Bei Bataille“, sagte Foucault, „ist Schreiben eine rückgängig gemachte Weihe  – ein Trans­substantiations-Ritual in umgekehrter Richtung, bei dem wirkliche Gegen 39 40

Ibd. S. 71. Ibd. S. 73.

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wart wieder zu einem ruhenden Körper wird und sich im Erbrechen wieder zum Schweigen gebracht vorfindet“.41 Das war wieder einmal das „Projekt“, dessen Realisierung, wie Foucault zuversichtlich vorhersagt, „fast ausschließlich in der Zukunft liegt“, obwohl „es sicherlich möglich ist, bei Bataille seine versteinerten Wurzeln, seine vielversprechende Asche zu finden“.42 Wir entdecken im obigen Kommentar aufs Neue Batailles Bild der allumfassenden Gewalttätigkeit, das zwischendurch von der „kurzen Bedenkzeit“ des Diskurses verdrängt wird. Vergleichsweise wird bei Foucault ständig die höllische, fremde Natur des „Außerhalb“ angedeutet, doch wird sie immer wieder von der Impotenz (Dürftigkeit) der Wörter verstoßen, wenn das Feld für den Diskurs in einem kontinuierlichen Spiel der Wiederholungen ohne die Möglichkeit einer Lösung eingeebnet wird. Wie man sehen kann, sind Batailles Archonten aus dem Bild verschwunden. Foucault stellt die Frage: Spreche ich wirklich, wenn ich sage, ich spreche? Das schien „unbestreitbar richtig zu sein“, räumt Foucault in Das Außen Denken (La pensée du dehors 1966) ein, „aber“, wendete er ein, „die Dinge sind nicht so einfach.“ „Das sprechende Subjekt ist weniger die im Diskurs agierende Person […] als ein Nichtsein, in dessen Leere sich der unendliche Erguss der Sprache ununterbrochen fortsetzt.“ Er schien anzudeuten, dass wir nur an der Außenseite der Mündung eines Erbrechens stehen, das wir nicht kontrollieren können. Und so kommt Foucault im Geist Batailles wieder einmal auf de Sade zurück und bestätigt die Bedeutung des Marquis, denn letzterer hat „für das kommende Jahrhundert, dabei aber ebenso kryptisch, in unser Denken von außen die Erfahrung eingeführt, […], indem er das Verlangen, das im unendlichen Gemurmel des Diskurses steckt, bloßgelegt hat“.43 Im Jahr 1969 thematisierte Foucault noch einmal das Subjekt im wissenschaftlichen Diskurs und stellte in Was ist ein Autor? (Qu’est-ce qu’un auteur?) die Frage: „Wer spricht da eigentlich?“ Und antwortete: „Niemand“. Der Autor ist laut ­Foucault „ein funktionales Prinzip, nach dem man in unserer Kultur eingrenzt, ausschließt und auswählt. […] Der Autor geht dem Werk nicht voran. […] Der Autor ist die ideologische Figur, die wir wegen der Weitergabe von Bedeutung fürchten. […] Welchen Unterschied macht es, wer spricht?“ 44 Hier hat Foucault die Bataillesche Identifikation des Subjekts mit einer Stelle des „Rückpralls“ auf etwas veränderte Weise umgeformt. Er nannte den „Rückprall“, jene Zäsur in der Gesamtheit des Kerns (noyau), die eine diskontinuierliche Unterbrechung markiert, den „Gedanken von außen“. Doch die Idee war überhaupt nicht origi-

41

Ibd. S. 133. Ibd. S. 72–3. 43 Ibd. S. 150. 44 Foucault, Reader, S. 119. 42

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nell. (Hatte nicht auch Bataille gesagt: „Ich schreibe, um meinen Namen auszulöschen“?) Diese Sichtweise könnte schließlich zu dem extremen Relativismus der Foucaultianer geführt haben. Sie setzen diese Art der Argumentation ein, um eine Form des theoretischen Verständnisses gegenüber einer anderen zu diskreditieren und biegen die Sophisterei so zurecht, dass sie einer Vielzahl politischer Argumente dient. Sie dürften in der Tat voraussetzen, dass alle Autoren als vielfältige Prallpunkte Sprachrohre des „unerkennbaren Außen“ sind. Damit muss jede Debatte sich erübrigen und in einem Babel gleichwertigen Unsinns verschwimmen. Doch lässt sich leicht feststellen, dass diese Argumentation nicht von dem schelmischen Wunsch herrührt, alles per se zu relativieren, sondern von der Absicht, eine ganz bestimmte Form des Denkens anzugreifen, nämlich das Streben nach Wahrheit um ihrer selbst willen. Darauf bezog sich Bataille mit dem Begriff „absolutes Wissen“ als dem Widersacher zum dionysischen Chaos. Bereits in diesem Stadium begannen viele Kritiker aus irgendeinem Grund, diese karikaturartige Phantasterei Foucaults als Betrug zu verwerfen: Klar, wenn alle Autoren nur Satzzeichen im Überfluss des Diskurses sind, was gibt Foucault das Recht, sich über den gewöhnlichen Sprachfluss zu erheben und von diesem Standpunkt aus hinsichtlich der Rede des einen oder anderen Unterschiede oder Diskriminierungen vorzunehmen? Was unterscheidet einen Diskurs von einem anderen? Wie kann die Erzeugung eines Diskurses, wie Foucaults eigene Argumentation, abstrakt über „den Diskurs“ sprechen? Warum können Autoren aus dem gleichen kulturellen Milieu so heftig über alles uneins sein? Und warum glauben manche Menschen vielleicht an Allah und andere nicht? Und warum wird ein Individuum verrückt, und ein anderes nicht? Und wer soll sagen, wer verrückt sei und wer nicht, wenn wir alle gekritzelte Kommas im sinnlosen Geschreibsel der zeitlosen Existenz sind? Dies ist ein häufiger und recht vorhersehbarer Einwand, der üblicherweise von allen erhoben wird, die idealistische Systeme der Interpretation anwenden – Systeme, die eine bestimmte Form eines ursprünglichen, immateriellen Prinzips (eines abstrakt definierten, sei es ein irdisches, materielles oder göttliches) postulieren und deren greifbarer Ausdruck Einzelpersonen sein sollen. Wenn dieses Prinzip wie bei Foucault für allumfassend, unstrukturiert und absolut gehalten wird (obwohl Bataille sich in diesem Punkt unklarer ausdrückte), dann hat der Einwand Bestand. Doch dessen ungeachtet ging die Sache weiter, und für den Aufstieg Foucaults gab es kein Halten mehr. Weder er selbst noch seine Nachfolger sollten je auf diese Kritik eingehen. Außerdem ging es hierbei nie um logische Konsistenz, sondern, wie wir schon wiederholt vorgetragen haben, eher um religiöse Vorherrschaft. Logik oder Wissenschaft haben, per Definition, wenig mit einer solchen Frage zu tun. 1966 veröffentlichte Foucault sein zweites Buch, Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses). In ihm verkündete er den „Tod des Menschen“. Es war ursprünglich, wie er zugab, für den Gebrauch von zweitausend Akademikern vor­

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gesehen. Doch das Establishment dachte darüber anders und schob den überrascht erfreuten Foucault auf die große Bühne intellektueller Berühmtheit. L’Express, die weitverbreitete Wochenzeitung, überschrieb ihren Artikel „Die größte Revolution seit dem Existentialismus“ und setzte sein Porträt auf die Titelseite. Marie Chapsal, die 1961 eine Hommage an Bataille geschrieben hatte, war der Autor der Besprechung. Das Buch erschien im April und wurde sofort zu einem Bestseller.45 Foucault war nun der letzte Schrei. Jeder Pariser Intellektuelle, der etwas auf sich hielt, musste irgendwie erkennen lassen, dass er oder sie das Buch gelesen hatte. Die Ordnung der Dinge gilt als Inbegriff eines akademischen Werks: eine 400-seitige vergleichende Analyse der jüngsten taxonomischen Geschichte der Sozialwissenschaften, Biologie und Philologie. Foucault hatte es als ein „Spiel“ ausgegeben – als eines jener Spielchen, mit denen Wissenschaftler sich die Karriereleiter hinauf drängeln. Es war als ein herkömmlicher „Kompetenz-Nachweis“ nur für Angestellte gedacht. Später sollte er eingestehen, dass es sich „schlicht und einfach um Fiktion“ gehandelt habe.46 Der Ton des Buches ist ermüdend und ein Hauch verzweifelter Vergeblichkeit durchzieht die ganze Übung. Wenn Wahnsinn und Gesellschaft die Launen des „Anderen“ aufspüren sollte, hat der Autor Die Ordnung der Dinge geschrieben, um stattdessen die Geschichte „desselben“ zu rekonstruieren. Die Suche nach „demselben“ erlaubte es Foucault, sich endlos mit dem Zusammentragen von Gleichnissen zu beschäftigen – von Geschichten eines Märchens, das sich immer wieder in einer Reihe von fragmentierten Geschichten über die gleiche Sache fortschreibt, von Malern, die zwischen den Spiegeln das Hin- und Her-Reflektieren von Ansichten eines Originals malen, etc. Es ist wieder einmal das Spiel zwischen dem „Zeichen“ und dem „Ähnlichen“, die einander jagen und dabei schließlich eine zeitlose Sequenz überschreiben – ein Seemannsgarn, das immer mit sich selbst identisch ist – welche die historische Dimension der menschlichen Anstrengungen, in der Tat, bedeutungslos macht.47 „Der Mensch“, hört man wieder, „ist nur eine gewisse Platzwunde in der Ordnung der Dinge“, er ist „nichts als eine neue, kaum zwei Jahrhunderte alte Erfindung, eine einfache Falte in unserem Wissen“.48 Der Held von „demselben“ ist Don Quixote, „all sein Sein ist nichts als Sprache, Text, gedruckte Folianten, bereits überschriebene Geschichte.“49 Nicht einmal die Wirtschaftswissenschaft – in der Foucault auffällig unwissend war – sparte er aus.50 Interessant dabei ist zum Beispiel seine bedingungslose Akzeptanz und die Bataillesche Behandlung von Malthus Überbevölkerungs-Postulat, das heißt, des Dogmas, dass die Natur geizig sei, und dass 45

Macey, The Lives, S. 160. Ibd. S. 480. 47 Michel Foucault, Les mots et les choses, Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 49. 48 Ibd. S. 15. 49 Ibd. S. 60. 50 Um einen Eindruck von Foucaults Gerede zum Thema Geldwirtschaft zu bekommen, vgl.: Foucault, Les mots, S. 180, 187, 198, und 202. 46

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es nicht genug Nahrung gebe, um uns alle zu ernähren. Abgesehen davon, dass er durch die Erfahrung systematisch widerlegt worden ist, ragt der Malthusianismus als der Standard-Grundsatz des Konservatismus – vielleicht sein schlimmster – heraus, jenes unfehlbare Todschlag-Argument all jener, die unerbittlich dazu neigen, das unabänderliche Vorhandensein von Armut zu rechtfertigen. In jedem Augenblick seiner Geschichte, muss sich die Menschheit unter Todesdrohung abmühen: Jede Bevölkerung ist zum Aussterben bestimmt, wenn sie nicht neue Ressourcen findet. […] Die Wirtschaft findet ihr Prinzip nicht mehr in den Spielen der Selbstdarstellung, sondern aufseiten des gefährlichen Gebiets, auf dem das Leben sich mit dem Tode misst. […] Der Homo Oeconomicus ist nicht das Subjekt, das von seinen eigenen Bedürfnissen vereinnahmt wird und von den Objekten, mit denen er sie befriedigen kann. Er ist das Subjekt, das sein eigenes Leben verausgabt, verwendet und verliert, um der drohenden Gefahr des Todes zu entkommen.

Image-Berater und publizistische Königsmacher müssen lange und angestrengt in diesem unverdaulichen Wälzer nach einer zitierfähigen Passage gesucht haben, um Foucaults plötzlichen Aufstieg zu unterfüttern. Zum Glück für alle kam eine solche Stelle ganz am Ende zum Vorschein: So können wir auch darauf wetten, dass der Mensch vergehen wird wie ein Gesicht, das am Meeresstrand in den Sand geritzt wurde.51

So weit so gut. Die Ordnung der Dinge sollte später einstimmig als die ungenaueste, am wenigsten gelesene, am wenigsten zitierte und am ehesten zu vergessende Arbeit Foucaults gelten. Und doch war es dieser Titel, der den wirtschaftlichen Durchbruch schaffte. Dies war das Signal, dass das französische Establishment den „Dialog“ mit dem Marxismus, welcher der Opposition als Gegen-Altar gedient hatte, beenden wollte, und seine Unterstützung auf das Foucaultsche System verlagerte. Foucaults Diskurs schien ein subtilerer und flexiblerer Katalysator für die „Opposition“ zu sein, als die konventionelle und exklusive Rhetorik des Klassenkampfs und der antikapitalistischen Emanzipation. Es dürfte unzufriedene Marxisten angezogen, und so deren Lager gespalten haben, und, noch besser, es schien keine reformistische Agenda, keinen Plan für soziale Verbesserungen zu besitzen. Unter den Händen von Foucault war die bloße Vorstellung von „Revolution“ oder „Politik“ dazu bestimmt, zu etwas ganz anderem zu werden. Eine Studie über den politische Wissensstand sollte sich weder mit dem Moment der Entstehung des revolutionären Bewusstseins noch mit den Biographien der Revolutionäre befassen […], sie hätte die Entstehung einer diskursiven Praxis und eines revolutionären Wissens zu untersuchen, die zusammen Strategien erzeugen und zu einer Theorie der Gesellschaft und ihrer Transformation führen.52

51

Ibd. S. 365. Macey, The Lives, S. 203.

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Frankreichs hartgesottene Linke griffen das Buch frontal an: Sie beklagt in Foucaults „Spiel“ das Fehlen eines „schöpferischen Subjekts“.53 Offensichtlich setzten sie voraus, dass eine Philosophie des Protestes und des Widerstandes einen Kopf brauche, dem die Opposition die Verantwortung anheften konnte: Sei er nun ein Sklaven-Halter, ein Kapitalist, oder sonst jemand. Die strukturalistischen Fabeln erzählten, dass sich die Sprache selbst schreibe und das menschliche Sprechen in die Zwangsjacke der bestehenden Syntax einpferche und die Wörter „verschlüssele“. Für die traditionelle Linke nahmen diese strukturalistischen Fabeln den Nervenkitzel aus dem Kampf. Sie säuberten die Arena von dem Bösewicht – wer auch immer das sein mochte. Foucault bewahrte die Nerven und hielt verschmitzt dagegen, dass „der Marxismus wie ein Fisch im Wasser noch im Denken des XIX. Jahrhunderts [lebe], das heißt, er habe [aufgehört] irgendwo anders zu atmen“.54 Jean-Paul Sartre, die amtierende Ikone des Marxismus der franzö­sischen Dissidenten, wand sich wie eine verletzte Primadonna: Foucault, schimpfte er, „ist die letzte Barrikade, welche die Bourgeoisie gegen Marx errichten kann“. „Armes Bürgertum“ sollte Foucault Jahre später zurückgeben, „wenn es mich als Barrikade benötigte, hätte es seine Macht bereits verloren!“55 Ärgerlich war daran natürlich, dass keine der beiden Seiten ganz falsch lag. Foucault hätte viel offener und weniger bescheiden sein sollen: Nicht das marxistische Dogma fürchteten die liberalen Demokraten, sondern eine geschlossene, einheitliche Massenbewegung des sozialen Widerstands gegen breit angelegte Privilegien. Im Westen hatte der Marxismus eine solche zu einem gewissen Grad zusammengebracht, aber nie überwältigend. Zu wirklichen Schwierigkeiten kommt es, wenn sich die Mittelschicht mit der Arbeiterschaft gegen die herrschende Elite (Hochfinanz und staatliche Bürokratie) vereinigt. Die Foucaultsche Formel schien ein wirksames Gegenmittel gegen diese eigentlich erschreckende, aber noch etwas abgelegene Eventualität zu bieten. Die Clans im Westen hatten nichts an ihrer Macht eingebüßt, trotzdem wurde Foucault „benötigt.“ Er war ihnen mehr wert, als er selbst wusste. Trotz des redaktionellen Triumphs hat Foucault kein Hehl aus seiner Verlegenheit über diesen plötzlichen, wirklich unverdienten Ruhm gemacht. Ihn „irritierte zunehmend die unverständliche Begeisterung seines neuen großen Publikums“.56 Das ging so weit, dass er mit Die Ordnung der Dinge völlig unzufrieden, den Verlag bat, das Buch nicht wieder aufzulegen, allerdings vergeblich. Möglicherweise aus Scham über einen solchen künstlichen Erfolg, verschwand er für zwei Jahre an die Universität von Tunis. Man war sich allerseits einig, dass diese abrupte Abreise zu einer solch unwahrscheinlichen Anstellung „etwas Rätselhaftes“ an sich hatte.57

53

Ibd. S. 201. Ibd. S. 177. 55 Miller, Leidenschaft, S. 232. 56 Ibd. S. 158. 57 Macey, The Lives, S. 184. 54

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Und so machte sich Foucault davon und verpasste die große Show. 1968 brachen Europas Studentenproteste aus. Das französische Establishment holte ihn im Oktober des gleichen Jahres zurück und lockt ihn mit einem Lehrstuhl für Philosophie an der neu gegründeten Universität in Vincennes vor den Toren von Paris. Das war ein exquisiter Trick, den widerspenstigen Mob um den neu ernannten (Batailleschen) Guru der Revolte aus der Stadt hinaus zu drängen. Foucault nahm das Angebot an und nutzte die Macht, die ihm zugeteilt worden war, wie alle akademischen Barone aus, um alle verfügbaren Stellen unter Missachtung von Offenheit und Verdienst an Schützlinge, darunter auch an seinen Geliebten, Daniel Defert, zu vergeben.58 Das Universitätsleben war Ende der sechziger Jahre tatsächlich chaotisch, insbesondere in Vincennes: Täglich gab es Proteste, Zusammenstöße mit der Polizei, täglich wurden Slogans skandiert, kam es zu Raufereien, beleidigenden Schmähungen, Vorlesungs-Boykott und Tränengas-Einsätzen. Angeblich hatte Foucault an dem allen „wahnsinnigen Spaß“. Er spielt seine Rolle als „radikaler Prof.“ mit Perfektion. „Er wurde zum ersten Mal verhaftet, und dementsprechend stieg sein Ansehen in den Augen seiner linken Kollegen und Genossen.“59 Doch so sehr er Chaos, Blut, Wahnsinn und die Souveränität auch verehrte, so fand er doch allmählich das ständige Durcheinander in der Fachschaft und die Unterbrechung seiner Vorlesungen durch Unruhestifter so unerträglich, dass er ziemlich rasch vom Universitätsgelände floh.60 Ansonsten ließ er sich an der Spitze von ein paar politischen Demonstrationszügen sehen: Einmal musste er dabei den Schock der Bereitschaftspolizei verdauen, ein anderes Mal warf er vom Dach seines Fachschafts-Gebäudes ein paar Steine auf die Polizei, wobei „er sehr darauf achtete, daß sein wundervoller Samtanzug nicht schmutzig wurde“.61 Die übrige Zeit verbrachte er in der Bibliothèque Nationale. Ganz anders als Diogenes, der Kyniker, den er angeblich bewunderte, hatte Foucault nicht die geringste Absicht, in Lumpen zu leben, auf die Reichen zu spucken, und in einem Fass zu schlafen, und bei Tag auf dem Place Vendôme zu masturbieren – die Zeiten hatten sich geändert. In der Tat, im Dezember 1970 wurde er der höchsten Auszeichnungen für würdig erachtet und in die höchste akademische Bruderschaft Frankreichs aufgenommen, ins Collège de France. Das war nun wirklich Foucaults „öffentliche Weihe“. Das Collège war nicht Teil des Hochschulsystems. Es hatte keine Studentenschaft und vergab keine Abschlüsse. Von den Ehrenmitgliedern wurde nur erwartet, im Jahr 12 zweistündige Vorlesungen zu halten, die der Öffentlichkeit zugänglich

58

Ibd. S. 221. Ibd. S. 226. 60 Miller, Leidenschaft, S. 265. 61 Ibd. S. 261. 59

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waren.62 In seiner Dankesrede umriss er die (Batailleschen) Leitsätze, die später eine systematische Ausformulierung in seiner Theorie Macht / Wissen finden sollten. [Foucault] ließ dabei durchblicken, daß zumindest er das einschränkende Muster durchbrochen habe und den akademischen Diskurs überschritten und an seiner Stelle einen lang vergessenen „wahren“ Diskurs wiederbelebt habe, der voll von ungezähmter Macht sei. Ein solcher Diskurs könnte, wenn man seinen Gefahren unerschrocken gegenübertrete, „Achtung und Ehrfurcht“ hervorrufen, so wie die Werke der klassischen griechischen Dichter es getan hatten. Er könnte sogar, indem er die Menschen dazu bringe, anders zu denken und zu handeln, die Welt ändern, d. h. „mit dem Geschick verflocht[en]“ sein.63

Was für eine Zeremonie muss das wohl gewesen sein? Angestrahlt und behangen mit allem Pomp, den die Macht zu bieten hat, umgaben eine Menge Würdenträger diesen neu aufgenommenen „Bilderstürmer“. Sie hatten dazu ihr Feinstes an Schmuck und Kleidung angelegt, während er über „Macht“ und ihren bevorstehenden Diskurs predigte. Vorbei an den Schilderreihen der Bereitschaftspolizei in Kampfausrüstung betraten die Pariser die Hallen des Collège, um an der Liturgie „eines weltlichen Hochamtes“ teilzunehmen.64 Wie eine Feder stieg Foucault von einer glänzenden Beförderung zur nächsten auf und bekam nun die Erlaubnis, ihnen (den Würdenträgern) eine „Vorlesung“ über das unveröffentlichte Potenzial des (Batailleschen) Projekts zu halten, das „Respekt und Terror“ provozieren konnte. Wessen Projekt? Als ob er das nicht wüsste? Als ob sie es wüssten? Haben Sie nicht gewusst, dass der „wahre Diskurs“ in Batailles Elegie der Sodomie, der Azteken, der Eier im Urin, des Wahnsinns, des Kots und „der Bedrohung der zivilisierten Ordnung“ bestand? Wahrlich, wen versuchte Foucault denn da zu betrügen? Wo er doch selbst der erste war, der erkannte, dass die Machteliten klug waren. Was konnte ihn möglicherweise veranlasst haben zu glauben, dass er sie überlisten konnte? Sie machten ihn 1966 berühmt und gaben ihm 1968 ein Amt. Er hatte damals Steine auf die Polizisten geworfen und sie machten ihn zu dem bekanntesten Akademiker Frankreichs. War es nicht offensichtlich? Doch so wird die Frage falsch formuliert. Niemand hat jemanden getäuscht: Jeder benutzte den anderen für seinen Zweck, der letztlich der gleiche Zweck für beide Seiten war, nämlich dem Traum von der Sammlung aller menschlichen Aktivitäten in eine Bewegung zum unbedingt Guten und weg von Privilegien, Souveränität und Gewalttätigkeit, den Bataille verachtet hatte, nun endgültig ein Ende zu setzen. Sowohl die Machteliten als auch die Foucaultianer waren sich dessen bewusst. Jede Seite übernahm ihren Teil an der Abmachung unter dem Deckmantel der Täuschung. Die einen spielten sich als aufgeklärte Herrscher auf, die den Andersdenkenden anerkennen, und die anderen als die stolzen Dissidenten, die das ihnen Zustehende einforderten (d. h. Lehrstühle und Ehrungen). 62

Macey, The Lives, S. 241. Miller, Leidenschaft, S. 269. 64 Macey, The Lives, S. 243. 63

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Nun, da er den Gipfel der Ehrungen erklommen hatte, begann er in seiner Eigenschaft als Erzbischof der Gegenmacht in einer Flut von Interviews „Erklärungen an die Presse herauszugeben“. „Wir müssen uns“, gab er bekannt, „von jeglichem kulturellen […] Konservatismus frei machen“, „Wir müssen unsere Rituale als das erkennen, was sie sind: völlig beliebige Dinge, die an unser bürgerliches Leben gebunden sind. Es ist eine gute Sache […], sie spielerisch und ironisch zu überschreiten; es ist gut, schmutzig zu sein und einen langen Bart zu tragen, wie eine Frau auszusehen, wenn man ein Mann ist (und umgekehrt); man muss die Systeme, die uns im Stillen herumkommandieren, ‚ins Spiel bringen‘, verändern und rückgängig machen. Was mich betrifft, so ist es dies, was ich in meiner Arbeit tue.“65 Die „Gesamtgesellschaft“, betonte er, „ist dasjenige, dem nur insoweit Rechnung zu tragen ist, als es zerstört werden soll“: Foucault schlug einen kulturellen „Angriff“ auf die bürgerlichen Sitten auf dem direkten Weg über Drogen und Rauschgift, das Brechen sexueller Tabus und aller Verbote und ein Ausloten der kommunalen Dimension vor.66 Kurz gesagt, als verbeamteter Zerstörer käute Foucault den antiken matriarchalen Karneval sexueller Inversion und Promiskuität mit einer Prise gnostischen Geplänkels und Bataillescher „Theopathie“ als eine Version des „Sommers der Liebe“ wieder. Nichts Neues mehr unter der Sonne – niemals. Im Jahr 1971 wurde er vom niederländischen Fernsehen zu einem Kommentar über die weltweiten Bewegungen der (linken) Rebellion eingeladen. Dies sollte in der Form eines Streitgesprächs mit Noam Chomsky geschehen, der diesen Menschen nicht verstehen konnte. „Ich will damit sagen, daß ich ihn [Foucault] als Person mochte“, erinnerte sich Chomsky später. „Ich konnte ihn einfach nicht verstehen. Es war, als ob er zu so etwas wie einer anderen Gattung gehörte.“67 Foucault lehnte es ab, irgendein „ideales Sozialmodell“ zu skizzieren, und spielte weiterhin voll Zustimmung mit der Möglichkeit, dass sich die revoltierenden Massen in mehreren internationalen Situationen zu einer höchst blutigen Vendetta gegen die Regime ihrer früheren Unterdrücker erheben. Er sollte den gleichen Vorschlag in seinem Gespräch mit den französischen Maoisten wiederholen, und sah mit begeisterter Faszination einer Wiederaufnahme der „Volksjustiz“ entgegen, wie sie im Jahre 1792 im nachrevolutionären Frankreich stattgefunden hatte. Das war eine Form systematischer Lynchjustiz, wobei verdächtige Klassenverräter „zu einer Art Spießrutenlauf unter Keulen, Spießen, Äxten, Messern, Säbeln, in einem Fall sogar unter Schreinersägen hindurch gezwungen wurden“. Das Ergebnis dieser blutigen Aufstellung in Reihe und Glied war eine zähe Brühe aus zerrissenem Gedärm und abgehackten menschlichen Gliedmaßen von mehr als tausend Männern und Frauen. Als Gegenreaktion, die vom „Kern“ ausgeht, hielt Foucault es für verdienstvoll, „verschiedene alte Riten wiederzubeleben, die zu der ‚vorgerichtlichen‘ Justiz“ gehören.68 65

Miller, Leidenschaft, S. 263 f. Ibd. S. 292. 67 Ibd. S. 297. 68 Ibd. S. 300. 66

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Nie in der Lage, etwas ganz Neues zu erfinden, hatte sich Foucault so sehr an die Fußstapfen Batailles geheftet, dass es nicht mehr lange dauerte, bis er sich nach seinem eigenen Gilles de Rais sehnte. Auch er wollte jetzt ein blutiges Maskottchen. So durchsuchte er ein Archiv des 19. Jahrhunderts, bis er auf die Memoiren eines jungen Mörders mit Namen Paul Rivière stieß. Endlich hatte er seinen Lieblings-Kriminellen. Als grausame Kreatur mit einer Vorliebe, kleine Tiere zu quälen, hatte Rivière eines Tages im Juni 1835 beschlossen seine Rechnung mit dem Schicksal zu begleichen: Er spaltete seiner schwangeren Mutter den Kopf, zertrümmerte den Schädel seines Bruders und schnitt seiner Schwester den Kopf ab. Angeblich wollte er seinen Vater rächen, dem die Mutter den Laufpass gegeben hatte. Nach der Festnahme rechtfertigte Rivière in der Art de Sades sein Verbrechen unter Berufung auf das natürliche Recht des Stärkeren und erklärte schließlich, dass er gelassen die Vergeltung für seine Tat als Reinigung durch den Tod erwarte. Hier war also wieder einmal ein Bataillesches Epos vom trotzigen Stier aufgetaucht, der ein letztes Mal genüsslich den Torero ausweidete, bevor er verzweifelt in die Leere seiner vorherbestimmten Opferung vorstieß. Foucault „dachte, Rivière habe im Recht gehandelt […] als ‚eine Art von Ehrerbietung‘“. Die Memoiren wurden 1973 mit einem Kommentar von Foucault und den ethnographischen Anmerkungen einer Forschergruppe, die er für diesen Anlass zusammengestellt hatte, veröffentlicht. „Ihre eingebildete affektive Bindung an den Mörder war so stark, dass die Mitglieder der Gruppe zögerten, Honorare für die Veröffentlichung des Berichtes über diesen Fall zu nehmen, und daran dachten, damit eine nach ihm benannte Stiftung zu finanzieren.“69 Rivières Memoiren seien, so erklärte er [Foucault] in einem […] Interview, „so stark und fremdartig, daß das Verbrechen eigentlich gar nicht mehr existiert.“70

Nichts von alledem hat natürlich seinen Niederschlag in den bearbeiteten Lehrbüchern und Textausgaben Foucaults in den Vereinigten Staaten gefunden. Stattdessen wurde zensurartig Foucaults Darstellung gereinigt, auf welche Art und Weise die in der kontrollierenden Bürokratie verkörperte moderne Rationalität die aufsässigen Seelen der Gesellschaft verärgert und gequält habe, nämlich die Schwachen, die Bedürftigen und der Geisteskranken. Die Herausgeber wollten damit das Bataillesche Projekt in der Foucaultschen Verpackung als einen Aufschrei des universellen Mitgefühls gegen die kalte Grausamkeit des modernen „Systems“ verkaufen. War das nicht großartig? Die Jahre 1971–73 umfassten die beiden Jahre politischer Aktivität Foucaults. Erklärtes Ziel seiner Militanz war die Stärkung der Rolle der „anderen“. Von diesen „anderen“ standen diejenigen, die zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, seinem Herzen besonders nahe. In diesen Jahren waren Gefängnismeutereien weit verbreitet und Foucault erklärte das Phänomen eindeutig als Heterogenität, die nachdrücklich gegen die Zäune der disziplinierenden Gesellschaft an 69

Macey, The Lives, S. 251. Miller, Leidenschaft, S. 334.

70

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rannte. Er ging damals häufig auf die Straße, um zur Verteidigung und im Namen der Rechte und Forderungen der Häftlinge zu demonstrieren.71 Tatsächlich sollten die Studien über die Welt der Gefängnisse seine weitere Karriere nachhaltig prägen. Und wiederum hatte Bataille, sein Lehrer, auch dazu schon den Hinweis gegeben. „Intellektuelle Verzweiflung“, hatte Bataille im Jahr 1929 geschrieben, „führt weder zu Feigheit noch zu Träumerei, sondern zur Gewalt. Somit steht außer Frage, bestimmte Untersuchungen zu unterlassen. Wir müssen nur wissen, wie wir unsere Wut ausüben, ob wir wie Irre die Gefängnisse umkreisen oder sie ganz abschaffen sollen.“72 „Die Veröffentlichung von Überwachen und Strafen (Surveiller et punir) im Jahr 1975 erfuhr eine erhebliche Publizität.“73 In diesem Buch lieferte Foucault seine Theorie von Macht/Wissen, die er in den folgenden Jahren weiter ausbaute und die seitdem zu seinem Akt des Widerstands (pièce de résistance) geworden ist. Das Buch stellte jedoch nur eine Neubearbeitung von Batailles Theorie der Macht im Rahmen der „disziplinierenden Umwelt“ dar. In dieser Weiterführung wurde der blutige Wahnsinn des Kerns statt als Opfer des klinischen Systems nun als Opfer der rationalen Organisation der Gefängniswelt vorgetragen: Foucault begleitete den Leser von der Heilanstalt zum Gefängnis – doch die Nachricht sollte die gleiche bleiben. Überwachen und Strafen stellt in zeitlicher Reihenfolge die Mittel und Methoden dar, nach denen die modernen Strafvollzugsanstalten seit dem 17. Jahr­hundert an der Schwelle der Moderne die ungezähmte Kraft der rebellischen Animalität von Menschen reglementiert hat. Das Buch beginnt mit einer detaillierten, wegen seinem Beharren auf anatomischen Details fast voyeuristischen Beschreibung der Folter und Hinrichtung von Damien, einem Königsmörder im vormodernen Frankreich. Man sollte annehmen, die Episode würde die Studie zu einer lauten Anklage der wilden Grausamkeit im Feudalismus und seiner dämonischen Rückgriffe auf grausame Formen der Todesstrafe machen. Tatsächlich wurde das Gesamtwerk Foucaults in der Regel als eine solche dem studentischen Publikum in Amerika vorgestellt. Doch ist dies eine selektive, oft inkompetente und letztlich irreführende Präsentation der Absicht Foucaults, die in Wahrheit auf das völlige Gegenteil hinauslief. Foucault beschwor damit wieder einmal die Bataillesche Faszination, die von zeremoniellen Folterungen ausgeht, herauf. Wieder spulte er die alte Leier ab: Dem Leser wurde das Gedränge der Dorfbewohner um den Scheiterhaufen der opferartigen Exekution vorgeführt, aufgezeigt, wie sie angesichts des Todes bereit waren, vertraut mit einander zu reden. Dabei wurde jeder Zelebrant (dieser Kommunion) durch den atemberaubenden Leim vergossenen Blutes und der heraus­

71

Macey, The Lives, S. 257, 285. Bataille, OC, S. 1:211. 73 Macey, The Lives, S. 334. 72

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gerissenen Eingeweide an den anderen gefesselt.74 Bis gegen Ende der Renaissance wurde der religiöse Appetit des Mobs auf Blut auf die eine oder andere Weise befriedigt. Doch dann haben sich die Dinge geändert. Die Moderne ächtete die Tötung. Im Namen der „Vernunft“ gestaltete sie diese „human“. Es war diese spezielle Entwicklung – die aseptische Technik des Mordes und der Reform – welche Überwachen und Strafen kritisch auseinanderzunehmen versprach. Foucault gab dieser neuen „Ökonomie der Strafe“ die Schuld, die feierliche und souveräne Tötung von pulsierendem Fleisch aufgegeben zu haben.75 Eine Tatsache ist jedoch unmissverständlich: innerhalb weniger Jahrzehnte war der verstümmelte, der zerstückelte, der amputierte und der an den Pranger gestellte Körper verschwunden. Der Körper als auffälliges Ziel strafrechtlicher Unterdrückung ist verschwunden. […] Bei der Exekutions-Schau war einst ein betäubender Horror vom Blutgerüst aus hervorgebrochen, er schloss sowohl den Scharfrichter als auch die Verurteilten ein.76

Foucault beklagte die Institution der reglementierten Durchführung, den Zeitplan, die Straf-Regulierung und die ordentliche Behandlung des Verurteilten. Alle diese Maßnahmen waren für ihn mit der heroischen Explosion des, wie er es nannte, l’éclat des supplices, des „schimmernden Ausbruchs des Todes durch Folter absolut unvereinbar“.77 Gegen letzteres schien er überhaupt nichts einzuwenden gehabt zu haben. „Das moderne Justizwesen“, schrieb er, „und diejenigen, die das Strafmaß zumessen, schämen sich zu strafen […]. Bestrafung ist von einer Kunst unerträglicher Sensationen zu einer Ökonomie suspendierter Rechte übergegangen.“78 Liberalismus ist Utopie. Es war der Traum  – oder eher der Alptraum,  – das gesamte soziale Leben in Beziehungen einzubinden, die durch Markttransaktionen vermittelt werden. Damit hat man bisher eine fortschreitende Zerstörung der kommunalen Empfindung, der Würde der Arbeiter und der Umwelt erreicht.79 Der Liberalismus bestand in dem Alptraum, diese wirtschaftliche Verkrüppelung der Gesellschaft in ein Raster von Geboten zur Selbst-Disziplinierung umzuorganisieren. Diese sollten die Polizei Organe weitgehend von ihren Überwachungsaufgaben entlasten – und dies alles im Namen der (mechanischen) Effizienz. Diese Transformation ist hinlänglich bekannt, und sie zu kritisieren, ist überhaupt kein Vorrecht der postmodernen Linken. Das Besondere an dem, was Bataille und Foucault dem kriminellen Spießertum des Liberalismus vorwarfen, ist, die souveräne Art der Gewaltausübung durch prophylaktische Methoden der Kontrolle ersetzt zu haben. 74

Bataille, OC, S. 2:371. Michel Foucault, Surveiller et punir, naissance de la prison, Paris 1975, S. 13. 76 Ibd. S. 14 f. 77 Michel Foucault, Power/Knowledge: Selected Interviews & Other Writings, 1972–1977, New York 1980, S. 104. 78 Foucault, Surveiller, S. 16. 79 Karl Polanyi, Great Transformation, The Political and Economic Origins of Our Time, Boston 2001 [1957], insbesondere S. 108–15. 75

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Die Utopie der reinen Justiz bedeutet: [Jemanden] die Existenz zu rauben und dabei Schmerzen und Schweiß zu vermeiden, [ihm] alle Rechte zu entziehen, ohne Leid zuzu­ fügen, Sanktionen schmerzfrei zu verhängen. […] Sie ist ein doppelter Prozess: Beseitigung des Spektakels, Unterbindung von Schmerzen.80

In den guten alten, souveränen Tagen würde der Henker zum Beispiel den Bauch des Opfers aufschlitzen und ihm eilends die Eingeweide herausreißen, so dass der Verurteilte „noch Zeit haben würde, zuzusehen“.81 Verbrechen und Strafe verschmolzen zur „Ungeheuerlichkeit, nicht als obskure Anwendung des Vergeltungsgrundsatzes“, sondern eher als Bestätigung der Macht im Glanz ihrer Waffen. Im Gefolge Batailles wiederholte Foucault: „Während die Form der monarchischen Souveränität dem Herrscher den Zuschlag einer überquellenden, unbegrenzten Macht einräumte, einer Macht, die ungeregelt und unausgeglichen ist, eröffnete sie auf Seiten des Untertanen den Spielraum einer andauernden Illega­lität. Letztere war wie eine Entsprechung dieser Art von Macht.“82 Foucault bediente sich beharrlich der Dialektik, vor allem im Zusammenhang mit der unterstellten Spannung zwischen der Heterogenität des Herrn und der des Sklaven. Das Epos des Verbrechens war für Foucault wie für Bataille ein schönes, für immer ungelöstes Duell zwischen souveränen Gleichgestellten: Die barocke Romanze vom auspeitschenden Prinzen und seinem „Gegenüber“, dem Mörder aus der Unterklasse. Der verbreitete Erfolg dieser endlosen Geschichte „liegt offenbar an der Entdeckung der Schönheit und der Größe des Verbrechens. Es ist dies in der Tat die Behauptung, dass Größe auch ein Recht auf Kriminalität hat und dass letztere das ausschließliche Privileg derer ist, die wirklich groß sind.“83 Bataille hatte das zuvor schon gesagt und Foucault es nur nachgeplappert: Die Bevölkerung hatte keine Angst vor Hinrichtungen.84 Sie entsprachen einem uralten, unverzichtbaren Ritus. Die heutigen Reformer erkannten diese Schwierigkeit und sorgten deshalb dafür, dass sich die Bestrafung nicht „an ein paar privilegierten Knotenpunkten konzentriert blieb“, und dass sie „in homogenen Kreisläufen arrangiert überall auf kontinuierliche Weise und bis in die äußersten Winkel des sozialen Körpers zum Einsatz kommen konnte“.85 Foucault ging noch weiter und erinnerte daran, dass sich das klinische Auge der Bürokratie weit mehr mit der „Seele“ des Untertans beschäftigte als mit seinem Körper, der mit seinen Ausscheidungen, seinem Verfall und dem organischen Abhaken des Todes heute aus dem Blickfeld zu verschwinden hat. Durch eine „Metamorphose der Strafmethoden“ verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Strafvollzugsorgane vom Körper hin zum „Herz, Geist und Willen“ des Opfers.86 80

Foucault, Surveiller, S. 17. Ibd. 82 Ibd. S. 90. 83 Ibd. S. 72. 84 Ibd. S. 67. 85 Ibd. S. 83, 90. 86 Ibd. S. 22. 81

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Der Disziplinierungsapparat griff sich den Körper des Verurteilten und fing an, ihn sozusagen zu gestalten, ihn zu disziplinieren, zu drillen und auszubilden. Bis etwas Einzigartiges geschah. Eines schönen Tages wurde dieser gequälte Körper selbst „von Machtverhältnissen vereinnahmt“, und „in ein politisches Feld geworfen“.87 Ohne die vorbereitende Lektüre Batailles bliebe eine Erklärung dieser Art anscheinend unverständlich. Der Leser fragte sich: Wessen Macht? Und woher stammt diese Macht? Spricht Foucault von der Macht der Eliten? Von einem metaphysischen Prinzip? Von welchem? In der Einführung zu Überwachen und Strafen hatte Foucault gerade begonnen Batailles Novelle Pouvoir umzuschreiben. Sehen wir einmal, wie sich dort die Phantasie entfaltet. Das heißt, es gibt ein Körper-‚Wissen‘, das nicht ganz der Wissenschaft über seine Funk­ tionsweise entspricht. […] Dieses Wissen und seine Beherrschung bilden etwas, das man die politische Technologie des Körpers nennen könnte.88

Das war eine phänomenale Sprache, die er da schuf. Doch wie steht es um diese „Beherrschung“, diese geheimnisvolle „Macht?“ Insgesamt müssen wir zugeben, dass diese Macht eher ausgeübt als besessen wird, dass sie nicht ein „Privileg“ ist, das erworben oder von der herrschenden Klasse bewahrt wird, sondern dass es sich dabei um die Gesamtwirkung der eigenen strategischen Positionen handelt.89

Nun wird es einfach: zwei Charaktere gestalten diese Szene vor allem. ­Bataille zerlegte und verstreute die Energie des Kerns („die Gewalt“), die nun nicht mehr urwüchsig ausgelebt, sondern lediglich (als „Macht“) „ausgeübt“ wird. Dazu machte Foucault den absurden Vorschlag, dass „die herrschende Klasse“ letztendlich gar nicht überwältigend „mächtig“ sei. Denn die Elite dominiert eigentlich nichts, wenn sie, wie er meint, nur das Ergebnis unzähliger „strategischer Positionen“ dieser unbestimmten Macht ist. Nun fällt es nicht schwer zu ergründen, weshalb die wirklich herrschende Klasse sehen will, dass diese Art von „Diskurs“ in den Seminaren vorherrscht. Doch beachten Sie, dass Foucault die Bataillesche Metapher verändert hat. Der ursprüngliche Konflikt zwischen den heterogenen Kräften und der alles niedermachenden Macht des liberalen Staates wich einer anderen Theorie. Man könnte sagen, dass bei Foucault aus der Ebene der Existenz der Meeresgrund an Lebenskraft wurde. Dieses Meer hatte die Moderne zu einer Art Lagune einzuschließen begonnen und zwar mit der Absicht, die Kraft des Meeres für seine eigenen energetischen Erfordernisse auszubeuten. An dem

87

Ibd. S. 28, 30. Ibd. S. 31. 89 Ibd. 88

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zerstiebenden Zusammenprall von Stahl und wogender Flüssigkeit und dem, als Folge davon, unberechenbaren Herumwirbeln konnte man sehen, wie sich daraus jederzeit eine unzählige Vielzahl von Konfigurationen (Machtformationen) – besonders von antagonistischen – bilden, die sich mit jeder Drehung verlagern und auflösen mussten. [Machtverhältnisse] bestimmen unzählige Punkte der Anlagerung, der Instabilität, die jeweils mögliche Auslöser von Konflikten und des Kampfes sein und eine Umkehr der Kräfteverhältnisse in Gang setzen können, zumindest vorübergehend. Die Wendungen dieser Machtelemente („micropowers“) gehorchen daher nicht dem Gesetz des Alles oder Nichts. […] Man sollte vielmehr zugeben, dass Macht Wissen erzeugt. […] Es gibt kein Machtverhältnis ohne dass sich entsprechendes Wissensfeld bildet, noch gibt es Wissen, das nicht zugleich Machtverhältnisse begründet. Diese Beziehungen von „Macht/Wissen“ sollte man daher nicht analysieren, indem man bei einem erkennenden Subjekt beginnt, das im Hinblick auf das Machtsystem frei oder unfrei wäre.90

„Um die politische Investition […] der Mikrophysik der Macht zu analysieren“, fuhr Foucault fort, muss man „den Gegensatz Gewalt: Ideologie, die Metapher des Eigentums, das Modell von Vertrag oder Eroberung“ aufgeben.91 Das war nicht mehr die Oberfläche dessen, was Bataille geboten hat, sondern seine strukturalistische Dekomposition.92 Die Marxisten hatten Recht: Foucault ließ das Subjekt, mit seinen Verbrechen und Tragödien verschwinden – es war einfach weg. Aber mit ihm waren auch das Vermächtnis der Souveränität, die Versuchung des Faschismus, der König, die Rüpel, oder ein Stück Wahrheit verschwunden. All das war Vergangenheit und das galt sogar auch für „die Macht“. Foucault hatte sie zu „Mikromachtpartikeln“ pulverisiert. Achten Sie auf seinen Rat: Wir werden aufgefordert, die Begriffe Unter­ drückung, Ideologie und Eigentum ganz fallen zu lassen. Mit anderen Worten, wir müssen aufhören zu denken, es gäbe dominierende Clans, die Vorschriften durchsetzen, um ihre Privilegien zu schützen und zu verewigen. Es könnte Netzwerke geben, räumte Foucault ein, die anscheinend mehr Macht als andere anhäufen. Doch spiegelt diese gelegentliche Kondensation den üblichen Zustand des Ungleichgewichts, der Unausgeglichenheit wieder, die eine natürliche Folge dieses ungebändigten Stroms der Urkraft ist (deren Natur jedoch ungeklärt bleibt).­ Foucault nannte diese unnötige Anhäufung von Macht an einem bestimmten Knoten des Netzwerks „Metamacht“. „Doch kann diese Metamacht“, führte er näher aus, „nur zu Stande kommen und sich behaupten, wo sie in einer ganzen Reihe von vielfältigen und unbestimmten Machtverhältnissen verwurzelt ist, welche die not-

90

Ibd. S. 31–2. Ibd. S. 32–3. 92 Eine Hälfte von Batailles Schemazeichnung Wirtschaftlicher Surplus (Abb. 2) ist dem Blick entzogen. Es scheint, dass alle sozialen Spannungen eingeschränkt und auf das graue Feld der Zeichnung begrenzt wurden, das den Bereich der jeweiligen homogenen (gleichgeschalteten) Macht umreißt – die Macht der liberalen Demokratien. 91

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wendige Basis für die großen negativen Formen der Macht bieten“.93 Dies ist ein in sich geschlossener Kreis, ohne Ausgang. Macht wird unablässig durch wechselnde Gruppierungen der sozialen Kontrolle (aus Gründen, die Foucault nicht erklären kann) weiterverarbeitet und neu aufbereitet. Und selbst wenn wir erkennen, dass eine bestimmte Gruppe dominiert, dann ist diese Vorherrschaft, so unterstellte er, nur die Spitze einer Reihe von Machtverhältnissen, die sich an der Peripherie bilden und sich von dort aus zur Mitte hin verzweigen und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten, es gibt keine Machtstruktur, die vom Zentrum aus unterdrückt. Es gibt nur ein diffuses Sammelbecken für Lebenskraft. Diese verfestigt sich zu Mustern von Chancen, in denen sich nur ein Kampf ausdrückt: Der Diskurs des Verstandes gegen das Feuer im Blut. Jeder von uns kann sich zu einer bestimmten Zeit auf der einen oder der anderen Seite der Barrikade einfinden. Mit anderen Worten, wir könnten alle Unterdrücker sein. Und diejenigen, die Macht schändlich ausüben, können frei ausgehen, denn die Foucaultsche Theorie entlastet sie für alle Zeit von der Rechenschaftspflicht gegenüber der Gesellschaft. Dies war in der Tat nur „ein Spiel“. Etwas anderes als seine forensischen Erzählungen hat Foucault nie angeboten, keinerlei historische Verifikation irgendeiner Art. Bataille hatte versucht, die Quelle zu vergiften, indem er verdrehte Geschichte über eine verdrehte Wahrheit erzählte. Doch mit Foucault hat das System in einen anderen Gang geschaltet: die Elite gab einem Theoretiker (Foucault) tatsächlich den Auftrag zu einem Roman, für den dieser die Theorie einem Romancier (Bataille) gestohlen hatte. In Überwachen und Strafen wurde das politische Gemeinwesen zur Ansammlung unserer menschlichen Körper, die durch Macht geformt und vom Wissen geprägt wurden – nämlich vom Macht / Wissen des Leviathan-Staates.94 Da aber die Macht angeblich zerstreut ist, fanden die Spannungen wieder keine Lösung. Macht wurde aufgedrängt, in Schranken gehalten, und die damit verbundenen Tugenden der Heterogenität, die so herausgepresst und gezügelt wurden, explodierten, wobei die Opfer in einem kollektiven Trotzanfall auf die Unterdrücker zurückspuckten. Da war sie wieder, die Dialektik. Für den Batailleschen Foucault ist Fleischlichkeit das Leben, bedeutet Blut Leben, und diese neuen, schikanierten, gezähmten und schwachen Körper der Moderne waren die leere Larvenhaut der Seelen, die durch die Ethik der Bourgeoisie gereinigt worden waren. Foucault kehrte die berühmte gnostische Redensart um und formulierte: Die Seele ist das Gefängnis des Körpers.95 Disziplin ‚fabriziert‘ Individuen. […] Sie trainiert die verwirrte Vielzahl von Körpern und Kräften. […] Es handelt sich nicht um die triumphierende Macht, die kraft ihres Über­ maßes sich auf ihre Allmacht verlassen kann. Es ist eine wenig verdächtige Macht, die wie

93

Foucault, Power/Knowledge, S. 64. Foucault, Surveiller, S. 33. 95 Ibd. S. 34. 94

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eine berechnete, aber dauerhafte Wirtschaft arbeitet. Es handelt sich um bescheidene Modalitäten, kleinere Eingriffe, verglichen mit den majestätischen Ritualen der Souveränität oder der großartigen Staatsapparate.96

Die Körper wurden „diszipliniert“ und mit dem zweischneidigen Skalpell „Folgsamkeit“ und „Programm“ zurechtgestutzt. Nach Foucault konnte man nicht mehr von „Sklaverei“ sprechen. Sklaverei war eine gewaltsame Aneignung von Körpern. Die Moderne hat sich andererseits bemüht, „die Ketten zu verbergen“, wie Jünger sagen würde.97 Auf ähnliche Weise bemerkte Foucault, dass die „Eleganz der Disziplin selbst in der Lage war, auf die teuren und gewalttätigen Verhältnisse [der Sklaverei] zu verzichten, während sie gleichzeitig mindestens ebenso großartige Ergebnisse erzielen konnte“.98 Durch eine gründliche Prüfarbeit und Einteilung (quadrillage) der Verhaltensweisen der Einzelnen, hat sich diese neue Foucaultsche Macht, die durch „zerstreute Lokalisation“ charakterisiert ist, in besonderen „Überwachungsanlagen“ (Gefängnisse) durch Ausübung dessen, was er „zelluläre“ Disziplin nannte, ihre Individuen „vorgefertigt“. „Im Vergleich zu den majestätischen Ritualen der Souveränität“ verdankt die Disziplinargewalt „ihren Erfolg dem Einsatz einfacher Werkzeuge“ und einer gekonnten Anwendung des „hierarchischen“ Prinzips. Wieder einmal gibt Foucault nur Batailles Gedanken wieder, wenn er „dieser Maschinerie der Kontrolle“ „Homogenisierung“ und „Normalisierung“ vorwirft.99 Doch warnt er unaufrichtig: „Man muss damit aufhören, die Auswirkungen der Macht immer nur in negativen Begriffen zu beschreiben: Sie ‚schließe aus‘, sie ‚unterdrücke‘. […] Tatsächlich ist Macht produktiv. Sie stellt die Realität erst her, sie erzeugt Bereiche von Objekten und Rituale der Wahrheit. […] [Macht] nimmt ihren Ausgang weniger von einer Person, als von einer gewissen, abgestimmten Verteilung von Körpern, Oberflächen, Lichtern, Blicken. […] Es ist gleichgültig, wer die Macht ausübt. Jedes Individuum kann fast zufällig die Maschine betreiben.“100 „Jedes Individuum, fast zufällig?“ Im letzten Teil von Überwachen und Strafen lief Foucault vor sich selbst davon. Tatsächlich legte er die bestätigte, berüchtigte und konspirative Hypothese neu auf, wonach das Gefängnis tatsächlich seine verdeckte Rolle als „Verbrecherfabrik“ erfüllt, weil es wieder Häftlinge ausspuckt, die kein nützliches Handwerk gelernt haben und keine nützliche Aufgaben bewältigen können. Diese armseligen Nebenprodukte bilden eine Armee von Heruntergekommenen, aus denen sich das System als bequeme Quelle Zuhälter, Prostituierte, Streikbrecher, Terroristen, Provokateure und Mörder heranziehen kann. Mit diesem Argument lief Foucault ernsthaft Gefahr, sein gesamtes Thesengebäude zu ruinieren: 96

Ibd. S. 172. Vgl. Kapitel 8. 98 Foucault, Surveiller, S. 139. 99 Ibd. S. 140, 144, 151, 172, 175, 185. 100 Ibd. S. 196, 203. 97

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Das Gefängnis war sehr erfolgreich in der Aufzucht von Verbrechen, […] eine Art poli­ tischer und wirtschaftlicher Illegalität, die weniger gefährlich – letztlich manipulierbar ist. Es hat erfolgreich Verbrecher hervorgebracht – ein Milieu, das scheinbar an den Rand gedrängt ist, jedoch zentral gesteuert wird.101

Es scheint also nach allem, dass „Metamacht“ tatsächlich in der Lage und willens ist, die Kontrolle dieses Milieus durch Infiltration und Sabotage von innen (noyautage) auszuüben – das ist die schmutzige Arbeit, die zu staatlichen Geheimdiensten passt. Das Endprodukt ist der wissenschaftliche Aufbau „einer furcht­ baren Streitmacht für Aufruhr und Plünderungen“, sozusagen einer Mafia, um „die Rechtswidrigkeit der herrschenden Klasse zu kanalisieren und die enormen Profite“ aus der sexuellen Lust, dem Waffen-, Drogen- und dem Schwarz-Handel mit Alkohol zu realisieren.102 „Wir sind“ schrieb Foucault, „zur Zeit Zeugen der unmittelbaren und institutionellen Verbindung von Polizei und Verbrechen, des beunruhigenden Moments, in dem Kriminalität zu einem der Zahnräder der Macht wird. Eine Figur hatte die früheren Zeiten heimgesucht, diejenige des monströsen Königs, der die Quelle aller Rechtsprechung war und doch bis obenhin im Verbrechen steckte. Eine neue Angst macht sich breit, die Angst vor einem finsteren Bündnis zwischen denen, die die Gesetze durchsetzen und jenen, die sie verletzen. Die Shakespeare-Zeit, in der die Souveränität in ein und derselben Person mit dem abscheulichen Laster rang, ist vorbei.“103 Wie verhält es sich nun mit dem „zufälligen Individuum“, das jederzeit re­ gierungsfähig sein soll? Wie passt es in dieses gesamte Bild? Und wie verhält es sich mit der Tatsache, dass diese Kultur der Illegalität über rund 200 Jahre hin ein stabiles und bestimmendes Charakteristikum unserer liberalen Demo­k ratien gewesen ist, ohne dass sich noch die Möglichkeit einer Veränderung am Horizont zeigt? Es sieht so aus, als wäre die Magie der Dialektik an dieser Front aus dem Dienst entlassen worden – genauso wie auch sonst überall. Aber konnte das­ Foucault kümmern? Höchstwahrscheinlich nicht! Denn er hatte sich (finanziert von Frankreichs erzdisziplinarischem Staat) in sein Bataillesches Abenteuer verrannt, dessen einziger konkreter Vorschlag darin bestand, verschwommen auf ein Shakespearesches Zeitalter monströser Könige zurückzugreifen. Und so geschah es denn auch. Diese seltsame Abhandlung über soziale Science Fiction endete in einer widersprüchlichen Bemerkung. Genauer. Eine letzte Bataillesche Tirade mit einem Hauch Postmoderne, und das war es dann auch. Das Buch würde sich ohnehin verkaufen; darum würde sich die „Macht“ kümmern: Eher als [im Verbrechen] nur Schwäche oder Krankheit muss man darin eine Energie sehen, die sich selbst bekräftigt, einen ‚explosiven Protest der menschlichen Individualität‘, die zweifellos auf jeden eine seltsame Faszination ausübt. […] So könnte es geschehen,

101

Ibd. S. 282 (Hervorhebung hinzugefügt). Ibd. S. 282, 283, 285, 288. 103 Ibd. S. 288 f. 102

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dass Kriminalität ein politisches Instrument abgibt, das schließlich genauso wertvoll für die Befreiung unserer Gesellschaft sein dürfte, wie sie es für die Emanzipation der Schwarzen war.104

Hier waren im Keim alle bestimmenden Zutaten für die zeitgenössische Politik der Postmoderne enthalten: Ein Ästhetisch der Gewalt Zuzwinkern, ein konservativer Pessimismus und die Fixierung auf Rassentrennung. In seinen Zwei Vor­ lesungen (1977) gab Foucault seiner Theorie der Macht den letzten Schliff. Da er auf irgendeine Weise den Kämpfen in der Welt Rechnung zu tragen hatte, entwickelte er zu diesem Zweck den Begriff „disqualifiziertes, unterworfenes Wissen“ auf der einen Seite und „gelehrter Diskurs“ auf der anderen. Ersteres ist eine Neubearbeitung von Batailles Begriff „Labyrinth des Wissens“ und wird hier wieder neu als eine breite Kategorie vorgeschlagen, welche das Reden und die Sprache der Menschen umfasst. Es handelt sich um Volksmärchen, die an der Peripherie der Netzwerke der Macht erzählt werden, oder um „populäres Wissen“, um in Berichte eingefangene Zeugnisse von Verrückten und Mördern. Doch warnte Foucault: „Es ist weit von einem allgemein verbreiteten Alltagswissen entfernt, […] im Gegenteil, es ist ein bestimmtes, lokales, regionales Wissen, ein unterschiedliches Wissen, unfähig zum Einverständnis, das seine Kraft nur der Härte verdankt, mit der es sich allem, das es umgibt, widersetzt. Durch das Wiedererscheinen dieser […] disqualifizierten Wissensbereiche vollführt die Kritik ihre Arbeit.“105 „Gelehrtes Wissen“ war die ausgefeilte Syntax des Diskurses, die die École Normale Foucault eingebläut hatte. Er kam nicht umhin, sie einzusetzen, zumal er nichts anderes beherrschte (eine passende Anwendung von Macht / Wissen). „Lassen Sie uns“ fuhr er fort, „die Vereinigung des gelehrten Wissens und der lokalen Erinnerungen ‚Genealogie‘ nennen. Diese versetzt uns in die Lage, ein historisches Wissen über die Kämpfe zu bilden und erlaubt uns heute, dieses Wissen taktisch zu nutzen.“106 Man erfährt letztlich aus der Genealogie, dass „unterschiedliches Wissen nicht zum Einverständnis führen kann [und] sich barsch allem in seinem Umfeld widersetzt.“ Fast schon entschuldigend gerechtfertigt Foucault diese letzte Behauptung und führte dazu die Befürchtung an, sollten wir partikuläres Wissen „wieder ausgraben“, „anerkennen und in Umlauf bringen“, würden wir Gefahr laufen, alles im Namen dieser neuen Entdeckung wieder neu zu „kodifizieren“ und zu „kolonisieren“. So etwas barg für ihn ein Risiko, das sich niemals lohnen würde. Er hatte zuvor schon gesagt: Die Einheit der Gesellschaft und der „einheitliche Diskurs“ müssen vernichtet werden. Doch dann stellt sich die Frage: Warum überhaupt ein „unterdrücktes Wissen“ wieder ausgraben, wenn nicht, um es mit anderen Leidensgeschichten zu vereinen? Denn dann, so logischerweise die postmoderne Antwort, würden wir zwangs­läufig an ein universelles Gefühl der Gerechtigkeit appellieren, und, ge 104

Ibd. S. 296. Foucault, Power/Knowledge, S. 81–2 (Hervorhebung hinzugefügt). 106 Ibd. S. 83 (Hervorhebung hinzugefügt). 105

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nau das zu vernichten, war – wie wir bisher immer wieder erklärt haben – Batailles und Foucaults Lebenszweck. Somit war der postmoderne Sinn des Spiels ein Scheinkrieg der Wissensbereiche. Die marginalisierten Eingeborenen mit ihrem unterjochten „überlieferten Wissen“, die jeweils die Waffe ihrer wieder ausgegrabenen Tra­dition schwangen, sollten in ihrer schummrigen Ecke hocken und sich im Groll, mit Knurren und immer bereit sich auf „andere“, besonders auf die „Weißen“ zu stürzen, selbst verzehren. Das war der Diskurs, der nach Amerika im­portiert wurde, und der das misstrauische Gerede der Eingeborenen raffinierter machen sollte. Es wird nicht unser Anliegen sein, ein solides und homogenes theoretisches Terrain für alle diese verstreuten Genealogien bereitzustellen, noch von oben mit einer Art glorioser Theorie, die sie vereinen würde, herabzusteigen.107

Foucaults Schrift befahl, dass wir unten aufhören, „die labyrinthische und unbeantwortbare Frage zu stellen: ‚Wer hat die Macht und was hat er damit im Sinn? Was ist das Ziel von jemandem, der Macht besitzt? […] Warum wollen bestimmte Leute dominieren, [und] was ist ihre Gesamtstrategie?‘“ Stattdessen sollten wir uns laut Foucault fragen, „wie sich die Dinge auf der Ebene der laufenden Unter­ werfung verhalten, auf der Ebene jener ständigen und ununterbrochenen  […] Vorgänge, die unser Verhalten bestimmen“.108 Wiederum begeht jeder, der die Erforschung der Macht so angeht, dass er sie ins „Zentrum“ rückt, anstatt anzunehmen, dass ihre Wirkung wie durch Kapillare zirkuliert, nach Foucault einen groben methodischen Fehler und „verarmt damit die zentrale Frage der Macht“. „Macht“, wiederholte er, „funktioniert in Form einer Kette“. „Nicht nur zirkulieren die Einzelpersonen zwischen ihren Gliedern, sie sind auch immer gleichzeitig in der Lage, sich der Macht zu fügen und sie auszuüben. Sie sind nicht nur ihre trägen oder zustimmenden Opfer, sie sind auch die Elemente ihrer Artikulation. Mit anderen Worten, die Einzelnen sind die Träger der Macht, nicht ihre Ansatzpunkte.“109 Wenn man mich fragt: ‚Geht diese neue Technologie der Macht ursprünglich historisch von einer identifizierbaren Gruppe von Personen aus, die entscheiden, ihre Macht einzu­ bringen, um ihre Interessen zu fördern oder die Ausnutzung des sozialen Körpers zu erleichtern?‘ Dann würde ich sagen: ‚Nein!‘. Diese Taktiken wurden ausgehend von örtlichen Gegebenheiten erfunden und organisiert. […] Sie ereigneten sich vor jeder Klassenstrategie in der Art von Stückwerk mit dem Ziel, sie zu riesigen, zusammenhängenden Ensembles zu verschweißen.110

Im Jahr 1977 war die englische Übersetzung von Überwachen und Strafen in Amerika verfügbar. Ein Jahrzehnt nach seiner Markteinführung in Paris übernahm das US-Establishment den französischen Philosophen und buchte ihn fest 107

Ibd. S. 87. Ibd. S. 97. 109 Ibd. S. 98. 110 Ibd. S. 159. 108

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für eine Tour durch die amerikanischen Universitäten. Der Universität von Kalifornien in Berkeley scheint es als der selbsternannten Schule von Athen der Gegenkultur zugestanden zu haben, als erste die Alma Mater des neuen franzö­ sischen Rekruten zu spielen. Studenten die mit den ‚Talking Heads‘ und David Lynch aufgewachsen waren, strömten in seine öffentlichen Vorlesungen und verehrten den kahlköpfigen Weisen als eine Art postmoderne Sphinx, einen metaphysischen Eraserhead, der sich komisch verhielt und rätselhafte Sätze von sich gab – und dessen Philosophie mirabile dictu trotzdem auf eine simple, nur aus zwei Worten bestehende Losung gebracht werden konnte: „Wissen“ und „Macht“ […] Körper! Lust! Marter! Hatte sich Philosophie je so sexy angehört?111

Das versprach einfach und ergiebig zu werden. Die Yankees haben dem Franzosen ein Ticket für die Fahrt gekauft, damit alternde Beatniks eine Gesichtsstraffung, verärgerte „Minderheiten“ einen maßgeschneiderten Diskurs, und die (unterdrückenden) Behörden eine angenehme Verschnaufpause bekommen konnten. Tatsächlich erschienen die Bücher Foucaults in den Augen der Amerikaner nichts anderes zu sein, als eine langatmige, anspruchsvolle Anklage der ver­hassten Krankenschwester Ratchet, des Bösewichts aus dem Film Einer flog über das Kuckucksnest. Die Öffentlichkeit bekam damals Gelegenheit, den Film noch einmal zu verdauen, aber dieses Mal, um mit Raffinesse und Bildung in dem beängstigenden Gefühl zu schwelgen, dass wir alle wie Verrückte in der Anstalt unter der alles prägenden Fuchtel dieser manipulativen, kontrollierenden und sonderbar nonnenhaften Aufpasserin eingeschlossen sind. Man konnte jetzt nur allzu leicht erraten, was die politisch korrekte Behörde für „Affirmative Action“ mit dem Begriff der „unterdrückten Wissensbereiche“ anfangen würde: Anstatt das Problem an der Wurzel anzupacken und radikal, ein für allemal in einer öffentlichen und diffusen Massen-Beschwörung der Kollektivschuld die tiefsitzenden Gründe hinter Amerikas eingefleischten Rassismus auszujäten, anstatt die Krankheit an ihrem zentralen Herd geistig und wirtschaftlich anzugehen, entschied sich das Establishment für Augenwischerei und erlaubte die Einrichtung einer Reihe von Instituten, Abteilungen und Lehrplänen, die dem Studium der kulturellen Aspekte der Homosexualität, der Frauenfrage, der Afro-Amerikaner, der Latein-Amerikaner, des nahen Ostens und dem der Verschiedenheiten gewidmet sind. Tief im Inneren kaufte dem Establishment das natürlich niemand ab: Denn im Großen und Ganzen behielt Amerika seine Distanz zu den Homosexuellen, Minderheiten und der Verschiedenartigkeit im Allgemeinen so ausgesprochen wie eh und je bei. Und je streitbarer und unangenehmer das Zusammenleben mit der Zeit wurde, um so unaufrichtiger wurde das Bekenntnis zu einem allgemeinen Engagement für die „Vielfalt“. Entsprechende Rekrutierungseinrichtungen waren mit Weißen aus der Mittel- und Oberklasse besetzt, und in weit geringerem Maße mit Nicht-Weißen, die mit lauwarmer Zurückhaltung das Entgegenkommen quittierten, das ihnen gewährt wurde. Auf diese 111

Miller, Leidenschaft, S. 469–70.

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Weise wurde die Bunker-Mentalität einer chronisch schwelenden Feindseligkeit geschürt, die für Amerikas professionelles Umfeld typisch ist – ein bewaffneter Waffenstillstand sozusagen, der vor dem Hintergrund eines stetig wachsenden Unverständnisses zwischen allen Fraktionen geschlossen wurde. Es schloss auch die „Unterschiedlichen“ ein, die nicht selten über Bevorzugungen, Aufmerksamkeit und finanzielle Zuwendungen aus der ‚Affirmative Action‘ ernsthaft aneinander gerieten. Das lag zwar noch in der Zukunft, aber Foucault spielte es, wie das Zoon politikon, das er war, cool aus. Kurz nach seiner Aufnahme in Amerika begann er, einiges aus seinem Batailleschen Credo zu widerrufen. Er konnte sich das ohne Weiteres leisten, wenn man bedenkt, wie weit er (und mit ihm Bataille) es bereits gebracht hatte. Mit dem betroffenen Tonfall bedenklicher Innenschau fing er an, eine Warnung vor „dem Faschismus in uns allen“ ertönen zu lassen.112 Dies war eindeutig eine Richtigstellung, die früher oder später gemacht werden musste, wenn man bedenkt (darauf wurde bereits hingewiesen), wie die bedingungslose Hingabe an Souveränität, Blut und Aztekische Opferhandlungen jemanden natürlich in die gefährliche Nähe zu den Nationalsozialisten rücken musste. „Nazismus“ liebedienerte Foucault, „war zweifellos die hinterhältigste und naivste Kombination der Blutphantasien mit den Krämpfen einer disziplinierenden Macht, einer eugenischen Ordnung der Gesellschaft […] in Gestalt einer uneingeschränkten, staatlichen Kontrolle. […] Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Hitlersche Sexualpolitik eine unbedeutende Praxis blieb, während der Blutmythos in das größte Blutbad der jüngsten Vergangenheit überführt wurde.“ „Und doch“, fuhr er fort, sich zurückzunehmen, „sich die Kategorie des Sexuellen im Sinne von Gesetz, Tod, Blut und Souveränität – was immer die Verweise auf de Sade und Bataille sein mögen, und wie man ihren ‚subversiven‘ Einfluss einschätzen mag – auszudenken, ist in letzter Analyse eine historische ‚Rückwendung‘“.113 Da haben wir es: Bataille wurde ein wenig enteignet und seine Phantasmagorie als „Retroversion“, Rückwendung verworfen. Foucault bestätigt damit schließlich, dass wir nie wieder zu jenen souveränen Imperien zurückgelangen können – sie seien verschwunden. Sogar den Marquis hat er aufgegeben. Zugegebenermaßen hat ihn Foucault mit Geschick verleugnet: „Bei de Sade“, schrieb er jetzt, „ist [Macht] eine Übung, die bis zu einem Punkt [getrieben wurde], wo sie nichts anderes mehr ist als eine einzigartige und nackte Souveränität: Das grenzenlose Recht einer allmächtigen Monstrosität.“114 Bei aller Ehre, das war bereits Batailles Kritik. Doch das spielt keine Rolle, denn konzeptionell war keine von Foucaults Arbeiten irgendwo originell. Und abgesehen davon wusste praktisch kein Amerikaner, wer Bataille war. Das war dann also das Ende von Foucaults Faszination für de Sade. Foucault war jetzt unter die angelsächsischen Puritaner geraten, die bei 112

Ibd. S. 350. Foucault, Reader, S. 271. 114 Ibd. S. 270.

