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German Pages 154 Year 1989
THOMAS DROSDECK
Die herrschende Meinung - Autorität als Rechtsquelle
Schriften zur Rechtstheorie Heft 137
Die herrschende Meinung - Autorität als Rechtsquelle Funktionen einer juristischen Argumentationsfîgur
Von Thomas Drosdeck
Duncker & Humblot - Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Drosdeck, Thomas: Die herrschende Meinung - Autorität als Rechtsquelle: Funktionen einer juristischen Argumentationsfigur / von Thomas Drosdeck. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zur Rechtstheorie; H. 137) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1987/88 ISBN 3-428-06673-1 NE : GT
Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-06673-1
Vorwort „ Auctoritas, non Veritas facit legem" — mit diesem Zitat von Thomas Hobbes überschreibt Uwe Wesel1 einen Aufsatz über die „herrschende Meinung". Juristen verstehen unter „herrschender Meinung" „eine in Literatur und Rechtsprechung überwiegend vertretene Auffassung (zu einem bestimmten Rechtsproblem), die sich verselbständigt hat und die gegenüber anderen Meinungen den Anspruch erhebt, befolgt zu werden." 2 Die „herrschende Meinung" ist mithin das, was man kennen muß, um juristisch erfolgreich zu operieren: sie ist streitentscheidend. Die „herrschende Meinung" ist die Autorität, die festlegt, welcher Gesetzesinterpretation der Vorrang zu geben ist. Die „herrschende Meinung" ist die Institution, an der Dogmatik sich zu orientieren hat. Dieses Phänomen „herrschende Meinung" hat zwar in der kritischen juristischen Literatur vereinzelt zu kurzen sarkastischen Äußerungen provoziert 3 , gleichwohl aber ist die „herrschende Meinung" von eingehenden Untersuchungen weitgehend verschont geblieben. Man beließ es in der Regel bei dem Wortspiel, die „herrschende Meinung ist die Meinung der Herrschenden". Die Tatsache, daß bis auf wenige Ausnahmen keine Untersuchungen über „herrschende Meinung" existieren, kann mit der Besonderheit zusammenhängen, daß das Kürzel h M als Bestandteil der juristischen Argumentation jedem Juristen bekannt zu sein scheint. Das macht es nicht leicht, über die „herrschende Meinung" nachzudenken. Wahrscheinlich wurde jeder Jurist schon einmal mit einer „herrschenden Meinung" zu einem dogmatischen Thema konfrontiert, die er im Vergleich zu seiner eigenen, viel originelleren Meinung als abwegig bewertet hat, immerhin aber mußte er über die „herrschende Meinung" nachdenken. Deshalb hat wohl jeder Jurist eine Vorstellung von dem, was „herrschende Meinung" ist oder zumindest eine Vermutung, was h M sein könnte. Letzteres macht es besonders schwierig, eine Untersuchung über die „herrschende Meinung" aufzunehmen. 1 Wesel, „ h M " , in: Kursbuch 56 (1979), Unser Rechtsstaat, S. 88 ff. (neu abgedruckt in: Aufklärungen über Recht. Zehn Beiträge zur Entmythologisierung, Frankfurt 1981, S. 14 ff.). 2 Vgl. Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, Berlin 1983, S. 42. 3 Vgl. Wahsner, Das Arbeitsrechtskartell — Die Restauration des kapitalistischen Arbeitsrechts in Westdeutschland nach 1945, in: KritJust 1974, S. 369ff.
6
Vorwort
Wenn nämlich viele Juristen eine ungefähre Vorstellung von dem haben, was „herrschende Meinung" sein könnte, so stellt sich die Frage, mit welcher Hypothese sich eine Untersuchung der „herrschenden Meinung" aufnehmen und rechtfertigen läßt. Daß die „herrschende Meinung" ihrerseits eine nur schwer zu rechtfertigende Verkürzung der Argumentation darstellt, vermuten viele Juristen, vor allem kritische Juristen — ich habe das auch vermutet. Die Bestätigung dieser Unterstellung wäre als einziges Ergebnis einer Arbeit über „herrschende Meinung" jedoch ziemlich unbefriedigend und es kam mir deshalb auf dieses Ergebnis primär auch nicht an. Die Vermutung über die Unzulänglichkeiten der „herrschenden Meinung" gibt aber noch keine Auskunft über Ursachen, Entstehung, Bestandteile, Wirkungsweise, Reichweite und Funktionen dieses Phänomens. Zur Beantwortung dieser Fragen reicht es auch nicht aus, über Ursachen, Struktur und Reichweite der jeweils debattierten dogmatischen Probleme nachzudenken4. Diese Überlegungen verdeutlichen zwar Motive und Folgen einer konkreten dogmatischen Diskussion, sie erklären aber nicht, warum die „herrschende Meinung" unabhängig vom konkreten dogmatischen Thema regelmäßig zum eigenständigen Entscheidungsgrund wird. Für diese relative Autonomie der hM, die gekennzeichnet ist durch eine immerwährende Produktion und Reproduktion scheinbar konsentierter dogmatischer Sätze, fehlen bislang Erklärungsversuche 5. Man unternahm es allein, verfassungsrechtliche Legitimationsdefizite der h M herauszuarbeiten, verkennend, daß die dogmatische Produktion — und damit eng verbunden die Produktion von „herrschenden Meinungen" seit der Positivierung des Rechts zirkulär verläuft. Diese zirkuläre Dogmatik- und hM-Produktion ist Ausdruck der in der Soziologie mit dem Begriff der Selbstreferentialität gekennzeichneten Funktionsweise ausdifferenzierter sozialer Systeme, wie dem Rechtssystem6. Recht legitimiert sich in diesem Sinne aus der Tatsache, daß es gilt. Das Rechtssystem bildet sodann unter Anwendung selbstgesetzter (Verfahrens-)Regeln neues Recht aus. Vor diesem Hintergrund erscheint die alte Legitimationsfrage obsolet und auch die Frage nach der Legitimation interner Phänomene des Rechtssystems, 4 Zur Verbindung der hM-Problematik mit konkreten dogmatischen Fragen vgl. Gerhard Müller, Die „ganz herrschende" Meinung als Entscheidungsgrund, in: NJW 1984, S. 1798 ff. 5 Die große Ausnahme stellt die grundlegende Dogmatikanalyse von Maximilian Herberger dar; vgl. Herberger, Dogmatik, Frankfurt 1981. 6 Vgl. zu diesem Themenkreis und den Implikationen der Übertragung der Modellvorstellung selbstreferentieller biologischer Systeme auf soziale Systeme, insbesondere das Rechtssystem Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, in: Rechtstheorie Band 17 (1986), S. 171 ff. sowie Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt 1986.
Vorwort
nach der Legitimation von „herrschender Meinung". Die herrschende Meinung dokumentiert den Vorgang der internen Kommunikation über die das Rechtssystem konstituierende Kommunikation, nämlich die Verteilung von Recht und Unrecht. Es geht bei juristischer Argumentation und der aus ihr resultierenden h M also darum, Entscheidungen über schon erörterte Entscheidungen, nämlich Dogmatik, zu treffen oder anders: die Auslegung der gesetzgeberischen Entscheidung über Recht und Unrecht zu entscheiden. Es scheint mir deshalb wenig sinnvoll, eine Analyse der Argumentationsfigur h M mit der Frage nach ihrer verfassungsrechtlichen Haltbarkeit zu verknüpfen. Vielmehr halte ich es für interessant, welche historischen Entwicklungen die Ausbildung der autonomen Autorität h M ermöglicht haben und auf welche Weise die h M im Rechtssystem ihre Autorität und ihre Autonomie erhält. Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt in drei Schritten, beginnend mit einer empirischen Untersuchung der Verwendung von h M in Rechtsprechung und Literatur, daran anschließend einer argumentationstheoretischen Standortbestimmung und letztlich einer systemtheoretischen Analyse der Funktionen und Strukturen von „herrschender Meinung". Die Frage nach Alternativen zur h M soll abschließend dazu anregen, die Argumentationsfigur h M kritisch zu reflektieren. Die Arbeit hat im Wintersemester 1987/88 der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertation vorgelegen. Die publizierte Fassung wurde — abgesehen von einzelnen Formulierungen — im Kapitel D. überarbeitet. Als Stipendiat des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt — dessen Verwaltung mich in jeder Hinsicht mit großem Einsatz unterstützte — hatte ich die Möglichkeit, die großzügigen wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen dieses Institutes in Anspruch zu nehmen. Hierfür und für die Betreuung der Arbeit bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Simon zu Dank verpflichtet. Nicht als Verpflichtung, sondern als Bedürfnis empfinde ich es jedoch, ihm in erster Linie für die eindrucksvollen und zum „Querdenken" provozierenden Vorlesungen, Kolloquien und Seminare zu danken. Diese fortwährenden Herausforderungen haben meinen juristischen Werdegang entscheidend geprägt. Für seine kritischen Anmerkungen sei an dieser Stelle Prof. Dr. Spiros Simitis Dank gesagt, der als Zweitgutachter durch seine Hinweise die Vielschichtigkeit des Phänomens h M verdeutlichte und zu Präzisierungen wichtiger Problembereiche der Arbeit den Anstoß gab. Bedanken möchte ich mich ferner bei Frau Prof. Dr. Regina Ogorek, die durch die mir ermöglichte enge Zusammenarbeit viel zum Entstehen der Arbeit beigetragen hat. Vor allem für das Verständnis der historischen Zusammenhänge bei der Entstehung der modernen h M hat sie und Prof. Dr. Maximilian Herberger, dem an dieser Stelle ebenfalls für seine Diskussionsbereitschaft
Vorwort
8
Dank gesagt sei, Entscheidendes beigetragen. Die Motivation zur Überarbeitung von Teilen der Dissertation und viele wertvolle Anregungen während der Arbeit sind auf Gerd Bender zurückzuführen. Die nicht selten erst am späten Abend endenden Gespräche mit ihm haben mich einige Zusammenhänge klarer erkennen lassen. Ich hoffe, daß auch der geneigte Leser nach der Lektüre der Arbeit die Strukturen juristischer Argumentation deutlicher erkennt. Frankfurt, im August 1988 Thomas Drosdeck
Inhaltsverzeichnis A. Die Argumentatìonsfigiir hM
15
I. Die hM als Thema juristischer Untersuchungen
15
II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung
19
1. Argumentative Funktionalisierung von hM
21
2. Versuch einer Abgrenzung der Komponenten von hM
26
B. Die hM in der Diskussion zur Anscheinsvollmacht
31
I. Die Anscheinsvollmacht in der modernen Dogmatik
31
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
32
1. Die Anfänge der Diskussion zur Scheinvollmacht
33
2. Die Scheinvollmacht als Gewohnheitsrecht
41
3. Die Gegenmeinung und die anschließende Diskussion
47
4. Die Anscheinsvollmacht in Dissertationen
52
5. Weiterentwicklung der Anscheinsvollmacht nach dem 2. Weltkrieg
..
56
6. Extensive Interpretation der Anscheinsvollmacht
60
7. Der aktuelle Streitstand
61
III. Resümee der Diskussion zur Anscheinsvollmacht C. Die hM in der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein I. Der moderne Diskussionsstand II. Die ältere Lehre III. Die Rechtsprechung und das Erklärungsbewußtsein
64 67 67 67 68
1. Die Behauptung einer hM
68
2. Der BGH als „Metadogmatiker"
70
IV. Resümee der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein
72
10
Inhaltsverzeichnis
D. Herrschende Meinung — Argument und Rechtsquelle I. Die Notwendigkeit und Zulässigkeit autoritativer Argumente im allgemeinen Diskurs
74 74
1. Kommunikation und Diskurs
74
2. Diskursrationalität durch Begründung
77
3. Begründungsabbruch durch Kompetenzbezugnahmen
78
II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs
81
1. Der Entscheidungszwang
81
2. Rationalitätsdefinitionen
83
3. Autoritative juristische Argumentformen
90
III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen
99
1. Der Entstehungsanlaß
100
2. Ausbildung von Meinungsklassen
100
3. Die Feststellung einer herrschenden Meinung
107
IV. Autoritätsfunktion von hM
111
1. Autoritätsbedarf im juristischen Diskurs
111
2. Autoritätsansprüche von hM
118
3. hM-Autorität gegen Dissens und Innovation
124
V. Legitimation durch hM 1. Die Konsenstheorie als analytisches Modell 2. Die Institution hM — systemfiinktionale Konsensunterstellung 3. Alternativen zu hM Schrifttum
131 132 134 137 141
Abkürzungen Abt. AcP AFG AG ALR aM ARSP Art. AT Aufl. BAG BauR BayOblG BayVBl BB Bd. Bearb. BGB BGH BPatG BSG BVerfG BVerwG DGVZ Diss. DNotZ Dogm. Jahrb DR DVB1 Einf Einl. ESVGH EWiR f. FamRZ ff. Fn. FS GRUR Hans OLG hL
Abteilung Archiv für die civilistische Praxis Arbeitsförderungsgesetz Amtsgericht Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten andere Meinung Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Allgemeiner Teil Auflage Bundesarbeitsgericht Baurecht Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Der Betriebs-Berater Band Bearbeiter Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Bundespatentgericht Bundessozialgericht Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Deutsche Gerichtsvollzieher-Zeitung Dissertation Deutsche Notar-Zeitschrift Iherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts Deutsches Recht Deutsches Verwaltungsblatt Einführung Einleitung Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht folgende Zeitschrift für das gesamte Familienrecht fortfolgende Fußnote Festschrift Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg herrschende Lehre
12 hM Hrsg. hrsgg. InfAuslR IuR JR JuS Justiz JW JZ KG Krit Just KrVjschr. LAG LG m.w.N. MDR N.F. NJW OLG OLGZ OVG Rechtspfleger RG RG Seuff Arch RG Recht Rn. ROHG Rspr. Rz. S. SozR StAZ StGH VerfGH VersR VG VGH vgl. VwRspr Warneyer Rspr. WM WRP WuM
Abkürzungen herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben Informationsbrief Ausländerrecht Informatik und Recht Juristische Rundschau Juristische Schulung Die Justiz. Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht (Berlin) Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Landesarbeitsgericht Landgericht mit weiteren Nachweisen Monatsschrift für deutsches Recht Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Oberverwaltungsgericht Der Deutsche Rechtspfleger Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichtes in SeufTerts Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten Entscheidungen des Reichsgerichtes in der Zeitschrift „Das Recht", begründet von Soergel Randnummer Reichsoberhandelsgericht Rechtsprechung RandzifTer Seite Sozialrecht. Rechtsprechung und Schrifttum bearbeitet von den Richtern des Bundessozialgerichts Zeitschrift für Standesamtwesen Staatsgerichtshof Verfassungsgerichtshof Versicherungsrecht Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verwaltungsrechtsprechung Rechtsprechung des Reichsgerichts, hrsgg. von Otto Warneyer Wertpapier-Mitteilungen Wettbewerb in Recht und Praxis Wohnungswirtschaft und Mietrecht
Abkürzungen
Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht (von 1907-1951 — und Konkursrecht) Zeitschrift für Zivilprozeß (bis 1942 für deutschen Zivilprozeß)
Α. Die Argumentationsfigur hM I. Die hM als Thema juristischer Untersuchungen Die Argumentationsfigur „herrschende Meinung" (hM) ist in juristischen Erörterungen als dezisionistisches Element, als Ansatzpunkt für abweichende Auffassungen oder als affirmatives Argument von großer Bedeutung. Ein kurzer Blick in die juristische Literatur 1 bestätigt die Relevanz von h M innerhalb der juristischen Rhetorik und des juristischen dogmatischen Systems: die Entwicklung der Produzentenhaftung, die Anerkennung des Schmerzensgeldanspruches bei Verletzung des Persönlichkeitsrechtes, die culpa in contrahendo beim Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, die Ausdehnung des Schadensbegriffes in Hinblick auf den Nutzungsausfall, die Anscheins vollmacht — all dies sind dogmatische und richterrechtliche Errungenschaften, die als herrschende Meinungen gekennzeichnet werden können, nach denen heute Recht gesprochen und mit denen dogmatisch diskutiert wird. Aber auch in rhetorischer Hinsicht kann die Bedeutung von h M unschwer verdeutlicht werden: Der BGH entschied 1972 einen Fall, in dem über den Verzug eines nachrangigen Pfandungsgläubigers bei der Erfüllung seiner Freigabepflicht zu befinden war 2 ; das Gericht beschäftigte sich insbesondere mit dem Problem, ob ein unverschuldeter Rechtsirrtum als Verzugshindernis anzuerkennen sei und formulierte dazu im Leitsatz: „Er (der Pfändungsgläubiger, T.D.) kam vor Veröffentlichung des Urteils BGHZ 52, 99 = NJW 69, 1347 mit dieser Verpflichtung (der Freigabepflicht, T.D.) nicht in Verzug, wenn er mit der damals herrschenden Meinung darauf vertraute, daß sich das Pfandrecht nicht unmittelbar auf den Erlös erstreckte." Dieses Beispiel demonstriert den Zusammenhang zwischen rhetorischer Funktion und dogmatischer Wirkung von h M und fordert geradezu eine kritische Reflexion von h M in argumentationstheoretischer Hinsicht. Diese Relevanz der h M findet aber keinen entsprechenden Ausdruck im Ausmaß der literarischen Beschäftigung mit dem Phänomen hM: abgesehen von einer Monographie beschränkt sich die Literatur auf vereinzelte Aufsätze und beiläufige kurze Bemerkungen zu hM, obwohl schon häufig die Frage gestellt 1
Vgl. beispielsweise Münchener Kommentar-Reuter, §§21, 22 Rn. 5-8 und Vor § 21 Rn. 1 ; es findet sich hier ein ganzer Abschnitt, der nur der Auseinandersetzung mit der h M gewidmet ist. 2 Vgl. BGH NJW 1972, 1045f.; die Entscheidung enthält mehrere interessante argumentative Aspekte, so beispielsweise die Dokumentation eines Meinungswechsels zwischen RG und BGH.
16
Α. Die Argumentationsfigur hM
wurde 3 , warum diese zum gängigen Argumentationsarsenal gehörende Begründungsformel weitgehend ununtersucht geblieben ist. Dennoch erfolgten bislang in der Literatur vorwiegend essayistische Überlegungen zu hM, die neben den vielschichtigen Bildungsmechanismen4 zwar auch rechtspolitische Implikationen von h M untersuchten 5, den methodisch-rechtstheoretischen, den argumentationstheoretischen und den dogmatischen Konsequenzen der Verwendung von h M in juristischen Beiträgen jedoch weniger Beachtung schenkten. Die ersten Hinweise auf die Problematik von h M gab Schnur, der h M als Argument einordnet 6 und sich Gedanken über die Frage macht, ob h M als qualitative oder quantitative Größe angesehen werden könne. Er problematisiert, daß h M in seltenen Fällen „absichtslos" entstehe und deshalb die diversen, von ihm untersuchten Entstehungsfaktoren, die eine objektive h M ausschließen würden, vom Argumentierenden zu berücksichtigen seien7. Den umfassendsten, perspektivenreichsten Beitrag zu h M stellt ein Aufsatz von Wesel dar, der h M unter Heranziehung der arbeitsrechtlichen Entwicklung des „politischen Streiks", der „Berufsverbote" und des „Weiterbeschäftigungsanspruches" als eine anonyme, amorphe, glatte Meinung beschreibt 8, die praktisch mit Rechtssetzungsbefugnissen ausgestattet sei 9 , sich allerdings mehr auf auctoritas, denn auf Veritas gründe 10 . Diskussionen sei sie wegen ihrer autoritären Struktur kaum zugänglich 11 . Wesels ironisch-polemische Untersuchung beleuchtet in interessanter Weise die Bedeutung personaler und institutioneller Autorität für die h M in den genannten Fragen des Arbeitsrechtes. Ähnlich geht Wahsner vor, der das „ Arbeitsrechtskartell" auf seine personale Struktur untersucht und zu dem Ergebnis gelangt, daß die „Produktion und Reproduktion der herrschenden arbeitsrechtlichen Lehre" 1 2 mit dem geltenden Arbeitsrecht identifiziert werden kann. Rechtstheoretische Fragen interessieren 3
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 289, Fn. 162, derselbe, Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet, Berlin 1965, S. 195 f.; Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, JZ 1980, 344; Meyer-Hesemann, ARSP 1984, 148 f. 4 Vgl. Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, München 1967, S. 43 ff., 47. 5 Vgl. Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 88 ff. 6 Vgl. Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 46 f. 7 Vgl. Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 54. 8 Vgl. Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 92f. 9 Vgl. Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 91. 10 Vgl. Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 103 f. unter Hinweis darauf, daß h M die klassische Rechtsquellenlehre als fragwürdig erscheinen lasse. 11 Vgl. Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 103. 12 Vgl. Wahsner, Das Arbeitsrechtskartell, in: Krit Just 1974, 382.
I. Die hM als Thema juristischer Untersuchungen
17
den Verfasser jedoch ersichtlich weniger als die rechtspolitischen Implikationen 13 . Gärtner analysiert in seinem Lehrbuch zum Versicherungsrecht ebenfalls personale und institutionelle Verflechtungen und spricht von der Illusion einer Wissenschaft, die sich in einem „Bereich von parteiloser Unabhängigkeit" wähne 14 . Er schildert die geschlossene Gesellschaft der versicherungsrechtlichen hM, die Alternativen mit massivem h M Aufgebot von Publikationen keine Chance lasse, sich zu etablieren 15 . Auch in einer neueren Arbeit von Rita Zimmermann 16 wurde wie in den vorangegangenen Beiträgen nicht die Vielschichtigkeit der Funktionen von h M in argumentationstheoretischer Hinsicht untersucht, sondern in der Hauptsache verfassungsrechtliche Fragestellungen berücksichtigt 17 . Dies muß angesichts der lebhaften Diskussion über die juristische Dogmatik 1 8 und das Richterrecht 19 bzw. die richterliche Rechtsfortbildung verwundern, insbesondere deshalb, weil h M als Mittel der Argumentation in der Rechtsprechung häufig anzutreffen ist und gerade hier besondere Bedeutung erlangt. Dennoch interessiert die meisten Autoren allein die Funktion der Präjudizien, die Frage nach der rechtstheoretischen Einordnung von h M indes wird konkret nicht gestellt 20 . Einzig der Bereich des Arbeitsrechtes hat — wie ausgeführt — in diesem Zusammenhang Beachtung gefunden, aber die Untersuchungen beschränkten sich abgesehen von rechtstheoretischen Notizen darauf, arbeitsrechtliche Meinungs- und Meinungsbildungskartelle darzustellen 21 . 13
Ähnlich Däubler, Gesellschaftliche Interessen und Arbeitsrecht, S. 50ff., der angesichts der dominierenden arbeitsrechtlichen h M eine alternative Rechtsdogmatik fordert. 14
Vgl. Gärtner, Privatversicherungsrecht, S. 127 ff. Vgl. Gärtner, Privatversicherungsrecht, S. 138 f.; er ist der Meinung, daß das von ihm angeführte Beispiel kein Einzelfall sei. 16 Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, Berlin 1983; diese erste Monographie zu h M wird in dieser Arbeit im Zusammenhang mit den verschiedenen Problemkreisen herangezogen; eine Würdigung allein im Rahmen dieser kurzen Einführung würde der Dissertation von Zimmermann nicht gerecht werden. 17 Zur Kritik an Zimmermann vgl. Meyer-Hesemann, ARSP 1984, 148 f. 18 Vgl. als ersten Überblick für die Diskussion zur Dogmatik Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), S. 97ff.; de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromißformular, in: FS Esser, S. 85 ff.; Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik — dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problemen des Massenverkehrs, AcP 172 (1972), S. 131 ff. 19 Siehe zum Richterrecht vor allem Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 259 ff.; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 298 ff.; Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, S. 190 ff.; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 40ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 413 ff.; derselbe, über die Bindungswirkung von Präjudizien, in: Festschrift Schima, S. 247 ff. 20 Vgl. als Ausnahme Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 1, 218 f., 242. 15
2 Drosdeck
18
Α. Die Argumentationsfigur hM
Die offene Frage nach der rechtstheoretischen Einordnung von h M soll in der vorliegenden Untersuchung beantwortet werden, indem nach einer Analyse der Verwendung von h M in der Rechtsprechung der Meinungsbildungs- und Argumentationsprozeß zum zivilrechtlichen Institut der Anscheinsvollmacht sowie die Diskussion zum sog. Erklärungsbewußtsein rechtshistorisch betrachtet wird. Dies soll einen Überblick hinsichtlich der wechselnden Adaptationen, Rezensionen, Rezeptionen und Innovationen, die ein juristischer Diskurs mit sich bringt, ermöglichen. Dieser rechtshistorische Ansatz erscheint notwendig, da die Ausbildung einer konkreten „herrschenden Meinung" nur historisch in ihrem spezifischen Verlauf zu erfassen ist. Ohne eine empirische Analyse der Meinungsbildung zu einer bestimmten Rechtsfrage ist es nicht möglich, Eigenheiten und Zufälligkeiten des juristischen Argumentationsprozesses zu berücksichtigen. Insofern ist es erforderlich, die rechtstheoretisch-argumentationstheoretische Fragestellung mit einer rechtshistorisch-empirischen Analyse zu verbinden 22 . Dabei wird das Verständnis vorausgesetzt, daß ein juristischer Diskurs notwendig Meinungen hervorbringt und — resultierend aus dem Erfordernis zu Entscheiden — Meinungen favorisiert. Insofern kann die grundsätzliche Bedeutung von h M nicht in Frage stehen. Fraglich ist vielmehr, ob die argumentative Verkürzung durch Verwendung Autorität beanspruchender Meinungsstrukturen wie h M im juristischen Diskurs nicht Ergebnisse ermöglicht, die sich weniger durch sachliche Überzeugungskraft im Sinne einer rationalen Reflexion der zu dem durch h M unterstellten Konsens führenden Argumente auszeichnen, als durch die Übernahme einer autoritär tradierten dogmatisch-präjudiziellen Entscheidungsmöglichkeit, die kreative, innovative „Mindermeinungen" ausblendet 23 . Für diese Frage soll die empirische Untersuchung der Rechtsprechung und die rechtshistorische Analyse Tendenzen, Indizien und erste Antworten bereitstellen. Das rechtstheoretische Bild von h M wird „methodenpluralistisch" entworfen, so daß systemfunktionale Analyse der Institution hM, dogmatisch-institutionelle Einschätzung und argumentationstheoretisch-diskursrationale Bewertung von h M nebeneinander zu finden sind. Dies ermöglicht eine argumentativ21 Vgl. Wahsner, Das Arbeitsrechtskartell, in: Krit Just 1974, 369 ff.; dies gilt auch für die ansonsten sehr facettenreiche Darstellung von Wesel, vgl. Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 97f., 103 f.; siehe zur Darstellung der polemischen arbeitsrechtlichen Diskussion Däubler, Gesellschaftliche Interessen und Arbeitsrecht, Köln 1974. 22 Vgl. zur Notwendigkeit einer rechtshistorischen Analyse Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 44; ähnlich wohl auch Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 29-36, die ihre Untersuchung jedoch auf mögliche Vorläufer von h M beschränkt. 23 Vgl. zu dieser möglichen Gefahr vorab die empirische Untersuchung von Harenburg/Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis. Eine Untersuchung von Rechtsanwalt/Klientengesprächen, in: Entfremdete Wissenschaft, S. 79 ff.
II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung
19
funktionale Einordnung autoritativer Argumente und unterstreicht Relevanz wie Problematik des hM-Argumentes. II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung Die Bedeutung von h M für juristische dogmatische und richterliche Entscheidungen wurde in der bisher erschienenen Literatur zu h M nicht durch eine quantitative empirische Analyse belegt, sondern regelmäßig als evident unterstellt, indem man die allseitige juristische Leseerfahrung und das gemeinsame Alltagsverständnis der Juristen zugrunde legte. Dieses Defizit an empirischer Betrachtung von h M kann auf die für eine empirische Untersuchung notwendige und abschreckende Lektüre unzähliger Urteile zurückgeführt werden, da ein Zugriff auf spezielle Urteile mangels einer — für herkömmliche Zwecke natürlich nicht sinnvollen — Klassifizierung oder Registrierung nach hM-Verwendung bisher nicht möglich war. M i t der Einführung von JURIS (Juristisches Informationssystem für die Bundesrepublik Deutschland) ist die Möglichkeit des Zugriffs gegeben: mehr als 250.000 Rechtsprechungsdokumente sind in dieser Datenbank gespeichert und können selbst nach Einzelbegriffen abgefragt werden. Von dieser enormen Anzahl von Dokumenten sind rund 33.000 im Volltext gespeichert, die restlichen mit Leitsätzen oder leitsatzähnlichen Kurztexten. Die Rechtsprechungsdatenbank enthält die veröffentlichten oder von den Gerichten unmittelbar zur Verfügung gestellten Entscheidungen der höchsten bundesdeutschen Gerichte sowie ab 1976 die veröffentlichte Rechtsprechung aller Instanzgerichte zu allen Rechtsgebieten 24 , vereinzelt auch schon OLG-Entscheidungen vor 1976. Eine Abfrage der JURIS Rechtsprechungsdatenbank ergab, daß in rund 920 Urteilen im Zeitraum von 1951 bis Ende 1986 explizit der Begriff „herrschende Meinung" oder das Kürzel „ h M " enthalten ist. Diese — gemessen an der Gesamtzahl von 250.000 Dokumenten — geringe Anzahl sollte vor dem Hintergrund einer ganzen Reihe von Prämissen gesehen werden. Zunächst kann nicht der Gesamtdatenbankbestand als Gesamtwert herangezogen werden, da JURIS bei Suchwortabfragen nicht die gesamten gespeichterten Texte durchliest, sondern die Abfrage nach den für den jeweiligen Urteilstext angelegten Schlagworten verläuft. Dies bedeutet, daß die h M nur in den Urteilen aufgefunden werden konnte, in denen sich der JURIS-Bearbeiter zu der Vergabe des Stichwortes „ h M " entschlossen hat. Ferner konnte bei der Durchsicht von ca. 500 Urteilen festgestellt werden, daß die h M argumentativ durch eine Vielzahl von Synonymen ersetzt wird: neben 24
Quelle für diese Informationen bezüglich JURIS ist das von der JURIS GmbH für jedermann beziehbare Informationsheft; nach den dortigen Angaben werden für JURIS seit 1976 170 Periodika vollständig und weitere 380 Periodika schwerpunktmäßig ausgewertet, wobei die Rechtsprechungssammlungen noch hinzugefügt werden müssen. 2*
20
Α. Die Argumentationsfigur hM
„herrschender Ansicht (Auffassung)" findet sich in rund 285 Urteilen die „allgemeine Meinung (Auffassung)", die „überwiegende Meinung", Formulierungen wie: „es ist überwiegend anerkannt" sowie „es wird ganz überwiegend vertreten", funktional ähnliche Argumentformen wie „herrschende Lehre", bzw. die „einheitliche Rechtsprechung" in 14 Urteilen, „ständige Rechtsprechung" — dieses „Argument" wird laut JURIS in 81 Urteilen verwendet —, die „gefestigte Rechtsprechung" in 357 Urteilen oder die „in der Rechtsprechung herrschende Ansicht". Hinzu kommt die sehr häufig anzutreffende Praxis, einzelne Auffassungen mit einer großen Anzahl juristischer Zitate zu belegen, ohne daß explizit von h M gesprochen würde. Durch diese gängige juristische Arbeitsweise wird der autoritative Anspruch des Argumentes zwar nicht explizit durch eine deklarierte „herrschende Meinung" oder das Kürzel „ h M " hervorgehoben, aber die Meinungsherrschaft des Argumentes wird konkludent behauptet. Der ausgebildete Jurist dürfte in der Lage sein, die unetikettiert aufgeführten Zitate aus seiner eigenen juristischen Erfahrung heraus einer „herrschenden" und einer „Mindermeinung" zuzuordnen. Die autoritative argumentative Funktion der synonym zu h M verwendeten Meinungskonstellationen ist aus diesem Grunde auch dann gegeben, wenn sie nicht durch das Kürzel etikettiert werden. Dieses zuletzt beschriebene Verfahren erfreut sich großer Beliebtheit bei den Gerichten; fast jedes analysierte Urteil enthielt eine Vielzahl von Zitatenblöcken, oftmals unter Einbeziehung einer geringen Zahl der Verfasser, die die aM repräsentieren, so daß allein durch die Quanten auch ohne Etikettierung dem juristischen Leser deutlich wird, welches die herrschende Meinung und die Mindermeinung ist. Vor diesem Hintergrund ist die Zahl von ca. 920 Urteilen mit expliziter hMVerwendung zu sehen und unter den genannten Prämissen ist die Bedeutung von h M in der richterlichen Argumentation einzuschätzen. Aufgeschlüsselt nach den einzelnen Gerichtszweigen ergibt sich bezüglich der hM-Verwendung entsprechend der JURIS-Abfrage folgendes Bild: hM-Urteile ordentliche Gerichtsbarkeit Arbeitsgerichtsbarkeit Finanzgerichtsbarkeit Sozialgerichtsbarkeit Verfassungsgerichtsbarkeit Verwaltungsgerichtsbarkeit
474 20 328 17 51 24
Von diesen Urteilen konnten ca. 400 in verbreiteten Zeitschriften zugängliche Dokumente untersucht werden. Etwa 110 der in der Abfrage aufgeführten Urteile sind unveröffentlicht; auf eine Durchsicht dieser Urteile wurde verzichtet. Ferner wurde die Finanzgerichtsbarkeit bei der sprachlichen Einzelanalyse nicht berücksichtigt.
II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung
1. Argumentative Funktionalisierung
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von hM
Die Verwendung von h M wurde in den Urteilen in ihrem sprachlichen Zusammenhang untersucht, wobei sechs Kategorien gebildet wurden: normative, affirmative, diskursive, informative und dissentierende Verwendung sowie eine Sondergruppe, die dadurch charakterisiert ist, daß Formulierungen angetroffen werden wie: „Der erkennende Senat schließt sich der h M an...". Die im folgenden aufgeführten quantitativen Angaben zu den einzelnen Kategorien ergeben addiert nicht die Gesamtzahl der untersuchten Urteile; dies resultiert zum einen daraus, daß manchmal die hM-Verwendung mehr als einer Kategorie zugeordnet werden konnte und zum anderen aus Mehrfachnennungen von h M in einer größeren Anzahl von Urteilen. Bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit konnte zunächst ermittelt werden, daß von 474 Dokumenten 155 hM-Urteile vom BGH veröffentlicht wurden, davon 148 in Zivilsachen, während in Strafsachen nur 7 h M Urteile aufgefunden wurden. Von diesen 155 Urteilen waren 141 Gegenstand der Untersuchung; aus der OLG-Rechtsprechung (inklusive K G Berlin) wurden 110 Urteile analysiert, sowie 38 LG-Urteile, 9 A G Urteile und 32 Urteile des BayObLG. Ferner wurden 4 Entscheidungen des BPatG untersucht. Auch diese Zahlen dürften den Gesamtwert von 920 hM-Urteilen verzerren. Die Anzahl der veröffentlichten oder in JURIS enthaltenen untergerichtlichen Urteile verhält sich — dies ist ein bekanntes Publikationsphänomen — umgekehrt zur Anzahl der tatsächlich ergangenen untergerichtlichen Urteile. Insofern können auch die Ergebnisse der sprachlichen Einordnung der hMVerwendung im Rahmen der L G und AG-Rechtsprechung nur unter dem Vorbehalt interpretiert werden, daß untergerichtliche Urteile vornehmlich dann veröffentlicht werden, wenn ihnen grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird, sei es, daß sie eine neue Rechtsmaterie betreffen, sei es, daß sie eine höchstrichterliche Rechtsprechung oder die h M verlassen. Aussagekräftiger sind die Ergebnisse zur hM-Verwendung des BGH, dessen Rechtsprechung in größerem Umfang Gegenstand der Untersuchung sein konnte. Die Zitierweise des BGH im hM-Kontext ist sehr unterschiedlich; in einigen Fällen wird die h M völlig ohne Hinweise dargestellt 25 , teils beschränkt man sich auf wenige Zitate 2 6 , oftmals nur auf den Palandt oder den R G R K 2 7 , teils wird eine Vielzahl von Zitaten aufgeführt unter denen sich auch ein Hinweis auf die 25 Vgl. beispielsweise BGHZ 2, S. 310-314; BGHZ 11, S. 80-89; BGHZ 23, S. 100-107; BGH M D R 1978, S. 300-301; BGH L M Nr. 13 zu § 6 KO; BGH W M 1984, S. 893-896. 26 Vgl. hierzu BGHZ 39, S. 60-73; BGH NJW 1970, S. 243-245; BGHZ 60, S. 206-212; BGH L M Nr. 2 zu § 8 AVBf. Feuerversicherung; BGH NJW 1977, S. 1152; BGH VersR 1977, S. 959-960; BGH W M 1980, S. 1082-1085; BGH L M Nr. 34 zu § 249 (Bb) BGB; BGH W M 1983, S. 93-95; BGH FamRZ 1983, S. 878-881; BGH W M 1984, S. 178-179. 27
Vgl. BGHZ 13, S. 25-28; BGH NJW 1978, S. 943-945; BGH W M 1980, S. 305-307; BGH M D R 1982, S. 226-227.
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Α. Die Argumentationsfigur hM
„a.A." findet 28 , die häufig mit dem Zusatz „anderer Ansicht nur ..." oder „die vereinzelte Gegenauffassung" versehen wird. Die Anzahl der Zitate ist unabhängig von der argumentativen Funktion, die die h M im konkreten sprachlichen Zusammenhang ausübt und der nun näher analysiert werden soll. Ausgehend von der oben erläuterten Kategorisierung läßt sich die argumentative Verwendung von h M durch den BGH als überwiegend normativ beschreiben: in ca. 65 Urteilen wurde h M als Obersatz oder Grundsatz eingesetzt, dem Geltungsanspruch zugemessen wird. Sprachlich wird dies deutlich in Zusammenhängen wie: „ M i t der h M ist .... (anzuerkennen, zu entscheiden, davon auszugehen, festzuhalten, etc.)" 29 oder: „Nach h M ist ... (berechtigt, nicht erforderlich, auszusprechen usw.)" 3 0 und der schlichten normativen Aussage: „Es ist hM, daß ..." 3 1 . Oftmals findet sich zur Stützung des normativen Anspruchs eine sprachliche Verstärkung, indem auf die „ganz (oder allgemein32) herrschende Meinung" Bezug genommen wird 3 3 . Neben der normativen Funktion wird die h M vom BGH oft — ca. 30 Urteile können hierzu gezählt werden — affirmativ gebraucht, also in Formulierungen wie: „Das Ergebnis entspricht der ganz h M ,.." 3 4 oder: „Der Senat ist in Einklang (in Übereinstimmung) mit der h M der Ansicht, daß ,.." 3 5 . In einigen Fällen wird auch ganz einfach der einer Aussage folgende Zitatenblock mit der Charakterisierung: „ h M : ...." eingeleitet 36 , wodurch klargestellt ist, daß die verwendeten Rechtsprechungs- und /oder Literaturhinweise als herrschende Meinung angesehen werden und diese zur Bekräftigung der eigenen normativen Aussage herangezogen wird.
28 Siehe beispielhaft BGHZ 58, S. 96-103; BGH M D R 1978, S. 398; BGH JZ 1980, S. 61-67; BGH JZ 1986, S. 249-250; BGH FamRZ 1986, S. 254-257. 29 BGH NJW 1954, S. 955; BGHZ 52, S. 93-99; BGH NJW 1978, S. 262 264; BGH NJW 1978, S. 2096-2098; BGH JZ 1980, S. 61-67; BGH JZ 1980, S. 413; BGH W M 1981, S. 232-234; BGH W M 1984, S. 893-896; BGH FamRZ 1986, S. 455-458. 30 BGHZ 8, S. 72-83; BGHZ 14, S. 222-232; BGHZ 52, S. 39-47; NJW 1978, S. 24032405; BGH M D R 1978, S. 398; BGH W M 1980, S. 305-307; BGHZ 78, S. 209-216; BGH M D R 1982, S. 226-227; BGH FamRZ 1982, S. 789-792; BGH FamRZ 1986, S. 254-257. 31 Vgl. BGHZ 13, S. 25-28; BGHZ 39, S. 60-73; BGH NJW 1978, S. 2506-2508; BGH W M 1980, S. 1176-1177. 32 So BGH NJW 1985, S. 2265-2266. 33 BGH NJW 1954, S. 955; BGH NJW 1977, S. 101-103; BGH NJW 1978, S. 262-264; BGH NJW 1978, S. 2403-2405; BGH W M 1980, S. 12441246; BGHZ 78, S. 209-216; BGH W M 1981, S. 165-167; BGH BB 1981, S. 1051-1053: „Die ganz herrschende Meinung ist seit jeher .... ausgegangen. Der Senat sieht keine Veranlassung, davon abzuweichen." 34
Vgl. hierfür BGH NJW 1979, S. 1456-1457; BGH W M 1980, S. 555 558; ähnlich BGH JZ 1986, S. 249-250. 35 Siehe dazu BGH W M 1980, S. 407-409; BGH JZ 1980, S. 413; BGH NJW 1985, S. 806-808; BGH FamRZ 1986, S. 455-458, BGH W M 1986, S. 763-768. 36 z.B. BGH NJW 1970, S. 605-608; BGH NJW 1978, S. 992-994; BGH NJW 1978, S. 1291-1292; BGH W M 1981, S. 165-167; ähnlich BGH W M 1984, S. 1095-1098 .
II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung
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Als Sondergruppe wurden die Formulierungen angesehen, mit denen der BGH einen Anschluß an die h M ausdrückt, weil diese Funktionalisierung von h M zwischen normativer und affirmativer Verwendung 37 einzuordnen ist und jeweils Elemente aus beiden Gruppen enthält. Zumeist wird der Anschluß an die h M explizit ausgeführt, etwa: „Der (erkennende) Senat schließt sich der h M an, daß..." oder: „Der Senat folgt der (teilt die) hM, daß ....". Diese hMVerwendung findet sich häufig bei Rechtsfragen, die vom BGH noch nicht entschieden wurden 38 ; die h M dient dem BGH in diesem Fall als normatives Entscheidungsprogramm und wird gleichzeitig affirmativ zur Absicherung der eigenen Entscheidung herangezogen. Damit sind die Möglichkeiten der Funktionalisierbarkeit der Argumentationsfigur h M in der richterlichen Praxis jedoch noch nicht erschöpft. Neben den bisherigen autoritativen Verwendungen wird h M auch lediglich informativ oder als Strukturelement für dogmatische Diskussionen innerhalb eines Urteils eingesetzt. Diese Verfahrensweise geht in vielen Fällen dem Anschluß an die h M voraus: zunächst wird die h M dargestellt, die a M benannt und anschließend eine Entscheidung zugunsten der h M getroffen 39 . Manchmal dient die h M auch nur der Einführung in den Streitstand, ohne daß sie für die zu treffende Entscheidung unmittelbar verwertet wird; diese überwiegend informative Verwendung findet sich allerdings recht selten 40 . Ebenso selten sind die Fälle, in denen der BGH von der h M abweicht und als vereinzelt kann es bezeichnet werden, wenn der BGH sich explizit gegen die h M wendet. Aus den insgesamt 141 analysierten Urteilen konnten insgesamt nur 9 als von der h M abweichend eingestuft werden. Für die Abweichung wurden verschiedene Begründungsstrategien entwickelt. Die Besonderheit des konkreten Sachverhalts wurde in einigen Fällen als Rechtfertigung für die Abweichung 37
Diese Entscheidungen wurden der „Sondergruppe" zugeordnet: BGHZ 23, S. 100107; BGHZ 26, S. 42-52; BGHZ 32, S. 194-206; BGH NJW 1968, S. 493-495; BGH NJW 1976, S. 1206-1207; BGH L M Nr. 14 zu § 61 VVG; BGH NJW 1977, S. 1637-1639; BGH M D R 1978, S. 832; BGH NJW 1979, S. 813-815; BGH NJW 1979, S. 1203-1205; BGH JZ 1979, S. 724-725; BGH JZ 1980, S. 409-413; BGH W M 1980, S. 1244-1246; BGH W M 1981, S. 123-125; BGH M D R 1981, S. 481; BGH W M 1981, S. 691-692; BGH BB 1981, S. 1545-1546; BGH FamRZ 1982, S. 249-250; BGH W M 1983, S. 23-24; BGH W M 1983, S. 93-95; BGH BB 1983, S. 793-794; BGH NJW 1985, S. 64-66; BGH NJW 1985, S.732735; BGH NJW 1985, S.1773-1774; BGH NJW 1985, S. 2579-2581; BGH NJW 1985, S. 2265-2266; BGH W M 1985, S. 1004-1009; BGH W M 1986, S. 547-548; BGH W M 1986, S. 712-714. 38
Sehr selten sind Urteile, in denen der BGH seine Rechtsprechung zugunsten einer gegen ihn bestehenden h M aufgibt, vgl. hierfür nur BGH M D R 1978, S. 832. 39 Vgl. beispielhaft für diese hM-Verwendung BGHZ 26, S. 148 155; BGHZ 32, S. 194206; BGHZ 46, S. 124-130 (Anschluß trotz Bedenken); BGH JZ 1975, S. 249-255; BGH NJW 1978, S. 1975 1977, BGH JZ 1979, S. 724-725. 40 Vgl. etwa BGHZ 2, S. 360-366; BGHZ 28, S. 110-117; BGH NJW 1979, S. 489-490; BGH VersR 1979, S. 173-175; BGH W M 1984, S. 1095-1098; BGH NJW 1985, S. 24812482.
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Α. Die Argumentationsfigur hM
herangezogen, nachdem zuvor die h M als Grundsatz dargestellt worden war, der Ausnahmen zulasse41. In anderen Urteilen verläßt der BGH die h M wegen inzwischen erfolgter Gesetzesnovellen42 oder verneint die „Herrschaft" der z.B. von anderen Gerichten als h M reklamierten Meinung 43 . Nur in einem Urteil wird wörtlich ausgeführt, daß das gefundene Ergebnis von der h M abweiche 44 , wobei allerdings relativierend von der „bisherigen h M " gesprochen wird. Ähnlich vorsichtig wie der BGH verfahren auch die Instanzgerichte, wenn sie von der h M abweichen wollen. Überwiegend stützen die Richter die Abweichung auf Besonderheiten des Sachverhaltes und führen aus, daß der konkrete Einzelfall eine andere Behandlung erfordere 45 . Verbreitet ist auch die Herabsetzung der hM: „Der Senat schließt sich der zunehmend vertretenen Ansicht an, daß entgegen der früher herrschenden Meinung.... 4 4 4 6 oder: „... entgegen früher herrschender Meinung...; die jetzt wohl überwiegende Auffassung hält dagegen ,..." 4 7 sowie: „Die wohl noch h M ,.." 4 *. Allerdings scheuen einige Gerichte nicht die Konfrontation mit der h M und diskutieren explizit gegen sie 49 . Diese Begründungen sind meist sehr aufwendig und die Gerichte versuchen, ihre abweichende Auffassung durch verschiedene Gesichtspunkte gutachterlich abzusichern. Es werden dann u.a. verfassungsrechtliche Bedenken gegen die von der h M geteilte Rechtsauffassung geltend gemacht 50 oder behauptet, daß die h M weder mit Sinn noch Zweck einer gesetzlichen Bestimmung vereinbar sei 51 . Regelmäßig bedingt die ausdrückliche Abweichung von der h M die Übernahme der Argumentationslast. 41 So BGHZ 54, S. 82-89: "Die h M verdient... im Regelfall den Vorzug..."; BGH W M 1980, S. 1082-1085; ähnlich auch BGH NJW 1970, S. 243-245; eine mehrfache Verwendung von h M findet sich in BGH FamRZ 1986, S. 455-458. 42
Vgl. BGH NJW 1976, S. 1892-1895; BGH NJW 1985, S. 907-909. So BGHZ 38, S. 71-86: entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtes könne von einer eindeutig herrschenden Meinung nicht mehr gesprochen werden. 44 BGH NJW 1985, S. 433-435. 45 Aus der OLG-Rechtsprechung vgl. OLG Hamburg, GRUR 1977, S. 161-164; OLG Karlsruhe (Strafsenat), NJW 1977, S. 309-311; OLG Frankfurt, Rechtspfleger 1977, S. 171; O L G Frankfurt, M D R 1977, S. 849; OLG Stuttgart, Justiz 1978, S. 142; O L G Hamm, Rechtspfleger 1980, S. 468-469; Urteile aus der LG-Praxis: L G Augsburg, NJW 1977, S. 1543; L G Frankfurt, NJW 1978, S. 597 598; ähnlich L G Berlin, WRP1977, S. 208-210; L G Frankfurt, GmbH-Rundschau 1978, S. 112-113; mit bayrischen Besonderheiten rechtfertigt das BayObLG teilweise die Abweichungen: BayObLG (Strafsenat), NJW 1979, S. 1371-1373; etwas anders BayObLG, FamRZ 1979, S. 737-740. 46 OLG Düsseldorf, Rechtspfleger 1977, S. 460-461. 47 etwa K G Berlin, FamRZ 1978, S. 338, 420. 48 OLG Koblenz, FamRZ 1979, S. 294-295. 49 Siehe hierzu A G Alzenau, D A R 1977, S. 136-137; L G Düsseldorf, Rechtspfleger 1977, S. 24; L G Köln, NJW 1978, S. 329-330; L G Frankfurt, NJW 1985, S. 1167-1169; O L G Stuttgart, Justiz 1977, S. 460-461; OLG Oldenburg NJW 1978, S. 2160-2161 (zur Gegenmeinung zählt hier allerdings das BVerfG); O L G München, FamRZ 1981; S. 382383; OLG München, FamRZ 1986, S. 85-86; O L G Hamm, EWiR 1986, S. 219-220. 43
50
So L G Wiesbaden, FamRZ 1977, S. 60-62.
II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung
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Ganz überwiegend argumentieren die Instanzgerichte jedoch — wie der BGH auch — nicht gegen die hM, sondern verwenden sie affirmativ, schließen sich ihr an oder gebrauchen die h M normativ, teilweise mit markanten Formulierungen: „Das ist h M und kann nicht angezweifelt werden" 52 oder: „Diese Auffassung ist seit einer Entscheidung des RG von 1940 eindeutig herrschende Meinung; dies muß heute wie damals gelten" 53 . Eine Tabelle soll die hM-Verwendung der Instanzgerichte illustrieren: 54
AG BayObLG LG OLG
Ges. 9 32 38 106
norm, 5 20 16 56
affirm. 3 13 12 38
Anschl. 1 3 6 17
disk. 1 8 6 18
abw. 1 4 12 16
Die für die ordentliche Gerichtsbarkeit vorgenommenen Einordnungen lassen sich auch in der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit wiederfinden: die h M spielt hier ebenfalls überwiegend eine normative und affirmative Rolle 5 5 . Eine Ausnahme stellt das BVerfG dar — wenngleich auch hier der normative Gebrauch von h M überwiegt 56 , das h M oft informativ verwendet oder zur Aufbereitung der verfassungsrechtlichen Problematik zitiert 57 . Die gleichen Befunde ergab die Analyse der Sozial- und Arbeitsgerichtsrechtsprechung: h M wird auch hier fast ausschließlich normativ verwendet 58 . 51 Vgl. beispielhaft L G Frankfurt, VersR 1977, S. 562-563; O L G Koblenz, FamRZ 1978, S. 294-295. 52 So das L G Coburg, DNotZ 1977, S. 414-416 unter Hinweis auf den „Palandt" als Beleg für die hM. 53 O L G Oldenburg, FamRZ 1979, S. 627-628. 54 Diese Tabelle ist unter dem schon besprochenen Vorbehalt zu sehen, daß die gängige Publikationspraxis die höchstrichterlichen und obergerichtlichen Urteile bevorzugt — ein Indiz übrigens für die diesen Urteilen zugesprochene faktische Bindungswirkung; es steht zu vermuten, daß die hM-Verwendung der Untergerichte einmal weit umfangreicher ist, als dies durch die JURIS-Abfrage dokumentiert werden kann und ferner der normative Kontext noch stärker ist, als es die vorgenommene Analyse erscheinen läßt. 55 Vgl. zunächst aus der Rechtsprechung des BVerwG, BayVBl 1977, S. 702-704; NJW 1978, S. 656-657; NJW 1979, S. 280-281; BVerwGE 56, S. 172-179; BVerwGE 58, S. 26-37; BVerwGE 59, S. 48-56; BVerwGE 73, S. 27-29; weitere Gerichte z.B. OVG Hamburg, NJW 1977, S. 214; OVG Hamburg, DVB1 1977, S. 1251-1254; V G H München, BayVBl 1978, S. 53-54; V G H Kassel, ESVGH 28, S. 106 109; BayVerfGH, BayVBl 1978, S. 497503; StGH Bremen, DVB1 1978, S. 444-448; StGH Hessen, ESVGH 28, S. 136-146; BayVGH, BayVBl 1979, S. 114-115; V G H Baden-Württ., BauR 1979, S. 232-235; OVG NRW, DVB11980, S. 422-423; BayVGH, VwRspr 32, S. 257-271; BayVGH, NJW 1983, S. 1600-1602; BayVGH, BayVBl 1984, S. 16; V G Stade, InfAuslR 1985, S. 58-62. 56
Vgl. BVerfG, BVerfGE 38, S. 35-41; 48, S. 48-64; 51, S. 268-295; 55, S. 1-7; 56, S. 139146; 59, S. 360-392. 57 Vgl. BVerfG, BVerfGE 42, S. 312-345; 49, S. 89-147; 50, S. 125-141; 61, S. 358-382.
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Α. Die Argumentationsfigur hM
Als Ergebnis der Analyse der Rechtsprechung läßt sich insgesamt festhalten, daß in rund 52 % der Urteile h M in normativem Zusammenhang gebraucht wird, in ca. 17 % der Entscheidungen als affirmatives Argument, in ca. 14 % der Urteile folgen die Gerichte ausdrücklich der hM, in ca. 6 % der Entscheidungen wird h M als diskursives Strukturelement verwendet und in ungefähr 11 % der analysierten Entscheidungen weichen die Richter von der h M ab. 2. Versuch einer Abgrenzung der Komponenten von hM Die fehlenden empirischen Untersuchungen in der bisherigen Literatur zu h M hinterließen neben dem Defizit hinsichtlich des Umfanges und der Funktion der hM-Verwendung weiterhin die offene Frage nach den Bestandteilen von hM. In der Auseinandersetzung von Wesel mit dem Thema h M wird auf die Frage, was herrschende Meinung sei, zunächst die polemische Antwort gegeben: „Juristen machen sich darüber kaum Gedanken. Man weiß eben, was herrschende Meinung ist" 5 9 . Wesel führt dann an anderer Stelle weiter aus, daß die h M eine „Addition von Entscheidungen der Obergerichte und Äußerungen in der juristischen Fachliteratur" 60 sei. In den einleitend erwähnten Betrachtungen zu h M in der Literatur wurden entweder Präjudizien nicht zur h M gerechnet 61 oder Richterrecht und Rechtslehre als hM-Einheit dargestellt 62 . I m Rahmen der Rechtsprechungsanalyse konnte festgestellt werden, daß h M zum einen durch eine Vielzahl von Synonymen ersetzt oder begleitet wird und zum anderen mit einer Reihe zwar funktional ähnlicher, aber doch andersartiger Kürzel bzw. Etikette konkurriert, insbesondere die „ständige (bewährte, gefestigte, einheitliche, herrschende) Rechtsprechung", die „herrschende Lehre", die „herrschende Ansicht im Schrifttum" und weiteren autoritativen Argumentformen. Zumeist wird das Kürzel h M ohne weitere Erklärung entweder völlig ohne Zitate oder mit unterschiedlicher Anzahl von Rechtsprechungs- und Literatur58
Vgl. für die Sozialgerichte BSG, SozR 1200, § 51 Nr. 12; BSG, BSGE 57, S. 23-34; BSG, SozR 2200, § 581 Nr. 22; BSG, SozR 7830, § 8a Nr. 3; BSG, BSGE 58, S. 291-302; BSG, SozR 1300, § 44 Nr. 17; BSG, SozR 220, § 393 Nr. 12; BSG, SozR 1200, § 54 Nr. 10; für die Arbeitsgerichte beispielhaft L A G Stuttgart, BB 1982, S. 928-929; L A G Düsseldorf, DB 1982, S. 808-809. 59 Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 89. 60 Zu diesen beiden zitierten Formulierungen Wesel, Aufklärungen über Recht, S. 51. 61 Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 46. 62 Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 25-28, mit kritischer Anmerkung zu Schnur; vgl. wiederum kritisch zu Zimmermann, Meyer-Hesemann, ARSP 1984, S. 149.
II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung
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hinweisen gebraucht. In einer großen Menge von Urteilen findet sich die Formulierung: „ die in Rechtsprechung und Schrifttum (Lehre, Literatur) herrschende Meinung .... " 6 3 ; in anderen Urteilen wird auf die „ h M in der Rechtsprechung" oder die „ h M im Schrifttum" bezug genommen, in einigen Fällen auch durch die Formulierung: „.... nach Rechtsprechung und h M ausgedrückt, daß zwischen der Rechtsprechung und der h M ein Unterschied gemacht werden kann bzw. das Kürzel h M sich auf die Literatur bezieht. Dieses letztere Verständnis von h M ist allerdings nur in wenigen Urteilen angetroffen worden, so daß zumindest in der Rechtsprechung die h M überwiegend als eine Übereinstimmung von Rechtsprechung und Lehre definiert zu werden scheint. In den anderen Fällen wird konkret ausgeführt, auf welche Menge von Meinungen sich die h M bezieht, z.B. die Kommentarliteratur, die OLGRechtsprechung oder allgemein Schrifttum und Rechtsprechung. Diese Definition bzw. dieses Verständnis von h M wird in der Literatur jedoch nicht durchgängig geteilt: einige Autoren beziehen den Begriff h M unter Ausschluß der Rechtsprechung allein auf die Literatur 6 5 , setzen also die herrschende Lehre mit der h M gleich. Wählt man zur Abgrenzung der h M von anderen Kürzeln einen begrifflichinstitutionellen Ausgangspunkt, so erscheint es nicht unproblematisch, wie z.B. Adomeit eine Gleichsetzung von h M und herrschender Lehre vorzunehmen 66 , weil hL konkret auf die Institution Forschung und Lehre zielt. Hingegen werden bei h M nicht nur die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Lehre, sondern sämtliche Meinungen zu einem juristischen Thema erfaßt 67 . H M ist mithin kein institutionell eindeutig erfaßbares Kürzel. Herrschende Lehre 63 BayObLG, BayObLGZ 1968, S. 52-63; BayObLG, DNotZ 1977, S. 111-112; BayObLG, BayObLGZ 1978, S. 251-257; BGH, BGHZ 32, S. 194-206; BGH, BGHZ 37, S. 1-30; BGH, BGHZ 61, S. 48-51; BGH, JZ 1980, S. 61-67; BGH, W M 1980, S. 1176-1177; BGH, W M 1981, S. 364-365; BGH, M D R 1981, S. 481; BGH, W M 1984, S. 178-179; BGH, FamRZ 1986, S. 455-458; BGH, W M 1987, S. 13-17; BSG, SozR 1200 § 54 Nr. 10; BVerfG, BVerfGE 51, S. 268-295; BVerwG, BVerwGE 60, S. 231-236; BVerwG, BVerwGE 73, S. 27-29; L G Darmstadt, D G V Z 1977, S. 7-9; L G Ulm, WuM 1979, S. 193; O L G Hamburg, GRUR 1977, S. 161-164; O L G Hamm, FamRZ 1978, 257; OLG Hamm, OLGZ 1979, S. 176-182; O L G Hamm, DNotZ 1980, S. 233-238. 64 BGH M D R 1978, S. 398; BGH W M 1981, S. 323-326; BGH VersR 1985, S. 859-860; BGH W M 1985, S. 1004-1009; BayObLG, StAZ 1977, S. 187-190; BayObLG, StAZ 1978, S. 100-103; BayObLG, BayObLGZ 78, S. 113-117; BPatG, BPatGE 22, S. 283-284; Hans OLG Hamburg, WRP 1977, S. 806-808; L G Augsburg, NJW 1977, S. 1543. 65 So z.B. Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 46; ebenso Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, in: JZ 1980, 344; Folke Schmidt, Zur Methode der Rechtsfindung, S. 220 . 66 Vgl. Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, in: JZ 1980, S. 344. 67 Insoweit besteht Übereinstimmung mit Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 25 ff.
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Α. Die Argumentationsfigur hM
hingegen beschränkt sich auf den Bereich der rechtswissenschaftlichen Literatur und dokumentiert (d.h. will dokumentieren) mit dem Kürzel hL die Meinungsherrschaft dieser Sparte. Eine Gleichsetzung von hL und h M ist deshalb unter begrifflich-institutionellen Gesichtspunkten nicht sinnvoll, mit der Einschränkung, daß die hL als Ergebnis des Diskussionsprozesses der rechtsgelehrten Literatur naturgemäß einen hohen Stellenwert bei der Bildung von h M einnehmen wird. Insofern ist diese Relativierung die Konsequenz von Interdependenzen der Teilnehmer am juristischen Diskurs bzw. der dort beteiligten juristischen Institutionen. Damit ist die Frage angesprochen, ob die Rechtsprechung in die Menge der Meinungen aufzunehmen ist, die der h M zugerechnet werden. Versteht man im Sinne der oben vorgenommenen Abgrenzung von h M die hL als „diejenige Meinung zu einer Rechtsfrage, die von dem gewichtigsten Teil der Rechtsgelehrten vertreten w i r d " 6 8 , so ist damit bereits angedeutet, daß die Rechtsprechung zu diesem institutionellen Bereich der Lehre nicht zählt. M i t dieser Ausgrenzung der Rechtsprechung aus der Sphäre der Rechtswissenschaft ist nun aber keineswegs ein Argument, sondern höchstens ein Indiz für die Zuordnung der Rechtsprechung zur h M gewonnen. Fraglich ist nämlich, ob den Präjudizien im Rahmen der Betrachtung der Autoritätsansprüche der üblichen Kürzel eine Sonderrolle zuerkannt werden muß, die eine Unterordnung unter h M ausschließt. Eine solche Sonderrolle der Rechtsprechung wird oftmals mit dem Argument behauptet, daß sie mittels der Präjudizien eine zumindest faktische Bindungswirkung im juristischen Diskurs herstelle 69. Diese Problematik reicht jedoch offensichtlich über den Bereich der begrifflich-institutionellen Abgrenzung hinaus in die Problematik, ob die Rechtspraxis überhaupt als Teilnehmer am juristischen Diskurs angesehen werden kann 7 0 oder ob die Prozeßregeln 71 und die faktischen Zwänge wie Zeitdruck und Entscheidungsnotwendigkeit72 den diskursiven Charakter von richterlichen Entscheidungen eliminieren. 68
Vgl. unter Bezugnahme auf die communis opinio des Mittelalters Dolezalek, Art. „Herrschende Lehre", in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hrsgg. von A. Erler und E. Kaufmann, Berlin 1978. 69 Siehe zur besonderen Bedeutung der Rechtsprechung in der juristischen Diskussion Adomeit, Zivilrechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972) S. 506f.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 259ff., derselbe, Recht und praktische Vernunft, S. 93ff.; Dubischar, Theorie und Praxis in der Rechtswissenschaft, S. 94 ff. 70 Vgl. zu dieser Frage Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 270f. 71 Vgl. Habermas, in: Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 201 bezeichnet den gerichtlichen Prozeß ausgehend von der Staatsmacht als Strategie, nicht als Diskurs. 72 Vgl. zur Wirkung der Entscheidungsnotwendigkeit im juristischen Diskurs Ballweg, Rechtsphilosophie als Grundlagenforschung der Rechtswissenschaft und der Jurisprudenz, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972) S. 45; vgl. auch
II. Die herrschende Meinung in der Rechtsprechung
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Die Rechtsprechung selbst rechnet sich anscheinend zur hM, zumindest wenn man die Ergebnisse der Untersuchung der hM-Urteile zugrunde legt. In den weitaus meisten Fällen wird h M mit Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen belegt oder aus dem Kontext deutlich, daß h M eine Übereinstimmung von Rechtsprechung und Literatur impliziert 73 . Allgemeinverbindliche Regeln für die Verwendung von h M lassen sich jedoch aus diesem Verständnis der Rechtsprechung nicht ableiten. Mittels einer begrifflichen Unterscheidung allein, die sich nur auf die etikettierte Institution beziehen kann, und auch mit einer allgemeinen empirischen Betrachtung läßt sich dieses Problem nicht zureichend klären; die Frage einer notwendigen Zuordnung von Präjudizien zu h M kann dementsprechend erst bei einer konkreten Analyse der Rolle der Rechtsprechung beantwortet werden. Eine Ausnahmerolle kann sich somit wenigstens im Rahmen der begrifflichen Analyse von h M für die Rechtsprechung nicht ergeben. Vergleicht man nun h M begrifflich mit der „ständigen" oder „gefestigten" Rechtsprechung, so fallt wie bei der hL auf, daß diese Begriffe einem eingrenzbaren Bereich, einer juristischen Institution zugeordnet sind. Daraus läßt sich analog zur hL der Schluß ziehen, daß h M und „ständige Rechtsprechung" nicht notwendig identisch sind. Hieraus eine Ausgrenzung der Rechtsprechung aus dem Bereich der h M zu folgern, erscheint jedoch gleichfalls problematisch, da diese Auffassung die Möglichkeit der Verflechtung verschiedener Stimmen übersieht 74 . Beispielsweise könnte sich eine h M aus der Übereinstimmung verschiedener Untergerichte und der überwiegenden Literatur, hingegen auch aus der Rechtsprechung der Obergerichte und Literaturstimmen sowie der einhelligen Rechtsprechung und einigen Schrifttumsäußerungen zusammensetzen. Durch diese Möglichkeiten der Verknüpfung der verschiedenen Kürzel wird exemplifiziert, daß eine feste Bestimmung von h M im Sinne einer begrifflichen Abgrenzung kaum möglich ist, da die oben beispielhaft genannten Bezeichnungen sich nicht jeweils der Hauptmenge h M als Teilmenge unterordnen. Die Beantwortung der Frage, aus welchen Komponenten h M sich im Einzelfall zusammensetzt, ist nach allem mittels einer begrifflichen Differenzierung nur begrenzt zu leisten, sondern kann erst durch eine Analyse der von einem anderen Ansatz aus Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972) S. 255, der wegen des Entscheidungszwanges ein Nebeneinander von Erkenntnis- und Systemtheorie fordert, um die Problemkreise juristischer Tätigkeit umfassend analysieren zu können. 73 Vgl. hierzu beispielhaft für viele Urteile BGH W M 1986, S. 547-548; BGH W M 1986, S. 763-768: in beiden Urteilen wird zunächst die Meinungskonstellation in Rechtsprechung und Literatur dargestellt und anschließend von h M gesprochen. 74 Vgl. zu dem wechselseitigen Vorgang zwischen Literatur und Rechtsprechung bei der Bildung von h M Wesel, Aufklärungen über Recht, S. 133 f.; derselbe, „ h M " , in: Kursbuch 56 (1979), S. 90f., 104, jeweils auch zur Rolle der Untergerichte .
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Α. Die Argumentationsfigur hM
konkreten, zu einem dogmatischen Problem behaupteten h M vorgenommen werden. Als — wenngleich nur unvollständige Perspektiven eröffnendes — Ergebnis aus diesen Abgrenzungen läßt sich festhalten, daß h M unter den kürzelhaften Etiketten den größten autoritativen Anspruch stellen könnte, da sie — zumindest begrifflich — das umfassendste Meinungsspektrum abdeckt und nicht auf einen institutionellen Bereich beschränkt ist, mithin einen umfassenden überinstitutionellen Konsens repräsentiert. Die herrschende Meinung setzt sich somit unter Zugrundelegung einer begrifflich-institutionellen Abgrenzung aus einer Meinungskongruenz zwischen der Rechtsprechung und zumindest Teilen der Literatur zusammen 75 . Insoweit ist Wesels Versuch einer Definition, h M als Summe aller Meinungen, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht der einzelnen Stimmen, zu definieren, trotz seiner Weite keine untaugliche Begriffsbestimmung. Durch die Betonung des „Gewichtes" besteht die Möglichkeit, den autoritativ-autoritären Anspruch der einzelnen Stimmen zu ermitteln. Wesel berücksichtigt in seinem Aufsatz die Autoritätsansprüche von h M 7 6 und lenkt damit das Augenmerk neben dem rechtspolitischen richtigerweise auf den rechtstheoretisch-methodischen Fragekreis von hM, weg von der wenig ergiebigen Problematik einer rein begrifflichen Abrenzung 77 .
75
Dieser Auffassung sind auch Wesel, „ h M " , in: Kursbuch 56 (1979), S. 91, 104; derselbe, Aufklärungen über Recht, S. 51, sowie Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 25, 27, 37, 42. 76
Wesel, „ h M " , Kursbuch 56 (1979), S. 92 f. Siehe zum begrenzten Aussagewert einer begrifflichen Definition auch Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 23. 77
Β. Die hM in der Diskussion zur Anscheinsvollmacht Die Relevanz und die Problematik des Begründungssurrogates h M werden in dem Anspruch deutlich, als autoritär-autoritative Argumentationsfigur Diskussionen verbindlich zu entscheiden, indem sie sich gegenüber anderen Meinungen, den Mindermeinungen, durchsetzt. Diese praktische Funktion von h M soll zunächst anhand einer Analyse der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur zum zivilrechtlichen Institut der Anscheinsvollmacht untersucht werden, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in vielen juristischen Beiträgen diskutiert wird. Die Betrachtung hat nicht zum Ziel — dies sei vorausgeschickt — eine Stellungnahme zu der dogmatischen Diskussion abzugeben und die ohnehin reichhaltigen Beiträge um einen neuen Gedanken zu bereichern, sondern die Analyse der rechtshistorischen Entwicklung der Anscheinsvollmacht soll für die argumentationstheoretisch-funktionale Beobachtung des Phänomens h M die Grundlage abgeben. I. Die Anscheinsvollmacht in der modernen Dogmatik Die Anscheinsvollmacht wird heute als feststehendes Institut gewürdigt: „Nach ständiger Rechtsprechung und der h M im Schrifttum kann sich der Vertretene auf den Mangel der Vertretungsmacht eines Vertretenen nicht berufen, wenn er dessen wiederholtes und sich über einen gewissen Zeitraum erstreckendes Verhalten nicht kannte, es aber bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen müssen und verhindern können, und wenn der Geschäftsgegner das Verhalten des Vertreters nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte dahin auffassen durfte, daß es dem Vertretenen bei verkehrsgemäßer Sorgfalt nicht habe verborgen bleiben können und daß dieser es also dulde" 7 8 . Die Wirkung dieser Definition auf den Leser, der sich mit den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht vertraut machen möchte, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eindrucksvoll, denn mit der ständigen Rechtsprechung und der h M im Schrifttum wird ein offenkundig breiter Konsens dargestellt. Umso größer ist das Erstaunen, liest man im folgenden, daß „die Lehre von der Anscheinsvollmacht ... auf grundsätzliche Kritik gestoßen (ist)" 7 9 . Damit wird der ursprünglich erzielte Eindruck erheblich gemindert; insbesondere das Wort „grundsätzlich" erstaunt, verglichen mit dem zuvor erwähnten Konsens. 78 79
Münchener Kommentar /Thiele § 167, Rn. 43. Münchener Kommentar/Thiele § 167, Rn. 44.
32
. Die h
Diskussion zur Anscheinsvollmacht
Immerhin wird der kritische Leser dies als Aufforderung empfinden, sich der grundsätzlichen Einwände kundig zu machen, um das Gewicht des Rechtsprechungs- und hM-Konsenses zu überprüfen. Dieser ideale Leser muß jedoch resignieren, wenn er zunächst weiterliest und im Zusammenhang mit den möglichen dogmatischen Herleitungen der Anscheinsvollmacht die argumentative Autorität der ständigen Rechtsprechung erfährt: „Die ständige Rechtsprechung hat jedoch die (zumindest faktisch) verbindliche Kraft des Richterrechts. Damit sind jedenfalls die Grundsätze der Anscheinsvollmacht einschließlich der Rechtsfolge des „positiven Vertrauensschutzes" dem theoretisch-dogmatischen Meinungsstreit, wenn auch nicht der rechtspolitischen Kritik entzogen" 80 . Ähnlich lauten die Ausführungen in anderen Kommentierungen: „Die Rspr. und die in der ihr folgenden Literatur überwiegende Meinung hat diese Einschränkung (gemeint ist die Einschränkung der Anwendung der Anscheinsvollmacht auf den Verkehr unter Kaufleuten 81 ) jedoch aufgegeben (vgl. BGH NJW 1951, 309). Demnach ist der Vertrauenstatbestand der Anscheinsvollmacht, wie es dem Gedanken des § 242 entspricht, als ein allgemeines Rechtsinstitut anzuerkennen, ...," 8 2 . Diese beiden Zitate belegen deutlich den Machtanspruch, der durch h M impliziert ist: aus den dargelegten Meinungskonstellationen in Literatur und Rechtsprechung wird der Rückschluß auf eine allgemeine Akzeptanz gezogen. Der Hinweis auf h M oder „überwiegende Meinung" ersetzt in den zitierten Beispielen dogmatische Diskussion und kritische Überprüfung von Präjudizien. Das Ergebnis wird nicht durch eine für den Leser nachvollziehbare, transparente Diskussion unterschiedlicher Entscheidungsvorschläge ermittelt, sondern diese Diskussion und die dazugehörige Argumentation wird durch die Bezugnahme auf hL und die Rechtsprechung ersetzt. Man wird an die Kritik erinnert: „Der klassische Kommentar wandelt sich zum Entscheidungsregister" 83. Die Entscheidung pro Anscheinsvollmacht wird durch die Autorität einer h M legitimiert. Die Frage, ob dieser Anspruch des „Argumentes" h M gerechtfertigt ist, soll durch die Betrachtung der historischen Diskussion zur Anscheinsvollmacht beantwortet werden. II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht Zunächst wird der Frage nachzugehen sein, ob eine h M für die Anscheinsvollmacht besteht (bestand), ferner muß sich eine etwaige h M auf ihre Überzeugungskraft nicht im Sinne einer sachlich richtigen, sondern rationalen Argumen80 81 82 83
Münchener Kommentar/Thiele § 167, Rn. 45. Einfügung vom Verfasser. Staudinger/Dilcher § 167, Rn. 33. de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromißformular, in: FS Esser, S. 85.