113

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ihm brauchbare Werkzeuge bestellt hatten und keinen dekadenten Ästhetizismus. Foucault hielt sich daran und warf den Held seiner Jugend unerbittlich über Bord: Schließlich war der Marquis selbst nur ein intellektueller Köder – und war er das etwa nicht? Zu schade für die literarische Vergöttlichung des de Sade, zu schade für de Sade: Er langweilt uns. Er ist ein Disziplinierer, ein Unteroffizier des Sexes, ein Buchhalter des Afters und seiner Äquivalente.115

Nun gut. Doch wohin gelang man von hier aus? Nirgendwohin. Foucaults Mantra hatte seine Mission schon verausgabt. Die Fans waren bescheiden, die Fans waren naiv: Sie wollten Ratschläge, Richtungsvorgaben, Verhaltensregeln, irgendetwas der Art. Sie haben die Anwesenheit der „postmodernen Sphinx“ in ihrer Heimat nur wenig verstanden. Foucault war nicht gekommen, um irgendetwas dergleichen anzubieten. Sitten? Verhalten? Ja, hatte er gesagt, sich wie ein Junge kleiden, wenn man ein Mädchen ist, sich einen Bart wachsen lassen und stinken, sich vollkiffen, promiskuitiv werden und „an den Rändern Widerstand leisten.“ Nun gut, aber das hatte man in Amerika alles schon getan. Was kommt als nächstes? Nichts. Die achtziger Jahre waren gekommen. Kalifornien hatte ihn, Gott sei Dank, gerettet, als er in Europa schnell aus der Mode gekommen war.116 Foucault, der Mann, zerstreute sich für seinen Teil in den Badehäusern der Homosexuellen im Castro Bezirk in San Francisco, jenseits der Bay Bridge auf der anderen Seite seiner neuen akademischen Bastion. Angeblich soll er sich so ausgiebig, so intensiv und so sorglos in sadomasochistischen Zerstreuungen verausgabt haben, dass er darüber letztlich sein Leben verlor. Es war AIDS, das ihm 1984 den Rest gegeben hat. Doch war er sich mit diesem Tod zumindest selbst treu geblieben: Er spielte das Spiel des Systems, aber er lebte, um sich am Ende zu zerstören, um Leben zu vernichten, wie er es von Anfang gepredigt hatte. Tatsächlich hatte er in seinen Zwanzigern bereits mehrmals Selbstmordversuche unternommen. In den Spielstätten der Leidenschaft und der sexuellen Quälerei von San Francisco, „trifft man auf Männer, für die du das Gleiche bist, was sie für dich sind: nichts als ein Körper, der verschiedene Kombinationen und Herbeiführungen von Lust möglich macht“. Es sei „bedauerlich“, fügte Foucault hinzu, dass es solche Orte nicht für Heterosexuelle gibt.117 Unabhängig davon, zerrten seine Jünger weiterhin an des Meisters Ärmel und suchten Antworten: Wie soll ich mich verhalten?

115

Foucault, Aesthetics, S. 227. Macey, The Lives, S. 430. 117 Miller, Leidenschaft, S. 388. 116

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Bei der Lektüre einer Reihe von späten Interviews mit seinen Verehrern in Berkley ist es fast bemitleidenswert zu beobachten, wie diese Professoren – erwachsene, gebildete Männer  – diesen metaphysischen „Radiergummikopf“ (Eraserhead) aus Frankreich anbetteln, er möge ihnen sagen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Wenn das Thema auf Ethik zu sprechen kam und die Inter­viewer heimlich auf Foucaults Homosexualität anspielten und zaghaft fragten, ob eine Rückkehr zur griechischen Gesellschaft eine gute Idee wäre, – schließlich tolerierte das antike Griechenland Päderastie und gezähmte Formen matriarchaler Kultpraxis, dann donnerte der Meister: „Nein! Die griechische Ethik der Lust war mit einer männlichen Gesellschaft verbunden, mit einer Nicht-Symmetrie, mit der Ausgrenzung Anderer, mit einer Besessenheit von Penetration, und mit einer Art Bedrohungsgefühl, der eigenen Energie beraubt zu werden, und so weiter. All das ist ziemlich ekelhaft!“118 Die Jünger versuchten es noch einmal, als sich die Diskussion dem Christentum zuwandte, dem Foucault auf typisch Bataillesche Weise vorwarf, eine üble Praxis der Selbstentäußerung zu sein. Man fragte ihn, wie man sein „selbst“ erschaffen könne. Erschaffen Sie sich selbst „als eine Art Kunstwerk!“ zischte Foucault.119 Das war eine billige Ausrede, die den Schülern nicht gefallen haben dürfte. Wie hätten sie das auch bewerkstelligen sollen? Was für eine „Kunst?“ Nach welchen Kriterien? Und schon war man wieder am Anfang. Eine langweilige Tautologie. Foucault hatte keine Ratschläge mehr zu vergeben, er hatte nie irgendwelche parat. Müde riet er den Schülern schließlich, sorgfältig die Werke der Öster­ reichischen Schule des Markt-Liberalismus zu lesen,120 als ob sie daraus neue Wege erfahren könnten, wie man zur Freiheit gelangt. Doch war das ein faszinierender Ratschlag: Die Annahme, man könne die eigene (Bataillesche)  Konzeption der Freiheit durch die Lektüre der Propheten der konservativsten Schule der Marktwirtschaftslehre abrunden, war seltsam  – besonders wenn sie von einem Bataille-Schüler kam, der utilitaristische Ökonomie verabscheute … Doch sollte nichts dergleichen mehr für hochgezogene Augenbrauen sorgen. Zu diesem Zeitpunkt war die Bataillesche Souveränität durch den späten Diskurs Foucaults zu einem voll ausgebildeten Postmodernismus entstellt worden: Der Blut-Durst hatte sich zu einem faden Sud aus politischer Korrektheit und libertinären Fantasien für Ethno-Marketing verdünnt. Was sonst hätte sich Foucault ausdenken können, um seinem US-Publikum zu gefallen? Welche andere intuitive Annäherung an­ Batailles Labyrinth gab es in der amerikanischen Vorstellungswelt als das Netzwerk des Marktes? Foucault war Protagonist einer modernen Heldenverehrung, und das ist selten der Fall, ohne dass eine solche Seligsprechung ein Betrug ist. Die betrügerische Natur des Foucaultschen Systems wurde vor allem in seinen letzten Jahren vielen 118

Foucault, Reader, S. 346. Ibd. S. 350 f. 120 Miller, Leidenschaft, S. 455. 119

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offenkundig. Als er das Nahen des Todes spürte, offenbarte Foucault, als ob er endlich die Frage beantworten würde, die er bis dahin tunlichst zu umgehen verstanden hatte: „Es gibt kein einzelnes Verhalten, das schöner wäre, und folglich auch ein sorgfältigeres Nachdenken verdiente, als der Selbstmord.“ „Man sollte an seinem Selbstmord lebenslänglich arbeiten.“121 Dies waren seine Abschiedsworte. So viel zum Mitgefühl – und so viel über eine „Theorie“ des Dissenses. Bis zuletzt empfahl und verteidigte er „das Recht eines jeden, sich zu töten“. Und halb im Scherz schwor er, hätte er Geld in der Lotterie gewonnen, würde er es in spezielle Institute investiert haben, zu denen die mit Sorgen Beladenen an langen Wochenenden oder zum Monatsende hinkommen und sich zu Tode amüsieren konnten, um sich in „Selbstmordfesten“ oder „Selbstmord-Orgien“ vielleicht auch unter Drogen aufzulösen und dann zu verschwinden.122 Das hatte er selbst so gemacht und war offenbar mit dem Ergebnis nicht unzufrieden. Auf jeden Fall hatte er diesbezüglich eine außergewöhnliche Karriere hinter sich. Außergewöhnlich war sie in jeder Hinsicht. Sie war es nicht zuletzt deshalb, weil er die überwiegende Mehrheit der Akademiker  – vor allem in Amerika  – hereingelegt hat zu glauben, er sei ein Verfechter einer lebensbejahenden Gerechtigkeit gewesen. Dabei war doch Foucaults Macht/Wissen in der Tat nichts anderes, als Batailles dionysisches Delirium an die Moderne anzupassen. Die ist vielleicht die wichtigste und kreativste Rekonstruktion der infernalischen Gottesverehrung in der Neuzeit. Noch heute liest, kennt oder versteht kaum einer Bataille wirklich. Kaum einer glaubt, dass der Flug seines kopflosen Monsters mehr sei als ein ausschweifender Epizykel um die Galaxie der Postmoderne. Doch Foucault ist ohne die Kenntnis Batailles nicht zu entziffern. Und ein Großteil der heutigen Verwirrung stammt daher, dass es bisher noch nicht zu einer Archäologie Foucaults gekommen ist. Stattdessen wird sein Werk in die herkömmlichen Sackgassen zurückverfolgt, wobei man kostbare Zeit auf pedantische Abhandlungen über Nietzsche, Kant, Hegel oder den Strukturalismus verschwendet. Um es zusammenzufassen: Der Foucaultsche Diskurs war aus mehreren Gründen in den USA erfolgreich. Wir können davon die vier wichtigsten identi­fizieren. Aus Sicht linker Wissenschaftler hat er der alten linken Avantgarde ermöglicht, sich Status und Einkünfte dadurch zu sichern, dass sie postmodern wurden. Zweitens bot er eine gebrauchsfertige „Philosophie“ an, mit der man Rassenunterschiede im Unterricht und am Arbeitsplatz durch das Aufstellen einer imaginären Auflistung unvereinbarer „Kenntnisbereiche“ einfrieren konnte. Diese wurden dann verwendet, um unter den benachteiligten Gruppen ein falsches Gefühl der Ermächtigung zu wecken. (Dieser Aspekt wird im nächsten Kapitel detaillierter erörtert werden.) Drittens war er den Behörden äußerst nützlich, weil er jegliches Verständnis oder Wissen-Wollen, wie Macht wirklich zu Stande kommt und arbeitet, verhinderte. Und viertens hat er die jüngste Verehrung der Globalisierung 121 122

Ibd. S. 514. Ibd. S. 79.

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begünstigt, die viel zur Fähigkeit des Marketings und des freien Marktes beigetragen hat, die nationalen Grenzen niederzureißen, „andere“ Kulturen aufzulösen und gegen die Zentralisierung aufzubegehren (auch dies ist eine wichtige Entwicklung, auf die in Kapitel 7 eingegangen wird). Schon diese bloße Zusammenfassung bestätigt, dass der Foucaultsche Diskurs, wenn überhaupt etwas, so von Anfang an eine große propagandistische Leistung und Schöpfung war. Obwohl er formal, aus der methodologischen Sphäre der Philosophie und Literaturkritik hervorgegangen sein mochte, lag seine praktische Stärke in seiner rein politischen Instrumentalisierbarkeit. Und so wurde der­ Foucaultsche Diskurs auch tatsächlich mit spektakulärer Wirkung im derzeitigen Bereich der Moderne eingesetzt. Das delikate Paradox an alledem war, dass die erzählerische Kraft – das Wesen – dieses einzigartigen propagandistischen Werkzeugs die soziologische Träumerei eines vergessenen Pornographen war. Das nächste Kapitel gibt einen Überblick über die verschiedenen Behandlungen, die dieser einzigartige Diskurs in den Händen der zeitgenössischen, post­ modernen Denker in einer Reihe von Disziplinen erfahren hat – Behandlungen, die selbst das geistige Terrain verödet haben, von dem aus Dissidenten ihren täglichen Kampf gegen Ungerechtigkeit, Ausflüchte und Verlogenheit zu führen hatten. Die Folgen dieser Peinlichkeit werden in Kapitel 9 bewertet.

Kapitel 7

Die „spöttischen Knappen“ der postmodernen Linken: Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ Nach ihnen ziehen gleich die Philosophen einher, in ehrfurchtsgebietendem Bart und Mantel. Sie rühmen sich, allein weise zu sein; alle anderen seien flatternde Schemen. Und doch, wie köstlich phantasieren auch sie, wenn sie ihre zahllosen Welten bauen. […] Und dabei macht sich die Natur über sie samt ihren Mutmaßungen von Herzen lustig. Denn Sicheres wissen sie nichts; das beweist genugsam, dass über jedwedem Ding sie sich selbst beständig in den Haaren liegen. Obgleich sie gar nichts wissen, behaupten sie, alles zu wissen; obgleich sie sich selbst nicht kennen und oft den Graben, den Stein auf dem Weg nicht sehen, weil ihre Augen nichts wert sind oder ihr Geist auf Reisen gegangen, so rühmen sie sich doch Ideen, … und separate Formen zu schauen. […] Berghoch aber fühlen sie sich über den Laienpöbel erhaben. Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit1

Die Verwendung des Adjektivs „postmodern“ unterstrich die Einführung einer Mode. Das Adjektiv wurde nicht Foucault selbst zugeschrieben, der aus Angst, an Boden zu verlieren, das Klischee sofort verspottet hatte, sondern einer beträchtlichen, neuen Welle seiner zweitrangigen Nachahmer, Koryphäen wie Lyotard oder Baudrillard.2 Die Vereinigten Staaten hießen sie alle willkommen. Die Postmoderne war ein französischer Import im Zuge der Foucaultschen Sensation. Doch war das Phänomen fraglos amerikanisch. Die Postmoderne wurde zur neuen Manier der Linken. Und bevor man anfangen konnte zu beurteilen, was sie tatsächlich war, war die Wissenschaft damit beschäftigt, Lehrpläne der Institution „Cultural Studies“ (Kulturwissenschaften) auszuarbeiten, sowie Form und Logistik rund um diesen amerikanischen Prototyp zu gestalten, der durch einen­ Foucaultschen Motor in Gang gehalten wurde. Doch blieb die Verwirrung in den Köpfen der Menschen so zäh wie eh und je. „Postmoderne Politik“, sagten einige, „entzieht sich der einfachen Definition. Niemand geht umher und wirbt für postmoderne Politik“.3 Tatsächlich hatte die Postmoderne keine Plattformen, keine Bürgerbewegungen. Sie war nur ein Studienprogramm, dünn, gekünstelt und pädagogisch unerheblich wie die Scheine des Fernstudiums. Doch die scherzhafte und fiktionale Behandlung der traditionel 1

Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit, Hanau 1998, S. 110–112. In diesem Kapitel gehen wir auf Lyotards Beitrag zur Erziehungswissenschaft ein, während wir Baudrillards Beiträge zur Postmoderne in Kapitel 9 behandeln. 3 Roger Burbach, Globalization and Postmodern Politics, From Zapatistas to High-Tech Robber Barons, London 2001, S. 69. 2

7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

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len akademischen Gegenstände durch die Postmoderne waren für viele Studenten möglicherweise eines ihrer attraktivsten Merkmale. Eine Menge von denen, die sich nicht ganz sicher waren, wie sie sich in den Obszönitäten der Moderne zurechtfinden sollten, hat es sich leicht gemacht und sich für diese scheinbar respektlose, libertinäre Gesinnung dieses gelehrten Unfugs entschieden, der nur um des Spottes willen in einer Umwelt, die wenig Sinn macht, ihre Schmähkritik treibt. Doch wurde der Foucaultsche Diskurs, wie im vorherigen Kapitel erklärt, eher aus politischer Opportunität publik gemacht als aus Geschmacksgründen oder weil er so ansprechend war. Postmoderne wurde zum Schlagwort für Relativismus. Dieser ergab sich aus Foucaults Konzept Macht/Wissen, weil das, was man üblicherweise „Wahrheit“ nannte, für ihn nur die „Wahrheit“ der disziplinierenden Eliten war. Unter ‚Wahrheit‘ wird ein System von geordneten Verfahren zur Produktion, Regulierung, den Vertrieb, die Verbreitung und den Betrieb von Aussagen verstanden. ‚Wahrheit‘ steht in einer zirkulären Beziehung zu Macht-Systemen, die sie hervorbringen und aufrecht erhalten, und zu den Auswirkungen der Macht, die sie einführt und erweitert. Ein ‚Regime‘ der Wahrheit.4

Es handelt sich um deren „Wahrheit“ im Gegensatz zu der ursprünglichen (nach Bataille), der heterogenen „Wahrheit“ der „Geisteskranken“. In Amerika verschwand Batailles „Heterogenität“ völlig von der Bildfläche. „Ihre“ Wahrheit wurde bald nur als eine Wahrheit unter vielen behandelt. Oder besser gesagt, „ihre Wahrheit“ wurde die Wahrheit des weißen angelsächsischen Mannes mittleren Alters. Es war die Wahrheit, der Diskurs der Sklavenhalter, der auf Völkermord Versessenen und offensichtlich war es eine Lüge. Aber weder Bataille noch Foucault hatten je unter der Annahme operiert, dass auch ihr Projekt auf eine relativistische Übung reduziert werden könnte. Sie wussten es besser, sie hatten sich etwas Besseres erhofft, etwas Destruktiveres als dies. Und in gewissem Sinne sind ihre Erwartungen nicht ganz unerfüllt geblieben. So wurde Foucault zum Held der in Amerika zur Postmoderne neu Bekehrten. Sie hielten Foucault fälschlicherweise für einen christusartigen Radikalen und applaudierte ihm herzlich. Sie sprachen von ihm mit Bewunderung als von einem, der „sich nicht um die Zustimmung des etablierten Regimes kümmere.“ Das machte „ihn zum Schwarzen Schaf der Angesagten oder der liberalen politischen Theoretiker“.5 Seine Jünger liebten seine rebellischen Possen und all das Gerede vom „unterjochten Wissen“. In dieses Muster konnten sie leicht ihre jüngsten Kämpfe einfügen, die sie im Namen des Feminismus, der Homosexualität und Ethnizität führten. Was sie aber noch mehr genossen, war Foucaults Luthertum, d. h. seine Behauptung, dass die „unqualifizierten Massen“ nicht mehr der intellektuellen Priester bedurften, um ihnen das Evangelium der Rebellion auszulegen. Dies war 4

Michel Foucault, The Foucault Reader, New York 1984, S. 74. Honi Fern Haber, Beyond Postmodern Politics, Lyotard, Rorty, Foucault, New York, London 1994, S. 90. 5

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7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

die Verführung der „Macht“: Dank Foucault konnte der/die postmoderne Professor(in) in den Massen aufgehen (bildlich zumeist) oder davon träumen, er oder sie könnte die kollektive Energie zu einer allgemeinen Bewegung der Destabilisierung, des Widerstands nutzen.6 So weit, so gut. Von Aussagen Foucaults wie denjenigen über die „Wahrheit“ (und generell von seinen Zwei Vorlesungen) aus unternahm die Einrichtung der „Cultural Studies“ ihre ersten (lehrplanmäßigen) Schritte. Wessen Kultur soll die offizielle sein und welche sich unterordnen? Welche Kulturen sollen als vorzeigewürdig gelten und welche sind auszublenden? Wessen Geschichte soll man sich erinnern und wessen vergessen? Welche Bilder des sozialen Lebens sollen wir hervor­heben und welche nur am Rande erwähnen? Welche Stimmen soll man hören und welche sollen zum Schweigen gebracht werden? Wer vertritt wen und auf welcher Grundlage? DIES IST DER BEREICH DER KULTURPOLITIK.7

Der Widerstand gegen den Staat, wie er von der Linken in den sechziger Jahren geführt wurde, ist zusammengebrochen. Er wurde in den siebziger Jahren wieder aufgegriffen, aber völlig entleert und war kaum wiederzuerkennen. Das geschah in der Form einer resignierten Beschäftigung mit kulturellen Unterschieden. Das ausgetrocknete und stagnierende Sammelbecken der Ressentiments benötigte nun eine Art institutionellen Rahmen, und Foucaults Sprache diente diesem Zweck. Wie ihre Gleichgesinnten in Frankreich eine Dekade zuvor in Vincennes ließen sich die amerikanischen Radikalen vereinnahmen und wurden in vorgefertigte akademische Strukturen geschoben mit dem Auftrag, die Energie mit dem Verknoten unzähliger Fäden postkolonialer Unterdrückungen – jeweils einen zu gegebener Zeit – zu vergeuden. Dabei bestand das stillschweigende Einverständnis, dass solche Fäden niemals auf einem einzigen Webstuhl miteinander verwoben werden sollten. Mit der Zeit erfuhr Foucaults Quasi-Denksystem – was nicht überraschte- eine gewisse Evolution. Sie war derjenigen nicht unähnlich, die der Marxismus vor einem Jahrhundert erlebt hatte. Formuliert nach Art und Form eines Glaubens­ bekenntnisses (in dem Macht der alleinige Gott ist) gab es sich für Manipulationen und vielfältige Interpretationen her, von denen jede innerhalb der Bewegung sich ihre eigene entsprechende Sekte gezeugt hat. Zum Beispiel haben sich einige Postmoderne dem modernen Lebensstil widersetzt. Ihre Abneigung hat sich in Antimodernismus gewandelt. Dieser hat sie bei Gelegenheit veranlasst, „sich mit den Kräften der Neo-Traditionalisten zusammenzutun“.8 Auf die Natur dieser 6

Ibd. S. 91–4. Glen Jordan/Chris Wheedon, Cultural Politics, Class, Gender, Race und the Postmodern World, Oxford 1995, S. 4. 8 David Ruccio/Jack Amariglio, Postmodern Moments in Modern Economics, Princeton, 2002, S. 27. 7

7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

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eigenartigen und wichtigen Konvergenz werden wir im nächsten Kapitel noch eingehen. Weit häufiger „kam es für andere Postmoderne nicht in Frage, einfach nur ‚gegen‘ den Modernismus zu sein, das ginge an der Sache vorbei“. Dies waren die verspielten Jongleure der Antinomien, Dichotomien und Gegensätze. Alle diese, höhnten sie, sollten aufgegeben und durch amorphe Ausdrücke ersetzt werden, in denen eine Mehrwertigkeit der Bedeutung angelegt ist. Das war die Foucaultsche Orthodoxie, die in die Sprachkritik der Sozialwissenschaft überführt worden war: Eine schier unerträgliche Grube an Sinnlosigkeit. Sie hat „oft Modernisten und andere Kritiker wütend gemacht“, da Foucaultsche Witzbolde gerade „die Art von Auseinandersetzung zu vermeiden scheinen, die ihre Kritiker sich wünschten“.9 Daher erscheint die Postmoderne als Nicht-Moderne oft als Vermeidungsverhalten, als Rückzug in eine nicht-konfrontative Haltung, die sich dadurch unterscheidet, dass sie ihren Schwerpunkt auf das Spiel, die Relativität der Perspektiven, die Ich-Bezogenheit und die Inkonsequenz der Theorie, der Interessen, Werte und Meinungen legt.10

„Nutze das Projekt als einen ‚spöttischen Knappen‘“, hatte Bataille gesagt. Sende ihn voraus, um die Gewässer zu trüben, um bei den Besuchern mit Schlagfähigkeit, Schreien und erregten Skrupel Zeit zu gewinnen, bis die Erfahrung souverän in Erscheinung tritt. Im vergangenen Vierteljahrhundert hat der postmoderne literarische Ausstoß gewaltige Ausmaße angenommen. Er wurde gepflegt und schuf eine (strukturierte) Vielzahl von wissenschaftlichen Fachabteilungen (von Englisch über Geschichte bis hin zur Wirtschaft), Zeitschriften, Konferenzen und Vereinigungen. Durch diese Einrichtungen hat der Ausstoß tangential das technokratische Umfeld  – die Regierungsinstanzen für Bildung  – erreicht. Ebenso beeinflusste die Foucaultsche Analyse der „Governmentalität“ den Bereich der öffentlichen Verwaltung.11 Obwohl die stark reglementierte Bewegung der Postmoderne ausführlich Aussagen über ihre berauschende Distanziertheit, ihren sarkastischen Gleichmut und ihre ästhetische „Selbstbefangenheit“ veröffentlichte, war sie selbst fanatisch intolerant (Wir erinnern uns: Foucault nannte die Griechen „ekelhaft!“), ehrgeizig und gewinnsüchtig: Sie stellte sich selbst als uneinheitlich und kreativ unorganisiert dar, ist aber weit davon entfernt, es zu sein. Durch ihre verschiedenen Praktiken und „Diskurse“ erreichen viele ihrer Sekten ihre Ziele, die sich, wie bereits erwähnt, mit der Agenda der Macht decken. Diese sind: Den Dissens fragmentieren, die Debatte in Frage zu stellen, zu polemisieren und gegensätzliche Ansichten zu zensieren, ein universelles Mitgefühl zu diskreditieren, die Macht der US-Konzerne durch den Diskurs der Diversität im Sinne des Marketings zu fördern und das Verständnis für die politische Dynamik durch die unaufhörliche Anwendung von Foucaults „Theorie“ der Macht zunichte zu machen. 9

Ibd. S. 28. Ibd. 11 Vgl. z. B. Jack Z. Bratich/Jeremy Packer/Cameron McCarthy, Foucault, Cultural Studies, and Governmentality, New York 2003, S. 4 f und 47. 10

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7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

Es ist nicht Ziel dieses Abschnitts, einen Überblick über die bereits immense „wissenschaftliche“ Produktion der Postmoderne anzubieten. In diesem Kapitel möchten wir eine Reihe repräsentativer Werke aus dieser Tradition in der Absicht besprechen, ihre (methodische)  Ableitung aus dem Batailleschen Projekt durch Foucaults Theorie nachzuweisen. Dies geschieht, um zu betonen, dass alle diese Beispiele, gerade weil sie aus diesem besonderen Keim (oder „Kern“) hervorgegangen sind und unabhängig davon, ob ihre jeweiligen Autoren sich dessen bewusst sind oder nicht, in der Tat (1) von einer verantwortungslosen Hingabe an eine pessimistische Inkonsequenz durchdrungen sind; (2) sie ohne jeden wissenschaftlichen, interpretativen Wert sind; und (3) als Ergebnis dessen, sich als bloße Instrumente eines tendenziösen und spalterischen Evangeliums entlarven. Die Auswahl ist keineswegs erschöpfend. Sie wird hier als bloße Einführung in eine noch ausstehende Debatte dargeboten, die hoffentlich die postmoderne Vorgeschichte nicht mehr im Licht ihrer vermeintlichen Foucaultschen Anfänge beurteilt, sondern Bataille zu ihrem Ausgangspunkt macht. Die gewählten Veranschaulichungen sind in zwei Abschnitte unterteilt: Die Auswirkungen der Postmoderne auf Bildung und politische Korrektheit im amerikanischen Diskurs und die Diskussion der Foucaultschen Synthese in der Schrift Empire von Hardt und Negri.

Politische Korrektheit und Erziehung Die Amerikanische Postmoderne kennzeichnen im Allgemeinen ein relativistischer Agitprop („Es gibt keine Wahrheit!“), prätentiöse gräzisierende Neologismen (z. B. heteroglossisch, Heterologie, Paralogie, etc.), eine Flut „bereinigter“ Substantive im Plural (Diskursivitäten, (mit einander unvereinbare)  Wissens­ bereiche, Pädagogiken, Literaturen etc.), und ein libidinöses Schwelgen in getrennten Infinitiven, bei denen „kritisch“ das Adverb der Wahl (wie in: „kritisch be­urteilen“) ist. Die Vertreter der Kulturwissenschaften liefern in der Regel ein gebrochenes Englisch, einen Jargon und Sätze, die einen Englischlehrer für die zehnte Klasse zum Weinen bringen könnten.12

Die spezielle Terminologie der Postmoderne hat Jean-François Lyotard, ein Gefährte Foucaults, als den Standard, mit dem wir alle vertraut sind, eingeführt. Lyotards einflussreiche Abhandlung über Postmoderne und Bildung (La condition postmoderne, dt.: Das postmoderne Wissen) erschien 1979 in Frankreich und wurde fünf Jahre später ins Englische übersetzt. Der Relativismus in Lyotards These war ihr oberflächlicher Wesenszug; seine Botschaft und Absicht, in etwa die gleiche wie bei Bataille und Foucault, waren subtiler. 12 Russell Jacoby, The End of Utopia, Politics and Culture in the Age of Apathy, New York 1999, S. 88.

7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

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In dem Buch Das postmoderne Wissen, mit dem Untertitel „Ein Bericht“, erfuhren wir, dass wir den Begriff „‚modern‘ zur Bezeichnung einer jeden Wissenschaft verwenden sollten, die sich mit Bezug auf einen Metadiskurs legitimiert“. Ein „Metadiskurs“ war eine besondere Untersprache, die „deutlich an eine gewisse große Narrative (grand récit, große Erzählung) appelliert“.13 Mit anderen Worten, die intellektuelle Produktion des Westens könnte als Ansammlung kreativer und in sich geschlossener Wortspiele interpretiert werden, die dazu an­gefertigt wurden, eine bestimmte, plausible und fesselnde Geschichte zu beleben, – sagen wir – etwas, wie das Martyrium Jesu, die Inkarnation Gottes (der Metadiskurs der christlichen Theologie), oder das Aufkommen des Industrie-Kapitalismus als Auslöser der proletarischen Revolte (der Metadiskurs des Marxismus). Im Gegensatz dazu wurde die Postmoderne einfach als „voll Skepsis gegenüber Metaerzählungen“ definiert. Somit war die Postmoderne jene spezielle Metaerzählung, die lehrt, dass es keine Metadiskurse gibt. Sie war also die erneute Warnung der Skeptiker vor dem Hereinfallen auf Lügengeschichten, die nichts anderes als Konzepte für Drehbücher sind, die immer wieder von Generationen leichtfertiger Journalisten, die wir „Denker“ nennen, geschrieben werden, um die konkreten Machtverhältnisse zu verschleiern. Niemandem ist natürlich entgangen, dass die Postmoderne, da sie ja selbst so ein Drehbuch war, nicht weniger für Schwindelei anfällig war als alle anderen. Das war eine traditionelle Sackgasse. Sie wurde scheinbar mit einem großen Bluff (boutade) umgangen: Warum sollte man nicht die Postmoderne als Betrug betrachten, um damit alle Betrügerei zu beenden und es dabei belassen? Und so geschah es dann auch. Nach Lyotard können Fälle, die Konflikte zwischen (mindestens) zwei Parteien betreffen, „nicht ausgeglichen gelöst werden, weil es kein neutrales Beurteilungskriterium gibt, das auf beide Argumente anwendbar ist“. Denn „es gibt keinen neutralen Boden, von dem aus man zwischen konkurrierenden Ansprüchen entscheiden könnte, keinen zusammenfassenden Meister-Diskurs, der die spekulative Einheit des Wissens reproduzieren kann“.14 Mit dieser Neuformulierung befanden wir uns auf dünnerem Eis, als bei Foucault. Denn nun konnten wir uns nicht einmal das Privileg leisten, zu erklären, ob etwas nicht „ekelhaft!“ (wie die Lebensweise der Griechen) war oder nicht: Wir konnten natürlich so etwas noch durch Taten beweisen, doch die Schwelle für die Heuchelei im diskursiven Spiel war angehoben worden. „Zerstreuung“, beruhigte Lyotard, sei „an sich gut“.15 Aus Sicht der Postmoderne folgte, dass Wissenschaft selbst „eine Art von Diskurs“ ist.16 Ihre mathematischen Beweise und ihr technologisches Raffinement machen sie nicht wahrhaftiger oder weniger verlogen als die anderen großen Er 13 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 7. 14 Michael Peters, „Introduction: Lyotard, Education and the Postmodern Condition“, in: Education and the Postmodern Condition, Westport, CT 1995, S. XXV f. 15 Ibd. S. XXVIII. 16 Lyotard, La condition postmoderne, S. 11.

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7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

zählungen. „Durch die Verstärkung der Technologie“, schrieb Lyotard, „‚untermauern wir‘ Realität und damit unsere Chance, Recht zu haben“.17 Dies ist zweifellos wahr. Die „Verstärkung durch Technik“ ist das Produkt dessen, was vor kurzem als das „Ende der Wissenschaft“ angekündigt worden war. Auch dies ist eine Fabel, nach der unsere Gesellschaft eine historische Kluft überschritten hat. Sie ist angeblich in ein Reich des Wissens eingetreten, das alle wichtigen wissenschaftlichen Fragen als gelöst ansieht. Es (das Wissen) könnte nur noch durch geduldige Arbeit am Großrechner verfeinert werden. Die Großforschung (Big Science)  ist Macht, und sie achtet darauf, dass sich ihre Politik der massiven Investitionen, zusammen mit der Phraseologie, die ihre Ziele in Wissenschaft und Ministerien verewigen, nicht ändern. „In diesem Zusammenhang ist die Existenz von klar definierten und vor allem stabilen wissenschaftlich-technischen ‚Rahmenbedingungen‘ für die politisch-militärisch-industrielle MachtTriade eine Notwendigkeit. Ihre Strategien verlangen einen immer größeren Grad an Gewissheit.“18 Biotechnologie ist zum Beispiel Technik und Diskurs. Aber ist sie „richtig“, ist sie wahr? Sie ist richtig und wahr für das „Regime der Wahrheit“ der „Big ­Science“, die „aus einer Art wissenschaftlicher Plebs besteht, deren Aufgabe es ist, Projekte und Programme durchzuführen, die von anonymen Ausschüssen formuliert worden sind. Diese Ausschüsse werden sogar noch stärker von Bürokraten beherrscht, von jener neuen Gattung der ‚Forschungsleiter‘ – also von [Personen] ohne die Kultur und Sensibilität, die den wahren Wissenschaftler auszeichnen.“19 Doch Lyotard hatte weder die Zeit noch das Wissen, um die Vor-und Nachteile der offiziellen Wissenschaft abzuwägen. Selbst ein Pauschalurteil würde ihn in diesem Fall zwingen, sich auf absolute Begriffe wie Gerechtigkeit und Wahrheit zu beziehen. Dies wäre ein Luxus, den sich Postmodernisten nicht leisten können. Sie müssen sich im besten Fall mit Halbwahrheiten zufrieden geben. Ab­gesehen davon musste Lyotard bis auf den Grund der postmodernen Unternehmung vordringen: Der Wissenschaftler bezweifelt die Gültigkeit der narrativen Aussagen und stellt richtig, dass sie nie der Argumentation und der Beweisführung unterliegen. Er stuft sie als Be­ ziehungen zu einer anderen Mentalität ein: zu einer wilden, primitiven, unterentwickelten, rückwärtsgewandten […]. Diese ungleiche Positionierung ist ein wesentlicher Effekt der Regeln der einzelnen Spiele. Wir kennen ihre Symptome. Es handelt sich um die gesamte Geschichte des Kultur-Imperialismus seit Beginn des Westens.20

Da hätten wir also den Übeltäter. Es ist immer wieder der gleiche: der disziplinierende Diskurs des Westens. Nun zu den Rebellen: 17

Ibd. S. 77. Giuliano Preparata, Fine di millennio, fine della storia, fine della scienza: fantasie della globalizzazione? (unveröffentlichtes Manuskript, 1999, S. 4). 19 Ibd. S. 2. 20 Lyotard, La condition postmoderne, S. 48. 18

7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

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Das Selbst bedeutet nicht viel, aber es ist nicht isoliert, es ist in einem Gewebe von Beziehungen gefangen, die komplexer sind und sich rascher ändern als je zuvor. Sei es jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich, es sitzt immer auf Knoten von Kommunikationsnetzwerken, egal wie peripher diese auch sein mögen. […]. Es befindet sich an Standorten, durch die Botschaften vielfältiger Natur laufen.21

Bis zu diesem Punkt bleibt das Modell Bataille treu. Hätte es hier wie das Original geendet, hätte Lyotards Bericht dem Amerika Ronald Reagans kaum mehr als ästhetische Ausflüchte und mürrische Sentimentalitäten versprechen können – angenommen, dass es das war, was Radikale damals verlangt haben. Tatsächlich dachten viele von ihnen, dass der weite Raum des Metadiskurses, der alle Metadiskurse leugnet, sie „von der blendenden Aufgabe freisprechen würde, im Himmel nach etwas wie einer flammenden Sonne der Wahrheit“ zu suchen. Sie fühlten, dass Lyotards Bericht ihre „Sinne geöffnet und sie an ihre Zuständigkeit für die ‚Farben und Schönheiten, die Rätsel und die Reichweiten der Bedeutung‘ in diesem Leben“ erinnert hat.22 Doch das konnte nicht alles gewesen sein. Lyotard steuerte zu dieser Foucaultschen Übung einen zukunftsweisenden IT-Tick bei. Er formulierte das Problem in Bezug auf die sogenannte Performativität (Aufführbarkeit, den Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln) um. Im [postmodernen] Kontext der Entlegitimierung [aller aktuellen Metadiskurse], haben Universitäten und Hochschulen nunmehr die Aufgabe, Kompetenzen und nicht Ideale auszubilden: Sie werden so und so viele Ärzte, […] so und so viele Ingenieure ausbilden. […] Die Vermittlung von Wissen erscheint nicht mehr dazu bestimmt zu sein, eine Elite zu prägen, die die Nation führen kann […], sie liefert dem System Spieler, geeignet ihre entsprechende Rolle in den pragmatischen Positionen auszufüllen, die von den Institutionen benötigt werden. In diesem Sinne erweist sich die „demokratische“ Universität […] unserer Tage kaum als performativ.23

Daher sollte Wissen nicht mehr „in Blöcken“ vorgesetzt werden, wie das üblicher­weise im Westen durch die Aufgabe, sogenannte großartige Bücher zu lesen, geschieht, sondern Wissen sollte vielmehr „à la carte“ angezeigt und aus­ gegeben werden. Aus den Menüs aufgedröselter Einzelinformationen, Sprachen und Sprachspiele, sollten sich die Studierenden gezielt und in Raten die Erzählungen zusammenstellen, die am besten ihre „technische und ethische Erfahrung“ unterfüttern.24 Auf dem Laufenden mit dem technologischen Wandel und der neuen Computer-Manie kündigte Lyotard vorahnend an, dass didaktische Informationen, sobald sie sich in der Computer-Sprache ausdrücken ließen, am besten Maschinen und Datenbanken anvertraut werden sollten.25

21

Ibd. S. 31. Peters, Education, S. 6. 23 Lyotard, La condition postmoderne, S. 79–80. 24 Ibd. S. 81 f. 25 Ibd. S. 83. 22

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7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

Datenbanken sind die Enzyklopädie von morgen. […] Sie sind die ‚Natur‘ für den post­ modernen Menschen.26

Der „Professor“ würde verschwinden. Er wird durch die postmoderne Beseitigung der Metaerzählungen und die neue elektronische Verpackung der höheren Bildung vom Aussterben bedroht. Der Professor war der Vollstrecker, der Zuchtmeister der imperialen, rassistischen Metadiskurse – man würde ihn nicht vermissen. Darüber hinaus konnte er keinen Anspruch mehr auf ein Denkvermögen mit einer größeren Kapazität erheben, als sie den Speichermöglichkeiten der modernen Informations-Netzwerke eigen ist. Er konnte sich auch nicht mit mehr Kompetenz als andere interdisziplinäre Expertengruppen, welche die „neuen Spiele“ auszudenken hatten, brüsten.27 Dann würde, gemessen am Kriterium der „Performativität“, die Frage der Studenten nicht mehr lauten: „Ist es wahr?“, sondern „wozu dient es?“ Im Zusammenhang mit der Vermarktung des Wissens bedeutet diese Frage meistens: Ist es verkäuflich?28

Und so fragen wir: Was würden diese Maschinen an den Benutzer weitergeben? „Anerkanntes Wissen“, lautete Lyotards Antwort.29 „Anerkanntes Wissen“? Von wem anerkannt?

Dies war bemerkenswert. Oder besser gesagt, das war das, was man aus der Kreuzung von Macht/Wissen mit IT bekommen musste. Foucaults Macht­ vernetzung wurde einfach zum Computer-Netzwerk. Praktischerweise wurde der engstirnige Rektor aus dem spekulativen Spielfeld beseitigt und durch ein inter­ disziplinäres Expertenteam, das Spiele spielte, ersetzt. Die Postmodernen schlugen nun vor: Jeder, der sich nicht anpassen wolle, solle ihnen den Hörsaal überlassen (Lyotard und seine Mitarbeiter konnten nicht so unvorsichtig sein und schließlich ihren eigenen Abgang empfehlen). Denn wer sonst würde den Studenten den (wesentlichen) Metadiskurs beibringen, dass es keine Metadiskurse gibt? Wer soll die Botschaft über die Entlegitimierung selbst verbreiten? Kein Technokrat oder Computerprogramm. Das musste der Professor sein, jemand wie Lyotard selbst. Da der Zusammenbruch der ‚Großen Erzählungen‘ selbst eine große Erzählung ist, gibt es die logische Notwendigkeit für wenigstens eine große Erzählung.30

Natürlich. Danach konnte die postmoderne Ausbildung in Amerika folgende p­ ropädeutische Wendung nehmen: In den frühen Jahren der Ausbildung sollte nach Vorschlag der 26

Ibd. S. 84 f. Ibd. S. 87 f. 28 Ibd. S. 84. 29 Ibd. S. 87 f. 30 A. T. Nguyen, „Lyotard and Rorty on the Principle of the Professor“, in: Peters, Education, S. 48. 27

7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

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Anhänger Lyotards „genug von dem vermittelt werden, was in der Gesellschaft, der die Jugendlichen angehören, für wahr gehalten wird, so dass sie als Bürger dieser Gesellschaft funktionieren können“. Auf höherer Ebene sei es – nach ihrer Vorstellung – „nicht die Rolle der Bildung Wahrheit weiterzugeben, sondern zu erbauen“.31 „Zu erbauen“? Die vorgeschlagene Pädagogik schien sich so in einem vor­ läufigen Wiederkäuen der liberalen Indoktrination aufzulösen. Dem folgt die „Erbauung“ – mit welchen Mitteln, wurde nicht eindeutig geklärt. Nachdem er den Palast der höheren Bildung gestürmt hatte, fasste Lyotard vermutlich eine Ver­ einbarung ins Auge. Danach sollten sich die interdisziplinären Clans und ihre Vorsteher mit der IT-Branche (dem Partner für Hardware, Medien und Fernstudium), die großzügig Zuwendungen gewährt und mit den Business Schools („ist es verkäuflich?“), die in erster Linie vom Ethos der Performativität leben, absprechen, um die „Bildungshaushalte“ unter sich aufzuteilen. Es ist faszinierend zu sehen, wie dieses pragmatische Verständnis der zeitgenössischen Bildung von repräsentativen Analysen als „Links“ eingeordnet werden konnte. Nichts konnte vollständiger den Interessen unserer heutigen Regime entsprechen, als die undifferenzierten Stöße dieses postmodernen Entwurfs, der im Wesentlichen eine pädagogische Katastrophe darstellt. Anerkanntes Wissen. Das bedeutet doch, dass der Großteil von dem, was wir „wissen“, das, wie immer wir es auch betrachten, ein ungenießbares Sammel­ surium „Großer Erzählungen“ ist, keineswegs verschwinden würde, und dass es in ordentlichen Synopsen abgelegt und auf Computerspeicher kopiert werden könnte. Das war keine Lösung. Die Postmoderne empfahl lediglich, die Debatte an dem Punkt abzubrechen, an dem die meisten grundlegenden Fragen über die Natur unserer gesellschaftlichen Realitäten noch unbeantwortet geblieben sind. Wir sollten uns daher damit zufrieden geben, in unseren Köpfen Belanglosigkeiten anzuhäufen und es dabei zu belassen. Das war „das Ziel der Bildung“: Kompakte und standardisierte Berichte (wer schreibt sie?). Ihre Themen wie Schia, Marxismus oder der Spanische Bürgerkrieg wären sozusagen nur einen Klick vom Studenten entfernt (ein „Download aus dem Netz“, wie es heute heißt). Um den Rest der eigenen Ausbildung würde man sich an den gewerblichen, technischen und berufs­ bildenden Schulen kümmern – den berüchtigten „Colleges“. Bildung – wie Kunst, Wissenschaft und vielleicht auch politische Geschichte – dürfte an ihrer historischen Vollendung angelangt sein. […] Wir haben das Ziel erreicht. […] Es ist der Beginn des Post-Millennium Blues.32

Werte Herren des Hauses, womit sollten sich diese postmodernen Praktiker der Interdisziplinarität derzeit beschäftigen? Sie würden sich auf die „Nicht 31

Ibd. S. 54. Maurice R. Berube, Radical reformers, The Influence of the Left in American Education, Greenwich, CT 2004, S. 10, und Maurice R. Berube, Beyond Modernism and Post­ modernism, Essays on the Politics of Culture, Westport, CT 2002, S. 92 f. 32

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7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

Entscheidbarkeiten“, das Chaos, die Katastrophe, das Paradox und dergleichen konzentrieren. „Postmoderne Wissenschaft“, sagte Lyotard, würde nicht „das Bekannte, sondern das Unbekannte hervorbringen.“ Schon wieder das Bataillesche Geschwätz – nämlich: Die Postmoderne wäre dasjenige, was das in der Moderne nicht Darstellbare selbst zur Darstellung bringt, dasjenige, was sich selbst den Trost der guten Formen, des Konsens’ eines guten Geschmacks verbietet, das, was es ermöglicht, gemeinsam die nostalgische Sehnsucht nach dem Unerreichbaren zu teilen, dasjenige, was nach neuen Präsentationen Ausschau hält, nicht, um sie zu genießen, sondern um ein stärkeres Gefühl für das Nichtdarstellbare zu vermitteln.33

Während ihre Geschäftspartner von der Performativität besessen sind, suchten die Foucaultianer nach dem „Unterschied“. Nicht die „Große Erzählung“, sondern die kleine (le petit récit) sollte die alltäglichen Forschungsaktivitäten der neuen Akademie beschäftigen. Natürlich konnte man diese Arbeitsteilung, wie sie in einem gefestigten und friedfertigen Ambiente stattfindet, nicht voraus­ahnen. Das nicht! Erinnern wir uns: Der „postmoderne Zustand“ war eine Variation des­ Foucaultschen Themas. Macht ist vorgegeben und wir sind in sie eingebettet. Wir können uns nichts mehr wünschen als den Widerstand gegen sie. Lyotard erklärte das ausdrücklich: Zu dem System ist keine „reine“ Alternative denkbar. Man hatte verstanden, auch wenn der Tenor der Lyotardschen Prognose diesbezüglich ziemlich zahm war, dass die „Informatisierung (Informbringung) der Gesellschaft“ zwangsläufig zu „Terror“ führen würde, das heißt, zu einem Umfeld, in dem alternative Sichtweisen systematisch eliminiert werden würden. Tatsächlich ist eine riesige Datenbank mit den persönlichen Daten ihrer Angehörigen „das TraumInstrument“ der disziplinierenden Gesellschaft. Wie kann man sich denn der inhärenten Neigung des Systems erwehren, seine Überwachung und Kontrolle immer weiter auszudehnen? Nur dadurch, dass man die Unterschiede pflegt. Nach Lyotard ist das letzte, wonach die Künste und Wissenschaften streben sollten, der „Konsens“.34 Die Herrschaft des Konsenses ist für ein autoritäres Regime typisch. Nur wenn man verlangt, alle Erkundungen auf Einzelfälle zu reduzieren und nur noch einen Konsens „vor Ort“ anstrebt, würde man den Dünkel der Dunkelmänner, eine Wahrheit für alle Fälle haben zu wollen, ernsthaft bekämpfen.35 Alle Erzählungen würden zu Primär-Erzählungen, die vermeintlich nicht auf eine Reihe von universellen Wahrheiten zu reduzieren sind. Lyotards Suche nach der sogenannten Paralogie bestand darin, eine digitale Anthologie inkommensurabler Fabeln zusammenzutragen. Auch wenn Computer potentiell gefährliche Geräte waren, konnten sie schließlich, so hoffte er, von „Diskussionsgruppen“ mit der Absicht, ihr Wissen und ihre Widerstandskultur 33

Jean-François Lyotard, The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, Minneapolis 1984, S. 81. 34 Lyotard, La condition postmoderne, S. 106. 35 Ibd. S. 103 f.

7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

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zu organisieren, angezapft werden. Er schloss mit einem typischen postmodernen Schnörkel: „Wir sehen eine Politik im Kommen, die dem Wunsch nach Gerechtigkeit und nach dem Unbekannten den gleichen Respekt zollt.“36 Zugegeben, das Aufkommen des Internets bestätigte Lyotards Beobachtungen und gab seinem Text Aktualität. Doch wie stand es um diese Beobachtungen? Waren sie wirklich neu, und vor allem, waren sie in irgendeinem Sinne umstritten? Keines von beiden. Auf der einen Seite handelte es sich um alte Binsenweisheiten in der Verkleidung bilderstürmerischer Verlautbarungen, und andererseits um trügerische Rhetorik im Bestreben, sich in den konservativen Mainstream einzubringen. Man braucht nur ein Blatt aus Thorstein Veblens hervorragendem Buch The Higher Learning in Amerika, das am Ende des Ersten Weltkriegs geschrieben wurde, zu lesen, um diese spezielle postmoderne Täuschung zu durchschauen. Veblen hatte schon geahnt, wie eine anhaltende Gewöhnung an die „geld­bezogene Führung der Geschäfte“ verbunden mit dem „mechanischen Stress“ der „industriellen Gewerbe“, die traditionelle Haltung des Wissenserwerbs aus einer Art „reiner Neugier“ einschränkt, wenn nicht sogar völlig aufhebt. „Geschäftssinn“, schrieb Veblen, ist „unvereinbar mit dem Geist der höheren Bildung“.37 Auch all das postmoderne Geschrei über das Ende der Metadiskurse ist eine Entwicklung, die nach Veblen intelligenterweise als ein Vorgang geistiger Umverlagerung hätte ausgelegt werden können: Diese Regeln der Realität oder der Wahrheit haben sich von Zeit zu Zeit geändert, sie haben sich in der Tat im Verlauf der Zeit und durch die Veränderungen der Erfahrung übermäßig verändert.38

Der Antrieb, Geld zu verdienen, hat die Institution Universität, wie Veblen schon vor einem Jahrhundert bezeugt hatte, durch eine Vielzahl von Unter­nehmungen „überschwemmt“. Diese sind mit dem Bereich der Wirtschaft verbunden und haben das Umfeld der Forschung zerstört. An ihrer Stelle sind „quasi-Universitäten der groben ‚Anwendbarkeit‘ getreten, die von Geschäftsleuten eingerichtet wurden“. Es sind dies die zeitgenössischen akademischen Konglomerate, die akademische Katechismen in massenhaft besuchten Wahlfächern dosiert verkaufen, nämlich „Ausbildung der Gymnasiallehrer“, „Aufbaustudium für Nichtausgebildete“ an „Nebenstellen der Universität“ und durch „Fernstudium per Post“ – Strukturen, die unter dem Dach der „Akademischen Vorstände“ und der reichen Mitglieder der „Leitungsgremien“ gedeckelt werden.39 Die Universität wird als ein Kaufhaus konzipiert, das mit handelsüblichem Wissen handelt. Es untersteht der leitenden Hand eines Chefs der Gelehrsamkeit, dessen Amt es ist, bei der Mittelvergabe den größtmöglichen Ertrag zu berücksichtigen.40 36

Ibd. S. 107. Thorstein Veblen, The Higher Learning in America, New York 1918, S. 3, 4, 6, 8, und 75. 38 Ibd. S. 8. 39 Ibd. S. 16, 43–4 (Hervorhebung hinzugefügt). 40 Ibd. S. 85 (Hervorhebung hinzugefügt). 37

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7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

Der Konkurrenzkampf der Schulen um Zugänge, Publizität und Gewinn wird von dem „zentralisierten Verwaltungsapparat“ des jeweiligen akademischen Konglomerats geführt, was „im Großen und Ganzen der Forschung und Lehre schon auf der Ebene des Grundstudiums abträglich ist“. Ein solches System der autoritären Kontrolle, Standardisierung, Graduierung, des Berichts­ wesens, der Klassifizierung, des Belohnens und Strafens, wird notwendigerweise an umso kürzeren Zügeln gehalten, je mehr die Schule den Charakter einer Erziehungs- oder Strafanstalt annimmt, in der die unfreiwilligen Insassen einer Reihe geschmackloser Auf­gaben zugeführt und von einem (konventionell) übermäßig ungebührlichen Verhalten abgehalten werden.41

Diese konzertierten Bemühungen um die Disziplinierung der Massen im Wettbewerb ist die grausame Routine des akademischen Personals, welche „Bildungsbüros  – gemeinhin Fachbereiche genannt“ leiten, deren Richtlinien von „einer glänzenden Konformität“ und „einem streitsüchtigen Quietismus“ überschattet werden; beides sind Verhaltensweisen, die als „Zeichen der wissenschaftlichen Reife“ durchgehen. Ihre Spezialisten weisen eine „theatralische Sinnlichkeit“ und einen Hauch von Scherz auf, die sich beide gut mit der „eifersüchtigen“ Aufmerksamkeit verbinden, die sie sonst nur „für die Ansichten und Vorurteile in Reserve halten, die unter der seriösen, konservativen Mittelschicht weit verbreitet sind“.42 Es ist nicht „wahrscheinlich, dass die Untersuchungen solcher Experten über alteingesessene Überzeugungen im sozialen, wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Bereich hinausgehen“, denn „es ist schlechte Geschäftspolitik, sich un­ nötigen Ärger zuzuziehen“.43 All diese institutionellen Katastrophen verschwören sich unter dem „Regime der graduierten Sterilität“, um den „gekonnt geplanten Tod des Geistes“ zum Abschluss zu bringen.44 Selbst im Rahmen einer Abhandlung, wie sie Veblen schon vor langer Zeit entworfen hatte, ließ sich eine spätere Schöpfung wie die Postmoderne auf einen speziellen Fall eines allgemeinen und finsteren Phänomens zurückführen. Nachdem sie überführt worden waren, nichts mehr als eine späte Variante der treuen Wächter der Bürokratie zu sein, sollten die Foucaultianer anerkennen, wie wenig sie berechtigt sind, dieses vornehme Gebaren andersdenkender Selbstgefälligkeit, die ihr pathetisches Markenzeichen ist, an den Tag zu legen. Tatsächlich konnte Lyotard nicht irgendein Anzeichen an Originalität vorweisen, sondern er hat die Postmoderne in die heutige utilitaristische Kirche eintreten lassen und dabei die konservative Absicht der Bewegung verraten. Wo wir schon von „Strafkolonie“ und den Schrecken der „Standardisierung“ sprechen, stellt sich die Frage (die wir ausführlich in Kapitel 9 behandeln ­werden):

41

Ibd. S. 221. Ibd. S. 112, 176 f, 184, und 192 (Hervorhebung hinzugefügt). 43 Ibd. S. 185. 44 Ibd. S. 226, 128. 42

7. Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“ 7Politische Korrektheit, Erziehung und „Empire“

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Wenn die Linke in unserer Zeit schon so ungeduldig die ungerechten Machenschaften der tyrannischen Disziplinierung des Finanzsystems denunziert hat, warum hat sie sich nicht näher zu Hause umgesehen und Veblens Bild auf ihre Fahnen gesetzt, statt Foucault zu importieren? Der Amerikaner norwegischer Herkunft hatte die gleichen Probleme berührt und wahrheitsgemäß und auf seine Art unübertroffen über sie gesprochen. Veblen hatte buchstäblich die Auflösung unseres Systems befürwortet, indem man seine zentralen Verzweigungen deaktiviert und einige seiner entscheidenden Einrichtungen abschafft. Vor allem strebte er eine Veränderung in der Mentalität an. Veblen meinte Revolution. Foucault und Genossen hatten sich mit ihren willkürlichen Geschichten über die dezentralisierte Macht, die die Voraussetzungen jeder gesellschaftlichen Analyse verfälschen, schon mit der Rolle des Störenfrieds (enfants terribles) zufrieden gegeben. Sie waren damit einverstanden, vom disziplinierenden Vater eine Ecke im Sandkasten zugewiesen zu bekommen, in der sie sich als „Radikale“ aufführen durften. Und so machte sich die Postmoderne Mitte der achtziger Jahre, als sogar in Amerika Neuauflagen von Bataille gedruckt wurden,45 ans Werk der „De­ konstruktion“. Sie schwangen ihre Hämmer im Takt zum „Umbruch und Zerbrechen der Struktur“: Sie zerlegten die Argumente der „Klassiker“ in der Absicht, ihr ideologisches Pigment herauszufiltern, an dessen Körnung sich unfehlbar zeigen ließ, dass es patriarchalisch, rassistisch und disziplinierend war, kurz, dass es sich um die Farbe der Macht handele. Die Kehrseite dieses Werkes kritischer Demontage war Foucaults „genealogischer“ Imperativ: Das Anprangern des Sexismus und der Voreingenommenheit der elitären Drillmeister im Westen gipfelte im Zelebrieren des „Andersseins“, der „Unterschiede“, und der „kleinen Erzählung“. Eine Veränderung des Marketings lag in der Luft: Die akademische Maschine machte sich daran, stapelweise Chroniken lokaler und exklusiver Diskriminierungen für einzelne Cliquen auszuschütten. Schon bald war jede „Gruppe“, jedes „Wissen“  – nach Rasse, Geschlecht, Klasse oder Glaubensbekenntnis unterschieden  – in der Geschichte schon einmal von den herrschenden Klassen des Westens missbraucht worden und trat dementsprechend zu dem grotesken Wettbewerb um die Auszeichnung an, wer die am meisten unterjochte Gruppe gewesen sei. Die Pädagogik des Dekonstruktivismus ist beunruhigend, sie erweist sich als nahezu ziellos. Sie entwickelt und beschäftigt sich mit den raffiniertesten Kompetenzen des kritischen Denkens, um niemanden zu erlauben, davon irgend einen sinnvollen Gebrauch zu machen, abgesehen davon, die Versuchungen, „Ich weiß“ zu sagen, entsprechend zu hinterfragen. […] [Es ist zwingend notwendig, dass die Schüler] nicht alte Grundprinzipien durch eine neue ‚Wahrheit‘ ersetzen. Die ‚dekonstruktivistische Lehre‘ […] lässt sich zusammen mit gewissen sozialistischen, libertären, anarchischen Idealen verwenden. Dass diese Pädago-

45 Julian Pefanis, Heterology and the Postmodern: Bataille, Baudrillard und Lyotard, Durham NC, 1991, S. 39.

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gik „rechten“ und „linken“ politischen Ideologien dienen könnte, ist, sollte man meinen, belastend. Solche Heterogenität oder Unentscheidbarkeit ist jedoch das Markenzeichen der dekonstruktivistischen Produktion.46

Auf diese Weise zu dekonstruieren, war wie eine Dose Würmer zu öffnen, die Foucault, wie wir sahen, bereits ausgeschüttet hatte, als er am Ende seiner Karriere, verwirrt, für die Exzesse seiner Batailleschen Vorlieben Wiedergutmachung zu leisten hatte. Worin bestand die Gefahr? Offensichtlich qualifizierten sich sowohl Liebhaber von Brutalität als auch Neonazis als „disqualifizierte Wissens­ bereiche“. Verständlicher Weise würden die (weißen angelsächsischen) Aufseher bei der postmodernen Lotterie auf keinem Fall zulassen, dass diese beiden Gruppen mit in den Wettbewerb eintreten. Der Foucaultsche Diskurs musste selektiv angewandt werden, sonst hätte er nicht funktioniert. Dekonstruktion, die keine politische Kritik ist, hat daher politische Bedeutung.47

In der Politik gibt es Regeln, vor allem wenn sie immer von den gleichen Interessenvertretern aufgestellt werden, von denjenigen, die in unserer Geschichte seit der Propagierung Foucaults in den späten siebziger Jahren die sogenannte Politik der Vielfalt aktiv gefördert haben. Welchen sinnvolleren Weg gibt es, um echte demokratische Bündnisse zu verhindern, als zu versuchen, diejenigen gegen­ einander aufzubringen, die eigentlich einander verstehen sollten – das heißt, die Menschheit im Großen und Ganzen? Kultur wird das, was immer jede Gruppe oder jeder Forscher darunter verstehen will. […] Hunderte von Essays über „kulturelle Identität“ werfen mit Verweisen auf […] Foucault um sich, die kaum einen Bezug zu ihrem Thema haben. Endlose Diskussionen über den Multikulturalismus erwachsen aus der unbegründeten Annahme, dass die amerikanische Gesellschaft aus zahlreichen verschiedenen „Kulturen“ bestünde.48

In der postmodernen Tradition bildet die Ouvertüre zu dieser massiven Einübung in die Kunst der Spaltung üblicherweise ein heftiger Papier-Kreuzzug gegen „die ganze metaphysische, eurozentrische Tradition, gegen die ‚Mythologie der Weißen‘“.49 Im postmodernen Gebetbuch sind „eurozentrisch“, „weiß“ und „metaphysisch“ die üblichen Attribute des Teufels. Empört über die insgesamt westliche Dominanz in den Lehrplänen, klagen die Multikulturalisten über die Überzeugung der Weißen, dass Künste und Wissenschaften zum größten Teil eine abendländische Affäre seien: Wer sind die großen Komponisten? Bach, Beethoven, […] Cage. Wer sind die großen Philosophen? Sokrates, Plato, […] Foucault. […] Das ist offensichtlich, nicht wahr? Es sind weiße Menschen, in der Tat zumeist weiße Männer. […] Doch lassen sich sicherlich nicht

46 Tomasz Szkudlarek, The Problem of Freedom in Postmodern Education, Westport, CT 1993, S. 102–3, 98. 47 Ibd. S. 8. 48 Jacoby, The End of Utopia, S. 39–47. 49 Szkudlarek, Problem of Freedom, S. 108.

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auch [die] Leistungen [der außereuropäischen ‚Anderen‘] mit denen von Michelangelo, Sokrates, Beethoven oder Shakespeare vergleichen? […] [Die herrschenden Institutionen] bevorzugen die Interessen der Weißen, der Mittelklasse und der Männer.50

Das ist in vielerlei Hinsicht eine problematische Situation. Zum einen zeigen die angelsächsischen Postmodernen meistens ein auffallend plumpes Verständnis für die europäische Seele: Dass man in diesen Lehrbüchern eine durchgehende Linie von Platon bis Foucault, oder noch absurder, von Bach bis Cage(!) zieht, ist beunruhigend genug. Doch in ihren Augen ist noch schlimmer, dass die Gründungsväter ihres Glaubens in der Tat alles homines gallici – Französische Männer sind. Sie sind so von der abendländischen Metaphysik durchdrungen als es weiße, privilegierte und eurozentrische Männer nur sein können. Doch egal. Es war höchste Zeit, die „unterdrückten Kulturen“ von der Leine zu lassen und Breitseiten an Gift gegen den abscheulichen „elitären weißen Mann“ abzufeuern,51 gegen den, der denkt, brummeln die Postmodernen, nur er könne Wahrheit oder Wissen besitzen, herstellen und verbreiten. Das Neue daran ist nun, dass wir weiterkommen könnten, wenn wir das Spektrum der Diskurse in eine unzählige Menge an Epistemologien zerhacken, einschließlich einer, sagen wir, „feministischen Epistemologie“ oder noch pointierter, einer „schwarzen feministischen Epistemologie“. Das wäre so weit entfernt vom weißen männlichen Geschäft und stünde, wie Foucault vorgeschlagen hatte, in so „krassem Gegensatz“ zu ihm, als es diskursiv nur möglich sein könnte. Dies würde die Annahme erlauben, dass Frauen, insbesondere farbige Frauen auf eine Weise Kenntnisse erwerben, die genetisch und spirituell anders, wenn nicht sogar diametral entgegengesetzt zu derjenigen ist, die den eurozentrischen Männern eigen ist. Die ganze „Theorie“ ließe sich dadurch entwirren, dass man Schnappschüsse zur Schau stellt, die zeigen, wie aggressiv fremd­artig die beiden Kreaturen (der eurozentrische Mann und die farbige Frau) einander sind. Wenn das Rennen einmal in Gang gekommen ist, könnte man schließlich sehr gut damit enden, für jeden einzelnen Menschen auf der Erde eine eigene Epistemologie auszuarbeiten – denn „unterscheiden“ wir uns nicht schließlich alle voneinander? Obwohl man versucht ist, zu behaupten, dass die schwarzen Frauen mehr unterdrückt sind als alle anderen und deshalb den besten Ausgangspunkt haben, um von dort aus die Mechanismen und Auswirkungen der Unterdrückung zu verstehen, ist das nicht der Fall. Stattdessen werden jene Ideen, die sich für afro-amerikanische Frauen, afro-amerikanische Männer, lateinamerikanische Lesben, asiatisch-amerikanische Frauen, puertorikanische Männer, sowie andere Gruppen mit unterschiedlichen Standpunkten als wahr erwiesen haben, zu den jeweils „objektivsten“ Wahrheiten. Jede Gruppe spricht von ihrem eigenen Standpunkt aus und teilt ihr eigenes parteiliches, ihr genehmes Wissen. Doch weil jede Gruppe ihre eigene Wahrheit als eine partielle auffasst, ist ihr Wissen unvollkommen.52 50

Jordan, Wheedon, Cultural Politics, S. 9–11. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, New York 2000, S. 254. 52 Ibd. S. 270. 51

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Dies ist ein Paradebeispiel für postmoderne Diskursivität. Abgesehen davon, dass man sich fragt, was wohl den lateinamerikanischen Homosexuellen, den puertorikanischen Frauen und dem Rest der Bevölkerung zugestoßen sein mag, kann man von einer Annahme nur erschüttert werden, nach der bestimmten rassistisch und sexuell definierten Gruppen, nur weil sie von der Hand der Weißen Unrecht erlitten haben, eine höhere, klarere Sicht der Wahrheit und der Tiefe des Leidens und der Unterdrückung („mehr ‚objektive‘ Wahrheiten“) zukommen soll. Als ob bestimmten Clans von dem selbst ernannten Tribunal einer „Gegenauto­ rität“ ein Eigentumsrecht am ‚Blues‘ zugestanden werden könnte. Natürlich würde eine wohlwollende Lektüre dieses Auszugs nahelegen, dass diese bestimmten Gruppen von unterjochten Menschen noch immer eine kräftige Unterstützung in ihrem Kampf für soziale Akzeptanz, für eine stolze Identität und ein friedliches Leben im weißen Amerika benötigen. Man kann in obiges Zitat eher eine besondere Regung von Empathie für einige hineinlesen statt eine beißende Ausgrenzung anderer. Doch das würde diesem Argument eine Gunst erweisen, die es nicht verdient hat. Keine Frage: Der weiße Mann benimmt sich zur Zeit als die abscheulichste, arroganteste, obszönste, mörderischste, heuchlerischste und wildeste Kreatur, die diese Erde je betreten hat, sein Konto an Schmach, das von Tag zu Tag wächst, ist einfach unbeschreiblich und wird von keinem anderen übertroffen. Feministinnen sagen uns nichts Neues. Was sie allerdings vergessen – und das ist eine unverzeihliche Unterlassung – ist, dass der weiße Mann den größten Anteil an Gewalt gegen Weiße wie er selbst richtet. Er unterdrückt grausam, diskriminiert und beleidigt täglich all jene Personen, die in obigem Zitat erwähnt werden, aber er verletzt und zertritt mit noch größerer Entschlossenheit, Brutalität und Aus­ giebigkeit seine eigenen Brüder. Das ist eine Tatsache, welche die moderne historische und soziale Erfahrung eindeutig aufdeckt. Und wie steht es um den Rest unserer Gattung? Die feministische Rhetorik wird vor allem durch logistische Erfordernisse bestimmt: Feministinnen machen Lärm und beschränken den Schwerpunkt ihrer Beschwerden notgedrungen darauf, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Notlage ihrer Schwestern in der ganzen Welt zu lenken. Der Grund ist edel. Doch die Behauptung, dass sie nur, weil sie Frauen oder Nicht-Weiße sind (d. h. schwache Opfer), etwas wissen oder gar mehr wissen, ist launisches Gerede. Es ist einfach nicht wahr. Viele weiße Männer können mitteilen und haben das auch schon getan, was sie von ihren Mitmenschen in einer Weise erlitten haben, die nicht weniger tief und dazu noch aufschlussreicher ist, als das, was farbige Frauen berichten – und zwar auf eine im Großen und Ganzen identische Weise. Vielleicht sollten die Postmodernen einmal einen Blick in die Literatur werfen – nicht nur in ihr einseitiges Schrifttum, sondern in das Erbe der Kulturen, um ihre Kurzsichtigkeit zu erkennen und um sich des Weiteren klar zu machen, dass alles Beharren auf dieser Form der umgekehrten Diskriminierung bekanntlich kein Ende der Spannungen bringt. Indem man aus kulturellen Differenzen „unterschiedliche Wissenschaften“ und „anta­ gonistische Diskurse“ macht, bewirkt man, dass sich Clans und Fraktionen ent-

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lang rassischer und / oder sexueller Grenzen verschanzen. Man verhärtet dadurch die Verbitterung und schürt absurde Stammesfehden zwischen Individuen, die leicht Verbündete sein könnten. Lasst den Kampf ein gemeinsamer sein, einer der kulturelle und geschlechtsspezifische Unterschiede anerkennt, der aber letztlich im Namen einer gemein­ samen Sache ausgetragen wird, um Leiden zu lindern und sich den schwerwiegenden Ungerechtigkeiten zu widersetzen, die das etablierte System der Privilegien festschreibt. Doch gerade das wollen die postmodernen Leitfiguren des Multikulturalismus nicht hören. Vermutlich ist es aufregend, die Verbrechen der weißen elitären Männer im Namen ihrer „Minderheiten“-Opfer von den Kanzeln der von Männern geleiteten Akademien aus anzuklagen. Die Hörsäle füllen sich besonders, wenn weiße (postmoderne) Männer sich für diese Routine hergeben. Das ist dem Wesen nach Selbstkritik, wie es scheint. Doch die Tatsache, dass die Eigeninteressen des Verwaltungsrates der Schulen das Belegen dieser postmodernen Komödie in Auftrag gegeben hat, sollte einen innehalten lassen, um mit etwas Argwohn über die Angelegenheit nachzudenken. Das hämische Theater geht trotzdem weiter. Alles, von Jesus bis zum Untergang der Azteken, muss für Schuldzuweisungen oder Kritik herhalten. Die Christen verehren einen hebräischen Gott in der Gestalt eines Menschen, den die Juden nicht anerkennen. Jesus war Jude. Nein, sagten die Nationalsozialisten, das war er nicht53 (aber die Nazis zählen nicht). In Wahrheit war er schwarz, schwor ein afrozentrischer Gelehrter.54 Die Foucaultianer schlagen sie alle mit ihrem eigenen Heiligenbild: Alle künstlerischen Symbole verlieren mit der Zeit an Überzeugungskraft. Wenn ich in einem Roman den auferstandenen Christus unter uns heute darstellen sollte, würde ich ihn als einen etwas zurückgebliebenen schwarzen Obdachlosen, der  – ja  – homosexuell ist, darstellen. Denn mein Verständnis von Jesus ist, dass, würde er zurückkehren, er am Rande der Gesellschaft leben würde, zumal sein göttlicher Plan darin besteht, das Establishment der Welt sowohl ideologisch als auch materiell zu stürzen.55

Betrachten wir darüber hinaus als treffendes Beispiel die katholische Unter­ drückung des Kults der Azteken. Man wird heute kaum einen Studenten oder Professor finden, der die Angelegenheit nüchtern beurteilen wird. Die Vernichtung der präkolumbianischen Kulturen ist eine der Hauptpunkte im Anklage-Repertoire der Postmodernen. Aus postmoderner Sicht gibt es keine schlimmere Meisterleistung an völkermörderischer Heuchelei des traditionellen, hierarchischen Establishments als diese Ausrottung der südamerikanischen Eingeborenen durch die katholischen Spanier. Die Eroberer haben diese Kulturen buchstäblich so ab 53 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, Eine Bewertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1930, S. 76. 54 Murray Friedman, What Went Wrong? The Creation und Collapse of the Black-Jewish Alliance, New York 1995, S. 13. 55 Berube, Beyond Modernism, S. 117 (Hervorhebung hinzugefügt).