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
33
tation untersuchen lassen und ein weiterer Aspekt wird sein, inwieweit Zufälligkeiten, Unterstellungen, Mißverständnisse, Schulen und Profïlierungsabsichten sich als Faktor für die Meinungsbildung ausgewirkt haben. 1. Die Anfänge der Diskussion zur Scheinvollmacht Als Ausgangspunkt für das Institut der Anscheinsvollmacht wird eine Entscheidung des Reichsoberhandelsgerichtes von 1870 angesehen84, in der das ROHG eine stillschweigende Bevollmächtigung zuläßt. Das Kernproblem der Entscheidung ist die Reichweite der Auslegung des Art. 49 HGB und das ROHG entwickelt dazu folgende Auffassung: „Doch folgt aus der oben angedeuteten Entstehungsgeschichte des Art. 49 in Verbindung mit der, der Verkehrs-Sicherheit schuldigen Rücksicht und mit der Erwägung, daß dem Auftraggeber die Verpflichtung aufliegt, zur Vermeidung der sonst unausbleiblichen Benachteiligung dritter Personen Vorkehrungen zu treffen, welche solche Benachteiligungen tunlichst zu verhindern geeignet sind, jedenfalls soviel, daß in Bezug auf Geschäftsreisende, die zwar nicht Handlungsbevollmächtigte, gleich diesen aber von den Auftraggebern ermächtigt sind, an auswärtigen Orten bei alten und neuen Kunden Bestellungen auf Waren zu suchen und mit den Kunden über Warenlieferungen Verträge zuschließen, die sich daher bei Vollziehung ihrer Aufträge in ihrem Gebaren von Handlungsreisenden im Sinne der Art. 47 und 49 den Contrahenten gegenüber nicht unterscheiden, letztere, sofern ihnen nicht das fehlende Dienstverhältnis bekannt ist oder bekannt sein muß, für wohlberechtigt anzusehen sind, dergleichen Reisende als wirkliche Handlungsreisende zu betrachten, und daß daher die Auftraggeber solcher Reisenden, deren Handlungen eben so wider sich gelten lassen müssen, als wenn sie die Reisenden in Gemäßheit des Art. 47 zu Handlungsbevollmächtigten bestellt gehabt hätten" 8 5 . Diese Rechtsprechung 86 ist von der Lehre — wie man sehen wird erst spät — aufgegriffen worden. Sie hat Zustimmung und Ablehnung erfahren, wobei neben grundsätzlicher Ablehnung entschiedener Gegner bei den Befürwortern vor allem unterschiedliche dogmatische Herleitungen diskutiert wurden, Versuche einer Anbindung der Entscheidungsgründe an das positive Recht, die das Urteil des ROHG in seiner Begründung mit einem Rückgriff auf das Prinzip der Verkehrssicherheit und den Grundsatz des neminem laedere nach damaliger Auffassung wohl nicht enthielt 87 . 84 Die im folgenden herangezogene Entscheidung, ROHG 1, 150, 152, wird bei Staudinger/Dilcher § 167, Rn. 28 als Grundlage der heutigen Anscheinsvollmacht bezeichnet. 85 ROHG 1, 152. 86 Vgl. weitere Urteile des ROHG, das im Ruf stand, besonders innovativ zu sein, zum Thema „Scheinvollmacht": ROHG 4, 303; 5,106, 208; 6,400; 8, 315; 9,105; 10,142, 380; 11, 33 f.; 12, 8; 13, 211; 15, 408; 19, 87, 127; 20, 121; 22, 373.
3 Drosdeck
. Die h
34
Diskussion zur Anscheinsvollmacht
In der pandektistischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts findet sich keine Rezeption des ROHG-Urteils und auch keine Diskussion bezüglich einer Scheinvollmacht. Windscheid erwähnte 1870 mit keinem Wort einen Vertrauensschutz im Stellvertretungsrecht, vielmehr wurde von ihm das Vertretungsrecht im allgemeinen besprochen, das in seinen dogmatischen Grundlagen noch umstritten war 8 8 . Auch in den folgenden Auflagen des Windscheid'schen Lehrbuches ist keine Behandlung dieses Themas zu erkennen. Windscheid stellt hingegen mit aller Strenge fest, daß eine Haftung des angeblich Vertretenen nicht in Frage kommt: „Erfolgt die Genehmigung nicht, so hat das Rechtsgeschäft für den Vertretenen gar keine Wirkung" 8 9 . Lediglich ein Ansatz zum Vertrauensschutz — verglichen mit den heutigen Ausmaßen — ist in der 6. Auflage des Pandektenlehrbuches von Windscheid festzustellen, indem Windscheid analog zum heutigen Stellvertretungsrecht des BGB den gutgläubigen Dritten nach Erlöschen der Vollmacht — „in unverschuldeter Unkenntnis" 9 0 — jedenfalls nicht mit einem Schaden belasten will, der aus der unberechtigten Vertretung entstanden sein könnte. Ansonsten findet sich bei Windscheid kein Hinweis auf eine Scheinvollmacht. Dernburg 91 beschäftigt sich mit der Funktion des römischen Prokurators als einer Vertrauensperson seines Herrn und weist daraufhin, daß dieser regelmäßig in dessen Geschäften tätig war. Die mit dieser Vertrauensstellung verbundenen Probleme, insbesondere das der Vollmachtlosigkeit, werden angedeutet, jedoch folgert Dernburg aus der Vertrauensstellung des Prokurators nicht, daß eine stillschweigende Bevollmächtigung vorliege oder der Geschäftsherr aufgrund des äußeren Anscheins einer Vertreterstellung hafte. Erst in der 5. Auflage der Pandekten erkennt Dernburg einen Verkehrsschutz im Stellvertretungsrecht an: „ I m Interesse der Sicherheit des Verkehrs sind Dritte, welche sich auf die Vollmacht verließen und deren Aufhebung in entschuldbarer Weise nicht kannten, gegen hieraus erwachsende Nachteile zu schützen" 92 . Dies kann jedoch noch nicht als ein Indiz für eine stillschweigende Bevollmächtigung gesehen werden, denn diese Lehrmeinung wurde explizit nur auf den Erlöschenstatbestand bezogen, eine ähnliche Regelung, wie sie im BGB jetzt die §§ 169-173 vorsehen. An einen konkludenten Entstehungstatbestand 87 Vgl. dazu im Überblick und als ersten Nachweis über die historische Diskussion Staudinger/Dilcher§ 167, Rn. 28-33, Münchener Kommentar/Thiele § 167, Rn. 38,44ff. 88 Vgl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Band, 3. Auflage, 1870, §§ 73-74, S. 169-178. 89 Vgl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Band, 5. Auflage, Frankfurt/ M 1882, §§73-74, S. 200. 90 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Band, 6. Auflage, Frankfurt/ M 1887, §§73-74, S. 213. 91 92
Dernburg, Pandekten Band I, § 119, S. 274f., 2. Auflage, Berlin 1888. Dernburg, Pandekten Band I, § 119, S. 282f., 5. Auflage, Berlin 1896.
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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hat Dernburg ersichtlich nicht gedacht, wenngleich er eine Weiterung dieses Satzes aus Billigkeitserwägungen für denkbar erachtete 93. Auch in den weiteren Auflagen des Pandektenlehrbuches hat Dernburg sich nicht mit einer stillschweigenden Bevollmächtigung im Sinne des ROHG-Urteils beschäftigt, sondern vielmehr die angeführten Textpassagen weggelassen; das Thema taucht nurmehr andeutungsweise in den Fußnoten auf 9 4 . Was Dernburg für das Gebiet der Pandekten nicht anerkennt, nimmt er jedoch für das bürgerliche Recht vor: es wird explizit ausgeführt 95 , daß eine Vollmacht auch stillschweigend erteilt werden könne. Als Beispiel führt Dernburg eine fortgesetzte Duldung der Überschreitung der ursprünglichen Vollmacht durch den Geschäftsherrn an sowie die äußerliche Stellung eines Bevollmächtigten, die eine Haftung des Geschäftsherrn auch bei nichtigem Dienstvertrag begründe 96 . Dernburg will damit jedoch offensichtlich kein Fundament für ein Vertrauensschutzprinzip legen, sondern er führt die Haftung des Geschäftsherrn für einen minderjährigen Verwalter als Beispiel an, um darzustellen, daß die Vollmacht nur ausnahmsweise abstrakt sei. Ziel der Ausführungen ist die Herausarbeitung dieses Ausnahmecharakters der abstrakten Vollmacht, der sich nach Dernburg daraus ergibt, daß sich der Grund für die Haftung des Geschäftsherrn nicht aus der Abstraktheit, sondern aus der äußerlichen Stellung des Verwalters und dem Grundsatz von Treu und Glauben erklären lasse. Diese Ausführungen können trotz der Beiläufigkeit der Erwähnung 97 und obwohl dies der systematische Zusammenhang nicht nahelegt, als eine erste, vorsichtige Erwägung des Vertrauensschutzgedankens gewertet werden. Ihre besondere Bedeutung erhalten diese Textpassagen von Dernburg erst dann, wenn man Dernburg später als ersten Repräsentanten des Vertrauensschutzgedankens in den Fußnoten dogmatischer Arbeiten zur Anscheinsvollmacht wiederfindet 98 .
93 94
Dernburg, Pandekten Band I, § 119, S. 283 Fn. 7, 5. Auflage, Berlin 1896.
Vgl. Dernburg, Pandekten Band I, § 105 und 106, 8. Auflage, Berlin 1911. 95 Dernburg, Das bürgerl. Recht des Dt. Reichs und Preußens, 1. Band, Die allgemeinen Lehren des bürgerlichen Rechts, § 163 III, S. 474, 1. Auflage, Halle 1902. 96 Dernburg, Bürgerl. Recht, § 163 V, S. 476. 97 Die „Flüchtigkeit" der Bemerkung von Dernburg wird von H.H. Meyer, Die Scheinvollmacht, Göttingen 1925, S. 11, bei einer Betrachtung der Befürworter der Scheinvollmacht festgestellt . 98 Vgl. insbesondere bei Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehre mit Nichtbevollmächtigten nach BGB, S. 77 f.; weiterhin Grüter, Stillschweigende Bevollmächtigung und Scheinvollmacht im Rechtsverkehr der Sparkassen, S. 44, Fn. 3; Kraus, Der Schutz des Vertrauens auf den „äußeren Tatbestand" im Stellvertretungsrecht des bürgerlichen Gesetzbuches, S. 19, Fn. 2; Hinkmann, Der Schutz des redlichen Dritten beim Abschluß von Rechtsgeschäften mit Nichtbevollmächtigten, S. 44, Fn. 18; Warneyer, § 167, Fn. 10. 3*
36
. Die h
Diskussion zur Anscheinsollmacht
Dem Vertrauensschutzgedanken in dieser vorsichtigen Ausprägung ist jedoch insbesondere von Planck widersprochen worden, der darlegt", daß das BGB keine Vorschriften über vermutete oder stillschweigende Vollmachten enthalte. Gleichwohl könne eine Vollmacht stillschweigend erteilt werden, was sich schon aus den allgemeinen Grundsätzen ergebe. Planck meint jedoch, daß Urteile zu weit gehen, in welchen aus dem Anschluß an den Fernsprecher geschlossen wird, daß der betreffende Geschäftsmann seinen Angestellten Vollmacht erteilt habe, Willenserklärungen in seinem Namen durch den Fernsprecher abzugeben 100 . In der 4. Auflage des Planck'schen Kommentars — bearbeitet von Flad — wird eine Duldungsvollmacht unter Hinweis auf die Rechtsprechung bejaht 1 0 1 . Explizit wird jedoch eine Scheinvollmacht abgelehnt, die sich aus der äußeren Stellung des Handelnden begründe. Dabei setzt sich Flad umfassend mit der literarischen Gegenmeinung auseinander. Interessanterweise führt er als Beleg für seine Bedenken gegen die die Scheinvollmacht befürwortende Auffassung Enneccerus a n 1 0 2 . Enneccerus setzt sich aber in seinem Lehrbuch insgesamt kritisch mit Planck / Flad auseinander und behauptet insbesondere an der von Planck / Flad zitierten Stelle allein, daß die §§ 171 ff. BGB nicht auf das Entstehen der Vollmacht anwendbar seien, sondern speziell für deren Erlöschen gedacht seien 103 . Diese Auffassung von Enneccerus spricht aber nur dann gegen die Scheinvollmacht, wenn man diese aus einer Analogie zu den §§171 ff. BGB herleitet. Diese dogmatische Herleitung wurde jedoch nicht von allen damaligen Verfechtern der Scheinvollmacht vertreten, sondern es bestand eine große Vielfalt im Zusammenhang mit der dogmatischen Rechtfertigung dieses Institutes 104 . Inhaltlich kann Planck/Flad Enneccerus somit nicht für sich reklamieren; allerdings soll diesem „Falschzitat" keine weitere Bedeutung zugemessen werden, abgesehen von der Tatsache, daß der juristische Diskurs, der ja vorwiegend ein literarischer ist, auch von solchen Zufälligkeiten abhängen kann. Überprüft man nun die Behandlung des Themas Scheinvollmacht bei Enneccerus, so entdeckt man, daß Enneccerus eine analoge Anwendung der §§ 170-173 auf das Entstehen der Vollmacht angesichts des Wortlauts der Vorschriften als „höchst gewaltsame(s) Verfahren" bezeichet 105 . Schutzbestimmungen für den Dritten fehlten im BGB und seien „schneidend" für den Fall des 99
Planck, BGB-Kommentar, Bd. 1, § 167, 5, 2. Auflage, Berlin 1898. Planck, BGB-Kommentar, § 167, 5, 3. Auflage, Berlin 1903. 101 Planck/Flad, BGB-Kommentar, § 167, S. 448 f., 4. Auflage, Berlin 1913. 102 Planck/Flad, BGB-Kommentar, § 167, 5 mit Verweis auf Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 1. Bd., Einleitung, Allgemeiner Teil, § 171, Fn. 17. 103 Ygi Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerl. Rechts. § 171, Fn. 17. 100
104 Vgl. hierzu nur den Überblick bei Münchener Kommentar/Thiele § 167, Rn. 43 ff. und Staudinger/Dilcher § 167, Rn. 28 ff. 105 Vgl. Enneccerus, Das Bürgerliche Recht, §94, S. 211, 1. Band, Einleitung, Allgemeiner Teil, Marburg 1900.
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Erlöschens bestimmt 106 . Eine Analogie hält Enneccerus aus diesem Grunde für völlig unzutreffend 107 . Die gleichen Ausführungen finden sich in der Auflage von 1911 108 und in der nächsten Bearbeitung vornehmlich in einer Fußnote 1 0 9 , indem Enneccerus die Möglichkeit einer stillschweigenden Vollmachterteilung — mit Hinweis auf die Rechtsprechung—durch das Dulden des Handelns des Vertreters darstellt. Eine Differenzierung in Anscheins- und Duldungsvollmacht wird nicht vorgenommen, obwohl eine solche Unterscheidung durchaus schon bekannt war. Explizit diskutiert wurde diese Frage nämlich bei von Tuhr, der zwar die Rechtsprechung zur Duldungsvollmacht akzeptierte, eine darüber hinausgehende Rechtsschein Vollmacht aber ablehnte 110 . Von Tuhr stellte die eine Schein Vollmacht bejahende Gegenmeinung lediglich in einem Verweis in einer Fußnote dar; eine weitergehende inhaltliche Auseinandersetzung ist nicht zu erkennen. Auch in anderen BGB-Lehrbüchern und Kommentaren in den ersten Jahren der Geltung des BGB finden sich oft keine Ausführungen zu der Frage der stillschweigenden Vollmacht oder Scheinvollmacht. Eine der ersten Kommentierungen zum BGB von Holder 1 1 1 schneidet in der Bearbeitung der §§ 164-172 BGB das Problem Scheinvollmacht nicht an. Auch Ernst Landsberg beschäftigt dieses Thema überhaupt nicht; es werden nur die Grundzüge des Vertretungsrechtes dargestellt 112 . Bei Crome 1 1 3 wird die Scheinvollmacht andeutungsweise bearbeitet, indem Crome sogenannte mandata praesumta i.S. von bloß vermuteten Vollmachten ablehnt und ausführt, daß neben den frei gewillkürten nur noch gesetzliche Vertretungsverhältnisse anzuerkennen seien 114 . Im Rahmen der Formfreiheit von Vollmachten erwähnen Eck/Leonhard die stillschweigende Vollmacht 1 1 5 ; konkrete Hinweise auf eine weitere materiellrechtliche Bedeutung sind jedoch nicht aufzufinden. 106
Enneccerus, wie vor, S. 212. Enneccerus, wie vor, S. 214. 108 Vgl. Enneccerus, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, § 171, S. 454ff., Band 1, Abteilung 1: Einleitung u. Allgemeiner Teil, 6.-8. Auflage, Marburg 1911. 109 Enneccerus., Lehrbuch des Bürgerl. Rechts, S. 470, Fn. 5-7, 6. Bearbeitung, 9.-11. Auflage, Marburg 1913. no Ygi v o n x u h r j Der allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, I I 2, S. 394, Berlin 1914. 107
111 Holder, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1. Band, Allgemeiner Teil und Einleitung, München 1900, §§ 164-172. 112
Landsberg, Das Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1. Hälfte, Berlin 1904, vgl. hier S. 213-222. 113 Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 1. Band, Tübingen und Leipzig 1900, §103, S. 451 ff. 114
Crome, System, S. 461 Fn. 12. Vgl. Eck / Leonhard, Vorträge über das Recht des Bürgerlichen Gesetzbuches, Band I, 1. u. 2. Auflage, Berlin 1903, S. 177 191; insbesondere S. 182, 185. 115
. Die h
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Diskussion zur Anscheinsvollmacht
Aus der Tatsache, daß die Vollmacht formfrei ist, schließt auch Rehbein 116 , daß sie wie Zustimmung und Genehmigung stillschweigend erteilt werden könne. Als stillschweigende Vollmacht erkennt Rehbein die Duldungsvollmacht an 1 1 7 . Er ist der Auffassung, daß das BGB mit Recht nichts von der Regelung des A L R über vermutete Vollmachten aufgenommen habe 1 1 8 ; Scheinvollmachten werden explizit nicht erwähnt. Der Anerkennung der Duldungsvollmacht durch Rehbein schließt sich Brodmann 119 für das Handelsrecht an. In Aufsätzen und Monographien jedoch gewinnt das Thema der Scheinvollmacht an Bedeutung; so anerkennt auch Biermann 120 unter Berufung auf Rehbein die Duldungsvollmacht als einen Fall der stillschweigenden Bevollmächtigung. Letzteres sei begrifflich zwar nicht einwandfrei, jedoch „hergebracht" und „die Sache selbst ist praktisch unentbehrlich" 121 . Im Verlaufe von Biermanns Ausführungen wird jedoch deutlich, daß er sein Ergebnis weniger auf eine konkludente Bevollmächtigung, als vielmehr auf einen Anschein qua äußerer Stellung gründet 122 . Den Gedanken des Verkehrsschutzes, bzw. des gutgläubigen Dritten betont auch Seeler, der in Analogie zu den §§ 170-173, 714 BGB sowie § 54 HGB eine Scheinvollmacht für möglich hält 1 2 3 , obwohl er relativierend ausführt, daß ein solcher Grundsatz nicht als allgemeine Regel anerkannt sei. Seeler verwirft die dogmatische Herleitung der Scheinvollmacht als einer konkludenten oder stillschweigenden Bevollmächtigung 124 . Der Analogie Seelers schließt sich Goldberger 125 in der ersten zu dieser Frage erschienenen Dissertation an: auch Goldberger führt aus, daß die stillschweigende und die Scheinvollmacht keineswegs identisch seien 126 . Es läßt sich also für die Zeit nach der Jahrhundertwende festhalten, daß eine überwiegende Auffassung oder h M sich noch nicht 116
261. 117
Vgl. Rehbein, Das Bürgerliche Gesetzbuch, I. Band, Allgem. Teil, Berlin 1899, S. Vgl. Rehbein, Das Bürgerliche Gesetzbuch, S. 262.
118
Vgl. Rehbein, Das Bürgerliche Gesetzbuch, S. 261 unter Bezugnahme auf A L R 113 §§ 119 ff., 129 ff. 119 Vgl. Brodmann, in: Ehrenbergs Handbuch für das gesamte Handelsrecht, 4. Bd. II. Abt., Leipzig 1918, S. 120. 120 Biermann, Zur Lehre von der Vertretung und Vollmacht, Berlin 1900, S. 23 f f ; ebenso Biermann, Bürgerliches Recht, Band I, Allgem. Lehren und Personenrecht, Berlin 1908, S. 264. 121
Biermann, Zur Lehre von der Vertretung und Vollmacht, S. 23. Vgl. Biermann, Zur Lehre von der Vertretung und Vollmacht, S. 16f., 30f. 123 Seeler, Vollmacht und Scheinvollmacht, Archiv f. bürgerl. Recht, Bd. 28 (1906), S. 2f., 36ff. 122
124
Vgl. Seeler, Vollmacht und Scheinvollmacht, Archivf. bürgerl. Recht, Bd. 28 (1906),
S. 51. 125 Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehre mit Nichtbevollmächtigten nach BGB, Potsdam 1908, S. 76 f. 126 Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter, S. 10.
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herausgebildet hatte, sondern die Diskussion zur Frage der Anerkennung einer Scheinvollmacht noch in vollem Gange war; selbst bei den Befürwortern einer Scheinvollmacht war umstritten, wie diese dogmatisch herzuleiten war. Dabei wurde schon begrifflich nicht klar zwischen den einzelnen Möglichkeiten einer „stillschweigenden Vollmacht" differenziert 127 . Das beste Beispiel hierfür ist Enneccerus, der die Duldungsvollmacht als einen Fall der stillschweigenden Bevollmächtigung behandelt und den seinerzeit schon geläufigen Begriff Scheinvollmacht oder Anscheins Vollmacht nicht verwendet 128 . Es steht zu vermuten, daß die mangelnde begriffliche Präzision auch durch eine unkritische Analyse der Rechtsprechung verursacht wurde. Betrachtet man nämlich exemplarisch einige Urteile des Reichsgerichtes, so wird deutlich, daß die Begründungen auf verschiedene Gesichtspunkte gestützt werden: stillschweigende Bevollmächtigung und das Dulden des Handelns eines Vertreters werden zumeist in Beziehung gesetzt und oftmals mit Treu und Glauben sowie der Verkehrssitte verbunden 129 . Betont wird zudem das „in die äußere Erscheinung getretene(n) Verhalten" des Geschäftsherrn 130 . Aus diesem dogmatischen Sortiment wählten sich die genannten Literaturvertreter offensichtlich den genehmen Ansatzpunkt; nur so ist es zu erklären, daß von konkludenten Vollmachterteilungen über stillschweigende Vollmachten und die Duldungsvollmacht bis hin zur Scheinvollmacht, begründet aus Gesetzesanalogie oder einem allgemeinen Rechtsscheinprinzip, sehr viele Vorschläge unterbreitet wurden, ohne daß die Unterschiede immer bestimmbar sind 1 3 1 . Dies ermöglicht jedoch argumentationstheoretisch die Feststellung, daß eine herrschende Meinung noch nicht bestand und konsequenterweise auch nicht argumentativ behauptet wurde. Bezugnahmen gelten allein der Rechtsprechung 132 und werden nicht als Mittel zur Verkürzung der dogmatischen 127 Vgl. hierzu Goldberger, Der Schutz gutgläubiger Dritter im Verkehre mit Nichtbevollmächtigten, Diss. Heidelberg, Potsdam 1908, S. 10, der die These vertritt, daß die stillschweigende Bevollmächtigung nicht mit der Scheinvollmacht zu verwechseln sei. 128 Vgl. Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 6. Bearbeitung, 9.-11. Auflage 1913, S. 470, Fn. 5-7; 8. Bearbeitung, 15.-17. Auflage 1921 S. 464ff.; 9. Bearbeitung 1923, §171. 129
Vgl. RG in Seufferts Archiv, Bd. 59, Nr. 177. Vgl. insbesondere RGZ 50, 75, 76; RGZ 65, 292, 295 m.w.N. und für eine Verbindung aller genannten Gesichtspunkte bei Warneyer Rspr. 1913, Nr. 130. 131 Die Kommentare geben davon ein beredtes Zeugnis: vgl. Lindemann / Soergel § 167, 4.), § 164, 3.), 2. Auflage, Berlin-Stuttgart-Leipzig 1923 und Warneyer, § 167 II, Band 1, Tübingen 1923. 130
132 Vgl. zur weiteren Rechtsprechung folgende Urteile (die Urteile verweisen oft aufeinander): RGZ 22, 70, 76; 43,190; 50, 75; 65,292; 76, 202; 100,48; 103,401; 106, 202; 117,164; 118,234; 119,203; RG Recht 1913, Nr. 397; 1918, Nr. 339; 1923 Nr. 219 und Nr. 1026; 1924, Nr. 329 und Nr. 658; RG Seuff Archiv 79,170; 81,137; 82,21; 83,227; 85,150; 87, 313; 90, 56; RG Warneyer Rspr. 1916, 188; 1918, 170; 1924, 324; .
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Argumentation verwendet, sondern als zusätzliche Legitimation der eigenen Auffassung beigefügt. Für die Bildung der heute herrschenden Meinung zur Anscheinsvollmacht lassen sich bis jetzt lediglich die dogmatischen Wurzeln erkennen. Bemerkenswert erscheint jedoch, daß das Lehrbuch von Enneccerus, das heute für die herrschende Auffassung zitiert wird, in dem bislang erreichten historischen Stadium noch keine zustimmende Äußerung zur Anscheinsvollmacht enthält. Enneccerus ist vielmehr den Gegnern der Schein Vollmacht zuzuordnen: weder in der 8. Bearbeitung von 1921 noch in der 9. Bearbeitung von 1923 oder in der 12. Bearbeitung von 1928 werden bei Enneccerus die Begriffe „Scheinvollmacht" oder „Anscheinsvollmacht" verwendet. Es bleibt bei der Anerkennung der Duldungsvollmacht als einem Fall der stillschweigenden Vollmachtserteilung. Erst durch Nipperdey, in der 13. Auflage von 1931, wird die stillschweigende Bevollmächtigung durch die Scheinvollmacht ergänzt: es könne auch eine Vermutung für die Erteilung der Vollmacht sprechen 133 . Dabei ist eine dogmatische Auseinandersetzung nicht ersichtlich, sondern Nipperdey rezipiert ohne Bezugnahme auf den Streitstand die Rechtsscheinvollmacht. Somit kann das Lehrbuch von Enneccerus nicht mehr zu den Gegnern der Scheinvollmacht gezählt werden. Dieser Meinungswechsel im „Enneccerus" ist für die dogmatische Diskussion der Anscheinsvollmacht von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Dabei ist vor allem die große Reputation dieses traditionsreichen juristischen Lehrbuches zu bedenken, die sich insbesondere darin äußert, daß es bis 1913 schon elf Auflagen, bis 1931 deren 39 erreichte 134 . Der Einfluß dieses Buches auf die juristische Ausbildung ist deshalb mit Sicherheit sehr hoch einzuschätzen, so daß die dort geäußerte Meinung als Multiplikator anzusehen ist. Dies läßt sich schon an der Tatsache ablesen, daß die Ausführungen von Enneccerus — vor allem in der Bearbeitung von Nipperdey — in den Fußnotenapparaten der großen Lehrbücher und Kommentare und auch in der Rechtsprechung zumindest in grundsätzlichen Fragen immer noch einen sicheren Platz haben. Die für den Leser unreflektierte Rezeption der Rechtsscheinvollmacht durch Nipperdey hat somit durch die Autorität des Lehrbuches sicherlich zu einer rascheren Fortentwicklung der Grundsätze der Anscheinsvollmacht beigetragen 1 3 5 . Dies wird dadurch deutlich, daß Enneccerus /Nipperdey heute als 133 Enneccerus/Nipperdey, Lehrbuch des Bürgerl. Rechts, S. 563, Fn. 6, 13. Bearbeitung, 35.-39. Auflage 1931 . 134 Vgl. die Überraschung von Enneccerus im Vorwort der 6. Bearbeitung (9.-11. Auflage) von 1913 über die große Nachfrage . 135 Beispielsweise wird Enneccerus/Nipperdey in allen in dieser Arbeit behandelten Dissertationen zum Thema „ScheinVollmacht" für diese Auffassung zitiert, wobei nur Einzelne feststellen, daß Enneccerus noch der Gegenansicht zuzurechnen war; vgl. Hinkmann, Der Schutz des redlichen Dritten beim Abschluß von Rechtsgeschäften mit Nichtbevollmächtigten, S. 44, Fn. 18.
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Bestandteil der h M zur Anscheinsvollmacht gilt und folglich für sie zitiert wird 1 3 6 , dementsprechend also im Diskurs als Autorität herangezogen w i r d 1 3 7 . Historisch ist nun die Frage interessant, ob im Diskussionsprozeß zur Anscheinsvollmacht Gründe deutlich werden, die Nipperdey 1931 veranlaßt haben könnten, sich der Auffassung anzuschließen, die eine Anscheinsvollmacht befürwortete. War die Rechtsprechung etwa präziser geworden und betonte verstärkt den Gesichtspunkt des Rechtsscheins statt den der stillschweigenden Bevollmächtigung? Oder hatte sich zwischenzeitlich ein h M herausgebildet, der Nipperdey nicht entgegenstehen wollte? 2. Die Scheinvollmacht als Gewohnheitsrecht Die erste Feststellung einer h M zum Thema Scheinvollmacht ist 1929 von Heymann getroffen worden 1 3 8 , der den Gedanken der Anscheinsvollmacht als völlig feststehend bezeichnet und mit dem Prädikat „Gewohnheitsrecht" versieht. Heymann begnügt sich jedoch nicht mit diesem Hinweis, sondern versucht im folgenden mit ausführlichen Belegen aus der Literatur zu entwickeln, daß das Schrifttum fast einhellig der Rechtsprechung in der Anerkennung der Anscheinsvollmacht gefolgt sei. Seinen Ausführungen legt Heymann zugrunde, daß im deutschen bürgerlichen Recht das Prinzip des Rechtsscheins anerkannt sei. Heymanns Darstellung scheint ein geeigneter Ansatzpunkt für die Untersuchung autoritativer Argumente zu sein, obwohl nach methodischen Verständnis der Hinweis auf Gewohnheitsrecht nicht als autoritatives Argument, sondern als Hinweis auf eine unmittelbare Rechtsquelle gewertet werden müßte. Nach dem weiteren Verlauf der Ausführungen von Heymann ist aber anzunehmen, daß die Reklamation von Gewohnheitsrecht nicht unter diesen strengen methodischen Gesichtspunkten beurteilt werden kann, sondern unter der Prämisse gesehen werden muß, daß als Gewohnheitsrecht bezeichnet wurde, was im Gewand des Richterrechtes in der — noch heute vertretenen — Rechtsquellentheorie keinen legitimen Platz finden konnte 1 3 9 . Das Ringen um die Einordnung des Richterrechts, das sich nicht in das überkommene 136 Vgl. dazu in der modernen Literatur Münchener Kommentar/Thiele § 167, Rn. 43, Fn. 71; Soergel/Schultze-v. Lasaulx § 167, Rn. 17ff., 23; Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerl. Rechts, S. 597; Peters, AcP 179 (1979), S. 217, Fn. 12. 137 Es ist mit dieser Aussage nicht intendiert, Nipperdey nach dem „Arbeitsrechtskartell" auch noch für die Anscheinsvollmacht verantwortlich zu machen — aber: die Autorität der Person beschränkt ihre Wirkung wohl nicht auf einzelne Rechtsfragen. 138 Heymann, Wechselzeichnung der Sparkassen, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50 jährigen Bestehen des Reichsgerichts, Vierter Band, Handels -und Wirtschaftsrecht, S. 327. 139 Vgl. zur ungenauen Verwendung des Begriffes „Gewohnheitsrecht" zu legitimatorischen Zwecken Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: FS für Fritz von Hippel, S. 94,99 f. und 113 ff.; ablehnend zum Versuch, Gewohnheitsrecht durch Richterrecht begründen zu wollen Müller, „Richterrecht", S. 111 ff.
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Gewaltenteilungsschema einpaßt, führte zu Legitimationskrücken wie der Renaissance des Gewohnheitsrechtes, das angesichts der Positivierung des Privatrechts zwar nur noch kulturhistorischen Wert hatte 1 4 0 und praktisch gar nicht mehr vorkam, aber immerhin vom Gesetzgeber als Rechtsquelle anerkannt wurde 1 4 1 . Vor diesem Hintergrund läßt sich Heymanns „Gewohnheitsrecht" als autoritative Bezugnahme auf Rechtsprechung und Lehre im Sinne einer h M werten. Diese Argumentation soll im folgenden nachgezeichnet und hinsichtlich der Aussagekraft der Bezugnahmen analysiert werden; neben der Antwort auf die Frage, ob die Anscheinsvollmacht 1927 wirklich als „Gewohnheitsrecht" anzusehen war, ermöglicht die Analyse der Begründung von Heymann eine fast vollständige Literaturübersicht. Heymann führt als Protagonisten zunächst Schloßmann ins Feld, der sich gegen die Fiktion einer stillschweigenden Vollmacht ausgesprochen habe, wie sie in der Rechtsprechung bisher zum Ausdruck gekommen war 1 4 2 . Liest man bei Schloßmann nach, so ist festzustellen, daß dieser wirklich in schärfster Form gegen jene Fiktion polemisiert: die stillschweigende Vollmacht sei ein „wesenloser Scheinbegriff" 143 , die ihre richtige Erklärung in der „künstlichen Gestaltung des Beweisrechtes" finde 144. Schloßmann unternimmt jedoch keinen Versuch, eine Haftung des Geschäftsherrn aus dem Anschein eines Vertretungsverhältnisses zu begründen, sondern verbleibt bei seiner eigenwilligen These des gesteigerten Beweises145. Als Beleg für die gewohnheitsrechtliche Bedeutung des Vertrauensschutzprinzips ist Schloßmann insoweit ungeeignet. Als weiteren Repräsentanten des Vertrauensschutzes führt Heymann Hupka an. Hupka spricht an der zitierten Stelle explizit vom „Schein" des Verhaltens des Vertretenen, rekurriert dabei aber wieder auf die anfangs von Heymann 1 4 0 verworfene Fiktion der stillschweigenden Bevollmächtigung 147 . Insoweit ist die Auffassung von Hupka nach heutigem Verständnis, dem wie bei Heymann eine dogmatische Differenzierung zugrunde liegt, inkonsequent, mithin also ein mäßiger Beleg für die These Heymanns.