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geschlachtet, dass es sie nicht mehr gibt. Das war unbestritten so. Doch handelt es sich hierbei bekanntlich um ein schwieriges Thema. Denn selbst wenn wir als Westler solche Gräueltaten stets verurteilen sollten, sind wir trotzdem mit den unzähligen Menschenopfern, welche die Opfer des spanischen Blutbads durchgeführt haben, konfrontiert. Wie steht es um diese Art von Gemetzel? Wie sollte man damit umgehen? Um dieser Frage auszuweichen, geben sich die Postmodernisten (aus der wohlerzogenen, komfortabel lebenden Mittelklasse) alle Mühe. Im Falle, dass es ihnen nicht gelänge, könnten einige von ihnen (nicht wenige), um verbal ihre Bataillesche Integrität zu wahren, eine Position vertreten, die in der Tat deliriös ist. Der folgende Klappentext einer Monographie über Bataille, die von einem weltweit anerkannten akademischen Verlag veröffentlicht worden war, ist in postmodernen Kreisen weit weniger ungewöhnlich, als man denken sollte: [Das Prinzip des Massakers] wurde durch das Beispiel der Konquistadoren begründet, die sich ihren Weg quer durch Amerika mit einer Grausamkeit und Gewalt und in solchem Umfang massakrierend bahnten, dass es die Opferhandlungen der Azteken in den Schatten stellte.. . Die Azteken haben sich die einheimische Bevölkerung nicht auf der Suche nach Reichtum unterworfen, sondern suchten einen Reichtum (d. h. Opfer), der in exzessiver Gewalt religiös verausgabt werden konnte. […] In diesem Sinne behielten die Opferungen der Azteken ihre heilige Qualität und blieben das Gegenteil zur Produktion. Sie stehen dem Geist der Eroberung entgegen, den Spanien verkörpert. In aller Wahrscheinlichkeit war an den Opferungen nie Grausamkeit und Erniedrigung beteiligt; im Gegenteil, das Opfer war ein Ehrengast. Selbst in der extremen Form, welche die Aztekische Gesellschaft diesen Opferungen gab, behält das Opfer sein Element der Kommunikation. […] Die aztekische Gesellschaft war in der Tat extrem wohlgeordnet und puritanisch, und die Menschenopfer entsprachen dem allgemeinen Sinn für Ordnung.56

„Puritanisch“? Wir sollten die Diskussion nicht überdramatisieren, sondern uns darauf beschränken, diese Possen für das zu nehmen, was sie sind. Diese ärgerlichen Kindereien wollen in die Schwarte der konventionellen moralischen Gesinnung (die inzwischen so locker und lax ist, dass sie den Stich schon nicht mehr spürt) stechen. Viel wichtiger ist, dass sie in den Köpfen der Studenten Vorurteile gegen die erklärten Werte des traditionellen Monotheismus (wie Toleranz, Mitgefühl und Erhaltung des Lebens) wecken und verstärken und zwar durch Angriffe auf die religiösen Institutionen, die bisher eben jene Bestrebungen zum größten Teil auf üble Weise verkörpert haben. Die jämmerliche Korrumpierung der jüdisch-christlichen Tradition als Bastion frommer Gebräuche hat die subversive Arbeit eines Bataille, der Foucaultianer und ihrer Anhänger geradezu erleichtert. Nun gut. Um fair zu sein, könnte man sich vorstellen, dass in dem Beispiel bestimmte Segmente der angelsächsischen Intelligenz über den Weg der Post­ moderne de facto dulden, das soziale Erbe der Azteken „puritanisch“ und „wohl 56

Michael Richardson, Georges Bataille, London 1994, S. 83, 84, 81 (Hervorhebung hinzugefügt).

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geordnet“ zu nennen. Dann müssten sie aber ebenso gut den Nationalsozialismus tolerieren können. Auch er war wohlgeordnet und in einem gewissen Sinn „puritanisch“, er praktizierte den Holocaust auf eine methodische und geordnete Weise, und war, wie bereits erwähnt, ganz von chthonischen Formen religiösen Glaubens durchdrungen. Kurzum: der Nationalsozialismus war nichts anderes als eine moderne, teutonische Wiedergeburt des alten Kriegerkults der Azteken. Es gibt unbestreitbare Ähnlichkeiten: martialische, soziale und religiöse. Ist das zugestanden? Nein, nicht im geringsten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Postmodernen Konservative der liberalen Art sind. Der Sieg über den Hitlerismus ist der wichtigste Mythos des militanten Liberalismus. Doch haben Holocaust-Historiker gelegentlich harte Worte gegen die Postmodernen gerichtet, weil sie die Tugend der „Objektivität“ verspottet hatten. Sie befürchten, dekonstruktive Wortspiele könnten den anklagenden Ergebnissen ihrer Archivarbeit die Legitimation absprechen (sie vielleicht als einen weiteren – prosemitischen? – Diskurs abtun) und ihnen damit auf lange Sicht die subtilen politischen Vorteile ihrer aktuellen Position entziehen. Denn diese Historiker sind Horchposten der Macht, haben Teil an den nicht unerheblichen Erlösen der „Holocaust-Industrie“, und beteiligen sich an der fortgesetzten Überwachung der Deutschen, welche von den Angelsachsen noch immer mit Argwohn beäugt werden. Zweifellos ist die Geschichte des Holocaust ein wichtiges und notwendiges Unterfangen. Aber wäre der Öffentlichkeit nicht besser damit gedient, wenn ein Teil dieser bemerkenswerten intellektuellen Investitionen der Forschung dem Aufstieg der Anhänger Hitlers gewidmet würde, der noch immer ein nebulöses Thema ist? Auf jeden Fall haben sich die Postmodernen eilends entschuldigt und den Zankapfel als bloßes Missverständnis heruntergespielt. Wenn man sie auffordert, zwischen der „etablierten“ Methodik der Holocaust-Historiker und dem Wortschwall der späten Holocaust-Leugner zu wählen, finden es die­ Foucaultianer eher unproblematisch, ihren Eid auf den „Unglauben“ zu brechen und sich natürlich auf die Seite ersterer zu schlagen. „Holocaust-Leugnung“, sagen sie, „hat nichts mit Geschichte zu tun“.57 Wahrlich, das hat sie auch nicht. Doch diese Schlussfolgerung wird überhaupt nicht von ihrer postmodernen „Sichtweise“ gerechtfertigt. Um nach ihren Bedingungen ein Urteil über etwas abgeben zu können, müssten sie wie der Rest von uns denken und handeln, nach Gerechtigkeit suchen und entsprechend handeln. Denn jeder weiß, dass die Postmodernen sich genau auf die Denkprinzipien aus den Traditionen beziehen, die zu verunglimpfen sie so sehr bestrebt sind.58 Jedoch können sie das nicht eingestehen, denn das würde gegen das Dogma ihres „postmodernen Nicht-Wissens“59 verstoßen. Daher 57 Robert Eaglestone, Postmodernism and Holocaust Denial, Duxford, Cambridge 2001, S. 60. 58 Christopher Norris, The Truth about Postmodernism, Oxford; Cambridge, MA 1993, S. 300. 59 Ibd. S. 297.

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ist Postmodernismus Betrug. Einerseits bestätigt der Postmodernismus, indem er ständig Abweichungen von den eigenen Regeln zulässt, das, was „auf dem Weg des Glaubens als gut“ durchgeht, und andererseits schwächt er Opposition, indem er Zwietracht schürt. Als Zeichen ihres Engagements für die aktuelle politische Orthodoxie urteilen die Postmodernen: Wir haben die Pflicht, uns der Opfer der Nazis zu erinnern, vor allem derjenigen, die im Zuge der „Endlösung“ ermordet wurden.60

Warum „vor allem“ diese? Was ist mit den Millionen unschuldigen anderer (darunter deutsche Zivilisten)? Welche perverse Neigung kann ein System des Abwägens und Aufzählens für die wehrlosen Opfer von Gewalt formulieren? Sind wir nicht alle gleich viel wert? Ist Gerechtigkeit nicht für alle ein und dieselbe? Der Postmoderne lässt also nicht zu, dass man das Dritte Reich mit dem Reich der Azteken vergleicht, (1) weil ersteres durch die Anglo-Amerikaner besiegt wurde, was eine „gute“ Sache war, während letzteres von den lateinischen Katholiken zerstört wurde, die dagegen patriarchalisch und sexistisch (d. h. „schlecht“) waren, (2) weil die aztekische Gesellschaft nach Bataille „ausgewogen“ war und eine ansprechende Sinnlichkeit besaß, was – wie er meinte – Nazi-Deutschland gänzlich abging, und (3) weil der Nazismus keine „souveräne“ Formation war, sondern eine Laune der Bourgeoisie, eine disziplinierende Gesellschaft, die nach Foucault, vom „unheimlichsten, langweiligsten und abstoßendsten Kleinbürgertum, das man sich vorstellen kann“ betrieben wurde.61 Daher kamen die blutigen Ureinwohner Mittelamerikas ungeschoren (und gesegnet) davon, während die einfachen weißen, eurozentrischen Deutschen und Spanier wahllos zusammengeworfen wurden, um für immer geschmäht zu werden. Schön und gut. Die postmoderne Routine arbeitet nach einem einfachen Muster: Man muss sich auf die Seite der üblichen Opfer des disziplinierenden Autoritarismus schlagen und in ihrem Namen einen „Diskurs“ entfachen. Dieser muss dann als anta­ gonistische Ansicht im Ringen um Wertsteigerung innerhalb der begrenzten Räume sozialer Interaktion (am Arbeitsplatz, in der Schule, im öffentlichen Raum, in Gesprächen, etc.) eingesetzt werden. Daher bilden die „disqualifizierten Wahrheiten“ von Homosexuellen, Frauen, Minderheiten, Azteken und kolonisierten oder nichtkolonisierten Eingeborenen, Rauschgift- und Sexual-Kulten (Nazis ausgeschlossen) einen neuen Dschungel des „Gefährlichen“, in dem die Postmodernen leben und aus dem heraus er oder sie täglich Ausfälle gegen den verhassten, weißen, eurozentrischen Flegel unternimmt. Somit ist zum Beispiel Reggae-Musik gut: sie ist der echte und verbreitete62 Ausdruck disqualifizierter Minderheiten unter einer weißen, postkolonialen Verwaltung – die schlecht ist. Doch was wäre, 60

Eaglestone, Holocaust Denial, S. 63. Michel Foucault, Aesthetics, Method, and Epistemology, vol. 2, New York 1998, S. 226. 62 Jordan, Wheedon, Cultural Politics, S. 7. 61

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wenn Jamaica „eine neue Sorte von Reggae-Sänger vermarkten würde, die Lieder mit Texten singen, die gewalttätige Angriffe auf Homosexuelle darbieten?“ Songs, die die Hörer auffordern „hinauszugehen und auf Lesben und Homosexuelle zu schießen, einzustechen, einzuschlagen, sie zu steinigen und zu verbrennen“?63 Diese Wirklichkeit – eine aus einer Vielzahl ähnlicher Fälle – ist für Postmoderne eine Peinlichkeit und wirft einen Schraubenschlüssel in das Foucaultsche Getriebe. Vielleicht wäre das eine Schande für „hochgesinnte Demokraten“, aber sicherlich nicht für Meister Foucault oder ganz bestimmt nicht für Bataille. Diese stünden diesem gelegentlichen Blutvergießen, das in den Seitengassen der randständigen Netzwerke der Macht vergossen werden soll, völlig gleichgültig gegenüber: Würden beide es nicht als das unveränderliche, blutige Gesetz der Hetero­ genität abgetan haben? C’est la vie.

Empire Früher oder später musste jemand Foucaults neo-gnostische Fiktion der Macht im Weltmaßstab anwenden. Es geschah vor kurzem in einem Buch mit dem Titel Empire: Die neue Weltordnung als ein weiterer Tribut an die „Globalisierung“. Die Foucaultschen Subunternehmer, die für diesen ehrgeizigen Umbau verantwortlich zeichnen, sind Michael Hardt und Antonio („Toni“) Negri, ein US-amerikanischer Literatur-Professor und ein italienischer Politologe. Ihr gemeinsames Werk kam im Jahr 2000 heraus und hat „ein erstaunliches Maß an Aufmerksamkeit sowohl in der herrschenden Meinung als auch bei den Radikalen bekommen“.64 Die­ Foucaultianer haben sich für die Eliten als unerschöpfliche Quelle herrlicher Überraschungen erwiesen. Unzufrieden damit, ihre Geschichte über die Macht unter den inländischen Randgruppen verbreitet zu haben, sind die „spöttischen Knappen“ nun entschlossen, das Netzwerk über den ganzen Planeten auszuweiten. Hardt und Negri sind ein merkwürdiges Paar. Nach Aussagen von Linken, „hat letzterer unanfechtbare, revolutionäre Referenzen“.65 In den siebziger Jahren war Negri einer der führenden Theoretiker der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition Italiens. Seine Stimme gehörte in Italien zur linken Grundströmung, bis der rechte und linke Terrorismus auf niederdrückende Weise einsetzte und der wirtschaftliche Niedergang die Kommunistische Partei Italien veranlasste, jedenfalls nach außen hin, den Schulterschluss mit Italiens feudalen, katholischen und unvergänglichen Establishment, den raffinierten Taktikern der Democrazia Cristiana zu suchen. Für Extremisten hatte die offizielle Linke damit versagt. Das Zusammengehen mit den verhassten „Priestern“ war in ihren Augen 63

The Economist, „MOBO phonic“, September 2, 2004, S. 55. Leo Panitch/Sam Gindin, „Gems and Baubles in Empire“, in: Debating Empire, ed.­ Gopal Balakrishnan London, New York 2003, S. 52. 65 Macolm Tilly, „You Can’t Build a New Society with a Stanley Knife“, in: Balakrishnan, Debating Empire, S. 83. 64

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eine Schande. In einem komplexen und bisher noch nicht geklärten Spiel politischer Querschläger traten schicke Hardliner wie Negri vor und empfahlen der „Arbeiter­bewegung“ Widerstand bis zum Äußersten von den Rändern aus zu leisten: Gewalt war die Antwort – kompromisslose „proletarische Gewalt“ (dass Negris Bewegung jedoch über keine irgendwie geartete proletarische Basis verfügte, sondern sich fast ausschließlich aus ausgelassenen, wohlhabenden Jugendlichen zusammensetzte, schien für ihn selbst ein vernachlässigbares Detail zu sein). „Gewalt“, schrieb Negri, „ist nicht die Lösung aber von grundlegender Bedeutung“.66 Im Jahr 1978, in einem der geheimnisvollsten und kritischsten Umbrüchen im nebulösen Spiel des Kalten Krieges,67 entführten und ermordeten die Roten Brigaden Aldo Moro, einen der führenden Christdemokraten, der angeblich diese vermeintlich ketzerische Entente mit Italiens Kommunisten angestrebt hatte. Ob er dies wirklich getan hat, ist bis zum heutigen Tag ein weiteres verwirrendes Rätsel geblieben. In der chaotischen Zeit nach Moros Ermordung machte sich eine Gruppe von Justizbeamten in Padua das Klima der öffentlichen Psychose zu Nutze und ging im April 1979 gegen die außerparlamentarische Linke und insbesondere gegen Negris Organisation vor, um sie zu unterdrücken. „Tausende von Aktivisten wurden aus politischen Gründen verhaftet. Negri wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, nur um als radikales Parlamentsmitglied [1983] entlassen zu werden. Er floh nach Frankreich, wo er die Unterstützung [der Foucaultschen Gefolgschaft] bekam. In Paris setzte er seine akademische Karriere bis 1997 fort und kehrte freiwillig nach Italien zurück, um den Rest seiner Strafe zu verbüßen.“68 Hardt war einer von Negris Studenten im Pariser Exil. Er wechselte von dort an die Fakultät der Universität Duke, die zur Zeit eine der Hochburgen der Postmoderne ist. Nach den offiziellen Akten der italienischen Justiz – Früchte der unermüdlichen Arbeit von Richter Pietro Calogero, Negris unerbittlichem Ankläger – wird Negri noch immer des bewaffneten Aufstandes, der Anstiftung zur Gewalt und der Beteiligung an einem Mord sowie des Mordversuchs an einem Polizeibeamten beschuldigt. Er war auch wegen Brandstiftung, Entführung und dreizehn bewaffneter Raubüberfälle verurteilt worden. Wegen all dieser Fälle hätte er in seiner Heimat noch 17 Jahre abzusitzen gehabt.69 Doch das Leben und der Ruhm dürften in Paris letztendlich angenehmer gewesen sein. In Paris [schrieb] Negri „Marx im Sinne Foucaults“ um. Dazu musste er sich nicht groß verrenken, da er bereits einen ähnlichen Weg eingeschlagen hatte, als er die Arbeiterschaft an Stelle der Macht zu „einer Art absolutem Subjekt erhoben hatte“.70 Somit überschnitt sich, schematisch gesehen, Negris geringer Beitrag zum 66

Alex Callinicos, „Toni Negri in Perspective“, in: Balakrishnan, Debating Empire, S. 126. Vgl. z. B. Giovanni Fasanella/Claudio Sestieri/Giovanni Pellegrino, Segreto di Stato, La verità da Gladio al caso Moro, Turin 2000, S. 125–240. 68 Tilly, „You Can’t Build. …“, S. 83. 69 Pietro Calogero/Carlo Fumian/Michele Sartori, Terrore Rosso. Dall’Autonomia al ­Par­ titoarmato, Bari 2010, S. 139–42. 70 Callinicos, „Toni Negri in Perspective“, S. 127–9. 67

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postmodernen Projekt mit der Vorlage Foucaults: Einerseits machte Negri Arbeiterschaft und Gewalt (zusammen genommen ergeben sie Batailles Heterogenität des Sklaven) zum gemeinsamen Ausdruck von Potenza (Macht) und andererseits setzte er Kapital gleich Staat (oder gleich der „Metamacht“ bei Foucault). Kurz: Er lieferte eine marxistische Kopie von Macht / Wissen. Zur großen Erleichterung der US-Regierung, deren Propagandisten in letzter Zeit unbeholfen semantisch mit der Synthese der liberalen Ausrichtung ihres Landes und seiner ärgerlichen imperialen Härte (Sind wir eine Republik oder ein Empire?71) klarkommen mussten, verkündeten Hardt und Negri: „Der Imperialismus ist vorbei!“ Der verhängnisvolle Übergang des Imperialismus zum Empire scheint um 1968 stattgefunden zu haben, beteuerten die Autoren – zum Zeitpunkt der TetOffensive im Vietnamkrieg.72 Zu diesem Zeitpunkt habe sich die altmodische Art und Weise der Unterwerfung von Nationen und ihren Völkern dramatisch verändert, – lesen wir – und es habe sich eine neue Konfiguration der Machtverhältnisse herausgebildet. Im Gegensatz zum Imperialismus etabliert das Empire kein territoriales Zentrum der Macht, noch beruht es auf von vorherein festgelegten Grenzziehungen und Schranken. Es ist dezentriert und deterritorialisierend, ein Herrschaftsapparat der Schritt für Schritt den globalen Raum in seiner Gesamtheit aufnimmt, ihn seinem offenen und sich weitenden Horizont einverleibt“.73

Klingt das vertraut? Der Imperialismus war nach Ansicht der Autoren kolonial, zentralisierend, bürgerlich, nationalistisch. Zusammengefasst: Imperialismus war modern. Imperialis­ mus war – wir ahnen es – auch europäisch. Modern und europäisch heißt in postmodernen Begriffen so viel wie despotisch und überholt. Hiroshima, Sabra und Shatila, Vietnam, Kambodscha, Verdun, etc. das war gestern und die schmutzige Arbeit des Nationalstaats. Und wenn die Globalisierung das auslöscht, ‚umso besser, wenn wir sie los sind‘!74

Das Empire ist statt dessen postmodern, und „postmodern“  – schlossen die Autoren  – „ist amerikanisch“. Amerikanisch? Der Ton ist zweideutig: Was sollen wir daraus ableiten? Dass der Imperialismus schädlich war, aber dass Amerikas postmodernes Empire, weil es angeblich die Welt vom Imperialismus befreit hat, gesund oder was sei? Nun ja, es sollte amerikanische Patrioten erfreuen zu hören: „Die Vereinigten Staaten bilden nicht das Zentrum eines imperialistischen Projekts.“ Tatsächlich geben sich Hardt und Negri davon überzeugt: 71 Als Beispiel für diese kurze Spekulation siehe Elliot Cohen, „History and Hyperpower“, in: Foreign Affairs, July/August 2004. 72 Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt am Main 2002. 73 Ibd. S. 11. 74 Ibd. S. 60.

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„Keine Nation kann in dem Sinne die Weltführung beanspruchen, wie die moder­ nen europäischen Nationen das taten.“75 Sie sind zuversichtlich, dass wir jetzt alle in einem Regime „außerhalb oder am Ende der Geschichte“ leben.76 Ende der Wissenschaft, Ende der Bildung, Ende der Geschichte … Die Autoren haben uns gerade an einem anderen Markstein des Konservatismus vorbeigetrieben: Wenn etwas erledigt ist, warum sich die Mühe machen, es in Ordnung zu bringen? Und wie verhält es sich mit der Unterdrückung, dem alten Thema der Widerstands­ rhetorik? Unterdrückt das (Amerikanische)  Empire? Sicherlich, antworten die Autoren, „aber diese Tatsache sollte in uns keineswegs eine Nostalgie für die alten Formen der Herrschaft wecken. Der Übergang zum Empire und sein Prozess der Globalisierung, ‚locken sie‘, bieten neue Möglichkeiten für die Kräfte der Befreiung“. „Unsere Aufgabe besteht nicht einfach darin, gegen [die Prozesse der Globalisierung] Widerstand zu leisten, sondern sie auf neue Ziele hin zu organisieren und zu lenken.“ Kurz gesagt, das neue Spiel heißt „ein Gegen-Empire aufbauen“.77 Wieder stoßen wir hier auf die Bataillesche Geschichte, die Foucaults fantastische Positionen mit der Marxschen Dialektik verbindet: Den fließenden und üblen Bösewicht spielt nun die „Macht“, die hier zum ersten Mal als globale Einheit (d. h. „Empire“) in Erscheinung tritt, während die romantischen, unterdrückten Massen – oder besser gesagt, „die vielfältigen Legionen“, der „Multitude“ – um Ausdrücke der Autoren zu verwenden – dabei ertappt werden, wie sie einen Untergrundkampf gegen einen mechanisierten, kapitalistischen Staat führen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die vitale Abhängigkeit dieser gesichtslosen, dezentralisierten und computerisierten Masse von der Energie des Kerns – ver­treten durch den Lebensnerv der Masse (Multitude)  als Ganzer. Diese Energie müssen die Maschinen verdampfen, um zu funktionieren. Die Hauptspannung dieses Dramas dreht sich um den Plan der Rebellen, die Maschinen zu sabotieren, sich der Energie des Kerns wieder selbst zu bemächtigen und sie zur Errichtung des „Gegen-Empires umzuleiten“. Dies ist zusammengefasst der ganze Plan und er ist nicht sonderlich vielversprechend, weil wir dies alles schon früher gesehen haben: Nicht nur bei Bataille und Foucault, natürlich auch dort, doch vor kurzem in dem Film Die Matrix. Wir können jetzt nur noch auf eine anständige Handlung und einige atemberaubende Spezialeffekte hoffen. Lassen Sie uns zusehen! Tatsächlich könnte man davon sprechen, dass die Souveränität des Empires selbst marginal wird, sich an den Rändern realisiert, an denen Grenzen flexibel und die Identitäten hybrid und im Fluss sind. Es ist schwierig zu bestimmen, was für das Empire wichtiger ist, das Zentrum oder die Ränder. […] Man könnte sogar davon sprechen, dass der Prozess selbst virtuell ist und seine Macht auf der Macht des Virtuellen beruht.78

75

Ibd. S. 12. Ibd. S. 13 (Hervorhebung hinzugefügt). 77 Ibd. S. 13. 78 Ibd. S. 53. 76

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Die Urkraft des Kerns, die sich derzeit über die ganze Oberfläche der Welt erstreckt und sich windet wie eine Schlange,79 wurde vom Empire erfasst und eingefangen. Das eingefangene Fluidum zirkuliert entlang der Röhre, Häfen und Kanäle des Empires, im gegebenen, allumfassenden Netz seiner sozialen Inter­aktionen, und wird dort aufbewahrt. Empire ist überall. Die bürokratisch-militä­rischen Behörden sind nur die manipulativen Usurpatoren des Empires, sie besitzen nicht eigentlich das Empire, sondern ernähren sich parasitär von dem Kraftstoff (aus den lebenspendenden Lymphknoten des Volkes, dem Kern), der den ganzen illusorischen Bereich möglich macht. Die beibehaltene Marxsche Uneindeutigkeit soll uns gefesselt halten: Der postmoderne Untergrund aus Fleisch und Blut verwickelt die Behörden in ein Tauziehen, dessen zunehmend gewalttätiger Zug und Gegenzug sollte nach der Hoffnung der Rebellen zu einem solchen Anfall von Brutalität führen, dass eine Flutwelle von revolutionärer Vergeltung die Unterdrücker ein für allemal überwältigen würde. Wann der Tag der Abrechnung kommt, weiß niemand. Diese Frage sollte als ein messianisches Rätsel übergangen werden. In der Zwischenzeit gibt es auf unbestimmte Zeit Kampf, Schlag und Gegenschlag. Wenn das Handeln des Empires dennoch Wirkung zeigt, so hat es dies nicht seiner eigenen Stärke zu verdanken, sondern der Tatsache, dass es auf den Widerstand der Menge gegen die imperiale Macht stößt. Man könnte somit sagen, dass der Widerstand in der Tat das Prius der Macht ist… Wenn die imperiale Regierung interveniert, so sucht sie die befreienden Impulse der Menge zu zerstören und wird im Gegenzug durch den Widerstand vorangetrieben. […] Das Empire selbst ist keine positive Wirklichkeit. In seiner Entstehung vergeht es auch schon wieder. Jedes imperiale Handeln ist ein Echo auf den Widerstand der Menge und bildet nichts anderes als ein neues Hindernis, das es für die Menge zu über­ winden gilt. […] Die imperiale Macht ist das negative Residuum, das Zurückweichen vor dem Handeln der Menge, sie ist ein Parasit, der von der Fähigkeit der Menge lebt, immer neue Energie- und Wertquellen zu schaffen.80

Es ist interessant zu beobachten, wie diese Foucaultsche Beschreibung der Wechselwirkung zwischen der modernen Macht und dem heiligen Kern schließlich zwangsläufig die Dynamik von Batailles Macht / Gelächter fast Wort für Wort wieder hervorruft.81 Wir erkennen die Hand des Meisters, der die Energie des Kerns („Widerstand“) „vor“ den Diskurs („Empire“) setzt. Wir erkennen Batailles metaphorischen Stil in dem Auf und Ab, das in dem Nichts der kopflosen Schaufensterpuppe gipfelt, in der „parasitären“ Beschränkung der Vernunft auf die heterogenen Kräfte, und auch in der Wortwahl, wie „Rückprall“ (rejaillissement). Der Begriff bezieht sich auf den Punkt der Diskontinuität, die der Macht ihre gewalttätigen Manifestationen im gesamten Netz des disziplinierenden Diskurses erlaubt … Postmodern „im besten Sinn“ ist nur ein endloses Absingen von Ba­tailles Schlagworten. Doch bei Hardt und Negri ist das Zusammenspiel von Reaktion und Gegenreaktion noch gekünstelter. Sie unterstellen, dass die Macht sich seine 79

Ibd. S. 71. Ibd. S. 368 f. 81 Georges Bataille, Œuvres completes, Paris 1970, S. 1:440. 80

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Energie aus der Menge nicht nur dadurch einsaugt, dass sie sie reguliert, sondern auch dadurch, dass sie ihr Muster des Widerstands „zuflüstert“.82 Mit anderen Worten: Die Verschwörung verläuft in beide Richtungen: Das Empire wünscht von sich aus, in der Menge ein ständiges Verlangen nach Rebellion zu entfachen. Denn indem sie die Temperatur erhöht, kann sie ihre Maschinerie im rhythmischen Einklang mit den Wogen der Macht, die der Aufruhr des Pöbels entfesselt, stärken. Vom Bösewicht wird bezeichnender Weise gesagt, dass er nur eine Illusion, „ein negativer Rückstand“ sei: Er ist Maya, eine üble Verblendung, ein Alptraum eines Poltergeists, dessen unheimliche Mächte der Einflüsterungen in Schach gehalten werden müssen, bevor sie ganz beseitigt werden. In dem Buch aus dem Jahr 2004 Multitude: Krieg und Demokratie im ­Empire, der Fortsetzung ihres Bestsellers Empire, schrieben Hardt und Negri: „Man braucht ein Netzwerk, um ein Netzwerk zu bekämpfen.“83 Sie glauben also, es sei an der Zeit, das ganze Gerede über regionale Autonomie und kulturelle Einzig­ artigkeit aufzugeben. Im Bewusstsein, „dass wir mit dieser These gegen den Strom unserer Freunde und Genossen in der Linken schwimmen“84, bestehen Hardt und Negri im Einklang mit ihrer Vision von Erlösung darauf, dass wir das Empire ebenso nötig haben wie die Globalisierung, um das Gegen-Empire zu organisieren. Alle jüngsten Revolten weltweit, vom Tiananmen-Platz bis Chiapas, behaupten sie, haben gezeigt, dass sich alle diese Bewegungen in einem Babel unerwiderter Kommunikation aufgelöst haben. Jeder Aufstand war sich selbst genug und einzigartig und daher unfähig andere, die vereinzelt waren und sich in verschiedenen, einander unverständlichen Idiomen artikuliert haben, einzubeziehen. Doch auf der gemeinsamen Autobahn der Globalisierung dürften die verschiedenen Clans lernen, mit einer gemeinsamen Geschwindigkeit zu fahren – in der Geschwindigkeit, die ihre bevorstehende Revolution antreibt. Somit ist in der Zwischenzeit die Globalisierung angesagt. Der Weltmarkt produziert eine echte Politik der Differenz. […] Im Bereich des Marketing wird die enge Beziehung zu postmodernen Theorien vielleicht am deutlichsten, ja, man könnte sogar sagen, dass die kapitalistischen Marketingstrategien schon lange postmodern avant la lettre waren. […] Immer hybridere und ausdifferenziertere Bevölkerungen bieten eine zunehmende Zahl von „Zielmärkten“, die jeweils mit ganz spezifischen Marketingstrategien bedient werden, eine für schwule Latinos zwischen 18 und 22, eine anderen für weibliche Teenager chinesisch-amerikanischer Abstammung usw. Postmodernes Marketing erkennt die Differenz jeder Ware und jedes Bevölkerungsteils. […] Jede Differenz wird damit zur Chance. […] Menschen aller Rassen, beiderlei Geschlechts und wie auch immer gearteter sexueller Ausrichtung sollen nach Möglichkeit ins Unternehmen einbezogen werden; die tägliche Routine am Arbeitsplatz soll durch unerwartete Veränderungen und ein Klima des Spaßes aufgelockert werden.85 82

Hardt/Negri, Empire, S. 72. Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude, Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt am Main 2004, S. 76. 84 Hardt/Negri, Empire, S. 57. 85 Ibd. S. 164–166. 83

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„Ein Klima des Spaßes“ im Unternehmen? Es ist etwas Unwirkliches an dieser Passage. Es ist schwer zu sagen, ob es an ihrer Unaufrichtigkeit, ihrem trügerischen Lob des „postmodernen Marketing“ (vor allem aus der Feder eines ehemaligen, hartgesottenen Marxisten), ihrem widerlichen Konformismus, ihrer sich anbiedernden multikulturellen Affektiertheit oder an all dem zusammengenommen liegt. Uns wird eine „postmoderne Theorie der Revolution“ verkauft.86 Doch wo ist die „Theorie“ und wo die „Revolution“? Vielleicht am absurdesten und unpassendsten von allem ist obiger Lobpreis auf die ausbeutende Vermarktung des „Andersseins“, auf die Aufmerksamkeit und den Respekt, den die westliche Wirtschaft angeblich anderen Kulturen entgegenbringt, wo doch bekannt ist, dass das Hausierengehen mit der „Ethnie“ nur der neueste Verkaufstrick von Unternehmen ist. Unpassend ist es, weil die Praxis offensichtlich nicht die Frucht eines kühnen kosmopolitischen Ausholens ist, sondern das Hineindrücken von fremden Materialien und künstlichen Artikeln, die nach Interessen standardisiert und überteuert wurden, eine Praxis, die nichts über die Länder und ihre Kulturen derer weiß und wissen will, bei denen sie (umsonst) einkauft. Doch wir sind froh bei dem Gedanken, dass wir „im Namen von Pluralität und Multikulturalismus“ kaufen und verkaufen.87 Man sieht keinen indischen Michael Jackson, keine chinesische Madonna, keinen malay­ sischen Arnold Schwarzenegger […], [oder] eine eingeborene Geschäftsfrau aus Brasilien zu einem anerkannten [westlichen] Hersteller von Hautpflegeprodukten [gehen], um ihn über die Geheimnisse der Zubereitung zu [befragen]. […] Die Postmoderne ist nicht nur […] eine günstige Gelegenheit für den Westen, sie ist das Privileg einer bestimmten Gruppe innerhalb der westlichen Gesellschaft. […] Denn trotz ihrer Behauptungen, pluralistisch zu sein, ist die Postmoderne gefräßig monolithisch. […] Ihre Sprache, Logik, analytische Grammatik sind intrinsisch eurozentrisch und anderen gegenüber schamlos kannibalisch.88

Dessen ungeachtet sollte Hardts und Negris gewissenhafte Sorge wegen der Modestile der Homosexuellen letztlich ausreichen, um alle Bedenken, die man wegen ihrer „unbestreitbaren revolutionären Referenzen“ zu hegen begonnen haben könnte, zu zerstreuen. Kampf. Die Leser sollten ihre Geduld gerade dann nicht verlieren, wenn sie sich dem Abschnitt über das Rebellieren der Menge nähern. Hören wir hin: „Jede Auseinandersetzung muss das Herz des Empire treffen.“ „Das bringt allerdings keiner geografischen Region eine privilegierte Stellung, so als ob einzig soziale Be­wegungen in Washington, Genf und Tokio den Angriff auf das Herz des Empire führen könnten.“ „Die einzige den Kämpfen offen stehende Strategie ist die einer

86

Balakrishnan, Debating Empire, S. 1. Ziauddin Sardar, Postmodernism and the Other, The New Imperialism of Western Culture, London 1998, S. 125. 88 Ibd. S. 22, 124, 20. 87

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konstituierenden Gegenmacht, die aus dem Inneren des Empire kommt.“89 So sei es. Die Ministerien und Banken der G-8 sind als irrelevant zu betrachten. Wieder spielt das Zentrum keine Rolle. Die These ist also eine müde Umfüllung von Foucaults Wein. Um welche Art Gegenmacht geht es? Gegenmacht, antwortet Hardt und Negri, setzt sich als lose Ansammlung aus unterschiedlichen Individuen zusammen, die Hierarchie, Transzendenz und Autorität ablehnen. Antihumanismus […] als Zurückweisung jeglicher Transzendenz sollte man nicht mit einer Negation der lebendigen Kraft (vis viva)  verwechseln, der schöpferischen Lebenskraft, welche die revolutionäre Strömung der modernen Tradition beseelt. […] Sobald wir unsere posthumanen Körper- und Geister erkennen, sobald wir uns als die Affen oder Cyborgs, die wir sind, betrachten, müssen wir die vis viva erkunden, die schöpferischen Kräfte, die uns ebenso beseelen wie die gesamte Natur und die unsere Möglichkeiten verwirklichen.90

„Vis viva“ ist nur ein latinisierter Euphemismus für Batailles „Energie des Kerns“. Was als noch halb neu durchgehen könnte, erscheint stattdessen nur als das Blinken auf dem Bildschirm des Roboters, und selbst der ist wieder nur eine allzu offensichtliche Weiterführung von Batailles Acéphale, während der zusätzliche Nervenkitzel des „posthumanen“ Affen, obwohl charmant, überhaupt nicht schockieren kann. Was sonst noch? … Natürlich! Warum die Abscheu vor dem eurozentrischen Weißen Mann: „Wenn die Moderne der Machtbereich des weißen europäischen Mannes ist“, wiederholen sich unsere Autoren, „dann wird genau symmetrisch dazu die Postmoderne das Feld der Befreiung nichtweißer, nichtmännlicher Nicht-Europäer sein …, der Werte und der Stimmen der Heimatlosen, der an den Rand Gedrängten, der Ausgebeuteten und der Unterdrückten“.91 Was genau bedeutet „nichtmännlich“? Und würde diese Liste nicht Negri selbst ausschließen, einen privilegierten, weißen, europäischen Mann? An dieser Stelle, etwa zwischen dem ersten und dem zweiten Akt des Empire, treffen wir endlich auf das verklärte Symbol der unterdrückten Menge, auf den Sohn des Kerns und auf die Neuauflage von Foucaults Wahnsinnigen: Es ist „der Arme“, eine Figur, die sich Hardt und Negri nach dem Vorbild des Heiligen Franziskus zurecht gemacht hat:92 Der Arme ist Gott auf Erden. Heute gibt es nicht einmal mehr die Illusion eines transzendenten Gottes. Der Arme hat diese Vorstellung ausgelöscht und deren Macht an sich gerissen. […] Doch wer ist dieses Subjekt, das „transversal“ produziert, […] der Sprache einen schöpferischen Sinn verleiht – wer, wenn nicht die Armen […], die verarmt und mächtig, ja immer mächtiger werden? […] Der Arme selbst ist Macht. […] Selbst der prostituierte Körper, der notleidende Mensch, der Hunger der Menge – alle Formen von Armen sind produktiv geworden. […] Die Entdeckung der Postmoderne bestand darin, dass sie den Armen wieder in die Mitte des politischen und produktiven Feldes rückte.93 89

Hardt/Negri, Empire, S. 72. Ibd. S. 106. 91 Ibd. S. 154. 92 Ibd. S. 420. 93 Ibd. S. 157 f. 90

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Die „Armen“ als Kollektiv von „Singularitäten“ halten die Autoren für die „mächtigen“, „außerordentlich reichen und produktiven“ Agenten der „absoluten Demokratie“. Besessen von einer „Schwarm Intelligenz“, „ohne zentrale Kontrolle“ fächern sie sich in Phalangen auf, „überwinden Schranken und schaffen unterirdische Gänge, die unter Mauern hindurchführen“.94 „Eigentumlose“, „voller Wissen“, sind die Hefe in den „Befreiungspotentialen“ der Globalisierung. Ihre konvulsive Bewegung quer zu den Grenzen des Empire in einem ewig unentschiedenen Wettkampf ist das Symbol der Geschichte. Diese „entwickelt sich“, nach Hardt und Negri, „widersprüchlich und aleatorisch, in ihr walten ständig Möglichkeiten und Zufall“.95 Wenn die Heimatlosen die Macht übernehmen, werden sie „Wahrheit“ neu definieren, die durchweg nur noch als ein Zubehör „im Zeitalter des Empire“ betrachtet wird. Ob dies bedeutet, dass die Armen nun ihrerseits lügen und damit, wie in Foucaults Tribunalen mit einer „prejudiziellen Justiz“ (prejudicial justice), unterdrücken sollen, ist nicht klar. „Differenz, Hybrid und Mobilität an sich“ glauben Hardt und Negri, „sind nicht befreiend, aber das gilt auch für Wahrheit, Reinheit und Stillstand.“ „Die Wahrheit allein“, sagen sie, „macht uns nicht frei, aber die Produktion von Wahrheit zu kontrollieren wird befreiend wirken. […]. Die wahren Wahrheits-Kommissionen des Empires werden verfassungsgebende Versammlungen der Menge sein.“96 In den Protestchor der südafrikanischen Schwarzen einstimmend, singen und sagen Hardt und Negri: „We are the poors“.97 Sie sind das natürlich. Auch Satan und Dracula bekommen in diesem Epos einen kurzen Auftritt. „Mein Name ist Legion, denn wir sind viele“, hat der Teufel einst in der groß­artigen Erzählung der Evangelien zu Christus gesagt.98 Ebenso formen Hardt und Negri die „Armen“ zu den „Legionen der Multitude“, die sich „aus unzähligen Elementen zusammensetzen, die von einander verschieden bleiben, und doch mit einander kommunizieren, zusammenarbeiten und gemeinsam vorgehen“. „Nun, das ist“, rufen die Autoren aus, „wirklich dämonisch“. Die Multitude ist „ein Fleisch, das kein Körper ist“, sie ist ein lüsterner Vampir, der nach immer mehr Fleisch dürstet.99 Wir sind alle Ungeheuer, Schulabbrecher, sexuelle Abweichler, Freaks, Überlebende pathologischer Familien und so weiter.100

Ohne den akademischen Schnickschnack, die linken Sprüche und die kitschigen Absicherungen, mit denen Hardt und Negri ihre übertriebene, postmoderne Pferdeoper aufzubauschen versuchen, ist ihre Darstellung der besitzlosen Klassen 94

Hardt/Negri, Multitude, S. 149, 152, 109, 95, 158. Ibd. S. 121 f.,153 f., 112. 96 Hardt/Negri, Empire, S. 168 f. 97 Hardt/Negri, Multitude, S. 156 (auch dort auf Englisch). 98 Ibd. S. 159; der Beleg im Neuen Testament bei Matthäus 8, 28–34; Markus 5, 1–20; und Lukas 8, 26–39. 99 Hardt/Negri, Multitude, S. 216 f. 100 Ibd. S. 218. 95

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des Empire eine geschmacklose Mischung aus konservativem Populismus und liberaler Heuchelei. Sie ist konservativ und falsch, weil dem entwaffnend unaufrichtigen Schlachtgesang der „Heimatlosen“ die stillschweigende Billigung eines Gesellschaftsmodells zugrunde liegt, das solche obdachlosen, sich herumtreibenden Geister wie selbstverständlich züchtet. In der Tat muss man eine beachtliche Dosis an Menschenverachtung aufbringen, um einen solch hohlen Lobgesang auf die Armen anzustimmen und ihre gebrochene Rede als eine Art gelungenen Diskurs auszugeben. Nur eine angewöhnte Fähigkeit zum Verächtlichmachen kann einen dazu bringen, die Verkümmerten und Machtlosen als „wohlhabend, kompetent und mächtig“ zu charakterisieren. Was kann einen Privilegierten veranlassen, den „Armen“ so übermäßig zu schmeicheln, wenn nicht der Wunsch, zu sehen, dass sie genau an der Stelle bleiben, an der sie sind? Schließlich eine Agenda. Gibt es eine? Nein! Erwarte niemals von Foucaultianern konkrete Ratschläge. Das schrieben Hardt und Negri selbst: Sie seien nur da, um uns „begriffliche Grundlagen“ anzubieten;101 um uns beim Denken zu helfen und nicht, um uns klare und schnelle Anweisungen zu geben. Hardt und Negri kennen keine Abhilfe-Maßnahmen. Das verbergen sie auch nicht. Zweimal, in beiden Büchern (Empire und Multitude) geben sie zu, dass sie nicht wissen, wie das Gegen-Empire konkret zustande kommen kann.102 Sie erkannten jedoch, dass es ein schlechtes Geschäft sei, dem geneigten Leser, der sich durch beide Bände (fast 800 Seiten] eines betäubenden Wortschwalls hindurchgearbeitet hat, jeden Vorschlag zu verweigern. So wagen sie ein paar Empfehlungen. – „Wir müssen diese Herausforderung annehmen und lernen, global zu denken und zu handeln.“103 – Wir müssen danach streben, „unseren posthumanen Körper zu verändern, zu mutieren und neu zu schaffen.“ Das heißt: Zieh dich schlampig an, lasst euch tätowieren und Piercings stechen,104 lasst uns unseren Körper physisch umgewöhnen, damit „er unfähig ist, sich an familiäres Leben anzupassen, an Fabrikdisziplin, an die Regulierungen des traditionellen Sexuallebens usw.“105 – Kämpft den weltweiten Kampf mit der Gewissheit, dass wir „die Herren dieser Welt sind, weil unser Begehren und unsere Arbeit sie fortwährend neu erschaffen.“106 – Wir sollten Migranten Aufenthalts- und Arbeits-Papiere ausstellen, allen „die vollen staatsbürgerlichen Rechte gewähren“, die einen sozialen Lohn für alle Bürger garantieren und Ausbeutung ausschließen.107 101

Ibd. S. 361. Hardt/Negri, Empire, S. 403 f., und, Multitude, S. 12 f., 361. 103 Hardt/Negri, Empire, S. 218 f. 104 Ibd. S. 227. 105 Ibd. S. 228. 106 Ibd. S. 394. 107 Ibd. S. 406, 416 f. 102

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– Richtet ein „globales Parlament“ ein!108 – Führt eine Steuer auf internationale Finanztransaktionen (die so genannte Tobin-Steuer) ein!109 – Lest die Nachrichten von Indymedia und fördert „open source“ Austausch von geistigem Eigentum (was auf eine Lockerung der Urheberrechte und zu einer Verbreitung innovativer Techniken im Web hinausliefe)!110 – Wir müssen „neue Waffen erfinden“. (1) „Einer der kreativen Versuche […] sind beispielsweise die von Queer Nation (einer 1990 gegründeten AIDS-Gruppe, HB) durch­ geführten ‚Kiss-Ins‘, bei denen Männer Männer und Frauen Frauen an öffentlichen Orten küssen, um homophobe Menschen zu schockieren […] (2) Bringen wir „Millionen von Menschen einfach zu einer Demonstration auf die Straße“.111

Und damit hat es sich schon. Es hatte mit aufgeblasenen, realistischen Erwartungen begonnen. Es ging in ein paar liberale Reizworte über, um sich dann in ein paar aufgekochte, altbekannte Zukunftsvisionen zu verlieren und sich vor der Implosion in den Cyberpunk einzuklinken. Dazu wechselten sie in jenen unseligen Erzählton über, in die Narretei des melodramatischen, jugendlichen Außenseitertums (wie: „Wir sind alle Schulabbrecher, Freaks …“). Es läuft insgesamt auf ein trauriges Eingeständnis der Impotenz hinaus. Die nachvollziehbaren Vorschläge (von der Tobin-Steuer bis zum offenen Quellcode) in diesem auffordernden Abschnitt stammen ursprünglich offensichtlich nicht aus der Analyse von Empire. Es handelt sich um begrenzte Reformvorschläge, die seit einiger Zeit auf dem Tisch liegen. Das Übrige ist entweder banal („Ausbeutung ausschließen“), inhaltslos („global denken“) oder geradezu albern (Piercings und gleichgeschlechtliche „Kiss-ins“). Die Beschreibung des wirtschaftlichen Wandels durch Hardt & Negri hat eine verblüffende Ähnlichkeit zu der Art von Analyse, die The Economist und das Wall Street Journal routinemäßig anbieten. […] [Sie] lässt sich kaum von Standardausführungen zur Globalisierung unterscheiden.112

Der „Metapower“ gefiel Empire sehr. Harvard University Press hat Empire in einer gut ausgestatteten Ausgabe heraus­gebracht, und das Sprachrohr des anglo-amerikanischen „Imperialismus“, der Council of Foreign Relations (CFR), hat das Buch – wie auf der Rückseite des Buchumschlags zu lesen  – wohlwollend besprochen. Erfreut kommentierte der 108

Hardt/Negri, Multitude, S. 324. Ibd. S. 332. 110 Ibd. S. 333, 337. 111 Ibd. S. 382. 112 Timothy Brennan, „Italian Ideology“, in: Balakrishnan, Debating Empire, S.  101, und­ Peter Fitzpatrick, „The Immanence of Empire“, in: Empire’s New Clothes, Reading Hardt and Negri, ed. Paul A. Passavant, Jodi Dean, New York, London 2004, S. 39. 109

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CFR in seinem Vierteljahresmagazin, dem weltbekannten Foreign Affairs: „Die Autoren argumentieren, die Globalisierung ließe die Souveränität nicht verkommen, sondern wandele sie in ein System diffuser nationaler und supranationaler Institutionen um.“ Die New York Times stellt andererseits fest, Empire könnte zur „nächsten großen Leitidee“ werden. Das Establishment zollt unseren postmodernen, neo-marxistischen Rebellen ein dickes Lob. Was war das seit Foucault auch für ein Geschenk an die Oligarchen: Man solle sich ernsthaft damit abfinden, dass in der Politik das Zentrum keine Rolle spiele und dass gleichgeschlechtliche „Kiss-ins“ der Weg zur Veränderung der brutalen Handlungsweise unserer Welt sei … Dissidenten reagierten auf Empire eher unspezifisch. Einerseits wurde das Buch zu der theoretischen Referenz der postmodernen Linken, vor allem in der Zeit nach 9/11 – um das zu vereinnahmen, was in Multitude nur flüchtig skizziert worden war. Auf der anderen Seite hat der dahinschwindende, antioligarchische Flügel des Marxismus – der noch nicht zur Postmoderne übergelaufen ist – das Buch in klaren, doch insgesamt zurückhaltenden Worten kritisiert. Die Kritiker beklagten die „eigenwillige“ Abstraktheit von Empire und das Fehlen „konkreter Vorstellungen“,113 die Haltlosigkeit der Begriffe wie „das virtuelle Proletariat“114 und dass es „ein Hindernis für die Entwicklung einer erfolgreichen Bewegung gegen […] den globalen Kapitalismus“ darstelle.115 Insgesamt hielt sich der Austausch in Grenzen und verlief höflich – was heißt, dass die Postmoderne ihre Hege­monie über diese mit Schutt überladene Wüstenei, die man „die Linke“ nennt, ausgebaut hat. Auf Hardt und Negris Kommentar zu 9/11 und zum Krieg gegen den Terror wird in Kapitel 9 im Zusammenhang mit dem allgemeinen Thema der Reaktion der Linken auf das neue Aufflammen von Kriegen zu Beginn des dritten Jahrtausends eingegangen. Postmodernismus ist eine Art Doppelzüngigkeit, die aus der Asche der sechziger Jahre hervorgegangen und maßgeblich durch die Wechselfälle dieser Epoche geprägt worden ist. Sein deutlichstes Merkmal ist, seit Foucault in den Vereinigten Staaten eingeführt worden war, sein offensichtlich künstliches Gehabe und seine Verlogenheit. Man hatte intellektuelle Söldner mit einem perfiden Mundwerk gesucht und sie nach einer angemessenen Auswahl als postmoderne Koryphäen auf das Podest gehoben. Das postmodere Gerede geschieht in der Sprache der Macht, und als solche wurde es entworfen, um eine Vielzahl peinlicher Wahrheiten zu verschleiern. Es war entwickelt worden, um den Status quo zu erhalten (z. B. die Anpreisungen der Globalisierung in Empire) und um Kräfte, die sich dagegen für das Gute, wie Mit 113

Charles Tilly, „A Nebulous Empire“, in: Balakrishnan, Debating Empire, S. 27. Panitch, Gindin, „Gems and Baubles in Empire“, in: Balakrishnan, Debating Empire, S. 56. 115 Callinicos, „Toni Negri in Perspective“, in: Balakrishnan, Debating Empire, S. 140. 114

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gefühl einsetzen, zu diskreditieren. Die französischen Neo-Gnostiker haben seit Bataille keinen Augenblick aufgehört, eben diese Gegner zu schikanieren und zu schmähen (zumindest auf dem Papier). Für die Wartung und Instandhaltung der postmodernen Doppeldeutigkeit waren notgedrungen bezahlte Angestellte des öffentlichen Diskurses zuständig – Akademiker, Publizisten und Wortverdreher auch auf Ministerebene. Die Wahrheiten, welche diese Art der Doppelzüngigkeit erwartungsgemäß verdecken sollte, waren vor allem die eigentliche Mechanik und Dynamik der Macht (d. h., die soziale Kontrolle, die Außenpolitik und die Wohlstands-Verteilung) auf der einen Seite, und das Scheitern von Amerikas Integration der Rassen auf der anderen (die Zunahme der Cultural Studies). Man sagt, der Multikulturalismus habe „ein klaffendes intellektuelles Loch“ im amerikanischen Panorama geschlossen. „Einer utopischen Hoffnung beraubt“ und ohne Ideen, wie die Zukunft zu gestalten sei, haben sich desillusionierte „Liberale und Linke“ zurückgezogen, um „im Namen des Fortschritts die Unterschiedlichkeiten zu feiern“.116 Kein Postmoderner hat je eine herausfordernde Kritik am herrschenden ökonomischen System geübt, das „alternativlos dasteht“. „Keine abweichende politische oder wirtschaftliche Vision wurde von der kulturellen Unterschiedlichkeit angeregt. Von den militantesten Afrozentralisten bis zu den eifrigsten Feministinnen teilen alle Lager sehr ähnliche Vorstellungen über Arbeit, Gleichheit und Erfolg.“117 Doch marschieren sie alle getrennt, jedes klammerte sich an seinen eigenen Rettungsring der Gender- / Rassen-Spezifität und bewegt sich nach jedem Ton, den eine sich auf Unterschiedlichkeiten verstehende Regierung pfeift. „Das Geheimnis der kulturellen Unterschiedlichkeit ist ihre politische und wirtschaftliche Einheitlichkeit.“ Somit dreht sich in den Korridoren der Macht und in den Hochschulen der Kampf zwischen den unvereinbar „Unterschiedlichen“ nur noch um „ein größeres Stück vom Gleichen“.118 Im Allgemeinen steht Multikulturalismus, was sowohl seine Slogans als auch seine intellektuelle Praxis betrifft, für Integration und Unterordnung in den herrschenden disziplinierenden Bau des akademischen Wissens.119

Schon als sich die neue postmoderne Avantgarde an den fest angestellten Knotenpunkten des akademischen Netzwerks festgesetzt hatte, zeigte sich, dass dieses Glaubenssystem seine „theoretischen“ Reserven erschöpft hatte. Über ein Jahrzehnt plagen sich Amerikas Foucaultianer bereits mit dem „problematischen“ Erbe von Macht / Wissen herum. Viele von ihnen kamen zur Erkenntnis, dass die Foucaultschen Wortspiele keine Aussicht auf Befreiung boten (ein Widerstand an den Rändern macht den Herrschenden kein Problem), und sie erkannten, dass, auch wenn die multikulturelle Bewegung das Gesicht der Universität verändert 116

Jacoby, End of Utopia, S. 32 f. Ibd. S. 39 f. 118 Ibd. S. 40, 62. 119 Stanley Aronowitz, The Knowledge Factory: Dismantling the Corporate University and Creating True Higher Learning, Boston 2000, S. 132. 117

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hat, die Barrieren, welche die Weißen von den Vertretern anderer Gruppen „Disqualifizierter“ und diese Gruppen untereinander trennen, nicht weniger abstoßend als zuvor in Erscheinung treten. Bald begannen sich einige über dieses Fehlen von „Solidarität“ und „Gemeinschaft“ zu ärgern, und dachten, sie sollten stattdessen „etwas anderes ausfindig machen“.120 Sie machten sich daran die Einheit zurückzuerobern, wenn auch niemals außerhalb der „Streitfelder“ der Unterschiedlichkeit (d. h. der Multitude). Das ist natürlich absurd. Jedenfalls zeigte das System keine Toleranz für solche Hinterhältigkeit um fünf vor Zwölf. Die spöttischen Knappen der postmodernen Linken wurden hauptsächlich in der Arena des öffentlichen Diskurses gebraucht, um ihre Gegenspieler auf der Rechten in absichtlich endlose und unaufrichtige Wettkämpfe zwischen „Konservatismus“ und „Fortschrittlichkeit“ einzubinden. Seitdem wurde der textliche „Niederschlag“ dieser seltsamen, virtuellen Turniere auf dem Markt als Nachweis der demokratischen Reife Amerikas verkauft.

120

Haber, Beyond Postmodern Politics, S. 43, 97, 102, 107, 111, 125.

Kapitel 8

Die Grabräuber der postmodernen Rechten: Jüngers Anarch, die Neocons und die Scheinhermeneutik des Leo Strauss „In der Durchsetzung jener Mächte versetzt der werdende Staat das Volk in seine wirkliche Wahrheit zurück. Aus dieser Wahrheit erhebt sich das echte Wissenkönnen, Wissen­müssen und Wissenwollen. Wissen aber heißt: Des Wesens der Dinge in Klarheit mächtig und kraft dieser Macht zur Tat entschlossen sein.(S.201)… Ich verpflichte Euch auf den Willen und das Werk unserers Führers Adolf Hitler… Heil Hitler“. Martin Heidegger, Der Deutsche Student als Arbeiter, Rede bei der feierlichen Immatrikulation 25. November 19331

In den letzten zehn Jahren und vor allem seit Beginn der Präsidentschaft von George Bush Jr. (Januar 2001) wurde viel über das Phänomen des „Neokonserva­ tismus“ geredet. Seine Kritiker haben diese Unterströmung in der Republikanischen Partei als eine Art revolutionären, skrupellosen Populismus dargestellt. Sie unterstellen, die US-Regierung sei von einer ideologisch geschlossenen Phalanx größenwahnsinniger Politiker übernommen worden, welche die pragmatische Tradition Amerikas an sich gerissen und die Situation zum Vorteil bestimmter Interessen (Öl-, Rüstungsindustrie, etc.), insbesondere durch Krieg und Angst manipuliert habe. Kurz, die Neocons, wie man sie nun bezeichnet, galten als die verantwortlichen Urheber einer diskreten Umorientierung, eines „sauberen Bruchs“ („a clean break“, nach dem Titel eines ihrer Strategiepapiere) in der Außen-und Innenpolitik der Vereinigten Staaten. Angeblich sind das Charakteristische an diesem Politikwechsel die Übererwartungen der heimischen Plutokratie (Steuervergünstigungen und eine Vielzahl an Zugeständnissen an die Allerreichsten in der Geschäftswelt) und die unbeirrte Forcierung von Krieg in Übersee. Dabei hat man sich weitgehend auf die wütende Ergebenheit der christlichen Evangelikalen im Lande gestützt. Diese angeblich feindliche Übernahme seitens der Neocons begleitete natürlich ein ohrenbetäubendes Getöse an Verlautbarungen, Wehklagen im Fernsehen und Fluten an sozialen, politischen und geopolitischen „Analysen“. Die meisten Neocons waren Personen, die auf die eine oder andere Weise mit der rätselhaften Figur des Leo Strauss verbunden sind.

1 Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe I. Abteilung, Veröffentlichte Schriften1910–1976 Bd. 16, Frankfurt a. M. 2000.

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1899 in Deutschland geboren, wurde Strauss amerikanischer Staatsbürger und lehrte in den fünfziger und sechziger Jahren als Professor für politische Theorie an der Universität von Chicago. Er starb 1973 und hinterließ ein wenig bekanntes Vermächtnis und eine eigenartige Methode der Exegese antiker Klassiker. Seine Interpretationen wurden in letzter Zeit von mehreren Personen aus dem liberalen Lager als die verschlüsselte Schriften behandelt, welche die spätere politische Subversion der Neocons inspiriert hätten.2 Völlig gerechtfertigt wird die tiefgreifende Empörung der Kritiker angesichts des Chaos im Irak und der Verlogenheit, mit der die Bush-Regierung in den USA die Angelegenheit bisher gehandhabt hat. Doch die Schuld an solchen Katastrophen Leo Strauss anzuhängen, vernebelt das Problem etwas. Die „Regierungszeit“ der Neocons stellt überhaupt keinen Bruch mit den imperialen Bestrebungen der Vereinigten Staaten dar. Die heutigen drohenden Tiraden der Sprecher des Pen­ tagons und der Ministerien sind einfach auf die spezifische Ausrichtung der geopolitischen Agenda der Regierung abgestimmt. Ihre Politik hat sich, seit die Briten sie Anfang der 1900er Jahre festgelegt haben, nicht verändert. Das heißt: die Neocons sind nur eine propagandistische Frontorganisation, die im Namen eines Segments des Establishments agitiert. Diese Gruppe vermeidet im Spiel um die Macht vorübergehend das Zusammengehen mit den anderen Welt-Akteuren und treibt unerbittlich den zwingenden Einsatz von US-Truppen in allen Gebieten von strategischer Bedeutung voran. Es handelt sich um Handlanger im Interesse von Mächten, die in Eile sind. Einfach gesagt, die Neocons sind eine Kriegspartei, von der man will, dass sie unter bestimmten Bedingungen in Erscheinung tritt. Und natürlich schwillt in Kriegszeiten der Militärhaushalt an und lässt Fanatiker toben. Dies ist eher die Regel als eine Ausnahme. Die Neokonservativen sind Teil des ideologischen Apparats des militärisch / industriellen Komplexes, und ganz sicher ein sehr wichtiger Teil. Sie sind in vielerlei Hinsicht die wichtigsten Propagandisten. Dies ist eine Rolle, die sie ziemlich spät übernommen haben. […] Wir sollten ihre Bedeutung nicht übertreiben. Grundsätzlich sind die Neocons Spinner.3

Wenn man die Neocons übermäßig dämonisiert, könnte man das größere Bild aus den Augen verlieren. Wir werden später Gelegenheit haben, noch ein Mal darauf hinweisen, dass die „liberale“ Regierung unter dem Vorgänger von Bush II, Bill Clinton, bis zum Ende ihrer ersten Amtszeit (1996) bereits eine Million tote Iraker auf dem Gewissen hatte, die Hälfte davon Kinder. Im Vergleich dazu konnte Bush Jr. nach der ersten Hälfte der zweiten Amtszeit nur einen Bruchteil dieser Anzahl an Todesopfer vorweisen. Und doch lag, seit Bush Jr. an die Macht gekommen war und natürlich vor allem nach dem 11.9.2001, trotz der offensichtlichen Kontinuität der Geopolitik der 2

Vgl. die im Jahr 2004 von der BBC ausgestrahlte Dokumentation von Adam Curtis mit dem Titel: The Power of Nightmares. 3 Stephen Pellettière, Iraq and the International Oil System. Why America Wanted a War in the Gulf, Washington, D. C. 2004, S. 237 f.

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Regierungen der unterschiedlichen Parteien, etwas anderes in der Luft. Wenn es davor schon schlecht zuging, so scheinen viele zu meinen, dass es zur Zeit noch schlechter bestellt ist. Wenn Kriegsbegeisterung mit außergewöhnlicher Vehemenz geäußert wird und raffinierte Kriegsinszenierungen fein darauf abgestimmt werden, in den Massen Ängste höchst irrationaler Art auszulösen, zielt das mit Sicherheit auf die Durchsetzung eines Klimas der offenen Unterdrückung, Doppelzüngigkeit, des fehlerhaften Denkens und der Intoleranz. Nun zu Leo Strauss. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass seit Beginn des Krieges gegen den Terrorismus die überwiegende Mehrheit der Schriftsteller mit dem Auftrag, den kriegstreibenden Diskurs der Regierung publik zu machen, mehr oder weniger offen und kompetent dem Namen Leo Strauss Reverenz erwiesen hat. Noch einmal: Das muss nicht bedeuten, dass seine Schriften jemanden in der Regierung auf üble Ideen gebracht hätten. Ebenso haben weder Bataille noch Foucault die verbitterte Politik des Multikulti inspiriert. Es ist vielmehr so, dass man immer dann, wenn sich die Zeiten auf besondere Weise zum Schlechteren kehren, die unmissverständliche Annahme und Entstehung einer Sprechweise und Denkstruktur beobachtet, die in gewisser aufwendiger Form die Verehrung des Nichts und die eherne Einwilligung in Gewalt vorwegnimmt. Genau deshalb wurden die Werke der französischen Antihumanisten im­ portiert und entsprechend modifiziert, weil sie einer bestimmten politischen Notlage entsprachen. Die Sorte von Propaganda, welche die Bush-Regierung auf Lager hatte und die ihren kriegstreiberischen Bedürfnissen entsprach, war zufällig die Strauss’sche Tradition. Es dürfte sich um mehr als um einen Plan für den Notfall gehandelt haben. Die besondere Affinität ist das Interessante und Aufschlussreiche daran. Durch das Studium dessen, was Strauss vertreten hatte, können wir vermutlich etwas über die Natur und die tieferen Absichten der Führung erfahren, die seine Rede zügig und flüssig aufgegriffen hat. Das Gleiche gilt für Bataille und seine postmodernen Epigonen. Und so scheint es, dass im Bereich des öffentlichen Diskurses, dem Tandem Bataille / Foucault auf der Linken auf der Rechten die politische Philosophie von Leo Strauss entgegengesetzt wurde. Heute bleibt tatsächlich keine große Auswahl übrig. Die alten Formationen haben sich aufgelöst. Die Linken sind eilends in das Foucaultsche Lager übergelaufen, während die Patrioten dazu gedrängt werden, es mit Leo Strauss zu halten, oder mit dem, was seine neokonservativen Prediger als Straussens Meinung ausgeben. Denn niemand liest Strauss, weil er tatsächlich unleserlich ist. Diese Tatsache beeinträchtigt nicht im Geringsten unser Argument. Denn auch Bataille ist, obwohl essentiell, noch immer ein Unbekannter in der englischsprechenden Welt, und Foucault selbst wird allmählich austauschbar. Derzeit unterrichten eine zunehmende Anzahl geprüfter Ausbilder und Postgraduierte im Sinne und in der Tonart Foucaults nach den postmodernen / multikulturellen Lehrplänen für Graduierte, ohne jemals etwas von ihm im Original gelesen oder gehört zu haben. Die Indoktrination erfolgt über eine Reihe von verdünnten, umgangs-

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sprachlichen Aufgüssen. Und das ist sogar noch bemerkenswerter im Fall Strauss und der Literatur der Rechten, wie wir in diesem Kapitel zeigen werden. Doch von übergeordneter Bedeutung ist in dieser ganzen Angelegenheit, dass alle diese verwirrenden Denker von Bataille bis Strauss, deren Werke jeweils vom Establishment für Schmähungen von Seiten der Linken und der Rechten auf­ bereitet wurden, eine Ansicht über die Welt und die Schöpfung teilen, die buchstäblich identisch ist. Es gehört zum Verdienst der bahnbrechenden Monographien Professor Drurys, diese fundamentale Verbindung zwischen den Postmodernen der Linken und denen der Rechten an Hand des russischen Hegelianers Alexandre Kojève herausgestellt zu haben.4 Kojève ist dafür der entscheidende Beweis, wie wir noch sehen werden. Er unterrichtete in Paris eine Reihe Intellektueller, darunter auch ­Bataille, und blieb zeitlebens ein sehr enger Freund und geistigen Begleiter von Leo Strauss. Wie der ehemalige Nationalsozialist, Martin Heidegger, den er sehr bewunderte, ist Kojève ständig eine Quelle für die Postmodernen, sowohl der Linken wie auch der Rechten. Und so schließt sich der Kreis. Dieser Befund allein ist Beweis genug, dass Dissens auf der akademischen und politischen Ebene Amerikas systematisch durch die aktive Förderung zweier scheinbar gegensätzlicher Denkweisen ausgemerzt wurde  – die eine davon gab sich als luziferische Aufmüpfigkeit, die andere als technologisches Zelotentum. Es handelt sich um gegensätzliche Ansätze im Verhalten, die eigentlich aus einer gemeinsamen Quelle des Unglaubens und der kriegstreiberischen Ungeduld hervorgegangen sind und die auf seltsame Weise zusammenwirken, um in uns Regungen des Mitgefühls für andere und der Fried­ fertigkeit verstummen zu lassen, während sie den Rohling in uns fördern und seinen Zynismus und seinen animalischen Egoismus verstärken. Wendet man den Blick den Besonderheiten der amerikanischen, rechtslastigen postmodernen Literatur zu, dann lässt sich bemerken, dass sie überhaupt kein Spiegelbild zu dem der Linken bietet. Im Vergleich zu letzterer zeigt sich, dass sie unter dem sehr späten Start gelitten hat: Sie ist dünn, dürftig, und von außer­ordentlich schlechter Qualität. Die neokonservative Literaturproduktion als Ganze hat kein einziges kreatives Bild oder Konzept aufzuweisen, nicht mal ein schlechtes, das über abgedroschene Parallelen zum Zweiten Weltkrieg, zu Yankee Bombast, zur puritanischen Selbstgerechtigkeit und zum Lehnstuhl-Machismo hinausreichen würde. Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen ist das Beste, was die Neocons zu bieten haben. Ohne die Wut nach dem 11. September würde eine solche Propaganda sofort wie Staub verwehen. Strauss ist ein dürftiges Gegenstück zu Bataille, und es zeigt sich auf Seiten der Rechten nichts, was dem Prophetentum Foucaults entsprechen könnte. Gegenüber der muskulösen Geschmeidigkeit der postmodernen Linken hängt die Rhe 4

Shadia B. Drury, Alexandre Kojève. The Roots of Postmodern Politics, New York 1994.

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torik der Neocons auf sich gestellt von den phantasievollen Szenarien der Nachrichtensendungen ab und zeigt dadurch, dass sie von sich aus keine erzählerische Stärke besitzt. Noch bis in diese Tage gelang es dem Unternehmen Neocon, eine wiedererkennbare Art von Waren zu vermarkten, die für alle ihre Absichten und Zwecke die offizielle Unterstützung der mächtigsten Exekutive auf der Erde genießt; – und mit dieser Realität muss man rechnen. In diesem Kapitel möchten wir die gesammelte Erfahrung der postmodernen Rechten überdenken, indem wir den „steinernen Gast“ dieser Bewegung zu Tisch bitten. Mit anderen Worten, wir möchten die Diskussion über die üblichen neokonservativen Verdachtspersonen durch den Rückblick auf die Persönlichkeit vertiefen, die aus unserer Sicht der authentischste Bannerträger des mitleidlosen Elitismus ist: Ernst Jünger. Bevor wir Jünger in den Kader der Postmoderne einreihen, müssen wir mehrere Dinge zurechtrücken. Erstens muss einem der phänomenalsten literarischen Talente des Westens, das in der englischsprachigen Welt nahezu unbekannt geblieben ist, die gebührende Anerkennung und Aufmerksamkeit zuteilwerden. Zweitens liefert seine Darbietung das angemessene Gegenbild zu Batailles Sophistereien, an das die Produktion eines Leo Strauss nicht heranreicht. Drittens wird Jüngers Zeugnis, das weit davon entfernt ist, eine Art ästhetischer Aufguss zu sein, hier als der raffinierteste Ausdruck eben des Credos vorgestellt, das der Botschaft der Straussianer zu Grunde liegt. Wir behaupten mit anderen Worten, hätte sich Strauss entschieden, Klartext zu sprechen und hätte er zu schreiben verstanden, dann hätte sich die Form seiner Texte der stilistischen Perfektion von Jüngers Kompositionen (asymptotisch) angenähert. Viel wichtiger ist viertens: diese angenommene Konvergenz zwischen Jünger und den postmodernen Konservativen ist keine Frage spiritueller Zufälligkeit. Tatsächlich wurden Jüngers soziale Beobachtungen in den frühen dreißiger Jahren von seinem Bekannten, Martin Heidegger, anerkannt und als eine entscheidende Inspiration für seine eigene politische Haltung eingestanden. Heidegger wiederum hat bekanntlich einen tiefgreifenden Einfluss auf die Schriften der Postmodernen, auf Foucault auf der Linken sowie auf Kojève und Strauss auf der Rechten, ausgeübt. Schließlich bildet dieses polyphone Ensemble einen eigenen (postmodern) geregelten Orden, dessen verbindliche Grundsätze man stenographisch wie folgt zusammenfassen könnte: Verherrlichung der Gewalt und des Krieges, Machtgier, Glaube an ein Nichts nach dem Tod, Einwilligung in oligarchische und tyrannische Herrschaft, Glaube, dass Übervölkerung eine Plage ist, Glaube an die Notwendigkeit des Kampfes zwischen den Völkern, und die Faszination des korrumpierten „Wortes“. Ein umstrittener Aspekt der Verbindung zu Jünger  – wie auch zu Heidegger – ist wohl, dass die Nähe von letzterem zu den Nationalsozialisten (seltsamer-

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weise)  vergeben wurde, während die Akten und Qualifikationen des ersten bis heute hitzig diskutiert werden. Doch wir können ausführlich beweisen, dass Jüngers Werk die höchste, elitärste Form dessen verkörpert, was man „Nationalsozialistische Überlieferung“ nennen könnte. Wenn das der Fall ist, was kann diese Verbindung über das gesamte postmoderne Investment aussagen, wenn man bedenkt, wie elegant Jüngers Sammlung von Skizzen und poetischen Odysseen sich dem Leser als eine perfekte Synthese von allem anbietet, was postmodern ist? Dieses Kapitel besteht aus fünf Abschnitten, die jeweils Ernst Jünger, Martin Heidegger, Alexandre Kojève, Leo Strauss und dem amerikanischen Neokonservatismus gewidmet sind.

Jüngers Anarch Ich kenne Venus, wenn sie sich im fauligen Aas wälzt, und ich kenne die schwarze Liebesgöttin – ich kenne die verdorbenste Venus – oder soll ich sagen, die reinste – die die Blumen dem Menschen vermählt. Hanns Heinz Ewers5

Einige vertreten die Meinung, Ernst Jünger (1895–1998) sollte im literarischen Pantheon Deutschlands gleich rechts neben Vater Goethe stehen. Doch hatte er höchstwahrscheinlich eine zu düstere und unheimliche Ausstrahlung, um sich in einer so erhabenen Umgebung sehen zu lassen. Doch Jünger hat durchaus etwas von einem Titan an sich. Er war ein Stilist und Romancier von übermenschlicher Bravour, er erreichte ein Alter von 103 Jahren. Die Schriften seiner gesammelten Visionen bilden möglicherweise das umfassendste und faszinierendste Fresko des 20. Jahrhunderts. Noch vor dem Abitur meldete sich Jünger im August 1914 im Bezirk Hannover freiwillig zum Dienst im Ersten Weltkrieg. Er sollte vier volle Jahre in Flandern kämpfen. Er erwies sich als ein erstaunlicher Kämpfer. Er wurde vierzehn Mal verwundet, seine Kameraden begannen zu schwören, er sei nicht umzubringen. Vielfach ausgezeichnet beendete er den Krieg als Kommandant eines Stoßtrupps im Rang eines Leutnants. Das Reich verlieh ihm den höchsten Orden, den Ordre pour le mérite. Er war mit 23 Jahren der Jüngste, der während des Großen Krieges diesen Orden bekommen hat. Ich bemerkte sofort einen Engländer, der hinter der dritten feindlichen Linie über ­Deckung ging. Er hob sich mit seiner khakibraunen Uniform scharf vom Horizont ab. Ich riss der nächsten Wache das Gewehr aus der Hand, stellte Visier 600 Meter, nahm den Mann scharf aufs Korn, hielt etwas vor den Kopf und zog ab. Er tat noch drei Schritte, fiel dann auf den

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Hanns Heinz Ewers, Das Grauen, seltsame Geschichten, München 1917, S 74.

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Rücken, als ob ihm die Beine unter dem Leib fortgezogen wären, schlug ein paar Mal mit den Armen und rollte in ein Granatloch, aus dem wir durch das Glas noch lange seinen braunen Ärmel leuchten sahen.6

Jünger hasste den Krieg nicht. Er hatte ihn eingeatmet, ihn hingenommen wie die Jahreszeiten, wie das Tor zu einer Welt voller Entdeckungen. Er hatte sich einen genauen Eindruck von der Körpersprache des Krieges behalten – von der Gangart und Geschwindigkeit des Todes und von den Ritualen der Schlacht mit ihrer Kadenz aus Schweigen, Schock und Kameradschaft, ihrem Tanz um den Feind, und dem Moment, den der Seufzer des sterbenden Kameraden füllte. Die Be­lastung von alle dem hatte Jünger entscheidend geprägt. Der Krieg hatte ihm und anderen vermutlich ein neues Gewissen verschafft. Er sei „in den Stürmen gereift“.7 Und aus einer solchen Veränderung scheint es keine Rückkehr zu geben. Jünger hatte einschneidende Berichte über seine Erfahrungen an der Front in einer Reihe von Notizbüchern festgehalten. Sein Vater erkannte die Bedeutung dieser Dokumente und half bei ihrer Veröffentlichung. Sie erschienen 1920 in dem Buch mit dem Titel In Stahlgewittern. Es ist bis heute Jüngers bekanntestes Werk. Als immer wieder nachgedruckter Klassiker wurde In Stahlgewittern sofort als Meisterwerk gepriesen, das dem jungen Autor nicht nur die Bewunderung und den Respekt von Deutschlands Kriegsveteranen und der konservativen Elite einbrachte, sondern auch die Anerkennung der europäischen Intellektuellen und Literaten. Sie lobten einhellig die Ehrlichkeit des Buches, die virtuose Kraft der Beschreibung und die Knappheit der Erzählung, die den Kriegsgeschichten ein bisher unerreichtes Profil verlieh. Ein anderer, damals noch unbekannter, dekorierter Veteran des Reiches, Adolf Hitler, verehrte das Buch ebenso. Nachdem er nun in sich dieses neu entdeckte und gefeierte Talent erkannt hatte, begann Jünger die Kriegserfahrung zu vergeistigen und behandelte sie nicht mehr wie ein Chronist und Veteran, sondern wie ein „Dichter“. Der Krieg, schrieb er, ist „aller Dinge Vater“, „leben heißt töten.“ Der Krieg erweckt die „Bestie“ in uns, verstärkt unseren „Blutdurst“ und die Ur-Sehnsucht, „den Feind zu vernichten“.8 Doch Krieg bietet dem Menschen mehr als alles andere die Gelegenheit, eine der existenziellen Wahrheiten zu erfahren, die seine Gattung einzigartig machen, nämlich die Kraft „sich im Tod zu beherrschen“. Nur der Mensch ist zu solch einer Tat berufen, und er ist zu nichts Höherem fähig. Deswegen beneiden ihn selbst die unsterblichen Götter.9 6 Ernst Jünger, In Stahlgewittern, Sämtliche Werke Bd. 1 Tagebücher I, Stuttgart 1978 [1920], S. 134. 7 Ernst Jünger, „Epigrammatischer Anhang“, in: Blätter und Steine, Hamburg 1941 [1934], S. 228. 8 Ernst Jünger, in: Ernst Jünger, Der Kampf als inneres Erlebnis, Sämtliche Werkte Bd. 7, Stuttgart 1980 [1922], S. 11, 17. 9 Ibd. S. 87.

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Die Hölle des Krieges ist ein bewohnter Kosmos: Alle Geheimnisse des Grabes lagen offen in einer Scheußlichkeit, vor der die tollsten Träume verblichen. Haare fielen in Büscheln von Schädeln wie fahles Laub von herbst­ lichen Bäumen. Manche zergingen in grünliches Fischfleisch, das nachts durch zerrissene Uniformen glänzte. Trat man auf sie, so hinterließ der Fuß phosphorische Spuren. Andere wurden zu kalkigen, langsam zerblätternden Mumien gedörrt. Anderen floss das Fleisch als rotbraune Gelatine von den Knochen. In schwülen Nächten erwachten geschwollene Kadaver zu gespenstischem Leben, wenn gespannte Gase zischend und sprudelnd durch Wunden entwichen. Am Furchtbarsten aber war das brodelnde Gewühl, das denen entströmte, die nur noch aus unzähligen Würmern bestanden.10

Solche Einblicke wurden im Jahr 1922 in einer Art intimem Kompendium als Ergänzung zu In Stahlgewittern veröffentlicht. Jünger gab ihm den Titel Der Kampf als inneres Erlebnis. In Frankreich erschienen diese Erinnerungen 1934 als La Guerre, notre mère (Der Krieg, unsere Mutter). Das Deckblatt der französischen Ausgabe hatte den Titelbestandteil „als inneres Erlebnis“ nicht erwähnt, doch entging das Buch als ein solches nicht dem Blick Batailles, der einen begeisterten Kommentar zu der eben zitierten Passage geschrieben hat. „Dies“, schrieb Bataille, „ist die Sprache der Mystik. Diese große Beschäftigung mit den Schrecken ist weder Laster noch Düsternis. Es ist die Schwelle zu einer Kirche.“ Bataille behauptete, dass Krieg, rituelle Opferung und mystisches Leben durch eine gleichwertige Beziehung mit einander verbunden seien, und Jüngers Zeugnis schien seine Annahme zu bestätigen.11 Ausgestattet mit dem Lorbeer eines Dichter-Kriegers im anti-republikanischen Deutschland verbrachte Jünger den Rest der zwanziger Jahre damit, vor allem über die „nackte Erfahrung“ des Krieges zu schreiben – oder vielmehr – über das Schicksal des Kriegers in der Neuzeit vor dem Hintergrund der unheilbaren und ewigen Niederlage.12 Er war fest im konservativen Lager verankert. Als Ritter von der traurigen Gestalt beklagt er den Untergang aristokratischer Ritterlichkeit. Nachdenklich erhob er sich hoch über die wabernden Unruhen jenes bedrohlichen Nebels, der als Deutschlands Konservative Revolution bekannt ist. Diese Be­wegung wollte die Weimarer Republik von dem Augenblick an zerstören, an dem sie dem besiegten Vaterland von den Alliierten aufgezwungen worden war. Ab dem Jahre 1929 und in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre machte sich Jünger im Bestreben, den Umkreis seine literarischen Ambitionen auszuweiten, daran, die geistige Landschaft seiner Zeit auszuloten. Er hatte sein Studium abgeschlossen und seinem Schwert eine kultivierte Gelehrsamkeit beigegeben. So glaubte er nun, er könne weiterkämpfen, indem er den Kampf auf eine andere Ebene schob. 10

Ibd. S. 22. Georges Bataille, Œuvres complètes (OC), Paris 1970, S. 7:251, 253. 12 Michel Vanoosthuyse, Fascisme & littérature pure. La fabrique d’ Ernst Jünger, Marseille 2005, S. 74, 83. 11

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Und so fragte er sich: Warum konnte Deutschland den Krieg nicht gewinnen? Oder genauer, warum hat ihn Amerika effizienter als alle anderen Kräfte geführt und gewonnen? Weil Amerika, ohne die feudalen Privilegien des Reiches und mit eingeschränktem Wahlrecht zu einer totalen Mobilmachung – dank seines Kredits und seiner menschlichen Begabungen – zu einer schnellen, siegreichen und totalen Mobilmachung fähig war. Deutschland hatte schließlich versucht, gegenüber dem amerikanischen Gemeinwesen aufzuholen, hatte dabei teilweise Erfolg, aber zu spät. Mit der fortschreitenden Beseitigung der aristokratischen Privilegien in der Struktur der Verwaltung war auch „das Konzept der Kriegerkaste“ verschwunden. Sein Werk Die totale Mobilmachung war nicht einfach eine andere Charakterisierung der zweiten industriellen Trennlinie des Westens. Die Veränderung war epochal oder sogar „kosmisch“. Für Jünger bedeutete diese Verschiebung die Aufhebung der bürgerlichen Revolution durch eine neuartige Form der kollektiven Organisation, die sich immer mehr dem Leben im Reich der Bienen annäherte.13 Auf keinen Fall schrieb Jünger 1932 mit postmoderner Voraussicht, entspricht der Mensch einer fest umrissenen Vorstellung.14 Mit dem industriellen Gemetzel des Ersten Weltkriegs und der Erfahrung der „Weltrevolution“ ist der Westen in die „kulturelle“ Ära der „Arbeit“ und der „Technik“ eingetreten. Jünger sah die Menschen nun als „Arbeiter“, nicht im marxistischen Sinne, sondern als Teile eines kollektiven Motors, der vom Willen zur Macht angetrieben wird. Vom „unbegrenzten Raum der Macht“ aus war die Menschheit in Massen dazu übergegangen, ihr Recht auf „Herrschaft“ zu beanspruchen. Diese neuen Männer, die durch einen Sturm von „Feuer und Eis“ marschiert waren, bildeten die Schnittmenge aus „Leidenschaft und Mathematik.“ Daher musste dies die Zeit einer „noch feurigeren Liebe und einer noch schrecklicheren und gnadenloseren Grausamkeit“ sein. Jünger beschrieb nicht eine Veränderung der wirtschaftlichen Struktur, sondern eher recht genau den Aufbruch eines anderen spirituellen Modus. Gestern, sagte er, wurden die Massen von „Rechtsanwälten“ geführt, heute stehen den Arbeitern statt dessen „Condottieri“ vor – begeisterte Führer, die ganz von der Dynamik der Vorherrschaft ergriffen sind.15 Doch die Zeiten hatten sich wieder geändert.16 Verschwunden war auch unser Menschenrecht auf Schmerzen, dachte Jünger – eingenommen von dem modernen Dünkel, dass Leiden ein „Vorurteil“ sei, das nur die Vernunft jederzeit überwinden kann. Dieser rationalistische Rausch hatte seit der Aufklärung „eine ganze Reihe praktischer Maßnahmen“ hervorgebracht, zum 13

Vgl. Ernst Jünger, Heliopolis. Erzählende Schriften II Sämtliche Werke Bd. 16, Stuttgart 1980, S. 150 „ein geschichtsloses Kollektiv“ und 209 „Bienenstaat“. 14 „… der nichts oder alles, aber auf keinen Fall aber etwas Bestimmtes bedeuten kann“. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 2007 [1932], S. 36. 15 Ibd. S. 31 bis 65. 16 Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung, Sämtliche Werkte Bd. 7, Stuttgart 1980 [1930], S. 121 ff.

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Beispiel: „Die Abschaffung der Folter und der Sklaverei, die Erfindung des Blitzableiters, Impfungen, die Narkose [und] das Versicherungswesen“.17 Im Zusammenhang mit der Folter erscheint faszinierender Weise in Jüngers Meditationen höchst zwanghaft das Bild von der Folter des Königsmörders Damiens. Mit einer voyeuristischen Beschreibung eben dieser Folter sollte Foucault später sein Buch Überwachen und Strafen einleiten: Als die Folterknechte an Damiens ihre Kunst erschöpft hatten, hörte man, dass er zu lachen begann. Hier wird den Tyrannen die Grenze gezogen.18

Das Bürgertum hatte sich bemüht „Gefahren“ durch „Sicherheits“-Systeme und „Wahrscheinlichkeitsrechnungen“ abzuwehren.19 Und je mehr der Antrieb, das Leben zu mechanisieren, versuchte, der Sirenen Ruf zum Leiden zurückzudrängen, desto heftiger würden Kaskaden an Schmerzen auf die Gesellschaft niedergehen, um in „unerbittlicher Logik“ „ihren Zoll einzufordern“. Damit stellen sie das existentielle Gleichgewicht wieder her, das durch strenge Gesetze geregelt zu sein scheint.20 Die moderne Gesellschaft der dreißiger Jahre muss Jünger offenbar wie ein Konglomerat mechanisierter Termitenhaufen oder uhrwerkartiger Bienenstöcke vorgekommen sein, die durch Schwärme von Automaten – den Arbeiterarmeen – in Gang gehalten werden und die ihre Haut und damit ihr Leben in den PlastikKokons ihres desinfizierten Raums zu Markte tragen. An der Peripherie und in den „Seitenstraßen“ dieses neuen Macht-Komplexes brütet jedoch das Lumpenproletariat  – eine ganz andere Spezies, das wie die Ureinwohner in „Horden“ lebt. Für Jünger stellte sich das Lumpenproletariat als so etwas wie ein authentisches, anarchoides Tier dar, das in seiner kollektiven Seele Spuren des „ursprünglichen Kampfstils“ bewahrt hat. Im Gegensatz zum Jammern und Sich-Ängstigen der modernen Massengesellschaft, die „auf mechanische Weise tötet“, pflegt das Lumpenproletariat eine „beredtere“ Beziehung zum Schmerz. Das proletarische Gesindel steht in der Tat „auf vertrautem Fuß mit den Freuden der Folter“. Die Masse wird moralisch bewegt, sie bildet sich im Zustande der Erregung und Entrüstung und ist notwendig der Überzeugung, dass der Gegner böse sei, dass sie also an ihm Gerechtigkeit übe. Das Lumpenproletariat steht außerhalb der moralischen Wertungen und ist daher immer und überall, bei jeder Erschütterung der Ordnung, zum Zugriff bereit. Es steht somit auch außerhalb des eigentlichen politischen Raumes, man muss es vielmehr als eine Art unterirdischer Reserve betrachten, die die Ordnung der Dinge selbst in Bereitschaft hält.21

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Ernst Jünger, Über den Schmerz, Sämtliche Werkte Bd. 7, Stuttgart 1980 [1934], S. 152 (Hervorhebung hinzugefügt). 18 Ernst Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch. Mit einem Vorwort von Volker Weidermann, Stuttgart 2008 [1970], S. 153. 19 Jünger, Der Arbeiter, S. 53. 20 Ernst Jünger, Über den Schmerz, S. 146 f., 151. 21 Ibd. S. 168/9, (Hervorhebung hinzugefügt).

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Die führende Rolle innerhalb des Lumpenproletariats geht an „den Partisan“ über. Der Partisan ist der Informant: Er steht mit einem Fuß in der Polizeistation, mit dem anderen in der Gosse. Er ist kein Held.22 Man kann ihn an den Fersen der Invasionsarmeen erleben, wie er für die eine Seite und zugleich auch für die Gegenseite spioniert, Sabotage treibt, informiert und desinformiert. Das Lumpenproletariat und seine Partisanen sind der Abschaum der Welt von Arbeit / Technik,23 die ihre Untertanen – die überwiegende Mehrheit dessen, was wir die Weltbürgerschaft nennen, also uns – zu Ausübenden der „reinen Macht“ einsetzt.24 Jünger empfand es immer belustigend, die moderne Masse vereinheitlichter Männer und Frauen von sich selbst als Individuen und gute Demokraten, „Philanthropen und Marxisten“ sprechen zu hören. Wenn man sie in der Tat aus der Ferne betrachtete, konnte man hinzufügen, beisammen scheinen sie oft ein riesiges Hammerwerk zu bilden, dessen Betrieb ihren Horizont übersteigt. Jünger hatte eine gewisse Vorliebe für Menschen, die Macht ausüben, und weniger für Heuchler.25 Die große Tragweite der Technik bestand für Jünger nicht eigentlich in dem Phänomen der industriellen Transformation, sondern ihn faszinierte zu tiefst der Wille der Technik „sich den menschlichen Körper zu unterwerfen“.26 Dieses Fleisch durch den Willen mit einer so peinlichen Sorgfalt diszipliniert und uniformiert ruft die Vorstellung hervor, dass es gegen Verletzungen gleichgültiger geworden ist.27 Statt als bloßer Außenposten betrachtet zu werden, wird das Leben in der Ära der Arbeit / Technik als „der höchste Wert“ inthronisiert. Bei diesem Vorgang ging auch das Wissen um das „Opfer“ verloren – jene andere Technik, das Leben von sich selbst, wie es war, abzuheben.28 Unter dem Blick des klinischen Auges ist der Körper des Patienten zu einem medizinischen „Gegenstand“ geworden. „Krankheit“ war fortan eine „Strategie“ des Arztes.29 Zweifellos hat Jünger hinter all den spirituellen Metamorphosen unserer Zeit Mathematik und Logik in Aktion beobachtet. Beide „sind außergewöhnlich und verdienen Respekt“, aber ihr „Spiel“, schloss er, „ist viel zu anspruchsvoll und streng, um einem menschlichen Geist entsprungen zu sein“. Der Geist, der die europäische Landschaft seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geprägt hat, behauptete Jünger, war „zweifelsohne ein grausamer Geist“. Was dieses Geistes 22

Julien Hervier, Entretiens avec Ernst Jünger, Paris 1986, S. 133. Jünger, Der Arbeiter, S. 96. 24 Jünger, Über den Schmerz, S. 194. 25 Hervier, Entretiens, S. 85–6. 26 Jünger, Über den Schmerz, S. 185. (Hervorhebung hinzugefügt). 27 Ibd. S. 187. 28 Ibd. S. 161. 29 Ibd. S. 188. 23

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Arbeit letztendlich erreicht hat, war die Beseitigung der „antiken Kulte“, die Auslöschung der archaischen Religion. Ihre leeren Hallen wurden durch die „kreative Ohnmacht der Kulturen und die graue Mittelmäßigkeit, welche die Schauspieler auf der Bühne kennzeichnet“, belegt. Für Jünger läutete der Untergang der Krieger-Aristokraten den Beginn der Ära Arbeit / Technik ein. Auf sie bezog er sich mit Hilfe einer mythischen Sprache, und nannte sie alternativ auch Nihilismus. Diesen geistigen Zustand charakterisierte der Rückzug der Götter aus den menschlichen Gefilden noch bevor die Flut der technologischen Reglementierung des Lebens anschwoll. Die Welt bevölkerten jetzt Gruppen von „Titanen“, prome­ theische Träger der Technologie und die präzise Kunst, das Feuer zum Zwecke der Vernichtung und des Krieges zu beherrschen.30 Was war angesichts dieses „grausamen“ Niedergangs zu tun? Nicht überraschend nahm Jünger Batailles abschließende Mahnung in Der verfemte Teil schon vorweg: Praktisch ergibt sich aus dieser Feststellung für den Einzelnen die Notwendigkeit, sich trotz allem an der Kriegsmaschinerie zu beteiligen – sei es, dass er in ihr die Vorbereitung auf den Untergang erblickt, sei es, dass er auf jenen Hügeln, auf denen die Kreuze verwittern und die Paläste verfallen, jene Unruhe zu erkennen glaubt, die der Errichtung eines neuen Feldherrenzeichen vorauszugehen pflegen.31

Mach dich bereit, rät Jünger, und besteige die titanische Maschine und folge fraglos dem blinden Verlangen nach Kraft und Tatsachenverdrehung, die sich fortan als Ausdruck einer neuen, methodischen, aber nicht weniger verheerenden Anwendung von Gewalt gezeigt hat. Bevor wir fortfahren, dürfte ein kurzer Kommentar angebracht sein. Was an diesen Erkenntnissen Jüngers Anfang der dreißiger Jahre überrascht, ist nicht nur ihre bemerkenswerte und unbestreitbare Verwandtschaft mit den zeitgenössischen Überlegungen Batailles. Tatsächlich lässt sich eine genaue Übereinstimmung zwischen Jüngers Dreiteilung des sozialen Bereichs und Batailles heiliger Soziologie feststellen: (1) Der verblassenden Kriegerkaste bei Jünger entspricht Batailles souveräne Heterogenität des Herren; (2) Die „nihilistische“ Sphäre der „Arbeit“, die der neuzeitliche Tyrann („der Condottiere“) mobilisiert, findet eine Analogie in der von einem Grobian (butor) gehandhabten Macht bei Bataille; und (3) kann man leicht im Lumpenproletariat und seinen Partisanenhorden die heterogenen Scharen der Sklaven Batailles erkennen, die von Natur wie die heroische Figur des Verbrechers empfinden. Es ist genau die gleiche Geschichte, das gleiche Stück. Doch Jünger nimmt nicht nur Bataille um ein paar Jahre vorweg, sondern sein Essay „Über den Schmerz“ greift – was noch beeindruckender ist – den Bildern und der Sprache Foucaults in „Überwachen und Strafen“ um 40 Jahre

30

Ibd. S. 188 ff. Ibd. S. 191.

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vor.32 In dem Essay findet man bereits die auffällige Überlappung des „Delinquenten“ mit dem „Partisanen“, die Klage über das Ende der Folter, das klinische Auge, die Unterwerfung der Körper, das disziplinierte Fleisch und die Invasion der Macht. Das alles wurde von Jünger mit den gleichen Worten bereits 1934 formuliert, und noch dazu viel prägnanter als bei Foucault. Im Jahr 1929 hatte Jünger noch ausdrücklich gewünscht, den Nationalsozia­ lismus in Deutschland sich durchsetzen zu sehen.33 Aber zur Zeit der Machtergreifung Hitlers hatte Jünger die Einstellung und Aktivität der politischen Verfassung des Nationalsozialismus mit viel anspruchsvolleren Auge zu beurteilen begonnen und sich infolge dessen entschieden, Distanz zu bewahren und sich sehr vorsichtig gegenüber der aufkommenden Nazi-Hierarchie zu verhalten. Vor der Macht weiß ich genau, was ich zu tun habe, muss ich Vorsichtsmaßnahmen er­ greifen, habe ich mich auf diese und jene Art und Weise zu beugen.34

1933 weigerte er sich, der Deutschen Akademie der Dichtung, die die Nazis gerade übernehmen wollten, beizutreten. Er verließ Berlin und ließ sich auf dem Lande nieder. Anders als Bataille  – und, wie wir sehen werden, Strauss  – besteht wenig Zweifel daran, dass Jünger damals einem geheimen Orden angehörte (einem wirklichen, nicht einer Mysterien-Spielerei wie im l’Acéphale oder in Straussens ‚pseudoelitären Gemeinschaft zwischen Meister und Schülern‘ in Chicago). Die Einführung in einen sehr spezifischen Kreis von Eingeweihten schuf eine wiederkehrende und bestimmende Form in den erzählerischen Gebilden Jüngers. Mit Bezug auf die Zwischenkriegszeit spielt er oft und kryptisch auf seine Verbundenheit mit dem Orden der „Mauretanier“ an. Jünger gestaltete diese Bezeichnung nach der Figur des „Afrikanischen Zauberers“ aus Tausend und einer Nacht, der die Welt nach einem Einfaltspinsel (Aladin) durchsucht, um durch ihn in den Besitz des Grals (die Lampe als Schlüssel zur Weltherrschaft) zu gelangen. Voll „äußerster Abscheu für die großen Massen“ trat Jünger in den Orden ein und bestand die „Prüfung“, die verlangte, „das Mitgefühl zu Gunsten der höchsten Macht zu opfern“. So wollte er sich in seinem Wesen zu einem „Über­menschen“ machen und in sich ein Idol errichten, das seinen Eigenschaften einen goldenen Schimmer verlieh.35 Schon immer konnte man den Erzähler Jünger mit der Hand am Knauf seines Schwertes auf seinem elitären Aussichtspunkt thronen sehen, wie er die Wechselfälle des Vaterlandes oder die Erschütterungen seiner turbulenten Zeiten betrach 32

Die enge „Verwandtschaft“ wurde von der Literaturkritik bereits festgestellt. Vgl. z. B. Marcus Paul Bullock, The Violent Eye. Ernst Jünger’s Visions and Revisions on the European Right, Detroit 1992, S. 67. 33 Ernst Jünger, Politische Publizistik, 1919 bis 1933, Stuttgart 2001, S. 517. 34 Nach Hervier, Entretiens, S. 34. 35 Jünger, Heliopolis, S. 120ff, 290 bis 294.

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tete und darüber grübelte. Auf diesen seinen Thron bezog er sich verschiedentlich in seinen verträumten Erzählungen und nannte ihn seine Rautenklause, die Volière oder die Kasbah. Von diesen felsigen Höhen hoch über imaginären Halbinseln, welche vom Duft der Zypressen durchdrungen die nordafrikanische Küste mit der dalmatinischen Inselwelt verband, blickte er auf die Bosketten, die das Land wie Steppstreifen durchziehen, herab und auf das Sumpfland in der Ferne, in denen der Schatten des Konflikts zwischen den ständig wechselnden Mächten des Bösen und den Werten, die sein aristokratisches Lager verteidigte, mit jeder Stunde wuchs. Mysteriöse Rituale mit Feuer-Rädern und Schlangen, wie jene in seinem zweiten sehr gefeierten Roman Auf den Marmorklippen (1939), ereignen sich im Hintergrund eines seltsamen Mikrokosmos’. Der wird von rätselhaften Mönchen bevölkert, die Schreine pflegen, die unmissverständlich matriarchalen Gottheiten, Manifestationen der Aphrodite mit fantasievollen Namen wie Maria vom Meer 36 oder Maria Lunaris Falcifera37 geweiht sind. Der Ozean ist die Wiege, aus der Aphrodite sich erhebt. Aus seinem Abgrund quillt, was Woge und Rhythmus, Spannung und Mischung, prächtig und furchtbar an ihr ist.38

Innerhalb der Logen der Mauretanier muss die Weisung gegolten haben, sich von jeder offenen Verstrickung mit den Anhängern Hitlers fernzuhalten – nicht aus spiritueller Abneigung, sondern höchstwahrscheinlich aus Gründen des strategischen Spielraums. Angesichts Alfred Rosenbergs Manie der Blutreinheit,  – die Jünger für kein Heilmittel gegen die „zerstörerischen Qualitäten der [jüdischen] Rasse“39 hielt  – der unsicheren Perspektiven der deutschen Position auf dem Schachbrett der Weltpolitik, und der gesamten Urschlechtigkeit der Führung der NSDAP, taten Aristokraten wie der Schriftsteller besser daran, in ihren Herbarien Schichten der Reserve und Berühmtheiten ihrer adeligen Absonderung zu pflegen. Das soll nicht heißen, dass Jünger Hitler gegenüber immer feindlich eingestellt gewesen ist. Das Gegenteil ist richtig. Er hatte sich nicht nur als Autor von In Stahlgewittern den Schutz des Führers gesichert40, sondern Jüngers gesamte Laufbahn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verlief in direkter Mittäterschaft am Regime. Die übliche Erklärung, nach der Auf den Marmorklippen eine kühne, verschlüsselte Anklage gegen Hitler und das Dritte Reich war, die durch die Vorahnung auf den jüdischen Holocaust und Stauffenbergs Mordanschlag auf Hitler gekrönt wurde, ist eine aufgebauschte, notdürftige Nachkriegsinterpretation, um Jüngers Ruf zu retten. Der Roman enthält tatsächlich eine die Nazis unterstüt-

36

Ibd. S. 62. Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen, Stuttgart 1994 [1939], S. 48. 38 Jünger, Heliopolis, S. 93. 39 Jünger, Publizistik, S. 544. 40 Vanoosthuyse, Fascisme, S. 81. 37

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zende, wenn auch defätistische Vision des bevorstehenden Ostfeldzugs gegen die Armeen Stalins, der als dämonischer „Oberförster“ dargestellt wurde.41 Als der Krieg nur zwei Wochen nach Veröffentlichung von Auf den Marmorklippen ausbrach, wurde Jünger eingezogen und noch einmal nach Frankreich verlegt, um dieses Mal im Rang eines Hauptmanns an der Westoffensive teilzunehmen. 1941 landete er dank seiner guten Kontakte nach oben auf einem privilegierten Posten in der Zentrale der Deutschen Besatzungsarmee in Paris, im Raphaël  – einem der mondänen Hotels der Hauptstadt. In Paris hielt er in einem Tagebuch die existentiellen Unwägbarkeiten des etwas unbequemen Beamten einer Invasionsarmee fest, der mit den Künstlern und den kollaborierenden Eliten in diesem eingenommenen Juwel von einer Stadt verkehrte. Von besonderem Interesse in dem Pariser Tagebuch ist der Eintrag vom 29. Mai 1941. In ihm erwähnte er, „die Entscheidung, sich nicht entschuldigt zu haben, einer Exekution eines Deserteurs durch ein Erschießungskommando beizuwohnen, trotz der Abscheu mit der ihn die Aussicht erfüllte“.42 In solchen Begebenheiten überkommt mich eine Art Übelkeit. Ich muss mich jedoch auf das Niveau erheben, von dem auch ich, wie ein Arzt vor einem Patient, solche Dinge beobachten kann, als wären es Fische an einem Korallenriff oder Insekten auf einer Wiese. […] Es gibt Schwächen in meinem Ekel, eine noch zu große Beteiligung an der roten Welt. Man muss die Logik der Gewalt durchdringen.43

Auch wenn man versteht, dass Personen mit der gleichen Sensibilität, wie sie Jünger und Bataille gewiss eigen war, schließlich auf ähnliche Weise handeln und sprechen, ist es doch etwas verblüffend, wenn man auf solche über Zeit und geografische Grenzen hinweg beinahe identischen Aussagen stößt. Jünger beklagt seine „Schwächen“, während Bataille es hasst, dass „beim Anblick des zer­stückelten chinesischen Königsmörders“ ein Teil [in ihm] schluchzt und flucht. Was beide angesichts einer Hinrichtung quält, ist nicht der Schrecken, dass ein Leben in protokollarischer Stille beendet wird. Nein, was sie bedrückt ist ihre instinktive Wertschätzung des Lebens, die sie als einen Anfall von Feigheit verfluchen. Denn die Gewalttätigkeit des Lebens, der Natur, der Menschen und der Geschichte muss sich ihnen und vielen anderen als so nachhaltig, so sinnvoll, notwendig und selbstverständlich gezeigt haben, dass man sie sich lieber – wie nur Menschen möglich – als Bestandteil des eigenen Fleisches zu eigen zu machen hatte.

41 Zur politischen Dekodierung der Erzählung Auf den Marmorklippen siehe Guido Preparata, Wer Hitler mächtig machte, Basel 2010, S. 334 ff. Nach Jüngers eigenem Eingeständnis, „ähnelt“ der Oberförster eher Stalin als irgendeiner der anderen historischen Personen, die eine Menge mehr oder weniger begeisterter Kritiker, die die Wahrheit nicht sehen wollen, vorgeschlagen haben (vgl. Hervier, Entretiens, S. 110). 42 Bullock, Violent Eye, S. 155. 43 Zitiert nach Bullock, Violent Eye, S. 155–6 (Hervorhebung hinzugefügt).

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Während des „Sitzkriegs“ (1939–40) stellte sich Jünger vor, Deutschland und Großbritannien könnten zu einer Einigung kommen.44 Er hielt zu Hitler und zum neuen Reich, er stand dazu, solange es so aussah, als ob sie siegten.45 Als sich das Glück der Wehrmacht nach der Katastrophe in Russland wendete, was er tatsächlich prophezeit hatte, machte sich Jünger, wie viele andere ganz Schlaue an der Spitze, die das Spiel geliebt hatten, akribisch daran, die eigenen Spuren zu ver­ wischen. Das soll aber nicht besagen, dass er den inquisitorischen Folgen der Entnazifizierung der Nachkriegszeit völlig entkommen wäre. Obwohl Jünger behauptete, dass er zu den oppositionellen Kreisen hin tendierte, gab es keinerlei Beweise, dass er in einem engen, aktiven Kontakt zu Stauffenbergs Verschwörern gestanden hätte. Das war nämlich die bevorzugte Verteidigungs­ linie der hochrangigen Persönlichkeiten, die sich auf den Nationalsozialismus eingelassen hatten. Auch gab es andererseits keine Beweise dafür, dass er auf irgendeine Weise an den mörderischen Aktivitäten dieses Regimes beteiligt gewesen war. Er kam unter dem Leichentuch der Kontroverse aus dem Krieg, und blieb insgesamt ungeschoren. Er erwies sich tatsächlich als unbezwingbar. Jünger und – wie wir sehen werden – Heidegger wurden gemeinsam zum Symbol der rehabilitierten Restbestände aus dem Dunst des Dritten Reiches. Obwohl beide irgendwie miteinander verbunden waren, schlugen sie in der Nachkriegszeit unterschiedliche Wege ein. Heidegger gelangte schließlich wieder zu allgemeiner Anerkennung und genoss eine hervorragende Wiederbelebung in der englischsprachigen Welt, während Jüngers Ruhm weitgehend auf Europa beschränkt blieb. In Italien zum Beispiel, vor allem aber in Frankreich wurde er zum Objekt einer aufrichtigen Verehrung, und zwar dank der gemeinsamen Anstrengungen und des Einflusses eines bestimmten Segments der kämpferischen Intellektuellen an beiden Enden des politischen Spektrums dieser Länder.46 Die Huldigung für Jünger (und auch für Heidegger) seitens der selbsternannten Vertreter sowohl der Linken als auch der Rechten schuf genau diese besondere Verwirrung, die Gegenstand dieser Studie ist. Wir nehmen dies als vielsagenden Beweis dafür, dass das Denken heute zunehmend und weitgehend in die postmoderne Form gezwängt wurde. Die zwei Erscheinungsformen dieser im wesentlichen mit einander verbundenen Postmoderne sind die (eingeleitete) Nichtunterordnung der chaotischen Linke und des streitsüchtigen Konservatismus der nicht minder zynischen Rechten. Batailles Position zwischen Faschismus und orgiastischer Aufwiegelung ist das ursprüngliche Symbol der gefährlichen Ambivalenz dieser Gemütslage. Jünger stellt sein deutsches, etwas mehr nach rechts tendierendes Gegenstück dar.

44

Hervier, Entretiens, S. 31. Vanoosthuyse, Fascisme, S. 51. 46 Das belegt Jüngers Überraschung über den Erfolg, den eine jüngere Ausgabe von Der­ Arbeiter bei einer Gruppe Italienischer Kommunisten hatte. Dazu: Hervier, Entretiens, S. 28. 45

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Wenn Heidegger das Stigma der [Nazi-]Verfehlung für den Rest seines Lebens an sich trug, hat das seinen Ruf nicht schwer belastet. Jünger wird dagegen immer noch weit verbreitet als „faschistischer Schriftsteller“ zitiert.47

Die beiden predigten ähnliche Varianten des gleichen Glaubens. Doch, verglichen mit Heideggers Version, war Jüngers Kunst der Offenlegung sozusagen viel zu eindeutig. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs brach für Jünger wie für den Rest der Welt eine neue Ära an. Veränderungen in der einen oder anderen Form ließen sich nicht vermeiden. Tatsächlich hatte Jünger den Krieg nicht unbeschadet über­ standen. Im November 1944 fiel sein ältester Sohn Ernst bei Carrara in Italien – der Junge war achtzehn Jahre alt. Ihm zum Andenken widmete der Vater eine Abhandlung, die er im Jahre 1941 begonnen hatte. Sie erschien 1945 unter dem Titel: Der Friede. Der neue Jünger gab sich als nachdenklicher, reumütiger Mann, der aus seinen Fehlern zu lernen versucht. Er gestand, er sei „geistig geblendet“ gewesen.48 Doch gleichgültig wie sanftmütig er zu erscheinen wünschte, die Vision blieb in etwa die gleiche. Seit 1945 floss sie in eine ganz neue Variante von Charakteren, Metaphern, stilistischen Rhythmen und speziellen Erzählweisen, die nicht weniger bezaubernd, nicht weniger schillernd waren als diejenigen der Vergangenheit. Ich hatte dem Bösen und seiner Pracht entsagt, doch weniger aus Abscheu, als weil ich mich ihm nicht gewachsen war.49

Und so schnallte er das Schwert wieder um und stieg auf seinen privilegierten Aussichtspunkt, um die Welt zu durchforschen. Der Ritter war wieder in seinem Burgverlies. Er schaute nun zurück auf die Ära der „großen Feuerschläge“50 – der Weltkriege  – und sinniert über den gegenwärtigen Zustand. Historisch gesehen hatten die „großen Feuerschläge“, insbesondere der zweite, die Zerstörung der Nationalstaaten erreicht. Derzeit existieren nur noch „große Imperien“ wie Amerika oder auch China.51 Und in solchen imperialen Domänen organisierte sich die arbeitende Menge neu und übte Macht aus, denn sie war nicht verschwunden. Die Feuer­schläge, glaubte Jünger, haben die Geltung des „Nihilismus“ heraus­ gefordert, mit anderen Worten, die Holocausts des Zweiten Weltkriegs hatten den Glauben an den Fortschritt unwiderruflich erschüttert. Das war eines der Haupt­ argumente der Postmoderne.52 Der Nihilismus war noch nicht besiegt. Doch für Jünger gab es kein Zurück in das liberale Zeitalter, was so viel hieß wie, man

47

Bullock, Violent Eye, S. 59. Jünger, Heliopolis, S. 136 („doch war ich so verblendet“). 49 Ibd. S. 145. 50 Ibd. S. 61. 51 Hervier, Entretiens, S. 36. 52 Ernst Jünger, Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas und an die Jugend der Welt, Wien 1949 [1945], S. 26. 48

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musste wieder ganz von vorne anfangen. Das einzige Mittel, um den Nihilismus zu überwinden und den „Frieden“ zu festigen, war „eine moralische Rückkehr zur Bibel“. Die Gegner des liberalen Nihilismus brauchen den Beistand der Kirchen. Denn, fügte er hinzu, „der Mensch von heute will glauben“. Die neue Epoche, verkündete er, würde die Einführung einer „Neuen Theologie“ erleben.53 Jünger schlug lediglich eine strategische Allianz vor. Natürlich glaubte er weder an die Bibel noch an Christus,54 den er eigentlich dafür verantwortlich machte, die „Uralten“,55 die „alten Götter“ [seines] Landes56, wie ein „ neuer und höherer Herakles vernichtet“ zu haben. 1949 veröffentlichte Jünger seinen ersten Nachkriegs-Roman Heliopolis, in dem er seine Auffassung über die derzeitige Weltpolitik zum Ausdruck brachte. Er stellte sich vor, dass, während sich der Nihilismus in eine Art planetarischen Staat umwandelt, sich an der Heimatfront die Kirchen mit der Aristokratie zusammentun, um die zeitgenössische liberale Demokratie zu bekämpfen. Ihr populistischer und sehr beliebter Puppenspieler war der „Landvogt“, ein mit Churchill ver­ gleichbarer Scheich mit „dem Wanst eines Unmenschen“ und dem Geschmack für Neonlicht einer Las Vegas-Größe.57 Heliopolis war ein Erinnerungsraum für alte Kämpfe und neue technologische Errungenschaften: Die Himmel wurden von regelmäßig gestarteten Raumfähren durchfurcht, und alle Menschen waren über das „Phonophor“ mit einander verbunden. Dies war eine drahtlose Funk-Einheit, die am Revers getragen wurde – eine verblüffende Vorwegnahme der globalen Vernetzung über Internet und Mobilphone. „In diesem Rahmen hatte sich der Phonophor zu einem idealen Mittel der planetarischen Demokratie entwickelt, zu einem Medium, das jeden mit jedem verband. Die Gegenwart der alten Volksversammlung, des Marktes, des Forums war hier auf den Planeten aus­ gedehnt und darüber hinaus.“58

In Auseinandersetzung mit der Korruption des liberalen Nihilismus schuf Jünger wieder ein Parallel-Universum, das von alten Pergamenten, einsamen Spaziergängen und dem Dunst von Rauschgift umgeben war. Wie die alten Mexikaner wollte er Rauschgift als Sakrament einnehmen, um dadurch in „unmittelbare Verbindung mit göttlichen Kräften“ zu treten.59 Berauscht, wunderte er sich: Ich stehe im Experiment.60

53

Ibd. S. 67–74. Hervier, Entretiens, S. 157. 55 Jünger, Heliopolis, S. 164. 56 Jünger, Auf den Marmorklippen, S. 8. 57 Jünger, Heliopolis, S. 150, 232. „Landvogt“ (bailiff) und ändern Wanst eines Un­menschen. 58 Ibd. S. 280. 59 Hervier, Entretiens, S. 55. 60 Jünger, Heliopolis, S. 312. 54

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Jünger erzählt seine Wahrheiten über die „Träume des Hanf“, den „Genuss von Lorbeerblättern“, der „die Kräfte birgt“, die „der Vernichtung Trotz bietet“.61 Jenseits des Todes war das „Nichts“. Es gab keine „Hölle“. Sie war für ihn eine „plötzliche Erfindung“ des Christentums.62 Er glaubte, dass „keine Mücke verloren ist und auch dass der ärgste Verbrecher ewiger Wonnen teilhaftig wird“.63 Denn das Böse fügt sich so in den Weltenplan, wie der Schatten das Licht begleitet, und zwar in eine Welt, deren Macht-Mechanismen am besten durch die Künste der Finsternis begriffen werden. Das blieb, als Schimmer in einem Nebelfleck des Universums; vielleicht erahnte ein Engel ihn im fernsten Abgrund auf seinem Flug.64

„Die ‚Neuen‘ Welten sind“, für Jünger, „immer nur Abzüge ein und derselben Welt. Sie war den Gnostikern seit Anbeginn bekannt, den Einsiedlern der Wüste, den Vätern und wahren Theologen.“65 Das bedeutete praktisch, dass man die Welt verändern konnte, aber niemals ihre Grundlagen.66 Und eine solche Grundlage war die pessimistische, mitleidlose Schablone, mit der wir seit Bataille voll vertraut sind. Es handelt sich um diesen Wechsel von Licht und Dunkelheit, der im Fragezeichen der Leere gipfelt. Das Leben auf der Erde glich, nach Jünger, einem beängstigenden Weg entlang der Kante einer hohen Klippe, auf dem jeweils nur ein Wagen passieren konnte.67 Wirtschaftlich gesehen war dies eine Metapher für ein Leben in Knappheit, das tatsächlich eine der Säulen des liberalen Ethos ist – eines Ethos, das Jünger zutiefst verachtete. Daran zeigt sich schließlich, dass Leute wie er (oder wie Bataille, Foucault, und der Rest) nicht die dicken Fische im Wasser der Moderne waren, als die sie sich ausgaben. Zum Glauben an die Knappheit gehört natürlich auch der Glaube an die Verheerungen durch Übervölkerung – eine Einstellung die heute gerne als Umweltschutz missverstanden wird. In unserer Erörterung von ­Foucault hatten wir bereits den Malthusianismus als Kennzeichen der hässlichsten Form der Oligarchie und des Konservatismus angeklagt.68 Denn der Hauptgrund, weshalb der Malthusianismus trotz ständiger Widerlegung immer wieder hingenommen wird, liegt natürlich an seiner Behauptung, Armut, Krieg und Krankheit lägen nicht in der Verantwortung des Menschen, sondern an den vermeintlich bösartigen Gesetzen der Natur. Er unterstellt, dass es einfach nicht genug Brot gäbe, um alle Münder zu stopfen und dass dies zu den Kämpfen führe. Aldous Huxley gründete seinen berühmten anti-utopischen Roman Schöne Neue Welt auf eine solche

61

Ibd. S. 314, 267 f. Hervier, Entretiens, S. 144. 63 Jünger, Heliopolis, S. 311 f. 64 Ibd. S. 316 f. 65 Ernst Jünger, Der Waldgang, Sämtliche Werkte Bd. 7, Stuttgart 1980 [1951], S. 329. 66 Jünger, Heliopolis, S. 213 („Die alten Mittel kehrten mit neuen Namen wieder“ S. 234). 67 Ibd. S. 191–194. 68 Siehe oben Kapitel 6, S. 132. 62

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oligarchische Hypothese. Daher hielt Jünger „Malthus und Huxley für intelligente Engländer“.69 So sehr Jünger auch wünschte, dass sein antitraditionelles Rittertum sich behaupten möge, gestand er in den frühen fünfziger Jahren doch seine Niederlage angesichts der Kräfte des Nihilismus ein. Die moderne, technisierte Invasion schien unaufhaltsam zu sein und besaß scheinbar unvorstellbare Kräfte der Innovation und flexiblen Ausbreitung. Leichenwagen wurden motorisiert, auf den Altären lagen Mikrofone neben dem Brot der Eucharistie. In dieser mächtigen Bewegung, die das Leben auf grundlegende mechanische Funktionen „reduzierte“ – alles im Namen des „Guten“ – sprossen überall im Land als Reaktion auf eine kollektive Sehnsucht nach den ursprünglichen „Opferritualen“ Ersatzkulte und Religionen aus dem Boden. In dem Durst nach „Heiligen“ wurden sogar „politische Parteien zum Gegenstand der Apotheose“.70 Politik ist im triumphierenden Zeitalter des Nihilismus eine endlose Übung der „Inszenierung“. Für Jünger gab es Demokratie so wenig wie Wahrheit.71 Er ließ durchblicken, dass alles, was wir als moderne Bürger miterleben, nur Variationen der tyrannischen „Kunst der Führung“ sind: Wahlen sind nur verkappte Volksabstimmungen und ein vorher ausgemachtes Ergebnis muss immer als „ein ohrenbetäubender Chor vorgestellt werden, der zugleich Angst und Bewunderung weckt“. Das unermüdliche Bestreben, politische Dramen zu produzieren, verlangte zwangsläufig eine entsprechende Aufstockung der Polizei. Ihr Ausbau, fügte Jünger hinzu, führt nebenbei als Gegengewicht zu einer „Macht der Minderheit“.72 Denn es verbergen sich Wölfe in der grauen Herde, das heißt: Naturen, die noch wissen, was Freiheit ist. Und diese Wölfe sind nicht nur an sich stark, sondern es ist auch die Gefahr gegeben, dass sie ihre Eigenschaften auf die Masse übertragen, wenn ein böser Morgen dämmert, so dass die Herde zum Rudel wird. Das ist der Alptraum der Machthaber.73

In seinen wesentlichen Zügen ist dieser unschlüssige Bericht darüber, dass Eingriffe des Staates Gegenreaktionen der „Minderheit“ auslösen mit Foucaults „Widerstand an den Rändern“ identisch und mit dem Zusammenspiel von „Empire“ und „Menge“ bei Hardt und Negri. Dabei wird die Zunahme der „Minderheit“ von einer Avantgarde der Anhänger, welche die Technik hassen, vorangetrieben. Jünger empfahl den neuzeitlichen Krieger-Aristokraten, „die Linie zu überschreiten“ und die Gefilde des Nihilismus zu verlassen. Da direkter militärischer Widerstand gegen die Moderne unmöglich war, blieb ihnen als einzig gangbare Form der Rebellion, den Aufstand von außen ins Innere zu verlegen. Das 69

Jünger, Heliopolis, S. 187 f. Ernst Jünger, Über die Linie, Sämtliche Werkte Bd. 7, Stuttgart 1980 [1949], S. 239 ff. 71 Hervier, Entretiens, S. 111. 72 Jünger, Waldgang, S. 284 ff, 299. 73 Ibd. S. 300. 70

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be­deutete, sie sollten sich bedeckt halten und einen persönlichen Stil des stillen Kampfes kultivieren, der täglich auf dem üblichen Lebensweg angesichts einer eventuell eintretenden großen Revolution zu führen sei. Diesem neuen „Rebellen“ gab Jünger den Namen „Waldgänger“ – also einer, „der sich in den Wald absetzt.“ Die Benennung erinnert sofort an die Figur des Widerstandskämpfers im Dickicht, den Französischen Maquisard. Das „Dickicht“ war für Jünger ein symbolischer Raum der Freiheit, welchen sich der Widerstandskämpfer „jenseits der Linie“ wie eine heilige Oase in der nihilistischen Wüste schuf, in der ihn der Leviathan der Technologie nicht erreichen konnte.74 In der Einsamkeit des Waldes konnte der Widerstandskämpfer in aller Stille seine „unberührbaren Schätze“, den Tod vor allem,75 sowie die Schönheit, die „stets die Folge einer Verletzung“ ist76 und die einzigen beiden Kräfte verehren, die ernst genommen werden sollten: Dionysos und Aphrodite.77 In dieser Phase, möglicherweise um diese neue und faszinierende Kategorie des Untergrund-Waldläufers zu legitimieren, engagierte sich Jünger ein bisschen in Grabräuberei, das heißt, er plünderte die Keller der Mythologie und der Bibel auf der Suche nach Bildern, um damit seine Botschaft zu abzusichern. Dies ist tatsächlich auf der ganzen Welt eine übliche Vorgehensweise von Verführern, die in der Tat ständig durch die sublime Verwirrung, die hinsichtlich der religiösen Mythologie herrscht, gefördert zu werden scheint. Wir werden sehen, dass aus einer solchen Grabräuberei Individuen wie Leo Strauss ein profitables Geschäft machen sollten. Für seine Widerstandskämpfer stellte Jünger ein Minipantheon zusammen. Es wird von einem Christus gekrönt, der halb Herkules (der Mörder von Götzen und Gründer von Städten) und halb Dionysos (Gott des Festes und der heiteren Kommunion mit den Toten) ist. Als Hauptheld der Liturgie erwählte Jünger Sokrates, dessen Daimonion er symbolisch mit dem Dickicht gleichsetzte. In einem Anfall freier Hermeneutik entdeckte Jünger im Tod des Sokrates „eines der größten Ereignisse“. Es habe die Menschen gelehrt: „Die Welt sei auf eine Weise eingerichtet, dass Vorurteile und Leidenschaften immer ihren Tribut in Blut fordern, und dass es gut zu wissen sei, dass sich dies niemals ändern wird.“ Zu denken, dass dies doch der Fall sein könnte, ist die „dumme“ Überzeugung jener verstockten „Philister“, denen „man heutzutage an jeder Straßenecke begegnet“.78 Die Eigenart des Menschen ist ja nicht nur schaffend, sie ist auch zerstörend, sein Dämon wünscht es so.79 74

Jünger, Über die Linie, S. 273. Jünger, Waldgang, S. 331. 76 Jünger, Heliopolis, S. 18. 77 Hervier, Entretiens, S. 54. 78 Jünger, Waldgang, S. 332 f. 79 Ibd. S. 368. 75

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Für Jünger war das Leben ein Kampf, ein Kampf gegen die Angst vor dem Tod. Erst durch die Überwindung dieser Angst konnte der heroische Einzelne den Staat besiegen – einen Staat, der Terror einsetzt, die Polizei und das „Gesundheits­ wesen“80, um in die „göttliche Kraft“ des menschlichen Widerstandes einzugreifen. Der Widerstand des Rebellen im Dickicht hatte „absolut“ zu sein. Er würde kein Pardon geben und würde bereit sein, in der Einsamkeit den Hauptstoß der „satanischen Künste“ des Nihilismus zu ertragen.81 Der Mensch, sagte Jünger, ist „in einer großen Maschine gefangen, die zu seiner Vernichtung entwickelt worden war“ und dazu, ihn zu „foltern“. „Nur ein Wunder konnte ihn aus solch einem Strudel retten.“ Aber immer wieder hatte er rebelliert und die Ketten zerbrochen, „sogar in Gefängnissen, eigentlich dort mehr als irgendwo sonst“. In der Opposition würde der Mensch seine „fürstliche Haltung“ zeigen.82 Wieder schnitt Jünger das alte Thema „Schmerz“ an und nahm dabei auch wieder Foucault vorweg, als er das Lob auf den „kranken Menschen“, den Kranken anstimmte, den er angesichts der „nihilistischen Ärztevereinigungen“, die aus seiner Pein ein Geschäft machen, für „souverän“ hielt. Der Kranke würde ihrer schließlich Herr werden und „auf eine Heilung, die ihm aus unzugänglichen Residenzen geschickt wird, verzichten“.83 Auch er lebte im Dickicht. Jünger glaubte, dass nur zwei Wege aus der Folterkammer führen: Verbrechen oder das Dickicht. Dies schloss er aus der enormen Anziehungskraft, die die Figur des Kriminellen auf das kollektive Bewusstsein des Westens ausgeübt hatte, besonders in Zeiten völliger nihilistischer Zersetzung wie der unseren. Auch ­Bataille war – wie wir wissen – ausführlich auf dieses Phänomen eingegangen. Aber da Kriminelle und Partisanen von Natur manipulierbar sind, war es zwingend notwendig, dass die Widerstandskämpfer sich vom Verbrecher aus der Unterklasse so deutlich wie möglich „in Bezug auf Moral, Verhalten in der Schlacht und soziale Beziehungen“ abheben. Nur der Weg der „Waldgänger „erlaubt dem Aristokrat auf der nihilistischen Seite ‚der Linie‘ seine ‚Souveränität‘ zu bewahren“.84 Uns bleibt nur die Frage: Welche Art von Wechselfällen musste ein Rebell im Dickicht erleben, und vor allem, welche Entscheidungen würde er zu fällen haben? Jünger antwortete darauf 1957 mit der Erzählung von Richard. Es handelt sich um einen demobilisierten Kommandanten der Kavallerie, der Zapparoni, dem weltweit führenden Hi-Tech Tycoon, als Sicherheitschef empfohlen worden war. Im Sinne Foucaults symbolisierte Zapparoni Macht in höchster Vollendung, nicht nur als Kontrolle über das Leben an sich, sondern auch über seine Nachbildungen. Zapparoni stellte Roboter her; künstliche Nachbildungen des Menschen – perfekte Reproduktionen, die als Schauspieler in eine Reihe von Filmen auftraten. In 80

Ibd. S. 347. Ibd. S. 345 f. 82 Ibd. S. 353 f. 83 Ibd. S. 348, und Über die Linie, S. 251. 84 Jünger, Waldgang, S. 361, 359 f. 81

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den Gärten des Tycoons entdeckte Richard Schwärme von künstlichen Gläsernen Bienen, die zu einem automatisierten Ökosystem durchsichtiger Bienenkörbe gehörten und die auf die wettbewerbsmäßige Honiggewinnung abgerichtet waren.85 Das Spektakel der Glasbienen führte zu einem entsetzten Innehalten, als Richard durch sein Fernglas Haufen abgetrennter Ohren sah, die auf den Wiesen des Gutes verstreut waren. Weil er seine Nerven nicht unter Kontrolle halten konnte und dachte, dass es sich um künstliche Ohren handle, eignete sich Richard nicht zum Sicherheitschef Zapparonis. Doch bekam er in der Firma den Posten eines Aufsehers und Schlichters in Arbeitskämpfen.86 Die Botschaft in Die Gläsernen Bienen war eine dreifache. Erstens, Ausmaß und Reichweite der modernen Technik waren eine „Illusion“87 (Zapparonis KinoReich) und eine, die ständig von einem Holocaust bedroht wurde (die Vision der unzähligen abgetrennten Organe). Zweitens, während Jünger noch 1938 Menschen aufgefordert hatte, sich in die mörderische Kriegsmaschinerie zu begeben, schien er nach 20 Jahren und einer Feuersbrunst zu bedenken zu geben, Aristokraten sollten sich lieber von der Leitwarte eines solchen teuflischen Unternehmens fernhalten. Das sollte aber nicht bedeuten, – und dies ist der dritte und entscheidende Punkt – dass die Widerstandskämpfer gänzlich auf Macht verzichten sollten. Sie sollten vielmehr innerhalb des Establishments verbleiben, jedoch in der Funktion von, sagen wir, Räten oder Beratern. Wie Dickicht-Kämpfer die aristokratische Revolution von ihren zerstreuten Posten als Unternehmensberater entfesseln konnten, vermochte Jünger in bester postmoderner Tradition nie zu erklären. Doch ist die Figur des Richard im Panorama der postmodernen Rechten trotzdem wichtig, weil sie die spätere Figur des „Anarch“ vorwegnahm. Dieser stellte zu einem gewissen Grad die unter den Straussianern in Mode gekommene, ideale philosophische Einstellung dar. Im Anklang an Kojève88 war Jünger 1960 zu der Erkenntnis gelangt, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Reich der Vereinigten Staaten und dem der Sowjetunion gab. Die „weißen“ und „roten“ Sterne waren Zwillinge am gleichen Firmament,89 Kreaturen des Nihilismus – wobei erstere in Bezug auf den Industriedurchsatz und die soziale Kontrolle nur wesentlich effizienter als letztere waren. Der Zweite Weltkrieg hatte nicht nur die archaische Struktur des Staates beseitigt, sondern die nihilistischen Reiche begannen derzeit selbst zu einem Weltstaat zusammenzuwachsen. Damit brachte Jünger bereits die Globalisierung zum Ausdruck und die genaue Entsprechung zu Kojèves „homogenem und uni­ versellem Staat“. 85

Ernst Jünger, Gläserne Bienen, Stuttgart 1957, S. 112. Ibd. S. 170. 87 Ibd. S. 172. 88 Vgl. den Abschnitt über Kojève, in diesem Kapitel. 89 Ernst Jünger, Der Weltstaat, Organismus und Organisation, Sämtliche Werkte Bd.  7, Stuttgart 1980 [1960], S. 498. 86

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Mit dem Eintritt in seine finale Größe gewinnt der Staat nicht nur sein räumliches Maximum, sondern zugleich eine neue Qualität. In ihr hört er auf, im historischen Sinne Staat zu sein. […] Die Machtfragen sind geklärt.90

Kurz gesagt, hier stoßen wir wieder auf das klassische postmoderne Fazit: Das Ende der Geschichte, das Ende der Ideologie. In einem solchen Rahmen schien Jünger überzeugt zu sein, dass reguläre Armeen zum Führen konventioneller Kriege unnütz geworden sind. „Dann könnte der menschliche Organismus als das eigentlich Humane, vom Zwang der Organisation befreit, reiner hervor­ treten.“91 Was das bedeutete, war jedoch nicht klar: Reinheit im Krieg oder Reinheit im Frieden? Nicht weniger verschwommen war in diesem Zusammenhang Jüngers Anspielung auf die unserer Zeit bevorstehende „Vorstellung eines großen mütterlichen Bildes“. Das aufgeheizte Gerede über Patriarchat oder Matriarchat und das Lauschen auf eines der beiden, war für Jünger, der diese Themen kannte, völlig fehl am Platz. Diese Systeme, behauptete er, „hatten eine ganz andere Perspektive als wir“. Das spirituelle Genie des Weltstaats, sagte Jünger, würde eines sein, das die „Mütter von Göttern und Menschen“ unterhält. Und zu so einem Geist würden, ohne es zu wissen, die handfeste Arbeit der Logik und die männliche Form des Wissens ihren Beitrag leisten.92 Diese Einsicht dürfte von sich aus zu entgegengesetzten Interpretationen führen. Sie bedeutete entweder, dass wir in eine Ära eintreten, in der Männer und Frauen ein Bündnis für Ernährung und für Arbeit sparende Erfindungen verwirklichen – was ideal wäre – oder dass die Menschheit mit dem Bild der Mütter erneut Kalis Appetit auf Zerstörung und die Vergeudung der Hi-Tech-Geräte in Form von Massenvernichtungswaffen verbindet. Die Figur des „Anarch“ tritt in Gänze in Jüngers letztem großen Stück politischer Fiktion in Erscheinung, im Roman Eumeswil (1977). Die Darstellung des „Anarch“ bot eine neue Interpretation des Dickicht-Kämpfers an. Der Condor, der Eumeswil, einen Stadtstaat am Horizont der Träume regierte, war ein Tyrann. Er und sein Gefolge beherrschten die Stadt von den Wällen der Zitadelle, der Kasbah aus. Tribune, Gouverneure der Herrschaft des Pöbels, agitierten gegen den Condor. Dies entsprach jedoch nicht dem bei Jünger vertrauten Szenario, Aristokraten gegen Demokraten antreten zu lassen. Der Condor selbst lebte, wie der Erzähler berichtete, „vom Leviathan“. Er war ein altmodischer Despot, der sich nicht zurückhielt, Technologie, Unterdrückung und Lügen einzusetzen, um Ordnung zu schaffen.93

90

Ibd. S. 525. Ibd. S. 526. 92 Ibd. S. 511. 93 Ernst Jünger, Eumeswil, Sämtliche Werke, Bd. 17, Stuttgart 1980 [1977], S. 183. 91

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Die Gutgläubigkeit ist das Normale, ist der Kredit, von dem die Staaten leben; ohne sie würde selbst die bescheidenste Dauer nicht möglich sein. […] Genau besehen, gibt es nur noch Tyrannen; die Art, in der sie die Keulen wattieren, ist nur der Farbe nach verschieden, nicht aber im Stoff.94

Der Trick in solch einem Spiel, das Tyrannei als die einzige Lösung für unsere „unvollkommene und friedlose Welt“ ansah, war, wie der Erzähler, der selbst­ ernannte „Anarch“ Manuel Venator, ein Gelehrter zu sein und als Condors Mundschenk zu handeln.95 Der Anarch hebt sich vom „Anarchist“ ab. Letzterer ist eine Kreuzung zwischen dem „Waldgänger“ und dem Partisanen. Der Anarchist ist ein ungeduldiger Utopist, der glaubt, die menschliche Natur sei uneingeschränkt gut, und die Welt ließe sich dadurch zum Besseren wenden, dass man den Monarchen „auslöscht“ – das heißt, jeden Tyrannen, der gerade an der Macht ist.96 Kurz gesagt, Jünger hielt den Anarchisten für einen naiven, chaotischen Narren, etwa wie den Apostel Paulus, aber nicht wie Christus, der für Jünger der Inbegriff des Anarchs war.97 Der Partisan will es (das Gesetz) ändern, die Kriminellen wollen es brechen. Der Anarch will weder das eine noch das andere. Er ist weder für noch gegen das Gesetz. […] Er erkennt das Recht, doch nicht das Gesetz an. […] Wenn er es auch nicht anerkennt, so sucht er es doch nach Art der Naturgesetze zu erkennen und richtet sich danach.98

Der Anarch kann somit auf seine Stunde warten. Im Unterschied zum Anarchist sieht sich der Anarch nicht als „Gegenspieler des Tyrannen“, sondern als „sein Antipode“, als „sein Pendant“: Er fürchtet sich nicht vor den Monarchen, er ist ihm gewachsen.99 Der Anarch hat ein Ethos, aber keine Moral. „Er verachtet Regeln“ und zeigt nicht die geringste Absicht „Dank zu erstatten“. Gott als „gut“ dar­ zustellen und seine Gesetze zu halten, bedeuten den Herren auf der einen, die Gesellschaft auf der anderen Seite zu „kastrieren“. „Re-ligio“ als „Bindung ist genau das, was der Anarch ablehnt“.100 Jünger glaubte, indem man, bildlich gesprochen, die Hütte des zynischen Widerstandes um die eigene Seele mit Stroh eindeckt, könne man sich immun und gleichgültig gegen den verderblichen Nimbus und die Grausamkeiten der Macht machen. Geschützt durch die Rüstung lässiger Verachtung (désinvolte) konnte der Dickicht-Kämpfer im Gefolge des Tyrannen überleben und seine unschätzbare „Souveränität“ behalten.

94

Ibd. S. 103, 153. Ibd. S. 50. 96 Ibd. S. 301. 97 Ibd. S. 41. 98 Ibd. S. 146, 206. 99 Ibd. S. 42, 314. 100 Ibd. S. 208 f. 95

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Der Anarch hingegen hat die Autorität an sich gezogen; er ist souverän. Somit verhält er sich Staat und Gesellschaft gegenüber als neutrale Macht. Was dort vorgeht, kann ihm gefallen, missfallen, gleichgültig sein. Das bestimmt sein Verhalten; er investiert keine Gefühlswerte.101

Das war schließlich Jüngers politisches Testament: eine Einladung, Macht auszuüben, ohne sie, um „frei“ zu werden, ernst zu nehmen.102 Dies erschien ihm, die einzige Möglichkeit zu sein, als Aristokrat im Ozean des Nihilismus, der zur Zeit die ganze Welt überzieht, zu überleben. Die Geschichte ist tot.103

Ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht, Jünger nahm genau wie Foucault an, dass der moderne Menschen heute nur als Machtausübender existiert – ob an der Spitze zur Rechten des Tyrannen, ob unten in der bürokratischen Hierarchie oder in den Seitenstraßen großstädtischer Ghettos als „Minderheit“. Alles, was wir tun, ist Ausflüchte zu suchen und zu überleben. Das ist die moderne, nihilistische Lebensbedingung. Um sie mit Würde zu ertragen, also seine Souveränität zu behaupten, fand Jünger exklusiven Trost in Form des privaten Gebets zu der un­ ergründlichen Leere – Heidegger würde von „Sorge“ sprechen. In Eumeswil wird der Condor schließlich von den Tribunen gestürzt und verschwindet zu einem Jagdausflug mit seinem Gefolge mitsamt dem Erzähler. Es sieht so aus, als wollte Jünger sagen, im postmodernen Spiel ist nichts mehr wirklich wichtig, ist einmal die Geschichte am Ende, der Staat global geworden und reicht die Macht überall hin. Wie Venator (im Roman) hatte er seine Entscheidung getroffen: Mit der aristokratischen Variante der Tyrannei zu leben und zu sterben. Das war postmodern, ja, aber von rechts. Abschließend skizziert Jünger ein Universum, das im Großen und Ganzen eine reichere Zusammenfassung von Batailles Soziologie und Foucaults Macht /  Wissen ist. Die Zutaten sind die gleichen: Todeskult, das Lob auf die Schmerzen, die Beurteilung der Technik als spiritueller Kraft, die „Macht“ ausstrahlt, die Verehrung der Leere als kopflose Angelegenheit göttlicher Gegenwart, die Wachstum und Holocaust austeilt, die Verachtung des Mitgefühls und die rebellische Pose des Anarchen. Politisch gesehen ist Foucault eine perfekte Verkörperung eines linken Anarchen: Ein Intelektueller aus dem Establishment, der sich mit Anarchisten und verrückten Randfiguren abgibt. Jünger ist sein genau passendes Gegenstück auf Seiten der Rechten: Ein ehemaliger Nazi-Sympathisant, der weiterlebte, um im globalen Zeitalter von den jeweiligen Präsidenten in Frankreich und Deutschland geehrt zu werden. Bataille steht unentschlossen zwischen den beiden. Er ist – wie gesagt – der Inbegriff des „postmodernen Zustands“, der wirklich weder der

101

Ibd. S. 247. Ibd. S. 111 f. 103 Ibd. S. 338. 102

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Rechten noch der Linken zuzurechnen ist, sondern das Credo des nicht mitfühlenden Nichts darstellt. Jünger war ein Individuum mit einer göttlichen Feder, einer eisigen, scharf­ sinnigen Seele und einem verkommenen Geist. Seine Erfahrung setzte den Maßstab, an dem jede neuere Ideologie über Herrschaft und Tyrannei, die das amerikanische Establishment hervorbringt, gemessen werden sollte. Wir werden sehen, dass, soweit es die Straussianer betrifft, die Übereinstimmungspunkte unverwechselbar und treffend sind.

Martin der Dunkle Martin Heidegger (1889–1976) ist eine Ikone der Postmoderne. Er erzählt eine gnostische Geschichte, die sich wenig von der Erzählung Batailles unterscheidet. Die „Ähnlichkeit“ zwischen den beiden Autoren war bereits von einigen jüngeren Vertretern der Frankfurter Schule erkannt worden. Einige ihrer Gründer hatten nämlich Batailles Collège de sociologie besucht.104 Anders als Bataille hatte Heidegger wenig von einem Theoretiker an sich. Er war ausschließlich ein Mythenmacher, der aus der Quelle der Gnosis getrunken hatte. Seine Leistung besteht darin, jene alten Geschichten in eine moderne Schatulle gepackt zu haben. Daher bietet die Konzentration auf seine Behandlung der mythischen Quellen den besten Zugang zu Heideggers kaum verständlichen Schriften. So lässt sich verstehen, wie er darauf ein ganzes Denksystem errichten konnte. In diesem Zusammenhang bietet ein bestimmtes Mythenfragment des lateinischen Autors Hyginus, das Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit erwähnt, einen Einblick in seine Arbeitsweise. Es handelt sich um den Mythos der Göttin Cura („Sorge“). Sie formte den Menschen aus Lehm (Lehm war selbst eine Göttin, Tellus) und animierte ihn mit einem Geist, den Jupiter zur Verfügung gestellt hat. Während Körper und Geist nach dem Tode zu ihren Ursprüngen zurückkehren sollten, wurde Cura mit der Fürsorge für die Menschen, solange sie lebten, betraut. So lautete das Urteil Saturns.105 Unter den Händen von Heidegger wurde aus Cura eine nebulöse metaphysische Entität namens Dasein. Es entsprach grob einer Ansammlung von etwas, das Praktiker spiritueller Denkweisen Äonen oder Erzengel nannten. Äonen sind die GeistesFührer der Völker. Und Cura / Dasein könnte als eine willige, in sich geschlossene, geistige Manifestation der menschlichen Rasse angesehen werden. Heidegger wollte wissen, was uns in die Welt gebracht hat und uns zu dem gemacht hat, was wir in diesem seltsamen Kosmos sind. Aber, genauer gesagt, wollte er diese Fragen nicht durch den Rückgriff auf die traditionelle Rückführung auf Gott, an 104 Jürgen Habermas, „The French Path to Postmodernity: Bataille between Eroticism und General Economics“, in: New German Critique, no. 33, Herbst 1984: 79–102. 105 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984 [1953], S. 198.