140
Vgl. zu dieser Einschätzung Staudinger/Coing, Einleitung, Rn. 228 f. Vgl. zu den historischen Befunden Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 107109 und 130 ff. 142 Heymann, Wechselzeichnung der Sparkassen, S. 327. 143 Schloßmann, Die Lehre von der Stellvertretung, Band II, Versuch einer wissenschaftlichen Grundlegung, Leipzig 1902, S. 500. 144 Schloßmann, Stellvertretung II, S. 504. 145 Schloßmann, Stellvertretung II, S. 504, Fn. 1. 146 Heymann, Wechselzeichnung der Sparkassen, S. 327: „Es ist nach dem Gesagten klar, daß diese nicht fiktiv durch eine stillschweigende Vollmachterklärung abgegeben werden kann.". 147 Hupka, Die Vollmacht, Leipzig 1900, S. 119, insbesondere S. 120. 141
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Heymann offenbart auch im folgenden nicht, daß die von ihm herangezogenen Autoren untereinander keineswegs gleicher, ja nicht einmal ähnlicher Ansicht waren. So hat Schloßmann in schärfster Form gegenüber Hupka Stellung genommen: „Völlig unklar und widerspruchsvoll sind auch in dieser Frage (der Frage der stillschweigenden Bevollmächtigung, T.D.) die Ausführungen von H u p k a " 1 4 8 . Dabei überschreitet Schloßmann das, was man als guten Geschmack bezeichnen könnte: „Ich glaube nicht, daß weit und breit in der gesamten juristischen Literatur so bodenlose, leichtfertige und zu so völlig verkehrten praktischen Konsequenzen führende Behauptungen, wie Hupka sie hier in die Welt gesandt hat, sich zum zweiten Male werden finden lassen" 149 . Angesichts dieser Kritik erscheint die These Heymanns vom Gewohnheitsrecht wenig überzeugend 150 . Unverständlich als Beleg für diese These ist deshalb auch der Verweis auf Ehrlich 1 5 1 , der sich in einer Monographie zwar ablehnend mit der auch von Heymann verworfenen Theorie der stillschweigenden Willenserklärung befaßt hatte, aber keine Stellung zur Scheinvollmacht nahm. Für die gewohnheitsrechtliche Geltung der Anscheinsvollmacht bezieht sich Heymann weiterhin auf die anfangs schon untersuchte Textstelle bei Dernburg; wie dort schon ausgeführt, ist der systematische Zusammenhang der Ausführungen Dernburgs nicht dazu angetan, diesen als Vorreiter eines Rechtsscheinprinzips anzuerkennen; Dernburg beschäftigt sich an der Stelle, auf die Heymann sich bezieht, mit der Frage der abstrakten Vollmacht. Beiläufig erwähnt Dernburg, daß sich aus der Anerkennung der Haftung des Geschäftsherrn für einen Angestellten auch bei nichtigem Dienstvertrag kein Argument für die Abstraktheit der Vollmacht gewinnen lasse, da diese Haftung vornehmlich auf Treu und Glauben beruhe 152 . Auf eine andere dogmatische Weise verfolgt der ebenfalls von Heymann zitierte Isay den Schutz des gutgläubigen Dritten 1 5 3 , den er auf ein „objektiviertes Gestionsverhältnis" stützt. Dabei schränkt Isay jedoch ein, daß diese Grundsätze nicht anwendbar seien, wenn das tatsächliche Verhältnis zwischen Geschäftsherr und Vertreter erloschen sei 154 . 148
Schloßmann, Stellvertretung II, S. 508. Schloßmann, Stellvertretung II, S. 510; bei der Bewertung dieser Polemik darf nicht übersehen werden, daß Schloßmann als ein Wegbereiter der Freirechtsschule gilt und bei seinen dogmatischen Ausführungen methodische Anliegen und Kontroversen berücksichtigt, die wohl dazu führen, das als „begriffsjuristisch" verschrieene Werk Hupkas zu diskreditieren. 150 Vgl. kritisch zu Hupka aus prozessualer Sicht auch Hellwig, ZZP 29 (1901), S. 520535 sowie Kipp, ZHR 57 (1906), S. 214ff., der jedoch Hupkas Kritik an Schloßmann stützt. 151 Ehrlich, Die stillschweigende Willenserklärung, Berlin 1893. 152 Dernburg, Bürgerl. Recht, § 163 V. 153 Isay, Die Geschäftsführung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich, in: Abhandlungen zum Privatrecht und Zivilprozeß des Deutschen Reiches, 6. Band, Jena 1900, S. 238 ff. 149
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Eine sachliche Stütze für den Vertrauensschutz findet Heymann hingegen in Rümelin, der dieses Prinzip zuläßt, wenn aus „den Umständen zu entnehmen war, daß irgendwann einmal eine bestimmte Vollmacht erteilt worden sei" 1 5 5 . Allerdings ist argumentativ hier interessant, daß Rümelin sich scharf gegen Schloßmann ausspricht, und in Hinblick auf die von Heymann zitierte Passage bei Schloßmann anmerkt, daß der dort angeschlagene Ton in keiner Weise gerechtfertigt sei, „der sich wohl nur durch eine anläßlich der ungünstigen Aufnahme der eigenen Arbeit entstandene Gereiztheit erklären läßt" 1 5 6 . Für Heymanns These ohne Beweiswert bleibt ein Hinweis auf Manigk, der zwar in großen Zügen ausführt, daß die Verantwortlichkeit für einen äußeren Schein in einer Schuldhaftung zu sehen sei 1 5 7 , aber für das Vertretungsrecht explizit keine Stellung nimmt. Auch aus dem Zusammenhang der Darlegungen Manigks, der sich allgemein mit Willenserklärungen befaßt, läßt sich kein Beleg für die Ausführungen Heymanns ablesen. Angesichts weiterer Ausführungen Manigks zu einem späteren Zeitpunkt, in denen er sich in vehementer Form gegen ein Rechtsscheinprinzip ausspricht, kann eine Übereinstimmung zwischen Heymann und Manigk nicht konstatiert werden 158 . Als ein echter Vertreter des Vertrauensschutzprinzips wird Wellspacher von Heymann zitiert. Wellspacher nimmt ausführlich zum Vertrauensschutz Stellung, indem er zunächst die dogmatische Herleitung der Haftung des angeblich Vertretenen aus stillschweigender Vollmachterteilung kritisiert 1 5 9 . Dabei setzt sich Wellspacher intensiv mit den literarischen Auffassungen auseinander, wobei er insbesondere Schloßmann vorwirft, daß seine „willkürliche Beweistheorie" 160 abzulehnen sei. Wellspacher pflichtet auch Rümelin nicht bei, da er die Analogie zu § 171 BGB als einen Fall der stillschweigenden Vollmachtkundgebung für einen „etwas gewaltsamen Gedankengang" hält 1 6 1 . Im folgenden setzt sich Wellspacher noch mit Dernburg, Isay und Seeler sowie mit Hupka auseinander, deren Überlegungen er jeweils — mit Ausnahme von Dernburg — dogmatisch für nicht ausgereift hält 1 6 2 . Es zeigt sich also, daß Wellspacher zwar ein eindeutiger Verfechter des Vertrauensschutzes ist, es wird jedoch auch deutlich, daß Heymanns Versuch, 154
Isay, Geschäftsführung, S. 240. Rümelin, Das Handeln in fremdem Namen im BGB, AcP 93 (1902), S. 301. 156 Rümelin, AcP 93 (1902), S. 293 Fn. 1. 157 Manigk, Irrtum und Auslegung, Berlin 1918, S. 250. 158 Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten im Handelsrecht, in: Beiträge zum Wirtschaftsrecht, hrsgg. von Heymann, Arbeiten zum Handels-Gewerbe- und Landwirtschaftsrecht, Nr. 62, II. Band, S. 590ff. 155
159
Wellspacher, 1906, S. 97 f. 160 Wellspacher, 161 Wellspacher, 162 Wellspacher,
Das Vertrauen auf äußere Tatbestände im bürgerlichen Rechte, Wien Vertrauen, S. 99. Vertrauen, S. 100. Vertrauen, S. 102-111.
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einen durchgängigen Beleg für das von ihm reklamierte Gewohnheitsrecht in der Frage der Scheinvollmacht zu liefern, aufgrund der dogmatischen Unterschiede zwischen den Diskutanden, die im Rahmen der Arbeit von Wellspacher sehr deutlich herausgearbeitet werden, nicht als geglückt bezeichnet werden kann. Heymann nimmt weiterhin auf Regelsberger Bezug, der sich mit der Frage des „äußeren Schein(s)" auseinandersetzt und dabei auf der Schrift von Wellspacher aufbaut. Regelsberger führt aus 1 6 3 , daß er selbst eine „Mittelstellung" in der Frage des Vertrauensschutzes einnehme, die er schon früher geäußert habe 1 6 4 , die jedoch im BGB nicht ausdrücklich anerkannt sei. Regelsberger begründet die Anwendung der Vertrauensgrundsätze hinsichtlich der Fortdauer der Vollmacht auch auf deren Entstehen mit der Aufgabe der Jurisprudenz, diese Lücke im Gesetz zu füllen. Was Heymann mit der Formulierung, Regelsberger habe die Notwendigkeit der Anerkennung einer Scheinvollmacht in „scharfer Form dargelegt", meint, bleibt unklar, denn eine ausführliche Begründung gibt Regelsberger nicht, sondern es geht ihm in dem gesamten Aufsatz vornehmlich um die Möglichkeiten der Rechtsprechung für die Rechtsfindung, insbesondere die Rechtsfortbildung 165 . Als Bilanz der Literaturanalyse ist festzustellen, daß Heymanns Vorhaben, Vertreter für das Prinzip des Vertrauensschutzes darzulegen, keineswegs als gelungen bezeichnet werden kann, bedenkt man, mit welchem Anspruch er die Arbeit aufgenommen hatte. Die Nachprüfung hat ergeben, daß von einem völlig feststehenden Satz — gar einer gewohnheitsrechtlichen Anerkennung — der Scheinvollmacht zum damaligen Zeitpunkt nicht ausgegangen werden kann, sondern vielmehr eine große argumentative Vielfalt bestand, die sich nicht nur auf die dogmatische Rechtfertigung der Scheinvollmacht bezog, sondern hinsichtlich des Umfanges und der Grenzen einer solchen Vollmacht wurde ebenfalls lebhaft diskutiert. Heymann hindert jedoch die geringe Beweiskraft seiner Belege für die aufgestellten Thesen nicht an der Formulierung der Forderung nach einer allgemeinen Anerkennung des Vertrauensschutzprinzips für das gesamte bürgerliche Recht: „ .... die Analogie der §§172, 171 BGB kommt mit gleichem Grunde für alle Vertretungsverhältnisse in Betracht und die angegebene Literatur des bürgerlichen Rechts läßt auch keinen Zweifel darüber, daß sie allgemeingültige privatrechtliche Gedanken darlegen will (so Rümelin, Wellspacher, Regelsberger I.e. usw.)" 1 6 6 .
163 Regelsberger, Gesetz und Rechtsanwendung, in: Iherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts, Bd. 58 (1911), S. 164. 164 Er verweist dabei auf die Münchner KrVJSchr Bd. 47, Heft 4, S. 290, eine Stelle, die Heymann auf S. 327 Fn. 64 seiner Ausführungen ebenfalls als Beleg verwendet. 165 Vgl. dazu Regelsberger, Gesetz und Rechtsanwendung, in: Dogm. Jahrb. 58, S. 146f.; Regelsberger hatte als Freirechtler daran natürlich großes Interesse. 166 Heymann, Wechselzeichnung der Sparkassen, S. 331.
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Diskussion zur Anscheinsvollmacht
Diese These ist schon nach der bisher vorgenommen Überprüfung zweifelhaft; bestärkt werden diese Zweifel, unterzieht man sich der Mühe, die weiteren Zitate nachzulesen. Gegen die Allgemeingültigkeit der Grundsätze der Anscheinsvollmacht spricht schon, daß Heymann speziell handelsrechtliche Literatur nennt: Titze und Schmidt-Rimpler hätten sich gegen die Fiktion einer stillschweigenden Vollmacht ausgesprochen 167, was den Schluß nahelegt — der nicht explizit formuliert wurde —, daß sie Vertreter des Vertrauensschutzes seien. Dies trifft für Schmidt-Rimpler z u 1 6 8 , der sich auf die schutzwürdige Überzeugung des Dritten bezieht. Schmidt-Rimpler führt jedoch in einer Fußnote aus 1 6 9 , daß auf die bürgerlich-rechtlichen Probleme der Vollmachtserteilung nicht einzugehen sei. In Verbindung mit den weiteren Ausführungen, die sich nur auf die Vollmacht des Handlungsagenten beziehen, läßt sich schließen, daß Schmidt-Rimpler seine Darlegungen hauptsächlich auf das Handelsrecht bezieht und ihnen keine Allgemeingültigkeit beimißt. In dieser Frage äußert sich auch der weiterhin zitierte Titze 1 7 0 nicht explizit. Er geht auf die stillschweigende Bevollmächtigung ein und erörtert diese im Zusammenhang mit den §§ 171 ff. BGB sowie § 54 HGB; eine Begründung für diese Art der Bevollmächtigung wird nicht gegeben, sondern allein auf die bisherige Rechtsprechung in dieser Frage verwiesen 171 . Aus späteren Ausführungen von Titze kann man jedoch ohne Mühe erkennen, daß er insgesamt eine ganz andere Auffassung als Heymann vertritt; Titze kann als ein Vorläufer der heute ebenfalls aktuellen Meinung angesehen werden, die die Sachverhalte der Scheinvollmacht durch die Figur der culpa in contrahendo mit einem Schadensersatzanspruch auf das negative Interesse löst 1 7 2 . Wenig aussagekräftig ist auch der Hinweis von Heymann auf MüllerErzbach, der für das gesamte Kapitel „Handlungsbevollmächtigte" auf Titze verweist, und das Problem der stillschweigenden Bevollmächtigung allein unter Hinweis auf die Rechtsprechung und Wellspacher bearbeitet 173 , in einer anderen Arbeit jedoch Scheinvollmacht durch Fernsprecheranschluß ablehnt 174 . Auch aus dieser Fundstelle ergibt sich also kein Indiz für eine Allgemeingültigkeit der Anscheinsvollmacht. Mithin ist festzustellen, daß Heymann seine These in 167
Heymann, Wechselzeichnung der Sparkassen, S. 328. Schmidt-Rimpler, Der Handlungsagent, in: Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, 5. Bd., 1. Abt., 1. Hälfte, S. 220. 169 Schmidt-Rimpler, in: Ehrenbergs Handbuch, S. 220 Fn. 8. 170 Titze, Die Handlungsvollmacht, in: Ehrenbergs Handbuch II, S. 956 f. 171 Titze, in: Ehrenbergs Handbuch II, S. 956f., Fn. 40-44. 172 Vgl. Titze, JW 1925, 1753. 173 Müller-Erzbach, Deutsches Handelsrecht, 2. und 3. Auflage, Tübingen 1928, S. 128 ff. 174 Vgl. Müller-Erzbach, Gefährdungshaftung und Gefahrtragung, in: AcP 106 (1910), S. 441. 168
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keiner Weise argumentativ untermauern konnte; die von ihm für eine Allgemeingültigkeit der Grundsätze der Scheinvollmacht ins Feld geführte Literatur hat sich gerade mit dieser Frage nicht beschäftigt. Dies wurde in einer späteren Arbeit von Macris ausdrücklich festgestellt, der der „herrschenden Lehre" im Jahre 1941 vorwirft, sie gehe von einer allgemeinen Anwendbarkeit der Grundsätze der stillschweigenden Vollmacht aus, „ohne sie jedoch überzeugend begründet zu haben" 1 7 5 3. Die Gegenmeinung und die anschließende Diskussion Die Gegenmeinung wird bei Heymann nur kurz zitiert: „Die Verwendung des Vertrauensschutzes bekämpft haben aber besonders der Plancksche Kommentar und wohl auch Enneccerus. Jedoch mit Unrecht" 1 7 6 . Der Hinweis von Heymann auf eine Gegenmeinung relativiert aufs Neue seine These vom Gewohnheitsrecht. Versteht man nämlich unter Gewohnheitsrecht eine allgemein anerkannte rechtliche Übung 1 7 7 , so deuten diese beiden abweichenden Auffassungen an, daß eine allgemeine Übereinstimmung nicht erreicht ist. Zudem übersieht Heymann, daß beide Autoren sich von den bislang Zitierten nicht wesentlich unterscheiden: sie erkennen eine stillschweigende Bevollmächtigung an, sprechen sich allerdings vehement gegen einen durch Rechtsanalogie oder Gesetzesanalogie begründeten Vertrauensschutz aus. Insofern stehen Enneccerus und Planck in einer Reihe etwa mit Hupka, Manigk, Titze und v. Tuhr. Auch andere Stimmen in der Literatur, die von Heymann nicht erwähnt wurden, übten in der Frage des Vertrauensschutzes große Zurückhaltung. So hat sich Oertmann gegenüber vermuteten Vollmachten mit starken Bedenken geäußert und ausgeführt, daß sich derartige Überlegungen „nur auf ziemlich prinziplose Billigkeitserwägungen stützen" 178 und im übrigen rechtspolitisch „unannehmbar" seien. Insbesondere hat sich Oertmann gegen eine Geltung der „vermuteten" Vollmacht für das „außerhandelsrechtliche Gebiet als gänzlich beweislos" gewandt. In einer späteren Abhandlung setzt sich Oertmann ausführlich mit dem Rechtsscheinprinzip auseinander und tendiert unter kritischen Anmerkungen zu einer differenzierenden Anerkennung 179 .
175
Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, Marburg 1941, S. 207, Fn. 3. Heymann, Wechselzeichnung der Sparkassen, S. 328. 177 Vgl. hierzu Staudinger/Coing, Einleitung, Rn. 228 f. und zum Begriff Rn. 234; Coing diskutiert ablehnend die Versuche, zu denen Heymanns These wohl zu rechnen ist, eine länger andauernde Rechtsprechung als Gewohnheitsrecht anzusehen; ebenso Müller, „Richterrecht", S. 111 ff. 176
178 179
470 ff.
Oertmann, BGB-Kommentar, § 167, 4., 3. Auflage, Berlin 1927. Vgl. Oertmann, Grundsätzliches zur Lehre vom Rechtsschein, Z H R 95 (1930), S.
. Die h
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Diskussion zur Anscheinsvollmacht
Die extensive Interpretation des Vertrauensschutzes, wie sie Heymann betreibt, wird von vielen Stimmen abgelehnt, auch von solchen Autoren, die prinzipiell eine Haftung des angeblich Vertretenen in bestimmten Fällen für wünschenswert halten. Dies wird in der Kommentierung von Riezler deutlich, der zunächst feststellt, daß es die herrschende Lehre sei, die eine Vollmachterteilung im Rahmen einer Willenserklärung durch schlüssiges Verhalten für möglich erachte 180 . Für diese Behauptung finden sich keine Belege bei Riezler; es ist also nicht überprüfbar, welche Autoren er für die herrschende Lehre heranzieht. Durch die Feststellung einer hL wird jedoch abermals der Zweifel an einer gewohnheitsrechtlichen Anerkennung des Vertrauensschutzprinzips bestärkt. Inhaltlich entwickelt Riezler die Auffassung, daß die Konstruktion der stillschweigenden Vollmacht gezwungen, sondern vielmehr die äußere Stellung des Vertreters der Schutztatbestand für den gutgläubigen Dritten sei. Dies entspricht insoweit dem Vertrauensschutzgedanken wie ihn Wellspacher und Heymann dargelegt haben. Allerdings wird der Anwendungsbereich im Vergleich zum allgemeinen Geltungsanspruch, den Heymann vertritt, insofern relativiert, als Riezler dies „namentlich auf dem Gebiete des Handelsverkehrs" für relevant hält. Auffallend ist auch hier, daß eine vermutete Vollmacht abgelehnt wird 1 8 1 . Heymann hat also weit überzogen, wenn er für seine Auffassung eine nur durch wenige Stimmen kritisierte Übereinstimmung reklamierte. Dies wird deutlich, wenn man die Literatur der auf Heymanns Aufsatz folgenden Jahre betrachtet. Der von Heymann für das Vertrauensschutzprinzip zitierte Manigk veröffentlichte 1931 eine Arbeit, in der er das Vertrauenschutzprinzip kritisierte 182 . Bemerkenswert ist, daß Manigk — wiewohl er sich nachher in eine intensive theoretisch-dogmatische Auseinandersetzung begibt, zunächst den theoretischen Meinungsstreit als unergiebig einschätzt: „Gegenüber unergiebigem theoretischen Streit hat sich die Arbeit am lebenswahren Stoff der Rechtsprechung oft als fruchtbarer erwiesen" 183 . Anschließend bestreitet Manigk, daß es ein Rechtsscheinprinzip in der Form gebe, wie es für die Scheinvollmacht teilweise reklamiert werde. Manigk sieht den Rechtsschein vielmehr als Ausnahme a n 1 8 4 und formuliert, daß es 180 v 1925. 181
g L
Staudinger /Riezler § 167, Rn. 5, 9. Auflage, München, Berlin und Leipzig
Staudinger/Rietzler § 167, Rn. 7, 9. Auflage, München, Berlin und Leipzig 1925. Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten im Handelsrecht, in: Beiträge zum Wirtschaftsrecht, hrsg. von Heymann, Arbeiten zum Handels-Gewerbe- und Landwirtschaftsrecht, Nr. 62, II. Band, S. 590ff. 183 Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten, S. 591. 184 Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten, S. 596 f. 182
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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„entblößten Vertrauensschutz .... nur in primitiven Epochen der Rechtsgeschichte" gegeben habe 1 8 5 . Die dogmatische Betrachtung der stillschweigenden Vollmacht mündet anschließend in eine Auseinandersetzung mit Wellspacher, der nach Ansicht von Manigk noch auf „sehr unvollkommener Grundlage" gearbeitet habe 1 8 6 , weil von ihm insbesondere die Kategorie „Wille" nicht anerkannt worden sei. Gegen Wellspachers Ansichten zur Bedeutung der Willenserklärung führt Manigk Enneccerus ins Feld, der die Auffassung Wellspachers zu diesem Punkt ebenfalls nicht teile 1 8 7 . Die Kritik an Wellspacher gipfelt darin, daß Manigk ihm eine „den Vertrauenschutz überspannende(n), stark gesetzesfeindliche(n) Einstellung gegenüber der Regelung der Willensmängel" vorwirft 1 8 8 . Die weiteren Ausführungen Manigks führen zu einer Grundlegung der stillschweigenden Vollmacht im Prinzip der Willenserklärung 189 , wobei im Verlaufe der Ausführungen alle Vertreter eines, selbst begrenzten, Rechtsscheinprinzips von Manigk kritisiert werden. So bemerkt er zu Dernburg, der vielfach als erster Vertreter des Vertrauenschutzes bei der Vollmacht angesehen wird, daß dieser den Vertrauensgesichtspunkt durch den Rückgriff auf Treu und Glauben bedenklich übersteigere 190, so daß die Grundlagen seiner Lehren zur Schein Vollmacht „nicht brauchbar" seien. Verhaltener klingt da die Kritik an Heymann, dem Manigk zuallererst bescheinigt, daß er eine „tiefgreifende Untersuchung" angestellt habe 1 9 1 , bevor dann das gerade von Heymann propagierte Vertrauensschutzprinzip detailliert bekämpft wird. Selbst bei offenen Gegensätzen bleibt die Kritik aber merkwürdig zurückhaltend; nur zwischen den Zeilen ist lesbar, daß Heymann nach Ansicht Manigks die Fälle der „Scheinvollmacht" fälschlicherweise aus dem Gebiet der Willenserklärung ausscheidet192. Die Gründe für diese verhaltene Kritik sind nur zu vermuten, doch es drängt sich der Verdacht auf, als habe Manigk auf die veröffentlichte wissenschaftliche Meinung Heymanns deshalb Rücksicht genommen, weil er seinem Herausgeber nicht die gleiche Polemik wie anderen zumuten wollte 1 9 3 . 185
Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten, S. 598. Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten, S. 601. 187 Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten, S. 601, Fn. 19 mit Hinweis auf Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerl. Rechts, § 73 I I 3. 186
188 Manigk, Stillschweigend bewirkte Vollmachten, S. 608; nach Einschätzung von Demelius, M. Wellspachers Vollmachtslehre, in: AcP 153 (1954), S. 11 ist Manigk für Wellspacher kein „großzügiger Gegner" gewesen. 189
Manigk, Stillschweigend bewirkte Manigk, Stillschweigend bewirkte 191 Manigk, Stillschweigend bewirkte 192 Manigk, Stillschweigend bewirkte völlig neutral als Belegstelle gehalten ist. 190
Vollmachten, Vollmachten, Vollmachten, Vollmachten,
S. 640. S. 634. S. 590. S. 643, vgl. auch dort Fn. 84, die
193 Interessanterweise werden Heymann, Manigk, Krause (1933) bei Lehmann, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 5. Auflage, Berlin 1947, § 36 V 2, S. 240,
4 Drosdeck
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. Die h
Diskussion zur Anscheinsollmacht
Für den Verlauf der Entwicklung der Anscheinsvollmacht unter h M Gesichtspunkten wird jedoch durch die Arbeit von Manigk deutlich, daß die Behauptung Heymanns vom Gewohnheitsrecht Scheinvollmacht nicht haltbar ist. Dies beweist auch die von Hermann Krause 1933 veröffentlichte Habilitationsschrift „Schweigen im Rechtsverkehr" 194 , die sich ebenfalls mit dem Problem der stillschweigenden Bevollmächtigung auseinandersetzt. A n dieser Veröffentlichung ist vorab interessant, daß sie gleichfalls in der von Heymann herausgegebenen Schriftenreihe „Arbeiten zum Handels-, Gewerbe- und Landwirtschaftsrecht" erschienen ist. Inhaltlich führt Krause aus, daß die stillschweigende Bevollmächtigung von der Rechtsprechung aus einer aus dem Dulden konstruierten Willenserklärung entwickelt worden sei. Bemerkenswert ist, daß Krause einen Wandel in der Begründung der Rechtsprechung konstatiert, die nunmehr die Vollmacht verstärkt aus dem äußeren Schein herleite. „Unter Zurückdrängung des konstruktiven Elementes der aus dem Verhalten erschlossenen Willenserklärung wird der Ton hauptsächlich auf den äußeren Schein gelegt, dem man soll trauen dürfen" 1 9 5 . Es sei eine Entwicklung festzustellen, weg von der Willenserklärung hin zur Haftung aufgrund des äußeren Scheins 196 . Kurz darauf schildert Krause aber, daß diese Entwicklung schon wieder eine rückläufige Tendenz erfahre, da die Rechtsprechung zunehmend die Scheinvollmacht restriktiv interpretiere 197 . Obwohl Krause die dogmatische Vielfalt bei der Begründung der Scheinvollmacht erkannt und dargestellt hat, führt er dennoch aus, daß „in der Literatur die Vollmacht kraft Duldung überall Anerkennung gefunden" 198 habe, eine Behauptung, die in der Fußnote im wesentlichen auf die gleichen Autoren gestützt wird, die schon Heymann für seine Thesen herangezogen hatte. Es kann deshalb ohne nochmalige Überprüfung der angegebenen Literatur auch Krause der Vorwurf gemacht werden, daß er die oftmals stark divergierenden Begründungsversuche der einzelnen Autoren vernachlässigt 199 , wenn er für die Vollmacht „kraft Duldung" in der von ihm vorgestellten Form als Scheinvollmacht eine allgemeine Anerkennung reklamiert. Dies wird in den Ausführungen von Krause selbst deutlich, der davon gesprochen hatte, daß hinsichtlich der Scheinvollmacht die „Dinge .... noch im F l u ß " 2 0 0 seien. Insoweit relativiert Krause die Aussage über die allgemeine Anerkennung schon im Vorfeld. Er relativiert damit aber auch zusätzlich die Aussagen von Heymann, der die gemeinsam für die Scheinvollmacht aufgeführt; so auch weiter in der 6., 7. und 8. Auflage; man sieht: die Unterschiede verwischen mit der Zeit. 194 195 196 197 198 199 200
Krause, Schweigen Krause, Schweigen Krause, Schweigen Krause, Schweigen Krause, Schweigen Hierfür ist Manigk Krause, Schweigen
im Rechtsverkehr, im Rechtsverkehr, im Rechtsverkehr, im Rechtsverkehr, im Rechtsverkehr, das beste Beispiel. im Rechtsverkehr,
Marburg 1933. S. 26. S. 29. S. 32. S. 34. S. 31.
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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Scheinvollmacht ja schon als Gewohnheitsrecht angesehen hatte. Darüber hinaus stellt Krause fest, daß die Grundsätze der Scheinvollmacht nur zögernd über den Bereich des Handelsrechtes hinaus in das bürgerliche Recht Eingang fanden 201 . Dies reduziert aufs Neue den rhetorisch autoritären Machtanspruch der Thesen Heymanns. Krause selbst vertritt in dieser Frage die Meinung, daß die Scheinvollmacht nur im Handelsrecht anzuwenden sei, da er die dogmatische Anknüpfung in § 56 HGB sieht und eine ähnliche Gestaltung dem „bürgerlichen Recht fremd" 2 0 2 sei. Es läßt sich also auch für das Jahr 1933 festhalten, daß zwar auf dogmatischer Seite der Versuch unternommen wird, das ihm Rahmen der Scheinvollmacht oder Duldungsvollmacht bzw. stillschweigenden Bevollmächtigung gewünschte Ergebnis in seiner Herleitung einer bestimmten Zuordnung zu unterziehen, jedoch weiterhin die Auseinandersetzung der unterschiedlichen Begründungen stattfindet. Zur Frage des Umfanges und der Reichweite der „Grundsätze" der Scheinvollmacht herrscht noch völlige Unklarheit. Die unterschiedlichen Begründungen werden deutlich, wenn man die Kommentarliteratur betrachtet, denn hier spielt die stillschweigende Bevollmächtigung eine sehr große Rolle. Dies hängt augenscheinlich damit zusammen, daß die Kommentare sich stärker an der Rechtsprechung orientieren (müssen!), die — wie schon angesprochen — bislang ein Durcheinander von Begründungen in den einschlägigen Sachverhalten veröffentlicht hat. Diese Orientierung wird naturgemäß besonders deutlich bei R G R K / D e g g 2 0 3 , der die Reichsgerichtsrechtsprechung referiert und ausführt: „Auch stillschweigende Erklärungen, insbesondere die Duldung eines bestimmten Verhaltens des Vertreters können ausreichen, um die Erteilung einer Vollmacht anzunehmen. Dabei kommt es aber weniger darauf an, ob der Vertretene das Verhalten des Vertreters wirklich gekannt und geduldet hat, als vielmehr darauf, ob das Verhalten des Vertreters von dem mit ihm verhandelnden Dritten nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte dahin gedeutet werden durfte, daß der Vertretene von dem Verhalten des Vertreters Kenntnis haben müsse und es dulde." Diese Textpassage veranschaulicht die Vermischung von fiktiver Willenserklärung und dem Vertrauensschutzprinzip und widerlegt die Stimmen, die für die eine oder andere Herleitung schon eine h M ausgemacht hatten. Daß zumeist nur das Ergebnis, eine Haftung des angeblich Vertretenen, und nicht die dogmatische Fundierung Anerkennung findet, läßt sich auch bei Soergel/Keßler 204 überprüfen, der vornehmlich die Duldungsvollmacht vorstellt und dies mit dem Treu-und-Glauben-Prinzip verbindet, allerdings an anderer Stelle formuliert: „Wer aber eine Person nach außen hin in eine Stellung 201 202 203 204 4*
Krause, Schweigen im Rechtsverkehr, S. 39. Krause, Schweigen im Rechtsverkehr, S. 156. RGRK/Degg § 167, 1., 6. Auflage, Berlin und Leipzig 1928. Soergel/Keßler, § 167, Rn. 4, 4. Auflage, Stuttgart 1929.
52
. Die h
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bringt, die sie als Bevollmächtigten erscheinen läßt, muß die Rechtshandlungen gegen sich gelten lassen" 205 . Anschließend folgt eine Vielzahl von Rechtsprechungshinweisen. Stellt man die beiden Kommentarstellen gegenüber, so findet man die Positionen wieder, die in der Rechtsprechung bisher geäußert wurden: hier stehen nach wie vor Duldungsvollmacht, stillschweigende Bevollmächtigung und Rechtsscheinvollmacht nebeneinander, ohne daß dogmatische Bedenken laut werden. Dies rezipiert die Kommentierung, ohne die dogmatischen Widersprüche aufzulösen. Ähnlich verwirrend ist die Kommentierung bei Warneyer gestaltet 206 , der 1930 wie in der vorhergehenden Auflage von 1923 eine stillschweigende Vollmacht aus den Umständen mit der äußeren Stellung des Vertreters und dem daraus folgenden Schluß auf eine Bevollmächtigung gleichsetzt. Eine begriffliche Weiterentwicklung läßt sich erst 1936 bei Larenz erkennen, der die Scheinvollmacht eine „Vertretungsmacht aufgrund rechtswirksamen Anscheins einer Vollmachtserteilung" 207 nennt. Krause ist also durchaus zuzustimmen, wenn er 1933 feststellt, daß die Dinge noch im Fluß sind. 4. Die Anscheinsvollmacht in Dissertationen Immerhin erfreut sich in der Zwischenzeit die Thematik lebhaften wissenschaftlichen Interesses, das sich vor allem in einer Vielzahl von Dissertationen niedergeschlagen hat. Die Dissertationen entbehren generell der Originalität, sondern sind vielmehr nach einem — man ist versucht zu sagen — Einheitsschema aufgebaut, dessen Ausgangspunkt meist eine Kritik der als herrschend angesehenen Meinung der stillschweigenden Bevollmächtigung ist und mit einer Darstellung der als Rechtsscheinvorschriften aufgefaßten Tatbestände der §§ 170 ff. BGB und 54,56 HGB fortgesetzt wird. Die herrschende Meinung wird in diesen Arbeiten als Anknüpfungspunkt für die eigene dissentierende Auffassung verwendet, gewissermaßen als Strukturformel für die innovativen Ausführungen 208 . Unklar bleibt jedoch, wie die Autoren zu dem Schluß kommen, es existiere eine h M für die stillschweigende Bevoll205
Soergel/Keßler, § 164, Rn. 3; dieses Zitat ist identisch mit der 2. Auflage von 1923. Warneyer, § 167 II, 2. Auflage, Tübingen 1930. 207 Larenz, Karl, Vertrag und Unrecht, 1. Teil: Vertrag und Vertragsbruch, Hamburg 1936, S. 94, 98 f.; abgesehen von der Terminologie im Zusammenhang mit der Anscheinsvollmacht ist dieses Buch ein interessantes zeitgeschichtliches Dokument. 208 Vgl. beispielhaft Kraus, Der Schutz des Vertrauens auf den „äußeren Tatbestand" im Stellvertretungsrecht des bürgerlichen Gesetzbuches, S. 5; Grüter, Stillschweigende Bevollmächtigung und Scheinvollmacht im Rechtsverkehr der Sparkassen, S. 44; Erbach, Die stillschweigende Vollmachterteilung, S. 16; Hinkmann, Der Schutz des redlichen Dritten beim Abschluß von Rechtsgeschäften mit Nichtbevollmächtigten, S. 44. 206
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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mächtigung; h M wird nicht abgezählt, sondern offensichtlich als institutioneller Ansatz für die abweichende Meinung unterstellt. Die meisten Autoren führen inhaltlich aus, daß die stillschweigende Bevollmächtigung eine Rechtsscheinvollmacht sei, die im geltenden Recht mittels einer Rechtsanalogie verankert werden könne. Dieses Schema wird verfolgt von Meyer 2 0 9 und Ehlerding 210 , der von dem allgemeinen Rechtsprinzip der Scheinvollmacht ausgeht, von Vollmers 211 und Schmidt-Colinet 212 , die im gleichen Jahr bei Oertmann in Göttingen mit fast identischen Arbeiten die Doktorwürde erlangten. Entsprechend dem obigen Schema verfahrt auch Knief, der seine Begründung vorwiegend auf Treu und Glauben stützt 2 1 3 . Etwas andere Akzente setzt Erbach, der als Schüler Manigks den Begriff stillschweigende Vollmachterteilung beibehält, diesen jedoch mit Vertrauensschutzgedanken und einer Rechtsanalogie kombiniert 2 1 4 , um festzustellen, daß die stillschweigende Bevollmächtigung keine echte Willenserklärung sei, sondern ein „typisches Verhalten mit normierter Wirkung" 2 1 5 . Diese Arbeit baut vollständig auf der Meinung von Manigk auf, wie sie von ihm in früheren Publikationen vertreten wurde. Die Reihe dieser Dissertationen bis 1933 wird abgeschlossen von Hinkmann, dessen von Nipperdey betreute Arbeit sich von den anderen dadurch unterscheidet, daß er die Rechtsscheinvollmacht und nicht die stillschweigende Bevollmächtigung als die „heute herrschende Theorie" 2 1 6 betrachtet und unter Berufung auf Heymann fordert, daß diese Grundsätze für den gesamten Rechtsverkehr Geltung haben sollten 217 . Die monographische Beschäftigung mit der stillschweigenden Bevollmächtigung oder Scheinvollmacht nimmt 1935 ihren Fortgang mit weiteren Dissertationen, die sich erneut dem oben dargestellten Schema zuordnen lassen. Interessant für die hier zu behandelnde Frage ist, daß Tengelmann in seiner Arbeit 2 1 8 im Gegensatz zu Hinkmann erneut die Lehre von der stillschweigen209 210
H.H. Meyer, Die Scheinvollmacht, Diss., Göttingen 1925, S. 9fT., 23ff., 35. Ehlerding, Wilhelm, Scheinvollmacht, Diss. Göttigen 1929, insbesondere S. 50 fT.,
54. 211 Vollmers, Diedrich, Begriff, Voraussetzungen und Wirkung der Scheinvollmacht, Diss. Göttingen 1931, siehe vor allem S. 61. 212 Schmidt-Colinet, Herbert, Die Scheinvollmacht, Diss. Göttingen 1931, S. 62. 213 Knief, Der Schutz des gutgläubigen Dritten beim Vertrauen auf eine Scheinvollmacht, Diss. Marburg 1929, S. 28 f. 214 Erbach, Die stillschweigende Vollmachterteilung, Diss. Marburg 1930, S. 18 f. 215 Erbach, Die stillschweigende Vollmachterteilung, S. 12. 216 Hinkmann, Karl, Der Schutz des redlichen Dritten beim Abschluß von Rechtsgeschäften mit Nichtbevollmächtigten, Diss. Würzburg 1933, S. 44. 217 Hinkmann, Der Schutz des redlichen Dritten, S. 47. 218 Tengelmann, Kurt, Die Vertretungsmacht kraft Rechtsscheins, Diss. Münster 1935, vgl. vor allem S. 24ff.