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den er nicht glaubte, angehen. Und so stellte er sich die Menschen als Teilhaber an diesem existentiellen Organismus, dem Dasein, vor, das – wie es scheint – selbst auf der Suche ist, zu erfahren, was es wirklich ist. Was wir vielleicht als Politik, Ethik, Macht und Geschichte bezeichnen, waren für Heidegger „Wechselfälle des Daseins“, das heißt, weltliche Ausdrücke unseres Zugegenseins. Für Heidegger waren die irdischen, gequälten Berichte über unser Dasein der lebende Beweis dafür, dass die intuitiv ursprüngliche, gesunde Weise des Seins sich heute in der Welt, so wie sie ist, „gefangen“ und „umgarnt“ vorfindet, nämlich verstrickt in einer Welt der Entfremdung, des Unwohlseins und der Uneigentlichkeit. Kurz gesagt, das nihilistische Zeitalter ist das Heil-lose.106 Heidegger sagt, dass wir ins Da „geworfen“, in der Welt gestrandet sind. Dieses Bild eines existentiellen Schiffbruchs gehörte durch und durch der Gnosis an. Mit ihr war der deutsche Philosoph seit seinem Seminar zu diesem Thema im Jahr 1921 vertraut. Somit bestand die Aufgabe jedes einzelnen in der „De-Struktion“ der zeitgenössischen nihilistischen „Tradition“, um sein eigenes wahres Wesen zu enthüllen. Man musste zurückgreifen, nicht auf Gott, sondern auf das Sein, das heißt, auf ein Verständnis der Natur dieses fürsorglichen Geistes, in dem wir leben, bevor er den Seinsweisen der Moderne „zum Opfer gefallen“ war. Man musste „zurückkehren“. Diesen Prozess der Wiederannäherung an die echte Natur unseres Wesens nannte Heidegger „Existenz“. Sie ist Batailles tragisches Leben, jener Pfad, auf dem der Mensch den tiefsten Geheimnissen des Lebens begegnet. Was hat Heidegger schließlich auf dem Weg der „Existenz“ begriffen? Er verstand, dass der Diskurs, den er als „Logos“ bezeichnet, linear voranschreitet und vieles „begraben“ und „getarnt“ zurückließ, und dass unter dem Schleier der Rede, der Begleitmusik der Existenz, das Nichts, „die Nichtung“ liegt. Und das „eigentliche“ Nichts selbst – ist das nicht wieder jener versteckte, aber widersinnige Begriff eines seienden Nichts?107

Für den Mensch ereignete sich diese Offenbarung in einem Zustand der Angst. Bataille hatte ebenfalls bezeugt, dass sich die Enthüllung der Leere unfehlbar in einer schwindelerregenden Machtergreifung „der Angst“ (angoisse) ankündigt. Heidegger beschrieb Angst als Zustand der „verwirrten Ruhe“, die „uns unsere Sprache raubt“. Daraus schloss er, dass wir uns „ins Nichts geworfen“ vorfinden. Und die unaussprechliche Stimmung des Verfalls angesichts des „Unheimlichen“ unseres Lebendig-Seins, die selbst eine Erzählung des „Schweigens“ ist, findet ihren Höhepunkt im Bewusstsein unseres Todes. Die das Sein des Daseins ursprünglich durchherrschende Nichtigkeit enthüllt sich ihm selbst im eigentlichen Sein zum Tode.108

106

Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, Frankfurt a. M. 1996 [1955]. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? Bonn 1931, S. 14. 108 Heidegger, Sein und Zeit, S. 306. 107

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„Sorge“ taucht dann in Heideggers System als Therapie auf, durch die der Mensch wieder zu seinem „Wesen“ zurückgetrieben wird. Indem wir Sorge ausüben, dachte Heidegger, könnten wir vielleicht das Gefühl der archaischen Ursprünglichkeit zurückgewinnen – in Dingen wie „dem Hämmern“ des Schmieds, „dem Nordwind, dem Klopfen des Spechts, dem Knistern des Feuers“.109 Von solcher Reinheit war auch die „Erbschaft“ „eines Volkes gemacht“ und nur das „Schicksal“ würde die Menschen in ein Miteinander bringen“, in den Schoß der „Gemeinschaft“.110 Aus einer solch fürsorglichen Hingabe an den Wink des „Seins“ folgte in der Tat eine enge Beziehung zu „Macht / Wissen“. Diese eigentümliche Beziehung zu einem wiederentdeckten Dasein ermöglichte diesem durch uns zu sprechen und nicht, dass wir uns durch das Dasein äußern. Wir werden durch das Dasein bewusst, jetzt, da wir uns existentiell als „Leutnants des Nichts“ erkannt hatten. Dies war eine weitere Verfeinerung, die Foucault ausdrücklich übernommen hat. Dagegen war Heideggers Entsprechung für Batailles Akephale die Metapher der „Lichtung“. Die „Lichtung“ war der Raum des Lebens, dessen Ausdehnung beschränkt und dessen Gefilde eingegrenzt waren und zwar durch einen historisch verbundenen Prozess der Verhüllung und Enthüllung, durch die die gegensätzlichen Modi des Seins (Licht und Dunkelheit) wiederholt und tragisch offenbaren, dass jenseits davon das Nichts existiert. Diese Neubearbeitung des gnostischen „Gottes, der nicht ist“, der seine Nichtigkeit im Zusammenspiel von Lichtblitz und Schatten bekennt, konnte wiederum den Dekonstruktivismus inspirieren, der mit Spuren und verwischten Bedeutungen spielt. Heidegger machte von den klassischen Quellen „kreativen“ Gebrauch, um seine Umrüstung der Gnosis zu „unterstützen“. Er machte sich in diesem Sinne zum Direktor der postmodernen Grabräuber. Seine Anstrengungen, die Vorsokratiker interpretativ auszuschlachten, sind berühmt geblieben. Kojève und besonders Strauss, waren von diesem philologischen Abrakadabra beeindruckt und für immer geprägt. Betrachten Sie als rührendes Beispiel, wie Heidegger Dasein aus den Fragmenten des Heraklit herausgewrungen hat. Ausgangspunkt war Fragment Nr. 16: „Wie kann einer sich bergen vor dem, was nimmer untergeht?“ Wandelt man das, „was niemals untergeht“ in das, „was immer aufgeht“ um, erhält man das Verb φύναι (leben, aufgehen). Das findet sich nicht bei Heraklit, wohl aber das verwandte Wort φύσις (Natur). Tatsächlich besagt Fragment Nr. 123: „Die Natur liebt es, sich zu verbergen“, was wieder auf φύναι anspielt. Heidegger machte daraus „die Entstehung (aus der Verborgenheit) begünstigt die Verschleierung“. Um den Ersatz des ursprünglichen „was immer aufgeht“ statt des „was nimmer untergeht“ zu rechtfertigen, sucht Heidegger bei Heraklit nach einem anderen Wort, das sich auf das Verb „leben“ bezieht. Er fand es in „immer lebend“, das sich in Fragment Nr. 30 findet: „Die Weltordnung, dieselbe für alle Wesen, schuf weder einer der 109

Ibd. S. 69, 163. Ibd. S. 383, 386.

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Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, aufglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.“ „Immer lebend“ führt hier das Wort „Feuer“ ein, das Heidegger als das „(Opfer-)Feuer des Lichtens“ liest. Und da „lichten“ aus derselben Wurzel wie „Lichtung“ hervorgeht, folgt, dass er Fragment Nr. 16 endlich „Wie könnte jemand vor ihm verborgen bleiben, das heißt, von der Lichtung?“ übersetzt.111 Was für Heidegger zweifellos bedeutete, dass Menschen und Götter in ihrem gegenseitigen Bezug auf das „Feuer der Welt“, sich für immer in der Öffnung der Lichtung befanden, wobei alle manchmal vom Licht enthüllt, und manchmal von den Schatten als Vorboten der bevorstehenden Enthüllungen verdeckt werden. Heraklit gilt als „der Dunkle“ (ό σκoτεινός). Und das würde er auch in Zukunft sein, schloss Heidegger, weil er daran dachte, die „Lichtung“ in Frage zu stellen. Nun sollte es natürlich gewisse politische, pragmatische Lösungen für alle diese Spekulationen geben. Sie fanden bekanntlich ihren Ausdruck in der Vermutung, Hitler und seine Bewegung könnten geradezu die schicksalhafte, gemeinsame „Rückkehr“ zum reinen Dasein verkörpern, nach dem sich Heidegger sehnte. Immerhin hatten alle Nazi-„Theologen“ ebenfalls von Deutschland wie von einem Juwel gesprochen, das von der Schlacke des „jüdischen“, „liberalen“ Geistes verkrustet war.112 Am 27. Mai 1933 hielt Heidegger als Kanzler der Universität Freiburg seine berüchtigte Rektoratsrede, die eine faszinierende Verbindung zwischen der westlichen philosophischen Tradition und dem „Willen“ des außergewöhnlichen Aufstiegs des Nationalsozialismus anzeigte. Heidegger betonte voll Erwartung den „geistigen Auftrag des deutschen Volkes“, der dafür sorgen würde, dass „Wissenschaft und deutsches Schicksal zumal im Wesenswillen zur Macht kommen“.113 Interessanterweise nahmen die meisten Ansprachen Heideggers in seinen zehn militanten Monaten ständig Bezug auf die Machtentfaltung durch die Mobilisierung der „deutschen Arbeiter“, die er als die echten Schwinger des ursprünglichen Hammers ansah. Die soziologische Einsicht hatte er zugegebener Maßen aus Jüngers Essay Die totale Mobilmachung (1930) und aus dessen zweideutigen Traktat „Der Arbeiter“ (1932) entliehen. Heidegger hatte über beide Werke Jüngers Seminare abgehalten und diesen ausdrücklich in einer Rede im November 1933 erwähnt.114 Der Arbeiter war eine zweideutige Abhandlung, weil Jünger, der sich innerlich nie zur neuen Realität der Arbeitermassen in Deutschland hingezogen 111 Heidegger, Sein und Zeit, S. 220 (Kap 6 § 42 f.) (Preparata zitiert nach Martin Heidegger, „Aletheia“, in: Saggi e discorsi, Mailand 1976 [1943]), S. 180–92. Dazu Heraklit in: Herman Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Hamburg 1957, S. 25 f. 112 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998. 113 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1990. 114 Ibd. S. 133.

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fühlte, sie darin eindeutig als heroische Betreiber mit der Absicht gefeiert hatte, in Deutschland den vielversprechenden Nazi-faschistischen Ansturm gegen die Weimarer Republik durchzusetzen.115 Doch als Hitler die Macht ergriffen hatte, zog sich Jünger, wie gesagt, geschickt zurück, während Heidegger das nicht tat. Er benahm sich wie ein Narr, sagte Jünger Jahre später, weil er dachte, etwas Neues würde sich am Horizont anbahnen. Dies sollte zeigen, schloss Jünger, dass Heideggers Sicht nicht so klar war, wie die seine.116 Auch wenn Jünger nicht Heideggers Militanz für die Nazis gegen ihn ausspielte, sollten Heideggers postmoderne Bewunderer von Lyotard117 bis Strauss118 immer wieder ihre größte Bestürzung über die „Ausrutscher“ ihres neo-gnostischen Lehrers zum Ausdruck bringen. Am traurigsten von allen war Heidegger selbst: Mein Irrtum, würde er über jene „10 Monate“ als Universitätskanzler mit Bedauern sagen. Doch man hat ihm verziehen. Er war in dieser Hinsicht der einzige, dem vergeben wurde. Seine westlichen Parteigänger ließen Heidegger mit einem blauen Auge davon kommen und haben bis heute seine Werke in großer Anzahl immer wieder ver­ öffentlicht, neu übersetzt und beschönigt. Jünger hatte weiter gesehen, doch war er zu gefährlich. Heidegger war dagegen so dunkel, dass man aus seinen Texten alles und das Gegenteil herauslesen konnte, und die bequeme akademische Anstellung erlaubte es ihm, sein Erbe ungestört fortzusetzen. Genauer gesagt, Heidegger wurde im Westen noch benötigt. Verehrt von der französischen postmodernen Linken wurde er im sich mitleidlos amerikanisierenden Westen gebraucht, den es nach dem Krieg noch mehr nach einer antihumanistischen „neuen Ausdrucksweise“ verlangte,119  – nach etwas „Anspruchsvollem“, um damit den innigsten üblen Wunsch unserer Zeit auszudrücken: Nämlich zu beweisen, dass Güte kein Prinzip ist, das triumphieren soll.

Kojève: Der Pierre Menard der Postmoderne Wie eingangs zu diesem Kapitel erwähnt, verweist das Verbindungsstück zwischen den linken und rechten Gruppierungen der Postmoderne richtiger Weise auf Kojève (1902–1968), dem Lehrer Batailles und Weggefährten von Leo Strauss. De­ xtremen. ren Einsichten bilden eine Art gemeinsame Schnittmenge zwischen den E Das Eigentümliche an Kojève war sein „Stil“. 115

Vanoosthuyse, Fascisme, S. 115–40. Hervier, Entretiens, S. 68. 117 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 68. 118 Leo Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy, Chicago und London 1983, S. 30. 119 George Steiner, Heidegger, Hassocks, Sussex 1978, S. 148. 116

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Jorge Luis Borges hatte einmal einen kurzen Roman über einen Autor namens Pierre Menard geschrieben, der sich drei Jahrhunderte nach der ursprünglichen Komposition von Cervantes Don Quijote im Wahn vorgenommen hatte, noch einmal, Wort für Wort, Fragmente aus diesem Werk nachzuschaffen. Die ironische Subtilität der Erzählung lag in der Annahme, dass der gleiche Satz Jahrhunderte später „komponiert“ eine ganz andere, ominöse Bedeutung erlangen könne. Eine Trivialität aus den 1600er Jahren könne plötzlich dem modernen Leser „­ Nietzsche-artig“ vorkommen. Das Original bildet somit etwas wie ein „Palimpsest“: Wörter, die beliebig eine Vielzahl von Ideen vermitteln können.120 Es stellte sich heraus, dass Borges Stück überhaupt kein fiktives Experiment beschrieb, sondern eine verblüffende Verspottung der perfektionierten Verfahren der Grabräuberei darstellte, die Kojève in den 30er Jahren mit Bezug auf Hegel und, in den folgenden zwei Jahrzehnten, Leo Strauss im Hinblick auf die Klassiker praktiziert hatten. Alexander Wladimirowitsch Kojevnikow war ein Neffe Wassily Kandinskys. Er hatte sich 1926 in Paris niedergelassen und seinen Namen in Alexandre Kojève geändert. Dort hielt er auf Einladung eines anderen russischen Emigranten, des Philosophen Alexandre Koyré an der École Pratique des Hautes Études von 1933 bis 1939 Vorlesungen über die Philosophie Hegels. Sechs Jahre lang saß eine kleine, aber äußerst bedeutende Gruppe von Eingeweihten ­Kojève zu Füßen. […] Bataille ließ jede Begegnung mit Kojève „gebrochen, zermalmt, zehn Mal getötet, erstickt und festgenagelt“ zurück.121

Kojève hatte Hegel mehrfach „ohne ein Wort zu verstehen“ gelesen.122 Doch dann kam er, wahrscheinlich inspiriert durch Heidegger, den er für ein „Philo­ sophiegenie“123 hielt, auf die Idee, Hegels Erzählung fast wörtlich wiederzugeben. Durch die Auswahl und die kunstvolle Betonung bestimmter Passagen, gelang es ihm, die gleichen alten Mythen – nicht die von Hegel – sondern diejenigen der Postmoderne nachzuerzählen. Nach Kojève ist der Mensch aus der Leere hervorgegangen. Wie das geschehen sein soll, konnte Kojève nicht verständlich ausdrücken. Doch danach hatte das Spiel des Lebens eingesetzt. Was es antrieb, war „der Wunsch nach Anerkennung“. Er ging davon aus, dass Menschen miteinander gewalttätig um die Vorherrschaft stritten. „Ohne diesen Kampf auf Leben und Tod um das Prestige,“ lehrte Kojève,

120 Jorge Luis Borges, Labyrinths. Selected Stories & Other Writings, New York 1964 [1944], S. 42–3. 121 Mark Lilla, The Reckless Mind. Intellectuals in Politics, New York 2001, S. 122. 122 Ibd. S. 119. 123 Alexandre Kojève, Le concept, le temps et le discours. Introduction au système du savoir, Paris 1990 [1956], S. 33.

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„hätte es nie Menschen auf der Erde gegeben“.124 Der Streit hatte zwangsläufig im Verhältnis von Herr und Knecht geendet. Der Mensch sah im anderen ein feindliches Tier, das zu überwinden – zu unterwerfen, aber nicht zu töten war. Anders wäre es dem Sieger nicht möglich, seinem geschlagenen Gegner die Ehrfurcht und den Respekt zu entlocken, die man heute einem souveränen Herrn schuldet. Die Herren waren Herren und „frei“, weil sie „ihr Leben riskiert hatten.“ Als Ergebnis brachten sie es zu einer versorgten Klasse, einer Klasse, die von der Plackerei einer Menge (multitude) von Dienern ernährt und unterhalten wird. Doch nach Abschluss der Eroberung, wenn nur noch ein Herr seinem Knecht gegenüberstand, konnte der souveräne Krieger keinen Stolz aus der Erkenntnis gewinnen, dass der Knecht ihm duckend zustimmte. Der Herr konnte sich nicht länger auf den Tod berufen. Daraus folgte, dass nur der Sklave die Existenz ertragen und ein „erfülltes“ Leben führen konnte, aber nicht sein Herr. Geschichte war daher die Geschichte der Fortschritte des Sklaven. Sie war die Erzählung seiner Befreiung aus der Todesangst. Der Sklave bannte den Tod dadurch, dass er werktätig war. Durch die Entwicklung der „Technik“ zur Er­haltung des Lebens bemühte er sich um seine Emanzipation vom Herrn.125 Die qualvolle Plackerei des Sklaven, um dem Tod zu entkommen, bildete ein existentielles Drama, dessen alleiniger Ausgang nur Arbeit, „Wahnsinn und Verbrechen“ waren. Nur die Arbeit erlaubte dem Sklaven, die Angst („angoisse“) zu überwinden, die sich ihm als eine sinnlose und unerträgliche Existenz im feindlichen Bereich des Herrn darstellte. Von daher rührt die Entfaltung des industriellen Wohlstands, des „Fortschritts“.126 Im Bemühen, sich in der Zeit aus den Fängen der irdischen Leibeigenschaft zu befreien, gab sich der Sklave selbst Gott hin, und zwar war er als Christ immer noch Diener aber nun eines göttlichen Herrn. Als die letzten Krieger-Herren des Feudalismus verschwanden, brachte die Geschichte den „Bourgeois“ hervor, der in seinem Innersten ein „herrenloser Sklave“ war. Damit betreten wir das moderne Zeitalter. Als der Bürger schließlich ganz zum „Vernunftmenschen“ geworden war, wurde sein Christentum völlig überflüssig, denn Geschöpfe der reinen Vernunft sind per definitionem „im Wesentlichen gottlos und atheistisch“.127 Um 1800 war diese Umwandlung abgeschlossen. Der Anlass für Tyrannei löste sich auf, als der neue, moderne Staat sich als ein stabiler, unveränderlicher, sozialer Organismus herausbildete. Beide, die Pseudoherren ohne Sklaven (die Aristokratie) und die Pseudosklaven ohne Herren (die Bourgeoisie), glaubten an Gott, und hatten so den Weg für die undifferenzierte Masse der modernen Bürger freigemacht. Der Bürger war die Synthese von Herr und Sklave: Sie waren zugleich 124 Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit. (Professées de 1933 à 1939 à l’École des Hautes-Études réunies et publiées par Raymond Queneau) Paris 1947, S. 14. 125 Ibd. S. 28. 126 Ibd. S. 17–32. 127 Ibd. S. 66–80.

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Soldaten, die arbeiteten, und Arbeitnehmer, die Kriegsdienst taten. Führer und Tyrannen waren selbst nur (etwas größere) Räder im Uhrwerk. Diese „totale“ und „endgültige“ Wirklichkeit übernahm die Bezeichnung „universeller und homogener Staat“. Dies war der mechanisierte Bienenstock, in dem der „Diskurs“ der Menschen zur „Bienensprache“ verkam. In einem solchen Staat waren daher prinzipielle Änderungen und Revolutionen unmöglich. Der Staat würde für immer mit sich selbst identisch bleiben: Das war das Ende der Geschichte.128 Ebenso verloren Geschenke, Liebe und Nächstenliebe ihre Bedeutung, weil ihre Möglichkeit ausschließlich auf der Ungleichheit beruhte, das heißt, auf dem Wohlwollen, also dem Vorrecht des Herrn, sie dem Untergebenen zukommen zu lassen.129 Hier findet man die de Sadesche Sinnlosigkeit des Geschenks in einer Formulierung, die offensichtlich einen Eindruck bei Bataille hinterlassen hatte. Wer würde im universalen Staat das Erbe des Herren-Kriegers von einst antreten, den Kojève so leidenschaftlich verehrt hat?130 Das sollten die „Weisen“, oder diejenigen sein, denen Kojève eine von Hegel ausgeliehene Bezeichnung, „Männer des Weltlaufs“ anhängte, das heißt, die Klugen, die mit den Veränderungen spielend fertig werden. Der Mann des Weltlaufs ist derjenige, der den Lauf der Dinge hinnimmt und in ihn eingreift, er ist frei hinsichtlich des Auftrags, den er wahrnimmt, und von dem er profitiert. Er kann diesem Auftrag alles aufopfern, alle Ideologie und sogar sein Leben. Er ist ein Herr. […] Er ist immer dem Mann der Tugend überlegen, dessen Ideologie den Lauf der Geschichte nie ändert. […] Der Kluge begnügt sich damit zu verstehen.131

Bataille hat sein Konzept der Heterogenität von Knecht und Herr offensichtlich in Kojèves Lehrveranstaltungen gewonnen. In Anspielung auf Kojèves „Ende der Geschichte“ kommentierte Bataille Jahre später, „das Ende der Geschichte ist der Tod des eigentlichen Menschen.“ Er sah im Ende der Geschichte eine Wahrheit, die „so gut wie jede andere etablierte Wahrheit“ ist. Und in einer solchen Entwicklung kann sich der Mensch das Gefühl, Mensch zu sein, nur dadurch erhalten, dass er „die Unterschiede, die sie voneinander trennen“ hervorhebt.132 Das Ende der Geschichte und die schicksalshafte Konstituierung des UniversalStaats ist einer der Glaubensartikel der Postmoderne. Bisher hat sich die Linke mit jubilierender Überzeugung daran geklammert,133 – immerhin war der homogene Staat der authentische Vorläufer der „Globalisierung“.134 Was wir jetzt zu fühlen beginnen, und was sich deshalb als eine tiefere und fundamentalere Verfassung der Postmoderne selbst zu ereignen beginnt, ist […] dass sich künftig, 128

Ibd. S. 98, 99, 114, 145. Ibd. S. 260. 130 Drury, Kojève, S. 21. 131 Kojève, Introduction, S. 90, 146. 132 Bataille, OC, S. 11:362, 363. 133 Drury, Kojève, S. 26. 134 Lilla, Reckless Mind, S. 121. 129

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wenn sich schon jetzt alles dem ständigen Wandel der Mode und der Medienbilder unterwirft, nichts mehr ändern kann. Das ist die Bedeutung von [Kojèves] Wiederbelebung des „­Endes der Geschichte“.135

„Überwältigt“ von Kojèves apokalyptischer Darstellung „dieser genialen Tyrannei“, die „sich primär im Kopf abspielt“, sind den Postmodernen Zweifel gekommen, ob diese Tyrannei je wieder überwunden werden könne. Nachdem sie den Glauben an die Kraft der Rebellion verloren hatten, „romantisierten sie den Akt der Sabotage“.136 In diesem Zusammenhang hatte Heidegger im Jahr 1955 höflich Jünger gegenüber angedeutet, dass die „Überquerung der Linie“, die Jünger empfohlen hatte, in der Tat eine Vortäuschung war.137 Daraus ergab sich die Vorstellung des Anarchen, eine, die Kojève mit dem Konzept des Menschen des Weltlaufs selbst voll und ganz entwickelt hatte. Tatsächlich schien Kojèves „Menard-artige“ Neutranskription von Hegel eine siebdruckartige Kopie aller Skizzen Jüngers hervorgebracht zu haben. Wieder stoßen wir hier auf die Geschichte des Ritters, der den Tod liebt und den das bürgerliche Handwerkertum in den Untergang getrieben hat. Sie handelt des weiteren von der Geschichte der bürgerlichen Revolution, der ein technisch-industrieller Schwarm insektenhafter SoldatenWerktätiger folgt, die den Diskurs von Bienen im universalen Weltstaat führen, dessen Wirklichkeit nur eine Avantgarde „anarchischer“ Kluger anerkennen kann. Was Kojève während der Nazi-Besatzung in Frankreich getan hat, ist nicht bekannt. In der Zeit des Kalten Krieges tauchte er als aktiver Bürokrat der neu gegründeten Europäischen Gemeinschaft wieder auf und war entschlossen, seinen Beitrag als Geburtshelfer des Universalstaates zu leisten. Während dieser Zeit wurde er stets als Sowjetagent verdächtigt.138 Wie Jünger und Heidegger,139 sah auch Kojeve keinen qualitativen Unterschied zwischen den USA und der UdSSR. Beide galten ihm als Manifestationen des universellen, homogenisierenden Prozesses in Richtung „Animalisierung“ (Vertierung) der sozialen Organisation. Für ihn war Amerika der Inbegriff der „nachgeschichtlichen“, brutalen Zufriedenheit in einer Welt des Überflusses. Im Jahr 1948 sagte er voraus, dass die Vereinigten Staaten, der effizientere der beiden Rivalen, den Kalten Krieg allein auf die Wirtschaft gestellt gewinnen würde, und dass China bald in die Auseinandersetzung eintreten werden. Bataille hatte soviel auch schon im Jahr 1946 vorhergesehen.140

135

Frederic Jameson, The Jameson Reader, ed. Michael Hardt, Kathi Weeks, Oxford 2000, S. 244. 136 Drury, Kojève, S. 84. 137 Heidegger, Zur Seinsfrage. 138 Die Behauptung stammte vom ehemaligen Direktor der KGB Archive, Vassili ­Mitrokhin: „Le KGB avait tissé un vaste réseau d’influence en France“, in: Le Monde, September 16, 1999, S. 14. 139 Drury, Kojève, S. 73. 140 Bataille, OC, S. 11:134.

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Kojève pflegte seine Sehnsucht nach der verlorenen Kunst des Herren-Kriegers mit einem Japan-Besuch. Die dortige Seppuku-Praxis der Samurai  – den „vollkommen grundlosen Selbstmord“  – verstand er als Ausdruck von „Snobismus“ (eine Variante von Jüngers désinvolture). Snobismus war somit für Kojève die einzige Verhaltensweise, die Anarchen wie ihm selbst in einer Zeit des nihilistischen Niedergangs möglich war. Die postmoderne Darstellung unseres kollektiven Lebens als das einer „unerotischen“141 – so würde Jünger sagen – digitalen Truppe scheint viel zutreffender zu sein, als die Schilderung des Liberalismus, der die Gesellschaft als eine atomisierte Masse selbstbewusster Individuen darstellt, die ihre Freiheiten auf dem Markt zum Ausdruck bringen. Die zentrale Unwahrheit bei Kojève ist jedoch seine moderne, konventionelle Hypothese, dass sich Menschen in ihrer rohen Verfassung nur im brutalen Wettstreit selbst behaupten, dass man Anerkennung nur durch Gewalt erreicht. Nicht weniger falsch ist die Behauptung, dass „brüderliche Liebe“, wie im Christentum, eine Erfindung ist, die aus der ursprünglichen Schwäche der Sklaven entstanden sei. Für das Christentum eigentümlich war seine Lehre der „Widerstandslosigkeit“ (die andere Wange hinzuhalten). Sie galt Kojève als ein Zug, der durch gewohnheitsmäßige Unterwerfung, wie während des Römischen Reiches, verstärkt worden war. Doch aufgrund neuer anthropologischer Forschungsergebnisse ist brüderliche Liebe ein „elementares Merkmal [unserer] Spezies“. Nur auf Kosten dieses Merkmals konnte ein Rückfall in barbarische Ausflüchte und Nachahmungen – das heißt, in die „Souveränität“ – wieder an Boden gewinnen.142 Dies will besagen, dass selbst wenn das Aufkommen des Universal-Staats Wirklichkeit werden sollte – eine Wirklichkeit, die in sich noch immer durch einen gewaltigen Aufwand an barbarischer Gewalt (nicht nur durch mechanisierter Zerstörung) gespalten ist, – so besteht doch Hoffnung, dass diese düstere homogenisierende Entwicklung mit ihren Kriegen, ihrer Armut und ihren Umwelt-Verwüstungen unter Berufung auf unseren angeborenen Instinkt zum gegenseitigen Beistand konfrontiert und überwunden werden kann.

Leo der Schmutzige Prometheus: Mit Zeus ist’s aus. Pisthetairos: Ist’s aus? Der Tausend! Und seit wann? Aristophanes, Die Vögel143

Der Trubel um Leo Strauss (1899–1973) hat anscheinend im November 1994 begonnen, nachdem die Republikaner zum ersten Mal seit 1952 wieder die Kon 141

Jünger, Gläserne Bienen, S. 112. Thorstein Veblen, „Christian Morals and the Competitive System“, in: Essays in Our Changing Order, New York 1934, S. 200–18. 143 Aristophanes, Komödien Zweiter Band, übersetzt von Ludwig Seeger, o. J., S. 155. 142

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trolle über das Repräsentantenhaus gewonnen hatten. Im Vorfeld der Wahlen hatten die republikanischen Hauptdarsteller, darunter mehrere Straussianer, mit auffälligem Brimborium einen predigtartigen Eifer in die konservative Propaganda eingeflochten. Die Betonung religiöser Werte war in dieser Zeit besonders ausgeprägt. Der „religiöse“ Schlenker der ‚Guten Alten Partei‘ hatte die liberalen Medien alarmiert. Die New York Times hatte parteiisch eine Kampagne gegen die vermeintliche Inspiration solcher frommen und (in den Augen der New York Times) rückwärtsgewandten Erregung begonnen: Sie klagte Leo Strauss als „Paten“ des bigotten Wahlsiegs der Republikaner an. Das Manöver der Times hatte seitdem die Grundlage für die Annahme gelegt, der Einfluss von Strauss habe eine dramatische Verschiebung in der Politik bewirkt und die Demokratie in Amerika untergraben. Doch das ist nicht wahr. Zufällig passte dieser Typ eines Propagandisten recht gut zum Vorgehen einer Fraktion von Wirtschaftskreisen, die dringend Krieg wünschten. Dieser Typ entsprach einem Intellektuellen der Strauss’schen Schule. Denker gestalten nicht die Politik, schon gar nicht posthum. Sie legen teilweise eher die ideologische Färbung der Partei offen, die sich entschieden hat, den Jargon einzusetzen, den jene ent­ wickelt hatten. Die Straussianer traten im Kabinett von Bush II (2001) wieder in Erscheinung. Nach dem 11. September wurde die Vermutung entfacht, der sich daran an­ schließende Krieg gegen den Terror mit seinen Desinformationen, der KreuzzugRhetorik und den meist nur arabischen Toten sei ebenfalls Strauss zu verdanken. Die Vermutung wurde vom Demokratischen Lager in dem Bemühen aufgegriffen, ihre republikanischen Rivalen durch die Unterstellung zu dämonisieren, dass sie unter den Einfluss eines undemokratischen, obskuren Gurus geraten seien. Allerdings standen die Schuldzuweisungen an den bereits verstorbenen Strauss auf schwachen Füßen. Die meisten gegen Bush gerichteten Medien-Machwerke, die den Neokonservatismus erwähnten, warfen im Wesentlichen Strauss vor, den zweiten Krieg gegen den Irak (im März 2003) posthum veranlasst zu haben. Der Philosoph wurde angeklagt, weil Paul Wolfowitz, der damals maßgeblich als zweiter Mann im Pentagon den Krieg vorangetrieben hatte, in Chicago ein Schüler Allan Blooms, des bekanntesten Strauss-Schülers, war. Offensichtlich handelte es sich dabei um eine ziemliche Übertreibung. Ergebene Straussianer wie der Gelehrte Francis Fukuyama, dessen Bücher sich immer einer ungewöhnlich hohen Unterstützung durch das Establishment erfreuen können, traten öffentlich auf und nannten ein solches Insistieren auf Strauss 30 Jahre nach seinem Tod „leichtfertig“ und „albern“.144 Strauss’ Anhänger leugnen das geistige Fehlverhalten ihres Meisters und behaupten, seine außergewöhnliche „Wissenschaftlichkeit“ und seine rein spekulativen Gedanken würden ihn 144

Francis Fukuyama, America at the Crossroads. Democracy, Power, and the Neoconservative Legacy New Haven, CT; London 2006, S. 21.

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über die politischen Streitereien, und damit über die Verleumdung seiner jüngsten Kritiker, hinausheben. Trotzdem bleibt es Tatsache, dass Straussianer „beteiligt waren“.145 Sie hatten in Washington als Hauptpublizisten des Regimes Teil an der Macht. Ihre große Anzahl in der Akademikerschaft wurde von ihren Kritikern als „erschütternd“ wahrgenommen, und es besteht kein Zweifel, dass diese Strauss-Professoren bisher herzlich wenig unternommen haben, um der verbreiteten Kritik an ihrem Avatar überzeugend zu begegnen, gleichgültig für wie leichtfertig oder albern sie diese möglicherweise gehalten haben. Um es zu wiederholen, die Einbeziehung von Strauss in die zeitgenössische Debatte spiegelt lediglich die Dringlichkeit wieder, die Streitlust des öffentlichen Diskurses seitens eines Regimes zu untermauern, das im Unterschied zu seinen Vorgängern in Rekordzeit auf bedeutsame Änderungen (d. h. Eroberungen) aus ist. In diesem Kontext, im Rahmen dessen, wie sich die Äußerungen des herrschenden Imperiums zu diesem kritischen Zeitpunkt in besonderer Weise entwickelt haben, ist es sinnvoll Straussens Einwirkungen daraufhin zu untersuchen. Dies macht umso mehr Sinn, als seine Aussagen zu den wichtigsten Beispielen einer „rabiaten, radikalen, [und] nihilistischen Postmoderne“ zählen. Darauf hatte zuerst ein führender Verächter des Neokonservativismus hingewiesen.146 Der Fall Strauss ist nicht ohne Reiz. Den „abstrusen“147 und „wenig durchschaubaren“ Strauss um­gaben allmählich immer mehr „unkritische Anhänger“.148 Deren Verehrung brachte ihm andererseits den Status „eines der meist gehassten Männer in der englischsprachigen akademischen Welt“ ein.149 Was wie eine „Sphinx ohne Geheimnis“ in Escheinung getreten war,150 hatte im Mief der Vertraulichkeit eine Art „Kultbeziehung“ zwischen Meister und Schülern geschaffen. Strauss scheint seine Berühmtheit eher der Verbreitung seiner Botschaft durch diese Jünger als derjenigen seiner Werke zu verdanken.151 Strauss kam Anfang der dreißiger Jahre auf der Flucht aus Hitler-Deutschland über England nach Amerika. Er lehrte in den Vereinigten Staaten vor allem an der Universität von Chicago bis in die späten sechziger Jahre. Methodologisch waren seine Lehrer Heidegger und Kojève. Der philosophische Respekt, den sie [Strauss und Kojève] für einander hegten, war grenzenlos. Nach der Lektüre von Kojèves Introduction à la lecture de Hegel (1947, dt.: Hegel,

145

Alain Franchon/Daniel Vernet, L’Amérique messianique. Les guerres des Néoconservateurs, Paris 2004, S. 131. 146 Shadia B. Drury, The Political Ideas of Leo Strauss, New York 2005 [1988], S. IX. 147 Joshua Muravchik, „The Neoconservative Cabal“, in: The Necon Reader, ed. Irwin Steltzer, New York 2004, S. 248. 148 Stephen Holmes, The Anatomy of Antiliberalism, Cambridge, MA 1993, S. 61. 149 Stanley Rosen, Hermeneutics as Politics, New York, Oxford 1987, S. 107. 150 Holmes, Antiliberalism, S. 61. 151 Drury, The Political Ideas, S. 1.

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Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, 1958), stufte es Strauss auf Anhieb als das brillanteste Beispiel modernen Denkens seit Heideggers Sein und Zeit ein, jedoch ohne, fügte er hinzu, „die feigen Unklarheiten Heideggers“.152

Heidegger hatte entstellt, verzerrt und neu geordnet aber Kojève hatte nur selektiv Aufgenommenes wiedergekäut. Strauss entlieh sich von beiden etwas und gab es paraphrasierend wieder. Das lässt vermuten, dass sein „Stil“ nicht der Rede wert war. Was seine hochgelobte „Beherrschung“ der antiken Klassiker anbelangt, machte sie eine armselige Figur im Vergleich zu den monumentalen Leistungen der Wilhelminischen Schule der Philologie in Deutschland. Strauss’ Technik, oder deren Fehlen, bestand in der ungenießbaren Zusammenfassung klassischer Texte, die durch dazwischen geschobene Kommentare und mit Hilfe von momentanen Abwertungen, Betonungen und Ausblendungen, – ähnlich wie bei Heidegger – das übliche postmoderne Erlebnis der Leere, der Gewalt und des Herrn und Knecht hervorbringen wollte. Der Leser muss [den Reden] etwas hinzufügen und von ihnen weglassen, um die Lehre zu begreifen. Das Hinzufügen und Weglassen bleibt nicht der willkürlichen Entscheidung des Lesers überlassen. Es wird von Andeutungen des Autors geleitet. […] Dennoch bleibt eine gewisse Zweideutigkeit bestehen.153

Wie sich Strauss ausdrückte, „drehte er das Licht herunter“, und flüsterte, um den Hauch eines tiefen Geheimnisses zu bewirken: „Heute sei die Wahrheit nur über bestimmte alte Bücher zugänglich.“ „Intelligente und vertrauenswürdige Leser“ könnten sie „nur zwischen den Zeilen lesen“ und so die eindrucksvollen Geheimnisse entschlüsseln, die die Alten verschlüsselt hatten, um sich der „Todesstrafe“ zu entziehen.154 Obwohl der Weg zwischen einer ordentlichen Professur an der Universität von Chicago und dem Schafott nicht geradlinig war, glaubte Strauss trotzdem, selbst eine ähnlich prophetische „Pflicht“ zu erfüllen. Sie bestand ganz einfach darin, dass Amerikas politisch korrekte Sprache mit ihren deistischen Obertönen und dem stets zu bekennenden Glauben an die Demokratie sich eine ausgesprochene Anpreisung von Ungerechtigkeit, Oligarchie und Verlogenheit nicht leisten konnte. Denn dies waren, wie wir gleich sehen werden, Strauss’ Grundsätze. Er dachte gelegentlich sogar daran, zahlensymbolische Clownerie als kluge Aufmacher einzusetzen. (Machiavellis Schrift) Der Prinz besteht aus 26 Kapiteln. Sechsundzwanzig ist der Zahlenwert der Buchstaben des heiligen Gottesnamens auf Hebräisch. […] Aber wusste das Machiavelli?155

In der Rolle des strengen Kabbalisten versuchte er dem Leser die Vorstellung zu verkaufen, dass seine Bücher, wie die Bibel, zwei Bedeutungsebenen hätten: Eine 152

Lilla, Reckless Mind, S. 131. Leo Strauss, On Tyranny, New York 1993 [1948], S. 66. 154 Leo Strauss, The Persecution und the Art of Writing, Westport, CT 1976 [1952], S. 25 und 154. 155 Strauss, Studies, S. 223. 153

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exoterische, populäre Hülle für normale Sterbliche, und den esoterischen Nektar für philosophische Übermenschen wie ihn selbst, Kojève & Co. Strauss wollte uns mit der „Kunst der Enthüllung durch ein nicht Aufdecken und die des Verbergens durch Aufdecken“ benommen machen.156 Nichts verdeutlicht Strauss’ Pseudo-Hermeneutik besser als seine Manipulation an Aristophanes’ Komödie Die Wolken. Die Hauptspannung des Stücks dreht sich um die Schule des Sokrates. Dort lehrt man „für’s Geld die Kunst, mit Worten Recht oder Unrecht glücklich zu verfechten“.157 Durch und durch unhistorisch158 stolziert bei Aristophanes ein Sokrates als aufgeblasener Scharlatan über die Bühne, der einen bizarren trinitarischen Kult der Leere (des Chaos), des ursprünglichen Äther (die Wolken) und des Diskurses proklamiert.159 Der Diskurs wird durch zwei Charaktere verkörpert: den Anwalt der gerechten und den der ungerechten Sache. Erstere entspricht dem romantischen Bericht von einem goldenen Zeitalter (Das Es-war-einmal als die Menschen noch aufrecht gingen), letztere typisiert stattdessen die neue, gefühllose Rede der modischen, ungerechten, schlüpfrigen, untreuen und eigennützigen Mehrheit. Durch die ungerechte Rede ließ Aristophanes – innerlich ein verärgerter Nostalgiker – eine Tirade auf das Publikum los, in der er alle von den Armen bis zu den Reichen den „Arschfickern“ zurechnete.160 Die Wolken legen dar, wie ein Jugendlicher, dank der rhetorischen Ausbildung durch Sokrates, durch logische Deduktion zu dem Schluss findet, dass nichts daran falsch sein dürfte, seine eigene Mutter zu verprügeln. Strauss schiebt – Gott weiß wieso – hier ein, dass der Jugend so die Möglichkeit des „Inzests“ nahegebracht worden sei.161 Entsetzt wegen der Indoktrination seines Sohnes im Denktopf steckt der Vater des Jugendlichen die sokratische Akademie in Brand. Meister und Schüler entfliehen. Strauss war von Aristophanes’ Darstellung des Sokrates begeistert, eines Sokrates, der rhetorische Kunstgriffe unterrichtete, „Gerechtigkeit widerlegte“ und über die Trias von Leere, Äther und Diskurs nachdachte.162 Eine große An­ziehungskraft übte auf ihn die sektenhaft enge Beziehung zwischen Meister und Mitschülern

156

Strauss, Persecution, S. 180, 52. Aristophanes, Komödien Erster Band, übersetzt von Ludwig Seeger, München o. J., S. 135. 158 Aristophanes, Gli Acarnesi, Le Nuvole, Le Vespe, Gli Uccelli (A cura di Guido Paduano), Mailand 1985, S. XIII. 159 Aristophanes, Clouds, Wasps, Peace, ed. and transl. Jeffrey Henderson, London, Cambridge, MA 1998, S. 70. Hier wurde glossa (Zunge,…) mit „Diskurs“ übersetzt. 160 Ibd. S.  154–7. Der ursprüngliche Ausdruck bei Aristophanes ist ευρύπροκτος, wörtlich ein „weiter After“ oder „Klaffarsch“ – etwas, das sich im antiken Athen aus einem öffentlichen Akt der Sodomie (mit einem Rettich) ergab, der für überführte Ehebrecher (als Strafe) vorgesehen war. Der Begriff wird in dem Stück in einem allgemein herabwürdigenden Sinn gebraucht. 161 Leo Strauss, Socrates and Aristophanes, New York, London 1966, S. 44. 162 Ibd. S. 19. 157

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in der Akademie163 sowie der Anwalt der ungerechten Sache aus, in dem Strauss „die Selbstzerstörung der Gerechtigkeit mit Unterstützung der Götter“ zu erkennen glaubte.164 In der endgültigen Analyse bedeutete dies für Strauss, dass die Menschheit in der Tat eine Ansammlung „ignoranter Arschficker“ war, denen gegenüber der wahre Philosoph „zu nichts verpflichtet war“.165 Diese „ungerechte“ Welt des Wettbewerbs, der Gier, der Kleinlichkeit, und der Ausflüchte war die Welt, wie sie von den „Göttern“, das heißt, von Natur vorgegeben war. Als solche war sie für Strauss eine natürliche, unveränderliche Realität. Der Zustand der Natur ist unerträglich. […] Philosophie erkennt, dass Natur die Auto­r ität ist.166

Der Anwalt der gerechten Sache verkörpert in seinen Ansichten „die Meinung der Vorfahren“.167 Mit anderen Worten, die vergeistigte Idee der Gerechtigkeit lieferte den Stoff für das traditionelle religiöse Dogma. Religiöse Dogmen hielt Strauss für völlig künstlich, d. h. für von Dichtern, Gesetzgebern und den Autoren der Tragödien „erfunden“, um das Zusammenleben angesichts des gewalttätigen Chaos, des ursprünglichen Zustands des Daseins, erträglicher zu machen.168 Dies war die nicht auszusprechende Wahrheit, die nur für „wissende“, „völlig unbekümmerte“ Denker, wie Sokrates, einsichtig war. Dessen bilderstürmerischen Diskurs achtete weder die Stadt, noch die Familie (angesichts der Gleichgültigkeit gegenüber dem Inzest, oder sogar in Richtung „Menschenopfer“169), noch Gesetzlichkeit oder Gerechtigkeit.170 Nichts ist dem Sokrates heilig, weil nichts seinem Logos standhalten kann.171

Die eigentliche Aussage Strauss’ stimmt der Direktheit des Anwalts der ungerechten Sache zu, obschon er glaubte, einen elitären Abstand zu der Tretmühle der Mehrheit einhalten zu sollen. Seine Aufgabe sah er darin, die Unnatürlichkeit des Anwalts der gerechten Sache (d. h. den naiven Glauben, dass „Gott“ existiert, und dass er ein gutes und gerechtes Prinzip darstellt) zu entlarven, obwohl dies in der Öffentlichkeit nur mit Vorsicht aufrechtzuerhalten war. Denn „Vorsicht“, meinte Strauss, „ist eine Art vornehmer Furcht“: Bestimmte, „äußerst relevante Tatsachen“ blieben besser vertuscht, um nicht „gemeine Leidenschaft zu entflammen“.172 Strauss dachte, dass der Grund, weshalb ihn die Wolken bestraften, 163

Ibd. S. 48. Ibd. S. 33. 165 Ibd. S. 39. 166 Leo Strauss, The City and Man, Chicago 1964, S. 44, und Leo Strauss, Natural Right and History, Chicago und London 1950, S. 92. 167 Strauss, Socrates, S. 49. 168 Leo Strauss, Liberalism Ancient and Modern, New York 1968, S. 69, 100, und Strauss, Socrates, S. 33. 169 Ibd. S. 173. 170 Strauss, Socrates, S. 39, 48. 171 Ibd. S. 49. 172 Strauss, Natural Right, S. 206. 164

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die Unvorsichtigkeit des Sokrates war, der so weit gegangen war und sogar offen unterstellt hatte, von Natur würde nichts die Ausübung von Inzest ausschließen. Er folgerte daraus, dass die eigentlich richtige Rede weder die des Anwalts der gerechten noch desjenigen der ungerechten Sache war, sondern diejenige der Wolken mit ihrem Glauben an die Trias: Leere, Äther und Diskurs. Nur sie allein erfasste die wahre „Natur des Menschen“.173 Fassen wir zusammen: Chaos war der UrZustand des Seins. Den Diskurs prägt die Spannung zwischen dem ungerechten Gesetz der Natur und den von Menschen gemachten Gesetzen. Und die Dämpfe des Äthers – wie in Heideiggers Lichtung – dosieren Fürsorge und Offenbarung durch Veröffentlichung / Verschleierung, in der Form „heilsamer Unwahrheiten“174 sowohl für das unwissende Volk als auch für seine weltmännischen, aber nicht weniger ignoranten Oligarchen. Für Strauss bestand Heideggers großes Verdienst zusammengefasst darin, das moderne Bewusstsein aus dem Zustand der Ahnungslosigkeit geweckt zu haben: Die Menschen hatten „den fundamentalen Abgrund“ vergessen.175 Seinsvergessen „lebten sie in jeder Hinsicht in einer unbefestigten Stadt, in einem unendlichen Universum, in dem nichts, was der Mensch lieben könnte, ewigen Bestand hat“.176 Außer dem Kosmos, dessen natürliche Elemente – die Götter – nur „Störer der Ordnung“ waren, gibt es nichts.177 Die „Götter“ brachten Elend, Streit und Plagen über die Menschheit. Für Strauss waren solche Schrecken „genauso ein Werk der Natur wie die Vermehrung“. „Der Übergang von der Venus zur Natur, die sowohl zerstörerisch wie schöpferisch ist, war letztlich ‚ein Aufstieg‘.178 Dies waren Epigramme, die von Bataille oder Jünger hätten verfasst sein können. Die Wahrheit der Natur war daher eine „abstoßende Wahrheit“, welche die Menschen instinktiv Tag für Tag in ihrem Streben nach „Gewinn“ nachahmten und deren Streben „Tyrannei“ rechtfertigte.179 Denn das Verlangen nach Gewinn war letztlich ein Weg in Ausflüchte, um andere zu überwältigen. Nur um der politischen Stabilität willen erfanden die Menschen die Ordnung und gestalteten sie durch „Gesetze“, deren „unendliche Veränderbarkeit“ sie als menschliche Machwerke kennzeichnen.180 Alle Pantheons der Welt, alle Gesetzbücher und göttlichen Epen waren also nur eine Ansammlung „schöner Lügen“.181 Ähnlich hielt Jünger „Vagheit, Ungenauigkeit nicht für Lügen“. Aber, schob er nach, „beginnt jedoch die Aussage mit einer Lüge, so muss sie durch immer neue Lügen unterstützt 173

Strauss, Socrates, S. 49. Leo Strauss, The Argument and the Action of Plato’s Laws, Chicago 1975 [1968], S. 30. 175 Strauss, Studies, S. 30. 176 Strauss, Natural Right, S. 113. 177 Leo Strauss, Xenophon’s Socratic Discourse, An Interpretation of the Oeconomics, South Bend, Indiana 1998, S. 143. 178 Strauss, Liberalism, S. 83. 179 Ibd. S. 73–5. 180 Ibd. S. 70. 181 Ibd. S. 78 f. 174

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werden, bis schließlich das Gebäude zusammenbricht. Hierher mein Verdacht, dass schon die Schöpfung mit einer Einfälschung begann.“182 Gerechtigkeit war eine Fata Morgana, oder besser gesagt, sie war selbst „schlecht“ und „ineffektiv“,183 denn sie spiegelte nicht die Wahrheit der Natur wieder, nämlich, dass „der Weise nur sein eigenes Wohl anstrebt, und nicht das anderer Menschen“.184 Jeder „liebt“ nur Geld, winkt Strauss ab, und nicht „Gerechtigkeit als solche“.185 „Der wirklich gerechte Mensch“ folgerte Strauss schließlich, kann nur „unklug oder ein Narr, ein von Konventionen Betrogener sein“.186 In seinem Werke Gesetze hatte Plato empfohlen, Jugendlichen „zu ihrem Wohl“ „nützliche Fiktionen“ zu erzählen, nämlich dass ein gerechtes Leben angenehmer als ein ungerechtes wäre. Materialistisch gesehen trifft das natürlich selten zu, doch verlangt ein pädagogisches Gebot, junge Bürger dadurch zu ermutigen.187 Strauss interpretierte diesen bekannten Satz in dem Sinn, dass die philosophischen Entdecker der Leere die abstoßende Wahrheit durch „noble Lügen“ und „unwahre Geschichten vor kleinen Kindern aber auch erwachsenen Bürger der gut geführten Stadt zu verbergen hätten“.188 Zweifellos war Strauss überzeugt, dass die Menschen ihr Leben nur schlafwandlerisch, also ohne sich des „Kataklysmus“ zu erinnern, führen konnten. Die Leugnung „des ersten (und letzten) Terrors“ war die Vorbedingung für „Glücksempfinden“.189 Hatte nicht auch Jünger in Aphorismen gesagt: „Es gibt Formen der Täuschung, ohne die der Mensch nicht leben kann: riefe man ihm die Wahrheit zu, würde er wie ein Schlafwandler herunterfallen“?190 Von allen Klassikern schätzte Strauss – was nicht überrascht – Machiavelli am meisten: Kein anderer habe anscheinend „die Großartigkeit seiner Vision“ besessen. Immerhin hatte Strauss eingeräumt, dass die Lehre des Italieners „diabolisch“ war, doch solle man dabei nicht „die tiefe theologische Wahrheit vergessen, dass der Teufel ein gefallener Engel ist“.191 Mit einer Paraphrase Kojèves zu Machiavelli erinnert Strauss den Leser zwanghaft daran, dass hinter unseren rechtschaffenen, liberalen Demokratien die ewigen und hässlichsten Realitäten der Macht lauern. Wie Bataille192 gefiel es Strauss, die Konzeption eines allwissenden Gottes, der über den Kosmos herrscht, durch die Vorstellung vom Leben als Spiel 182

Jünger, Eumeswil, S. 9 f. Strauss, Natural Right, S. 106. 184 Strauss, City and Man, S. 82. 185 Ibd. S. 81. 186 Strauss, Natural Right, S. 107. 187 Plato, Nomoi, [663d], Buch I – VI Werke in acht Bänden, achter Band, erster Teil (griechisch und deutsch) übersetzt von Klaus Schöpsdau, Darmstadt 1990, S. 108 gr., 109 dt. 188 Strauss, Persecution, S. 35, und City and Man, S. 98. 189 Strauss, Argument, S. 41–2. 190 Jünger, Blätter, S. 192. 191 Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli, Seattle, London 1969 [1958], S. 13. 192 Bataille, OC, 6:116; 12:223. 183

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ball des Zufalls zu ersetzen.193 Wie Jünger warf Strauss dem Christentum vor, die Idiotie der „Hölle“ beschworen und die Welt in die „Schwächlichkeit“ getrieben zu haben.194 Alle Religionen, auch das Christentum sind menschlichen, nicht himmlischen Ursprungs. Veränderungen himmlischen Ursprungs, die die Erinnerung an das Geschehene zerstören, sind Seuchen, Hunger und Überschwemmungen. Das Himmlische ist natürlich, das Übernatürliche ist menschlich. […] [Machiavelli] zeigt, dass man auf Religion verzichten kann, wenn es einen starken und fähigen Monarchen gibt. Das bedeutet in der Tat, dass Religion in Republiken unverzichtbar ist.195

Jorge Luis Borges hat nicht nur gescherzt: Nach 400 Jahren Machiavellis Zeilen über den Kleinmut des Mitgefühls und über die Macht des Stärkeren nachzuäffen, mischte der Nachschrift einen seltsamen „Nietzscheanischen“, oder besser, „faschistischen“ Beigeschmack unter.196 Es ist immer wieder die gleiche Geschichte, dass der Mensch sich an die Stelle Gottes setzt, weil der Abgrund das Göttliche verschlungen hat: Zeus ist tot.197 Da die „vollkommenste Wahrheit“ die sei, dass die Macht Recht setzt, schrieb Strauss wieder einmal, dass „sehr bösartige“ Mörder „ewigen Ruhm“ anstreben könnten, wenn es ihnen gelänge, einen Staat zu schaffen, der für „das Gemeinwohl“ sorgt. Klar kommt es dann dazu, dass „die Unterscheidung zwischen tugendhaften Helden und extrem veranlagten Kriminellen [aufhört] zu existieren“.198 Die „Nützlichkeit“ der Religion war daher „nicht ganz zu vernachlässigen“199 besonders in Regimen, die wie „Republiken“ mehr oder weniger von den Begierden des Pöbels abhängig sind. Dem würde Jünger natürlich zugestimmt haben. In der Epoche des Nihilismus (des „Liberalismus“ bei Strauss) sei die „Angst vor dem Zorn Gottes“ ein notwendiges Opiat, das neben anderen sozial sinnvollen Funktionen, natürliche Wilde in Väter und Patrioten verwandelt.200 Bataille hatte auf ähnliche Weise gedacht, als er zu dem Schluss gelangte, Angst, das heißt, „die Furcht vor der Hölle“, habe zum Großteil „zu diesem herrlichen Bauwerk“ bei­ getragen, zu dem die katholische Kirche geworden war. Angst war bei Bataille in jedem Fall „der Begleiter der Herrlichkeit“.201 Wo es jedoch ein „Fürstentum“202 von Halbgöttern gab, die über „übermenschliche“ Stärke verfügten (das sokratische „Daimonion“, das auch dem „Dickicht“ 193

Strauss, Machiavelli, S. 209. Strauss, Machiavelli, S. 31, 177, und Studies, S. 244. 195 Strauss, Studies, S. 226. 196 Strauss, Liberalism, S. 24. 197 Strauss, Studies, S. 179. 198 Strauss, Machiavelli, S. 148, 44, 47. 199 Strauss, Liberalism, S. 127. 200 Shadia B. Drury, Leo Strauss and the American Right, New York 1997, S.  12, und Strauss, Machiavelli, S. 208. 201 Bataille, OC, S. 7:206. 202 Strauss, Machiavelli, S. 227. 194

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entsprach),203 war, wie Jünger und Strauss glaubten, kein Bürgerkult nötig. Denn diese Götter waren selbst die „Herren des Universums“.204 Die Philosophie-Aristokraten, sagte Strauss, waren „religiöse Atheisten“,205 die von einer „Krieger-Ethik“ gestählt waren.206 Sie herrschen über die Menge, in dem sie sich „die Gelegenheit“207 oder „die Zeit gefügig machen“, nachdem sie – wie Jünger es ausdrückte – „dem Tod in sich selbst abgeschworen haben“. Das verlangte „Souveränität“.208 Und was brachte diese Meister insgesamt an die Spitze? Krieg natürlich – „der Erzeuger aller Dinge“. All das ist wahr, dynamisch und signifikant für den Entwicklungsgang der Menschheit, der für Strauss die Leistung aufgrund des Antriebs der Gesellschaft durch Krieg-Bewegung-Ungerechtigkeit (statt Frieden-RuheGerechtigkeit) war. Ares und Aphrodite, Krieg und Sex (die natürlichen Kräfte der Vermehrung) lebten in grundlegender „Harmonie“.209 „Krieg“, sagte Strauss, „ist ein ‚gewalttätiger Lehrer‘. Er lehrt die Menschen nicht nur, gewalt­tätig zu handeln, sondern auch alles über die Gewalt und damit auch über die Wahrheit.“210 Die Wahrheit war, dass der Krieg zwei Zwecken dient: Er diente dem Zweck der externen Eroberung – „eines Reiches“, was für Strauss nicht ohne die „volle Teilhabe“ des Pöbels am politischen Leben möglich war.211 Und: „Von Zeit zu Zeit“ hatte Krieg die „heilsame“ Funktion „die Gesellschaft mit sich zu vereinen“, das heißt, eben diesen Pöbel an den gottgleichen Herrscher zu binden.212 Dann wurde das Lügen, alle zu belügen und zu betrügen, zu einem Gebot der Macht. „Denn“, wie Machiavelli lehrte, „wenn Täuschung lobenswert und glorreich ist, wenn sie gegen ausländische Feinde angewandt wird, gibt es keinen Grund, dass sie nicht auch gegen tatsächliche oder potentielle Feinde im Vaterland zulässig sein sollte“.213 Ebenso hatte Bataille – der Epigone für die postmoderne Linke – die Lüge gepriesen und dabei Gift im Stachel bereitgehalten: Diejenigen, die von Aktion zu sprechen, reden davon, nicht zu lügen. Aber diejenigen, die handeln und wissen, wie man handelt, lügen insoweit, wie Lügen effektiv ist. Aktion ist Kampf, und soweit sie Kampf ist, gibt es auch keine Grenzen bei den vielfältigen Formen der Gewaltanwendung. Für Verlogenheit gibt es daher keine Grenze, die nicht durch Effizienz abgesteckt ist. Die Frage auf anderem Weg anzugehen, ist idealistisch und damit der eigentliche Lepra-Aussatz der Seele: Es ist die Unfähigkeit, sich unnachgiebig zu zeigen, es ist die Schwäche, die den Blick senkt aus Furcht, ihn nicht ertragen zu können.214 203

Strauss, Studies, S. 122. Strauss, Machiavelli, S. 211. 205 Strauss, Studies, S. 180. 206 Strauss, Natural Right, S. 65. 207 Strauss, Studies, S. 184. 208 Jünger, Waldgang, S. 63. 209 Strauss, Socrates, S. 211. 210 Strauss, City and Man, S. 162. 211 Ibd. S. 199. 212 Strauss, Machiavelli, S. 278. 213 Ibd. S. 258. 214 Bataille, OC, S. 9:334. 204

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Verwirrt schienen diese „dummen“, „aussätzigen“ Idealisten und „Anarchisten“ zu klagen: Alle diese postmodernen Mystagogen, Strauss so wenig wie Bataille und Jünger, würden etwas mit dem apollinischen Idealismus und seinen Derivaten, mit der Vorstellung von Harmonie, Frieden und Mitgefühl anfangen können. Strauss hielt das für „völlig unglaubhaft“, um nicht zu sagen für „Fantasterei“.215 Sensibler war eher die Überzeugung, dass „der Mensch, wenn er gut wird, [geradezu herausfordert], dass ihm Gewalt angetan wird, weil Güte gegen den Strich und gegen seine Natur“ ist.216 Die Natur erschöpfte sich für Strauss im „Wechsel zwischen Tugend und Laster“. Und unter allen Lastern, empfand er die Habsucht als besonders anregend: Man muss sich für das Laster der Habsucht entscheiden. Oder man kann, wenn man es vorzieht, sagen, dass die wahre Liberalität der Freigiebigkeit darin besteht, das wegzugeben, was man Fremden und Feinden zuvor genommen hat. […] Gerechtigkeit als fester Mittelwert zwischen einerseits Selbstverleugnung oder das wegzugeben, was man hat, und Un­ gerechtigkeit andererseits, ist unmöglich.217

Wiederum gelten von de Sade bis Strauss, über Kojève und Bataille, Gerechtigkeit, Mäßigung und Geben als widerliche Unmöglichkeiten. Schließlich läuft alles darauf hinaus, irgendwie auf Biegen und Brechen die Notwendigkeit der „Tyrannei“ zu legitimieren.218 Die Postmoderne aller Schattierungen ist die Ideologie der Tyrannei. Ihre geschmeidige Ausformulierung und ihre illusorische Aufteilung in zwei einander bekämpfende Seiten steigert nur die Raffinesse der neuesten Form autoritärer Propaganda unter den Menschen. Aus einem wenig bekannten und blassen Dialog Xenophons, in dem der Dichter Simonides sich die Freiheit nimmt, dem verzweifelten Tyrannen Hieron zu raten, seine Anhängerschaft bei Laune zu halten, machte sich Strauss – inspiriert von Kojève – schließlich ein frühes Exemplar von Jüngers Anarch zurecht. Strauss dachte, dass der intellektuelle Simonides, indem er den Tyrannen beriet, tatsächlich Hierons Position herausforderte. Er setzte sich dem Despot gleich, indem er entweder selbst regieren oder einen Rivalen des amtierenden Tyrannen beraten konnte.219 Der Dichter / Philosoph bewies als „Lehrer der Tyrannen“ seine Stärke, indem er keine Angst „vor Hölle oder Teufel“ eingestand und eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber den kriminellen Mitteln an den Tag legte, mit denen der Herrscher an die Macht gekommen war. Eine durch Schweigen geförderte „Freiheit von [konventioneller] Moral“ bestätigt dem Philosoph seine Souveränität angesichts des Tyrannen. Strauss’ Anarch sollte „ein völlig skrupelloser Mensch“ sein, der wie Sokrates in den Wolken „über dem Gesetz“ stünde.220 Tyrannei wäre demnach 215

Strauss, City and Man, S. 119. Strauss, Machiavelli, S. 279. 217 Ibd. S. 240, 241. 218 Strauss, City and Man, S. 197. 219 Strauss, On Tyranny, S. 43. 220 Ibd. S. 55–6, Strauss, Socrates, S. 37. 216

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die „notwendige“, „absolute“ „Herrschaft ohne Gesetze“ über „gefügige Untertanen“. Mit anderen Worten, der von einem Philosophen angeleitete, fähige König würde der Herr sein, der nach Gutdünken Gesetze erlässt, und seine Herrschaft mit dem gezielten Austeilen von „Wohltaten“ an Bürger untermauert.221 Auf Grund dieser Prämissen begannen sich Strauss und Kojève freundschaftlich über das Schicksal der Tyrannei in der Neuzeit zu streiten. Kojève wider­ sprach in nichts dem Porträt, das Strauss vom Philosophen-Anarch zeichnete. Er erkannte darin die perfekte Entschlossenheit des Willens zur Macht im Universal-Staat. Im unveränderlichen Auftrag einer homogenen (gleichgeschalteten) Gesellschaft würden sich die geistigen Nachfahren der früheren Sklaven­halter in die anarchischen Gewänder politischer „Herrschaftsberater“ kleiden müssen. Diese würden dem Herrscher schlaue Maßnahmen, wie die „Befreiung der Sklaven und die Emanzipation der Frauen“, vorschlagen. Wenn er Erfolg haben und „in der politischen Gegenwart rasch handeln wolle“, würde sich der PhilosophenAnarch immer zur Tyrannei hingezogen fühlen.222 So tat es auch Kojève, der im französischen Wirtschafts-Ministerium bis zum Ende seiner Tage den Herrgott spielte. Strauss erkannte andererseits die Herrschaft der Homogenität an, hatte aber überhaupt kein Gefallen an dieser „moderne Demokratie“ mit ihrer „Wähler-­ Apathie“, ihrer abscheulichen „Massenkultur“ und ihrem „Mangel an gesellschaftlichem Bewusstsein“. Er glaubte, dass die amorphen Bienenstöcke der gleichgeschalteten Glas-Bienen dafür verantwortlich seien, dass sie „von den gemeinsten Kapazitäten ohne jede intellektuelle und moralische Anstrengung und zu sehr niedrigen monetären Kosten angeeignet worden sind“. Mittelfristig schien er sich mit Kojèves Lösung abzufinden, die umnachteten Massenkulturen hinter der Fassade einer halbgetarnten Oligarchie zu beherrschen.223 Doch letztendlich hatte Strauss gehofft, dass eines schönen Tages die eigentlichen Erben der Ritter von einst – „echte Männer“ (griechisch άνδρες) – „gegen diesen [Universal-] Staat […], in dem es keine Möglichkeit mehr für edle Handlungen und große Taten gab, revoltieren würden.“ Die Supermänner würden rebellieren und die Welt aufs Neue in ein turbulentes Chaos stürzen, das in jenen Zeiten des Heldentums zu herrschen pflegte, von dem auch die Bibel erzählt.224 Strauss wünschte sich eine „nihilis­tische Revolution“.225 In der Zwischenzeit würden und sollten Rivalitäten zwischen Rassen und­ Cliquen das Fieber im Universal-Staat als Vorbereitung auf den souveränen, nihilistischen Kampf erhöhen. In der Zwischenzeit würde jeder für seine eigene

221

Strauss, On Tyranny, S. 74. Kojève, zitiert nach Strauss, On Tyranny, S. 146, 150, 164. 223 Strauss, Liberalism, S. V, 5, 13. 224 Strauss, Studies, S. 179. 225 Strauss, On Tyranny, S. 209. 222

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Ethnie im Namen der „Verwandtschaft“226 angesichts der unüberbrückbaren „Vielzahl“ von Sprachen eintreten.227 Strauss erwartete keine universelle Gemeinschaft der Menschen, weil jede Gemeinschaft für ihn von Natur eine „ausschließende“ war. Er stimmte Heidegger zu, „dass das Projekt der Moderne alle ‚Völker‘ zerstört und nichts als ‚einsame Massen‘ zurückgelassen hat“. Nur ein MischehenVerbot würde „altehrwürdige, überkommene Unterschiede“ bewahren. Darin lag für Strauss die Bedeutung des politischen Zionismus. In einer Rede vor jungen Juden im Jahre 1962 lud Strauss sie ein, ihr Judentum wertzuschätzen, denn es würde ihnen „die Chance für heroisches Leiden“ bieten.228 Zusammenfassend ist es nicht schwer zu verstehen, warum (1)  das liberale Establishments versucht hat, Strauss als das Schreckgespenst herauszugreifen, das für das jüngste, hässliche Gesicht Amerikas und den Verlust seiner Beliebtheit in Übersee verantwortlich ist; (2) weshalb die Propagandisten der Republikaner selbst etwas zurückhaltend bezüglich ihrer Beziehung zu Strauss sind; und (3) weshalb die Überbetonung von Strauss’ Bedeutung die Wahrnehmung in der vorliegenden Frage etwas fehlgeleitet hat. Erstens bot sich Strauss selbst sehr wohl für die Rolle des Bösewichts an. Sein Werk ist, bei Licht besehen, gelinde gesagt Quatsch; dennoch vermittelt es etwas, was die Liberalen nur mit sehr viel Angst zugeben, nämlich dass Kojèves Darstellung der Macht viel realistischer als das theologische Märchen des Liberalismus über Demokratie und Menschenrechte ist. Zweitens wäre es angesichts der Obszönität dieses Glaubensbekenntnisses, das sowohl auf Seiten der Linken wie der Rechten (wenn nicht im Allgemeinen) sehr verbreitet ist, natürlich schlechte Politik, diese seine Grundsätze im „puritanischen“ Anglo-Amerika zu offen und zu oft herumzuposaunen. Das ist der Grund, weshalb Jünger auf den englischsprachigen Märkten praktisch unbekannt ist, und weshalb Strauss vorwiegend nur in den Fußnoten der Strauss-Propagandisten erscheint. Schließlich liegt der Grund, weshalb Strauss in der aktuellen Propaganda kaum so oft auftaucht, wie man erwarten würde, darin, dass die Neocons, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, in der Tat, mehr Kojève als Strauss zuneigen: Sie sehnen sich nicht nach einer „nihilistischen Revolution“, sondern fühlen sich viel wohler als Berater des Tyrannen innerhalb der Strukturen des homogenen, gleichgeschalteten Staats. Und auch diese Wahrheit soll so weit wie möglich unterdrückt werden, nämlich dass Kojève die Verbindung zu Bataille darstellt, der wiederum Foucault inspiriert hat, der im postmodernen Spiel den „Feind“ der Rechten stellt.

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Strauss, Argument, S. 5. Strauss, Studies, S. 31. 228 Drury, Strauss and the American Right, S. 35–42. 227

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Die Neocons Die meisten Amerikaner sind nicht nur patriotisch, sie sind auch nationalistisch. Sie lieben nicht nur ihr Land, sie glauben, dass ihre politischen Regelungen […] denjenigen der meisten anderen Nationen überlegen sind. Sie glauben das, sind aber zu höflich, es zu sagen. George F. Will, The Slow Undoing, The Assault on, and Underestimation of Nationality229

Die Neokonservativen nahm in den 1970er Jahren Gestalt an. Angeblich entstammten sie zur Hälfte der Mittelschicht, die von dem luziferischen Krawall der Gegenkultur abgeschreckt worden war und den Vietnam-Krieg strikt unterstützte. Als nüchterne Liberale, die aber Amerika lieben, hatten diese neuen Konserva­ tiven versucht, in den öffentlichen Diskurs wieder Elemente einzubringen, die bis dahin zerschlagen daniederlagen. Sie gedachten einer Bewegung eine Stimme zu verleihen, die sowohl fromm als auch patriotisch, expansionistisch, populistisch und pro Unternehmen war und die sich nicht gegen eine stärkere Regierung sperrte. Seltsamerweise hatte zu dieser Zeit keine der führenden zwei Parteien Amerikas derartige Anliegen in ihrem Programm. Einfacher gesagt: Der Neo­ konservatismus verkörperte den Bedarf einer postmodernen, imperialistischen Partei: Er war lediglich die Plattform für die „totale Mobilmachung“ in der Ära des homogenen Staates. Sie fingen bescheiden und dezentral an, obwohl eine (verdeckte) Starthilfe der CIA sicherlich dazu beigetragen hat, das redaktionelle Kapital eines Irving K ­ ristol, eines der geistigen Begründer des Neokonservatismus, zu vermehren.230 Die Bewegung trat deutlicher durch ihre Unterstützung für die Reagan-Administration (1981–1988) hervor, die selbst die neokonservativen Ideale hochhielt, nämlich: imperiale Intrigen gegen schreckliche „Feinde“ (Russlands „Reich des Bösen“, Nicaraguas Sandinisten und den fundamentalistischen Iran), sowie häufiges Anrufen Gottes, große Haushaltsdefizite für die Hochrüstung, und einen ein­gefleischten Oligarchismus (Steuererleichterungen für Superreiche) etc. Doch dauerte es, wie gesagt, bis in die Mitte der 1990er Jahre, bis sich der Neokonservatismus selbst einen Namen gemacht hatte und seine Identität als Gegensatz zu den Demokraten der Clinton-Regierung umriss. Im Juni 1997 veröffentlichte der Clan der Neocons eine Art Manifest: „Das Projekt für das Neue amerikanische Jahrhundert (PNAC).“ Es forderte kompromisslose Anstrengungen, um die Welt nach dem Bild Amerikas zu formen. Zu den Unterzeichnern gehörten Politiker wie Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz, sowie Schüler von Strauss / Kojève wie Francis ­Fukuyama.231 Alle steckten voller Erwartung, an die Spitze des Systems aufzusteigen. 229

George F. Will, „The Slow Undoing, The Assault on, and Underestimation of Nationality“, in: The Neocon Reader, ed. Irwin Steltzer, New York 2004, S. 136. 230 Irving Kristol, Neoconservatism. The Autobiography of an Idea, New York 1995, S. 458. 231 Gary Dorrien, Imperial Designs. Neoconservatism and the New Pax Americana, New York / London 2004, S. 130.