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den Vollmachterteilung statt der Rechtsscheinvollmacht in Schrifttum und Rechtsprechung als herrschend ansieht, mithin das bisherige Ergebnis unterstrichen wird, daß sich noch keine dominierende Auffassung gebildet hatte; die beliebige Behauptung einer herrschenden Meinung auf der einen wie auf der anderen Seite läßt nur den Schluß zu, daß die Streitfrage nach wie vor offen ist. So äußert sich auch Kraus 2 1 9 , der die dogmatische Herleitung und die Reichweite der „stillschweigenden Vollmacht" für streitig hält. Eine umfangreiche Monographie zum Thema Anscheinsvollmacht wurde erst 1941 wieder veröffentlicht, nachdem weitere Dissertationen im bekannten Schema die Schein Vollmacht durch eine Rechtsanalogie zu den §§ 170 ff. zu legitimieren versuchten. Dabei werden in diesen Dissertationen jeweils nur in Teilbereichen unterschiedliche Akzente und Nuancen in der Begründung gesetzt. Während Grüter sich vor allem auf den äußeren Tatbestand als Haftungsgrund bezieht 220 , leitet Kothe aus den genannten Vorschriften ein allgemeines Rechtsscheinprinzip bzw. Veranlassungsprinzip a b 2 2 1 und Veldung führt zur Begründung seiner Auffassung Treu und Glauben an 2 2 2 . Interessanterweise hält Grüter 1936 in Widerspruch zu Hinkmann die Lehre von der stillschweigenden Bevollmächtigung immer noch für herrschend, obwohl er für die Lehre von der Scheinvollmacht eine sich vermehrende Verbreitung feststellt 223 . Bei der Analyse der Dissertationen unter dem Gesichtspunkt der „Schulenbildung" fällt auf, daß die meisten Arbeiten bei Oertmann verfaßt wurden, der 1927 noch Bedenken gegen die „vermutete" Vollmacht geäußert hatte 2 2 4 und 1930 eine Auffassung vertritt, die zwischen Analogie und Rechtsscheinprinzip angesiedelt ist 2 2 5 . Ehlerding, Vollmers und Schmidt-Colinet haben diese „Kompromißhaltung" in Übereinstimmung mit Oertmann fortgeführt. Ebenso führt Tengelmann die Lehrmeinung seines Doktorvaters Naendrup fort, der schon 1910 grundlegend zum Rechtsscheinprinzip gearbeitet hatte und versuchte, den Begriff des Rechtsscheins über eine Definition dogmatisch handhabbar zu gestalten 226 .
219 Kraus, Alfred, Der Schutz des Vertrauens auf den „äußeren Tatbestand" im Stellvertretungsrecht des bürgerlichen Gesetzbuches, Diss. Köln, 1935, vgl. hier S. 18 ff. insbesondere S. 19 f. 220 Grüter, Hugo, Stillschweigende Bevollmächtigung und Scheinvollmacht im Rechtsverkehr der Sparkassen., Diss. Kiel 1936, S. 46. 221 Kothe, Scheinvollmacht, Diss., Erlangen 1937, S. 39f. 222 Veldung, Rudolf, Vertrauensschutz redlicher Dritter beim Vorliegen einer Scheinvollmacht, Diss. Frankfurt/M 1941, S. 87, 91. 223 Grüter, Stillschweigende Bevollmächtigung, S. 44f., vgl. die dort in Fn.3 aufgeführten Autoren. 224 Oertmann, BGB-Komm., § 167, 4., 3. Auflage, Berlin 1927. 225 Oertmann, Grundsätzliches zur Lehre vomRechtsschein, Z H R 95 (1930), S. 471.
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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Bei Erbach wurde schon festgestellt, daß er Manigk in vollem Umfang folgte, der ja ebenfalls mit etlichen Publikationen auf dem Gebiet der stillschweigenden Vollmacht in Erscheinung getreten war. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß viele Veröffentlichungen von Heymann herausgegeben wurden, so daß sich als Zwischenergebnis festhalten läßt, daß zwar nicht ohne weiteres von „Schulen" gesprochen, aber doch eine personelle Konzentration bei der Bearbeitung der Scheinvollmacht konstatiert werden kann, zumindest im monographischen Bereich. Es wäre zwar weit überzogen, würde man dies als „Kartell" bezeichnen, doch ist augenfällig, daß insbesondere der Name Heymann eng mit der literarischen Bearbeitung der Anscheinsvollmacht verbunden ist. Schon bisher konnte beobachtet werden, daß Heymann als Herausgeber die großen monographischen Arbeiten zu diesem Thema betreut hatte; verstärkt wird der Eindruck einer personellen Konzentration durch die Tatsache, daß eine weitere Monographie von Macris im Jahr 1941 ebenfalls von Heymann herausgegeben wird 2 2 7 . Macris stellt in seiner Arbeit einleitend fest, daß die stillschweigende Vollmachterteilung aus der reichsgerichtlichen Praxis hervorgegangen sei und die Billigung der Rechtslehre gefunden habe 228 . Er postuliert wie Heymann — allerdings nur für den Bereich des Handelsrechtes — gewohnheitsrechtliche Geltung der Grundsätze, jedoch mit der Maßgabe, daß noch vieles ungeklärt sei: „Indessen herrscht sowohl über die Wesenselemente und die Abgrenzung dieser Tatbestände, als auch über die an sie sich knüpfenden Rechtsfolgen in den Einzelheiten erheblicher Zweifel" 2 2 9 . Im Anschluß daran führt Macris die unterschiedlichen Begründungsversuche der Rechtsprechung und der Literatur aus 2 3 0 , wobei er der Rechtsprechung vorwirft, daß sie sich des Wesensunterschiedes zwischen stillschweigender Vollmachtserteilung und Rechtsscheinvollmacht nicht bewußt sei, obwohl beides in den Begründungen wiederzufinden sei 2 3 1 . Macris spricht sich seinerseits für eine Einordnung der stillschweigenden Vollmachtserteilung als einem vierten Fall zu den §§ 171,172 BGB aus 232 . Bemerkenswert sind die Ausführungen Macris zum Geltungsbereich der Grundsätze: seiner Auffassung nach sind 226 Vgl. Naendrup, Rechtscheinsforschungen, Heft 1, Begriff des Rechtscheins und Aufgabe der Rechtscheinsforschung, Münster (Westfalen) 1910. 227 Vgl. Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, Marburg 1941, in: Arbeiten zum Handels-, Gewerbe- und Landwirtschaftsrecht, Nr. 83, hrsgg. von Heymann. 228 Ygi Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 1, 6 und die umfassende Darstellung der Rechtsprechung auf S. 9 20. 229 Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 6. 230 Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 47. 231 Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 194, Fn. 9. 232 Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 202 f.
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sie unbeschränkt anzuwenden. Macris führt für diese Ansicht zunächst die Rechtsprechung ins Feld, die die Grundsätze ohne Einschränkung angewandt habe, relativiert das Gesagte aber durch die Bemerkung, daß die Rechtsprechung diese ausweitende Anwendung „nicht bewußt" 2 3 3 vornehme. Neben dem Reichsarbeitsgericht zitiert Macris die „herrschende Lehre", die ebenfalls eine allgemeine Anwendbarkeit anerkenne, fügt jedoch hinzu, daß die hL keine überzeugende Begründung dafür hervorgebracht habe. Als Vertreter der Lehre nennt Macris Heymann, und bemerkt — insoweit deckungsgleich mit der hier geäußerten Ansicht 2 3 4 , daß die meisten Autoren die Frage des Anwendungsbereiches der Scheinvollmacht gar nicht erörtern, meint jedoch, zwischen den Zeilen eine „allgemein(e) Maßgeblichkeit" 235 erkennen zu können. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie bei der Analyse der Heymann'schen Zitate, deren sich Macris vornehmlich bedient, deutlich geworden ist. Mithin kann eine hL hierzu nicht festgestellt werden, vor allem angesichts der Tatsache, daß sich einige Autoren, die ebenfalls von Macris zitiert werden, explizit gegen eine allgemeine Anwendung der Grundsätze der stillschweigenden Vollmachtserteilung ausgesprochen haben 236 5. Weiterentwicklung
der Anscheinsvollmacht nach dem 2. Weltkrieg
Der B G H 2 3 7 hat der Diskussion um die Anscheinsvollmacht im Jahre 1951 in einer kurzen Entscheidung gar keine Beachtung geschenkt; schon aus diesem Grunde ist das Urteil interessant. Interesse verdient die Entscheidung aber vor allem deshalb, weil in einem obiter dictum 2 3 8 die Grundsätze der Anscheinsvollmacht als Ausprägung des § 242 dargestellt werden, woraus eine generelle Anwendbarkeit über das Handelsrecht hinaus gefolgert wird. Zu diesen rechtlichen Ausführungen hatte der BGH gar keinen Anlaß, da der zu entscheidende Fall nach dem festgestellten Sachverhalt keine Anhaltspunkte für eine Überprüfung der Anscheinsvollmacht bot. So bleibt denn zu vermuten — wie immer bei obiter dicta —, daß der BGH für künftige Fälle die Anwendbarkeit der Anscheinsvollmacht absichern wollte 2 3 9 . Dabei gibt sich das 233
Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 206 f. Vgl. dazu oben S. 90, 91. 235 Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 207, insbesondere Fn. 3. 236 Vgl. die bei Macris, Die stillschweigende Vollmachtserteilung, S. 207, Fn. 3 Zitierten, die alle schon in dieser Arbeit besprochen wurden; Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen, S. 81 Fn. 89 stellt fest, daß die Haftung des Geschäftsherrn nicht einheitlich aus dem Rechtsscheinprinzip hergeleitet werde, stützt also damit das hier gefundene Ergebnis, daß die Diskussion noch offen ist. 237 BGH NJW 1951, 309. 238 Vgl. hierzu Fikentscher, Scheinvollmacht und Vertreterbegriff, AcP 154 (1955), S. 6; eindeutig auch Flume, AT II, S. 832-836, Berlin, Heidelberg, New York 1965. 239 Vgl. zur Antezipationsfunktion von obiter dicta Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 409, Fn. 78; ähnlich Schlink, Probleme und Ansätze einer Entscheidungstheorie 234
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
57
Urteil selbst einen Anschein, nämlich den, Schluß- oder Ansatzpunkt einer vom RG ausgehenden gefestigten Rechtsprechung zu sein. Angesichts der dogmatischen Unbestimmtheit der bisherigen Rechtsprechung ist dieser Versuch wenig überzeugend, doch rechtspolitisch legitim, folgt man der Ausgangsthese des Urteils und der oftmals für die Anscheinsvollmacht angeführten Sicherheitsinteressen des Verkehrs. Die Ausdehnung der Anscheinsvollmacht auf den Bereich des bürgerlichen Rechts war in der bislang betrachteten historisch-dogmatischen Diskussion nur in wenigen Fällen befürwortet worden. Den Bedenken, die in Rechtsprechung und Literatur gegen eine Anwendung über das Handelsrecht hinaus geltend gemacht wurden, begegnet der BGH ohne Argumentation: sie werden mit einer eleganten Formulierung ohne Begründungsversuch „ — wegen § 242 — " vom BGH übergangen. Dabei hätte auch hier die Möglichkeit bestanden, ein Urteil des RG heranzuziehen. Das RG hatte nämlich 1941 entschieden, wie der BGH gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben 2 4 0 , daß die Anscheinsvollmacht für den gesamten Rechtsverkehr Geltung beanspruchen dürfe. Diese Entscheidung stellte eine Wende der bisherigen Rechtsprechung des RG dar, denn bei allen vorhergehenden Entscheidungen konnte im Zusammenhang mit der Frage einer Ausdehnung der Anscheinsvollmacht noch eine restriktive Tendenz beobachtet werden 241 . Diese Einschränkung hat das RG in diesem angesprochenen Urteil aufgegeben, denn es sei „namentlich nach der heutigen Rechtsauffassung nicht gerechtfertigt, die Haftung auf Grund einer Anscheinsvollmacht auf den kaufmännischen Verkehr zu beschränken" 242 . Es mag diese Begründung gewesen sein, die den BGH veranlaßte, zwar eine Kontinuität der Auffassungen, nicht aber der Begründungen aufzuzeigen. In der Kommentarliteratur und in Lehrbüchern wird das Urteil des BGH schon 1952 für grundlegende Fragen der Anscheinsvollmacht aufgeführt: die Rechtsscheinvollmacht beruhe auf § 242 und sei deshalb allgemein anzuerkennen 2 4 3 . Dieser Meinung ist insbesondere Fikentscher, der in einem der ersten Nachkriegsaufsätze zum Thema Anscheinsvollmacht die Rechtfertigung für der richterlichen Innovation, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 24. 240 Vgl. RG, DR 1942, 172. 241 Vgl. die Besprechung von Barz, DR 1942, 172 zu dem zitierten Urteil des RG. 242 RG, D R 1942, 172. 243 Vgl. Soergel, § 167, Rn. 4, § 167, Rn. 3, 8. Auflage, Stuttgart/Köln 1952; unter Hinweis auf die beiden zitierten Urteile auch später Soergel/Schultze-v. Lasaulx, § 167, Rn. 12, 22, 9. Auflage, Stuttgart 1959; vgl. auch Lehmann, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 7. Auflage, Berlin 1952, § 36 V 2, S. 292f. und mit erweiterten Nachweisen, 8. Auflage, Berlin 1954, § 36 V 2, S. 298.
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Diskussion zur Anscheinsvollmacht
seine Ausführungen aus der Rechtsprechung bezieht 244 . Die allgemeine Geltung der Grundsätze der Anscheinsvollmacht sei wiederholt vom RG festgestellt worden und aus diesem Grunde nach der neuen BGH-Entscheidung als ständige Rechtsprechung zu bezeichnen. Fikentscher bezieht sich hierbei auf eine Entscheidung des RG aus dem Jahre 1927 245 , in der die Grundsätze der Scheinvollmacht auch bei in kaufmännischer Art geleiteten Betrieben angewandt worden sind, also von dem Erfordernis eines kaufmännischen Betriebes im Rechtssinne abgesehen wurde. Allerdings übersieht Fikentscher, daß das RG in späteren Entscheidungen wieder die Kaufmannseigenschaft als notwendige Voraussetzung betont 2 4 6 . Weiterhin übersieht Fikentscher offensichtlich die Rezension des RG Urteils von 1941 von Barz, der explizit ausführt, daß das RG mit der Ausweitung der Anscheinsvollmacht in diesem Urteil der Ansicht Heymanns „erstmals gefolgt" sei, eine Auffassung, die nach der Überprüfung der Rechtsprechung als gesichert gelten kann. Die Behauptung Fikentschers, die allgemeine Geltung sei wiederholt vom RG geäußert worden, ist somit unrichtig. Dies sieht Flume, der in der ersten Auflage seines Lehrbuches die hier dargestellte Entwicklung der Anscheinsvollmacht nachzeichnet und zu dem Ergebnis gelangt, daß die Scheinvollmacht auf einem Irrtum beruhe 247 : „Der BGH unterliegt dem gleichen Irrtum wie die Literatur, welche die Entscheidungen, in denen in Wirklichkeit eine Duldungsvollmacht vorlag, für die sogenannte Schein- oder Anscheinsvollmacht heranzieht." Flume ist der Ansicht, daß die Anscheinsvollmacht in ihrer modernen Ausgestaltung anerkannten Rechtsgrundsätzen widerspreche und formuliert die Notwendigkeit einer rechtshistorischen Analyse als Ansatzpunkt einer Beschreibung des Rechtszustands und der Rechtsentwicklung24®. Diese Forderung wurde 1975 von Bienert aufgegriffen, der in einer umfassenden Analyse der Rechtsprechung des RG und des BGH zu dem Ergebnis gelangte, daß zur Begründung der Anscheinsvollmacht weniger Argumente, als die Berufung auf frühere Urteile verwendet wurden 2 4 9 . Neben Flume hat Gottsmann in einer Dissertation eine Zuordnung der Anscheinsvollmacht zur culpa in contrahendo vorgenommen 250 . Bezugnehmend auf Flume äußert sich auch Canaris 251 , der die dogmatische Erklärung der Anscheinsvollmacht als „alles andere als abgesichert" bezeichnet 244
Vgl. Fikentscher, Scheinvollmacht und Vertreterbegriff, in: AcP 154 (1955), S. 1 ff. RG JW 1927, 1089. 246 Vgl. RG JW 1927, 2417 = RGZ 117, 164ff.; ausdrücklich fordert das RG die Kaufmannseigenschaft in JW 1928, 1054 unter Hinweis auf das zuvor zitierte Urteil. 247 Vgl. Flume, AT II, Das Rechtsgeschäft, S. 832-836, 1. Auflage, 1965. 248 Vgl. Flume, AT II, Das Rechtsgeschäft, § 49, 4, S. 834, 3. Auflage, 1979. 249 Vgl. Bienert, „Anscheinsvollmacht" und „Duldungsvollmacht", S. 8 f. 250 Gottsmann, Die Anscheinsvollmacht, Köln 1964. 251 Vgl. Canaris, NJW 1966, 2345 ff. 245
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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und insbesondere die Frage des Anwendungsbereiches aufwirft, den er auf das Handelsrecht begrenzt sehen möchte 252 . Die Anscheinsvollmacht sei zwar in der Literatur auf überwiegende Zustimmung gestoßen, aber aus systematischen Erwägungen im bürgerlichen Recht nicht haltbar 2 5 3 . Ähnlich hat sich Canaris 1976 in der Besprechung eines BGH-Urteils geäußert, das als Ausnahmefall in der Rechtsprechung gelten kann, da es Rechtsscheintatbestände restriktiv behandelt 254 . Canaris zieht aus dem Urteil den Schluß, daß die Anscheins Vollmacht in der undifferenzierten Ausprägung, die sie in Rechtsprechung und hL habe, nicht aufrechterhalten werden könne 2 5 5 , da sie in ihrer derzeitigen Ausgestaltung mit dem Urteil unvereinbar sei. Unkritischer bleibt die Kommentarliteratur, die sich lediglich auf das Zitieren der Urteile beschränkt und mit Formulierungen wie: „Nach der ständigen Rechtsprechung des RG und des BGH liegt eine Anscheins Vollmacht vor...." eine allgemeine Geltung der Grundsätze der Anscheinsvollmacht nicht in Frage stellt 2 5 6 . Eine Kritik wird auch angesichts der Rechtsprechung des BGH in den Jahren nach der Grundsatzentscheidung per obiter dictum von 1951 zu einer akademischen Pflichtübung. Der BGH rezitiert formelhaft die eigenen Ausführungen, ohne auf Gegenstimmen in der Literatur einzugehen 257 . Eine umfassende kritische Würdigung findet sich beispielsweise bei Eujen / Frank, die in einer genauen dogmatischen Untersuchung unter Einarbeitung der gesamten literarischen Gegenmeinung die Schwachpunkte der Grundsätze der Anscheinsvollmacht aufzeigen 258 . Sie wenden sich insbesondere gegen die Analogie zu den §§ 170 ff. 2 5 9 und kritisieren Wertungswidersprüche zwischen der unanfechtbaren Anscheinsvollmacht und der anfechtbaren, rechtsgeschäftlichen Vollmacht 2 6 0 . 252
Vgl. Canaris, NJW 1966, 2350. Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 48-52,191 ff. mit ausführlicher Begründung unter Berücksichtigung des historischen Streites. 254 Vgl. BGH JZ 1976, S. 132 mit Anmerkung Canaris. 253
255
Vgl. Canaris, in: JZ 1976, S. 133. Vgl. Soergel/Schultze-v. Lasaulx, §167, Rn. 37, 10. Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967; das Gleiche gilt für die Dissertation von Waldeyer, Vertrauenshaftung kraft Anscheinsvollmacht bei anfechtbarer und nichtiger Bevollmächtigung, Münster 1969, S. 1, 71 f., zum Anwendungsbereich S. 103 f. 257 Vgl. beispielhaft einige Entscheidungen: BGH BB 1952, 330; BGH NJW 1952, 657; BGH M D R 1955, 345; BGH NJW 1956, 1673; BGH M D R 1958, 83; BGH M D R 1961, 592; BGH NJW 1962, 1003; BGH M D R 1963,125; BGH VersR 1965, 133; BGH M D R 1966, 652. 258 vgl. Eujen / Frank, Anfechtung der Bevollmächtigung nach Abschluß des Vertretergeschäfts, in: JZ 1973, 232 ff. 259 Eujen/Frank, Anfechtung der Bevollmächtigung nach Abschluß des Vertretergeschäfts, in: JZ 1973, 233. 260 Vgl. Eujen / Frank, Anfechtung der Bevollmächtigung nach Abschluß des Vertretergeschäfts, in: JZ 1973, 236. 256
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. Die h
Diskussion zur Anscheinsvollmacht
6. Extensive Interpretation
der Anscheinsvollmacht
Die Kritik ist jedoch lediglich von literarischem Interesse, beachtet man, daß die Rechtsprechung die Anscheinsvollmacht in ihrem Anwendungsbereich kontinuierlich ausgeweitet hat, mit der Folge, daß die Beauftragung eines Architekten dem Bauherrn gegenüber als Anscheinsvollmacht im Verhältnis zu den Unternehmern zugerechnet wird 2 6 1 . Erinnert man sich an die Anfange der Scheinvollmacht, so kann dieses Urteil des OLG Köln nur Erstaunen hervorrufen, ein Erstaunen, das sich verstärkt, betrachtet man den Weg der Urteilsbegründung. Das OLG Köln stellt zunächst fest, daß die Anscheinsvollmacht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt sei und beruft sich dabei auf einige Urteile des B G H 2 6 2 . Anschließend wird ausgeführt, daß der BGH für das Verhältnis Architekt / Bauherr allein aus dem Architekten vertrag regelmäßig keine Anscheinsvollmacht herleite, mit der Begründung, dem Geschäftsgegner sei bei Zweifeln eine Anfrage beim Bauherrn zuzumuten. Diesen Grundsatz schränkt das OLG Köln unter Bezugnahme auf zwei weitere OLG-Urteile 2 6 3 und zwei Literaturstellen dahingehend ein, daß der „redliche Rechtsverkehr in der Bestellung eines Architekten zur Durchführung eines bestimmten Bauvorhabens den vom Bauherrn verursachten Rechtsschein (sehe), der Architekt sei bevollmächtigt, einzelne im Rahmen dieses Bauvorhabens liegende Bauleistungen zu vergeben" 264 . Nach dieser Feststellung, die den Grundsatz des BGH eigentlich auf den Kopf stellt, gelangt das OLG Köln unproblematisch zu einer Haftungsautomatik qua Architektenvertrag. Die „Tatbestandsmerkmale" der Anscheinsvollmacht wie die Häufigkeit und Dauer des Vertreterhandelns sowie die Sorgfaltspflichtverletzung auf Seiten des angeblich Vertretenen werden faktisch übergangen. Das Urteil hat insofern nichts mit der „ständigen Rechtsprechung" des BGH gemein, noch berücksichtigt es in irgendeiner Weise die kritischen Stimmen in der Literatur, die eine Restriktion der Anscheinsvollmacht anmahnen — im Gegenteil: die tatbestandlichen Voraussetzungen der Anscheinsvollmacht werden reduziert und der Anwendungsbereich noch erweitert. Die Entscheidung wurde zwar von Picker schärfstens kritisiert, der dem O L G vorwirft, die Lehre von der Anscheinsvollmacht „positivistisch" angewandt zu haben 265 und das Ergebnis als rechtlich falsch und rechtspolitisch unerwünscht 261
Vgl. OLG Köln, NJW 1973, 1798. O L G Köln, NJW 1973, 1799. 263 Es handelt sich um die Entscheidungen des O L G Stuttgart, NJW 1966, 1461 und OLG München, OLGZ 69, 414, 416. 264 O L G Köln, NJW 1973, 1799f. 265 Vgl picker, NJW 1973,1800f.; in der neueren Literatur spielt dieses Urteil immer noch eine Rolle: so setzt sich Medicus, Bürgerliches Recht, S. 49 (Rz. 99) unter Ablehnung explizit mit der Entscheidung auseinander. 262
II. Die historische Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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bezeichnet, doch trotz der Gegenstimmen ist diese Entscheidung Ausgangspunkt weiterer „positivistischer" Urteile 2 6 6 . So konstatiert Craushaar, daß die wissenschaftlichen Bedenken hinter der höchstrichterlichen Rechtsprechung zurückgestellt würden 2 6 7 . Allerdings schickt Craushaar voraus, daß die Rechtsprechung „im allgemeinen zu billigen Ergebnissen" gelangt sei und so wird auch im Laufe jener Untersuchung festgestellt, daß die Anscheinsvollmacht im Wege der Analogie zu den §§ 170 ff. eine Regelungslücke im BGB ausfülle und weiterhin im Handelsrecht wie im BGB Anwendung finden müsse 268 . Für diese Behauptung wird als Beleg Soergel / Schultze-v. Lasaulx bemüht, der seinerseits die BGH-Entscheidung aus dem Jahr 1951 zur Rechtfertigung heranzieht: die Auswirkungen des obiter dictums sind also noch 1974 vehement feststellbar. Weitaus kritischer äußert sich Peters 269 zu der Entwicklung der Anscheinsvollmacht; eine gewohnheitsrechtliche Bedeutung lehnt er unter Hinweis auf die dogmatischen Unterschiede selbst bei den Befürwortern einer Scheinvollmacht a b 2 7 0 und stellt fest, daß sowohl die Frage des Anwendungsbereiches als auch die Existenzberechtigung der Anscheinsvollmacht überhaupt umstritten sind 2 7 1 . 7. Der aktuelle Streitstand Dieses Bild gewinnt man auch, wenn man den aktuellen Diskussionsstand zur Anscheinsvollmacht überprüft; von einer gewohnheitsrechtlichen Geltung bis hin zu einer grundsätzlichen Ablehnung gehen die Stellungnahmen, die nun abschließend betrachtet werden sollen. Nach Auffassung von Steffen wurden die Institute von Anscheins- und Duldungsvollmacht von der „h.L." entwickelt 272 und insbesondere die An266
Vgl. exemplarisch einige Urteile, die entweder keine Auseinandersetzung mit der Literatur enthalten oder sich mit einem kurzen Hinweis auf Kommentare bzw. die ständige Rechtsprechung begnügen: BGH W M 69, 43; BGH W M 69, 1301; OLG Karlsruhe BB 1970,777; O L G Köln, M D R 1970, 840; O L G Hamm, JuS 1971, 655; OLG München BB 1972, 113; BGH BB 1976, 811, BGH W M 1976, 74; BGH W M 1976, 507; BGH W M 77,1169; BGH W M 1978,1046; O L G Düsseldorf M D R 1978,930; BGH W M 1981,171; O L G Frankfurt M D R 1981,495; OLG München W M 1983,1095; BGH NJW 1983, 1302. 267 Vgl. Craushaar, Die Bedeutung der Rechtsgeschäftslehre für die Problematik der Scheinvollmacht, in: AcP 174 (1974), S. 3. 268 Ygi Craushaar, Die Bedeutung der Rechtsgeschäftslehre für die Problematik der Scheinvollmacht, in: AcP 174 (1974), S. 22. 269 y g i Peters, Zur Geltungsgrundlage der Anscheinsvollmacht, in: AcP 179 (1979), S. 214 ff. 270 y g i Peters, Zur Geltungsgrundlage der Anscheinsvollmacht, in: AcP 179 (1979), S. 231. 271
Vgl. Peters, Zur Geltungsgrundlage der Anscheinsvollmacht, in: AcP 179 (1979), S.
217 f. 272
Vgl. RGRK/Steffen § 167, Rn. 11.
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. Die h
Diskussion zur Anscheinsvollmacht
scheinsvollmacht dürfte gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen 273 . Diese Feststellung trifft Steffen unter Bezugnahme auf Heymann! Der BGH wiederum bezieht sich in neueren Entscheidungen auf die Kommentierung von Steffen, um damit die allgemeine Anerkennung der Anscheinsvollmacht zu begründen 274 . Man sieht, daß dogmatisches Arbeiten wirklich das Arbeiten mit Vorgegebenem ist 2 7 5 . Für „kaum vertretbar" 276 hält Schultze-v. Lasaulx die Beanspruchung von Gewohnheitsrecht für die Anscheinsvollmacht und tendiert zu einer differenzierten Anerkennung der Anscheins- und Duldungsvollmacht als einer einheitlichen Rechtsschein Vollmacht 277 , die auf einer unterschiedlichen Bewertung der Rechtsfolgen im kaufmännischen und wirtschaftsfremden Verkehr beruht 2 7 8 . Eine Zusammenfassung der Typen zu einer Rechtsscheinvollmacht vertritt auch Brox 2 7 9 , der diese als allgemeines Rechtsprinzip über das Handelsrecht hinaus versteht. In einer anderen Publikation äußert Brox, daß die Anscheinsvollmacht in der Literatur „teilweise" abgelehnt werde 280 . Der ablehnenden Auffassung ist Diederichsen zuzurechnen; er befürwortet — wie Eike Schmidt auch 2 8 1 — eine dogmatische Lösung über culpa in contrahendo 282 , konstatiert aber vorher, daß in Rechtsprechung und Schrifttum die Anscheinsvollmacht überwiegend anerkannt sei. Diese Meinungskonstellation unterstellt auch Pawlowski, wendet sich jedoch unter Hinweis auf die Motive zum BGB und die Ansicht Flumes gegen eine undifferenzierte Anerkennung der Anscheinsvollmacht 283 . Sie habe im Gesetz keine Grundlage — dieser Auffassung ist auch W o l f 2 8 4 — und sei erst später ohne überzeugende Argumente von der Lehre entwickelt worden. In der Zwischenzeit würden sich die ablehnenden Stimmen mehren bzw. der Anscheinsvollmacht nur im Handelsrecht eine Bedeutung zusprechen 285 . Diese 273
Vgl. R G R K / Steffen § 167, Rn. 12. Vgl. BGH W M 1983, S. 419f. und BGH W M 1981, S. 172. 275 In diesem Zusammenhang soll nicht versäumt werden auf die Bedeutung des R G R K hinzuweisen: der BGH begründet in W M 1981, S. 172 und in W M 1983, S. 419f. die Anscheinsvollmacht allein mit R G R K /Steffen. 274
276
Vgl. Soergel/Schultze-v. Lasaulx § 167. Rn. 18. Vgl. Soergel/Schultze-v. Lasaulx § 167. Rn. 20, 23. 278 Vgl. Soergel/Schultze-v. Lasaulx § 167. Rn. 37. 279 Vgl. Erman/Brox § 167, Rn. 7 ff. 280 Vgl. Brox, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, S. 222ff. (Rz. 518ff.). 281 Vgl. Esser/Schmidt, Schuldrecht Band I, Allgemeiner Teil, § 29 I I 4 b (S. 441). 282 Vgl. Diederichsen, Der Allgemeine Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches für Studienanfänger, S. 139 (Rz. 300). 283 y g i Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, Rz. 718. 277
284 Vgl. Ernst Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 597, der sich Flume und Bienert in der Ablehnung der Anscheinsvollmacht anschließt (S. 596). 285 y g i Pawlowski, Allgemeiner Teil des BGB, Rz. 720; Pawlowski selbst nimmt einen Standpunkt ein, der nach seiner eigenen Einschätzung zwischen Flume und der h.L. liege: er erkennt eine anfechtbare Anscheinsvollmacht an, kommt also im Ergebnis zur Rechtsfolge „negatives Interesse".
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Tendenz in der Meinungsentwicklung glauben auch Medicus und Larenz feststellen zu können; Medicus führt aus, daß „vielfach" von der Anscheinsvollmacht gesprochen, „in neuerer Zeit" aber „zunehmend" widersprochen werde 2 8 6 . Larenz expliziert, daß die Rechtsprechung und „teilweise" die Lehre die sogenannte Anscheinsvollmacht akzeptierten 287 , billigt seinerseits wie Medicus diese Rechtsprechung jedoch nicht 2 8 8 . Medicus schließt sich in einer anderen Abhandlung explizit Flume an, gegen die — wie er sagt — „bisherige h M " 2 8 9 . Von einer bestehenden h M zur Anscheinsvollmacht geht Hübner aus, bemerkt jedoch, daß auch eine „Gegenmeinung" bestehe 290 . Der Ansicht, daß die Anscheinsvollmacht von der h M akzeptiert werde, ist weiterhin Herrmann, der restriktive Tendenzen bei der Vertrauenshaftung zu entdecken glaubt 2 9 1 . Im Gegensatz zu Steffen und Pawlowski glaubt Köhler, daß die Anscheinsvollmacht nicht von der Lehre, sondern von der Rechtsprechung entwickelt wurde — eine Synthese bildet Rüthers, der Rechtsprechung und Lehre gemeinsam als Begründer ansieht 292 — und vom Schrifttum — hierfür zitiert Köhler allein Larenz — auf den Bereich des kaufmännischen Verkehrs beschränkt werde 293 . Ein Dokument dieser unterschiedlichen Einschätzungen und wechselseitigen Tendenzen stellen die aktuellsten Kommentierungen dar: im „Palandt", dem wohl gängigsten Kommentar, wird von Heinrichs die Anscheinsvollmacht als Rechtsinstitut unter Hinweis auf die Rechtsprechung anerkannt 294 und ihr Anwendungsbereich mit allgemeiner Geltung beschrieben. Dafür wird der BGH und RGRK/Steffen herangezogen 295. In der Kommentierung von Jauernig hingegen wird zunächst die Rechtsprechung referiert und anschließend die Anscheinsvollmacht abgelehnt: „Gegen Anscheinsvollmacht (außer im kaufmännischen Verkehr) zutreffend Flume" 2 9 6 .
286
Vgl. Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, S. 351 (Rz. 970). Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil des dt. Bürgerlichen Rechts, S. 626. 288 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil des dt. Bürgerlichen Rechts, S. 627; siehe bei Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, S. 351 (Rz. 971). 289 Vgl. Medicus, Bürgerliches Recht, Rz. 101 f. 290 Vgl. Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, S. 499 f. (Rz. 665667); inhaltlich nimmt Hübner einen vermittelnden Standpunkt ein, indem er nach dem Grad der Verantwortlichkeit des angeblich Vertretenen differenzieren will. 291 Vgl. Herrmann, Die neuere Rechtsprechung zur Haftung Anscheinsbevollmächtigter, in: NJW 1984, S. 471. 292 Siehe bei Rüthers, Allgemeiner Teil des BGB, S. 253 (Rz. 477). 293 Vgl. Köhler, BGB — Allgemeiner Teil, § 18 IV 2 (S. 200). 294 Vgl. Palandt/Heinrichs § 173, 4c) aa). 295 y g i Palandt/Heinrichs § 173, 4 c) dd); mithin wird über die Berufung auf R G R K /Steffen die Anerkennung der Anscheinsvollmacht wieder auf Heymann zurückgeführt. 287
296
Vgl. Jauernig § 167, 5. d).
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I I I . Resümee der Diskussion zur Anscheinsvollmacht Damit ist festgestellt, daß die als Ausgangspunkt dieser Untersuchung gewählte resignative Behauptung von Thiele, die Grundsätze der Anscheinsvollmacht einschließlich der Rechtsfolge seien dem „theoretisch dogmatischen Meinungsstreit. . . entzogen" 297 , nicht in dieser Form zutrifft, wenngleich die Bedeutung der Rechtsprechung nicht verkannt werden soll. Die Fixierung an der Rechtsprechung, die in dieser resignativen Haltung zum Ausdruck kommt, resultiert aus der sicher realistisch-pragmatischen Vorstellung, daß ein dogmatischer Streit gegen eine ständige Rechtsprechung, die in diesem Falle keine literarischen Gegenstimmen erwägt, „akademisch" bleibt; sie übersieht aber, daß damit eine Ausrichtung an der Rechtspraxis betrieben wird, die einer Rechtsentwicklung nur hinderlich sein kann 2 9 8 , denn der Meinungsstreit trägt dazu bei, Auslegungen zu ermöglichen 299 und er ist gleichzeitig Symbol für die dynamische Fortentwicklung des Rechts 300 . Die Tendenz, der Rechtsprechung als der Entscheidungsinstanz im juristischen Diskurs einen fast absoluten Wert zukommen zu lassen, wie dies bei Thiele zum Ausdruck kommt, ist ein deutliches indizielles Zeichen dafür, daß die Autorität der Person oder Institution, die eine Meinung vertritt, maßgebliches Kriterium für die Feststellung von h M ist. Argumentative Macht wird dementsprechend — formuliert in polemischer Zuspitzung — nicht durch die sachliche Überzeugungskraft des Argumentes, sondern vielmehr durch die „Kompetenz" im Sinne von autoritativer Überlegenheit des Verwenders hergestellt 301 . Die Rechtsprechung hat die Entwicklung des Institutes Anscheinsvollmacht in Gang gesetzt und im Verlaufe einer kaum homogen zu nennenden Judikatur keine Kritik erfahren, die sich durchsetzen konnte; vielmehr orientierten sich die dogmatischen Begründungsangebote vor allem in der Kommentarliteratur so widerspruchslos an der Rechtsprechung, daß selbst die „Irrwege" in Form der Varianzen in den Urteilsbegründungen nachvollzogen wurden. Es ist also weniger die sachliche Kraft der Argumente, sondern mehr die auf der „Zuständigkeit zum Machtspruch von Staats wegen" 302 beruhende institutionelle Autorität der Rechtsprechung, die den rechtsdogmatischen Rang einer Auffassung ausmacht. 297
Münchener Kommentar/Thiele, § 167, Rn. 45. Vgl. dazu Craushaar, Die Bedeutung der Rechtsgeschäftslehre für die Problematik der Scheinvollmacht, in: AcP 174 (1974), S. 3. 299 Vgl. Gast, Recht als ius argumentandi, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 304. 300 So Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 241. 301 Vgl. dazu Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 218; ähnlich Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 48-50. 302 Siehe bei Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 60. 298
II.
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Diskussion zur Anscheinsvollmacht
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Wenn heute bezüglich der Anscheinsvollmacht von herrschender Meinung gesprochen wird, ist es an erster Stelle die Rechtsprechung, die eine solche Meinungskonstellation bewirkt hat. Der Entscheidungsinstanz kommt ein entscheidender Wert im juristischen Diskurs z u 3 0 3 . Es scheint notwendig zu sein, die juristische Auffassung als dogmatische Auffassung über eine Anbindung an höchstrichterliche Entscheidungen verbindlich werden zu lassen 304 . Die unbezweifelbare Autorität der Gerichte dient somit als „Offenbarungsmodell der Erkenntnis" 305 und wird — dies hat die Literaturanalyse zur Anscheinsvollmacht deutlich werden lassen — zum Kriterium für die Richtigkeit einer dogmatischen Auffassung. Die in der rechtsmethodischen Literatur erhobene Forderung nach kritischer Reflexion zur Sicherung der Rationalität der Argumentation 306 wird angesichts dieser Arbeitsweise zu einem leeren Appell 3 0 7 . Eine kritische Reflexion müßte berücksichtigen, daß die heutige Ausgestaltung der Anscheinsvollmacht auf zwei wesentliche Aspekte gegründet ist, die im Verlaufe der Überprüfung weitgehende substantielle Einbußen erfahren mußten: die Kontinuität der Rechtsprechung und die überwiegende Auffassung der Literatur. Die Rechtsprechung des Reichsgerichtes kann weder in Hinblick auf die dogmatische Konsistenz noch in bezug auf den Anwendungsbereich der Anscheins Vollmacht als kontinuierlich bezeichnet werden. Der Bundesgerichtshof und ihm folgend die Instanzgerichte haben ihre Judikatur auf dem obiter dictum von 1951 aufgebaut. Eine argumentative Legitimation der Anscheinsvollmacht hat in diesem Rechtsprechungsgebäude nie stattgefunden, sondern es handelt sich um eine Rechtsprechung der internen Bezugnahmen 308 . Abweichende Vorschläge und kritische literarische Stellungnahmen wurden ignoriert, eine Wechselwirkung zwischen Rechtswissenschaft und Jurisprudenz ist nicht zu beobachten 309 . Vielmehr kann eine einseitige Rezeption der höchstrichterlichen 303 y g i z u r Akzeptanz von Urteilen durch die Dogmatik Adomeit, Zivilrechtstheorie und Zivilrechtdogmatik — mit einem Beitrag zur Theorie der subjektiven Rechte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972) S. 504, 506. 304 Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 97 hält eine Lehrmeinung, die sich in der Rechtsprechung nicht durchsetzt, für eine Meinung ohne Einfluß auf die Wirklichkeit. 305 Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972) S. 82 f. 306 Ygi hinsichtlich dieser Forderung stellvertretend Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik — dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problemen des Massenverkehrs, in: AcP 172 (1972), S. 142, 147. 307 So konstatiert Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 96 in seiner Studie, daß der Rechtsprechung des BGH argumentationslos gefolgt werde. 308 Vgl. zu dieser Feststellung Bienert, „Anscheinsvollmacht" und „DuldungsVollmacht", S. 8 f. 309 Ygi z u diesem Aspekt Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 60, der formuliert, daß die Justiz notfalls eine Meinung auch dann durchhalten und letztlich
5 Drosdeck
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Β. Die hM in der Diskussion zur Anscheinsvollmacht
Rechtsprechung festgestellt werden. Auch dieses Verfahren entspricht jedoch nicht den argumentativen Anforderungen, den Anforderungen rationalen dogmatischen Diskutierens. Es handelt sich eher um eine zufallige — im Sinne von unreflektiert -, durch die Faktizität der Rechtsprechung geprägte Meinungsbildung. Als Beispiel sei der Meinungswechsel im Lehrbuch von Enneccerus hervorgehoben: Nipperdey bricht mit der Kontinuität der Ablehnung der Scheinvollmacht, eine Auffassung, die Enneccerus über fast drei Jahrzehnte vertrat, ohne daß Gründe für den Meinungswechsel angeführt werden oder im Verlaufe der Betrachtung Indizien zu beobachten gewesen wären, die zu einer Anerkennung der Anscheinsvollmacht zwangsläufig hätten führen müssen. Selbst wenn der Leser sich darauf verlassen könnte, daß jeder Autor über seine Auffassung nachgedacht hat, stellt sich die Frage, ob eine in dieser Weise in den juristischen Diskurs eingeflossene Meinung als Bestandteil der h M argumentative Autorität begründet 310 . Herrschende Meinung in dem beschriebenen Sinne ist nicht mehr als ein argumentatives Zufallsprodukt, resultierend aus einem Mangel an Reflexion. I m geschilderten Beispiel Anscheinsvollmacht hätte eine rechtshistorische Analyse auch in der modernen Kommentarliteratur zu anderen Ergebnissen führen müssen, wäre der kritisch reflektierende Weg der Argumentation eingeschlagen worden und nicht eine autoritär bedingte Rezeption von Vorgegebenem erfolgt. Die kritische Untersuchung der autoritären Strukturen der Argumentation läßt die Machtansprüche von h M als unberechtigt erscheinen. Kritisch muß auch gegenüber den bisher in dieser Arbeit vorgefundenen Ergebnissen verfahren werden, denn es ist fraglich, ob sich die ermittelten Befunde argumentationstheoretisch verallgemeinern lassen. Es könnte durchaus die Möglichkeit bestehen, daß es sich bei der Entwicklung der Anscheinsvollmacht um einen außergewöhnlichen Diskussionsprozeß handelt, von dem aus Rückschlüsse auf verallgemeinerungsfahige Aussagen über autoritative Argumente nicht möglich sind. Bedenken könnten vor allem deswegen auftreten, weil eine Rechtsentwicklung nicht notwendig von der Rechtsprechung ausgeht und somit die die Diskussion einleitende Meinung nicht im voraus eine argumentative Autorität beanspruchen kann, wie sie der Rechtsprechung als der Entscheidungsinstanz zuerkannt wird. Bevor weitere argumentationstheoretisch-rhetorische Erkenntnisse formuliert werden, scheint es deshalb angezeigt, einen weiteren Argumentationsprozeß in den wesentlichen Zügen nachzuzeichnen, der eine andere Struktur aufweist. durchsetzen könnte, wenn das „tragende Argument nach Ansicht der Fachgemeinschaft in einer Dissertation durchfallen müßte." 310 Siehe hierzu Struck, Topische Jurisprudenz, S. 91, der die Auffassung vertritt, daß die h M durch „Mitläufer" nicht an argumentativer Autorität gewinne.
C. Die hM in der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein Die Willenserklärung als eines der tragenden Prinzipien des bürgerlichen Rechtes setzt sich in ihrem Tatbestand aus einem subjektiven und objektiven Element zusammen. Das dogmatische Problem, dem nun nachgegegangen werden soll, ist die Frage, ob das Erklärungsbewußtsein konstitutives Merkmal des subjektiven Tatbestandes der Willenserklärung ist. I. Der moderne Diskussionsstand Forscht man in der modernen Kommentarliteratur, die wieder Ausgangspunkt der Analyse sein soll, so gelangt man zu der erstaunlichen Erkenntnis, daß kein Kommentar von einer herrschenden oder überwiegenden Meinung spricht — im Gegenteil: es wird ausgeführt, daß der Meinungsstand „außerordentlich kontrovers" 311 sei. In der gleichen Kommentierung wird im folgenden nochmals formuliert, daß die Ansichten zu diesem Problem „sehr geteilt" 3 1 2 seien und anschließend erklärt, welche Auffassungen sich gegenüberstehen: „Die ältere Lehre, aber auch neuere Darstellungen gehen davon aus, daß das Erklärungsbewußtsein konstitutives Erfordernis der Willenserklärung sei, (....). Eine ganze Reihe moderner Stellungnahmen will das fehlende Erklärungsbewußtsein hingegen grundsätzlich gleich behandeln wie den Erklärungsirrtum" 313 . Für jede dieser Gruppen wird eine Vielzahl von Belegen aufgeführt, die sich zahlenmäßig ungefähr die Waage halten. In anderen Kommentierungen findet man ähnliche Ausführungen: „Die Gegenmeinung, welche das Erklärungsbewußtsein nicht dem Tatbestand der Willenserklärung zurechnet, ist weit verbreitet" 314 . II. Die ältere Lehre Offensichtlich hat sich trotz einer langen dogmatischen Diskussion noch keine herrschende Auffassung herausgebildet 315 . 311 Die Kommentarübersicht betrifft zunächst nur die Literatur vor 1984; zur Kontroverse vgl. Münchener Kommentar/ Kramer Vor § 116, Rn. 12. 312 Münchener Kommentar/Kramer § 119, Rn. 80. 313 Münchener Kommentar/Kramer § 119, Rn. 80. 314 Staudinger/Dilcher Vorbem zu §§ 116-144, Rn. 19.
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C. Die hM in der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein
Eine solche herrschende Meinung scheint aber vor Inkrafttreten des BGB bestanden zu haben; Windscheid formuliert 1880: „Nach der zur Zeit herrschenden Ansicht ist eine Willenserklärung nichtig, wenn das in derselben als gewollt Bezeichnete von dem Erklärenden nicht wirklich gewollt ist. (...) Beweise dafür, daß dies in der Tat die herrschende Meinung ist, wird man von mir nicht verlangen" 316 . Windscheid konstatiert jedoch anschließend Gegenstimmen, „die bereits nicht mehr vereinzelte genannt werden dürfen" 3 1 7 . Diese Gegenstimmen vermehrten sich spätestens nach Inkrafttreten des BGB; liest man zum Problem des Erklärungsbewußtseins bei Enneccerus nach, so stellt sich der Streitstand in der 6. Bearbeitung äußerst kontrovers dar: Enneccerus vertritt die Auffassung, daß das Erklärungsbewußtsein für die Willenserklärung konstitutiv sei und verweist in einer ausführlichen Fußnote auf die Gegenmeinung, verbunden mit dem Hinweis, daß diese Frage sehr umstritten sei 318 . Auch in den weiteren Bearbeitungen des Lehrbuches von Enneccerus wird keine herrschende Meinung behauptet; sogar noch in der 15. Bearbeitung des Enneccerus wird ähnlich der 6. Bearbeitung ausgeführt, daß der Diskussionsstand weiter kontrovers sei 319 . I I I . Die Rechtsprechung und das Erklärungsbewußtsein 1. Die Behauptung einer hM Diese in der Literatur fast ausnahmslos vorgenommene Einschätzung teilt die Rechtsprechung nicht; erstaunlicherweise konstatiert das OLG Düsseldorf 1982 in einer das Erklärungsbewußtsein betreffenden Entscheidung eine hM: „Der Senat hält im Einklang mit der in Rechtsprechung und Lehre herrschenden Auffassung (Palandt aaO m.w.N.) daran fest, daß ohne das Vorhandensein eines Erklärungsbewußtseins und weitergehend eines Rechtfolgewillens (Geschäftswillens), d.h. der auf einen bestimmten rechtsgeschäftlichen Erfolg gerichteten Absicht des Erklärenden, von einer Willenserklärung tatbestandsmäßig nicht die Rede sein kann (vgl. RGZ 68,324; 122,140; 157,233; Enneccerus Nipperdey, Allg. Teil (15. Aufl.) §§ 145 I A und 153, S. 896ff., 944ff.; Lehmann-Hübner, Allg. Teil (16. Aufl.) §§ 24IV und 34 III, S. 148, 260; R G R K (12. Aufl.) Anm. 4 vor § 104; Staudinger-Dilcher (12. Aufl.) Vorbem. zu § 116, Rz. 16ff.)" 3 2 0 . 315 Vgl. Schubert, Anmerkung zu BGH, JR 1985,12ff., in: JR 1985,15, der ebenso wie das Urteil selbst auf den langen Streit hinweist. 316 Windscheid, Wille und Willenserklärung, AcP 63 (1880), S. 72f. 317 Windscheid, Wille und Willenserklärung, AcP 63 (1880), S. 73. 318 Vgl. Enneccerus, Lehrbuch des bürgerl. Rechts, 6. Bearbeitung, Marburg 1913, S. 363 f. 319 Enneccerus /Nipperdey, Lehrbuch des bürgerl. Rechts, 15. Bearbeitung, Tübingen 1960, S. 902 mit ausführlichem Hinweis auf den Meinungsstand.
ΙΠ. Die Rechtsprechung und das Erklärungsbewußtsein
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Nach den Untersuchungen in der rechtswissenschaftlichen Literatur stellt sich die Frage, wie das OLG Düsseldorf trotz der kontroversen Diskussion eine herrschende Auffassung in der Lehre feststellen konnte. Die von ihm zitierten Autoren befürworten zwar alle die Erforderlichkeit des Erklärungsbewußtseins für den Tatbestand der Willenserklärung, sie lassen jedoch auch keinen Zweifel daran, daß wegen der langen, intensiven Kontroverse und der Anzahl der Gegenmeinungen keine herrschende Lehre festgestellt werden kann. Diese Gegenmeinung stellt das OLG Düsseldorf etwas abschätzig dar: „Die in der Rechtslehre teilweise vertretene Ansicht, die zwar ein Erklärungsbewußtsein, nicht aber einen Rechtsfolgewillen verlangt, (...), beruht auf einer unrichtigen Einschätzung der besonderen Bestimmung über den geheimen Vorbehalt. Die weitere Meinung, die darüber hinaus auch von dem Erfordernis eines Erklärungsbewußtseins, zumindest bei einem Verschulden des „Erklärenden" absehen, (...), ist mit der Regelung des Gesetzes und mit der Idee der Privatautonomie nicht vereinbar und erscheint auch in ihren Zweckerwägungen nicht als billigenswert" 321 . „Nicht nur ihre rechtliche Begründung, sondern auch die Ergebnisse, zu denen die Gegenmeinung führt, können nicht gebilligt werden" 3 2 2 . Will man die aufgeworfene Frage, wie das OLG Düsseldorf zu einer herrschenden Auffassung kommt, beantworten, so stellt man bei schlichtem Abzählen der Belegstellen im Urteil fest, daß die Vertreter der Gegenmeinung überwiegen und findet deshalb zunächst keine zureichende Antwort 3 2 3 . Angesichts des historisch nachweisbaren Streitstandes scheint es auch nur eine Antwort für die Erkenntnis von h M durch den Senat des O L G Düsseldorf zu geben: die Notwendigkeit autoritativer Rückversicherung als Motiv für die offensichtlich unterstellte Meinungsherrschaft. Das Urteil folgt in seinem ganzen Aufbau rhetorischen Zweckgesichtspunkten, da die literarische Sachdiskussion in ihrem Umfang und ihrer dogmatischen Intensität kein Verbindlichkeitskriterium für eine Entscheidung bietet. Das Fehlen von Präjudizien in dieser dogmatischen Frage macht es erforderlich, eine andere Rechtserkenntnisquelle heranzuziehen — die hM. Für die Legitimation der Entscheidung, wie sie in dem Urteil getroffen wird, standen nach dem argumentationstheoretisch und juristisch zulässigen Katalog der Argumente keine Begründungen mehr zur Verfügung, die die Akzeptanzchance der Entscheidung autoritativ abgesichert hätten. Das Gesetz bietet keine Möglichkeit eines stringenten Schlusses auf die Erforderlichkeit des Erklärungsbewußtseins, die dogmatischen Vorschläge sind weitgefächert und Präjudizien existieren nicht, so daß ein Konsens als Schlüssel zum Tor der (relativen) juristischen Wahrheit nicht auffindbar ist. 320
O L G Düsseldorf, OLGZ 82, 240, 242. O L G Düsseldorf, OLGZ 82, 242 f. 322 O L G Düsseldorf, OLGZ 82, 244. 323 Das Abzählen der Zitate im Urteil ergibt ein Verhältnis von 8:7 gegen das Erklärungsbewußtsci η. 321
C. Die hM in der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein
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Herrschende Meinung steht in dem herangezogenen Urteil demnach als Synonym für ein rhetorisches Dilemma: aus dem Mangel an argumentativen Autoritäten resultiert die Notwendigkeit autoritativer Rhetorik. Diese läßt sich in der Struktur der Urteilsbegründung nachvollziehen, die eine Begründung mittels der Gegenüberstellung von Meinungsklassen ist, die nach Autorität gewichtet werden; mit der Feststellung, daß kein Vertrag zwischen den Parteien zustandegekommen sei, weil in Ermangelung eines Erklärungsbewußtseins keine rechtsgeschäftliche Erklärung abgegeben worden sei, ist die dogmatische Streitfrage aufgeworfen, die sofort zugunsten der eigenen Auffassung entschieden wird: „Es wird zwar im rechtswissenschaftlichen Schrifttum teilweise die Meinung vertreten" 324 , womit die Gegenmeinung angesprochen ist, der durch das Prädikat „teilweise" jedwede argumentative Autorität genommen wird. Unmittelbar darauf wird die vom OLG Düsseldorf vertretene Ansicht als die herrschende Auffassung geschildert und erst nach einer kurzen inhaltlichen Vorstellung der Gegenmeinung wird unter den geschilderten rhetorischen Prämissen die eigentliche Sachdiskussion geführt. Eine in dieser Weise instrumentalisierte h M bedeutet keine quantiflzierbare Mehrheit von Reflexion und Empirie 3 2 5 , sondern sie muß selbst Gegenstand kritischer Reflexion sein. Autoritative Argumentation im Sinne autoritärer Rhetorik kann auf diesem Wege als das Gegenteil dessen entlarvt werden, was sie bezweckt: sie zielt auf Überzeugung und ist im Grunde doch ein Verlust an Sicherheit und Gewißheit 326 . Das Urteil des OLG Düsseldorf offenbart, daß eine Verwendung von h M als einer reinen Aussageautorität den Rückschluß ermöglicht, daß der Argumentierende aus einer unsicheren Position den Diskurs aufnimmt; er befindet sich in einer Verteidigungsstellung und bemüht andere durch Kompetenzbezugnahme zur Legitimation seiner Auffassung. 2. Der BGH als „Metadogmatiker" Das rhetorische Dilemma, in dem sich das OLG Düsseldorf befunden hat, wird vollends deutlich, wenn man die erste Entscheidung des Bundesgerichtshofes zur Frage des Erklärungsbewußtseins betrachtet, die erst 1984 ergangen ist 3 2 7 . Der BGH entzieht in diesem Urteil dem OLG Düsseldorf nachträglich die Argumentationsgrundlage 328 .
324
OLG Düsseldorf, OLGZ 82, 241. Vgl. hierzu Struck, Topische Jurisprudenz, S. 90. 326 Vgl. Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, JZ 1980, 344. 327 BGH, NJW 1984, 2279. 328 Vgl. zu einer vergleichenden Besprechung der beiden Entscheidungen Ahrens, JZ 1984,986ff., der auf S. 987 feststellt, daß die beiden Gerichte die entgegengesetzten Lager repräsentieren. 325
III. Die Rechtsprechung und das Erklärungsbewußtsein
71
Dessen Berufung auf die herrschende Lehre konnte bereits als eine unterstellte Bezugnahme falsifiziert werden; die Behauptung des OLG Düsseldorf, daß auch die ständige Rechtsprechung das Erklärungsbewußtsein für erforderlich ansehe, ist nach dem BGH-Urteil ebenfalls nicht mehr aufrechtzuerhalten. Der BGH rekurrierte in seiner Entscheidung gleichfalls auf die ständige Rechtsprechung, allerdings um das gegenteilige Ergebnis, nämlich eine Ablehnung des Erklärungsbewußtseins als konstitutivem Tatbestandsmerkmal der Willenserklärung zu begründen und leitet seine Ausführungen zur bisherigen Rechtsprechung ein: „Der BGH hat die Frage bisher nicht abschließend entschieden" 329 . Anschließend beruft sich der BGH auf einige Urteile aus seiner Judikatur und stellt fest, daß diese Entscheidungen das Problem nicht eindeutig lösen würden. Die Lehre wird in Meinung und Gegenmeinung dargestellt, ohne daß eine Aussage über eine etwaige herrschende oder Mindermeinung getroffen wird. Vielmehr wird wie in den schon erwähnten Kommentierungen der Streitstand und die andauernde Kontroverse dadurch dokumentiert, daß annähernd gleich große „Meinungsblöcke" herangezogen werden 330 . Für die Begründung seiner Entscheidung lehnt sich der BGH explizit an die Ausführungen von Bydlinski 3 3 1 und Kramer 3 3 2 an; ersterer war auch im Urteil des OLG Düsseldorf — dort als teilweise vertretene Gegenansicht — zitiert worden, jedoch als nicht gesetzeskonform, systemwidrig und unbillig verworfen worden 3 3 3 . (Das Urteil des OLG Düsseldorf wird übrigens vom BGH nicht herangezogen.) Nachdem nun die vormals „teilweise vertretene Ansicht" die Rechtsprechung des BGH auf ihrer Seite hat, steht zu vermuten, daß diese Auffassung entsprechend den bislang ermittelten Mechanismen der juristischen Meinungsbildung schnell zur herrschenden Ansicht avanciert. Selbst die kritische Anmerkung von Canaris zu dem BGH-Urteil, der dem BGH in seiner Besprechung vorwirft, er habe eine wichtige Entscheidung aus seiner Judikatur nicht herangezogen 334, in der das Erklärungsbewußtsein als konstitutiv gewertet werde, wird wohl die zukünftige h M nicht verhindern können 3 3 5 , nachdem ein in der dogmatischen Frage des Erklärungsbewußtseins 329
BGH, NJW 1984, 2280. Ein Abzählen ergibt hier ein Verhältnis von 12:9 gegen die Erforderlichkeit des Erklärungsbewußtseins. 331 Bei BGH zitiert Bydlinski, JZ 1975, 1. 332 Bei BGH zitiert Kramer in: Münch Komm § 119 Rdnrn. 81 ff. 333 Vgl. nochmals O L G Düsseldorf, OLGZ 82, 243. 334 Canaris, NJW 1984, 2281. 335 Vgl. Brehmer, Willenserklärung und Erklärungsbewußtsein, in: JuS 1986, S. 441, 443, der die Auffassung des BGH schon als „jetzige h M " bezeichnet. 330
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C. Die hM in der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein
eindeutiges Urteil als argumentatives Verbindlichkeitskriterium zur Orientierung der Diskussion beiträgt. Kritisch zu der BGH-Entscheidung haben sich neben Canaris Brehmer 336 und Schubert geäußert. Schubert bestätigt in seiner Urteilsrezension die Vermutung, daß eine h M sich auf der Seite des BGH stabilisiert, denn er hält die Ansicht des BGH für die im Vordringen befindliche Meinung 3 3 7 . Immerhin haben sich in der aktuellen Literatur Jauernig 33S , Palandt/Heinrichs 3 3 9 , Brox 3 4 0 , Medicus 341 und Köhler 3 4 2 der Auffassung des BGH angeschlossen, mit der kleinen Pikanterie, daß Heinrichs die Gegenmeinung als die h M ansieht 343 , während Köhler die Gegenmeinung als „Mindermeinung" qualifiziert 344 . IV. Resümee der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein Die Diskussion zum Erklärungsbewußtsein verlief nach einem völlig anderen Modell als die Diskussion um die Anscheinsvollmacht: die Rechtsprechung war beim Erklärungsbewußtsein nicht Ausgangspunkt sondern — eventuell — Abschluß einer dogmatischen Diskussion. Dennoch bleiben interessanterweise die Befunde der argumentationstheoretischen Untersuchung unverändert, denn der Charakter von h M und den anderen autoritativen Argumentformen als einer weitgehend unreflektierten 345 und in erster Linie rhetorischen Komponente der Argumentation konnte bestätigt werden. Es scheint mithin eine der wesentlichen Funktionen von h M zu sein, durch das Prädikat „herrschend" argumentative Macht zu symbolisieren, die — rhetorisch instrumentalisiert — wenigstens kurzfristige Überzeugung sichert 346 .
336 y g i Brehmer, Willenserklärung und Erklärungsbewußtsein, in: JuS 1986, S. 445. 337
Neben Schubert, JR 1985, S. 15 ist auch Ahrens, JZ 1984, S. 986 der Meinung, daß die Auffassung des BGH die vordringende Auffassung ist. 338 Vgl. Jauernig Vor § 116, 3. b). 339 V g l Palandt/ Heinrichs Einf ν § 116, 4 b). 340
Vgl. Brox, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, S. 48 (Rz. 83), S. 71 (Rz. 135), S. 166 (Rz. 381). 341 Vgl. Medicus, Bürgerliches Recht, S. 66 (Rz. 130). 342 Vgl. Köhler, BGB — Allgemeiner Teil, § 14 I I 2 (S. 126). 343 Vgl. Palandt/Heinrichs Einf ν § 116, 4 b). 344 Vgl. Köhler, BGB — Allgemeiner Teil, § 14 I I 2 (S. 126). 345 Vgl. hierzu Ernst Fuchs, Juristischer Kulturkampf, in: Gesammelte Schriften Band 2, S. 37, aus dessen Ausführungen deutlich wird, daß diese Erkenntnis für kritische Juristen so neu nicht sein kann: „Selbst die sog. „herrschende" Ansicht ist meist weiter nichts, als daß einer dem andern, dann ein dritter und vierter dem zweiten und dritten abgeschrieben hat." 3445 Vgl. zur Steigerung der Überzeugungskraft durch h M Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 52 ff.
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der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein
Die Verwendung einer unterstellten h M durch das OLG Düsseldorf hat aber auch gezeigt, daß der juristische Diskurs offensichtlich durch einen großen Autoritätsbedarf gekennzeichnet ist. Das Legitimationsproblem zwingt anscheinend zu autoritativen Rückgriffen wie dem Rückgriff auf hM, wenn keine Präjudizien bestehen; die juristische Dogmatik allein ist demnach augenscheinlich ohne das Vehikel einer herrschenden Auffassung nicht in der Lage, für Entscheidungen legitimierend zu wirken. Erst der Verbindlichkeitsanspruch von h M bewirkt die Reduktion von Komplexität 3 4 7 , die für Entscheidungen notwendig ist, nämlich die Reduktion der Entscheidungsalternativen auf eine einzige, durch ihre Herrschaft autoritativ abgesicherte Meinung. Die Analyse der Entscheidung des OLG Düsseldorf hat beispielhaft verdeutlicht, daß das Ziel des juristischen Diskurses, Entscheidbarkeit herzustellen, eng mit Legitimationsfragen verbunden ist. In diesem Zusammenhang kann festgestellt werden, daß nicht allein die Entscheidung begründet und damit legitimiert werden muß, sondern die Begründung selbst bedarf der Legitimation, indem der Autor oder der Spruchkörper sich unter Bezugnahme auf Autorität(en) legitimiert 348 . Die für diese Legitimation notwendige Autorität sichert im juristischen Diskurs neben den Präjudizien die hM, die notfalls unterstellt werden muß. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die Bildungsmechanismen von herrschenden Meinungsklassen, die nicht notwendigerweise nach quantitativen oder qualitativen Verfahren hergestellt werden, sondern ebenso gut rhetorische Konstrukte sein können. Dieser Befund ist für den Konsenswert von herrschender Meinung von großer Bedeutung, denn offensichtlich ist der Idealtypus einer argumentativ unter rationalen Diskursregeln ermittelten h M eine Illusion, selbst wenn man die institutionellen Besonderheiten des juristischen Diskurses berücksichtigt und überhöhte Anforderungen zurückschraubt. Die Ergebnisse der Analyse der Diskussionen zur Anscheinsvollmacht und zum Erklärungsbewußtsein sollen nunmehr zu einem argumentationstheoretisch-funktionalen Bild des Phänomens h M zusammengefügt werden.
347
Vgl. zur Reduktion von Komplexität, verstanden als Reduzierung von Entscheidungsmöglichkeiten Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 97. 348 Vgl. zu dieser Metafunktion Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 218 f.
D. Herrschende Meinung — Argument und Rechtsquelle I. Die Notwendigkeit und Zulässigkeit autoritativer Argumente im allgemeinen Diskurs Eine der wesentlichen Voraussetzungen des Verständnisses der Funktionen autoritativer Belege wie h M ist die Anerkennung der — eher trivialen — Behauptung, die hier als Tatsache unterstellt wird, daß die zu untersuchenden Begründungsangebote im kommunikativen, diskursiven Handlungsbereich zu finden sind. Dementsprechend ist zunächst zu klären, wie die Begriffe Kommunikation und Diskurs wissenschaftlich definiert werden. Ausgangspunkt soll dabei der radikal-konstruktivistische und systemtheoretische Ansatz sein, woraus sich noch keine Prärogative für den Radikalen Konstruktivismus oder die funktional-strukturelle Systemtheorie ergibt 3 4 9 , aber diese Theorien ermöglichen im Zusammenhang mit Kommunikation eine wesentliche Feststellung, nämlich eine funktionale Einschätzung von Kommunikation und Diskurs. 1. Kommunikation und Diskurs Unter Kommunikation wird allgemein der Vorgang der sprachlichen Übertragung, der Mitteilung von einem Individuum auf das andere verstanden 350 . Einen präziseren Begriff von Kommunikation verfolgt die funktionale Systemtheorie und die radikal-konstruktivistische Theorie, die Kommunikation als elementare Funktion im menschlichen Handlungsbereich definieren und auf eine Person beziehen, die kommuniziert, indem sie aus ihrem Horizont, ihrer Umwelt 3 5 1 , bestimmte Inhalte selegiert und artikuliert. Als Kommunikation 349
Für ein Nebeneinander der verschiedenen analytischen Ansätze spricht sich Koch, Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, S. 3 f. aus: Analytischer Pluralismus müsse nicht widersprüchlich sein. 350 Vgl. zu diesem allgemeinen Verständnis Luhmann, Soziale Systeme, S. 193 f.; Luhmann wendet sich an einer anderen Stelle ausdrücklich gegen das „Alltagsverständnis" von Kommunikation, vgl. Luhmann, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung, S. 42f.; dagegen Habermas, ebd., S. 203; kritisch zur hypertrophen Verwendung von Kommunikation auch Köck, Kognition — Semantik — Kommunikation, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, S. 340 und im folgenden. 351 Vgl. hierzu Köck, Kognition — Semantik — Kommunikation, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, S. 366: die Bedeutungen von Zeichen (Sprache) müssten auf ein individuelles System in dessen jeweiligem Zustand bezogen werden; Bedeutungen entstünden im Zuge der Interaktion mit der jeweils gegebenen Umwelt.
I. Die Notwendigkeit und Zulässigkeit autoritativer Argumente
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kann es dementsprechend bezeichnet werden, wenn ein Individuum einem anderen Individuum Zeichen übermittelt; ein Transfer von Wissen findet nicht statt 3 5 2 . Die konkrete Bedeutung der Zeichen wird erst beim Empfanger der Zeichen neu konstituiert bzw. konstruiert, indem dieser die Bedeutung aus seiner eigenen Erfahrung neuronal rekonstruiert 353 . Im günstigsten Fall können die Kommunikationspartner auf einen konsensuellen Interaktionsbereich zurückgreifen und haben so die Möglichkeit, gemeinsame Erfahrungen zu rekonstruieren und den Zeichen eine übereinstimmende Bedeutung beizumessen 354 . Die elementare Kommunikation wird ausgehend von diesen Vorgaben systemtheoretisch als Synthese dreier Selektionen, nämlich der Synthese aus Information, Mitteilung und Verstehen angesehen355. Erst nach Ausbildung eines durch Rückfragen, Kombinieren und Beobachten konstruierten konsensuellen Bedeutungsverständnisses schließt sich für die Kommunikationsparter die Möglichkeit an, Unterschiede in Bewertungen und subjektiven Erfahrungen zu diskutieren 356 . M i t dieser elementaren, funktionalen Einschätzung von Kommunikation ist eines der wesentlichen Merkmale kommunikativer Akte offenkundig geworden, nämlich die Strukturfunktion 357 . Jede Zustimmung oder Ablehnung muß sich an dem orientieren, was zunächst kommunikativ selegiert wurde; es kann nicht mehr ignoriert werden 358 .
352 Vgl. hierzu und weiterführend Jantsch, Erkenntnistheoretische Aspekte der Selbstorganisation natürlicher Systeme, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, S. 170. 353 Vgl. grundlegend zu diesen Fragen Maturana, Kognition, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, S. 108 ff. 354 Vgl. zu diesem Verständnis von Kommunikation Köck, Kognition Semantik — Kommunikation, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus , S. 366ff., 367: der Optimalfall des konsensuellen Interaktionsbereiches sei meist jedoch nur in hochgradig routinisierten Situationen gegeben; ähnlich Jantsch, Erkenntnistheoretische Aspekte der Selbstorganisation natürlicher Systeme, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, S. 170: „Kommunikation ist nur dort möglich, wo die Kognitionsbereiche hinlänglich überlappen.". 355
Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 203. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 204; Habermas sieht den Kommunikationsbegriff in enger Verbindung, wenn nicht identisch mit Diskurs; vgl. Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 114ff. 357 Vgl. instruktiv zur Strukturfunktion von Kommunikation Luhmann, Soziale Systeme, S. 204: Kommunikation bezwecke eine „Zustandsänderung" beim Adressaten und dieser neue Zustand werde festgesetzt; dies sei der Ausgangspunkt für Systembildung (S. 238). 358 Vgl. zur Subjektabhängigkeit der Orientierung Köck, Kognition — Semantik — Kommunikation, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, S. 369 und das dort angeführte Zitat von Maturana. 356
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
Der Diskurs steht in engem Zusammenhang mit Kommunikation. Er stellt eine Möglichkeit dar, die konsensuellen Interaktionsbereiche von Kommunikationspartnern durch individuelles Lernen zu erweitern. In einem zweiten Schritt kann der Diskurs auch die Funktion haben, kommunikative Aussagen zu rechtfertigen, also Gründe anzugeben, warum eine bestimmte Auffassung von einem Kommunikationspartner vertreten wird. Diese philosophisch-idealistische Vorstellung von Diskurs stellt darauf ab, daß Menschen mit Aussagen, die sie anderen gegenüber formulieren, zumeist den Anspruch verbinden, daß diese Aussagen — zumindest für ihren eigenen, subjektiven Erfahrungsbereich — richtig bzw. wahr sind 3 5 9 . Versteht man Diskurs in diesem Sinne, so hat Kommunikation die Aufgabe, geistigen Austausch zu ermöglichen und sie intendiert die mögliche Überzeugung des Diskurspartners bei strittigen Aussagen. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, wie sich aus der Beschreibung der elementaren Kommunikation ableiten läßt, denn für eine Überzeugung des anderen ist es notwendig, gemeinsame, intersubjektive Erfahrungen herauszuarbeiten, konsensuelle Interaktionsbereiche zu bilden, die eine ähnliche Konstruktion und Re-Kognition der Umwelt gewährleisten könnten. Eine Möglichkeit zur Elaboration von überlappenden Kognitionsbereichen ist die Argumentation. Argumentation wird als ein „Typus von Rede" 3 6 0 beschrieben, in dem strittige Aussagen mit dem Anspruch auf Geltung besprochen, kritisiert werden 361 , mit dem Ziel, eventuell eine Überzeugung, einen Konsens, herstellen zu können 3 6 2 . Für eine Analyse der Bedeutung von autoritativen Argumenten im Diskurs erscheint es sinnvoll, ein Argumentationsmodell heranzuziehen, das Auskunft über die argumentative Einordnung autoritativer Argumente gibt. Das Problem der Geltungsansprüche kommunikativer Aussagen sowie ihrer Begründung wird in der Konsensustheorie von Habermas thematisiert, die von Alexy für den juristischen Diskurs fortentwickelt wurde. Beide Theorien enthalten Aussagen und Regeln über die Verwendung autoritativer Argumente, der Form von Begründung also, in deren Zusammenhang h M eingereiht werden kann. Die idealistische Konzeption beider Theorien läßt allerdings keine vollständige Übertragbarkeit auf reale Diskurse zu, sondern die argumentationstheoretischen Regeln von Alexy und Habermas werden beispielhaft und als analytisches Modell 3 6 3 für die Betrachtung von autoritativen Argumenten herangezogen 364. 359 Vgl. zur Einlösung von Geltungsansprüchen im Diskurs Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 115, 117. 360 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, S. 38. 361 Vgl. zu dieser Definition von Argumentation, die schon in der antiken Rhetorik vorherrschend war, ausführlich Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, S. 38 ff. 362 Vgl. Habermas, in: Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 115 f. 363 Vgl. zu dieser Einschätzung der Konsensustheorie Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 115.