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Neokonservatismus ist eine besondere Form oligarchischer Rhetorik, die mit einer Verschärfung der sozialen Kontrolle in einem Klima der angenommenen totalen Kriegsführung nach innen wie nach außen einhergeht. Die Neocons wollen es mit allen „Amerika-Hassern“ überall dort aufnehmen, wo sie sich versteckt halten. Im Inland stellte natürlich der Foucaultsche Multikulturalismus den Feind. Ende der achtziger Jahre gebärdete sich die neue postmoderne Linke klotzig genug, um sich den Rechten als Ziel ihrer Wahl anzubieten. Die (einträgliche) Aufgabe, die „spöttischen Knappen“ in einen endlosen postmodernen Kulturkampf zu verwickeln, ging an den Strauss-Schützling Allan Bloom (1926–1992) – den Nachfolger seines Herrn in Chicago. Bloom veröffentlichte 1987 The Closing of the American Mind (deutsche Ausgaben: Der Niedergang des amerikanischen Geistes, 1988). Dank einer außergewöhnlich starken Werbung (vor allem durch die The New York Times, die anscheinend überall mitmischt) fand diese völlig geschmacklose, weitschweifige und zerfahrene Polemik ihren Weg in Millionen Haushalte und machte angeblich ihren Autor zum Millionär. Der Erfolg eines solchen Dokuments ist ein faszinierendes Beispiel und ein ungeheuerlicher Beweis dafür, dass das Establishment mit dem richtigen Dreh fast alles, was es will, „verkaufen“ kann. Man fragt sich, was Millionen von Lesern an diesem nahezu unverständlichen Machwerk wohl gefunden haben. Nichts war darin klar, nur dass das großartige Buch von einer Horde Multikulturalisten angegriffen wurde, die Schwierigkeiten hatten, die deutsche Philosophie anständig zu verdauen.232 Es besagte: Die Bibel, Shakespeare, und Euklid seien gut und MTV schlecht. Die einzige Stelle, an die sich natürlich jeder erinnern konnte, war die Geschichte vom Körper eines „pubertierenden Kindes“, der vor dem Fernseher „in Orgasmus-artigen Rhythmen“ zuckte. Für Bloom sah es so aus, als hätten Foucault, Madonna und der Punkrock das Leben in „eine unendliche, kommerziell abgepackte Masturbations-Fantasie“ verwandelt.233 Danach erging sich das Buch in einen todlangweiligen und unergiebigen Exkurs über Locke, Rousseau und Hobbes, den halb verschlüsselte Verweise auf Kojève und Heidegger begleiteten. Die einzigen lesbaren, lichten Stellen waren eindringliche Einblendungen eines hartgesottenen Patriotismus: „Für uns“, „im Eigeninteresse der vernünftigen“ Amerikaner bildeten“, intonierte Bloom, „Freiheit und Gleichheit das Wesen“ unseres Landes, eines der „Weltwunder“, aber nicht „brüderliche Liebe oder Dankbarkeit“.234 Die Postmoderne, der „Pariser Fimmel“, würde zwar wieder verfliegen, hoffte Bloom, hätte aber in der Zwischenzeit verheerende Auswirkungen, weil sie „an

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Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 1987, S. 40, 51, 59, 150, 152, 156. 233 Ibd. S. 75. 234 Ibd. S. 55, 161, 220, 311 f, 163.

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unsere schlimmsten Instinkte“ appelliere.235 Die Relativisten, hatte Strauss gewarnt, die nicht zwischen Mensch und Tier unterscheiden, würden „den Sieg der Gosse“ bedeuten.236 Im Namen der „Tradition“ hatte Bloom den Startschuss für die große postmoderne Schlacht abgefeuert: Shakespeare, Platon und die Bibel wurden fortan von der Rechten in Beschlag genommen, während sich die „Europa hassenden“ Foucaultianer entsprechend auf Seiten der Linken einreihten. Was all jene europäischen Klassiker eigentlich meinten oder wert waren, war dabei völlig irrelevant. Der Krieg hatte begonnen. Im September 1988 wurde die postmoderne Armee der Duke University an die nahe gelegene Universität von Süd Carolina entsandt, wo eine Konferenz über die Zukunft der liberalen Erziehung stattfand, um das Feuer gegen Blooms „missgestimmten Angriff auf die Geisteswissenschaften“ zu erwidern.237 Die Neocons hatten Verständnis für das postmoderne Spiel. Bloom hatte die postkoloniale Schwärmerei seiner Studenten herausgefordert, indem er sie vor das Dilemma stellte, in dem sich ein britischer Verwaltungsbeamter angesichts einer Witwenverbrennung in Indien befand: Würde nicht jeder gute Amerikaner verhindern, dass die Witwe aufgrund der grausamen Sitte verbrannt wird?238 Irving Kristol entlarvte andererseits den Multikulturalismus als „verzweifelte […] Strategie zur Bewältigung der pädagogischen Mängel und der damit verbundenen sozialen Rückständigkeit junger Schwarzer“. Kristol beklagte die marodierende Taktik der „nationalistisch-rassistischen Schwarzen, der radikalen Feministinnen, [und] ‚Homosexuellen‘“. Deren militantes Eintreten für „Minderheiten“ erschien ihm „einem politischen Programm untergeordnet zu sein, das vor allem anti-amerikanisch und antiwestlich war“.239 Während der britische Verwalter, der die indische Witwe davor bewahrte, lebendig verbrannt zu werden, eine schöne pro-britische Charakterskizze abgab, erzählte Bloom natürlich nicht, zum Beispiel, die Geschichte der anderen britischen Verwaltungsbeamten, die etwa ein Jahrhundert lang Chinesen abschlachteten, um ihnen Mengen an Opium aufzunötigen. Ebenso wenig dachte Kristol daran zu erklären, (1) wie die „erzieherischen Defizite“ der jungen Schwarzen zu Stande gekommen sind, oder (2) wie sich die Neokonservativen vorstellten, aus diesen Jugendlichen gute Patrioten zu machen, und (3) wie Multikulturalismus ein anti-amerikanisches und anti-westliches Projekt sein konnte, wo es doch eine Einrichtung von ausgemachten Amerikanern war, die ganz von der westlichen Tradition und keiner anderen durchtränkt waren. Dann fiel die Berliner Mauer und die Sowjets konnten das Spiel des Kalten Kriegs nicht mehr länger aufrechterhalten. Als Amerikas „böses“ Alter Ego hatte das sowjetische Regime eine sehr wichtige Rolle gespielt, die nun unbesetzt war. 235

Ibd. S. 378. Strauss, Liberalism, S. 223. 237 Peter Watson, The Modern Mind. An Intellectual History of the Twentieth Century, New York 2001, S. 721. 238 Bloom, Closing, S. 26. 239 Kristol, Neoconservatism, S. 50–2. 236

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Blooms Schüler Francis Fukuyama und Samuel Huntington kamen zur Hilfe. Fuku­yamas The End of History and the Last Man (dt.: Das Ende der Geschichte, Wo stehen wir?) war eine weitere redaktionelle Marketing-Leistung, diesmal auf globaler Ebene. Als das Buch 1992 erschien, konnten sich sogar die Europäer nicht der intensiven Diskussion über das enthalten, was offenbar der endgültige Stich im Spiel des triumphierenden Kapitalismus gegen den Staatssozialismus war. Die Öffentlichkeit sollte erfahren: „Das Ende der Geschichte“ bedeutet, dass die westlichen Wirtschaftsunternehmen den Kalten Krieg gewonnen hatten, und dass wir uns für die Zukunft institutionell kein Arrangement vorstellen können, das dasjenige, in dem wir zur Zeit leben, übertrifft. Wie üblich hatte sich kaum einer die Mühe gemacht, sich durch dieses mühsame Buch hindurch zu quälen. Zeitungsredakteure hatten es in diesem Sinne zusammengefasst. In Wahrheit wollte „Das Ende der Geschichte“ etwas anderes.240 Es war eine Übertragung von Kojèves Erzählung vom Ende des Jahrhunderts. Nach dem Scheitern des Kommunismus würde eine zügellose Ausbreitung der animalischen Zufriedenheit jeden Menschen mit seinem angeborenen Streben nach heroischer „Anerkennung“ konfrontieren. Die Welt des triumphierenden Liberalismus würde angeblich keine Entspannung für die „noble Wut“ (Θυμός) des Menschen bieten. Bloom hatte aus Platon mit Strauss’scher Gewalt diesen Begriff des Hochgefühls herausgepresst.241 Ohne dieses Hochgefühl, wiederholte Fukuyama, könne es kein eigentliches menschliches Leben geben. Dieses habe auch „eine dunkle Seite“, nämlich den Willen anderen Menschen Gewalt anzutun. Doch macht dies uns groß,242 etwa wie, sagen wir, Batailles „Souveränität“, Jüngers Ungeniertheit (désinvolture) Foucaults Wahnsinn (folie) oder Kojèves „Snobismus“.243 Gesundheit und Selbstzufriedenheit sind Verbindlichkeiten. Thymós ist die Seite des Menschen, die bewusst den Kampf und das Opfer sucht […].244

Fukuyamas tiefere Botschaft war, dass man im Universalstaat der Zeit nach dem Kalten Krieg die souveräne Wut mit der gleichgeschalteten Routine ver­binden müsse. „Wenn die Demokratie funktioniert soll“, sagte er, müssen die Bürger „einen gewissen irrationalen, thymotischen Stolz auf ihr politisches System […] entwickeln“, denn „Nationalismus und Liberalismus schließen einander eigentlich nicht aus“. Thymotik bedeutet die Synthese von Souveränität, Patriotismus und Technik. Das war nun wieder das „post-historische Gebäude“,245 der mechanische

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Drury, Kojève, S. 180. Plato, ΠΟΛΙΤΕΙΑ Der Staat, [439e] in: Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch, 4. Band, bearbeitet von Dietrich Kurz, Darmstadt 1990, S. 342. Die Interpretation von Allan Bloom in: Plato, The Republic of Plato (Translated with Notes and Interpretation by Allan Bloom), New York 1968, S. 370–1. 242 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 24 f. 243 Ibd. 423. 244 Ibd. S. 404. 245 Ibd. S. 295 f. 241

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Bienenkorb mit Gewalt­tätern auf der einen Seite der technokratischen Linie und Anarchen auf der anderen. Dem folgte die übliche Verunglimpfung des Christentums als „Ideologie der Knechte“ und die frohgemute Erwartung der „kulturellen“ Auseinandersetzung mit dem Islam.246 Denn Fukuyama beobachtet in unserer heutigen Welt ein „merkwürdiges Phänomen: den Sieg des universalen, homogenen Staates und zugleich das Fortleben von Völkern“.247 Es gab, mit anderen Worten, urtümliche Formen des Hasses zwischen den Clans, die noch nicht unterdrückt werden konnten. Die Menschen konnten somit nicht nur „zu Hause sitzen, und sich gegenseitig zu ihrer Toleranz und Abgeklärtheit gratulieren […]“. Sie mussten kämpfen, und der Golfkrieg von 1991 war in dieser Beziehung eine heilsame Erschütterung: Demokratie und Hochgefühl vereint in einem Schlag.248 Das Buch endete in der typischen post­modernen, Batailleschen Zweideutigkeit: Der Autor wollte nicht sagen, ob der heutige, zufrieden gestellte „Sklave“ sich mit neuen „Videorekordern und Geschirrspülmaschinen“ abfinden werde oder ob er nicht doch lieber die Bequemlichkeit für eine noch weitere Reise aufgeben würde.249 Ein Jahr später, 1993, braute Samuel Huntington aus Harvard eine ähnliche Geschichte über die Welt zusammen, die in unüberbrückbare, mit einander in Konflikt geratende „Zivilisationen“ geteilt sei. Die Zeitschrift Foreign Affairs ver­ öffentlichte den Aufsatz. Und aufgrund des üblichen Tamtams wurde Huntingtons Der Kampf der Zivilisationen für das folgende Jahrzehnt zu der analytischen Meisterleistung auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen gekürt. Huntington hatte lediglich Fukuyamas Bericht mit der traditionellen britischen Geopolitik verbunden. Deren einfaches Ziel war es im letzten Jahrhundert, in strategischen Bereichen des eurasischen Kontinents (an den sogenannten Bruchlinien) ständig Krieg zu führen, um die Entstehung von Kräften zu verhindern, welche die maritime Vorherrschaft der Anglo-Amerikaner bedrohen konnten. Geteilt durch Glauben, Sprache und Brauchtum, zerfiel der Planet in antagonistische „kulturelle“ Blöcke. Huntington hatte auf postmoderne Weise die europäische Kultur ahnungs- und verantwortungslos zu einem einheitlichen Erbe zusammengefasst, in deren Namen der Kampf gegen die „anderen“ Kulturen („der West gegen den Rest“) nicht nur rechtmäßig und legitim, sondern auch unvermeidlich war. Schon Bataille hatte „Zivilisation“ als einen Haufen „autonomer Systeme, die einander bekämpfen“, skizziert.250 Das vorgesehene Opfer für den bevorstehenden Kampf der Kulturen war, nachdem die Roten untergegangen waren, natürlich der Islam. „Der Islam hat blutige Grenzen.“ Allerdings noch besser war es, den kommenden Konflikt gegen eine „konfuzianische-islamische“ Verbindung vorauszusehen  – da China den Iran bewaffne. Dann könnte man davon träumen, zwei Fliegen mit

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Ibd. S. 272 f. Ibd. S. 331. 248 Ibd. S. 407. 249 Ibd. S. 413, 448. 250 Bataille, OC, S. 11:181. 247

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einer Klappe zu erschlagen.251 Der bevorstehende Kampf gegen Muslime und „den vollkommen unideologischen chinesischen Nationalismus“ ist für Huntington ein Schicksal, dem die Amerikaner nicht entgehen können.252 Gleichzeitig würde an der Heimatfront „der Kampf zwischen den Multikulturalisten und den Verteidigern der westlichen Zivilisation und des Glaubens an Amerika die eigentliche Auseinandersetzung sein“.253 Ein „gespaltenes Land“ wäre nicht in der Lage ausländische Feindseligkeit zurückzuschlagen. „Amerikaner aller Rassen und Ethnien“ müssten daher ihr Engagement für ein „tiefreligiöses, vorwiegend christliches Amerika“ „neu beleben“ und sich an ein „angloprotestantisches Wertesystem“ halten.254 Als Kern einer amerikanischen Zivilreligion setzte Huntington „ein Höchstes Wesen“ sowie die Überzeugung voraus, dass „die Amerikaner Gottes ‚auserwähltes‘ Volk sind […] mit dem göttlichen Auftrag, in der Welt Gutes zu tun“.255 Dieser unaufrichtige, echt Strauss’sche Appell an einen militanten Fanatismus wurde entwickelt, um das zu bewirken, was eine „nur utilitaristische Definition der zivilen Loyalität“ nicht vermochte: nämlich die Arbeiter / Soldaten des Universalstaats dazu zu bewegen, „für ihr Land zu sterben“.256 Huntingtons Berufung auf Christus war keine Zurückweisung der Verachtung des Christentums durch Fukuyama: Wie Jünger und Strauss haben die Neocons die Massen eingeladen, sich um die Kirchen zu scharen, und mit sehnsuchtsvollen Herzen zu einem Symbol der kulturellen Wahl zu beten, das in der Gestalt eines Kriegerkönigs in Erscheinung treten würde, wie der Jesus, zu dem US-Präsident Bush II täglich betete. Im harten Konkurrenzkampf auf den Märkten konnte man auch ein Leben unter religiösem Siegel sicher führen, indem man sich den sogenannten evangelischen Werten zuwandte. Historisch gesehen, war der Protestantismus selbst ein Geschöpf der nationalistischen Abspaltung (weg von Rom). Dazu war er ganz in eine finanzielle Konzeption des Lebens eingespannt, die materiellen Erfolg mit der göttlichen, unergründlichen Prädestination gleichsetzte. Auch Luther war schlau und listig. Eines der Verdienste von Veblens Theorie der feinen Leute bestand darin, gezeigt zu haben, wie solche fromme Barbarei im Kopf eines Westlers mit einem scharfen Sinn für Zahlen und Technik einhergehen und so die bemerkenswert komplexe Sozialpsychologie des modernen Westens erklären konnte. Wie in der Einführung angemerkt, war die idealtypische Lösung des Neoconservativismus für die „totale Mobilmachung“ – die Kultivierung der computerversierten, fanatisierten Bürger 251

Samuel P.  Huntington, „The Clash of Civilizations?“ in: Foreign Affairs. 72, no.  3 (1993): 22–49. 252 Samuel P. Huntington, Who are we? Die Krise der amerikanischen Identität, Hamburg 2004, S. 426, 450. 253 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations. Remaking of World Order, New York 1996, S. 306. 254 Huntington, Who Are We? S. 38 f. 255 Ibd. S. 137. 256 Kristol, Neoconservatism, S. 100.

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des liberalen Universalstaats – weit raffinierter als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Sie allein, behaupteten die Neocons, hätten die mobilisierende Kraft der Frömmigkeit (der „Religion“ im allgemeinen Sprachgebrauch) verstanden.257 Nach dem Anschlag vom 11.9. brauchten sie nach anfänglichen, zaghaften Bedenken der Massen tatsächlich nur etwa zwei Wochen, um die öffentliche Meinung durchgängig zu polarisieren und die Mehrheit Hals über Kopf dahin zu bringen, dass sie den heiligen Krieg gegen „den Islam“ oder „die Araber“ jubelnd begrüßte. Natürlich verliefen die Dinge nicht so linear (siehe nächstes Kapitel): Die Position der Araber war komplex. Doch war die Lautstärke und Schnelligkeit, mit der die Mobilisierung auf amerikanischem Boden ohne ordnungs­gemäßes Verfahren und ohne eine vernünftige Erklärung der Vorgänge erreicht wurde, einfach phänomenal. Wer konnte damals noch daran zweifeln, dass es wirklich einen „Kampf der Kulturen“ gab? Man hat es erreicht. Amerika hatte wieder einen erklärten Feind, und was noch besser war, es handelte sich nicht um irgendeinen räudigen Zirkusbären wie den sowjetischen, sondern um eine vorgespielte Bedrohung barbarischer, aber „mächtiger“ muslimischer Geistlicher, die vor ihrem Schlag gegen Amerika angeblich mit heimlicher Schläue in den Kanälen „loser Netzwerke“ unterwegs waren. Das ausgesuchte Foucaultsche Bild „loser Netzwerke“ war die Leitidee in einem vom US-Außenministerium unter Clinton im Jahr 2000 veröffentlichten Memorandum mit dem Titel Patterns of Global Terror (Muster des globalen Terrors).258 Dieses hat die Regierung Bush II aufgegriffen und inzwischen, indem sie die Flut von „Informationen“ lenkte, zu einem beachtlichen Epos ausgebaut. Mit etwas Hilfe durch den Terror überraschten die Republikaner ihre demokratischen Herausforderer unvorbereitet und stahlen ihnen die Schau. Die Neocons hatten es für einen schamlosen und unwirksamen Trick der Demokraten-Praxis seit Jimmy Carter gehalten,259 Vertreter von „Minderheiten“ zu Beamten zu ernennen.260 Als aber die Reihe an sie kam, konnten sie nicht umhin, ebenfalls mit zwei Afro-Amerikanern in der Regierung (Condoleezza Rice und Colin Powell) und mit einem Lateinamerikaner und einem Arabo-Amerikaner im „NachkriegsMilitärkommando im Irak“ zu protzen.261 Für die Neocons war die Annahme in der Tat reizvoll, dass für US-Sondereinsatzkräfte Rationen vorgesehen waren, die als „halal oder koscher bezeichnet wurden“.262 Der „Kampf der Zivilisationen“ war 257

Ibd. S. 381. Laurie Mylroie, The War against America, Saddam Hussein and the World Trade Center Attacks, New York 2001, S. 275. 259 Howard Zinn, A People’s History of the United States, 1492–Present, New York 2003, S. 566. 260 Kristol, Neoconservatism, S. 55. 261 David Horowitz, Unholy Alliance, Radical Islam and the American Left, Washington, D.C 2004, S. 108. 262 Robert D. Kaplan, Warrior Politics. Why Leadership Demands a Pagan Ethos, New York 2002, S. 148. 258

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natürlich nie ernst gemeint gewesen. Er diente nur als Eröffnungsspektakel für die massenhafte Homogenisierung (Gleichschaltung) der Welt. Dies war ja die eigentliche und wirklich Kojèvesche Forderung der Neocons gewesen. Danach verkaufte die Regierung auf geschickte Weise über die Frau des Präsidenten263 die Bombardierung und Invasion von Afghanistan (Oktober 2001) als Krieg zur feministischen Befreiung. Dagegen rührte der Haufen der Radikalen kaum noch einen Finger. Und schließlich zogen die Neocons den Demokraten den Teppich unter den Füßen weg, indem sie ihnen alle Parolen wegnahmen, die letztere bisher für sich vereinnahmt hatten. Denn jetzt konnte der Neokonservatismus auch für „Menschenrechte, Demokratie und liberale Prinzipien“ eintreten.264 Und wenn auch viele gute, liberale Demokraten entsetzt waren, die Öffentlichkeit sah am Ende keinen Unterschied zwischen dem einen Präsident und dem nächsten in Washington. Sie konnten ihn auch nicht sehen, weil es keinen gab. Von nun an wurde die Ausbreitung des Terrorismus durch die offizielle Rhetorik beschworen, die nach bestem, postmodernem Stil geprägt war. Da gab es das „lose Netzwerk“ der Feinde an einem Ende und dementsprechend ein fehlendes Zentrum am anderen. Aussagen wie: „Niemand [war] wirklich dafür zuständig, wohin die Vereinigten Staaten [gingen]“,265 oder Aussagen wie, die Welt war auch für diejenigen, die sie regieren wollten, viel „zu komplex“, wurden zu ständig wiederholten „Weisheiten“ sowohl auf der Rechten wie auf der Linken. Alles war voller „Gefahren und Risiken“. Robert D. Kaplan, der Reiseberichte aus den verwüsteten Ländern zusammentrug und das Ohr des Präsidenten gefunden hatte,266 scheint es übernommen zu haben, das Regime in der Manie von Strauss zu por­trätieren. Natürlich mit einem erheblichen Medien-Hype machte sich Kaplan an das Layout der neuen, postmodernen Kartographie des 21. Jahrhunderts. In unserem „Zeitalter der inhaltslosen Gegenüberstellungen“, schrieb er, wurde das „Netz der Nationalstaaten durch ein glasscherbenartiges Muster von Stadtstaaten, Elendsstaaten, nebulösen und anarchischen Regionalismen ersetzt“.267 In einer solchen Welt würde „es zunehmend schwieriger, Frieden zu schaffen“ weil „man Befreiung durch Gewalt anstrebte“.268 Bei Kriegen in einem von Verwirrung und fehlenden Lösungen heimgesuchten Universal-Staat gibt es nicht mehr konventionelle Konflikte, sondern eher Abschlagsentgelte auf einen mittelfristig 263 Elizabeth Bumiller, „First Lady to Speak About Afghan Women – Addressing Women’s Rights is part of the Anti-Taliban Message“, in: New York Times, November 16, 2001, S. B2. 264 Michael Gove, „The Very British Roots of Neoconservatism, und Its Lessons for British Conservatives“, in: The Neocon Reader, ed. Irwin Steltzer, S. 282. 265 Walter Russell Mead, Power, Terror, Peace and War. America’s Grand Strategy in  a World at Risk (A Council of Foreign Relations Book), New York 2004, S. 198. 266 Peter McLaren, „The Dialectics of Terrorism“, in: Masters of War: Militarism and Blowback on the Era of American Empire, ed. Carl Boggs, London and New York 2003, S. 176. 267 Robert D. Kaplan, The Coming Anarchy. Shattering the Dreams of the Post Cold War, New York 2000, S. 43–4. 268 Ibd. S. 45, und Kaplan, Warrior Politics, S. 6.

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veranschlagten Guerilla-Krieg etwa wie derjenige, der durch die verbissene Verschwörung „lockerer und undurchsichtiger […] islamischer Terrororganisationen ausgelöst worden ist“.269 Stellen Sie sich ein Hologramm vor […]. In diesem Hologramm überlappen sich Ablagerungen und andere Identitäten oberhalb einer nur zwei-dimensionalen Farbmarkierung von Stadtstaaten und übrig gebliebenen Nationen, die selbst von unklaren, von oben herabhängenden Tentakeln verwirrt werden, welche die Macht der Drogenkartelle, Mafias, und privater Sicherheitsdienste andeuten. Statt Grenzen würde es dort fließende ‚Zentren‘ der Macht geben.270

„Die Globalisierung [war] darwinistisch“, was heißen soll, dass die Ressourcen knapp waren (schon wieder der Malthusianismus), und dass nach dem Zusammenbruch der Imperien des Kalten Krieges die übriggebliebene Wirklichkeit eine der Kriegerklassen war. Ihr grausames Vorgehen war nun aufgrund der InformationAutobahnen der Weltgemeinschaft weitaus offensichtlicher geworden und „einfacher zu bewerkstelligen“.271 Um die Alpträume des Hologramms zu überleben, müssten die Amerikaner „wie Victorianer sprechen, und wie Heiden denken“.272 Sie sollte von ihrem schwächelnden Christentum ablassen und sich für das heidnische Ethos des permanenten Kampfes gegen diesen grausamen (muslimischen) Feind unter Obhut der „oligarchischen“ Kraftzentren der „Unternehmen“ ent­ scheiden. Denn nur diese allein besäßen die Kenntnisse, um mit den heutigen grenzenlosen Märkten und den technologischen Komplexitäten fertig zu werden. Zweifellos kam Kaplan zu dem Schluss, dass die gesamte „produktive Anarchie der Aufsicht von Tyranneien bedürfe  – andernfalls gäbe es für niemanden Gerechtigkeit“.273 Die Neocons stehen keineswegs außen vor. Sie sind die Neuauflagen der alten Liberalen – der „Älteren Staatsmänner“, welche die Weltkriege geführt hatten – nur eben in einer Epoche, in der sich, wie alle postmodernen Vordenker meinten, die historische Vorstellung von Staatlichkeit allmählich auflöst. Was die Vereinigten Staaten derzeit in der Welt betreiben, unterscheidet sich nicht wesentlich vom imperialen Vorgehen Großbritanniens bis 1945. Eine Ausnahme bildet nur die Art der sozialen Organisation, die mit Hilfe der Eroberung durchgesetzt werden soll. Während die Briten britische Vorbilder exportierten, zu dem auch die industrielle Sklaverei gehörte, ertappt sich Amerika dabei, dass es weniger YankeeSitten als vielmehr die hohle Form von Wirtschaftsunternehmen und atomisierte Lebensstile aufzwingt. Zusammengefasst befürworten die Neocons „aggressiv den universellen homogenen Staat“, der Regime „[,die alles einebnen,] auf der ganzen Welt durchsetzen will, und sie halten die amerikanische Militärmacht für 269

Kaplan, Warrior Politics, S. 13, und Anarchy, S. 47. Kaplan, Anarchy, S. 50, (Hervorhebung hinzugefügt). 271 Kaplan, Warrior Politics, S. 12, 94, 119. 272 Zitiert nach Dorrien, Imperial Designs, S. 236. 273 Kaplan, Warrior Politics, S. 55, und Anarchy, S. 80–97. 270

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das bequemste Mittel zur Realisierung ihrer Entwürfe“.274 In diesem Sinne sind sie, wie gesagt, weniger Straussianer als perfekte Beispiele Kojèvescher Anarchs. Bataille hat in einem Vortrag seines Collège de Sociologie schon vor dem 2. Weltkrieg die geistige Physiognomie eines neokonservativen Regimes bewundernswert weit vorausgesehen: Es ist nichts anderes als ein moderner Ausdruck der „Macht“ im fortgeschrittenen Zustand der Homogenisierung. Die herrschende Klasse ist von einer unwiderstehlichen Nostalgie für jene Macht besessen, die es ihr erlaubt, die Verhältnisse zu ihrem eigenen Vorteil zu ordnen. Daher ist [diese Elite] nicht in der Lage, die Macht wieder über die kriminelle Kreativität der heiligen Kräfte zu konstituieren, weil sie zugleich zu pragmatisch, eigennützig und zu feige dazu ist. Sie greift also auf die unmittelbare Anwendung von Gewalt zurück, um eine neue Kraft der militärischen Art zu errichten, die sie mit allem in Verbindung bringt, was von den heiligen Kräften noch vorhanden ist, insbesondere mit den heiligen Kräften, die direkt mit der Macht verbunden sind, wie das Vaterland (Homeland oder la patrie).275

Unfähig die Bürger durch einen sakralen Akt, der, sagen wir, einer aztekischen Massenopferung oder einer Weihnachtsmesse im Petersdom vergleichbar ist, geschlossen hinter das Weißen Haus zu vereinen, müssen zeitgenössische USRegierungsbeamte – viele von ihnen ehemalige Konzernchefs mit Eigeninteressen und / oder „feige“ Aufseher staatlich sanktionierter, steriler Vollstreckungsmaßnahmen – notgedrungen auf das Surrogat des „Vaterland unter Waffen“ zurückgreifen.276 In dieser Konfiguration wird die kriegerische Energie der Gemeinschaft von der Mitte angesaugt und dann nach außen gekehrt. Die Sichtweise ist heute aktueller denn je. Batailles beeindruckender Textauszug deutet seinen Unmut an, den er nach dem Krieg über das empfinden sollte, was er wegen seiner Privilegien im Ministerium für einen Verrat Kojèves an der souveränen Sache hielt. Obwohl geruhsam in die Maschen der modernen Gesellschaft gebettet, hatten sich Bataille und Strauss und zu einem geringeren Grad auch Jünger ein Leben lang nach der Revolution gesehnt – nicht jedoch Kojève, nicht die Neocons oder Foucault. Ihrem nervigen Aufruf zum „Widerstand an den Rändern“ waren ihre unzufriedenen Anhänger bis zuletzt überwiegend nicht gefolgt. Sie waren zu sehr an Überlegungen „interessiert“, dass es in dieser Welt alles andere als Souveränität zu holen gab. Die These dieser Studie war: erstens, die Postmoderne führt, wenn man sie breit definiert, zu einer Art Denkprozess, den die US-Regierung seit mindestens drei Jahrzehnten in Abstimmung mit den privaten Interessen aktiv gefördert hat, und zweitens, im Rahmen der breit definierten Postmoderne existiert kein wesentlicher Unterschied zwischen der politischen Haltung der sogenannten Rechten und derjenigen der Linken. Beide sind aus genau den gleichen, beunruhigenden Wurzeln hervorgegangen. Die vorangegangene Diskussion sollte keinen Zweifel am Wahr 274

F. Roger Devlin, Alexandre Kojève and the Outcome of Modern Thought, Lanham, MD 2004, S. 154–5. 275 Bataille, OC, S. 2:347. 276 Ibd. S. 353.

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heitsgehalt dieser Behauptungen mehr zulassen. Noch vernichtender für das ganze postmoderne Unternehmen mit seinem Wirrwarr von Querverbindungen, gemeinsamen Überzeugungen, politischen Rollenspielen und der allgemeinen geistigen Korruption ist seine unbestreitbare Nachbarschaft zu einem ganz besonderen Exponenten des Nationalsozialismus, wie Ernst Jünger. Auf dessen weitgespannte Ansicht bezog sich dieses Kapitel, um eine enorme Lücke in der Geschichte des politischen Denkens zu schließen, und – noch dringender – um keinem der gebildeten und wohlhabenden Bürgern, die sich in dem einen oder anderen Bereich des postmodernen Lagers zuordnen, entschuldigenden Ausflüchte zu erlauben. Sie müssen schwer an der Verantwortung tragen, aus reinem Opportunismus ein Glaubenssystem übernommen zu haben, das aus rationalistischer Verzweiflung ge­boren worden war und dessen unmittelbares Gebot ein gedankenloser und wirklich dummer Aufruf zur Menschenverachtung, zur Gleichgültigkeit und zum schmutzigem Egoismus ist. Die Schlappe der Opposition in Amerika in Zeiten der Ausbreitung der Post­ moderne und die tieferen Gründe für die Ohnmacht der Linken angesichts der neokonservativen Offensive bilden die Themen des nächsten und letzten Kapitels.

Kapitel 9

Die eigentliche Macht: Das Ende des Widerstands, Iran/Irak und der Krieg gegen den Terror Und jederzeit war das amerikanische Volk als junge Nation mit einer bescheidenen Vor­ geschichte dem recht gereizten Gefühl ausgeliefert, eines nationalen Prestiges zu bedürfen. Das hat einen bitteren Patriotismus und eine überzogene Beteuerung der nationalen Solidarität ausgelöst. Eine solche Einstellung wird sich in den Händen gerissener Politiker zu jeder Art zweifelhaftem Gebrauch anbieten. Thorstein Veblen, Absentee Ownership (1923).1

Im vergangenen Jahrhundert hat die amerikanische Linke drei Phasen durchlaufen: Einen sozialistischen Aufbruch (1900–1950er Jahre), das Zwischenspiel der Neuen Linken (1960er Jahre)  und den postmodernen Jahrhundertwechsel (1980er Jahre bis heute). Auf dem alten Kontinent hat die Linke Ähnliches durchgemacht, auch wenn Europas sozialistischer Apparat viel länger standhielt (etwa bis 1990). Insgesamt war der Bedarf an postmoderner Stimmung in Europa weit weniger dringend als in Amerika. In jedem Fall war es die Aufgabe der liberalen Regierung, die Kontrolle über Kräfte auszuüben, die spontan für einen Wandel eintraten und von denen man in der Regel erwartete, dass sie in Richtung der etablierten Linken tendieren. Sobald sich staatlicher Zwang als unzureichend oder einfach wirkungslos erwies, ist die Regierung mit viel größerem Nachdruck dazu übergegangen, die Vertreter dieser Kräfte zu vereinnahmen. Aus diesem Verfahren ist die „offizielle Linke“ hervorgegangen. In diesem Sinne lässt sich die institutionelle Arbeit dieser „anerkannten Linken“ nicht als wirklich progressiv verstehen. Denn etwaige Gewinne, die zu ihrer Glaubwürdigkeit beitrugen, sind eigentlich Zugeständnisse, die die Regierung, welche per Definition zuständig ist, selbst am Verhandlungstisch eingeräumt hatte. Die offizielle Linke ist not­ gedrungen konservativ. Wie in den bisherigen Ausführungen gesagt, war Amerika, als das Land Foucault adoptierte, tatsächlich im Begriff, eine Saison sozialer Unruhen abzuschließen. Diese Unruhen waren mit der Niederlage der universellen Werte wie Frieden und Zusammenarbeit, die in der Agitation der sechziger Jahre eine (uneinheitliche)  Rolle gespielt hatten, zu Ende gegangen. Alles in allem dürfte die Linke ihre Chance, eine authentische Bewegung des Widerstands zu werden, verpasst 1 Thorstein Veblen, Absentee Ownership, and Business Enterprise in Recent Times (The Case of America), New York 1923, S. 34, 444.

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haben, als sie sich verstört von Thorstein Veblen abgewandt hatte. Veblen war einer der größten Geister des Westens. Er hatte Abhandlungen zur politischen Ökonomie geschrieben. Es waren Werke von theoretischer Kunstfertigkeit und zugleich die kompromisslosesten Einwände gegen den modernen liberalen Staat, die je geschrieben worden waren. Und es waren beeindruckende Dokumente aus der Feder eines Meisters an Mitgefühl und Pazifismus, die natürlicher Weise das geistige Erbe einer verantwortungsvollen und gewaltlosen Linken hätten werden sollen. Doch sie wurden ignoriert. Veblens Vision soll hier erneut knapp vorgestellt werden, um Freiwilligen aller Richtungen die Möglichkeit zu geben, sie zu überdenken und seine Werke in ihre Überlegungen einzubinden. Hätte die Linke das Erbe dieses Urvaters der kommunalen Selbstverwaltung übernommen, hätte daraus ein Sprungbrett zur Erneuerung des Vertrauens in die konstruktiven Möglichkeiten weitreichender Reform werden können. Doch im liberalen Staat konnte es nur Platz für eine marxistische oder sozialistische Linke geben. Veblen hielt man nur für geeignet, Sarkasmen über den Lebensstil und dessen Luftschlösser zu liefern. Die traditionelle Linke erschien (den Liberalen) stattdessen, vertrauenswürdiger zu sein: Vor allem war sie ein überzeugter Anhänger der Orthodoxie des Goldstandards2 ferner wünschte sie sich, was für die kapitalistische Ausrichtung nicht weniger wichtig war, das System der Wirtschaftsunternehmen gerade so, wie es war. Die europäischen Kommunisten verkündeten lediglich unaufrichtig, dass morgen die Maschinen den Arbeitern gehören würden. Daher war seit Ende des Zweiten Weltkriegs die Energie für Reformen im Westen in ein Beifalls-Spektakel umgelenkt worden. Dabei zollten die „Progressiven“ den antikolonialen Guerillakämpfern Beifall, während ihre konservative Opposition (natürlich alles Bürgerliche) Amerika, Israel, und die „traditionellen Werte“ unterstützte. Dieser erbitterte Streit dauerte bis zum Ende des Kalten Krieges. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die antiimperialistische Linke bewährt, als sie die aggressiven Missbräuche des Westens angeprangert hatte, und versagt, indem sie sich automatisch hinter jede (kommunistische) Führung gestellt hat, die offiziell vom Westen angegriffen worden war. Ohne den sowjetischen Schatten kam sie sich nun verwaist vor. Während dieser gesamten Zeit hatte das Rote Russland immer seine Unterstützung für die „Befreiungskämpfe der Völker“ überall auf dem Globus verkündet. Das war natürlich doppelzüngig, aber ein großer Teil der Öffentlichkeit im Westen hatte den Sowjets das abgenommen. In der post-sowjetischen Ära gab es jedoch, auch wenn man weiterhin die Un­ taten des imperialistischen Amerikas anprangern konnte, keine „symbolische“ Gegenmacht mehr, zu der man hätte aufschauen können. Die traditionelle Linke verlor damit die Hälfte ihres Glanzes. Daher rührte die Eile auf Seiten der Rechten, die Spannung nicht mehr im Sinne des Nord-Süd-Konflikts oder Kapitalismus gegen Staatssozialismus, sondern eher als Ergebnis eines „Kampfes der Kulturen“ 2 Karl Polanyi, The Great Transformation, The Political and Economic Origins of Our Time, Boston 2001 [1957], S. 26–7.

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neu zu definieren. In dieser Situation erwiesen sich sowohl das Bekenntnis der alten Linken zur Gewaltfreiheit, als auch ihre Analysen auf Grundlage marxistischleninistischer Stereotypen als gegenstandslos. Westler der Mittelschicht konnten es einfach nicht übers Herz bringen, den neuen arabischen Herrschern und den Islamisten zu huldigen. Der institutionelle Widerstand kam zum Erliegen. In dieser Situation traten die Postmodernen als Vorkämpfer des linken Diskurses auf. Wieder war es Foucault, der 1979 den Präzedenzfall mit seinem umstrittenen Aufenthalt in Teheran lieferte, bei dem er den Aufstieg des „Imam“ Khomeini feierte. Im Allgemeinen wurde diese Reise Foucaults von seinen postmodernen Bewunderern als peinliche Taktlosigkeit beurteilt. Doch handelte es sich um eine Episode von grundlegender Bedeutung. Es legte den Söldner-Charakter des ungeschriebenen Vertrags offen, mit dem sich die „radikalen Intellektuellen“ an das Establishment gebunden hatten. Wie immer zwischen Höflingen und Krone bestand das wesentliche Gegengeschäft (Geschenke, die sozusagen eine Gegenleistung verlangten) zwischen der Macht und den Schreiberlingen auf der Linken im Austausch von Ruhm und Gunst gegen eine „oppositionelle“ Propaganda, die mit den grundlegenden geopolitischen Strategien in Einklag war. Konzeption und Management dieser Strategien reichen weit über das Vorstellungsvermögen der Empfänger hinaus. Anlässlich des ersten Golfkriegs im Jahr 1991, der den „Kampf der Kulturen“ in der post-sowjetischen Ära eröffnete, schlug der Foucaultianer Jean Baudrillard ein wichtiges Kapitel der postmodernen Hinterhältigkeit auf. In eingängigen, allegorischen Werbetexten behauptete er, dass der Krieg ein „NichtEreignis“ sei, ein Meisterstück an Fernseh-Illusion aufgrund der spirituellen Energie (Macht) des Westens, die unter einem allmählichen Verlust an existentieller Bedeutung gelitten hatte. In dem Forum der politischen Konstruktion halten die Foucaultianer seitdem den Bereich, der den Linken vorbehalten war, fest im Griff. Foucaults epochale Mission in den Iran und Baudrillards psycho-virtuelles Spiel mit Foucaults Mythos haben im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts den Ton des linken Evangeliums angegeben. Am 11. September 2001 – der zweiten folgenschweren Begegnung des Westens mit der Politik im Nahen Osten nach dem Golfkrieg – versuchte Baudrillard erneut einen Taschenspielertrick in der gleichen Richtung. Er stellte den Terrorismus als die unterbewusste Nemesis des Westens dar, die ihm aus dem Selbsthass erwachsen sei. Verständlicherweise war dieses Mal die Aufnahme auf dem anglo-amerikanischen Markt viel kühler, obwohl die Foucaultschen Konstrukte, die Hardt und Negri geliefert hatten, der abgeschmackten ­Bataillschen Lizenz von Baudrillard und der Behörden voll entsprachen. Baudrillard sollte für eine Minderheit innerhalb des postmodernen Lagers einstehen. Diese bewegte sich links von der Hauptströmung der Foucaultianer, die Hardt und Negri repräsentierten und weit links von den Postmodernen, die aus leidenschaftlicher Sorge um das Schicksal der Frauen in der muslimischen Welt den Krieg von Bush II gegen den Terror sogar mit Begeisterung begrüßt haben. Nicht ausgelassen werden sollen die Patriarchen der antiimperialistischen Linken und ihre übrig­

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gebliebenen Anhänger. Sie haben sich hastig in die Debatte eingemischt, die die Anschläge von 9/11 mit dem sogenannten „Bumerang-Effekt“ erklärte. Nach ihren üblichen Schemata unterstellte die Erklärung, dass der Terror die brutale Heimzahlung für Jahrzehnte lange imperialistische Einschüchterungen war. Der verwirrende Aspekt der ganzen Episode ist, dass in den Grundzügen jede einzelne Erklärung der Dynamik der terroristischen Vorgänge, welche die offizielle Linke anbot, eigentlich mit der Ansicht der Regierung zu den Ereignissen übereinstimmte. Danach sollte es sich um einen Gegenschlag gegen einen Er­ öffnungszug gehandelt haben (ob ein guter oder schlechter, richtet sich nach der politischen Position des Meinungsmachers). Letztlich war die Darstellung der Linken, die weiterhin die Theorie vertrat, dass wütende Muslime darauf aus waren, Amerika durch Terror zu schaden, das entscheidende Mittel, um eines der letzten Hindernisse zur Auslösung des Krieges gegen einen unerklärten Feind aus dem Weg zu räumen. Fünf Jahre danach kann jeder die Ergebnisse deutlich erkennen: Die Verwüstungen Afghanistans, Zigtausende getöteter Zivilisten, die meisten davon im Irak, dessen bisheriges Regime, wie inzwischen zugegeben wird, an 9/11 nicht beteiligt war. Seitens der Regierung waren jedoch keine nennenswerten Anstrengungen unternommen worden, um die angeblichen Drahtzieher des 9/11-Angriffs zu fassen, geschweige denn, alle Feindseligkeiten einzustellen, bevor die Wahrheit nicht von einem Gericht festgestellt worden ist, wie das die US-Verfassung vorschreibt. Seit das Töten in der „Muslim-Zone“ begann, sind die Anti-Imperialisten und die meisten Foucaultianer für Frieden eingetreten, doch haben sie ihre Forderungen mit zu wenig Nachdruck und zu spät vorgetragen. Durch die Weigerung, die Gründe für den Terror und die Repressalien zu hinterfragen, als die Glut noch schwelte, und dadurch, dass sie sich mit der Herausgabe von „Analysen“, die den staatlichen Kommuniqués entsprachen, zufrieden gaben, hatten die offiziellen Linken in der Tat offen ihr Engagement für Gerechtigkeit und Frieden wider­r ufen, hatten sie ihre Opposition aufgegeben. Ein Großteil der von der Generation der Sechziger abstammenden Linken bleibt eine Ausnahmeerscheinung und lebt an den Hochschulen von der Erinnerung. […] Eine Linke ohne Macht ist einem vertraut und ist vielleicht ein bestimmendes Merkmal ihres historischen Dilemmas. Eine Linke ohne Wissen verliert ihre Existenzberechtigung.3

Dieses Kapitel beginnt mit einem kurzen Exkurs über das Scheitern der Linken aus Veblenscher Perspektive. Danach ist ein Abschnitt der Erfahrung F ­ oucaults im Iran zur Zeit des Untergangs des Schahs gewidmet, dem folgt Baudrillards Herangehensweise an die Intrigen gegen den Irak und wie er damit umging. Eine Übersicht über die Debatte der Linken den „Krieg dem Terrorismus“ betreffend schließt unsere Diskussion der Auswirkung der Postmoderne auf die amerika­ nische Politik ab. 3

John Patrick Diggins, The Rise and Fall of the American Left, New York 1992, S. 16.

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Veblen’s Testament und das Ende des Widerstands Die gegenwärtige Situation in Amerika hat so, wie sie ist, etwas von einer psychiatrischen Klinik an sich. Thorstein Veblen, Dementia Praecox4

Es ist bereits eine Binsenwahrheit, dass die sogenannte Linke tot ist. Unsere Bücher zur Zeitgeschichte erwähnen im Wesentlichen zwei Perioden, während derer in der westlichen Gesellschaft eine sichtbare Bewegung des Widerstands gegen die etablierte Ordnung entstanden ist. Diese sind die unmittelbare Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die 1960er Jahre. Beide schmerzlichen Revolten wirkten in ihren Anfängen echt. Wie sie dann entgleisten oder per­vertierten, und von den Machthabern neutralisiert und unterdrückt wurden, ist eine andere (wichtige) Geschichte. Doch so etwas wie der ursprüngliche Geist des Protestes, den beide Ereignisse geweckt hatten, erscheint in diesen Tagen vielen unwiederbringlich zu sein. Der wesentliche Unterschied zwischen „damals“ (vor allem Ende 1910 mit dem Wahlkampf des Sozialistenführers Eugene Debs in Amerika)  und „heute“ scheint in der Berufung der Linken auf den universellen Wert der Zusammenarbeit bestanden zu haben, deren Wert darin besteht, über das Trennende hinweg eine Einheit zu schaffen. Dies war ein wesentliches Bindeglied, das sich heute praktisch aufgelöst zu haben scheint. Ein Vierteljahrhundert postmoderner Eingewöhnung – an den Universitäten, Schulen und am Arbeitsplatz – hat es geschafft, das Zusammengehörigkeitsgefühl so zu verschleißen und zu zerbrechen, dass eine solche Verbindung mit jedem weiteren Tag immer weniger wiederherstellbar zu sein scheint. Dieses Phänomen ist besonders in den Vereinigten Staaten auffällig,  – weniger in Europa, wo allerdings ähnliche Kräfte am Werk sind – und das trotz der Tatsache, dass die Postmoderne ein durch und durch europäisches Konstrukt ist. Hätte sich die Linke Veblen zugewandt, wäre sie wohl immun gegen die starren und unbestätigten Schemata des Marxismus geblieben, die jene absurde, parteiische Rivalität, wie sie im Kalten Krieg ausgetragen wurde, geschürt hat. Noch genauer: Eine Linke im Gefolge von Veblen wäre für die teilnahmslosen Spitzfindigkeiten der Postmoderne unzugänglich gewesen. Im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Kritik an der Linken wegen ihrer Missverständnisse und ihrer vernichtenden Kompromisse bringen wir hier einen Überblick über Veblens abschließende Überlegungen über den krankhaften Zustand der modernen Gesellschaft und über die möglichen Mittel, mit denen dieser Zustand zu heilen wäre. Thorstein Veblen (1857–1929) war ein außergewöhnlicher Zeuge der abklingenden, hitzigen Revolte in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs in Amerika. 4 Thorstein Veblen, „Dementia Praecox“, in: Essays in Our Changing Order, New York 1934, S. 429.

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Er war am Rande auch selbst beteiligt. Ursprünglich abgestoßen vom kaiserlichen Deutschland, hatte er während des Konflikts hinter den Bemühungen der Alliierten gestanden. Er hatte jedoch anschließend bald bemerkt, dass das anglo-amerikanische Commonwealth in Versailles Intrigen gesponnen hat, um den Kriegszustand zu verewigen. Er hatte, wie viele amerikanische Radikale zu der Zeit, sich vom Westen abgewandt und das Aufkommen des Bolschewismus in Russland begrüßt. Lenin hatte den Bolschewismus als „Sowjets (Räte) plus Elektrizität“ beschrieben und Veblen ihn beim Wort genommen. Die Entstehung von Stadtstaaten mit Menschen ohne Herren, die von Räten aus Technikern in einer Welt ohne Gewinnausrichtung, auffällige Verschwendung und Verkaufstricks geleitet werden, war das, was Veblen sich zum Wohle der Menschen erhofft hatte. Dies war natürlich eine Vision eines kommunalen und pazifistischen Anarchismus, der nichts mit dem Bolschewismus gemein hatte. Tatsächlich hatte Lenin sich die anarchistische Idee der „Sowjets“ angeeignet und sie für seine eigenen totalitären Zwecke pervertiert.5 Als echter Dissident und „entfremdeter Intellektueller“ hielt sich Veblen jedoch „von der Politik fern“. Seine radikale Gesellschaftskritik sollte Zugang zur radikalen Politik der Linken finden.6 Als Eugene Debs dem amerikanischen Sozialismus Ansehen verschaffte und 1918 bewies, dass es vielleicht mehr an Heldentum verlangte, den Krieg zu verweigern als ihn zu bejubeln, als die Arbeiter Internationale der Welt 1919 streikte, und als das Volk und die Kriegsdienstverweigerer hier und da eine eigensinnige Entschlossenheit an den Tag legten, nicht auf die schizophren „Tünche“ und „überstürzte Intoleranz“ des Patriotismus hereinzufallen, beteiligte sich Veblen daran von ganzem Herzen. Doch versank er danach in einen Zustand bodenloser Verzweiflung, als er sah, wie die Polizei, vom Mob der Detekteien angestiftet, die Aufstände erfolgreich in die Unterwerfung prügelte. Zu Beginn der zwanziger Jahre waren die zwei leidenschaftlichen Jahrzehnte vorüber. Um daran zu er­innern und die letzten, verbitterten Worte zu diesem Thema zu sagen, schrieb ­Veblen 1923 seinen letzten Band, Absentee Ownership als eine Art Testament, eines, das sich zeitgenössische Dissidenten unbedingt ansehen sollten. Veblen hatte auch verstanden, dass die nationale Identität am Ende war. Er sah deutlich, dass „nationale Grenzen nichts mehr [trennten] außer nationale Gruppen mit Sonderinteressen“, und dass die „nationalen Grenzen [eindeutig] für die­ jenigen Sonderinteressen“ nützlich waren, die mit „fiebernder Dringlichkeit“ „nationale Feindschaften“ in der Absicht schürten, ihren Einfluss durch bevorstehende Auseinandersetzungen auszuweiten.7 Ein wichtiges Instrument, um die wechselseitige Zwietracht zu schüren, war das Kreuzfeuer der sozialistischen und anti-sozialistischen Parolen, die „angesichts der neuen Koordinierung der wirtschaftlichen Kräfte, die an der Wende des 20. Jahrhunderts vorherrschten, bereits 5

Martin Buber, Paths in Utopia, Boston 1958 [1949], S. 99–128. Diggins, American Left, S. 47, 48. 7 Veblen, Absentee Ownership, S. 6. 6

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überholt waren“. „Die rote Trennlinie“, hielt Veblen dagegen, „verläuft nicht zwischen denen, die etwas besitzen und denjenigen, die nichts besitzen …, sondern zwischen denen, die mehr besitzen, als sie persönlich nutzen können und denjenigen die dringend mehr benötigen als das, was sie haben“.8 Doch Gewalt und Propaganda reichten für die Machtausübung nicht aus, wenn nicht der Geist der jeweiligen Bevölkerung selbst – sozusagen – das Ziel eines anhaltenden Prozesses geistiger Prägung ist. Die eigentliche Stärke von Veblens Analyse lag auf dem Feld der kollektiven Psychologie. Seine anti-oligarchische Analyse der hegemonialen Kräfte war im Gegensatz zu der von Karl Marx nicht auf wirtschaftliche, sondern auf geistige Faktoren ausgerichtet. Als solche war sie, im Gegensatz zu derjenigen Foucault, tatsächlich eher zutreffend als fiktiv. Veblen rechnete mit bewundernswertem Durchblick mit einem Prozess der „Selbstvergiftung“. Er meint damit, dass die instinktive Ehrfurcht, die der Durchschnittsbürger den Mächtigen gegenüber empfindet, ihn veranlasst, sich selbst zu überzeugen, dass der dem Führer zugestandene Reichtum auf einem gewissen angemessenen und souveränen Recht beruht. Dieses Recht könnten die Bürger im Bestreben, den Glanz und Ertrag der Macht zu teilen, auch für sich beanspruchen. Macht in der modernen Ära nannte Veblen „nicht beteiligte Eigentümerschaft“. Es handelt sich um einen Anspruch auf Reichtum aufgrund fremder Arbeit ohne eigene Beteiligung, das heißt, um einen systematischen Abzug von Renten als freies unverdientes Einkommen, der hinter der anonymen Fassade der Banken- und Finanz-Netzwerke erfolgt.9 Jünger hatte dazu gesagt, dass „die tiefen und unauslöschlichen Instinkte der Menschen monarchistisch“ seien.10 Und genau gegen diesen barbarischen Antrieb, der Menschen gegenwärtig veranlasste „sich danach zu drängen, etwas für nichts zu bekommen“, richtete sich Veblens idealistischer Kampf.11 Das Gerangel, „um seine Dollars in der Bank auf Kosten der unteren Bevölkerungsschichten arbeiten zu lassen“ wurde mit der „patriotischen Hingabe für das nationale Establishment“ verkoppelt. Das lief in der Tat weitgehend auf dasselbe hinaus wie die parteiische Ergebenheit an eine bestimmte Gang oder Clique politischer Schacherer, deren Anliegen es ist, das nationale Establishment zum Vorteil einer bestimmten Gruppe geschäftlicher Sonderinteressen zu nutzen. […] Wenn nationale Inflation mit wirtschaftlichem Unternehmensinteresse verbunden ist […], ist das Ergebnis jener demokratische „Imperialismus“, der heute die antike Ausübung der Staatskunst fortsetzt.12

Dies ist eine überzeugende Beobachtung eines Systems, das sich selbst seit dem letzten Jahrhundert identisch geblieben ist. Es ist auch eine vorausschauende Bekundung der Rhetorik, die das Markenzeichen der Neocons werden sollte, die 8

Ibd. S. 9. Ibd. S. 350. 10 Jünger, Der Waldgang, Frankfurt 1951, S. 135. 11 Veblen, Absentee Ownership, S. 29. 12 Ibd. S. 30, 31 (Hervorhebung hinzugefügt). 9

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sich dazu sogar selbst als „demokratische Imperialisten“ bezeichnet haben.13 Veblen hielt die Menschen in Amerika für „sehr leichtgläubig im Hinblick auf alles, was im Namen wirtschaftlicher Geschäfte gesagt und getan wird“ und schätzte ihre „sentimentale Hochachtung für den Scharfsinn der Geschäftsleute […] als tiefgründig und rege“ ein.14 Diese Denkweise, die „Illusionen über die nationale Solidarität hat treue amerikanische Steuerzahler“ dazu gebracht zu glauben, dass ihre Überweisungen nach Washington ihnen selbst auf irgendeine „okkulte Weise“ nützlich seien, – und zwar auf eine „obskure Weise, die kein loyaler Bürger zu genau untersuchen solle“.15 „Und die Steuerzahler zahlen brav für die Rüstungsausgaben der öffentlichen Hand […], deren Verwendung den nicht beteiligten Eigentümern ermöglicht, ihre privaten Gewinne zu erhöhen. Tatsächlich sind die gleichen Steuerzahler vor Ort dafür bekannt, gelegentlich gerne und stolz Leib und Leben zur Verteidigung eines […] Handels zu riskieren, der ‚der Flagge folgt‘. Sollte ein einfacher Bürger […] zögern, Leben und Vermögen […] zur größeren Ehre der Flagge einzusetzen […], wird er zum ‚Drückeberger‘. […] Aus Ungleichheit und Sünde hervorgegangen hat der Geist des Nationalismus nie aufgehört, menschliche Institutionen in den Dienst für Zwietracht und Angst zu beugen. Im Hinblick auf seine materiellen Auswirkungen ist der Nationalismus insgesamt die finsterste und schwachsinnigste von allen institutionellen Belastungen, die von der alten Ordnung überkommen sind. Der nationale Herden-Geist aus Eitelkeit, Angst, Hass, Verachtung und Unterwürfigkeit macht noch immer aus dem loyalen Bürger ein handliches Werkzeug in den Händen ihrer Widersacher, ob sich diese Gefühle nun um die gesalbte Person eines Souveräns oder um den magischen Namen einer Republik ranken.“16

Für Veblen waren nationalistische Feindseligkeit und „geschäftliche Oppor­ tunität“, die er beide für „wesensfremde“ Dimensionen im Bereich der Wirtschaft hielt17, die geistigen Antriebe, die für das verantwortlich waren, was er die amerikanische Absicht oder Politik nannte, nämlich die „bestehende Praxis, allen öffentlichen Reichtum nach einem Plan der legalisierten Übernahme in private Gewinne zu überführen“.18 Veblen verbitterte die Nutzlosigkeit der „großen Gewerkschaften“, die begonnen hatten, die Mitgliedschaft so zu behandeln wie Industriekapitäne die Produktion. Sie drosseln bewusst den Ausstoß (oder die Mitgliedschaft) durch Streiks und Aussperrungen, um Zusatzeinkünfte und Löhne hochzutreiben. Insgesamt scheinen Meister und Vorarbeiter übereingekommen zu sein, die Entscheidung über das, „was eine einigermaßen geeignete Lebensgrundlage für die Arbeiter“ sei, am besten „den bedeutenden Bürgern“ zu überlassen. Mit anderen Worten, beide Parteien stimmten darin überein, dass „die Arbeiter für ihren Lebensunterhalt arbeiten und die Eigentümer-Arbeitgeber für ihren 13 Irving Steltzer, „Neoconservatives and Their Critics, An Introduction“, in: The Neocon Reader, ed. Irving Steltzer, New York 2004, S. 18. 14 Thorstein Veblen, The Engineers and The Price System, New York 1921, S. 112, 150. 15 Veblen, Absentee Ownership, S. 36. 16 Ibd. S. 36, 38. 17 Ibd. S. 274. 18 Ibd. S. 168.

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Gewinn investieren sollten“. Keinem von beiden war je in den Sinn gekommen, warf Veblen ein, dass die Lösung vielleicht genau das Gegenteil eines solchen Satzes wäre, nämlich, dass „die Eigentümer-Arbeitgeber für ihren Lebensunterhalt investieren und die Arbeiter für ein Mehr, einen Gewinn arbeiten sollten. Man sollte damit aufhören, die Arbeiter auf einen Lebensunterhalt zu fixieren, der den Eigentümern/Arbeitgebern als ausreichend erscheint.“19 Um diese Vision in ein praktikables Projekt umzuwandeln, müsste man die Struktur, die „mehrere Systeme“ der Christenheit regeln, revolutionieren. Es gab drei solcher Strukturen: Das mechanische System der Industrie, das Kredit- und Preissystem und die nationale Führung. Veblen verstand die Nation als ein räuberisches und dynastisches Relikt, das von den Interessen der unbeteiligten Eigentümerschaft mit Hilfe demokratischer und parlamentarischer Institutionen in den liberalen Staat umgearbeitet worden ist. Das Kredit-System ist dagegen die von der Elite der unbeteiligten Eigentümer immer ausgefeiltere Einrichtung zur Regulierung der Umverteilung des Reichtums von der arbeitenden Bevölkerung an die höheren Ebenen der Entscheidungsfindung.20 Ein solches System funktioniert wie eine parasitäre Apanage, die auf jede einzelne Kapillare des industriellen Apparats zugreift. Der technische Bestand war für Veblen die einzigartige, wertvolle Quelle des Reichtums des Gemeinwesens und damit dessen alleiniges Eigentum. Auf diese Weise verstand er die aktuelle wirtschaftliche Situation als eine, deren Kräfte oder Elemente „entlang einer Grenzlinie in zwei Hälften aufgeteilt ist: die Zinsinteressen und die breite Bevölkerung“.21 Um das technologische Erbe der Kontrolle durch Geschäftswelt und Bürokratie zu entreißen, gab es für Veblen in Zukunft keine andere Alternative als „diese geschäftsmäßige Anordnung auseinander zu nehmen und die Gewerke nach einem anderen Plan zum Besseren oder Schlechteren wieder zusammenzufassen“.22 Man musste darauf sinnen, dass die Elite „wenn auch ungern so doch von selbst abdankt“23 und sich so friedlich der Finanztitel ihres Reichtums entledigt. Danach würde Veblen alle „jene zitternden Sanguiniker“ ermahnt haben, sich dem „kritischen Abenteuer“ zu unterziehen, das hoffentlich zur Bildung von „Sowjets der Techniker“ führen würde.24 Vom „Teamgeist“, der diese Räte von Physikern und Ingenieuren erfüllt, sollte man erwarten, dass er von den Fesseln der Großforschung und der Unternehmens-Ethik befreit „eine gerechte Verteilung der Konsumgütererzeugnisse sicherstellt“. Da waren sie wieder, Platons PhilosophenKönige. „Die Grundzüge der ergänzenden Vorbereitung“ für ein solches Abenteuer hätten zu sein: (1) „eine umfassende Untersuchungs- und VeröffentlichungsKampagne, um der Gesamtbevölkerung ein angemessenes Verständnis für das 19

Ibd. S. 295. Ibd. S. 398. 21 Ibd. S. 399. 22 Ibd. S. 425. 23 Veblen, The Engineers, S. 141. 24 Ibd. S. 116, 152. 20

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zu verschaffen, worum es überhaupt geht“, und (2) die Erarbeitung „einer solidarischen Gesinnung unter den Technikern und Arbeitskräften im Transportwesen und in den größeren, grundlegenden Industriebranchen des Systems“.25 Zur Verteidigung des Wohlergehens der Menschen widersetzte sich Veblen polemisch einer stark zentralisierten Befehlsstruktur, die von barbarischen und parasitären Oberherren übernommen worden war. Er wünschte sich, dass sie durch Teams mitfühlender und kompetenter Wissenschaftler ersetzt würden, die sich für Gerechtigkeit und Gleichheit engagieren: keine unbeteiligte Eigentümerschaft, keine Diktatur des Proletariats, und schon gar kein allumfassendes Macht-Magma im Sinne Foucaults, das von der Wut der „Minderheit“ durchsetzt ist. Solche Vorstellungen hätten die Ausgangsplattform einer praktisch orientierten Linken bilden sollen. Natürlich hatte Veblen Bedenken. Seine „Räte“ erscheinen „im besten Fall als eine ferne Möglichkeit“.26 Bis heute haben „Wissenschaftler“ keinerlei Neigung zu einer „revolutionären Umgestaltung“ gezeigt, sondern waren wie bisher an der kurzen Leine ihrer „Angestelltenloyalität“ geblieben.27 Veblen hatte dies vorhergesehen. In Anbetracht jener leichtgläubigen Geistesverfassung und der Ehrfurcht vor den Unternehmen, die beide die kritischen Möglichkeiten der Durchschnittsbürger außer Gefecht setzen, verstand Veblen resignierend, dass man erst nach „einem spürbaren Verstreichen von Zeit“ auf einen Verzicht auf persönliche Interessen in Verbindung mit einer Verschiebung des allgemeinen Verständnisses hoffen kann.28 Als einsamer, desillusionierter Mann starb er im August 1929, wenige Wochen vor der ersten schweren Krise des verabscheuten Systems, die er vorausgesehen hatte.29 Es war sein Wunsch, dass ihm im Falle des Todes kein Bild oder Denkmal, das an ihn erinnern soll, an irgendeinem Ort und zu irgendeiner Zeit errichtet werde.30 Doch wäre es sicherlich eine Schande, wenn heute alle Reformbewegungen im Streben nach Frieden, zum Schutz der Umwelt, zur Förderung der heimischen Wirtschaft, zur Abwehr globalisierter Unternehmen und Handels­ ketten und zur Einführung regionaler Währungen vergessen würden, gerade sein Bild an ihre Fahnen zu heften. Das Erbe Veblens ist für unsere Zeit notwendiger denn je, um wirklich zu verstehen, „worum sich alles“, wie er sagte, „dreht“, und damit die Dinge zum Besseren zu kehren. Doch Veblen war Anarchist, ein Tagträumer, während im Reich der Macht, wie Jünger lehrte und Foucault es zum Beweis vorlebte, nur Anarchen wirklich gedeihen. Die Linke hat Veblen völlig übergangen und ihn in eine unverdiente Vergessenheit abgedrängt, aus der er noch immer nicht ganz aufgetaucht ist. Für ihn 25

Ibd. S. 168. Ibd. S. 134. 27 Ibd. S. 150, 138. 28 Ibd. S. 151. 29 Veblen, Absentee Ownership, S. 364. 30 John Dos Passos, U. S. A., New York 1966 [1938], S. 815. 26

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gab es keinen Platz in der mythenbildenden Arena der liberalen Regierungen, von Regierungen, die sich viel lieber für Marxisten erwärmten, deren „Metadiskurs“ tatsächlich dem der Liberalen sehr ähnlich ist. Während die modernen Liberalen einer „anti-liberalen Verschwörung“ nationalistischer Großagrarier und vor allem den sozialistischen Gewerkschaften die Schuld an der sozialen Unordnung gaben, hielten die Marxisten dagegen, dass die Emanzipation der arbeitenden Massen von nichts anderem behindert werde als von einer antiproletarischen Verschwörung, geschürt vom industriellen Imperialismus und dem agrarischen Chauvinismus.31 In der Tat kreisen beider Überlegungen um exakt den gleichen WirtschaftsMythos, in dem sie nur entgegengesetzte Positionen beziehen. In Bezug auf Macht, Geld und Fortschritt denken sie beide gleich. Während die „Feinde“ ähnliche „Wahrheiten“ hoch halten, ordnen sie sich nach der verfassungsmäßigen Auf­ teilung: Liberale nach rechts und Sozialisten nach links. Ein echter Linker hätte wohl gedacht, dass die ‚Große Depression‘ die günstige Gelegenheit für die Weltrevolution gewesen wäre. Doch wieder einmal haben sich die „Massen“ im Westen kaum gerührt, am allerwenigsten in Amerika, wo sie während dieses düsteren Zwischenspiels – von ein paar Ausnahmen in den frühen dreißiger Jahren abgesehen – seltsam zahm geblieben waren.32 Für die elf Millionen Arbeitslosen hielt die Regierung einen zweiten Weltkrieg bereit, in dem diese mit nicht weniger Eifer als im ersten kämpfen würden. Als Deutschland 1945 schließlich erledigt war, änderte man das Spiel um die Nationen noch einmal. Dieses Mal griff man auf eine einfache bipolare Organisation zurück, in der die pro-kommunistische „Opposition“ zum liberalen Staat auf übliche Weise dadurch ausgebremst wurde, dass man sie im vorbereiteten Rollenspiel zur „feindlichen Linken“ erklärte. Diese stillschweigende Vereinbarung entsprach der weit überlegenen Macht der Vereinigten Staaten gegenüber der UdSSR während der gesamten Dauer des Kalten Kriegs. Die Russen hatten nie die Absicht gehabt, Eurasien zu spalten. Doch wurde diese Anordnung zum Beispiel an Hand der marxistischen Haltung der kommunistischen Parteien Westeuropas bis zum Sturz der Berliner Mauer offenkundig. Diese Parteien wurden zum großen Teil von Moskau finanziert.33 Sie brachten der arbeitenden Klasse einige Verbesserungen, aber sie strebten nie – und das war eine wohl etablierte Richtlinie – irgendeine Kommando-Position an. Sie teilten die Macht um des Teilens willen und zwar in der Eigenschaft als Vorzeige-Gegner und nichts anderes.34 Die linken Parteien boten auch all jenen mehr oder weniger ehrgeizigen Anarchen aus der Oberschicht 31

Polanyi, Great Transformation, S. 151, 158–170. Diggins, American Left, S. 146. 33 Christopher Andrew/Vasili Mitrokhin, The Sword and the Shield, The Mitrokhin Archive and the Secret History of the KGB, New York 1999, Kapitel 17. 34 Eine Liste der CIA-Übergriffe im Ausland findet sich bei William Blum, Killing Hope. U. S. Military Interventions Since World War II, Monroe, ME 2004, und Einblicke in die Rolle, die der KGB in der amerikanischen Einflusssphäre (in Italien) spielte gibt Rocco Turi, Gladio Rossa. Una catena di complotti e delitti dal dopoguerra a Moro, Venedig 2004. 32

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eine Plattform und ein zu Hause, die davon träumten, unter dem Deckmantel und in der Rolle des „radikalen“ und schließlich aufgeklärten Volkstribunen ein wenig an der Macht zu lecken. Die halbverbindliche Militanz der Intellektuellen in der PCF (Frankreichs Kommunistischer Partei – ebenfalls nur ein Bauer im Spiel des KGB) wurde zu einem unterschiedlichen Grad an Überzeugung von vielen Vertretern der Postmoderne, wie etwa Foucault, ausgeübt. Sie bildete zum Beispiel einen der erkennbaren Züge der Mächte-Theatralik des Kalten Kriegs in Europa. Das rebellische Aufflackern gegen Ende der sechziger Jahre – zu einer Zeit, als der Nachkriegsaufschwung zum Erliegen kam und ein echtes Verlangen nach Veränderung aufgekommen war – wurden in Europa mit den Mitteln der herkömmlichen Repression und des staatlich organisierten Terrors ausgetreten. Das erfolgte nach der sogenannten „Strategie der Spannung“, an die Italien und Deutschland die lebhafteste Erinnerung haben (Dabei stammte die Bewaffnung und Leitung der subversiven, links- und rechtsextremen Kerne von Diensten im In- und Ausland). In Amerika hatten die Eliten, etwa der Morgan-Trust, „linke politische Bewegungen“ seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auf ähnliche Weise [infiltriert].35 Dies war relativ leicht zu machen, da diese Gruppen nach Zuwendungen hungerten und begierig ein Sprachrohr suchten, um die Menschen zu erreichen. Wall Street lieferte beides. Das Ziel war dabei nicht die Gruppen zu zerstören, zu dominieren oder zu übernehmen, sondern eigentlich ein dreifaches: (1) sich über das Denken der linken […] Gruppen informiert zu halten, (2), ihnen ein Sprachrohr bereitzustellen, damit sie „Dampf ablassen“ konnten, und (3), um letztendlich eine Veto bei ihrer Veröffentlichungsarbeit und mög­ licher Weise bei ihren Aktionen auszuüben, sollten diese je „radikal“ werden.36

Die logistische Nähe des Establishments zu der Linken hilft, die besondere Landschaft des Wandels, der Meinungsmache und Kontrolle zu erklären, die in den sechziger Jahren in Amerika in Form ihrer beiden entscheidenden Momente, der Bürgerrechtsbewegung und der Proteste gegen den Vietnamkrieg, aufgekommen war. Die Notwendigkeit für das Regime, die Ressentiments, die unter den Schwarzen im Süden zu brodeln begann, zu zügeln, spitzte sich mit Martin Luther Kings Marsch nach Washington im Sommer 1963 zu. Vertreter der KennedyRegierung stellten zufrieden fest, der Präsident habe erfolgreich „Schritte unternommen, um die Negro-Revolution in die Demokratische Koalition einzubinden“.37 Auf der anderen Seite prangerte Malcolm X als Sprecher der Nation of Islam das Ereignis als „Zirkus“ an. Es zeigte sich tatsächlich, dass die Regierung damit die aus dem Marsch herrührende „Wut“ zerstreut und so verhindert hat, dass sie sich „radikalisierte“. Der Civil Rights Act von 1964 hat Diskriminierun 35

Carroll Quigley, Tragedy and Hope, A History of the World in Our Time, New York 1966, S. 938. 36 Ibd. 37 Arthur Schlesinger, Jr. zitiert nach Howard Zinn, A People’s History of the United States, 1492 – Present, New York 2003, S. 458.

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gen verboten und war so ausgelegt, Betriebe zu ermutigen, Einstellungen auf der Grundlage von Fähigkeiten und Qualifikationen und nicht von Rasse oder Religion vorzunehmen. Aber nach Samuel Huntington gingen die Führer der Schwarzen unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes dazu über, für Rassen­quoten zu agitieren, weil sie davon ausgingen, dass die Schwarzen als Gruppe noch immer von dem Bewertungssystem, das die Weißen durchsetzten, benachteiligt würden. Weiterhin voll Misstrauen gegenüber der US-Regierung hörten diese Führer auf „gleiche Rechte für alle amerikanischen Bürger [zu fordern], sondern sie forderten staatliche Sozialleistungen für die Schwarzen als rassische Gruppe […]“.38 In diesem Sinne interpretiert der Oberste Gerichtshof auch das Wahlgesetz von 1969. Es schrieb „ein System der politischen Vertretung vor […], das die Wahl von Kandidaten der Minderheiten garantierte“.39 Die Wende zugunsten der Rassenquoten zeigte sich im Frühjahr 1966, als Bürgerrechtler zum Beispiel afro-amerikanische Schulleiter in Schulen mit „Afrozentrischen“ Lehrplänen forderten.40 Diese Tendenz hatte ihren Ursprung in der institutionalisierten Fragmentierung der Gesellschaft nach rassischen Abgrenzungen, wie es die „Nation of Islam“ befürwortete. Diese Gruppe wollten die schwarzen Nachbarschaften in eine Art Chinatown umwandeln, in einen rassisch getrennten Mikrokosmos innerhalb der breiteren amerikanischen Gesellschaft.41 Ganz plötzlich machten Philanthropen aus der Elite, wie die Leute hinter der Ford Foundation, viele Millionen Dollar42 für die Einführung des Multikulturalismus im Namen der „kommunalen Kontrolle“ (community control) locker.43 Der ­Dollar-Segen von oben führte bald zu einem wilden Wettbewerb unter den Kandidaten der „Minderheiten“ um die knappen Positionen und Ressourcen. Zum Nachteil der Integration und zur Verschärfung der zunehmenden Fixierung auf die „Identität“ versuchten nun rivalisierende „Gruppen“ einander in dem Versuch zu überbieten, die Auszeichnung, das schlimmste Opfer zu sein, zu gewinnen.44 Das Muster dafür gab die Nation of Islam vor, als sie die Bedeutung der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis relativierte, indem sie den Fokus auf die Sklaverei legte.45 Damals, Ende der sechziger Jahre, trennten sich die Wege der amerikanischen Juden und der Schwarzen, nachdem sie in der Bürgerrechtsbewegung noch Seite an Seite gekämpft hatten. Angeblich fühlte sich „jede Seite verletzt und als Opfer, und jede forderte die Anerkennung ihrer besonderen Schmerzen

38 Samuel P. Huntington, Who Are We? The Challenges to American Identity, New York 2004, S. 190. 39 Ibd. S. 192. 40 Maurice R. Berube, Radical Reformers, The Influence of the Left in American Education, Greenwich, CT 2004, S. 22. 41 Gilles Kepel, A l’ouest d’Allah, Paris 1994, S. 60. 42 Huntington, Who Are We? S. 193. 43 Vgl. Berube, Radical Reformers, S. 24. 44 Kepel, A l’ouest d’Allah, S. 76. 45 Ibd. S. 86.

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und Leiden, bevor sie bereit war, eine neue Beziehung zu definieren“.46 Die jüdische Seite erinnerten die „rassischen Präferenzen“ zu sehr an „antisemitische Quoten“. Das Bewusstsein, eine „hoch gebildete und erfolgreiche Gruppe zu sein, die weniger als 3 Prozent der Bevölkerung repräsentierte“, konnte diese Gruppe nicht dazu bewegen, einer Aufteilung der Beute „entlang ethnischer Abgrenzungen“ zuzustimmen.47 Seitdem wetteifern alle Clans in diesem „makabren Wettbewerb“48 und schauen einander missbilligend an. Jeder schwingt seinen eigenen Holocaust als Waffe und Argument im Streit: Gorea, Wounded Knee, Auschwitz … Diese Politik der Verbitterung erwies sich zur Aufspaltung der unteren und mittleren Klassen als so erfolgreich, dass 1972 sogar Präsident Nixon eine Gesetzgebung für ethnische Gruppen unterstützte und sich „angeblich für die Bevorzugung benachteiligter Gruppen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen ein[setzte], um einen Konflikt zwischen den schwarzen Mitgliedern der demokratischen Partei und ihren weißen Mitgliedern aus der Arbeiterklasse zu provozieren“.49 Nicht weniger erfolgreich war die US-Regierung bei der endgültigen Zer­ schlagung der Proteste der Schwarzen, indem sie seine letzten Vertreter, die Black Panthers, in die Enge trieb. Wie es dazu kam, dass all die verschiedenen Kräfte innerhalb der schwarzen Bewegung mit ihrer symbolischen Ausrichtung in die Hände dieser Extremisten gerieten, ist ein Rätsel geblieben. Die postmoderne Szene debütierte, als der Leiter der New Yorker Philharmonie, Leonard Bernstein, auf Cocktailpartys, auf denen viel herumgetratscht wird, gerne den extravaganten Gastgeber der Black Panthers spielte. Damals kam die Redensart von der „Radikalen-Schickeria“ (radical chic) auf. Die Black Panthers wurden ursprünglich von einer in sich geschlossenen Vision zusammengehalten, die zum Teil auf den Plan der Rassentrennung des Malcolm X zurückging und auf die Stärkung der Solidarität in der Gemeinde und auf Bildungsprojekte abzielte. Doch waren ihre Führer viel zu schießwütig, störrisch und unnachgiebig, um den Dissens unter den amerikanischen Schwarzen insgesamt zum Ausdruck zu bringen. Jünger hätte sie zweifellos als „Partisanen“ eingeordnet. Die halbverrückte Redensart der Black Panthers, „Schweine zu töten“ und „die Regierung der Vereinigten Staaten zu stürzen“, eignete sich ideal zur Schwächung der Linken und für die Manöver des FBI. Dem FBI fiel es dann ziemlich leicht, sie zu infiltrieren, zu spalten, und eine große Menge von ihnen zu inhaftieren und zu ermorden. Bis 1970 war das schließlich abgewickelt.50 Das Auftauchen und Verschwinden der Black Panthers an der Spitze der Bür­ eather gerrechtsbewegung stimmte recht genau mit dem Aufstieg und Fall der W 46 Murray Friedman, What Went Wrong? The Creation and Collapse of the Black-Jewish Alliance, New York 1995, S. 3. 47 Ibd. S. 309, 312. 48 Kepel, A l’ouest d’Allah, S. 86. 49 Huntington, Who Are We?, S. 185. 50 Ward Churchill/Jim van der Wall, The COINTELPRO Papers. Documents from the FBI’s Secret Wars Against Dissent in the United States, Cambridge, MA 2002, S. 117–64.

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Underground Organisation (WUO) an der Spitze der weißen Antikriegsbewegung der „Neuen Linken“ überein. Die sogenannte Neue Linke war Anfang der sechziger Jahre als modernisierte Widerstandsbewegung entstanden. Sie verstand sich prinzipiell als unabhängig von der Sowjetunion und war dieser teilweise sogar feindlich gesonnen.51 Sie wollte angeblich die progressiven Bestrebungen der amerikanischen Mittelklasse verkörpern. Sie „war eine der großen Überraschungen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts“.52 Allerdings geriet die Avantgarde der Neuen Linken, die Studenten für eine Demokratische Gesellschaft (SDS), selbst unter die Führung von Partisanen wie Tom Hayden. Dieser schien seit 1965 weit mehr dazu zu neigen, Unruhen zu provozieren als ein klares Verständnis über die Krise in Vietnam und zu Hause wecken zu wollen. Hayden konnte sich auch auf den Schutz seines Freundes, des damaligen Generalstaatsanwalts Robert Kennedy verlassen. Ab 1962 bekam der SDS große Zuwendungen von Seiten der Ford Foundation. Auch die Rockefellers gehörten zu den Unterstützern der Neuen Linken und finanzierten deren Publikationen.53 Das Besondere in dieser Angelegenheit war die zeitlich abgestimmte Bemühung des Welt-Kommunismus, diese selbsternannten Partisanen der amerikanischen Linken, einschließlich der Black Panthers, unter ihre Schirmherrschaft zu nehmen,54 indem sie ihnen Unterschlupf oder mit Pauken und Trompeten große Empfänge auf Propagandatouren zu den „revolutionären Vorposten“ von Havanna über Algier, Bratislava, Moskau und Hanoi bis Pjöngjang boten. Die Reise Haydens mit seiner Frau, der Schauspielerin Jane Fonda, nach Hanoi während des Vietnamkrieges bildete den bemerkenswerten Rahmen dieses seltsamen Wirbels. Ebenso faszinierend war die Odyssee des schwarzen Aktivisten Robert Franklin Williams, eines Verfechters von Gewalt zur Selbstverteidigung. Aufgrund erfundener Anschuldigungen wurde Williams zum Verlassen der Vereinigten Staaten genötigt. Er floh nach Kuba, wo ihm Fidel Castro 1961 aufrührerische Radioübertragungen ermöglichte. 1966 wurde Williams mit Pomp als Maos Gast in Peking empfangen, bevor er 1969 von der US-Regierung und der CIA heimgeholt wurde, um ihn nach der Ermordung von Martin Luther King und der Zerschlagung der Black Panthers zum neuen Führer der Schwarzen in Amerika aufzubauen. Williams entschied sich aber stattdessen, einen Posten als Sinologe an der Universität von Michigan anzunehmen, wo er Henry Kissingers Assistenten auf Kosten der Ford Foundation ein Jahr lang unterrichten sollte.55

51

James Weinstein, The Long Detour. The History and Future of the American Left, Boulder, CO 2003, S. 175. 52 Diggins, American Left, S. 219. 53 David Horowitz, Radical Son, A Generational Odyssey, New York 1997, S. 211. 54 Vgl. Andrew Mitrokhin, The Sword and the Shield, S. 237–8. 55 Siehe Timothy B. Tyson, Radio Free Dixie. Robert F. Williams & the Roots of Black Power, Chapel Hill, London 1999, und die Dokumentation von Sandra Dickinson und Churchill Roberts, Negroes With Guns, (South Burlington, TV: Documentary Institute, 2005).

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Als Fidel Castro im Januar 1968 den großen „Kultur-Kongress“ nach Havanna einberief, auf dem er ein Kontingent von 470 Intellektuellen aus Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien präsentierte, erlebte die Welt die Inauguration der glamourösen Saison des sogenannten gauchisme, also der progressiven Linken, die bei gut der Hälfte der westlichen Bourgeoisie so modisch und tief verwurzelt ankommen sollte. Die Schau machte am Vorabend des Jahrzehnte langen arabischnationalistischen Terrorismus, der später als „islamistischer“ runderneuert wurde, auch auf eine Gruppe von palästinensischen Vertretern aufmerksam. Das KalteKriegsspiel bot fortan westlichen Meinungsempfängern zwei integrierte Möglichkeiten an: Er oder sie konnte entweder ein anti-imperialistischer Linker sein, der sich für Ho Chi Minh und den Vietcong, für Castro und Che Guevara, palästinensische Fedajin und die UdSSR erwärmte, oder ein Konservativer, der für Amerika, Israel und die liberale Demokratie jubelte. Ein Drittes gab es nicht (tertium non datur). Aufgrund einer nebulösen Abfolge von Manövern, die nicht zufällig parallel zum Aufstieg der Black Panthers verlief, wurde der SDS von seiner maximalistischen Randgruppe übernommen, welche die „Abneigung der Neuen Linken gegen universelle Prinzipien“ in reiner Form verkörperte.56 Es handelte sich um eine Splittergruppe, die sich (nach einem Lied von Bob Dylan) Weathermen nannte. Sie rief ab 1968–69 zur Tötung von Polizisten, zur kompromisslosen Unterminierung von „Amerika“ und folgerichtig zu einem revolutionären Bündnis mit den Black Panthers auf. Zusammen mit anderen terroristischen Formationen aus der ganzen Welt wurden die Weathermen in Trainingslagern auf Kuba in Aufstands-Taktiken ausgebildet.57 Der kubanische Geheimdienst-Apparat war damals eine Außenstelle des KGB.58 Ende 1969, als der Staat die Black Panthers mit Gewalt zu unterdrücken und gegen einen großen Teil der gewaltfreien Anti-Kriegs-Demonstranten in Amerika mit der Justiz (mit Gerichtsverfahren und Prozesskosten) vorzugehen begann,59 änderten die Weathermen ihre Strategie. Von selbsternannten „egomanischen“ Führern angetrieben, entschloss man sich, „das Vaterland“ zu zerstören.60 Die Organisation engagierte sich zu einer lange dauernden Kampagne von Bombenanschlägen, unter anderen auf Ziele wie das Pentagon und das Capitol. Wie eine derart mickrige Fraktion eine solche Kampagne fast ein Jahrzehnt lang ungestraft durchstehen konnte, bleibt ein Rätsel. Als sicher erscheint es jedoch, dass die Weathermen, wie die Panthers, von Provokateuren des FBI infiltriert waren.61 Dieser Umstand könnte erklären, weshalb die Behörden sie so lange haben gewähren lassen. Das geschah möglicherweise in der Absicht, die Zersetzungsarbeit der Organisation zur Diskreditierung der Linken, aus der die Weathermen hervorge 56

Weinstein, The Long Detour, S. 176. David Horowitz, Unholy Alliance, Radical Islam and the American Left, Washington, D.C 2004, S. 197. 58 Juan Vives, Les Maîtres de Cuba, Paris, S. 346. 59 Churchill, van der Wall, The COINTELPRO Papers, S. 187. 60 Ron Jacobs, The Way the Wind Blew. A History of the Weather Underground, London, New York 1997, S. 85. 61 Churchill, van der Wall, The COINTELPRO Papers, S. 223. 57

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gangen waren, so lange zu beobachten, bis man sie für abgeschlossen hielt. Das war anscheinend Mitte der siebziger Jahre der Fall: Der Vietnamkrieg war verloren und die Antikriegsbewegung hatte sich in Folge dessen ebenfalls erledigt. Woher nun der Wind wehte, zeigte sich an den Weathermen selbst. Sie verlagerten den Schwerpunkt ihrer Verlautbarungen, die früher gegen die Übel des Imperialismus gerichtet waren, nun gegen die „männliche Vorherrschaft“.62 Die Schablone wurde ausgewechselt. Mark Rudd, ihr Anführer, ergab sich 1977 den Behörden. Im selben Jahr erfolgte in Amerika die Markteinführung von Foucaults Überwachen und Strafen. 1981 lieferten sich zwei weitere führende Vertreter der Weathermen, Bernardine Dohrn und ihr Mann Bill Ayers, den Behörden aus, um ein Jahrzehnt später, jeweils Associate Professor für Jura an der Northwestern Universität und ordentlicher Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität von Illinois in Chicago zu werden.63 Von der gewaltfreien Linken war, nachdem sie von den fantastischen Machenschaften des Kalten Krieges und seiner Anarchen und Partisanen überwältigt worden war, nur noch eine Reihe von „Gruppen zu Einzelthemen“ übrig geblieben. Die wichtigsten davon waren die Frauen-, Homosexuellen- und Lesben-Bewegungen. „Die Hoffnung auf eine Linke mit universellen Prinzipien, die sich Anfang der sechziger Jahre gerührt hatte, war tot und begraben.“64 Die Überlebenden der Neuen Linken haben sich seitdem in die Universitäten zurückgezogen, von wo sie ursprünglich hergekommen waren, und bildeten zeitweise die „seltsame Anomalie einer radikalen Enklave in einem konservativen Umfeld“.65 Manch einer dachte, niemand „hätte den Eifer vorhersehen können, mit dem ehemalige protestierende Studenten später Positionen in den Institutionen annahmen, von denen sie selbst gesagt hatten, sie seien für Rassismus, Imperialismus, Faschismus, Sexismus und andere Übel des ‚Liberalismus‘ verantwortlich“.66 Ein ehemaliger SDS-Sprecher hat es so ausgedrückt: „Während die Rechte die Höhen des politischen Systems besetzte […], marschierte die Linke in den Fachbereich Englisch. […] Wir verfehlten die Politik, gewannen aber die Lehrbücher […]. Die ‚Politische Korrektheit‘ war [unser] Trostpreis.“67 Inzwischen konnten sich dank der Fördermaßnahmen zu Gunsten von Minderheiten Feminismus und auch der Multikulturalismus durchsetzen  – die späte Erfolgsgeschichte der Akademischen Linken.68 Doch wäre keine von beiden ohne den Druck der Justiz auf die Hochschulen zustande gekommen. Alle diese Programme waren bei genauerem Hin­ sehen Geschöpfe des Konservatismus. 62

Jacobs, The Way the Wind Blew, S. 177. The Weathermen, eine Dokumentation von Sam Green und Bill Siegel (New York: Docurama, 2004). 64 Weinstein, The Long Detour, S. 192. 65 Diggins, American Left, S. 288. 66 Ibd. S. 289. 67 Todd Gitlin, zitiert nach Berube, Radical Reformers, S.  55, und in Horowitz, Unholy­ Alliance, S. 106. 68 Diggins, American Left, S. 302. 63

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Auf dem Universitätsgelände war aus dem Schlachtruf „Ho, Ho, Ho Chi Minh“ ein „Hey, hey, ho, ho, western culture got to go“ geworden.69 Die achtziger Jahre waren gekommen und die Postmoderne war „in“. Als Foucault in Amerika angekommen war, lag die Linke schon längst im Sterben. Mit dieser Geschichte, dem Import der französischen Antihumanisten durch die amerikanische Intelligenzija schloss sich zu diesem historischen Zeitpunkt der Kreis. Von sich aus stellt die Postmoderne keinen epochalen, lebensverändernden Bruch dar. Es handelte sich um ein launisches, akademisches Fixiermittel, das Ende der siebziger Jahre eingesetzt wurde, um einen Zustand der nahezu vollständigen Fragmentierung zum Abschluss zu bringen. Dieser Zustand war das Vermächtnis einer Jahrzehnte langen Bemühung der amerikanischen Regierung, das Ferment für Veränderungen, das in den frühen sechziger Jahren entstanden war, zu zersetzen und zu neutra­ lisieren. Was die Postmoderne schließlich anscheinend dazu beigesteuert hat, war ihre herausragende Fähigkeit, eine Situation, die bereits beeinträchtigt war, zu verschlimmern. Doch noch bevor Foucault, der ständige Vorreiter, das Flugzeug nach San Francisco bestiegen hatte, war er im Zuge einer subtilen Propaganda-Operation in den Iran geflogen. Sie bildete eine besondere, aber bemerkenswerte Vorstufe für die Politik und Meinungsbildung im postsowjetischen, postmodernen Zeitalter.

Mr. Foucault fährt nach Teheran „Fuck the Shah.“ Jimmy Carter, 39. Präsident der USA und Friedensnobelpreisträger (2002)70

Als der Westen den Schah von Iran 1977/78 abzusetzen versuchte, erbaten die Massenmedien von verschiedenen Intellektuellen Beiträge, unter anderen auch von Foucault. Ein Teil des Manövers bestand darin, eine fanatische Alternative zum Schah als eine „demokratische“ in Erscheinung treten zu lassen. Zum Zweck einer solchen Intrige Partisanen zu finden, auszuwählen und zurechtzumachen, gehört zu den Standard-Spezialitäten des Geheimdienstes eines Landes. Miles Copeland, ein ehemaliger Kopf der CIA, zeigte in seinem unschätzbaren Buch The Game of Nations (1970) ein paar Tricks, wie man Fanatiker rekrutiert. Ein ‚Fanatiker‘ […] ist jemand, der sich selbst verleugnet und im Interesse einer Sache, unabhängig vom Schaden, den er sich dabei zuzieht, aufs Ganze geht. Er ist per Definition ein Verlierer, aber er ist eine wichtige Waffe in den Händen des entschlossenen NichtFanatikers, mit anderen Worten, einer Person, die für die Sache leben will. […] Der Unsinn [den Fanatiker] diskutieren, kann so zurecht poliert werden, dass er ein Minimum an Sinn hergibt, und anscheinend dazu noch auf einem hohen moralischen Niveau. […] Die 69

Ibd. S. 291. David Harris, The Crisis, The President, the Prophet and the Shah –1979 and the Coming of Militant Islam, New York 2004, S. 188. 70

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leichte Verfügbarkeit [des Fanatikers] ist dabei auch von Vorteil. In jedem Land, in dem Frustration verbreitet ist, gibt es zwangsläufig Fanatiker oder latente Fanatiker, die nur darauf warten, vom rechten Messias erweckt werden. […] Sie sind wunderbar entbehrlich.71

Während herkömmliche Theorien kein konzeptionelles Werkzeug anbieten, damit eine solch programmatische Aussage Sinn macht, gibt die Soziologie von Bataille und Jünger dafür eine einfache Erklärung: Es handelt sich hierbei um die typische Manipulation des „Partisan“ durch den Tyrannen (oder „Grobian“ (butor), um Batailles Ausdruck zu gebrauchen). Der Partisan ist als Geschöpf der „Gosse“ eher bereit in den Tod zu gehen als der Tyrann. Dieser verwendet die Todessehnsucht des Pöbels, um seine Macht zu erhalten oder auszuweiten, denn „er will leben“. In diesem Kontext muss man Foucaults Begegnung mit Khomeinis „Revolution“ im Spätsommer 1978 betrachten. Bekanntlich hatte die gemeinsame Operation der Geheimdienste der USA und Großbritanniens zum Sturz des nationalistischen Führers Mossadegh und der Wiedereinsetzung des Schahs im Jahr 1953 geführt. Die Sowjets hatten von der Seite zugesehen, wie sich die Anglo-Amerikaner dank dieses meisterhaften Gegenputsches daran machten, sich die Ölquellen, die Mossadegh zeitweise verstaatlicht hatte, zurückzuholen. Während der vom Schah anlässlich seiner Reinthronisation gegebenen Gala, erhob der König das Glas zu Ehren von Kermit („Kim“) Roosevelt, eines Enkels Theodore Roosevelts und des CIA-Leiters des Putsches im Iran und verkündete: „Ich verdanke meinen Thron, Gott, meinem Volk, meiner Armee und Ihnen!“72 Der Schah war ein „schwacher König“, und das wusste er.73 Doch versuchte er sich darüber hinweg zu träumen, dass er nur ein weiterer Bauer im großen Nah-Ost-Schach war. Er fantasierte davon, sich durch die Schaffung eines modernen Persischen Reiches freikaufen zu können. Schließlich schuf er mit den Öleinnahmen einen Zwei-Klassen-Staat – eine französisch sprechende Elite auf der einen Seite – und eine entfremdete Masse auf der anderen, die sich, wie Jünger sagen würde, im Ozean des Nihilismus nach einer „Apotheose“ sehnte. Unter der 25-jährigen Regentschaft des Schah, stieg das Bruttoinlandprodukt pro Kopf drastisch, doch blieb das Land nicht weniger gespalten als zuvor. Unter den Scharfmachern, die Geld von der CIA angenommen hatten, um Mossadeghs Front aufzurollen, waren nicht wenige schiitische Mullahs. Unter ihnen befand sich ein Ayatollah namens Kashani – ein „heiliger Mann“, dessen Machtgier und Intrigen berüchtigt waren.74 Unter seinem Gefolge gab es einen Ruhollah Khomeini, der innerhalb der schiitischen Hierarchie prompt in Kashanis Fuß­ 71 Miles Copeland, The Game of Nations. The Amorality of Power Politics, London 1969, S. 172, 173. 72 Kermit Roosevelt, Countercoup. The struggle for the Control of Iran, New York 1979, S. IX, 199. 73 Ehsan Naraghi, Des palais du Chah aux prisons de la Révolution, Paris 1991, S. 119. 74 Stephen Dorril, MI6. Inside the Covert World of Her Majesty’s Secret Intelligence Service, New York, London 2000, S. 565, 583, 593, und Robert Dreyfuss, Devil’s Game. How the United States Helped Unleash Fundamentalist Islam, New York 2005, S. 115.

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stapfen zu einem der führenden Informanten Moskaus wurde.75 Im Jahr 1960 hatte der Schah ein Reformprogramm zur Emanzipation der Frauen, zur Einführung von Referenden und zur Aufteilung des Großgrundbesitzes eingeleitet. 1963 kam es in der Stadt Qom zu einem Bündnis zwischen Kommunisten und schiitischen Geistlichen, um gegen die Reform zu protestieren. Man verschaffte seiner Wut durch Vandalismus gegen Schulen, Banken und kulturelle Zentren als Symbole der Modernisierung Luft.76 Das Regime war überrumpelt, und der Schah schwankte, bevor er zur Auflösung des Aufstands die Armee ausschickte, die ihn im Blut erstickte. Dies war der erste ernsthafte Schock in der Nach-MossadeghÄra des Schahs und eine Vorankündigung der Unruhen von 1978. Und tatsächlich hatte Khomeini die Unruhen selbst angeführt. Er wurde aus dem Iran verbannt und verbrachte die folgenden 15 Jahre im Exil in Nadschaf, in der heiligen Stadt des Irak. Danach spielte der Schah das Kalte-Kriegs-Spiel pflichtbewusst mit. Er hatte bis 1973 sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in der UdSSR eingekauft,77 und wurde von den USA und Israel darin verwickelt, den Irak von drei Seiten aus zu bedrohen. Dem Irak, als Frankreichs Vasall, war nämlich kürzlich die Verstaatlichung seines Öls zugestanden worden.78 In Folge dessen hatte er auf der großen Bühne der internationalen Politik sein Debut gegeben. Iraks anderer Taufpate war die Sowjetunion gewesen. Die trilaterale Bedrohung bestand in der Aufwiegelung und Bewaffnung der irakischen Kurden gegen das Regime in Bagdad, um „den Irak so in innere Unruhen zu verwickeln“ und dadurch sein ExpansionsPotenzial in der Region in Grenzen zu halten.79 Für Bagdad war der kurdische Aufstand eine Belastung. Sie war aber nicht ernst genug, um das Land, das in der Zwischenzeit mit dem Iran wegen des gemeinsamen Anspruchs auf die Wasserstraßen des Golfs die Schwerter kreuzte, zu destabilisieren. Mit diesem für den Kalten Krieg üblichen Trick (nach dem die USA den Iran gegen einen von den Sowjets unterstützten Irak ausspielte)  versuchte man offensichtlich einen irakisch-iranischen Konflikt auszulösen, um die Ambitionen beider Länder zu ertränken: Teile, vergieße Blut und erobere! Nun unternahm der Schah und Saddam Hussein, damals der junge Vize Präsident des Irak, etwas Mutiges und Beispielloses. Sie entschärften die Spannung und legten ihre Differenzen auf dem Gipfel der Organisation der Erdöl exportierenden Länder (OPEC) in Algier im März 1975 bei. Ihr erklärtes Ziel war es „ihre Reihen als Öl-Produzenten zu schließen“, und vor allem „sowohl die USA als auch die Sowjetunion von der strategischen Golfregion fernzuhalten“. Der Schah erklärte: „[Saddam Hussein und ich] wollen Dritte fernhal-

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Houchang Nahavandi, Carnets secrets: chute et mort du Shah, Paris 2004, S. 68. Houchang Nahavandi, La révolution iranienne, vérité et mensonges, Lausanne 1999, S. 71. 77 Ibd. S. 50. 78 Claude Angeli, Stéphanie Mesnier, Notre allié Saddam, Paris 1992, S. 29 f. 79 Jasim M. Abdulghani, Iraq and Iran. The Years of Crisis, Baltimore, MD 1984, S. 139. 76

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ten.“80 Ein CIA-Analyst hielt das damals „in der Ära für eine der überraschendsten Wendungen nach dem Zweiten Weltkrieg“.81 Die Empörung der Vereinigten Staaten folgte sofort und laut.82 Doch nicht wegen seiner Anhebung des Ölpreises nach 1973 hatte sich der Schah, wie allgemein behauptet wurde, die heftige Verwarnung seitens der amerikanischen Regierung eingehandelt.83 Abgesehen von den Vorhaben auf der Konferenz in Algier schien sich die amerikanische Nervosität vielmehr auf den Iran zu beziehen, und zwar wegen dessen (wie auch des Iraks) erfolgreichen An­gebotes an die Europäer unter Frankreichs Führung, Nuklear-Technologie gegen Öl einzutauschen.84 Der „schwache König“ hatte darin die Möglichkeit gesehen, – in seinen eigenen Worten – „eine erhebliche Macht in der Region zu werden,“ deren Sicherheitszone sich „bis zum 10. Breitengrad zwischen dem Süden Indiens und dem Norden Ceylon“ ausweiten ließ.85 Was ihm die Vereinigten Staaten im Jahr 1953 gegeben hatten, sollten sie ihm jetzt wieder wegnehmen. Auf Grund eigener Erfahrung und umfangreicher Forschungen behauptete Houchang Nahavandi, ein international anerkannter Akademiker und ehemaliger Minister des Iran, dass „die unumkehrbare Entscheidung, einen Prozess der Destabilisierung im Iran auszulösen, im Jahr 1977 gefällt wurde“.86 Damals war Carter Präsident. „Die Tatsache, dass fanatische Bewegungen in der Regel gegen irgendetwas sind“, schrieb Copeland, „macht sie für den Zweck extrem nützlich, Druck auf den Führer eines anderen Landes auszuüben“. Copeland fuhr fort: „Es bedarf sehr wenig Einfallsreichtum, um Fanatiker eines jeden beliebigen Landes und un­abhängig von ihrer Hautfarbe von der Böshaftigkeit ihrer Regierung zu überzeugen. […] Fanatiker brauchen keine bestimmte Anleitung, nur ein allgemeines „grünes Licht“.87 Eine Regierung, die nicht mitspielt, bezeichnet man als „KrätzeRegierung“ (scab government) Um das Standard-Verfahren zur Einleitung des Umsturzes einer Krätze-Regierung zu­ sammenzufassen: Erstens, greife die Regierung über Radio an, erhebe solche Anschuldigungen gegen sie, die am ehesten fanatische Gruppen aufreizen, bei gleichzeitigem Verzicht auf spezifische Anschuldigungen, die [für die Ränkeschmiede], sollte der Staatstreich gelingen, peinlich sein könnten! Zweitens, untersuche die Reaktionen auf die Propaganda, um Fanatiker und fanatische Gruppen festzustellen, auf die man bei Handlungsbedarf zählen kann! Drittens, wende Dich an die Fanatiker […] bewaffne sie und bringe alles über

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Ibd. S. 157. Stephen Pelletière, Iraq and the International Oil System. Why America Wanted a War in the Gulf, Washington, D. C. 2004, S. 159. 82 Nahavandi, Carnets secrets, S. 52–4. 83 Zur Erklärung der Politik hinter dem Ölschock von 1973 siehe William Engdahl, Mit der Ölwaffe zur Weltmacht, der Weg zur neuen Weltordnung, Wiesbaden 1992, S. 199 ff. 84 Dominique Lorentz, Une guerre, Paris 1997, S. 165–75. 85 Naraghi, Des palais du Chah, S. 26. 86 Nahavandi, Carnets secrets, S. 54. 87 Copeland, The Game of Nations, S. 173, 174. 81

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ihre Pläne in Erfahrung! Viertens, identifiziere geeignete Nicht-Fanatiker, welche im strategisch richtigen Moment (manchmal noch bevor die Regierung gestürzt ist, manchmal erst danach) die Führung übernehmen könnten, bestätige ihren Gewinn und treffe Abmachungen mit ihnen.88

Der Sturz des Schahs scheint mechanisch nach der obigen Vorlage verlaufen zu sein. Die Desinformationskampagne hatte bereits 1974 eingesetzt, als die US-Nachrichtensendungen dazu übergingen, sich auf die SAVAK (Organisation zur Information und zum Schutz des Landes), die berüchtigte Geheimpolizei des Schahs, die seit 1953 in Absprache mit der CIA und dem Mossad neu aufgebaut worden war, einzuschießen. Die Akte der SAVAK war wahrscheinlich genau so schmutzig wie die irgendeines anderen orientalischen „Sicherheitsapparats“. Doch die westliche Presse bestand darauf, dass diese Organisation über ein Budget von Millionen von Dollar und eine Arbeitskraft Zig-Tausender verfüge, Zehntausende ermordet und Hunderttausende als politische Gefangene inhaftiert habe, was von Amnesty International aufgegriffen wurde. Das waren alles Erfindungen.89 Das „Grüne Licht“ an die Fanatiker kam im November 1977 anlässlich eines offiziellen Besuchs des Schahs im Weißen Haus. Durch den Zaun wurde eine Gruppe von maskierten Anti-Schah Demonstranten auf Video aufgenommen, wie sie vor dem Hintergrund von Tausenden von Schah Anhängern Parolen gegen diesen skandierten. Als auf dem Rasen des Weißen Hauses Reden ausgetauscht wurden, kam es zu einem Handgemenge zwischen den beiden Gruppen, das die Polizei mit Tränengas zerstreute. Dann sah man den Schah und den US-Präsident auf Millionen von Fernsehbildschirmen, wie sie sich in einer Rauchwolke Tränen abwischten. Als der Chef der SAVAK den Film von der Demonstration und dem Handgemenge sah, sagte er voraus, dass der Schah zum Sturz verurteilt war: „Carter“, sagte er, „war offensichtlich bereit, ihn zu stürzen“ und Irans fanatische Opposition dachte das gleiche. „Als der Schah aus Washington abreiste, […] erhielt Khomeini in seinem Hauptquartier im Exil in Nadschaf einen internationalen Anruf. An der Leitung war […] einer der Organisatoren des Ayatollah in den Vereinigten Staaten, der beim Zustandekommen der Demonstration geholfen hatte. […] Er schlug vor, den Druck innerhalb des Irans zu erhöhen.“90

Khomeinis Image „als Heiliger“ wurde zuerst in Teheran aufgebaut. Es ist immer noch nicht klar, ob dies aus Versehen oder mit Absicht geschehen ist. Die wichtigste Zeitung der Stadt veröffentlichte im Januar 1978 unter Pseudonym einen verunglimpfenden Artikel über den Kleriker. Es handelte sich um eine typische Mischung aus Fakten und Verleumdungen (z. B. wegen Homosexualität) mit

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Ibd. S. 174–5. Nach einer offiziellen Erklärung der Islamischen Republik vom März 1979 hatte es in den 15 Jahren vor der Revolution 233 „Opfer“ gegeben. (Nahavandi, La révolution iranienne, S. 58–65). 90 Harris, The Crisis, S. 71. 89

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der Wirkung, das Format des Gegners dadurch aufzubauschen, dass man ihn öffentlich zum Opfer machte. Durch den Artikel ausgelöst, kam es erneut zu gewalttätigen Demonstrationen in Qom. Kurz danach setzte die Ausarbeitung des Mythos ein. Zu der Zeit hatte Khomeini innerhalb der schiitischen Geistlichkeit des Iran noch keine Autorität besessen. Er war dazu viel zu lange abwesend gewesen. Nahavandi erzählt, wie die westlichen Medien ohne Khomeinis Schriften zu kennen, „diesen senilen und unkultivierten Mullah“ als „einen brillanten Philosophen und Theologen“ propagiert haben.91 „Das sorgfältig gestaltete Bild“ von Khomeini war die Arbeit von PR-Profis gewesen. Es kam weltweit im gesamten Spektrum der öffentlichen Meinung gut an: die Aureole der Heiligkeit sprach fromme Konservative an, die revolutionäre Neigung gewann die Linke und die demokra­tische, antidiktatorische Einstellung gefiel den Liberalen.92 Angeführt von Frankreichs Le Monde und der BBC intensivierten die westlichen Presseorgane im Frühling ihre Anklagen gegen das „autoritäre“ Regime im Iran, was im Einklang stand mit Carters bedrohlicher Verteidigung der „Menschenrechte“.93 Obwohl der Schah sie immer wieder bedrängte, dies zu unterlassen, machten die ausländischen Medien weiter. Sie strahlten weiterhin gegen das Regime gerichtete Propaganda aus und verbreiteten diese auch im Land des offiziellen Verbündeten. Das war bisher beispiellos.94 Die Spannung wuchs und die Proteste wurden immer gewalttätiger. Im September empfing der Schah Chinas Präsident, der ihm anvertraute, dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion die Absicht hätten, sein Regime zu sabotieren.95 Ebenso warnte der Chef des Französischen Nachrichtendienstes und die türkische Elite über konsularische Kanäle den Schah, sich vor der Carter-Administration in Acht zu nehmen.96 Diese, sagte man ihm vertraulich, betreibe im Einverständnis „mit bestimmten religiösen Autoritäten“ seinen Sturz.97 Hin und her gerissen zwischen den doppelzüngigen Tauben einerseits, die ihn anflehten doch auf die Fanatiker einzugehen und den kaltschnäuzigen Falken andererseits, die ihn zu einer blutigen und systematischen Unterdrückung drängten, war der Schah überfordert. Er konnte nicht umhin, die gleichen subversiven Methoden wieder zu erkennen, mit denen sein Feind Mossadegh vor fünfundzwanzig Jahren gestürzt worden war. Er hatte verloren.98 Am 8. September kam es zur ersten wirklichen Katastrophe: In einer chaotischen Reaktion auf eine gewaltige Demonstration tötete die Polizei 121 Menschen. Das war „der schwarze Freitag“. Eine Woche später traf Foucault in Teheran ein. 91

Nahavandi, Carnets secrets, S. 194. Harris, The Crisis, S. 109. 93 Ibd. S. 107. 94 Naraghi, Des palais du Chah, S. 57. 95 Nahavandi, Carnets secrets, S. 152. 96 Christine Ockrent, Comte de Marenches, Dans le secret des princes, Paris 1986, S. 296. 97 Nahavandi, Carnets secrets, S. 187. 98 Harris, The Crisis, S. 114. 92

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In Paris hatte Foucault zusammen mit anderen prominenten Intellektuellen die Bildung von „Unterstützungskomitees“ für den Ayatollah angeregt. Sie waren Teil  der gegen den Schah gerichteten Propagandabemühungen Frankreichs: Anscheinend war das Land aus der zuvor eingegangenen Verpflichtung, dem Iran kerntechnisches Wissen zur Verfügung zu stellen, ausgestiegen und hatte sich neu aufgestellt. Foucault war zu einem zweitägigen Besuch erschienen, für deren Kosten eine der führenden italienischen Tageszeitungen, Il Corriere della Sera, aufkam. Ihre Redakteure hatten die Mission des Philosophen als „ein größeres Ereignis“ ausgegeben.99 Foucault sagte, er sei in den Iran gekommen, um „die Geburt von Ideen“ zu erleben. Einmal in Teheran (zu einem weiteren Besuch sollte es im November kommen) spielte er sehr schön die Rolle des postmodernen, radikalen Intellektuellen. Obwohl ihm dafür vom Corriere, der Stimme des italienischen Kapitalismus, ein Honorar bezahlt worden war und die Zeitung seine Meinungen bald verbreitete, schmeichelte Foucault seinen Pro-Khomeini Gastgebern, in dem er die kapitalistische Gesellschaft als „die härteste“, wie er behauptete, „wildeste, selbstsüchtigste, unehrlichste, unterdrückendste Gesellschaft, die man sich vorstellen kann“ verwünschte.100 Die Schmeichelei für die Islamisten wäre andererseits nicht vollständig gewesen, hätte er nicht auch den Kommunismus als „autoritäre“ Alternative zum Kolonialismus, wie zum Beispiel in Castros Kuba, das er verabscheute, beschimpft.101 Danach musste sich Foucault an die Quadratur des Kreises machen. Es sei klar, fuhr er fort, Marx’ Diktum von der ‚Religion als Opium für das Volk‘ habe nur zu einem bestimmten Zeitpunkt für die westlichen Kirchen gegolten: der Islam im heutigen Iran war nicht das Opium des Volkes, sondern man solle in ihm vielmehr den Beginn einer „neuen Spiritualität“ nicht nur für den Nahen Osten, sondern auch für Europa sehen. Demütig, erzählte er den Khomeini Anhängern, sei er gekommen, um „zu beobachten und zu lernen“.102 Fasziniert hat er in der Tat die Tausende von Anti-Schah-Demonstranten beobachtet, die „weiße Binden als Zeichen ihrer Todesbereitschaft trugen“.103 In gewisser Weise war die Schia eine islamisierte Aufarbeitung der christlichen Gnosis. Nach ihrem Glaubensbekenntnis war Mohammeds Schwiegersohn, Ali, ein Vorbild, das die Blutlinie der Heiligen, der Imame, einleitete. Der letzte, der zwölfte von ihnen, der Mahdi, war verschwunden und man erwartete seine Wiederkunft am Ende der Tage. Im Mittelpunkt der Schia stand der Kult um Alis Sohn Hussein. Im Erbfolgekrieg seines Clans gegen das Kalifat von Damaskus wurde Hussein verraten und erlitt in der Schlacht von Kerbela das Martyrium aus der Hand des Gesandten seines Rivalen Yazid. Die Schiiten haben seither die „Opferung“ des Königsohns Hussein in Erinnerung an das Blutvergießen leiden 99 Janet Afary/Kevin B. Anderson: Foucault and the Iranian Revolution. Gender and the Sedu­tion of Islamism, Chicago, London 2005, S. 69. 100 Ibd. S. 75. 101 Yves Roucaute, Le Néoconservatisme est un humanism, Paris 2005, S. 18. 102 Afary, Anderson, Foucault and the Iranian Revolution, S. 3, 75 f., 187. 103 Ibd. S. 38.

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schaftlich mit Selbstkasteiung und Selbstverstümmelung gefeiert. Die Schia hatte somit in das mosaische Modell: Gott – Prophezeiung – Buch (Allah – Mohammed – Koran) zwei weitere typische, „souveräne“ Tendenzen eingebaut: die Neigung, eine Dynastie zu bilden (Alis „göttliches Blut) und die Selbstaufopferung des Königsohns, der am Ende als Messias aufersteht. Warum dieses besondere „Regime der Wahrheit“ einem Batailleaner wie Foucault besonders zusagte, ist nicht schwer zu ergründen. Bataille selbst hatte natürlich schon mit Interesse über den ursprünglichen missionarischen Vorstoß des Islam, über die grenzenlose Spannung durch den ständigen Jihad gegrübelt. Doch wurde er natürlich mehr von der Kombination aus Härte und Poesie angezogen, die das Zeichen des arabischen Stammeswesens war, und die der Jihad im gesamten muslimischen Reich verbreitet hatte. Bataille hatte schließlich darüber geklagt, dass im sunnitischen Islam jene „innere Gewalttätigkeit, die ein religiöses Leben begründet und im Opfer gipfelt“, fehlt.104 Foucault tat nun so, als würde diese jüngste und außergewöhnliche Erhebung des schiitischen Islam der richtige Ausdruck einer echten Heiligkeit sein. Für Foucault war es nicht schwer, das Passionsspiel der Schia in seinem postmodernen System unterzubringen. Der Bösewicht Yazid entsprach dem „Zuchtmeister“ Schah mit seiner SAVAK, während die Rolle Husseins vom „alten Heiligen“ Khomeini übernommen wurde. Dieser führte von den Rändern aus „eine uneingeschränkte“ Form des Widerstands gegen die westliche Modernisierung und „die am meisten von der Polizei gestützte Monarchie der Welt“. Diese Bewegung, schrieb Foucault, war „eine Flutwelle ohne militärische Führung, ohne Avantgarde „– ein typisches Beispiel für eine heterogene Macht ohne Zentrum.105 [Die iranische Revolution] ist vielleicht der erste große Aufstand gegen die globalen Systeme, die Revolte, die am modernsten und am verrücktesten ist.106

Der Foucaultsche Lobgesang erschien zu einer Zeit, als der US-Botschafter erste Annäherungsversuche an die Islamisten unternahm.107 Am 29.  Dezember 1978 dankte der Schah ab und ernannte eine Galionsfigur zum Vorsitzenden einer „verfassungsmäßigen Regierung“. Am 6. Januar 1979 traf der US Luftwaffengeneral Huyser in Teheran ein, um die Loyalität der iranischen Generalität gegenüber der provisorischen Regierung dadurch sicherzustellen, dass er damit drohte, amerikanische Ersatzteile, von denen die iranische Armee völlig abhängig war, zurückzuhalten.108 Der Schah verließ am 16. Januar das Land und Khomeini kam nach langem Zögern aus Angst vor einem Militärputsch am 1. Februar schließlich nach Teheran und wurde, wie es aussah, durch eine „Flutwelle“ von angeblich drei Millionen Menschen als der Mahdi gefeiert. Am 16. konnte man in der New York 104

Bataille, La part maudite, S. 119 ff. Afary/Anderson, Foucault and the Iranian revolution, S. 15, 94–6. 106 Foucault, zitiert nach ibd. S. 222. 107 Harris, The Crisis, S. 113. 108 Ockrent/Marenches, Dans le secret des princes, S. 306. 105

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Times lesen, dass Khomeini kein Heuchler, Fanatiker oder Reaktionär, sondern eher „ein Zeichen der Hoffnung“ sei, der „uns doch noch ein dringend benötigtes Modell einer humanen Regierungsweise anbieten“ und „die Welt davon überzeugen könnte, dass ‚Politik das Opium des Volkes ist‘“.109 Kurz danach begannen die Säuberungen, das doppelte Spiel, die Tricks mit der Befreiung der US-Geiseln, das Verprügeln von Homosexuellen und Frauen, und schließlich der Krieg gegen den Irak (im September 1980). Das war genau der Krieg, den der Schah 1975 zu verhindern versucht hatte. Der Ton der westlichen Presse änderte sich noch einmal: Khomeini war nun nicht mehr der alte Heilige wie im Frühjahr 1978, sondern ein rückschrittlicher, schwulen- und frauenfeindlicher Fanatiker, der, wie er selbst behauptete, in der islamischen Revolution die „Eroberung der Welt“ aus den Krallen des „großen amerikanischen Satans“ sehen wollte. Nun war Khomeini ein Freak, der Feind des Westens. Zu Hause kam Foucault wegen seiner Corriere Artikel unter Beschuss. Sie kosteten ihm Freunde und taten „seinem Ruf nicht gut“.110 Bis heute geraten die meisten seiner Anbeter in Verlegenheit, wenn sie auf diesen „Irrtum“ eingehen.111 An die multikulturelle Übernahme seines Konzepts Macht / Wissen gewöhnt und darauf festgelegt, wie es Foucaultianer nun einmal sind, haben sie diese Episode, die nicht der postmodernen Ikonographie des Philosophen entsprach, eher verdrängt. Hier haben wir wieder die Bestätigung für die skrupellose Verleugnung eines Sachverhalts, welche die postmoderne Linke bis heute beherrscht: Ihre Vertreter scheinen nicht zu wissen oder – besser gesagt – versagen sich das Eingeständnis, dass Foucaults Zeugnis im Wesentlichen das eines Chaos-liebenden Ästheten im Dienst der staatlichen Propaganda war. Klar, sein Hingezogensein zu Tod, „Bußritualen“ und zur „Opfertrunkenheit“ der Khomeini-Anhänger entsprach ganz seiner Prägung durch Bataille, die, wie in dieser Studie gezeigt, unter FoucaultAnhängern nahezu unbekannt geblieben war. Sogar die Vorstände des Corriere della sera hatten ein besseres Verständnis für das, worum es Foucault ging. Sie heuerten ihn an, um den Schah zu diskreditieren, indem sie ihn genau beim Batailleschen Nerv seiner Arbeit packten. Und was ebenso anschaulich aus diesem Vorfall hervorgeht, ist die umfassende Korruption Foucaults, der sich von Anfang an, seit 1966, dafür hergab, jede Rolle zu spielen, welche die gehobeneren Kreise der Intelligenzija von ihm gespielt sehen wollten: Von der antihumanistischen Alternative zum Marxismus in Frankreich bis zum antikonservativen Multikulturalismus in Amerika, über die Rolle des gegen den Schah gerichteten, spiritistischen Anarchen im Iran. Tatsächlich benötigte man in diesem Fall Foucaults Beitrag so lange, wie die Schlussphase der Destabilisierung (die letzten sechs Monate von 1978) dauerte. Wie die Fanatiker, die er angeregt hatte, war er selbst entbehrlich. Es überrascht nicht, dass er sich über diese iranische Affäre nach den Entwicklungen von 1979 ausschwieg. Kalifornien bewirkte, dass alle es vergaßen. 109

Richard Falk, „Trusting Khomeini“, The New York Times, February 16, 1979, S. A27. David Macey, The Lives of Michel Foucault, London 1993, S. 422. 111 Afary, Anderson, Foucault and the Iranian revolution, S. 7. 110

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Als Foucault 1984 starb, erreichte der Iran-Irak-Krieg seinen Höhepunkt. Er war bis dahin der längste konventionelle Krieg des 20.  Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg. Als er nach weiteren vier Jahre endete, führte eine merk­ würdige Folge von diplomatischen Spielereien zu seiner surrealen Fortsetzung im Golfkrieg. Um die geduldige Täuschung der Öffentlichkeit im Westen fortzu­ setzen, trat eine neue Generation von Foucaultianer auf – Gelehrte, die mit der Modernisierung des Cyberspace und der Informationstechnologie vertraut waren. Sie boten eine postmoderne Interpretation des Krieges im post-sowjetischen Zeitalter an.

Golfkrieg I: Die Große Illusion Eine etablierte Figur der Postmoderne, Jean Baudrillard (1929–2007), arbeitete die Mythologie Batailles und Foucaults in die zeitgemäßeren Disziplinen der Sozialpsychologie und Kommunikationsforschung um. Er sorgte für Untertitel unter Fernsehspots und Reportagen, Statistiken, Videospiele, Filme und LifestyleBelanglosigkeiten mit existentiellen Monologen, Baudrillard bewegte sich auf der sehr schmale Grenze zwischen Realität und Fakt und behauptete, die von uns wahrgenommene Welt sei Ergebnis einer ständigen Manipulation. Er betonte jedoch, dass die Realität nicht von einigen auf Kosten anderer manipuliert werde, sondern dass sich darin vielmehr, im Sinne von Foucaults Konzept „Macht“, ein kollektiver Alptraum ausdrücke. Baudrillard gelangte 1991 eine Zeit lang zu Ruhm, als er die Erfahrung des Golfkrieges durch seine Version der Postmoderne filterte. Für Baudrillard funktionierte Foucaults  – wenn auch brillanter  – Mythos Macht / Wissen letztlich nicht mehr. Wäre Macht die angeblich „magnetische Infiltrationsagentur“, wie es Foucault darstellte, hätte sie den gesamten sozialen Bereich längst übernommen. Umgekehrt, wäre Macht einseitige Unterwerfung, hätte man sie längst zurückgewiesen.112 Baudrillard warf Foucault (und Bataille) vor113, nicht intuitiv erfasst zu haben, dass Macht „ein Austausch“ ist – ein Austausch, der sich durch „Zyklen der Verführung“ verbraucht. Für Baudrillard stimmt es zwar, dass es  – wie Foucault behauptet  – keinen institutionellen Antagonismus zwischen Zentralgewalt und Peripherie gibt, aber nicht deshalb, weil „Macht überall sei“, sondern weil die Macht überall auf zyklische Weise zirkuliert. Macht rüstet eine Partei aus und hebt sie hoch, um sie wieder zu Gunsten einer anderen fallen zu lassen. Sie verführt somit durch List und vernichtet sich dabei periodisch immer wieder. Und was verbirgt sich hinter diesem Meer von abwechselnden Machtentladungen? Die Leere, natürlich – „es ist die Leere, die [der Macht] ihren letz-

112

Jean Baudrillard, Oublier Foucault, Paris 1977, S. 58–9. Jean Baudrillard, „When Bataille Attacked the Metaphysical Principle of the Economy“, in: Canadian Journal of Political and Social Theory 15 (1991): 137. 113

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ten Schimmer an Wirklichkeit verleiht“.114 Die Herleitung von Heidegger ist hier offensichtlich. Das Geheimnis der Nichtexistenz der Macht, die einst den großen Politikern zu eigen war, ist auch das Geheimnis der großen Bankiers, nämlich dass Geld nichts ist, dass Geld nicht existiert. Das war das Geheimnis der großen Theologen und Inquisitoren, nämlich, dass Gott nicht existiert, weil Gott tot ist.115

Beklagt wird wieder einmal das Debakel des Nihilismus. Dieser ist die Geschichte unserer modernen Besessenheit, die „Realität“ zu rationalisieren.116 Diese Besessenheit eines „Zuchtmeisters“, alles zu kategorisieren und zu messen, hat zu einem allmählichen Versiegen der Produktion von „satanischer Energie“ geführt.117 Sie wurde durch „tote“ Formen und ein Übermaß an „Wirklichkeit“ ersetzt.118 Tote Macht wird am besten durch Obszönitäten und Faschismus ver­deutlicht: entleerte Gesten, die versuchen die atemberaubende Macht von einst wieder hervorzurufen. Das Übermaß nimmt die Form von Faksimiles, Überinformiertheit, Videos und Online-Simulationen an, die alle „Köder“ sind.119 Wir haben eine „XeroxKultur“120, in der alles, von der Macht bis zum Sex „virtuell“, künstlich ist und beliebig geklont werden kann. Wir haben eine Gesellschaft, die einen Tag zu spät kam, einen Tag nach der „Revolution“ (siehe Kojève), einen Tag „nach der Orgie“, die wir nur noch durch Pornos nachspielen können.121 Als Schöpfer dieser Realität hat unsere „pessimistische“ Manie122 überall sehen wollen, dass sich „das Gute“ durchsetzt. Dabei haben wir diesen virtuellen Raum geschaffen, in dem wir fälschlich Erscheinungsbilder für die Realität halten, und in dem die „verfemten Anteile“ sich an uns rächen, weil wir die Produktion von heiliger Energie pervertiert und beschnitten haben. Mit anderen Worten, wo „das Böse“ Batailles überall geleugnet und unterdrückt wurde, hat es sich nur umgruppiert und umgewandelt, um den Sozialkörper über „all jene virale Formen, die uns besessen machen“, anzugreifen.123 In der Politik, nimmt „das Böse“ dann die Form von „Terrorismus“ an, im Bereich Krankheit zeigt es sich als Krebs / AIDS, und es versinnbildlicht die neue Ästhetik der Erotik in der Figur des Transvestiten.124 In Anlehnung an Heidegger legte Baudrillard den Gedanken nahe, dass nicht wir es sind, die das 114

Baudrillard, Oublier Foucault, S. 51, 58–9, 60–2. Ibd. S. 81. 116 Jean Baudrillard, Le pacte de lucidité, ou l’intelligence du mal, Paris 2004, S. 31. 117 Jean Baudrillard, La transparence du mal. Essai sur les phénomènes extremes, Paris 1990, S. 89. 118 Baudrillard, Le pacte de lucidité, S. 13. 119 Baudrillard, Oublier Foucault, S. 88. 120 Baudrillard, La transparence du mal, S. 17. 121 Ibd. S. 11. 122 Baudillard, Le pacte de lucidité, S. 121. 123 Baudrillard, La transparence du mal, S. 88, 89. 124 Ibd. S. 43. 115

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Böse denken, sondern dass „das Böse uns denkt“.125 Daher rührt die Vermutung unserer schuldhaften Verwundbarkeit durch den Terrorismus: Letzterer ist eine Katastrophe, die wir uns selbst zugezogen haben. Es ist, als würde sich unser terroristisches Alter-Ego kontinuierlich verschwören, um uns aus unserem rationalistischen Koma heraus zu bomben. Sich wieder in die Macho-Rhetorik eines Fukuyamas einklinkend behauptet Baudrillard, unsere hochtechnisierte Welt erweise sich angesichts einer reinen, antagonistischen Kraft, sagen wir, der Islamischen Republik Khomeinis, als so impotent, weil wir zu „fanatisch nachgiebig“ und „tolerant“ sind. Khomeini sei für den Westen das, was Jeckyll für Hyde war: zwei Seiten derselben geplagten Seele. Der Islam übt keinen revolutionären Druck auf das westliche Universum aus, es besteht kein Risiko bekehrt oder erobert zu werden: Der Islam begnügt sich damit, es durch diesen Virus im Namen des Prinzips des Bösen anzugreifen, dem wir nichts entgegenzusetzen ­haben.126

Schließlich bleibt uns, nach Baudrillard, keine andere Wahl, als das Böse zu umarmen, mit anderen Worten, als die Hypothese anzunehmen, dass wir weder gut noch böse sind, aber so, wie wir sind, vollkommen sind.127 Und weil­ Baudrillard die Politik als den bevorzugten Ort des Bösen ansah, verlangt die richtige Praxis, dass wir uns der Macht in all ihren traditionellen Erscheinungsformen ergeben: in der des Privilegs, des Lasters und der Korruption. „Denn die Korruption der Eliten“, schloss er, „ist diejenige von allen Menschen“ in einer Welt, in der immer nur „die ewige Unbegreiflichkeit, die unüberwindliche Fremdheit der Kulturen, Sitten, Gesichter und Sprachen“ gewinnt.128 Insgesamt ist Baudrillard kaum von Foucault und Bataille abgewichen. Interessant ist der psychologierende Kunstgriff, mit dem er das Konzept Macht / Wissen überarbeitet hat, um den Antagonismus ganz verschwinden zu lassen. Baudrillard muss sich gedacht haben, es gäbe keinen besseren Weg, um den Begriff der politischen Verantwortung zu vernichten, als in Chaos, Krieg und Gewalt nur Symptome einer tieferen Qual zu sehen, die das Gewissen der Welt insgesamt heimsucht. In diesem Sinne ist seine Verdrehung eine bunte Kombination der Theorien Foucaults, Freuds und der traditionellen Linken (der Stimme des „schlechten Gewissen“ des Kapitalismus). Von der Linken hebt sich Baudrillard dadurch ab, dass es in seiner Variante des Mythos keine Opfer oder Schergen gibt. Da Macht „umkehrbar“ ist, sind Schergen und Opfer die austauschbaren Hälften der gleichen bankrotten Lage. Hinsichtlich ihres Nutzens für Propaganda-Zwecke hat sich Baudrillards Formel nur ein einziges Mal als erfolgreich erwiesen, und das war im Zusammenhang mit dem Trommelfeuer der Medien, das den Golfkrieg von 1991 begleitet hat. 125

Baudrillard, Le pacte de lucidité, S. 130, 136. Baudrillard, La transparence du mal, S. 91. 127 Baudrillard, Le pacte de lucidité, S. 117. 128 Baudrillard, La transparence du mal, S. 152. 126

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Zwischen Januar und März 1991 gelangte Baudrillard mit einer Reihe von Artikeln, die sofort eine große Verbreitung in der englischsprachigen Welt genossen, ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. In ihnen webte er eine eher außerordentliche Erklärung des 1. Golfkriegs ein, eine, die auch empörte Reaktionen bei der antiimperialistischen Linken hervorrief. Obwohl er tatsächlich selbst als ein Linker auftrat, bestätigte Baudrillard, dass der Widerstand gegen diesen Krieg belanglos sei, da der Konflikt selbst nur ein eingebildeter wäre. Er wurde einstudiert, kurz gesagt, er war Betrug. Nun scheint es, dass diese Behauptung der Wirkung seiner eigenen postmodernen Weltsicht zugutezuhalten war, doch konnte Baudrillard nicht die besondere Interpretation des Golf-Kriegs entgangen sein, die damals in Frankreichs journalistischem Umfeld umgegangen war. Im Rückblick auf Buchbesprechungen und Erinnerungen französischer Journalisten unmittelbar nach dem Golfkrieg trifft man häufig auf die verstohlene Andeutung anhand der einen oder anderen Tatsache, dass dies ein inszenierter Krieg gewesen sei. Zum Beispiel wurde erzählt, Papst Johannes Paul II habe angeblich beim Besuch einer Delegation von Bischöfen aus dem Nahen Osten – sechs Monate vor Ausbruch – bekannt, dass geplant war, den Krieg vor dem 2. August 1990 zu beginnen.129 Um die Hypothese des Vorsatzes zu stützen, zitieren verschiedene französische Quellen die Existenz eines geheimen Pentagon-Programms mit dem Codenamen „Top Fiddle“ (Nr.  1002–1090), das zwei Wochen vor ­Saddam Husseins Einmarsch nach Kuwait von General Colin Powell reaktiviert worden war: Es handelte sich um eine Kriegsimulation, deren Szenario die Invasion Kuwaits durch den Irak behandelte.130 Dementsprechend hielten es viele französische Reporter für „unglaublich“131, dass ein erfahrener Politiker wie Saddam, der übrigens seit 1959 ein CIA-Agent war,132 so „blind“ vorgehen und die Souveränität eines Emirats angreifen konnte, das so eng mit den britischen Interessen verbunden war, wie Kuwait.133 Alle diese Berichte zu einem Bild zusammengefügt, unterstreicht die Unstimmigkeit der Schritte und Entscheidungen, die einerseits zur Invasion Kuwaits und andererseits zur Eskalation bis zum vollen Eingreifen der Alliierten geführt hatte. Saddam hatte den Iran Khomeinis acht Jahre lang (in einem Krieg, der beiden Ländern 360.000 Tote bescherte) bekämpft und hatte sich, um die heroische Rolle des anti-islamistischen Führers zu spielen, dabei tief bei den Golfstaaten 129

Abdallah Baroudi, Lettre au Président Mitterrand: L’Irak ou „cris et chuchotements“ de l’autre rive, Brussels 1993, S. 15. 130 Chapour Haghigat, Histoire de la crise du Golfe. Des origines aux consequences, Brussels 1993, S. 47, und Eric Laurent, La Tempête du Desert. Les secrets de la Maison Blanche, Tome 2, Paris 1991, S. 26. 131 Patrick Denaud, Irak, la guerre permanente. Entretiens avec Tarek Aziz, Paris 2002, S. 45. 132 Saïd Aburish, Saddam Hussein, The Politics of Revenge, New York 2000, S.  54, und John K. Cooley, An Alliance Against Babylon. The U. S. Israel and Iraq, London 2005, S. 96. 133 Pierre Salinger/Eric Laurent, Guerre du Golfe: Dossier secret, Paris 1991, S. 60.