I. Die Notwendigkeit und Zulässigkeit autoritativer Argumente
2. Diskursrationalität
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durch Begründung
Das diskurstheoretische Modell der Konsensustheorie von Habermas gründet sich auf die These, daß ein argumentativ unter bestimmten Regeln erzielter Konsens als Wahrheitskriterium angesehen werden kann 3 6 5 . Dies gilt jedoch nur dann, wenn der Diskurs rational geführt wurde, d.h. mit der Möglichkeit, „die jeweilige Begründungssprache, in der Erfahrungen interpretiert werden, zu hinterfragen, zu modifizieren und zu ersetzen" 366 . Notwendig ist eine diskursive Umgebung, „in der Kommunikation nicht nur durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben" 367 . Diese unter dem Stichwort „ideale Sprechsituation" bekannt gewordenen Voraussetzungen der Argumentation gewährleisten nach Habermas die Rationalität und damit den Geltungsanspruch diskursiver Behauptungen und des erzielten Konsenses. M i t einer diskursiven Aussage sei regelmäßig der Anspruch auf Geltung dieser Aussage verbunden; dies führe zu dem Problem der Begründung dieser Behauptungen, die nach den Regeln des von Habermas und Alexy entworfenen Argumentationsmodells notwendig ist, um die Wertdifferenzen, die im Diskurs zutage treten, im Hinblick auf eine angestrebte mögliche Überzeugung des Diskurspartners auszuräumen 368 ; der Zweck des Diskurses wird deshalb auch als gewaltfreie Konfliktbeseitigung bezeichnet 369 . Aus dieser Zielrichtung des Diskurses, genauer: der Diskursteilnehmer, überzeugen zu wollen, ergibt sich dann die Notwendigkeit einer vernünftigen Begründung der Behauptungen, wenn man voraussetzt, daß jeder Diskussionsteilnehmer mit seinen Äußerungen die Ansprüche auf Verständlichkeit, Wahr364 Vgl. zur Möglichkeit einer Analyse des juristischen Diskurses mittels der Konsensustheorie Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 138, der eine analytische Übertragung bei Verzicht auf umfassende Rationalität für möglich hält; ähnlich Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 117f., der sich — allerdings noch vor Erscheinen der Theorie Alexy s — skeptisch zur Übertragbarkeit äußert (S. 118). 365 So Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 124f., 222f. 366 Habermas, Wahrheitstheorien, in: FS für W. Schulz, S. 250. 367 Habermas, Wahrheitstheorien, in: FS W. Schulz, S. 225; siehe auch derselbe, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, S. 47 f.; Habermas räumt dort in Details Schwächen seiner Theorie ein, hält sie jedoch insgesamt für eine sinnvolle Formulierung argumentativer Voraussetzungen. 368 Ob dies möglich ist, kann hier nicht erörtert werden; die Untersuchung von h M anhand des Diskursmodells von Habermas — rezipiert von Alexy für den juristischen Diskurs — erscheint aber schon deshalb sinnvoll, weil faktisch und insbesondere in der Rechtswissenschaft diskutiert wird; angesichts dieser Tatsache ist ein Diskurs über die Frage, ob Überzeugung im Diskurs möglich ist, der sich als verbindlicher Konsens in Handlungsanweisungen umsetzen läßt, für eine Diskursbetrachtung im Grunde obsolet. 369
109.
Lorenzen/Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, S.
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haftigkeit, Richtigkeit oder Wahrheit verbindet 370 , die eine Begründbarkeit implizieren. Dies kann man bei realistischer Betrachtungsweise nicht: es müßte berücksichtigt werden, daß oftmals nicht vernünftig, sondern mit Unterstellungen, Lügen und strategischen Behauptungen diskutiert wird, und Diskurse nicht immer mit dem Ziel der argumentativen Begründung allgemeiner oder normativer Aussagen, sondern auch mit dem Ziel geführt werden, die eigentliche Begründung hinter Phrasen zu verschleiern. Kurz: eine an idealisierten Vernunftregeln orientierte Argumentationstheorie vernachlässigt den Bereich des „Menschlichen" 371 . Die Konsensustheorie sollte deshalb nicht als ein praktisch umsetzbares Modell, sondern als ein Instrument verstanden werden, mit dessen Hilfe sich argumentative Figuren analysieren lassen, weil sie Regeln für die Art und Weise der Begründung diskursiver Aussagen aufstellt. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob nach den Voraussetzungen der Argumentationstheorie jeder Diskussionsteilnehmer jede Behauptung, jede Regel, die er im Diskurs einführt, wieder begründen muß. Dabei ist zu beachten, daß bei Diskussionen Behauptungen fast ausschließlich durch weitere Behauptungen begründet werden, so daß die Notwendigkeit der Begründung immer weitere Kreise zieht, eine immer größere Anzahl von Behauptungen begründbar sein muß. Diese Stufenfolge der Begründungen zieht in dieser „idealen" Form des allgemeinen Diskurses das Problem des sogenannten infiniten Regresses 372 nach sich, der nur dann vermieden werden kann, wenn an irgendeiner Stelle des Diskurses die Begründung abgebrochen wird 3 7 3 . 3. Begründungsabbruch durch Kompetenzbezugnahmen In Habermas' und Alexys Konzeption wird die Forderung aufgestellt, daß ein solcher, aus praktischen Erwägungen notwendiger Begründungsabbruch nach bestimmten Regeln vollzogen werden muß, damit die Rationalität des Diskurses erhalten bleibt, die sich grundsätzlich darin zeige, „daß sich ein kommunikativ erzieltes Einverständnis letztlich auf Gründe stützen muß. Und die Rationalität derer, die an dieser kommunikativen Praxis teilnehmen, bemißt sich daran, ob sie ihre Äußerungen unter geeigneten Umständen begründen könnten" 3 7 4 . 370
Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 84f., 165. Vgl. zu Lüge, Mißverständnis und Gesprächsverweigerung in Hinblick auf den „Kommunikativen Imperativ" der Konsenstheorie Habermas' und der Argumentationstheorie Alexys Wolfgang Klein, Vom Glück des Mißverstehens, in: LiLi, Nr. 50: „Glück" (1983), S. 128 ff. 372 Vgl. zum „Münchhausen-Trilemma" H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 13: der „infinite Regreß" findet sich unter Ziff. 1 des „Trilemmas"; zum gleichen Problem Popper, Logik der Forschung, S. 60. 373 Vgl. zum Begründungsabbruch die bei Alexy diskutierten Theorien und dessen eigene Vorschläge, Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 223 . 374 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, S. 37. 371
I. Die Notwendigkeit und Zulässigkeit autoritativer Argumente
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Für eine Erleichterung der Begründung wird zum einen vorgeschlagen, daß der Behauptende darstellt, warum eine spezifische Aussage nicht begründbar ist 3 7 5 . Der im Zusammenhang dieser Untersuchung interessantere Vorschlag bezieht sich darauf, daß es den Diskursteilnehmern möglich sein soll, sich auf die Begründungskompetenz anderer zu beziehen 376 , also ein Argument zu verwenden, das sich auf sachliche oder personale Autorität anderer stützt. In dem vorausgesetzten idealen Diskurs soll diese Bezugnahme ihrerseits wieder überprüfbar sein, insbesondere mit der Frage nach der Richtigkeit der Bezugnahme 377 . Auch die inhaltliche Richtigkeit der Behauptung soll überprüfbar sein. Die Diskutierbarkeit dieses Autoritätsargumentes sichert somit nach Habermas' und Alexys Konzeption die Rationalität des Diskurses 378 . M i t dieser allgemeinen Begründungsregel im praktischen Diskurs ist ein argumentationstheoretischer Standort für autoritative Argumente gefunden. Diese erhalten ihre Bedeutung dort, wo es darum geht, Begründungen zu legitimieren und weitere Begründungen angesichts des sonst unvermeidlichen infiniten Regresses abzuschneiden379. Dabei muß bemerkt werden, daß die Pflicht zu immer weiterer Begründung bzw. zur Legitimation der Begründung nur dann besteht, wenn nach den Argumentationslastregeln eine Behauptung (im Sinne von Begründung) angegriffen wurde. Geschieht dies nicht, kann unterstellt werden, daß die Behauptung akzeptiert wurde bzw. so überzeugend war, daß die Diskursteilnehmer kein Gegenargument finden 380 . Argumentationstheoretisch läßt sich also eine Bezugnahme auf die Begründungskompetenz anderer als argumentative ultima ratio beschreiben, die — den (kontrafaktischen) Idealdiskurs vorausgesetzt — ihrerseits kritisch nachprüfbar sein muß. Daraus läßt sich wiederum ablesen, daß eine Verifikation bzw. Falsifikation der Behauptung durch die Diskursteilnehmer erschwert wird, da der Prüfungsvorgang anders als bei Sachargumenten auf außerhalb des unmittelbaren Diskurses geäußerte Behauptungen (Begründungen) zurückgreifen muß. Vervielfachen sich im Rahmen eines Diskurses die Bezugnahmen, was bei der Diskussion komplexer Fragen die Regel sein dürfte, so multiplizieren sich die Verifikations- bzw. Falsifikationsmühen des Diskursgegners. Rechnet man hinzu, daß zu einer besseren Absicherung des Einzelargumentes nochmals eine 375
Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 166. Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 166, 238 f. 377 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 166 f., 238. 378 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 223 f. 379 Vgl. in diesem Zusammenhang Clemens, Strukturen juristischer Argumentation, S. 20 f., der autoritative Argumente mit „hoher Konsenswahrscheinlichkeit" in Verbindung bringt und daraus auf ihre Geeignetheit zum Begründungsabbruch schließt. 380 Vgl. zur Argumentationslast Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 244. 376
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Vielzahl von Bezugnahmen notwendig sein wird, läßt sich unschwer ermessen, daß die Last der Argumentation auf den Diskursgegner übergeht. Damit schafft eine autoritative Argumentationsweise schon per se einen argumentativen und rhetorischen Vorsprung. Dieser theoretische Befund ließ sich bei der hMRechtsprechungsanalyse empirisch feststellen: Urteile, in denen von der h M explizit abgewichen wurde, waren besonders ausführlich und vielschichtig begründet. Zur Vermeidung von infiniten Regressen sind jedoch argumentative Reduktionsmechanismen, die der Begründungslerleichterung dienen, schon aus praktischen Erwägungen unverzichtbar 381 . ES ist nicht möglich, jede Diskussion um eine Entscheidung auf eine ursprüngliche Legitimation, eine Letztbegründung zurückzuführen, sondern es bedarf bestimmter Nichtnegierbarkeiten. Vor diesem Hintergrund scheint es zwangsläufig, daß autoritative Bezugnahmen nicht wegzudenken sind: „Die Idee der Letztbegründung und die sich aus ihr ergebende Suche nach einem archimedischen Punkt der Erkenntnis — oder auch anderer Bereiche der menschlichen Praxis — führt stets zu autoritär-dogmatischen Denkformen, also zu einem Stil des Problemlösungsverhaltens, wie er in den Naturwissenschaften meist als inadäquat angesehen w i r d 3 8 2 " . Mithin stellt sich die Problematik autoritativer Argumente unter veränderten Vorzeichen: die Verwendung solcher Begründungslegitimationen kann grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden, sondern Bezugnahmen auf Begründungskompetenzen lassen sich als diskursiv weitgehend unverzichtbar beschreiben 383. Damit sind erste Standortprobleme gelöst, die jedoch Bedenken gegen unkritisch verwendete autoritative Argumente erst sensibilisieren.
381
Vgl. zur Kritik am Münchhausen-Trilemma und speziell zum Begründungsabbruch Christoph Westermann, Argumentationen und Begründungen in der Ethik und Rechtslehre, S. 77 ff. 382 Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und und Rechtstheorie, Band 2 (1971), S. 81, derselbe, Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, S. 17f.: Dogmatismus oder Skeptizismus seien die Resultate der Suche nach absoluten Begründungen. 383
Auch die Topik nennt Autorität als einen Argumentationstopos; vgl. Struck, Topische Jurisprudenz, S. 84, 89ff.; ähnlich Krawietz, Zum Paradigmenwechsel im Juristischen Methodenstreit, in: Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), S. 147; von einer anderen Position, nämlich im Anschluß an Popper zu diesem Thema von Mettenheim, Recht und Rationalität, S. 59: bei streitigen Auslegungsfragen hätten immer die Hinweise auf Autoritäten Gewicht.
II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs
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II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs 1. Der Entscheidungszwang Der juristische Diskurs ist dadurch geprägt, daß die Argumentation textbezogen 3 8 4 und im Hinblick auf Entscheidungen verläuft 385 . Diese Phänomene sind charakteristisch für den juristischen Diskurs, wobei es keine Rolle spielt, ob es sich bei dieser juristischen Diskussion um eine rechtswissenschaftliche Diskussion, um eine parlamentarische Anhörung oder etwa eine richterliche Beratung handelt: juristisch argumentieren heißt immer, unter Heranziehung von Texten Entscheidungen, Entscheidbarkeit, herzustellen. Dieser Gesichtspunkt, der sich mit Handlungszwang beschreiben läßt, macht deutlich, daß die „idealen" Regeln des allgemeinen Diskurses nur begrenzt auf den juristischen Diskurs Anwendung finden können 3 8 6 und eine Analyse desselben die juristischen Besonderheiten berücksichtigen muß. Trotz der Problematik der Übertragbarkeit der Argumentationsregeln vom allgemeinen auf den juristischen Diskurs — wegen dessen restriktiver Bedingungen — lassen sich jedoch auch Gemeinsamkeiten ermitteln, denn der juristische Diskurs wird wie der allgemeine Diskurs auch, neben dem spezifisch juristischen Ziel der Herstellung von Entscheidbarkeit, mit dem Anspruch auf Richtigkeit— im Sinne von Begründbarkeit — geführt. Nähert man sich dem juristischen Diskurs unter dem Gesichtspunkt der Begründbarkeit normativer Aussagen, kann eine Parallele zum allgemeinen praktischen Diskurs hergestellt werden 387 . War dort eine Begründbarkeit aus „idealen", rationalen Erwägungen gefordert, um per Transparenz die Überprüfung von Aussagen zu ermöglichen, so gilt für den juristischen Diskurs — in der Gestalt des Urteils — darüber hinaus die 384
Vgl. zum Umgang mit Texten als einem Hauptmerkmal juristischen Arbeitens Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 174ff.; Broekman, Text als Institution, in: Rechtstheorie Beiheft 6 (1984), S. 153 ff., derselbe, Juristischer Diskurs und Rechtstheorie, in: Rechtstheorie, Band 11 (1980), S. 23 f.; Krawietz, Juristische Methodik und ihre rechtstheoretischen Implikationen, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 22f., 26, 36; derselbe, Zum Paradigmenwechsel im Juristischen Methodenstreit, in: Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), S. 132. 385 Siehe dazu Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, Rechtstheorie, Band 6 (1975), S. 148; Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, S. 113 will vom Entscheidungszwang ausgehend alle Elemente und Funktionen der Jurisprudenz deuten. 386 Dies stellt Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 262 in aller Deutlichkeit fest; ähnlich Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 140 f. 387 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 271 ; die Kritik an Alexy von Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 314, Fn. 43, übersieht, daß Alexy das Prädikat „Sonderrolle" für den juristischen Diskurs keineswegs leichtfertig vergibt, sondern den Rationalitätsanspruch darauf beschränkt, daß eine diskursive Aussage innerhalb des geltenden Rechts vernünftig begründet werden kann.
6 Drosdeck
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positivrechtliche Begründungspflicht der verschiedenen Verfahrensordnungen 3 8 8 . Eine Analyse mit dem Regelinstrumentarium der Argumentationstheorie erscheint jedoch nur dann sinnvoll, wenn Prozeß und Urteil als juristischer Diskurs gelten können. Die Antwort auf diese Frage ist im Anschluß an Alexy nur differenziert möglich 3 8 9 , denn einerseits wird auch im Prozeß — beispielsweise zwischen Anwälten oder zwischen Verteidiger und Staatsanwalt und eventuell auch mit dem Richter — juristisch diskutiert, auf der anderen Seite aber nicht immer vorrangig mit dem Ziel der Wahrheitssuche, sondern dem Ziel des prozessualen Erfolgs 390 . Dieser Aspekt ist es, der Habermas veranlaßt, den Prozeß als strategisches Handeln zu qualifizieren und nicht als Diskurs zu betrachten 391 . Es ist aber nicht allein das Verfahren selbst, das im Blickpunkt stehen darf — also mündliche Verhandlung und Schriftsätze — sondern vor allem auch das richterliche Urteil. Hier findet sich oft eine Diskussion — bedingt allein schon durch die Gegenüberstellung der divergierenden Parteienvorträge -, die häufig eine Auseinandersetzung mit juristischen dogmatischen Vorschlägen zum Inhalt hat 3 9 2 . Dies hat die hM-Rechtsprechungsanalyse vielfach gezeigt und kann an einem Beispiel aus der jüngeren Rechtsprechung des BGH zur Anscheinsvollmacht verdeutlicht werden 393 : Der BGH stellt unter mannigfaltigen Literaturhinweisen dar, daß die Frage nach dem Verhältnis der Anscheinsvollmacht zur Haftung des falsus procurator umstritten sei und schließt sich der „herrschenden Ansicht" unter Diskussion der verschiedenen Vorschläge an. Spätestens die richterliche Entscheidung kann also in den Zusammenhang juristischer text- und entscheidungsbezogener Diskussion eingereiht werden 394 .
388
hierzu Eckhold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, S. 17; Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, S. 91 ff.; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 265. 389 Vgl. ausführlich zu der Frage der Einschätzung des Prozesses unter Wiedergabe der Auffassungen von Alexy und Habermas Schaper, Studien zur Theorie und Soziologie des gerichtlichen Verfahrens, S. 174-178. 390 y g i hierzu und zur Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 269-271. 391
Vgl. Habermas, in: Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 200f.: Habermas betont den Zweck des Diskurses, Verständigung und Wahrheit herzustellen; dies seien keine Ziele, die im zeitgedrängten Prozeß verfolgt werden könnten. 392
Siehe zur Arbeitsweise der Gerichte in Hinblick auf die Diskussion mit rechtswissenschaftlichen Vorschlägen Luhmann, Rechtssoziologie, S. 237; ähnlich Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 59; vgl. auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 270: Begründungen würden aus wissenschaftlichen Erörterungen übernommen. 393 Vgl. BGH W M 1983, S. 419f.: dieses Beispiel kann als repräsentativ bezeichnet werden; vgl. zum Rechtsschein im Wechselrecht BGH W M 1986, S. 902ff.: das Urteil beschäftigt sich mit der „gegenteiligen Auffassung", die vom Berufungsgericht unter Rezeption der Literatur vertreten wurde und verschließt sich dieser Ansicht.
II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs
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Mithin lassen sich für den juristischen Diskurs zumindest zwei Grundanforderungen postulieren: neben der Entscheidungsfähigkeit muß eine juristische Argumentation auch die Begründbarkeit 395 ihrer Aussagen sichern. Damit ist die Frage aufgeworfen, ob mit Begründbarkeit wie beim allgemeinen Diskurs die Rationalität des Diskurses gemeint ist oder ob lediglich die gesetzlichen Pflichten zur Begründung, insbesondere von Urteilen, eine begrenzte, im System des geltenden Rechts fundierte 396 Begründung erfordern 397 . 2. Rationalitätsdefinitionen Diese Frage wird von der Systemtheorie und der Argumentationstheorie im Anschluß an Habermas' Konsensustheorie unterschiedlich beantwortet 398 . Während die Systemtheorie die Rationalität eines Verfahrens auf dessen Effizienz beschränkt und die Rechtswissenschaft vor dem Hintergrund des Richtigkeitspostulats für überfordert hält 3 9 9 , gehen die anderen analytischen Ansätze davon aus, daß Nachvollziehbarkeit und Plausibilität der Argumentation qua Konsensbildung 400 rechtliche Verfahren wie rechtswissenschaftliche Argumentationen und Entscheidungsmöglichkeiten legitimieren 401 . Eine Entscheidung für eine dieser Theorien wird im Rahmen dieser Arbeit nicht getroffen, denn dies würde eine Gegenüberstellung der divergierenden Theoriekonzepte in vollem Umfang erfordern und damit das Ziel der Untersuchung aus dem Blickfeld geraten lassen; vielmehr sollen sämtliche Möglichkeiten der Analyse ausgeschöpft werden. Für den mit dieser Arbeit verfolgten Zweck ist es geradezu unerläßlich, autoritative Argumentation unter verschiede394 Vgl. Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, S. 10, der das richterliche Urteil in Diskurs und „Argumentationsszene" eingliedert. 395 Vgl. zur Notwendigkeit der Begründung Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 140. 396
Vgl. zur systemabhängigen Begründung Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, Rechtstheorie, Beiheft 2 (1981), S. 299. 397 Diese Frage wirft auch Wieacker auf; vgl. Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: FS Gadamer II, S. 333 f.: er führt aus, daß der Richter zur gesetzlich vorgeschriebenen Begründung auch unterschiedliche theoretische Begründungskonzepte verwenden dürfe. 398 Vgl. zur Darstellung der Unterschiede im Überblick Eckhold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, S. 19;. 399 So Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 134ff.; Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 15ff., 23; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 21 ff., 34, 79 ff. 400 Vgl. zu diesem Zusammenhang zwischen Konsens und Begründbarkeit EckholdSchmidt, Legitimation durch Begründung, S. 21 f., 67,92; skeptisch zum Konsens Albert, Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, S. 87 ff. 401 Vgl. zu der Einordnung der beiden Gruppen Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie, Band 6 (1975), S. 146f. 6*
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nen Gesichtspunkten zu betrachten 402 . Eine kurze Darstellung der Rationalitätsdefinitionen der verschiedenen Theorien ist hingegen notwendig, damit im jeweiligen theoretischen Zusammenhang die Kriterien für die Bewertung von h M deutlich werden 403 . Die Heranziehung der Konsensustheorie als analytisches Modell zur Überprüfung der Argumentationsfigur h M legt es grundsätzlich nahe, daß unter Rationalität diskursive Rationalität verstanden wird, die mit Verstehbarkeit, Erklärbarkeit, Begründbarkeit umschrieben werden kann. Gegen diesen Rationalitätsbegriff der Konsensustheorie und seine Anwendung auf das Rechtssystem werden von verschiedenen Seiten Einwände geltend gemacht. Simon ist der Auffassung, daß der Gedanke der Begründung von Wertentscheidungen in intersubjektiver Auseinandersetzung faszinierend sei, äußert sich jedoch wegen der restriktiven Bedingungen des Justizsystems skeptisch zur Übertragbarkeit des philosophisch-idealistischen Konzepts auf juristische Diskurse 404 . Ballweg vertritt einen relativierten und relationalen Rationalitätsbegriff, indem er juristische Rationalität auf die Regelhaftigkeit des Verfahrens, das Prozeßrecht zurückführt und dementsprechend die Kontrollierbarkeit der regelgerecht gewonnenen Aussagen auf den „jeweiligen sozialen Kontext" reduziert 405 . Die Abhängigkeit juristischer Rationalität von institutionellen Voraussetzungen veranlaßt Krawietz zu dem gegen die Konsensustheorie gerichteten Vorwurf, sie verkenne die Zweigleisigkeit des juristischen Begriffes von Rationalität 4 0 6 : die Rechtspraxis könne nicht mit dem rechts wissenschaftlichen oder gar rechtstheoretischen Maßstab von Rationalität gemessen werden 407 . Vielmehr müsse man hinnehmen, daß irrationale Elemente bei der richterlichen Rechtsfindung eine gewichtige Rolle spielten 408 und dennoch Recht in systemfunktionaler Hinsicht rational sei 409 . 402
Vgl. übersichtlich zu den verschiedenen Rationalitätskonzepten Priester, Rationalität und funktionale Analyse, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie, Band I (1971), S. 461 ff. 403
Vgl. zur Erforderlichkeit der Definition von Rationalität in rechtstheoretischen Arbeiten Rüßmann, Besprechung von Alexy, in: Rechtstheorie, Band 10 (1979), S. 112. 404 Vgl. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 115f.; Simons Bedenken könnten durch die spezifisch juristische Weiterentwicklung der Argumentationstheorie durch Alexy verringert worden sein; vgl. auch die Nachweise bei Simon zur HabermasDiskussion, S. 138 f. 405 Vgl. Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, S. 22 f. 406 Siehe hierzu Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften?, in: Rechtstheorie, Band 15 (1984), S. 437/438. 407 Vgl. Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften?, in: Rechtstheorie, Band 15 (1984), S. 425 f. 408 unter Rezeption weiterer Meinungsäußerungen zu diesem Thema Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften?, in: Rechtstheorie, Band 15 (1984), S. 432 f. 409 Vgl. Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften?, in:Rechtstheorie, Band 15 (1984), S. 441, 447f.
II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs
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Diese von Luhmann begründete Auffassung basiert auf der Ablehnung der Vorstellung, daß ein unter rationalen Bedingungen erzielter Konsens Geltungsansprüche von Behauptungen einlösen könne; so führt Luhmann aus, daß Vernünftigkeit nichts weiter sei, „als die im Diskussionssystem selbst moralisierte Teilnahmebedingung", die nicht als Kriterium für Wahrheit dienen könne, sondern umgekehrt werde Vernunft bzw. die Vernünftigkeit durch das für wahr Befundene definiert 410 . Luhmann entidealisiert den diskursiven Vernunftbegriff und konstituiert eine eigene Auffassung von Rationalität, die auf die Reduktion von Komplexität und die Absorption von Konflikten in gesellschaftlichen Systemen zielt 4 1 1 . Diese Auffassung soll nun näher betrachtet werden. Die These Luhmanns, daß das gerichtliche Verfahren und nicht die vorgetragenen Argumente eine richterliche Entscheidung legitimieren, hat heftige und vielfaltige Kritik erfahren 412 , die hier im einzelnen nicht nachgezeichnet werden soll; die Kritiker zielen im wesentlichen darauf ab, daß Luhmanns Konzeption Fragen der Gerechtigkeit und Richtigkeit ausklammere 413 und sich sein Rationalitätsbegriff auf die Systemleistung der Reduktion von Komplexität beschränke 414 . Will man die Analyse Luhmanns richtig verstehen, so ist es notwendig, die Prämissen hervorzuheben, unter denen Luhmann seine funktionalen Betrachtungen anstellt: „Funktionale Analyse ist eine Technik der Entdeckung schon gelöster Probleme. (....) So wird es möglich, Vorhandenes als Problemlösung zu begreifen und entweder die Strukturbedingungen der Problematik oder die Problemlösungen zu variieren "415. Die Rechtssoziologie nimmt nach dem Verständnis Luhmanns eine „relationale Perspektive" 416 im Verhältnis zur Rechtswissenschaft ein und überläßt
410 Vgl. Luhmann, in: Habermas /Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 332 ff. 411 Vgl. zum Rationalitätsbegriff Luhmanns die Analyse bei Priester, Rationalität und funktionale Analyse, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I (1971), S. 464. 412 Vgl. zu einer umfassenden Stellungnahme Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 205 ff.; kurz, aber symptomatisch Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 122-125. 413 Die Kritik leidet schon daran, daß sie die Intension funktionaler Betrachtung vernachlässigt: wenn Luhmann behauptet, daß im Verfahren nicht stets die richtige Entscheidung getroffen werden könne, weil dem schon die Entscheidungsnotwendigkeit entgegenstehe, kann daraus nicht geschlossen werden, daß Luhmanns Konzeption den Anspruch auf Richtigkeit negiere; gleichfalls läßt sich aus der Behauptung Luhmanns, das Verfahren könne funktional nur die Entscheidung an sich garantieren, nicht aber die Möglichkeit, Wahrheit zu finden, kein Verzicht auf Gerechtigkeit herleiten; vgl. zu Luhmanns Thesen, Legitimation durch Verfahren, S. 21. 414 Vgl. ausführlich zu Rationalität im Sinne Luhmanns die Ausführungen von de Georgi, Wahrheit und Legitimation im Recht, insbesondere S. 224ff. 415 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 6.
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dieser die systematische Behandlung des Rechts und die damit verbundenen Fragen 417 . Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Legitimation durch Verfahren nicht als „zynische Beschreibung" 418 des gerichtlichen Prozesses zu werten, sondern als die Formulierung der Systemleistungen des Verfahrens, zu denen Luhmann die Legitimation der Entscheidung rechnet. Es handelt sich mithin bei der funktionalen Analyse des Prozesses durch Luhmann nicht um eine (idealistische) Sollens-Konzeption, sondern entsprechend den genannten Prämissen um eine (realistische) Entdeckung von Vorhandenem 419 , die sich aus diesem Grunde auch nicht als handlungstheoretisches Rationalitätskonzept anbietet, sondern als Mittel zur Analyse vorfindbarer Funktionen und Strukturen im Zusammenhang mit h M 4 2 0 . Dabei stellt sich die Frage, ob die Aussagen, die Luhmann in Hinsicht auf das gerichtliche Verfahren trifft, nicht auch auf die rechtswissenschaftliche Diskussion übertragbar sind. Insbesondere bietet sich die These an, daß unter Legitimierung die „Institutionalisierung des Anerkennens von Entscheidungen als verbindlich" verstanden werden soll 4 2 1 , wobei das Verfahren als Medium der Institutionalisierung angesehen wird. Ließe sich dieses Modell vom Verfahren auf rechtswissenschaftliche Diskussionen übertragen, dann wäre nicht mehr der Konsens die legitimierende Komponente für Rechtsauffassungen, sondern die Institutionalisierung durch Dogmatisierung und Präjudizienbildung. Allerdings ist fraglich, ob die sozialen Beziehungen und die sozialpsychologischen Voraussetzungen im fachjuristischen Diskurs mit denen des Prozesses vergleichbar sind, da es insbesondere an der strategischen erfolgsorientierten Verfahrenssituation fehlt und es wahrscheinlich im wissenschaftlichen Diskurs nicht möglich ist, Legitimität von persönlich geglaubter Richtigkeit 4 2 2 , von 416 Es kann deshalb in Zusammenhang mit den systemfunktionalen Betrachtungen des Rechts angezweifelt werden, ob der Vorwurf Habermas', die Systemtheorie unterlaufe Wahrheitsfragen „subjektivistisch", gerechtfertigt ist; vgl. Habermas, in: Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 221. 417
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 354. Vgl. Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 123. 419 Vgl. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 143, der Luhmann gegen die Kritik in Schutz nimmt; die Systemtheorie liefere keine Handlungsanweisungen, da sie dies „offenkundig" nicht bezwecke. 418
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M i t dieser Einordnung der systemfunktionalen Analyse soll die Divergenz zum diskurstheoretischen Modell in Hinblick auf den Begriff von Rationalität nicht marginalisiert werden (vgl. zur Unvereinbarkeit Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung?, S. 221), doch scheint es erforderlich, auf die unterschiedlichen Blickwinkel der Konzeptionen hinzuweisen. 421 422
Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 122. Vgl. zu diesem Legitimitätsbegriff Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 34.
II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs
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Akzeptanz über rationale Argumentation zu trennen 423 . Insofern scheint der relative Richtigkeitsanspruch im Sinne von Konsensfahigkeit einer im juristischen Diskurs eruierten Entscheidungsmöglichkeit nur durch argumentative Rationalität einlösbar zu sein 424 . Ob sich dies tatsächlich so verhält oder ob die Thesen Luhmanns letztendlich doch übertragbar sind, wird die weitere Analyse zeigen. Zunächst wird jedoch der Versuch unternommen, unter dem Postulat diskursiver Rationalität juristische Diskussionen zu analysieren und zu bewerten. Unter diskursiver Rationalität verstehen die Vertreter der Argumentationstheorie Nachvollziehbarkeit, Transparenz, Plausibilität und Verstehbarkeit einer normativen Behauptung 425 . M i t der Verwendung dieses Rationalitätsbegriffes zur Analyse von h M ist jedoch nicht intendiert, den juristischen Diskurs als „ideale Sprechsituation" auszugeben, denn es ist offensichtlich unmöglich, im juristischen Diskurs eine Art der Kommunikation zu erblicken, die weder durch „äußere kontingente Einwirkungen", noch durch strukturelle Zwänge beeinflußt w i r d 4 2 6 . Die Einsicht, daß juristische Argumentation eine praktische Technik ist, die den Einzelfall durch Transformationsleistungen 427 rechtlich konditioniert und dabei auf die Sätze des geltenden Rechts beschränkt ist 4 2 8 , steht bei der Analyse autoritativer Argumente im juristischen Diskurs unter der Anforderung von Rationalität gewissermaßen als Vorzeichen vor der Klammer. Es kann also bei einer juristischen Diskussion anders als beim allgemeinen, praktischen Diskurs nicht auf eine beliebige Menge von Argumenten oder Begründungen zurückgegriffen werden, sondern juristische Diskussion erfordert eine Anbindung an das geltende Recht, an das System 429 , mit anderen 423 Vgl. zur Möglichkeit und den Schwierigkeiten einer Übertragung der Bedingungen von Diskurs und Prozeß Schreiber, Die Bedeutung des Konsenses der Beteiligten im Strafprozeß, in: Rechtsgeltung und Konsens, S. 81, der sich hierbei auf Habermas beruft. 424 Vgl. hierzu vor allem Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 271. 425 Vgl. zu dieser Bestimmung von Rationalität Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, Rechtstheorie, Band 6 (1971), S. 146; diese Anforderungen werden bei Aarnio, Alexy, Peczenik in sechs Prinzipien gefaßt: Konsistenz, Zweckrationalität, Überprüfbarkeit, Kohärenz, Verallgemeinerbarkeit und Aufrichtigkeit; siehe: Grundlagen der juristischen Argumentation, in: Metatheorie juristischer Argumentation, S. 46 ff. 426 Vgl z u r idealen Sprechsituation und den Bedingungen Habermas, Wahrheitstheorien, in: Festschrift für W. Schulz, S. 225. 427 Vgl. ausführlich zu rechtlichen Transformationen Aarnio, Alexy, Peczenik, Grundlagen juristischer Argumentation, in: Metatheorie juristischer Argumentation, S. 18 ff., 30f.; vgl. auch Broekman, Die Rationalität des juristischen Diskurses, in: Metatheorie juristischer Argumentation, S. 95 f.: Broekman bezieht Rationalität in die Transformation ein; juristische Rationalität werde nicht in der Sache selbst vorgefunden, sondern über Transformation, semantische Verschiebungen etc. hergestellt. 428 Vgl. hinsichtlich dieser Erkenntnis Krawietz, Rechtssystem und Rationalität der juristischen Dogmatik, in: Rechtstheorie, Beiheft 2 (1981), S. 315.
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Worten einen „Rückgriff auf gemeinsame Vorverständnisse" 430 . Diese Notwendigkeit im Rahmen des juristischen Diskurses ergibt sich aus der — rechtsstaatlich ableitbaren und rechtstheoretisch unbestreitbaren — Forderung der Anerkennung des positiven Rechts und impliziert, daß als Argument nur das verwendet werden kann, was als juristischer Satz, ob als gesetzgeberische Entscheidung, Dogmatik oder Präjudiz, vorlegitimiert ist. Der aus diesen Argumenten im Rahmen der juristischen Diskussion gewonnene Konsens 431 legitimiert die konkrete juristische Entscheidung in zweierlei Hinsicht, nämlich in Hinblick auf ihre Legalität und ihre soziale Richtigkeit. Der juristische Diskurs steht mithin unter dem Zwang, eine Entscheidungsmöglichkeit herauszubilden und diese Entscheidung nebst der dafür angebotenen Begründungen als legal und richtig zu legitimieren. Damit ist umschrieben, daß sich juristische Argumente nur dann als Begründungen im juristischen Diskurs eignen — und offensichtlich auch nur dann als rationale Begründungen -, wenn sie sich auf allgemein Akzeptiertes, auf Verbindliches zurückführen lassen; juristisches Denken und Argumentieren vollzieht sich mithin in Vorgegebenem 432. Diese Voraussetzungen erfüllt zunächst das Gesetz, das den Bezugsrahmen juristischer Argumentation absteckt und die Frage der Legitimation des Argumentes kraft der ihm innewohnenden rechtlichen Autorität qua transformierter politischer Autorität gar nicht aufkommen läßt 4 3 3 . Durch diese Transformation politischer in rechtliche Autorität besteht — zumal in demokratischen Gemeinwesen — ein Vorkonsens 434 über die Vernünftigkeit und damit die Akzeptierbarkeit derjenigen Argumente, die dem Gesetz entnommen sind 4 3 5 . 429 Vgl. zu der Systemabhängigkeit juristischer Argumentation Krawietz, Rechtssystem und Rationalität in der juristischen Dogmatik, Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 299. 430 Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, Rechtstheorie, Band 6 (1975), S. 148. 431 Vgl. zum diskursiven Konsens hinsichtlich der Informationen und Argumente, nicht hinsichtlich des Ergebnisses Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, S. 10; Luhmann sieht den Konsenswert der h M als eine ihrer wichtigsten Besonderheiten an: vgl. Luhmann, Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet, S. 195, derselbe, Rechtssoziologie, S. 289f.; allerdings hält Luhmann Konsens als argumentativen Ausgangspunkt nicht für realisierbar: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 446; siehe weiterführend und problematisierend Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 61, 285 ff. 432 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 160, der als Beispiel die präsumtive Verbindlichkeit von Präjudizien anführt. 433 Vgl. Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, Rechtstheorie, Band 6 (1975), S. 152. 434 Vgl. zu dieser vorverlagerten Anerkennung Esser, Juristisches Argumentieren, S. 17; vgl. auch Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 28,29f., der „die Fraglosigkeit legitimer Geltung bindender Entscheidungen zu den typischen Kennzeichen des modernen politischen Systems" rechnet und dieses Phänomen mit „Grundkonsens" bezeichnet.