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verschuldet. Insolvent, aber (vom Westen) bis an die Zähne bewaffnet wurde Saddam plötzlich, vor allem von seinen kuwaitischen Gläubigern abgemahnt. Diese legten dabei eine Aggressivität an den Tag, die viele Analysten verblüffte.134 Nicht weniger rätselhaft war Saddams hysterische Reaktion auf die Forderungen solch militärischer Nullen, wie es die Scheichtümer am Golf waren. Warum weigerte er sich nicht einfach zu zahlen? Als Kuwait im Jahr 1990 begann, übermäßig Öl zu fördern und so die Preise und als Folge davon Iraks Erdöleinnahmen drückte, verurteilten Saddam und seine Minister dies lauthals als eine „zionistische Verschwörung“ gegen die Araber. Bis Mitte Juli wurde weit und breit über eine Falle gesprochen, die von den Vereinigten Staaten mit Hilfe Kuwaits aufgestellt worden war, um Saddam zu einem „Fehler“ zu verleiten, der den US-Falken den Vorwand zu weiteren Einsätzen in der Region liefern würde.135 Somit war jeder alarmiert, das heißt, alle außer Saddam selbst. Dessen Nervosität sollte an­ geblich von den „verzweifelten“ Versuchen herrühren, seine Finanzen zu retten, obwohl der Plan, Kuwait zu erobern eindeutig als „selbstmörderisch“ eingeschätzt werden musste.136 Um es kurz zu sagen, der einmal recht gerissene Saddam war zum Idioten geworden. Die französischen Publizisten stellten die Amerikaner als verschlagen dar. Angeblich umgarnten sie Hussein in einem „zweideutigen Spiel“. In dem stand der beschwichtigenden Partei, angeführt von Bush I und dem Weißen Haus, in den USA eine raffinierte Anti-Irak-Fraktion mit einer Mehrheit im Kongress und in den liberalen Medien gegenüber. Während erstere, noch bis zum 31. Juli (dem Vorabend der Invasion) an Saddam Waffen verkauften137 und ihm offen signalisierten, dass die Vereinigten Staaten keinen bindenden Vertrag hatten, die Grenzen Kuwaits zu verteidigen138, hatte letztere seit Februar 1990 gegen Saddam gewettert, dessen Regime vom State Department als „das Schlimmste“ auf dem Gebiet der „Menschenrechte“ abqualifiziert wurde.139 Der vorstehende Ablauf schien anzudeuten, dass all dies bloße Theatralik sein konnte, und dass der Höhepunkt dieser vermeintlichen Scharade in Bagdad am 25. Juli erreicht worden war, als Saddam die US-Botschafterin April Glaspie einberufen hatte. Als Glaspie die unaufrichtige Botschaft überbrachte, der US-Präsident würde in der Tat seine Hände bezüglich des bevorstehenden Grenzkonflikts zwischen Irak und Kuwait in Unschuld waschen, begann Saddam mit einer scheinbar zusammenhanglosen Faselei über Iraks „Stolz“. Er verweilte länger bei der Unvermeidlichkeit, dem Tod ins Auge zu sehen, um die „Würde“ des Landes zu retten, sollte Iraks Wohlergehen auf irgendeine Weise bedroht werden. Saddam sah in der Tat einem Krieg mit den Vereinigten Staaten entgegen und einer siche-

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Aburish, Saddam Hussein, S. 277. Salinger/Laurent, Guerre du Golfe, S. 59. 136 Pierre-Jean Luizard, La question irakienne, Paris 2004, S. 304, 305. 137 Laurent, La Tempête du Desert, S. 28. 138 Salinger/Laurent, Guerre du Golfe, S. 94–5. 139 Laurent, La Tempête du Desert, S. 12. 135

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ren Niederlage in diesem Fall.140 Diese Art des „souveränen“ und defätistischen Grübelns, dem eigentlich fanatisches Gerede zugrunde lag, entsprach seltsamerweise gar nicht dem Charakter Saddams. Am 2. August 1990 überquerten irakische Panzer die Grenze zu Kuwait und drangen in das Emirat ein; Glaspie war am Tag zuvor in den Urlaub aufgebrochen. Claude Cheysson, ehemaliger Außenminister von Frankreich und seit Mitte der siebziger Jahre der führender Beamte für Frankreichs Unterstützungen für den Irak, erinnerte sich in einem Interview an eine Begegnung mit dem Außenminister Saddams, mit Tareq Aziz, Ende August 1990. Aziz sagte damals Cheysson kryptisch, dass Saddam ihm, der die Invasion selbst nicht befürwortet hatte, versichert habe, die „Vereinbarung mit den Amerikanern“ sei solide. Er habe in diesem Zusammenhang auch den „Präzedenzfall von General Kassem“ erwähnt.141 Was diese „Vereinbarung“ gewesen sein mochte und was sie garantiert haben konnte, war schon einen Monat nach Beginn der Invasion eine Frage der Spekulation. Doch ist faszinierend, dass Saddam den Präzedenzfall Kassem erwähnt hatte. 1958 hatte Brigadegeneral Adbelkarim Kassem durch einen Staatsstreich die Macht im Irak an sich gerissen. Er war danach in eine komplexe Beziehung zu Großbritannien verwickelt, das die Kontrolle über Iraks Petroleum Company (IPC) zurückerhielt. Aus einer relativ aktuellen Studie zu diesem Fall scheint sich zu ergeben, dass Großbritannien bis 1960 – ein Jahr bevor es Kuwait formell die Unabhängigkeit zugestanden hat – versucht hatte, in der Golfregion zwei mit einander verbundene Ziele zu erreichen, nämlich (1) das „starke UnabhängigkeitsGefühl“ Kuwaits, das 40 Prozent des britischen Öls lieferte, in Schach zu halten;142 und (2) einen spektakulären Militäreinsatz durchzuführen, um Großbritanniens kolonialistische Umtriebe in dem Gebiet wieder aufnehmen zu können.143 Britische Militärstrategen hatten sich hierzu etwas ausgedacht. Im November 1960 „stellten sie dafür einen Plan, einen sogenannten ‚reinforced theater plan‘ zur direkten britischen Verteidigung Kuwaits gegen eine irakische, militärische Bedrohung auf. Der Plan erhielt den Codenamen ‚Vantage‘“.144 Am 25. Juni 1961 überraschte Kassem die Welt mit der Erklärung, Kuwait sei eine Provinz des Irak. In der westlichen Presse flammten sofort die Neuigkeiten über eine Invasion auf, und der britische Premierminister Harold Macmillan die Öffentlichkeit warnte, der irakische Führer sei „ein toller und sehr gefährlicher Mensch“.145 Tatsächlich bellte Kassem, setzte sich aber nicht in Bewegung. Während der gesamten „Krise“ blieb die irakisch-kuwaitischen Grenze für den Handel offen und man sah keinen

140

Ibd. S. 75–6. Denaud, Irak, la guerre permanente, S. 45–6. 142 Mustapha M. Alani, Operation Vantage. British Military Intervention in Kuwait, Surbiton, Surrey 1990, S. 252. 143 Ibd. S. 249. 144 Ibd. S. 88. 145 Ibd. S. 114. 141

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irakischen Soldaten oder Panzer nach Süden vordringen.146 Dessen ungeachtet gingen am 1. Juli, 10.000 britische Truppen in Kuwait an Land. Der Daily Telegraph brachte die Meldung: „Die Geschichte veranstaltete an diesem Wochenende eine kurze Rückblende auf die fernen Tage der Pax Britannica.“147 Es war eine beeindruckende Show und Kuwait bezahlt für alles. Inzwischen tobte Radio Kairo gegen die „Britische Hinterhältigkeit“, Kassem „unverantwortlich“ in „die imperialistische Falle“ gedrängt zu haben.148 Im Oktober zogen sich die Briten zurück und ein arabisches Kontingent übernahm die Patrouillen im Golf. Kurz nach dem Vorfall gab Kassem „eine außerordentliche Feier zu Ehren“ des britischen Botschafters.149 Wenn dies damals ein Täuschungsmanöver war, was hätte Kassem davon gehabt? Höchstwahrscheinlich war es das Gesetz 80, das im Dezember mit Großbritannien ausgehandelt wurde. Es sah die Schaffung einer Irakischen Nationalen Ölgesellschaft mit Schürfrechten in Gebieten vor, die ihr die IPC zugestanden hatte.150 Das Gesetz sollte 1963 in Kraft treten, doch Kassem sollte seine Früchte nicht mehr ernten können. Denn ein vom CIA gelenkter Staatsstreich stürzte sein Regime im Februar 1963 und brachte die Baath-Partei an die Macht, die den General hinrichtete.151 Saddams verworrener Aufstieg zur Macht begann mit diesem Staatstreich.152 Aziz schien Cheysson gegenüber angedeutet zu haben, dass der Golfkrieg eine Art Wiederholung dieser Angelegenheit sein könnte. Unmittelbar nach Saddams Invasion in Kuwait stimmten alle Großmächte, einschließlich der UdSSR, für die UN-Resolution 660, die den sofortigen Rückzug der irakischen Truppen aus dem Emirat forderte. Doch Saddam schien sich nicht bewegen zu wollen. Er behauptete, er würde sich nur zurückziehen, wenn sich Israel als Gegenleistung aus den besetzten Gebieten zurückziehen würde. Das war offenes Gepolter, aber keine diplomatische Rede. Auch Amerika war unflexibel. Bush hatte festgestellt, dass Saddam ein neuer Hitler sei. Der sowjetische Präsident Gorbatschow schickte im Oktober seinen Gesandten, Evgheni Primakow, um Saddam zur Vernunft zu bringen, aber ohne Erfolg. Primakow sagte Hussein, wenn er stur bliebe, würde er einem Krieg entgegensehen und ihn verlieren. „Vielleicht“, war Saddams Antwort.153 Nach einigen inhaltslosen Streitereien über die Terminierung kam es am 9. Januar 1991 zu einem letzten Treffen zwischen US-Außenminister James Baker 146

Ibd. S. 102, 103, 205. Ibd. S. 233. 148 Ibd. S. 239. 149 Ibd. S. 172. 150 Uriel Dann, Iraq Under Qassem. A Political History, 1958–1963, New York 1969, S. 354 f. 151 Aburish, Saddam Hussein, S. 55–9. 152 Tatsächlich war 1959 der 22-jährige Saddam Hussein von Kassems Rivalen in der BaathPartei ausgewählt worden, um an einem Kommandounternehmen zur Ermordung des Generals teilzunehmen. Das Attentat schlug fehl und Saddam floh nach Kairo, wo er in die Obhut des ägyptischen und amerikanischen Geheimdienstes gelangte (vgl. Aburish, Saddam Hussein, S. 54). 153 Salinger/Laurent, Guerre du Golfe, S. 260. 147

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und Tareq Aziz in Genf. Die Aufführung der Protagonisten war laut einer französischen Denkschrift einem Stück absurdem Theater Ionescos würdig. Als Baker Aziz zu verstehen gab, dass ein Krieg gegen die Vereinigten Staaten nicht der Konfrontation mit dem Iran vergleichbar sei, erwiderte Aziz, die Amerikaner wüssten nicht, was die Wüste sei. Aziz höhnte: „Mr. Staatssekretär, Sie sind noch nie auf dem Rücken eines Kamels geritten.“154 Am 16.  Februar 1991 setzte Operation Desert Storm ein. Dies war die erste TV-Schlacht, die das Publikum im Westen je zu sehen bekam. Es wurde behauptet, mit seinen unscharfen Farbklecksen, die von schwarzen und grünen Funkenregen durchzogen waren, habe der CNN-Film aus Bagdad diesen Krieg wie ein Videospiel aussehen lassen. Über den fluoreszierenden Himmel flog die alliierte Koalition unter der Führung Amerikas, Großbritanniens und Frankreichs bis zu 110.000  Einsätze pro Woche und warf Bomben mit einem Sprengwert von sieben Hiroshima-Bomben ab. Die Alliierten beharrten darauf, dass man „chirurgisch“ gezielt habe, doch stellte sich später heraus, dass 93 Prozent der Bomben einfach wahllos abgeworfen worden waren. Während man Bush I. im Fernsehen zeigte, wie er zu Hause saß und hektisch von einem Kanal zum nächsten zappte, und bei jeder Explosion „Jesus!“ rief, brüllte Saddam über Radio Bagdad, dass die „Mutter aller Schlachten“ begonnen habe, um den „Satan Bush“ zu besiegen.155 Die französischen Reporter bemerkten noch sehr viel mehr Kuriositäten. Zunächst gab es keine Verdunklung. Während der ersten Angriffe war Bagdad „wie Las Vegas beleuchtet“. US-Piloten fanden dies alles viel „zu einfach“. Im Pentagon fühlte es sich an, wie wenn „man eine Mücke mit dem Hammer erschlägt“.156 Jeder fragte sich, wo waren die todschicken Düsenjäger, die der Irak von Frankreich in den achtziger Jahren gekauft hatte, warum wurden sie nicht eingesetzt? Tatsächlich waren sie zur Sicherheit in den nahen Iran, das die Neutralität beibehielt, geschmuggelt worden, während „andere Flugzeuge so weit weg wie nach Indien und Algerien verstreut worden waren“.157 Am 24.  Februar begannen die Bodenoperationen. Aber es kam nicht zu Kämpfen. Irakische Soldaten, die Außenstehenden wie eine betäubte Menge erschienen waren, ergaben sich den alliierten Armeen ohne einen einzigen Schuss abzufeuern zu Tausenden auf ein Mal.158 Nach drei Tagen war alles vorbei. Kuwait-Stadt war befreit worden, und die Iraker zogen sich zurück. Bush I hat dann die Schiiten im Süden angefeuert zu rebellieren, was sie auch taten. Doch gleichzeitig ließen die US-Truppen Saddam Husseins Elitetruppe, die Republikanische Garde, über die Grenze vordringen, um die Rebellion niederzuschlagen. Die Begründung der Amerikaner für eine solch verwirrende Kehrtwendung war, dass ein Sieg der Schiiten im Süden dem Iran eine 154

Laurent, Tempête du Désert, S. 146. Ibd. S. 188 f, 190, 223 f. 156 Ibd. S. 195, 210. 157 Elaine Sciolino, The Outlaw State: Saddam Hussein’s Quest for Power and the Gulf Crisis, New York 1991, S. 28 f. 158 Laurent, Tempête du Désert, S. 280 f., 327 f. 155

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Basis für die Ausbreitung des Islamismus geboten hätte. Doch das war nicht die Wahrheit. Irakische Schiiten hatten den Iran in der regulären Armee acht Jahre lang bekämpft. Am 3. April 1991 hat ein UN Waffenstillstand das Manöver zum Stillstand gebracht: Obwohl geschwächt und formal aus zwei Pufferzonen im Norden und im Süden ferngehalten, war Saddam Herrscher in Bagdad geblieben. Die Öffentlichkeit begann sich weltweit zu fragen, was um alles in der Welt dieser Konflikt möglicherweise bedeutet haben könnte. In einem dokumentierten Fall waren irakische Zivilisten in einem Bunker getötet worden und Hunderte sich zurückziehender irakische Truppen wurden am 24. Februar feige aus der Luft abgeschlachtet. Doch während des ganzen Feldzugs verstummten die alliierten Generäle, obwohl sie recht redselig waren, wenn man sie aufforderte, die Zerstörung des militärischen Apparats des Iraks zu kommentieren, beim Thema der irakischen Verluste. Man bekam keine offiziellen Zahlen. Später rückten das Pentagon und die Saudis mit einer Schätzung von rund 100.000 Toten heraus.159 Doch auch diese Zahl wurde nie bestätigt. Die Alliierten hatten ein Kontingent von 744.000 Mann ins Feld geschickt, um ein arabisches Ödland mit einem Brutto­ inlandsprodukt, das nicht einmal ein Zwanzigstel des französischen BIP aufbrachte, zu bezwingen. Die Vereinigten Staaten, die eine halbe Million Soldaten dieses Kontingents gestellt hatten, verloren 147 Soldaten, die meisten von ihnen bei logistischen Unfällen. Militär-Analytiker stellten unbequeme Fragen: Was war tatsächlich getroffen worden? Sicherlich war der Großteil von Saddams Panzerstreitmacht pulverisiert worden. Doch dies waren veraltete in Russland hergestellte T55s, deren Zerstörung willkommen war.160 Die Existenz der super ausgerüsteten, unterirdischen Bunker, in denen der unbezwingbare Saddam angeblich gelauert hatte, konnte niemals festgestellt werden. Und der Verdacht kam auf, dass ein Großteil der Feuerkraft auf Attrappen verschwendet wurde, auf aufblasbare Panzer, Rüstung aus Gips und Flugzeuge aus Pappe, von denen der Irak eine enorme Menge aus Italien, Belgien und Frankreich bestellt hatte.161 Obwohl er versprochen hatte, Israel mit einer bakteriologischen Seuche zu verwüsten, sollte er angegriffen werden, schickte Saddam schließlich wahllos 86 Raketen ohne chemische Sprengköpfe nach Israel (und Saudi-Arabien). Dieser Beschuss führte zu vier Toten und geringen Schäden, sie brachten Saddam etwas Beifall unter der arabischen Bevölkerung, aber keinerlei militärischen Gewinn ein.162 Dasselbe gilt von den brennenden Ölfeldern. Sie waren wahrscheinlich versehentlich von den Alliierten in Brand geschossen worden. Kein Reporter wurde in das Kampfgebiet gelassen. Daher zeigte die Bildmontage von CNN altes Bildmaterial, darunter zum Beispiel einen jungen von Rohöl beschmierten Kormoran.163

159

Ibd. S. 341 f. Thierry d’Athis/Jean-Paul Croizé, Golfe, la guerre cache, Paris 1991, S. 153. 161 Ibd. S. 104, 121, 153. 162 Haghigat, Histoire de la crise du Golfe, S. 41. 163 D’Athis/Croizé, Golfe, S. 180–2. 160

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Insgesamt schien Frankreichs zeitgleiche Berichterstattung über den Golfkrieg zu unterstellen, dass es sich um eine groß angelegte Parodie eines Krieges handelte, in der Tat um eine Wiederholung des „Reinforced Theater Plan“ von 1961. Wie damals mussten die reichen Öl-Scheichs von Kuwait und Saudi-Arabien wieder für das Spektakel zahlen, und ganz neue Teilnehmer an dem Handel bestechen, darunter Ägypten, die Türkei, Syrien und Russland.164 Zu welchem Zweck? Die französischen Experten schlugen vier Hauptgründe vor: (1) Es sollte den amerikanischen Truppen erlaubt werden, in Saudi-Arabien eine dauerhafte militärische Präsenz einzurichten, was ihnen bis dahin verweigert worden war;165 (2), als Folge davon sollte die Sicherheit Israels gestärkt werden; (3) sollten die Rüstungsarsenale geleert und die Rüstungsindustrie wiederbelebt werden;166 und (4) sollte der Irak in ein verkommenes Öl-Schmuggel-Gebiet „eingefroren“ werden167 und das unter einem Regime von UN-Sanktionen und zwar solange, wie das geopolitische Schicksal Russlands noch ungeklärt war.168 Man ging davon aus, dass nichts von alledem erreicht worden wäre, hätte Saddam nicht von Anfang an das Theater vollends mitgespielt. Wie hat Baudrillard dieses umfangreiche und umstrittene Material für die linke Öffentlichkeit aufbereitet? Der Golfkrieg, sagte er, sei nur die zweite Fortsetzung einer allgemeinen Tendenz, die „gefährliche“ und „widerspenstige Kultur“ des Islam auf die westliche „Weltordnung“ zurückzutrimmen.169 Der erste Vorgang war der Iran-Irak-Krieg mit dem Ziel, wie Kissinger es ausdrückte, dass keines der beiden Länder gewinnen sollte. Deshalb, als ob man Rechnungen zu begleichen hätte, wären Saddam und die Amerikaner zum Schlagabtausch angetreten – Saddam, um sich dafür zu rächen, dass man mit ihm gespielt hatte, und die Amerikaner, um einen unbequemen Komplizen loszuwerden.170 Doch sei dieser Konflikt keine Verschwörung der Eliten gewesen. Er wäre eher aus dem unterbewussten Wunsch der westlichen Gesellschaft zu Stande gekommen, immer wieder auf die „unveränderliche Andersheit“ des Islam einzuschlagen. Diese Gesellschaft habe keine bessere Verwendungsmöglichkeit für die anschwellenden Überschüsse gefunden, als sie in inszenierten Blutorgien zu verschleudern.171 Die Frucht dieser kollektiven Angst war „die virtuelle Apokalypse“ des Golfkriegs. Sie war ein „toter“, „unwirklicher“ „manipulierter“, „geschlechtsloser“ und „magersüchtiger“ Krieg, der die Leute am Leben ließ, aber ihre Umwelt vernichtete. Damit war dieser Krieg schlimmer als herkömmliche Kriege.172 An „Verrückten“ wie Saddam, 164

Haghigat, Histoire de la crise du Golfe, S. 43. Das war tatsächlich der Argwohn des Sowjetischen Generalstabs, vgl. Salinger, Laurent, Guerre du Golfe, S. 248. 166 Luizard, La question irakienne, S. 306. 167 Ibd. S. 157–172. 168 Denaud, Irak, la guerre permanente, S. 134–7. 169 Jean Baudrillard, La Guerre du Golfe n’a pas eu lieu, Paris 1991, S. 98–100. 170 Ibd. S. 60. 171 Ibd. S. 26 f. 172 Ibd. S. 35. 165

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um mit ihnen diese „verkommene Simulation“ durchzuführen, habe es bisher niemals gefehlt. Indem man den „Stolz“ dieses „schlauen Trottels“ wirksam einsetzte und ihn wie einen „CIA-Agent in Saladins Kleidern“ vorführte, konnte der Westen seine zerstörerischen Kräfte wie eh und je einsetzen.173 Auf „die objektive Komplizenschaft“ eines „ewig hysterischen Versagers“ wie Saddam konnte man zählen, um „die arabische Welt“ nach dem perversen Gelüst des umtriebigen Westens zurechtzuformen. In dieser „Maskerade“ von einem Krieg, der mit „intelligenten Bomben“ und „geringen Verlusten“ geführt wurde, war jeder und alles „verdeckt“ geblieben. Er lief hinter der Maskerade von Attrappen versteckt ab, die reichlich aus Italien eingeführt worden waren, aus dem Land der geborenen Schwindler, aus einer Industriebranche, die sich seit jeher auf die Perfektion standardisierter „Fälschungen“ konzentriert hatte. Die Fälschungen wurden wie Placebos und vor allem wie „zensierte Informationen“ vom Getöse der Medien-Netzwerke unseren Köpfen mittels „vorgetäuschter Diskurse“ „eingeimpft“.174 In dieser „unerträglichen Atmosphäre von Täuschung und Dummheit“ hat jeder jeden betrogen: Als die Attrappen ausgingen, musste Ziele fünfmal hintereinander bombardiert werden, während Saddam seine Petarden (Sprengkörper) abfeuerte und „Israel sich dumm stellte“. Im Fernsehen sahen wir das Spiel amerikanischer „Jazzbo“ gegen irakischen „Humbug“, wie das von „Trickbetrügern im Zirkus“, die sich bei Tag als Feinde und bei Nacht als Kumpel aufführen. Die Nachrichten hielten uns alle mit dieser erbärmlichen Show, in der Saddam von einem „fiktiven Doppelgänger“ gespielt wurde, in Aufregung: „Schlechte Schauspieler, schlechte Tricks, schlechte Stripperinnen“ aber höhere Einschaltquoten und riesige Gewinne für die TV-Sponsoren.175 Und somit war schließlich auch das „Pro oder Contra zu diesem Krieg idiotisch“, so idiotisch wie das „Wirrwarr“ jener „pazifistischen“ Straßenproteste, die sich indirekt für Saddam einsetzten. „Umgeben von einer Gloriole aus Bluff“ hat „ein sentimentaler Patriotismus“ in unserer Brust den Medien erlaubt, uns ein bisschen mit diesen falschen Kriegsgeschichten zu terrorisieren. Aber schlussendlich ließ sich wirklich nichts machen, denn „allen war es egal“. Kurz gesagt, der Golfkrieg „hatte gar nicht stattgefunden“.176 Dies war eine raffinierte Argumentation, ein typisches Beispiel für einen linken Diskurs, der darauf angelegt ist, die Empörung (d. h., die Radikalisierung) zu entschärfen. Er bezog seine Überredungskraft aus Baudrillards Verwendung von Zweideutigkeiten, indem er Beweise, Vorurteile und desillusionierende Bilddemontagen mit einander verschmolz und in eine Foucaultsche Form goss. Mit anderen Worten: Die meisten Zuschauer kamen nicht umhin, als hinter diesem Krieg einen faulen Zauber zu vermuten und an der Wahrhaftigkeit der offiziellen Version zu zweifeln. Dieser Auffassung entsprach Baudrillard. Er stellte sie aber so dar, dass dem kein vorsätzliches Verschulden von irgendjemandem zugrunde 173

Ibd. S. 32 f, 70 f, 92. Ibd. S. 34, 40. 175 Ibd. S. 22, 54, 55, 65, 66, 69, 82, 86. 176 Ibd. S. 28, 50, 52, 72, 78. 174

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liegen sollte. Als Linker beschimpfte er zwar die kapitalistische Gesellschaft, würdigte aber andererseits auch Saddam herab. Schließlich tat er beide zusammen als groteske, untrennbare Seiten eines unterbewussten Ausrastens des Westens ab. Dieses Ausrasten sei – bildlich gesprochen – durch den „Viren-artigen“ Angriff des Islam gegen die disziplinierende Welt des Westens ausgelöst worden. Niemand „wusste Bescheid“: Bush war nicht weniger unwissend als Saddam, beide waren die hässlichen Masken der gleichen Halluzination. In einem gewissen Sinn schien Baudrillard, wie Foucault 1978, für den Islamismus Partei zu ergreifen. Das tat er in gewisser Weise auch. Doch in diesem Fall überrumpelte er die antiimperialistische Linke, indem er die Unangemessenheit von Friedensdemonstrationen darlegte, wo doch die Alternative zugegebenermaßen ein „Scheißkerl“ wie Saddam war. Darüber hinaus machte Baudrillard Untätigkeit zu einer modischen Pose der Linken, in dem er mit den Abneigungen und negativen Vorurteilen spielte, welche die meisten Westler gegen Araber hegten. Aus Sicht des Establishments war eine zynische, inaktive Linke dieser Art ideal: Sie ließ sich über die Zweideutigkeit der Wirklichkeit des Krieges aus, tat aber nichts dagegen. Die Antikriegs-Linke nahm dagegen die Explosionen, Tiraden und die jeweils neuesten Meldungen von CNN als gegeben hin, geriet allerdings in Schwierigkeiten, wenn sie die tiefere Natur des Konflikts, oder gar ihre militante Einstellung zu diesem Thema erklären sollte. Linke Kritiker warfen Baudrillard vor, sein „Der Golf-Krieg fand nicht statt“ sei „postmoderne Tünche“,177 „Unsinn“, schuldhaftes Verquicken des Problems mit Relativismus und Betäuben des „moralischen und politischen Nervs“ durch „zynische Duldung“ der Vorgehensweisen des Establishments.178 Doch Baudrillards Art des Links-Seins setzte sich durch. Dies war ein wichtiger Präzedenzfall. Er läutete die komplette Wirkungslosigkeit der pazifistischen Linken ein, um das Blutvergießen im März 2003 zu verhindern, als die USA mit Vorwänden, die mit denen von 1991 nahezu identisch waren, Saddams Satrapie beendeten. Und er bestärkte die Unfähigkeit der Friedens­ aktivisten, ihren Dualismus während des Kalten Krieges in der post-sowjetischen Ära zu überwinden. Solange der Streit romantische Figuren wie einen Che Guevara und so etwas wie antikoloniale Aufstände hervorbrachte, war es ziemlich einfach, eine radikale Haltung einzunehmen und die westlichen Ausbeuter abzu­ lehnen. Doch als sich die geopolitische Szene etwas verschob und die „islamische Zivilisation“ zum feindlichen Lager wurde, brachten es die Linken nicht mehr übers Herz, deren Ikonen – die Khomeinis, Saddams und Bin Ladens anzufeuern. Daher rührte die Verbreitung von Foucaults Fabeln und des allgemeinen Ohnmachtsgefühls angesichts von Tod und Konflikten. Es überraschte daher kaum, dass der Krieg gegen den Terror nach 9/11 den Fabeln über die global verteilte Macht ein zweites Leben einhauchte. 177

Ward Churchill, On the Justice of Roosting Chickens. Reflections on the Consequences of U. S. Imperial Arrogance and Criminality, Edinburgh, London, Oakland 2003, S. 8. 178 Christopher Norris, Uncritical Theory. Postmodernist Intellectuals and the Gulf War, London 1992, S. 15, 29.

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Krieg gegen den Terror Terrorismus ist unmoralisch. […] Lassen Sie uns also unmoralisch sein […], wenn wir etwas herausfinden wollen. Jean Baudrillard, L’esprit du terrorisme179

Als die Sowjetunion 1990 unterging, fühlte man die Folgen ihrer Auflösung in Europa mehr als in den Vereinigten Staaten, die bis dahin schon sehr viele ihrer noch vorhandenen Linken gewinnbringend in den neuen Auffangbecken der feministischen und relativistischen („Kulturellen“) Studien untergebracht hatte. Ins­gesamt zerfiel die ehemalige Linke zu dieser Zeit in vier Fraktionen: Ein beträchtlicher Anteil hatte seinen Mantel gewendet und war mit der Mehrheitsmeinung (d. h. als „marktwirtschaftliche“ Demokraten oder sogar als Neocons) abgedriftet, ein weiterer bedeutender Teil war zur Postmoderne übergelaufen, eine Randgruppe schloss sich den verstreuten Gruppen antioligarchischer Verschwörungstheoretiker an und ein Rest von dem, was einmal die große anti-imperialistische Partei der sechziger Jahre war, überdauerte. Er scharte sich noch immer um seine alternden Fahnenträger und sagte immer ungeschickter seine Rollentexte auf, die er sich in den Tagen der glorreichen Märsche beigebracht hatte. In ihnen hatte er damals jede politische Führung im Ausland bejubelt, die gerade das Opfer einer „kapitalistischen“ Aggression des Westens geworden war. In letzter Zeit benutzte das Establishment in Amerika diese semidezimierte Nachhut der alten sozialistischen Front, um sich polemisch gegen „die Linke“ oder „die Liberalen“ zu ereifern. Im Hinblick auf den Krieg gegen den Terror fächern sich die diffusen Meinungen in den Stellungnahmen dieser uneinigen Linken wie folgt auf. An einem Ende steht die antiimperialistische Linke. Ihr folgt die Postmoderne, die selbst in eine den Krieg ablehnende und eine ihn befürwortende Fraktion aufgespalten ist. Rechts von der zuletzt genannten, abgespaltenen Gruppierung findet man nur noch die Erklärungen der Regierung. Die offizielle Version beschreibt „die Angriffe von 9/11“ als „Schock“, aber nicht als Überraschung.180 Nach dem 9-11-Report wurde dieser Sabotageakt von der unwissenden Vorhut einer Kultur verübt, „die von den stürmischen Veränderungen der Moderne und der Globalisierung des­orientiert“ worden ist.181 Von „staatlichen Monopolen“ geplagt und unfähig „die Modernisierung willkommen zu heißen“, so der Bericht, haben die arabischen Staaten „das Wachstum unterdrückt“ und „die wirtschaftliche Produktivität insgesamt verkrüppelt“; dazu kam noch „die Unterdrückung und Isolierung der Frauen“.182 Solcher ethnischer, aus dem Marktversagen hervorgegangener Frust 179

Jean Baudrillard, L’esprit du terrorisme, Paris 2002, S. 20. Thomas H.  Kean (Vorsitzender), Lee H.  Hamilton (Stellvertreter), The 9-11 Report. The National Commission on Terrorist Attacks upon the United States, New York 2004, S. XXXVII. 181 Ibd. S. 73. 182 Ibd. S. 79 f. 180

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habe angeblich Horden von desillusionierten Arabern in die Arme eines Bin Laden getrieben, den der Bericht als „Symbol des Widerstands – vor allem des Widerstands gegen den Westen und gegen Amerika“ eingestuft hat.183 Angesichts der Anschläge vom 11.  September hätte eine ernstzunehmende Linke unmittelbar auf zweifache Weise reagieren sollen. Erstens sollte sie verlangt haben, dass keinerlei Vergeltungsmaßnahme unternommen werde, ehe nicht ein ordentliches Gericht auf höchst akribische und eindeutige Weise die Identität der Drahtzieher, ihr Motiv und die eingesetzten Mittel für die Durchführung des Anschlags festgestellt hat. Zweitens sollte sie von dieser Grundlage aus die ara­bische Welt – die friedfertigen Vertreter ihrer politischen, wirtschaftlichen und religiösen Bereiche – daran beteiligt haben, die Spannungen aufzulösen, und sie sollte die Weltgemeinschaft aufgefordert haben, die Existenz einer kulturellen Auseinandersetzung zwischen der westlichen und der nahöstlichen Welt zurückzuweisen. Die erste und wichtigste Aufgabe wurde komplett versäumt. Und die zweite, zugegebenermaßen schwierigere, wurde von Anfang an verworfen. Jeder Westler, der seinen Fuß in den Nahen Osten gesetzt hat und beobachten kann, weiß, dass es so etwas wie diese angebliche geistige Kluft, die unsere Gesellschaft von derjenigen der Araber trennt, nicht gibt. Hinsichtlich der reinen realen Machtverhältnisse ist der Nahe Osten dem Westen offensichtlich technisch, wirtschaftlich und militärisch unterlegen. Kulturell gesehen handelt es sich beim Nahen Osten um eine Welt, die nicht weniger bankrott ist als die unsere: die islamische Erweckungs­ bewegung ist so hohl wie die jüngsten Schübe der Evangelisation in Amerika. Islamismus, Islamisches Bankwesen und die neue Welle vermehrt auftretender verschleierter (hijabed) Frauen (von denen heute viele dazu passende, eng anliegende Jeans tragen) sind Phänomene, die auf die siebziger Jahre zurückgehen. Sie sind der Niederschlag einer Zeit, die durch die endgültige Demütigung im Yom Kippur Krieg gekennzeichnet ist. Danach hat eine zunehmende Zahl von Arabern in Bezug auf ihr Streben nach sozialer Identität die Säkularisation nach dem Zweiten Weltkrieg gegen eine oberflächliche Wiederaufnahme islamischer Frömmigkeit eingetauscht. Die immer entflammbare und kollektiv eifernde Wut, die westliche Medien der arabischen (und persischen) Bevölkerung seit den Tagen Khomeinis obsessiv unterstellen, ist in Wirklichkeit eine Erfindung. Was den westlichen Gast in Kairo, im libanesischen Bekaa-Tal, in Damaskus oder auch in der Golfregion tatsächlich überrascht, ist die Sanftmut der arabischen Bevölkerung. Die Bevölkerung dort ist hinsichtlich der Tendenz der Weltpolitik nicht weniger verwirrt als die ihres westlichen Gegenübers. Sie hegt trotz allem keinerlei vorurteilsbedingte Abneigungen gegen Besucher aus dem Abendland. Würden wir immer nur friedlich aufgetreten sein, lebten wir – und das wissen wir – in einer ganz anderen Welt. Und vielleicht könnten uns die Araber dahingehend so manches lehren.

183

Ibd. S. 81 (Hervorhebung hinzugefügt).

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Die Situation wird jedoch stark vom arabischen Establishment auf der einen Seite und der offiziellen Debatte der Orientalisten auf der anderen verkompliziert. Nahezu alle arabischen Staatschefs sind der westlichen Erklärung der Anschlägen vom 11. September 2001 gefolgt und haben damit bestätigt, dass es in der ara­ bischen Gesellschaft eine beachtliche Schicht gibt, die von dem Virus der destabilisierenden und unkontrollierbaren Krankheit des radikalen Islamismus befallen ist. Wie schädlich dies für den Versuch einer Verständigung war, kann nicht genug betont werden. Zum Beispiel hat der Fernseh-Kanal Al-Jazeera mit Hauptsitz im Golf-Emirat Katar, in dem die US-Armee ihren größten Bereitstellungsraum für einen Aufmarsch in der Region eingerichtet hat, in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle übernommen. Er bildet in Arabien die aufwiegelnde Entsprechung zu den patriotischen Nachrichtensendungen in Amerika. Darüber hinaus hat Al-Jazeera zur rechten Zeit Videokassetten ausgestrahlt, auf denen angeblich Bin Laden „spricht“.184 Dieses gegensätzliche Rollenspiel wurde durch die jüngste Wiederbelebung und die politische Duldung der Muslimbruderschaft im arabischen institutionellen Panorama verstärkt. Ihre Prediger an der Basis wurden als Scheichs in den Moscheen und als Theologen (der Scharia Hochschulen) im Rahmen des Lehrplans westlich ausgerichteter Universitäten angewiesen, gegen Israel und den Westen zu agitieren. Die Bruderschaft hat als eine moderne politische Bewegung (gegründet 1928) mit einer komplexen Geschichte und im Ruf eines außergewöhnlichen Söldnertums185 effektiv das Klima der Feindseligkeit aufrechterhalten, das für das Anfachen des Kriegs gegen den Terror nötig war. Sie hat das über einige ihrer Sprecher getan, die sich unverhohlen dazu bekannten, den Mythos Bin Ladens zu bewundern und den Traum von einer allumfassenden muslimischen Gemeinschaft zu hegen. Ein Projekt dieser Art setzt in der Tat die „Zerschlagung der territorialen Souveränität“ und die Einrichtung einer von jedem Staat und jedem nationalen Umfeld abgehobenen Mafia und von „trans­nationalen Netzwerken“ voraus, wie sie auf den Kriegsschauplätzen in Bosnien, Tschetschenien, Afghanistan, und auf den Philippinen zum Einsatz kamen. In diesem Punkt nähern sich die Interessen des Islamismus denen des amerikanischen Imperialismus an. Dieser profitiert aus einer solchen geopolitischen Fragmentierung der arabischen Staaten in dreierlei Hinsicht: (1) Die Fragmentierung erweitert den Radius für das Vordringen der USA in den eurasischen Raum, (2) sie verbessert die Versorgungsmöglichkeit der Waffen- und Rohstoffmärkte und (3)  verhindert, dass sich „konkurrierende Pole“ bilden können.186 An der intellektuellen Front wurde die Bildung einer Koalition und eines Dialogs für Frieden und Wahrhaftigkeit zwischen dem Westen und den Arabern durch eine unaufhörliche Wiederholung der alten Streitigkeiten seitens der Orienta­ listen, dem arabischen Ableger des Multikulturalismus, vereitelt. Die Lehrstühle

184

Eric Laurent, La face cachée du 11. Septembre, Paris 2004, S. 131–5. Vgl. Copeland, Game of Nations, S. 155–6. 186 Vgl. Copeland, Game of Nations, S. 155–6. 185

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der höheren Bildungsanstalten wurden in Amerika und Europa von Gelehrten nah­östlicher Abstammung besetzt. Zu ihrer Routine gehört es einzuschreiten, wenn Westler irgendetwas Arabisches rassistisch verzerrt darstellen. Auch hier lässt sich nicht leugnen, dass sich der Westen rassistisch und überlegen aufführt, und dass ein großer Teil seiner Ethnographie dem entspricht. Doch die westliche Voreingenommenheit ist kaum mehr für diesen Zusammenbruch der Kommunikation verantwortlich als die Unfähigkeit der arabischen Professoren zu erklären, was im Nahen Osten tatsächlich vor sich geht.187 In Wahrheit waren diese Intellektuellen nicht in der Lage zuzugeben, dass sich ihre Welt in jeder Hinsicht in der Defensive befindet, insbesondere ihre spirituelle / religiöse Welt, die nachweislich über so gut wie nichts verfügt, was sie dem westlichen Fußball, der Mode, dem Schnellimbiss und Kino entgegensetzen könnte. Die Millionen von Satellitenschüsseln auf den Dächern der Städte im Nahen Osten sind ein trauriger Beleg für diese Realität. Die tragische Ironie besteht hierbei darin, dass dieser angeblich „satanische“, „nicht mehr reduzierbare“, spirituelle Elan, den wir Westler derzeit den Arabern überstülpen wollen, selbst die jüngste Errungenschaft eines Orientalismus ist. Dieser ist – so wie er auftritt – eine von Foucault im Auftrag westlicher Medien maßgeschneiderte Erscheinung. Es sollte vielmehr an der Zeit sein, zusammen zu kommen und zu beurteilen, was jede Seite zu bieten hat, dann zu sehen, was es wirklich wert ist, und möglicherweise alles neu zu umreißen. Doch scheint es weder Zeit noch Lust auf Frieden und Ehrlichkeit zu geben. Seit den Tagen Foucaults im Iran und den post-sowjetischen Marotten Huntingtons, hat die westliche Intelligenzija viele solcher fabelhaften Märchen aus dem Orient gesammelt. Und nach 9/11 hat sie extrem viel Sorge getragen, diese auf eine packende Weise zusammenzustellen. Wie gesagt, die Regierung von Bush II war in Eile, und die öffentliche Diskussion sollte so gestaltet werden, um die öffentliche Unterstützung schnell für den Krieg gegen den Terror zu mobilisieren und dabei keine Möglichkeit für abweichende Meinungen zuzulassen. Dies wurde dadurch erreicht, dass man maßvoll ein ausgewähltes Spektrum der oben erwähnten politischen Stimmen in den Medien zu Wort kommen ließ, nämlich der AntikriegsLinken und der Strömungen im Bereich der Postmoderne. Die anti-imperialistischen Gurus haben den Terrorismus verurteilt, obwohl sie darin eine „verständliche“ Reaktion, eine Art Rote Ernte nach der langen Zeit imperialer Einmischungen Amerikas sahen. Sie nannten das den „Bumerang-Effekt“. Wie die Befürworter dieser „Theorie“ erklären, ist „‚Bumerang Effekt‘ ein Begriff, der von der CIA erstmals 1954 für die Operation von 1953 zum Sturz der Regierung Mohammed Mossadeghs im Iran gebraucht wurde. Es handelt sich um eine Metapher für die unbeabsichtigten Folgen verdeckter Operationen gegen fremde Völker und Regierungen: Den Schah an die Macht gebracht zu ha-

187

Den klassischen Beleg liefert: Edward Said, Orientalism, New York 1979.

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ben, bedeutete 25 Jahre Tyrannei.“188 Während sich also die Antikriegs-Linke ihr ana­lytisches Instrument von der CIA holte, haben sich die Foucaultianer in drei Formationen aufgeteilt, auf zwei Minderheiten an den Rändern und den Großteil in der Mitte. Baudrillards psycho-dramatische Interpretation von 9/11 an einem Ende, Hardt und Negri in der Mitte, und die (männlichen und weiblichen) Kriegstreiber der Feministen am anderen Ende. Baudrillard bereitete seine Spekulationen vom Golfkrieg neu auf und behauptete dieses Mal, dass die Zerstörung der Zwillingstürme im tiefsten Inneren ein Akt des Masochismus gewesen sei, durch den wir unser zwanghaftes Verlangen nach „eindeutiger Ordnung“ selbst bestrafen würden.189 Das war so, als hätten die Zwillingstürme „Selbstmord begangen“.190 Terrorismus war wieder einmal das Virus, das die „wilde Eifersucht“ der gespaltenen Psyche des „entsakralisierten“ Westens auf die Opfer-Energie des Islam hervorgebracht hat. Und über diese heterogenen Agenten (die Terroristen), die ihren Tod in einem symbolischen Austausch angeboten haben, kehrten wir schließlich diese Besessenheit gegen uns und betrachten nun „mit einer unein­gestandenen Komplizenschaft“ diesen „schönen“ Selbstmord.191 ­Baudrillards Trick des „ereignisreichen Nichtereignisses“ war 1991 noch gelungen und konnte damals die Menschen davon abhalten, sich gegen einen Krieg, der angeblich eine Täuschung war, aufzulehnen. Baudrillard sollte nun erwartet haben, dass die Intelligenzija auf diesen Trick wahrscheinlich nicht mehr hereinfallen würde. Denn sie sollte ja eine populäre Empörung auf Grund einer Tat entfachen, deren Realität deshalb nicht in Frage zu stellen war. Weit brauchbarer war daher die Zwischen­ position von Hardt und Negri, die mit Sicherheit die Foucaultsche Hauptströmung angeführt haben und in den Lobeshymnen schwelgten, die ihnen die Presse zuerkannte. Ähnlich wie Baudrillard haben auch Hardt und Negri die Existenz eines Kampfes der Kulturen geleugnet. Dagegen behaupteten sie andererseits, Fetische wie, sagen wir, Saddam oder Bin Laden seien „pädagogische Hilfsmittel“, „Platzhalter einer allgemeineren Bedrohung“ nämlich eines neuen feindlichen terroristischen „Netzwerks, in dem es keinerlei Zentrum gibt“.192 Der Rest der radikalen Akademiker hat diesen Ansatz aufgegriffen und wiedergekäut, dass Terror die „Kehrseite“ der „objektiven Mehrdeutigkeit der Globalisierung“ sei. Mit anderen Worten, Al-Qaidas „Subkultur des Widerstands“ sei die „Gegenreaktion“ des „rückständigen, vormodernen islamischen Fundamentalismus“ gegen „den altmodischen, patriarchalischen und unilateralen Wildwest-Militarismus von

188

Chalmers Johnson, „American Militarism and Blowback“, in: Masters of War: Militarism and Blowback in the Era of American Empire, ed. Carl Boggs, London, New York: Routledge, 2003, S. 113 (Hervorhebung hinzugefügt). 189 Jean Baudrillard, L’esprit du terrorisme, Paris 2002, S. 12. 190 Jean Baudrillard, Power Inferno. Requiem pour les Twin Towers. Hypothèse sur le terrorisme, La violence du mondial, Paris 2002, S. 15. 191 Baudrillard, L’esprit du terrorisme, S. 10–12, 22 f, 29, und Power Inferno, S. 76. 192 Michael Hardt/Antonio Negri, Multitude, Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. M. 2004, S. 47, 75.

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Bush II“.193 Oder, um die gleiche Idee mit dem alten linken Jargon auszudrücken, die Wendung Bin Ladens gegen „seine Schöpfer“ bei der CIA „scheint ein Musterbeispiel für den dialektischen Umschlag zu bieten“  – also für einen Prozess von Reaktion und Gegenreaktion, „der nicht unbedingt zu einer Synthese führen muss“.194 Das war nichts anderes, als ein überhebliches, unnötiges Nachbeten der von Vizepräsident Cheney angestimmten Warnung, dass der Krieg gegen den Terror „nicht in unseren Lebenszeiten enden werde“. Nichts von alledem war natürlich originell, und zwar nicht deshalb, weil es von Foucault stammte, sondern weil es sich von einem Schlagwort herleitete, das ein Akademiker im Jahr 1992 geprägt hatte. Danach würde es dazu kommen, dass die Welt durch die antagonistische Beziehung zwischen dem „Jihad“ eines „engstirnigen Hasses“ und den „universellen Märkten“ von „McWorld“ angetrieben wird.195 Das war nur ein Schlagwort und in der Tat nur eine Variante zu Huntingtons Kampf der Kulturen. Am Ende kochten alle ihren Brei auf dem gleichen Herd. Und wie verhielt es sich mit den Frauen? Was war mit den Müttern und Freundinnen dieser kämpfenden Männer? Was haben sie gesagt und getan? Aristo­ phanes bewegendste Komödie ist tatsächlich Lysistrata. Sie handelt von einer Athenerin, die um das Gemetzel im Peloponnesischen Krieg zu beenden, ihre Schwestern in ganz Hellas einlud, ihren kriegsbegeisterten Männern die Freuden des Sex so lange vorzuenthalten bis diese ihre Waffen niederlegten. (Dieses Stück hatte Leo Strauss wütend gemacht.)196 Wo waren die Lysistratas in Amerika? Offenbar nirgendwo. Was die Medienberichterstattung betraf, sahen wir nur die Mutter eines Jungen, der im Irak gefallen war, an den Toren der Ranch des Präsidenten in Texas rütteln. Aber ihr Flehen wurde ihr von der örtlichen Gemeinde sehr übel genommen. Unter den Intellektuellen fielen natürlich nicht alle Feministen auf das herein, was sie als „äußerste Heuchelei“ durchschaut hatten.197 Die Heuchelei bestand darin, dass George und Laura Bush den Krieg als einen darstellten, der für die Befreiung der Frauen in Afghanistan geführt würde. Trotzdem war es traurig, selbst unter denjenigen auf Kriegsbegeisterung zu stoßen, die von sich behauptet haben, „als kraftvolle Stimmen bereit zu sein, die enorme Flut an Lügen, die die US-Außenpolitik umgeben, herauszufordern“.198 Eine dieser femi 193 Douglas Kellner, „Globalization, September 11, and the Restructuring of Education“, in: Critical Theories, Radical Pedagogies and Global Conflicts, ed. Gustavo E. Fischman, Peter McLaren, Heinz Sünker, Colin Lankshear, Lanham, MD 2005, S. 87, 88, 93, 98. 194 Frederic Jameson, „The Dialectics of Disaster“, in: Dissent From the Homeland, Essays After September 11, ed. Stanley Hauerwas, Frank Lentricchia, Durham NC, London 2003, S. 59. 195 Benjamin Barber, „Jihad versus McWorld“, in: Globalization and Challenges of a New Century, ed. Patrick O’Meara, Howard D. Mehlinger, Matthew Krain, Bloomington 2000 [1992], S. 24. 196 Leo Strauss, Socrates and Aristophanes, New York, London 1966, S. 198–200. 197 Rhonda Hammer, „Militarism and Family Terrorism,“ in: Masters of War, ed. Boggs, S. 294. 198 Boggs, „Empire and Globalization,“ in: Masters of War, ed. Boggs, S. 15.

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nistischen Stimmen beklagte nach 9/11 sogar die „neopatriarchale Unterordnung der Frauen“ in den Streitkräften seitens der Regierung. Sie forderte, „man sollte erwartet haben, dass die Eliten die Fähigkeiten aller Bürger zum Wehrdienst begrüßen würde“.199 Fähigkeiten? Es scheint also, dass die Frauen selbst lautstark ihre Beteiligung am Töten im Nahen Osten einforderten, aber Bush II sie davon gönnerhaft ausgeschlossen hat. Auf jeden Fall ist unbestreitbar, dass ein beträchtlicher Teil der feministischen Fraktion den Krieg gegen den Terror entweder aus Apathie oder geradezu militant gutgeheißen hat. Einer der Postmodernen hat es so ausgedrückt: „Konfrontiert mit einem so unverständlichen und unerbittlichen Feind wie Bin Laden, haben viele der Linken die politischen Positionen dieses Mannes gegenüber Frauen, zur Homosexualität, zum Säkularismus und zur Gesichtsbehaarung überprüft und sich allmählich von Aktionen zurückgezogen.“200 Andere sind stattdessen voll darauf abgefahren und haben den Krieg gegen den Terror begrüßt, zwar nicht als einen Kampf der Kulturen, aber als einen globalen Kampf des „demokratischen Säkularismus“ und „Feminismus“ gegen die „autoritäre patriarchalische Religion“.201 Dies war die kriegerische Strömung in der Postmoderne, die sich nach 9/11 wieder den Konservativen angeschlossen hat. Ihre Sprecher bildeten eine selbsternannte „dritte Kraft“ der Liberalen, der „humanitären“ Falken. Sie beschlossen, eine „progressive“ Rolle zu übernehmen und in diesen Tagen vor allem gegen den „Islamofaschismus“ anzutreten. Auf die Anschuldigungen seitens ihrer ehemaligen linken Genossen, sich damit zu prostituieren, antworteten diese Progres­siven, dass „ein paar Insider-Verträge mit Bushs Kumpanen […], ein bisschen rückschrittliches Bibelwälzen, Bushs lächerliche Steuersenkungen und Geldgeschenke an die Superreichen“ nur Kleinigkeiten im Vergleich zu Saddams abscheulicher Regierung seien.202 Zusammenfassend lässt sich sagen, diese Fülle an Meinungsmache zum Krieg gegen den Terror ist die Leistung von Intellektuellen ohne jede Qualifikation als Historiker, Ökonomen und Terrorismusforscher. Sie haben einfach nach fast identischen Schemata Informationen von sich gegeben, die dann den Weg in einen industriellen Ausstoß von Büchern über Bin Laden, Islamismus und Al-Qaida gefunden haben. Wie es zu einem solch sintflutartigen Datenfluss über eine Organisation kommen konnte, die offiziell als undurchdringlich und bisher unbesiegbar galt, ist eine weitere Kuriosität. Es scheint, dass diese die Linken nicht im geringsten gestört hat. Obwohl dies nicht der richtige Ort ist, um auf das Thema näher einzugehen, und es besser einem künftigen Buch vorbehalten bleibt, bietet

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R. Claire Snyder, „Patriarchal Militarism“, in: Masters of War, ed. Boggs, S. 266. Michael Bérubé zitiert nach Afary/Anderson, Foucault and the Iranian Revolution, S. 171. 201 Ellen Willis zitiert nach Afary/Anderson, Foucault and the Iranian Revolution, S. 171–2. 202 Paul Berman, „A Friendly Drink in a Time of War“, in: A Matter of Principle. Humanitarian Arguments For War In Iraq, ed. Thomas Cushman (Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press, 2005), S. 151. 200

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die Abhandlung von Mohammed Samraoui einen geeigneten Ausgangspunkt zum Verständnis des islamischen Terrorismus. Samraoui war ein ehemaliger hochrangiger Offizier des algerischen Nachrichtendienstes. Er beschrieb die Natur und Dynamik dieses Phänomens, als es zum ersten Mal Anfang der Neunziger Jahre in Algerien in Erscheinung getreten war.203 Abgesehen von geringfügigen Abweichungen und wenn man die mehr oder weniger polemischen Akzente weglässt, ist leicht zu ersehen, dass die Ansichten der etablierten Linken zu 9/11 hinsichtlich aller Absichten und Zwecke mit der Interpretation des Ereignisses durch die Regierung übereinstimmen. Tatsächlich fügte die Bemühung des „Bumerang Effekt“ der Anti-Imperialisten und der „hetero­ genen“ und „symbolischen“ „Gegenreaktion“ aufgrund der Globalisierung seitens der Foucaultianer dem Bericht der Nationalen Kommission nichts Neues hinzu. Der Bericht unterstrich bereits, dass der islamische Terrorismus „ein Symbol des Widerstands gegen stürmische Veränderungen“ sei. Noch bemerkenswerter ist die Art und Weise, auf die sich die offizielle Version vor den Angriffen möglicher Dissidenten geschützt hat. Sie hat ein System der Selbstkontrolle eingeführt, das auf antagonistische Weise von den verschiedenen Fraktionen eben dieser Linken gehandhabt wird. Betrachten wir zunächst die Hauptströmung der Foucaultianer! Auf der einen Seite haben sie zum Spaß die Gesinnungsgenossen Huntingtons schadenfroh ausgelacht, eines Huntington, der, wie Hardt und Negri spöttelten, angeblich in Ungnade gefallen war, als die Regierung den „Kampf der Kulturen“ ablehnte204  – was aber nicht der Fall war. Andererseits haben sie sich gegen ihre ehemaligen Genossen von der Antikriegs-Linken gewandt und mit ausgeklügelter Boshaftigkeit unterstellt, dass einiges an ihrer Sprechweise nicht nur veraltet sei, sondern nach einem links gewendeten „Antisemitismus“ röche.205 Die so provozierten, antiimperialistischen Marxisten haben zurückgebellt und den Foucaultianern stattdessen vorgeworfen, „von den Herren des Systems manipuliert zu werden“, für die der Postmodernismus angeblich nur ein „ideologisches Anhängsel“ sei.206 Während die postmodernen Kriegstreiber den Friedensaktivisten „Isolationismus“ und die Komplizenschaft der Unbeweglichen mit dem „Islamo­faschismus“ vorwarfen, schossen letztere zurück, dass die Parteinahme für Bush „eine Unterschrift unter den Pakt mit dem Teufel“ bedeute.207 An der anderen Front hat die konservativ-liberale Presse immer, wenn die verbissensten Antikriegs-Aktivisten sich so weit verstiegen haben, 9/11 als „Karma“ zu beschreiben208, diese Gelegenheit erfreut aufgegriffen. Sie bot ihr die Möglichkeit, 203 Mohammed Samraoui, Chronique des années de sang, Algérie: comments les services secrets ont manipulé les groupes islamistes, Paris 2003. 204 Hardt/Negri, Multitude, S. 51. 205 Ibd. S. 58. 206 Samir Amin, The Liberal Virus. Permanent War and the Americanization of the World, New York 2004, S. 19 f. 207 Howard Zinn, Terrorism and War, New York 2002, S. 44. 208 Ward Churchill, On the Justice of Roosting Chickens, S. 10.

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die ganze Linke nicht nur als „unpatriotisch“, sondern schärfer noch, als zynisch, gefühllos, wenn nicht sogar unmenschlich hinzustellen (die Bezeichnung „un­ patriotisch“ eignete sich besonders gut, um abweichende Stimmen bei den Rechten zu diffamieren). Aus dem gleichen Grund profitierte das Establishment von dieser Art anti-imperialistischer Übertreibung nicht weniger als von den Batailleschen Exzessen eines Baudrillards und seinesgleichen. Wenn Baudrillard vom „schönen Selbstmord“ sprach, und der Komponist Stockhausen die Kühnheit besaß, die Feuersbrunst von 9/11 das „erhabenste Kunstwerke“ zu nennen209, konnte die Presse sofort und effektiv Empörung in Hülle und Fülle zusammentrommeln, um damit den ultra-gnostischen Komponisten wegen seiner „morbiden“ Tor­heiten und wegen seiner unerträglichen „Faszination für die Terroristen“ zu schelten.210 Schließlich scheint das ganze propagandistische Theater auf eine Weise inszeniert worden zu sein, dass die Aktion, egal wie unterschiedlich sie intern aufgenommen worden sein mochte, die Reihen gegen jede andere Theorie oder Methode noch wirksamer schloss, besonders gegen eine, die versuchte, eine Verantwortlichkeit für politisches Fehlverhalten festzustellen. Eine externe inhaltliche Kritik an dieser linken Sammelmeinung wird von den Anti-Imperialisten als „faschistisch“, von den Foucaultianern als „rassistisch“ und von allen als „Verschwörungstheorie“ abgetan und zusätzlich vom Establishment noch zensiert. Der Mechanismus ist wasserdicht. Nichts verkörpert die Niederlage des Dissenses in diesen obszönen Kriegs­ zeiten voll geopolitischer Machenschaften besser als die schließliche Übernahme des Geschicks der Linken Bewegung durch die Hauptströmung der Foucaultianer. Gegenstand der vorliegenden Schrift war die Geschichte eines neo-gnostischen Denkers und modernen Verehrer der aztekischen Opferkulte, der sich eine soziologische Theorie zurechtgelegt hatte, mit der er die Natur und Vorgehensweise der Macht erklären konnte. Die Kapitel sechs, sieben und neun haben detailliert den außergewöhnlichen Weg behandelt, den Batailles Einsichten zurückgelegt haben, ehe sie von Foucault und seinen Anhängern in ein fadenscheiniges Phantasiegebilde umgemünzt wurden, welches das amerikanische Imperium schließlich in sein rechtstaatliches Make-up einfügen sollte. Das ist eine verblüffende Geschichte, die damals, als Bataille seine Notizen für das Collège de Sociologie redigierte, sich wohl kaum einer vorstellen konnte. Sie war kaum vorstellbar, aber eben nicht unmöglich, wenn man Batailles unverfrorenes Eintreten für Gewalt, Lüge und Arroganz („Souveränität“) berücksichtigt, das seine Vision mit der zeitgenössischen Art und Weise der Machtausübung verbindet.

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Baudrillard, Power Inferno, S. 19. Alain Minc zitiert nach Afary Anderson, Foucault and the Iranian Revolution, S. 170.

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Zusammenfassung und Folgerungen Die „Postmoderne“, auf die wir uns hier beziehen, hat zwei Ebenen. Auf der einen gibt es sozusagen die „kommerzielle“ Facette, auf der anderen ihr „künstlerisches“, wertvolles Idealbild. Beides sind recht unterschiedliche Dinge. Im üblichen Sinne handelt es sich bei der Postmoderne um die kommerzielle Inszenierung, die in den öffentlichen Diskurs Amerikas eingedrungen ist, seit Foucaultianer, Lyotard und die neue Welle der französischen Antihumanisten dort aufgenommen worden waren. Gemeint sind die pragmatischen Gebote des Relativismus und des Antagonismus um seiner selbst willen, die sich in letzter Zeit in das Ethos der amerikanischen Bürokratie eingenistet haben. Im modischen Gewand des „die gegenseitigen Unterschiede sind zu respektieren“ gilt diese Inkorporation aufgrund des Eigenlobs der Behörden als ein sehr wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer höheren Ebene bürgerlicher Umgangsformen. Man hat inzwischen verstanden, dass die weißen Eliten des Landes deshalb nicht weniger intolerant sind, als sie es vorher waren, und dass sie wie eh und je davon profitieren, an den ungelösten Problemen festzuhalten. Diese ergeben sich aus ihrer Beschränktheit, „die Anderen“ nur als Bürger zweiter oder dritter Klasse zu behandeln. Das trifft besonders die spanischen Gemeinden Amerikas, deren „Andersartigkeit“ nur so lange hofiert wird, wie sie Enklaven zur Versorgung mit Billigstarbeitskräften bleiben (Achten Sie hierbei auf die zu ihren Gunsten bereitgehaltene Menge an zweisprachigen Vorschriften). Ein Land, das nicht so sehr unter rassistischen Neurosen leidet, hat es nicht nötig, sich jeden Tag daran zu erinnern, ja die „Unterschiede“ zu respektieren. Was die Politik der Verschiedenartigkeit auf der Ebene der gemeinsamen Interaktion zwischen „verschiedenen“ Individuen angerichtet hat, ist nun offenkundig. Es ist dies die allgemeine Unmöglichkeit, echte Kommunikation aufkommen zu lassen, ohne dass die Empfindlichkeit der „zum Opfer gemachten“ Menschen (und letztlich kann jeder einige markante Dinge ausgraben, die als solches durchgehen) von Aussagen verletzt wird, die beliebig als Einschränkung der Einzigartigkeit der Gesprächspartner interpretiert werden können. Es war durchaus nicht unvorhersehbar, dass ein solches Klima gepflegter Missverständnisse zu schriller Zwietracht und organisatorischer Lähmung von der Art führen würde, welche die Linke seit 9/11 behindern. Soweit kann diese Entwicklung als eine Verfeinerung des sprichwörtlichen „Teile und Herrsche“ gesehen werden. Doch es gab dafür auch eine Mytho­logie. An alldem war ein Credo beteiligt. Die postmodernen Kritiker haben aus ihrer „Skepsis“, ihrem „Antiklerikalismus“ und ihrer Beschimpfung von Religionen einen Beruf gemacht. Die fanatische Leidenschaft, mit der sie Foucaults

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Zusammenfassung und Folgerungen

Macht / Wissen aufgesogen haben, trägt selbst das Merkmal religiöser Gefühle. Das Foucaultsche Konstrukt ist durch und durch metaphysisch. Nicht an den monotheistischen Gott zu glauben, während man an ein Leben glaubt, das nach dem Zufallsprinzip aus der ursprünglichen Leere hervorgeht, bleibt noch immer Glaube. Der immaterielle Begriff der „Macht“, die δύναμις der Gnosis, konnte nicht weiter von der positivistischen und rationalistischen Überzeugung entfernt sein, die diese Kritiker in ihrer sonstigen täglichen Arbeit zur Schau stellen. Wir stehen also vor diesem seltsamen Schauspiel, dass nüchterne, computerversierte Intellektuelle, die stolz ihren Agnostizismus und ihre gute liberale Erziehung bekennen, gleichzeitig auf das gnostische Evangelium eines Foucaults und Heideggers (oder eines ihrer vereinfachenden Ableger) schwören. Es ist der schizoide Reiz dieser schlafwandelnden, halb liberalen, halb gnostischen Professorenschaft, die der zeitgenössischen gehobenen Ausbildung in Amerika jenen Hauch halluzinierter Unwirklichkeit verleihen. Doch steckt in dieser Angelegenheit eine tiefere theoretische Wahrheit, die nämlich, dass sich fast alle einig sind, dass das sogenannte liberale Zeitalter, diese gefeierte Zeit der Demokratie und der Freiheit seit der industriellen Revolution nicht nur versagt hat, sondern dass es dieses Zeitalter tatsächlich nie als ein solches gegeben hat. Das Aufkommen der Technik, der Märkte, der Wirtschaft und des Konsums hat nicht den Beginn einer Ära der Freiheit eingeläutet, sondern die überwältigende Mechanisierung der Produktion und der Ausübung von Macht, die letztlich dynastisch geblieben ist. Es fand in der Tat eine außergewöhnliche Transformation statt, aber sicherlich keine, die mit mehr Freiheit einherging. An der Spitze ging die Herrschaft von den Blut-Eliten an die Geld-Eliten über. Andererseits ist der Holocaust nicht verschwunden, wenn überhaupt, dann wurde er durch Kräfte der Zerstörung gesteigert, die nicht mehr nur erschlugen, sondern bombardierten. Der Verdacht, dass hinter dem grenzenlosen Optimismus der Aufklärung und nachfolgend hinter dem britischen Liberalismus (von John Locke bis Alfred Marshall) eine Lüge steckte, wurde gleich zu Beginn durch das Zeugnis des Marquis de Sade bestätigt. De Sade war tatsächlich einer der frühen Liberalen, der nachweisen konnte, dass eine Gesellschaft, die Natur und Vernunft auf den Thron gehoben hat, nicht eine Kultur der Tugend garantieren würde, sondern dass sie viel mehr das Recht des Stärkeren, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen, bekräftigen würde. Und so ist es auch geschehen, besonders im letzten Jahrhundert, dem blutigsten unserer jüngeren Geschichte. Der Liberalismus hat daher, wenn es denn je der Fall gewesen sein sollte, schon längst keine Antworten und Theorien mehr, um damit die Art des spirituellen Umfelds zu erklären, in dem der Westen in den vergangenen 300 Jahren gelebt hat. Was die Marxisten betrifft, so sollten sie gnädigerweise ihre Ansichten schon vor langer Zeit geändert haben, zumindest seit der Erfahrung im Ersten Weltkrieg, als die „Arbeiter der Welt“, statt sich zu vereinen, einander in einem patriotischen Welt-Konflikt abschlachteten. Wohin sollte man sich nun wenden? Übrig blieben Veblen auf der einen Seite und Bataille und Jünger auf der anderen – apollinisch

Zusammenfassung und Folgerungen

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der erste, dionysisch die letzteren. Die Werke Batailles und Jüngers repräsentieren die „künstlerisch“ wertvollen Bestandteile der Postmoderne, weil sich beide Autoren, unabhängig davon, wie schlecht ihre Absichten waren, um eine realistische Darstellung unserer Realität bemüht haben. Dies lässt sich keineswegs von den anderen Vertretern dieser Bewegung (sowohl auf der Linken wie auf der Rechten), möglicher Weise mit Ausnahme von Kojève, sagen. Abgesehen davon, dass sie fast 50 Jahre nach ihm geboren wurden, hatten Bataille und Jünger einen weiteren Vorteil gegenüber Veblen: Sie waren nicht mehr Victorianer mit der Illusion, die Technologie könnte den Großteil der Gebrechen der Moderne heilen. Daher konnten sie unsere Zeit als eine Zeit der nihilistischen Transformation darstellen, in der eine Flut entfremdeter, technisierter Kontrollstrukturen die Gesamtheit der traditionellen Machtstrukturen durchdrungen und zentralisiert haben. Dabei wurden alle verbliebenen Formen der barbarischen, antiken Herrschaft abgeschafft. Nach dieser Theorie bildete die industrielle Revolution nur eine Übergangsphase zwischen der Epoche – sagen wir – eines Gilles de Rais und dem endgültigen Zustand der gläsernen Bienen, in dem wir heute leben. Weil Bataille und Jünger eigentlich Nostalgiker waren, haben sie sich zurückgezogen. Es lag nun in der Hand von Individuen wie Kojève und Leo Strauss, die Machthungrigen aufzuhetzen, die bürokratische Leiter dieser zentralisierten und unausweichlichen Machtstruktur hinaufzusteigen. In diesem Sinne sind die zeitgenössischen Postmodernen der Linken wie der Rechten Kojèvianer: Sie erkennen an, dass die Welt so ist, wie sie ist, und dass dieser Zustand nicht überwunden werden kann. Dadurch dürften sie genau so viel Macht ausüben, wie ihnen das Netzwerk zugesteht. Jeder darf die verfügbare Position einnehmen, die zu ihm und seinem Temperament am besten passt. Diejenigen, die den Chef spielen wollen, wählen sich Strauss zum Vorbild, während Sonntags-Rebellen als Foucaultianer auftreten werden. Natürlich hatte weder Bataille noch Jünger jemals behauptet, dass der Macht „ein Zentrum fehlt“. Sie schlugen realistischer Weise das Gegenteil vor. Entschlossen, wie sie es waren, lieferten sie eine eindringliche Charakterisierung dieser Besessenheit, nämlich ihrer eigenen, und die war Machtbesessenheit. Sie beide waren vielleicht spirituell verdorben, aber sie waren nicht intellektuell unredlich. Intellektuell unehrlich war dagegen Foucault, der Batailles Philosophie der Übertretungen, seine Collège Vorlesungen über den „Kern“ und die Dynamik der Macht in seinem Der verfehmte Teil als Plagiat übernommen und daraus sein Konzept Macht / Wissen zusammengestellt hat. Er hat dieses dann als Betrachtungen über Nietzsche verkauft und mit einem Schuss Heidegger gewürzt. Macht / Wissen war dennoch aus sich heraus eine Errungenschaft, denn das Konzept bot das erste erfolgreiche Muster einer Neubearbeitung des neo-gnostischen Mythos (Batailles), das sich für den propagandistischen Einsatz eignete. Es war so erfolgreich, weil es die enorme Plausibilität von Batailles ursprünglicher Charakterisierung der homogenen (gleichgeschalteten) und heterogenen (widerstrebenden) Kräfte beibehielt, ohne sie einerseits durch seine zweifelhafte kosmogonische Vorgabe (vom kopf­ losen Gott) und durch die Notwendigkeit, die politische Verantwortung festzustel-

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Zusammenfassung und Folgerungen

len andererseits („das Fehlen eines Zentrums“), zu belastet. Was in Macht / Wissen verschwunden war, war die Macht selbst. Natürlich, wenn jeder mächtig ist, trägt niemand die Schuld – ergo bleibt die Elite, die Ausbeutung und Kriege betreibt, ungeschoren. Doch dieses Argument beseitigt nichts von Batailles Verantwortung. Seine Erzählung mag wohl verzerrt worden sein, doch glaubte er wie jeder Elitäre an Antagonismen, an die aristokratische Verachtung (d. h. „Souveränität“) und an die Notwendigkeit des Krieges. Der Grund, weshalb er nicht direkt auf den Schild gehoben wurde – sondern nur über den Umweg Foucaults – lag daran, dass sein Werk – wie erwähnt – für den liberalen Geschmack zu pornografisch, zu plump oder zu skizzenhaft war. Um diese Art von Mythos zu verbreiten, war vielmehr ein ordentliches System, eine „Theorie“ nötig, wie Foucault eines angeboten hat. Seine Theorie war das erste System, das dem Pöbel, nicht dem arbeitenden Proletariat, theoretische Würden verlieh. Sie eignete sich daher ideal für die verbale Institutionalisierung von Kämpfen zwischen Gruppen und Clans, die letztlich die Eliten verschonten, indem sie diese als gesichtslos und ohne Zentrum darstellte und keine Lösung für die Dynamik der Opposition (zwischen der Gosse und dem Staat) in Erwägung zog. Bataille und Jünger haben es nicht zur akademischen Anerkennung unter den Anglo-Amerikanern gebracht, weil ihre Religiosität die Natur des Spiels bloßgestellt hätte. Sie hätte aufgedeckt, was auf dem Spiel steht, nämlich eine Art Glaube, der dem Ganzen zugrunde liegt – die Verehrung der Leere ergänzt durch ein krypto-matriarchalisches Zelebrieren der Zeugung und Zerstörung (mit besonderer Vorliebe für letzteres). Hinzu kommt noch eine offensichtliche Verachtung für Mitgefühl, das die wohlwollende Fassade unserer liberalen Demokratien noch zulässt, aber sicherlich nicht der Diskurs. Als Ergebnis dessen hat sich das System zu Manipulationen grundlegender Texte entschieden. Solche Manipulationen wurden an den Texten Batailles von Foucault und Baudrillard, an den Texten Foucaults von Baudrillard, Hardt und Negri, oder an Texten der Gnosis und Jüngers von Heidegger und zu einem sehr begrenzten Maße an den Texten Heideggers und Kojèves von Leo Strauss vorgenommen. Insgesamt sind Foucault, Heidegger, Strauss und ihre Nachahmer eigentlich Betrüger, die an dem einen oder anderen Original herumgepfuscht und daraus akademische Vorlagen für den ideologischen Gebrauch geschaffen haben, wie etwa jene Geschichten über die „Macht der Minderheiten“, die wie ein Geysir hervorbricht, Erzählungen über das „Dasein“ am Abgrund des Nichts, oder jene Scheinphilologie, die Plato zu einem Machiavellisten ummünzt. Diese Vorgaben sind im Wesentlichen Machtinstrumente aber auch Trojanische Pferde, die antitraditionelle gnostische Mythen in ein festumgrenztes Gebiet geschmuggelt haben, das bis dahin von der monotheistischen Orthodoxie zunehmend fragwürdig für sich beansprucht worden war. Die gegenwärtige Situation ist nicht gerade ermutigend. Während der Prozess der „Homogenisierung“ (d. h. Globalisierung) voranschreitet und somit auch der

Zusammenfassung und Folgerungen

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Prozess der Zentralisierung der Politik, haben die Kirchen den Weg für diesen gnostischen Ansturm frei gegeben, und ist der Dissens verschwunden. Der Kriegszustand ist permanent. Die Wissenschaft ist im Westen zum größten Teil dem Big Business verpflichtet. Als einziger Ausweg scheint sich nur der Appell an das bürgerschaftliche Engagement an der Basis – in den Städten und Dörfern unserer Nationen – anzubieten. Wie zuvor schon erwähnt, sind bereits eine Reihe wichtiger regionaler Initiativen in mehreren Teilen der Welt aktiv geworden. Durch Rechtsvorschriften zum Schutz lokaler Betriebe und eines heimischen Unternehmertums könnten wir vielleicht der Schaffung einer sozialen Basis entgegensehen, auf deren Grundlage sich ein wirklich universeller Austausch der Ideen, freundschaftlicher Beziehungen und Güter einrichten ließe. Wir teilen so dann die Hoffnung, dass sich auf Grund unseres angeborenen Wunsches, anderen und „der Welt zu helfen“, erfolgreich eine vernünftige Bewegung des Dissens’ über alle Grenzen hinweg herstellen ließe. Sie könnte es ermöglichen, sich noch entschiedener Kriegen zu widersetzen, der nivellierenden Kraft der Globalisierung im Interesse großer Unternehmen entgegenzutreten und die Ideologie der Tyrannei in unserer Gesellschaft zu überwinden.

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Personen- und Sachwortverzeichnis Al-Jazeera 288 Al-Qaida  18, 290, 292 Amnesty International  269 Aquin, Thomas von  52 Aristophanes  228, 291 Ayers, Bill  264 Aziz, Tareq  279–81 Bach, Johann Sebastian  168–69 Baker, James  280–81 Basilides  50, 127 Bataille, George  14–16, 25, 28–29, 30, 31, 33, 39, 40–44, 48, 52, 54, 57, 59–60, 61–118, 119, 120, 122–31, 136, 137, 141–44, 147, 149, 151, 152, 155, 158–61, 167, 172, 174–75, 178–79, 191–193, 196, 200, 204, 210, 215–17, 219, 222, 229–36, 240, 246, 266, 272–73, 274, 276, 294, 297–99 Baudrillard, Jean  17, 28, 128, 154, 250, 274–85, 290, 294, 298 BBC (British Broadcasting Corporation)  270 Bernstein, Leonard  261 Bin Laden, Osama  18, 285–92 Black Panthers  261–63 Bloom, Allan  16, 225, 238–40 Borges, Jorge Luis  220, 232 Braudel, Fernand  126 Breton, André  79 Bush, George H. W. (Bush I)  278–82 Bush, George W. (Bush II)  13, 15, 108, 190, 225, 242–43, 250, 289, 291–92 Bush, Laura  12, 291 Cage, John  168–69 Carter, Jimmy  243, 265, 268–70 Castro, Fidel  263, 271 Chapsal, Marguerite  114, 131 Cheysson, Claude  279–80 Chomsky, Noam  136

CIA (Central Intelligence Agency)  237, 262, 265, 266, 268–69, 277, 280, 284, 289–91 Clinton, Bill  190, 237, 243 CNN (Cable News Network)  281, 282, 285 Copeland, Miles  265, 268 Corriere della sera  271, 273 Daily Telegraph 280 Debs, Eugene  252–53 Defert, Daniel  134 Defoe, Daniel  54 Diogenes  47, 134 Dohrn, Bernardine  264 Dostojewski, Fjodor  107 Drury, Shadia  192 Dylan, Bob  263 FBI (Federal Bureau of Investigation)  261–36 Fonda, Jane  262 Ford Foundation  260, 262 Foreign Affairs  286, 241 Foucault, Michel  14–18, 22, 25–31, 41, 43, 47, 53, 60, 61, 69, 78, 103, 107, 108, 110, 114, 118, 119–53, 154–59, 162, 167, 168, 174, 175, 178, 183, 186, 191, 192–93, 198, 201, 207, 210, 214, 217, 236, 240, 246, 250, 254, 257, 259, 264, 265–74, 276, 285, 289, 291, 294, 295–99 Frankfurter Schule  28, 215 Frazer, Sir James  37–42, 69 Freud, Sigmund  276 Fukuyama, Francis  16, 24, 225, 237, 240, 241–42, 276 Glaspie, April  278–79 Goethe, Johann Wolfgang von  194 Gorbatschow, Michail  280 Graves, Robert  37 Guénon, René  106 Guevara, Ernesto „Che“  263, 285

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Personen- und Sachwortverzeichnis

Hardt, Michael siehe Hardt und Negri Hardt und Negri  16–18, 46, 158, 175–87, 208, 250, 290, 293, 298 Hayden, Tom  262 Hegel, Georg W. F.  97, 119, 152, 220, 222–23 Heidegger, Martin  16, 106, 119, 189, 192–93, 204–05, 214, 215–19, 220, 223, 226, 227, 30, 236, 238, 275, 296–97 Heraklit 217–18 Hitler, Adolf  109, 149, 173, 195, 201–02, 204, 218–19 Hobbes, Thomas  97, 238 Ho Chi Minh  263, 265 Huntington, Samuel  192, 240–42, 260, 289, 291, 293 Hussein, Saddam  267, 277, 278, 280, 281 Huxley, Aldous  207–08 Huyser, Robert E. „Dutch“  272 Hyginus 215 IPC (Iraqi Petroleum Company)  279–80 Jackson, Michael  181 Johannes Paul II  277 Johnson, Lyndon B.  108 Jünger, Ernst  16, 39, 90, 104, 106, 110, 144, 193, 194–215, 218–19, 223–24, 226, 230–34, 240, 242, 246, 254, 257, 261, 266, 297–98 Kandinsky, Wassily  220 Kant, Immanuel  152 Kaplan, Robert D.  244–45 Kashani, Ayatollah  266 Kassem, Abdelkarim  279–80 Kennedy, John F.  259 Kennedy, Robert  262 KGB  119, 259, 263 Khomeini, Ruhollah  17, 250, 266–67, 269, 270, 272, 273, 276, 285, 287 King, Martin Luther  259, 262 Kissinger, Henry  262, 283 Klossowski, Pierre  127 Kojève, Alexandre  16, 97, 192, 211, 217, 219–24, 226–28, 231, 234–36, 237–40, 246, 297 Koyré, Alexandre  220 Kristol, Irving  16, 24, 237

Le Monde 270 L’Express  114, 131 Locke, John  238, 296 Luther, Martin  242, 259 Lyotard, Jean-François  16, 28, 154, 158–66, 219, 295 Machiavelli, Niccolò  231–32 Macmillan, Harold  279 Madonna  181, 238 Malcolm X  259, 261 Malthus, Thomas  131, 208, 245 Mao Zedong  262 Marshall, Alfred  296 Marx, Karl  106, 254, 271 Masson, André  76 Mauss, Marcel  92, 94, 95, 98 Moro, Aldo  176 Mossad (Israelischer Geheimdienst)  269 Mossadegh, Mohammed  266, 270, 289 Muslimbruderschaft 288 Mussolini, Benito  108 Nahavandi, Houchang  268–70 Negri, Antonio siehe Hardt und Negri New York Times  186, 225, 238 Nietzsche, Friedrich  14, 35, 77, 119, 120, 125, 127, 152, 297 Nixon, Richard  261 Ohlendorf, Otto  111 Platon  37, 169, 239, 240, 256 Polanyi, Karl  92, 97, 106 Powell, Colin  243, 277 Primakow, Evgheni  280 Rais, Gilles de  88–90, 95, 105, 107, 108, 137, 297 Reagan, Ronald  161, 237 Rice, Condoleeza  243 Rivière, Paul  137 Roosevelt, Kermit „Kim“  266 Rosenberg, Alfred  109–10, 202 Rousseau, Jean-Jacques  97, 238 Rudd, Mark  264 Rumsfeld, Donald  237

Personen- und Sachwortverzeichnis Sade 16, 54–60, 64, 68, 77, 80, 83, 85, 87, 94, 97, 99, 103, 124, 127, 129, 137, 149, 234, 296 Samraoui, Mohamed  293 Sartre, Jean-Paul  79, 133 SAVAK (Iranischer Geheimdienst)  269, 272 Schwarzenegger, Arnold  181 SDS (Students for a Democratic Society)  262–65 Schah von Persien (Mohammed Reza Pahlavi)  17, 251, 265–73, 289 Shakespeare, William  169, 238 Smith, Adam  97 Sombart, Werner  106 Stalin 203 Steiner, Rudolf  92, 106 Stockhausen, Karlheinz  294

311

Strauss, Leo  16, 24, 97, 189–94, 201, 209, 217, 219, 220, 224–36, 239, 242, 244, 246, 291, 297, 298 Truman, Henry  100–01 Unamuno, Miguel de  63, 65–66 Van Gogh, Vincent  72 Veblen, Thorstein  17, 92, 96, 97, 98, 105, 165–67, 242, 249, 251, 252–65, 296–97 Weather Underground  261 Weber, Max  105 Williams, Robert Franklin  262 Wolfowitz, Paul  255, 237 Xenophon 234