II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs
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Das Gesetz garantiert auch dann, wenn man seiner Vernünftigkeit im Sinne sachlicher Richtigkeit kritisch gegenübersteht 436, zumindest idealiter die Gleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte 437 . Schon daraus bezieht es seine Zustimmung und Geltung als vernünftiges Argument. Diese Idealbeschreibung muß natürlich relativiert werden, denn jeder Jurist weiß, daß Argumente unmittelbar aus dem Gesetz nur äußerst begrenzt verfügbar 438 und auch nur begrenzt operationabel sind: „Menge und Qualität der laufend produzierten Rechtsnormen sind nicht geeignet, auf höher aggregierbaren Entscheidungsebenen Rechtsprobleme zu klären oder auch nur erwartungsbildend zu wirken 4 3 9 ". Somit stellt sich das Problem der Möglichkeit anderer akzeptierbarer gemeinsamer Vorverständnisse zur Sicherung der Rationalität des Diskurses und auch der Legitimation des Ergebnisses 440. Dies ist das weite Gebiet der Gesetzesauslegung mit seinen verschiedenen juristischen Erscheinungen, die eine deduktiv vollständige Entscheidungsbegründung ermöglichen sollen 441 . Die Auslegung des Gesetzes hat das Modell richterlicherRechtsanwendung aus dem Gesetz überholt. Es ist geradezu ein Kennzeichen moderner positiver Rechtsordnungen, daß sie nur über Auslegung handhabbar sind 4 4 2 ; insofern sind es in überwiegender Zahl nicht mehr die gesetzgeberischen Entscheidungen, die konsentiert werden müssen, sondern die richterliche Entscheidung bzw. der dogmatische Vorschlag muß der intersubjektiven rationalen Erörterung zugänglich gemacht werden. Aus diesem Grunde verdienen die außergesetzlichen Argumente eine größere Beachtung. Zu diesen möglichen Argumentformen werden die Auslegungscanones, die Dogmatik 4 4 3 , Präjudizien 444 , allgemeine und empirische Argumente sowie 435
Siehe zur rechtlichen Legitimation der Gesetze und zur Sach- und Fachkompetenz des Gesetzgebers Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 353 ff., 363 ff.; anders als hier verfahrt Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 284, der die Regeln des positiven Rechts aus dem Bereich der externen juristischen Argumentation ausklammert. 436 Vgl. für eine relativierende Einstellung Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 84ff. 437 Vgl. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 287ff., 296ff. 438 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 132; Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, Rechtstheorie, Band 6 (1975), S. 153. 439 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 45. 440 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 167, der die Bedeutung der Rechtfertigungsproblematik hervorhebt. 441 Vgl. Eike v. Savigny, Die Rolle der Dogmatik — wissenschaftstheoretisch gesehen, in: Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, S. 106. 442 Vgl. Podlech, Rechnen und Entscheiden, S. 145; er ist der Auffassung, daß eine Anwendung des Gesetzes nur über Dogmatik möglich ist. 443 Vgl. zur Dogmatik einleitend Eike v. Savigny, Die Rolle der Dogmatik — wissenschaftstheoretisch gesehen, in: Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, S. 106.
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spezielle juristische Argumentformen gerechnet 445 . Im Zusammenhang mit einer Untersuchung autoritativer Argumentformen, insbesondere der hM, sind die Auslegungscanones, die allgemeinen und empirischen Argumente und die speziell juristischen Argumente wie das argumentum a fortiori etc. von geringerem Interesse, denn sie stellen keine primär autoritativen Argumentformen dar. 3. Autoritative juristische Argumentformen Dogmatik und Präjudizien jedoch bilden den argumentativen Hintergrund, der als autoritativ relevant bestimmt werden kann, wie sich an den Diskussionsprozessen zu Anscheinsvollmacht und Erklärungsbewußtsein beispielhaft nachweisen läßt. Die Rechtsdogmatik ist als Hilfsmittel für juristische Begründungen trotz latenter Kritik, die sich weniger auf Dogmatik an sich, als auf sogenannte Kryptoargumentationen bezieht, anerkannt 446 ; eine kontrafaktische Leugnung ihrer Bedeutung hätte auch wenig Aussicht auf Erfolg. Dogmatik ist der im geltenden Rechtssystem piazierte Fundus juristischer Meinungen, die über Negationsverbote institutionalisiert wurden und deshalb als verbindlich gelten 4 4 7 . Diese Verbindlichkeit hatten dogmatische Sätze nicht immer: in der Antike waren sie allgemeine Aussagen über beobachtete Regelmäßigkeiten, die von kompetenten Beurteilern geäußert wurden und deshalb einen gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit verbuchen konnten. Sie wurden aus diesem Grunde nicht als verbindlich eingestuft, sondern als Prämissen für dialektische Schlußfolgerungen genutzt 44 *. Der Charakter von Dogmatik hat sich demgegenüber in der modernen Rechtswissenschaft zu einem Verfahren der Produktion von normativen Sätzen verändert, die ihren Geltungsanspruch aus der Inbezugsetzung von Normensystem und Realsystem herleiten 449 . Heute kann Dogmatik bzw. dogmatisches 444
Vgl. zu Dogmatik und Präjudizien Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre,
S. 373. 445 Vgl. zu diesen Argumentformen der „externen" Rechtfertigung Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 285; ähnlich Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 49. 446 Vgl. insbesondere de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromißformular, FS Esser, S. 86; Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik — dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problemen des Massenverkehrs, AcP 172 (1972) S. 138; Koch/ Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 186;. 447 Vgl. zum Negationsverbot als Voraussetzung der Dogmatisierung Ballweg, Rechtsphilosophie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft und der Jurisprudenz, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 45 sowie Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 15 f. 448
Vgl. zum Verständnis von „dogma" in der Antike, insbesondere bei Aristoteles Herberger, Dogmatik, S. 27-30; vom Verständnis autoritativer Festsetzung möchte Eike v. Savigny, Die Rolle der Dogmatik — wissenschaftstheoretisch gesehen, in: Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, S. 106, die juristische Dogmatik lösen.
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Argumentieren sich ähnlich wie die Argumentation mit Begründungen aus dem Gesetz auf einen umfassenden Vorkonsens stützen: sie bietet Regeln für die Entscheidbarkeit von Fällen, die im juristischen System angesiedelt sind 4 5 0 . Ihre Legitimation bezieht Dogmatik unmittelbar aus dem Gesetz 451 — dies ist der erste autoritative Aspekt von Dogmatik — und aus der Tatsache, daß sie von einer institutionalisierten Rechtswissenschaft 452 hergestellt wird, indem diese das gesetzliche Paradigma und die dort verwendeten Begriffe in einem ausdifferenzierten System integriert. M i t der Anbindung an das System des Gesetzes ist gesichert, daß dogmatische Sätze im juristischen Vorverständnisbereich angesiedelt sind, mithin unter Juristen grundsätzlich als erwägenswert erachtet werden 453 . Damit ist der zweite autoritative Aspekt von Dogmatik angeführt: sie beruht nicht nur auf der gesetzlichen Autorität, sondern dient selbst als argumentative Autorität 4 5 4 . Diese Autorität der Dogmatik läßt sich zunächst damit begründen, daß sie die Konflikte, die es zu lösen gilt, auf das rechtlich Relevante reduziert, funktional also eine Reduktion von Komplexität 4 5 5 erreicht, die Entscheidbarkeit erst ermöglicht; eine mögliche Leistung von Dogmatik wird deshalb in der Bereitstellung von überprüfbaren und einsichtigen Kriterien für die Handhabung des durch die Gesetzesauslegung auszufüllenden Spielraumes gesehen456. Die dogmatischen Regeln teilen durch ein ähnlich/unähnlich-Urteil 449 Vgl. Herberger, Dogmatik, S. 396, 408 ff., der Savigny und Ihering als Wegbereiter dieser modernen Dogmatik ansieht; die Verbindlichkeit moderner Dogmatik betont Esser, Herrschende Lehre und ständige Rechtsprechung, in: Dogma und Kritik in den Wissenschaften, S. 26. 450 Vgl. zu diesem Dogmatikverständnis Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 27; Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel, S. 16. 451 Vgl. in historischer Perspektive Herberger, Dogmatik, S. 347; für die heutige Situation Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), S. 97; ebenso Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, in: AcP 172 (1972), S. 132. 452 Vgl. zur Institutionalisierung als Dogmatikerfordernis Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 48; gleicher Meinung ist Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 314. 453 y g i Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 40f.; Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, Rechtstheorie Band 6 (1975), S. 158. 454 Vgl. zu dieser autoritativen Doppelfunktion Horn, Rationalität und Autorität in der juristischen Argumentation, Rechtstheorie 6,1975, S. 158; nach Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 91, ist Dogmatik das „Ausgehen von Autoritäten ... mit eigener Autorität"; anders Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: FS Gadamer II, S. 320f.: er unterscheidet theologische Dogmatik von juristischer und versucht dies auf ein Minus an autoritären Vorgaben zu gründen. 455 Vgl. zur Reduktion der Unbestimmtheit gesetzlicher Regeln durch Dogmatik, aber auch zur Erhöhung der Freiheit im Umgang mit vorgegebenen Texten Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 16, 19; die Reduktionsfunktion betont auch Seibert, Fall, Regel und Topos, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 333. 456 Diese Leistung firmiert bei Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: FS Gadamer II, S. 316 unter der Bezeichnung „heuristische These".
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dem Rechtsanwender mit, ob er einen bestimmten Sachverhalt seinen rechtlichen Beurteilungskriterien zuordnen kann 4 5 7 . Der zweite wesentliche Grund für die akzeptierte Autorität von Dogmatik ist das Verfahren ihrer Herstellung im Rahmen eines fachspezifischen juristischen Diskurses, der eine Sachkompetenz der Teilnehmer impliziert und deswegen in Fachkreisen grundsätzliche Akzeptanz garantiert 458 . Dadurch ist gewährleistet, daß ein Grundbestand von Meinungen nicht mehr in Frage gestellt wird und somit fortan als Begründung verwendet werden kann 4 5 9 . Diese Funktionen und Mechanismen erzeugen den angesprochenen Vorkonsens, den Dogmatik bzw. dogmatisches Argumentieren für sich beanspruchen darf und aus dem die Möglichkeit dogmatischer Argumentation als einer Möglichkeit juristischen Argumentierens 460 erst erwächst. Die Autorität der Präjudizien 461 als weiterem juristischen Argument, dem ein gemeinsames Vorverständnis, ein Vorkonsens unterstellt werden kann, ist faktisch und deshalb trotz der Bemühungen, über Legitimationsproblematisierungen ihre Bedeutung einzugrenzen, evident 462 . Präjudizien enthalten infolge der Auseinandersetzung der Gerichte mit den Ergebnissen dogmatischer Diskussion 463 zumeist dogmatische Sätze 464 , so daß sie zunächst die gleiche autoritative Struktur wie Dogmatik aufweisen. Präjudizien werden also schon deshalb akzeptiert, weil sie durch ihre Systemanbindung für den juristischen Diskurs als Begründungsform operationabel sind. Urteile, insbesondere höchstrichterliche, können jedoch zusätzlich den maßgeblichen Wert der Institution, von der sie produziert werden, für ihre argumentative Autorität verbuchen 465 . Die Gerichte prägen dogmatische Sätze 457
Vgl. Simon, Rechtsfindung am byzantinischen Reichsgericht, S. 15. Vgl. zum Erfordernis der Fachterminologie Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 318. 459 Vgl. Ballweg, Phronetik Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 40. 460 Vgl. zur Rationalität von Dogmatik Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: FS Gadamer II, S. 319. 461 Vgl. zum Begriff Präjudizien Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 413. 462 Vgl. zur Evidenz des Gewichtes der Präjudizien Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 9f. und Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 253: Die Leugnung der Bedeutung der Präjudizien sei zur Ausnahme geworden; den Diskussionsstand gibt ausführlich wieder Müller, „Richterrecht", S. 24ff.; umfassend zur Thematik Germann, Präjudizien als Rechtsquelle, insbesondere S. 20 ff. 463 Vgl. zur Einschätzung dieser Arbeitsweise Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 224ff. 464 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 337. 465 Siehe hierzu instruktiv Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 281. 458
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mit dem Stempel der entscheidenden Instanz, wodurch Dogmatik faktisch wird. Durch diesen praktischen Vollzug unterscheidet sich das Präjudiz in Form eines dogmatischen Satzes von der allein wissenschaftlich produzierten Dogmatik, die immer nur rechtswissenschaftlicher Vorschlag bleibt und deshalb für den juristischen Diskurs, der in Hinblick auf Entscheidungen verläuft, eine vergleichsweise geringere argumentative Autorität beanspruchen kann 4 6 6 . Hinzu kommt, daß der Informationsgehalt von Präjudizien für den juristischen Diskurs hinsichtlich der konkreten Entscheidung prägnanter ist 4 6 7 : sie ersetzen eine Metadogmatik 468 , da sie eine Beurteilungsmöglichkeit für die Vorzugswürdigkeit einer bestimmten dogmatischen Theorie enthalten. Präjudizien selegieren aus dem dogmatischen Fundus und reduzieren die Entscheidungsalternativen der Dogmatik für konkrete Rechtsfragen auf eine definitive Entscheidung. Mithin leistet das Präjudiz als Möglichkeit diskursiver Begründung von Behauptungen eine weitere Reduktion von Komplexität, indem es Entscheidungskriterien präzisiert 469 . Dadurch wird der Teilnehmer am juristischen Diskurs in die Lage versetzt, eine rechtliche, normative Behauptung am konkreten Beispiel zu verifizieren und vor allem nach der Überprüfung als faktischen Rechtssatz unmittelbar zu verwenden. Präjudizien erhalten ihre Bedeutung als juristische Begründungsform nach allem aus verschiedenen Gegebenheiten: sie enthalten dogmatische Sätze und prägen gleichzeitig aktuelle Dogmatik 4 7 0 , wodurch der für den Juristen notwendige normative Anknüpfungspunkt gewährleistet ist. Die Relevanz ergibt sich weiterhin aus einer zweifachen Institutionalisierung des Präjudizes: es kann Ergebnis oder Ausgangspunkt eines dogmatischen Prozesses sein und vermittelt deshalb die Autorität der potentiellen Dogmatikproduzenten, nämlich der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung 471 . M i t dieser denkbaren überinstitutionellen Wirkung von Präjudizien, der Verflechtung von Wissen-
466 Dies veranlaßt Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 186 zu dem Schluß, daß der juristische Praktiker Präjudizien rechtsdogmatischen Lösungsvorschlägen vorzieht; dies wird bestätigt durch Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 97f.; Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 97 ist der Auffassung, daß die dogmatischen Vorschläge erst durch ihre gerichtliche Anerkennung Bedeutung erlangen. 467 Vgl. zum Vorzug der Präjudizien gegenüber rechtswissenschaftlichen Vorschlägen wegen des Fallbezugs Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien, S. 32. 468 Vgl. zu diesem Begriff de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromißformular, in: FS Esser, S. 92. 469 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 151. 470 Vgl. zu diesem wechselseitigen Mechanismus Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 337; für sinnvoll erachtet dies Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 43. 471
Vgl. Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 59: er ist der Auffassung, daß die Justiz Mitproduzent von Dogmatik sei; durch die Akzeptanz von Präjudizien in der Rechtswissenschaft wird schon ein überinstitutioneller Konsens erreicht, der eine Nähe zu h M impliziert.
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schaft und Praxis, ist nunmehr die Frage nach der Einordnung von h M aufgeworfen. H M , ständige Rechtsprechung, hL, erweitert eine dogmatische oder mit Präjudizien abgesicherte Begründung um eine evaluative Komponente: die Anzahl der Vertreter einer dogmatischen Auffassung, die als Begründung dienen soll, die Kontinuität einer Rechtsprechung und die instanzielle Bedeutung der betreffenden Spruchkörper, vielleicht sogar eine meinungsmäßige Symbiose aus Rechtsprechung und Lehre wird legitimierend für die gewählte argumentative Begründung herangezogen 472. Damit wird Dogmatik bewertbar und entscheidbar; die grundsätzliche Anerkennung, die dogmatischen Sätzen ohnehin zuteil wird, kann verbessert werden, wenn eine herrschende Auffassung zu einer Rechtsfrage vorhanden ist 4 7 3 , und diese herrschende Meinung kann, da sie sich gegen andere Meinungen im Streit durchgesetzt hat, als Entscheidungsprogramm herangezogen werden. M i t einer solchen Begründungsbezugnahme auf eine anonyme „herrschende Klasse" von Auffassungen ist der wesentliche Effekt verbunden, daß durch die — eventuell nur behauptete — Majorität der Meinungen die eigene Auffassung oder Begründung als das Resultat von Konsensprozessen dargestellt w i r d 4 7 4 . Da die Legitimation einer Entscheidung regelmäßig über ihre Konsensfähigkeit hergestellt wird, kann ein solches Argument eine große diskursive Autorität für sich beanspruchen. Es gewährleistet nicht nur den Vorkonsens durch die Einordnung in den Bereich der Dogmatik oder/und der Präjudizien, sondern es teilt mit, daß aus dem dogmatischen Entscheidungsfundus eine bestimmte Auffassung präferiert wird, womit auch eine Konsensmöglichkeit hinsichtlich des Ergebnisses besteht. Mithin erreicht oder übertrifft h M den autoritativen Wert des Präjudizes, da sie ebenfalls metadogmatische Funktionen hat, nämlich die Selektion von Entscheidungsalternativen und deren Reduktion auf eine einzige Möglichkeit und darüber hinaus einen fachwissenschaftlichen Konsens durch die verschiedenen beteiligten juristischen Institutionen suggeriert, der Präjudizien nicht immer zuteil wird 4 7 5 . Im Idealfall — idealtypisch gedacht und deshalb nicht existierend — stellt sich h M als das Ergebnis einer rationalen, langandauernden institutionalisierten 472 Vgl. für die Symbiose aus Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Wesel, Aufklärungen über Recht, S. 51, 116. 473 Podlech, Rechnen und Entscheiden, S. 152 nennt die Kontroverse in Form von divergierenden Gerichtsentscheidungen und abweichenden Meinungen von der herrschenden Lehre das Kennzeichen dogmatischer Arbeit; m. E. ist eher die Ausbildung von herrschenden Auffassungen ihr Kennzeichen. 474 Vgl. zu dieser (möglichen) Einschätzung von h M de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromißformular, in: FS Esser, S. 105. 475 Struck, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 117 warnt vor einer Gleichsetzung der Habermas'schen Legitimation durch Konsens mit den juristischen Konsensformulierungen wie hM.
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kritischen Diskussion dar, das im Entscheidungsprozeß nicht vernachlässigt werden kann, weil es durch die in der zeitlichen Dimension gewonnene Reflexivität diverser Lösungsvorschläge als ein Entscheidungsoptimum angesehen werden muß 4 7 6 . Es scheint deshalb gerechtfertigt, für die h M als Idealtypus die gleichen Funktionen zu reklamieren, wie sie der Dogmatik und den Präjudizien zugestanden werden, nämlich Stabilisierung, Orientierung, Entlastung und Kontrolle 4 7 7 . Mit diesen Funktionen kann expliziert werden, was unter dem Autoritätsanspruch der h M zu verstehen ist. Die h M garantiert als durch Konsens legitimiertes Entscheidungsprogramm zunächst Rechtssicherheit, da sie als reproduzierbarer Satz die Gleichbehandlung ähnlicher Sachverhalte gewährleistet. Ein Abweichen von h M ist deshalb nur durch die Übernahme der Argumentationslast möglich, unter Angabe der Gründe, die ein Abweichen für sinnvoll erscheinen lassen. Daraus läßt sich entwickeln, daß Entscheidungen sich immer an der h M zu orientieren haben und durch sie kontrolliert werden, da sie durch ihre präsumtive Verbindlichkeit den juristischen Diskurs strukturiert; sowohl eine ablehnende als auch die zustimmende Auffassung müssen ihren Ausgangspunkt in der h M nehmen. Durch die Eigenschaft als Strukturelement des juristischen Diskurses kann die h M entlastend wirken: Begründungen können in dem Umfang reduziert werden, in dem zu Rechtsfragen eine h M besteht 478 . Eine juristische Diskussion kann somit auf neue Fragen beschränkt werden. Betrachtet man nun den Ausgangspunkt der Untersuchung autoritativer Argumentformen im juristischen Diskurs, so wurde dort die argumentationstheoretische Forderung nach Rationalität der Argumentation für die Analyse von h M übernommen. Die Dogmatikkritik 4 7 9 und die oftmals unterschwellig anklingende Kritik an der Präjudizienorientierung 480 werfen die Frage auf, ob durch die autoritativen Argumente dogmatischer und präjudizieller Art die Rationalität des juristischen Diskurses gewährleistet ist. Diese Frage erhebt sich natürlich auch für h M als dem Verbindlichkeitskriterium autoritativer Argumentation. 476 Vgl. zur präsumtiven Richtigkeit von Präjudizien und „eindeutig herrschender Lehre" Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 164 f. 477 Die Aufzählung ist nicht abschließend, sondern soll die wichtigsten Funktionen darlegen, von denen Unterfunktionen abgeleitet werden können; vgl. in einem ersten Überblick zu den verschiedenen Funktionen Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 326 ff.; vgl. auch Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 40 ff. 478 Vgl. hierzu Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 72 f., der h M als Surrogat für die weitere Argumentation problematisiert, aber in nicht mehr begründungsfahigen Situationen für sinnvoll erachtet. 479 Stellvertretend für die Kritik an der Dogmatik sei hier Simitis genannt, der alle wichtigen Aspekte anspricht; vgl. Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik — dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problemen des Massenverkehrs, in: AcP 172 (1972), S. 131 ff., insbesondere S. 138, 147 zur Frage von Rationalität durch Dogmatik. 480 Vgl. Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 97 ff.
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Dogmatik und Präjudiz stellen die konkreten Erscheinungen im juristischen Diskurs dar, die beim allgemeinen praktischen Diskurs als Begründungsbezugnahmen bezeichnet wurden. Mithin läßt sich schließen, daß dogmatische und präjudizielle Begründungen den gleichen Anforderungen genügen müssen, wie die Bezugnahme auf die Begründungskompetenz anderer: sie müssen überprüfbar sein 481 . Im Regelfall, der hier beispielhaft als Idealfall gedacht ist, stellt dies die Diskursteilnehmer nicht vor allzu große Probleme, denn eine dogmatische Begründung kann diskursiv auf ihren systematischen Wert, die Richtigkeit der Begründungsbezugnahme und ihre konkrete sachliche Geeignetheit zur Begründung einer Entscheidung untersucht werden. Dies gilt gleichfalls für Präjudizien, die nach den oben genannten Kriterien ebenfalls auf ihre argumentative Kraft geprüft werden können. Eine Begründung, die diese Falsifikationsversuche zuläßt, muß so ausgestaltet sein, daß die tragenden Elemente der Entscheidungsfindung und deren Herkunft für die Diskursteilnehmer offengelegt werden 482 . Ob im juristischen Diskurs auf diese offene Weise argumentiert wird, muß angesichts der empirischen Befunde bezweifelt werden; selbst wenn man dies — naiv — unterstellt, so bleibt das Problem, daß Dogmatik ein System von Reduktionen ist, das juristische Texte „vereindeutigen" 483 soll und aus diesem Grunde die Rationalität dogmatischer Argumentation das Ergebnis der Reproduktion von Vorgegebenem ist; Gleiches gilt für Präjudizien. Diese „relative" Rationalität dogmatischer, präjudizieller Argumentation ist nur noch schwer mit den ursprünglichen Rationalitätsanforderungen der Konsensustheorie in Einklang zu bringen — aber: dies scheint auch nicht notwendig zu sein, wenn man den Vorgang dogmatischer Produktion und Reproduktion als einen Teilaspekt der Selbstreferenz des Rechts betrachtet und die Rationalität juristischer Argumentation unter diesem Blickwinkel formuliert 4 8 4 . Der mit Selbstreferenz oder Autopoiesis 485 bezeichnete Vorgang der Produktion des Rechts aus sich selbst heraus stellt die Frage nach dem „Warum?" der Geltung des Rechts auf eine neue Grundlage: „Geltung ist in der Tat nichts anderes als die rekursive Selbstreferenz des Rechts, das Weiterlaufen 481 Vgl. zu den Regeln einer Überprüfung dogmatischer Begründungen Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 325. 482 Vgl. hierzu Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, in: AcP 172 (1972), S. 147. 483 Dieser Begriff wird von Broekman verwendet, vgl. Broekman, Die Rationalität des juristischen Diskurses, in: Metatheorie juristischer Argumentation, S. 109. 484 Insoweit hilft die systemtheoretische Ansicht zur Reformulierung des argumentationstheoretischen Rationalitätsanspruches im juristischen Diskurs; vgl. zu dieser Möglichkeit Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 163. 485 Vgl. grundlegend zur Selbstreferenz oder Autopoiesis Luhmann, Rechtssoziologie, S. 354ff., insbesondere S. 358ff.; derselbe, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 419ff. (der gleiche Aufsatz findet sich unter dem Titel, Selbstreflexion des Rechtssystems, in: Rechtstheorie, Band 10 (1979), S. 159 ff.); vgl. auch insgesamt Luhmann, Soziale Systeme; rezipiert wird Luhmann von Krawietz, Recht und moderne Systemtheorie, in: Rechtstheorie Beiheft 10 (1986), S. 297ff.; derselbe, Recht als Regelsystem, S. 96ff., 111, 139.
II. Die Problematik autoritativer Belege im juristischen Diskurs
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der Reproduktion von Fall zu Fall mit Aussicht auf ein Weiterlaufen der Reproduktion von Fall zu F a l l " 4 8 6 . Aus dieser Zirkularität des Rechts 487 wird der Schluß gezogen, daß es nicht normwidrig sei, mit „tautologischen Letztbegründungen" zu arbeiten und mit „Symbolen oder Formalismen" 488 . Das bedeutet jedoch nicht, aus der Anerkennung der These der Selbstreferenz des Rechts 489 einen völligen Verzicht auf die schon formulierten argumentativen Rationalitätspostulate herzuleiten, sondern diese Anerkennung bedeutet, die Frage nach der Legitimität des Argumentes in die Frage nach der Überzeugungskraft des Argumentes umzugestalten, sie damit zu kombinieren. Luhmann fordert denn auch als Resultat der Theorie autopoietischer Systeme die Rechtstheorie zu einem Anerkennen der Positivität des Rechts auf 4 9 0 , betont jedoch, daß die selbstreflexiv produzierten Theorien des Rechtssystems in Entscheidungen über Recht und Unrecht umgesetzt werden müssen 491 , mithin also systemimmanente Entscheidungen über das notwendig sind, was als gerecht oder ungerecht gelten soll. Dies wird letztendlich durch die Freigabe von teleologischen und wertenden Entscheidungsprämissen erzielt 492 , wodurch ein — nicht systemfunktional zu sehendes — Rationalitätsniveau ereicht ist, das mit Reflexionsmöglichkeit umschrieben werden kann 4 9 3 . In dieser offenen und transparenten Ausgestaltung können demnach Dogmatik und Präjudiz als rationale Argumentformen gewertet werden. Dies wird problematisch, wenn in argumentativen Begründungen Dogmatik oder Präjudizien nicht als offenes, sachlich zu überprüfendes bzw. konsensfahiges und damit autoritatives Ergebnis rechtswissenschaftlichen Diskurses bzw. richterlicher Entscheidungsfindung auftreten, sondern als Aussageautorität — als „ h M " . Die Transparenz und damit die Rationalität der Transformationsleistung von Dogmatik und Präjudiz geht verloren, wenn die Begründung sich auf 486
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 358. Vgl. hierzu Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 52: er beschreibt den Vorgang der Rechtsproduktion als „hermeneutischen Zirkel", denn dem Recht würden Kriterien für die Auslegung von Recht entnommen. 487
488 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 362 f. prägt zur Verdeutlichung der Theorie der Selbstreferenz den vermeintlich banalen, in der Konsequenz jedoch weitreichenden und eindrucksvollen Satz: „Recht ist, was Recht ist.". 489 Die These, daß soziale Systeme wie das Rechtssystem als autopoietisch angesehen werden können, wird von Vertretern des Radikalen Konstruktivismus angezweifelt, vgl. Hejl, Konstruktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie, in: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, S. 322 ff., 325-327. 490 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 362; an derselben Stelle äußert sich Luhmann skeptisch zur Möglichkeit argumentativer Letztbegründung, die er als „kontraproduktiv" bezeichnet. 491
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 360. Vgl. zu dieser Forderung Weinberger, Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik, in: Rechtstheorie, Beiheft 2 (1981), S. 157. 493 Vgl. hier Essers These vom „Durchgriff 4 , Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 19. 492
7 Drosdeck
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eine anonyme „herrschende Meinung" reduziert; hingegen bleibt die diskursive Autorität erhalten und damit die rhetorische und argumentative Wirkung. Der angesprochene mehrfache autoritative Wert der zulässigen und notwendigen Argumentformen Dogmatik und Präjudizien wird mit solchen verkürzenden Verfahrensweisen funktionalisiert, indem die Legitimation der Sachentscheidung durch die Kompetenz der diversen Autoren oder der autoritativ herangezogenen Entscheidungsinstanzen ersetzt w i r d 4 9 4 , mit der Besonderheit, daß diese Kompetenzen in einer typischen hM-Argumentation namentlich nicht benannt werden oder sich die Nennung auf einige für repräsentativ gehaltene Urheber beschränkt 495 . Daraus resultiert eine Verlagerung der Diskussion auf eine andere Ebene, denn die diskursive Überprüfung der normativen Aussage kann an der Legitimation der zur Legitimation der Sachbehauptung herangezogenen Autoren nicht vorübergehen. Dies hat zunächst eine beträchtliche Argumentationslastverschiebung zur Folge, die bei den von der h M abweichenden Urteilen im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse regelmäßig beobachtet werden konnte. Eine weitere Folge der Verwendung von h M ist die Verkürzung der sachlichen Argumentation, denn es genügt zur Absicherung, das Argument vorzustellen und darauf zu verweisen, daß es von der Mehrzahl der Fachleute geteilt wird. Diese Verkürzung wurde in bestimmten diskursiven Situationen zur Vermeidung von infiniten Regressen für zulässig erachtet 496 , doch gewährleistet eine Bezugnahme auf die personell unspezifizierte h M nicht mehr die Überprüfung der Richtigkeit der Bezugnahme — Unterschiede in den Auffassungen der herangezogenen Kompetenzen können nur schwer herausgearbeitet werden —, so daß der rationale Charakter des Diskurses fraglich wird 4 9 7 . Ein Hinterfragen der Prämissen und Wertungen, die zu dem durch das hMArgument symbolisierten Konsens geführt haben, scheint bei der Verkürzung der Sachargumente ebenfalls nur sehr eingeschränkt möglich zu sein. Die Autorität h M stellt sich als Ergebnis dar, läßt aber die Frage nach dem „Wie" und „Warum" unbeantwortet. Damit kommt sie Praxisbedürfnissen entgegen, denn es ist sicherlich ein Faktum, daß insbesondere die juristische Praxis die entlastende Entscheidungsfunktion von h M den rationalen diskursiven Anforderungen vorzieht 498 , weil sie sich wegen des Entscheidungsnotstandes durch Zeitdruck und die Vielzahl der 494 Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen Entscheidungslegitimation und Autorenlegitimation Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 218 f. 495 Vgl. hierzu die Rechtsprechungsanalyse unter Α. II.. 496 Vgl. in diesem Zusammenhang Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 72 f. 497 Eine andere Einschätzung treffen Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 185 ff., die den Begründungsverzicht für weitgehend unproblematisch erachten. 498 Vgl. Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften?, in: Rechtstheorie, Band 15 (1984), S. 425, der eine Rationalitätsdifferenz zwischen Praxis und Wissenschaft konstatiert.
III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen
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anhängigen Verfahren zu juristischer Grundlagendiskussion in jedem Einzelfall nicht imstande sieht 499 — aber: es ist das Ziel dieser Studie, gerade die Problembereiche einer hM-Verwendung deutlich zu machen und zu kritischer Reflexion anzuregen, die allein schon Rationalitätswert hat. Die Aufklärung über autoritär-autoritative Abhängigkeiten oder Bequemlichkeiten scheint vor diesem Hintergrund nicht obsolet, sondern notwendig zu sein 500 . III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen Die h M kann als Produkt einer dogmatischen Diskussion beschrieben werden und symbolisiert als Kürzel die Mehrzahl der Anhänger einer Auffassung. Diese allgemeine und undifferenzierte Deskription des Bildungsvorganges von h M umfaßt noch keine Aussage über den Gehalt dieser h M und impliziert aus diesem Grunde nicht, daß die h M als Symbol für diskursiven Konsens juristische Streitfragen rational entscheidet. Vielmehr kann aus der empirischen Untersuchung der Argumentationsprozesse zu Anscheinsvollmacht und Erklärungsbewußtsein geschlossen werden, daß h M rhetorisch funktionalisiert wird, indem sie den dezisionistischen Anspruch einer idealtypisch vorgestellten h M usurpiert. Die h M ist nach diesen empirischen Befunden mithin kein eindeutig erfaßbares Phänomen, sondern sie wird als Argumentationsfigur vielfaltig eingesetzt, woraus sich für den Schluß ein Indiz ergibt, daß auch der Mechanismus der Bildung von h M nicht einheitlich beurteilt werden kann, sondern vom Stand der jeweiligen juristisch-dogmatischen Streitfrage sowie der konkreten Entscheidungsnotwendigkeit abhängt, die sich in den unterschiedlichen Möglichkeiten der Funktionalisierbarkeit von h M ausdrückt. Bei der Diskussion zum Erklärungsbewußtsein konnte beispielsweise im Zusammenhang mit dem Urteil des OLG Düsseldorf beobachtet werden, daß eine h M als Produkt einer dogmatischen Diskussion gar nicht herausgebildet war, dennoch aber im Urteil argumentativ eingesetzt wurde. Aus der Diskussion zur Anscheinsvollmacht entwickelte sich hingegen eine — zumindest quantitative — hM, wenngleich deren Bildung vom Standpunkt eines kritischen Beobachters keineswegs als rational oder annähernd idealtypisch bezeichnet werden kann. Aus diesen Unterschieden läßt sich ableiten, daß bei der Beschreibung der Bildungsmechanismen zu berücksichtigen ist, daß h M nicht nur als Produkt, sondern auch — und vielleicht vorwiegend — als Konstrukt gedacht werden kann.
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Vgl. zu dieser wahrscheinlich sehr realistischen Einschätzung Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 242. 500 Vgl. Hassemer, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 88: Hassemer hält eine Angleichung von Rechtsfindung und Rechtfertigung erst dann für möglich, wenn solche Abhängigkeiten geklärt sind. 7*
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1. Der Entstehungsanlaß Anlaß für die Entstehung von h M ist die diskursive Notwendigkeit, neben Sachargumenten zur Begründung einer Auffassung auch auf die Aussagen anderer im Sinne einer Kompetenzbezugnahme zurückgreifen zu können, um infinite Regresse zu vermeiden. Bis sich das Phänomen h M herausbildet, muß jedoch zunächst eine Dogmatisierung des Gesetzesrechts einsetzen, die in Hinblick auf den Entscheidungszwang die in den Hauptfragen erforderliche — wenngleich nur bedingt nützliche 501 — Axiomatisierung leistet. Die juristische Begriffsbildung im Rahmen eines autonomen dogmatischen Systems ist der Vorgang, der mit Erfindung 502 dogmatischer Theorien — besser vielleicht: Doktrinen 5 0 3 — bezeichnet werden kann. Eine auf diesem Wege erfundene Meinung wird über die Institutionalisierung entweder in der Rechtswissenschaft oder in der Rechtsprechung außer Frage 504 gestellt: durch ihre Einführung in die Institution kann die Auffassung im Grundsatz nicht mehr angezweifelt werden. Dies besagt jedoch noch nichts über das Ausmaß der Akzeptanz dieser nunmehr dogmatisierten Auffassung. Für die Akzeptanz scheint der Nachweis erforderlich zu sein, daß mehrere sich der Meinung angeschlossen haben. Dieses Erfordernis ist eine Folge der möglichen Kontroversität von Dogmatik, der unterschiedlichen rechtswissenschaftlichen Konzeptionen, die für bestimmte Rechtsfragen entworfen werden; die Alternativität der Konzeptionen enthält nicht die Autorität, die im juristischen Diskurs offensichtlich für unumgänglich gehalten wird. Dies führt zur Suche nach „herrschenden Meinungen". 2. Ausbildung von Meinungsklassen Die Ausbildung der unterstellten h M als einer möglichen Ausprägung der unterschiedlich funktionalisierbaren Argumentationsfigur h M ist verhältnismäßig einfach und kurz zu beschreiben: sie verdankt ihre Existenz der Tatsache, 501
Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 77 befürchtet zu Recht durch Axiomatisierung eine reduzierte Flexibilität des Rechtssystems. 502 Vgl. zur Erfindung als dem Ursprung dogmatischer Aussagen Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 501. 503 Dieser Unterscheidung mißt Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 38 f. große Bedeutung zu: die Bezeichnung Theorie verleihe der Doktrin Wissenschaftscharakter und erhöhe auf diese Weise den argumentativen Wert; vgl. rechtshistorisch zur Synonymität von „dogma" und „doctrina" Herberger, Dogmatik, S. 191. 504 Vgl. zu diesem Vorgang Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 40.
III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen
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daß ein Glaube an ihre argumentative Effizienz besteht oder mit einem abgewandelten Wort von Heck: die h M „gleicht einem Zauber, der nur demjenigen hilft, der an ihn glaubt" 5 0 5 . Dieser Glaube hängt eng mit dem Autoritätsbedarf der juristischen Argumentation zusammen, die sich immer als legitimierende Argumentation sieht. Durch die Juristenausbildung wird diese Legitimation fortwährend eingeübt 506 , indem als Begründungen nur dogmatische Meinungen zugelassen werden, die ihre Legitimation grundsätzlich ja schon mit sich führen. Dieserart vorlegitimierte Begründungen können durch Rückgriff auf die Autorität von h M nur überzeugender werden, denn wer glaubt, daß h M den Konsens der Rechtsauffassungen enthält und der Konsens die legitimierende Kraft für Argumentationen ist 5 0 7 , wird eine direkte Verbindung zwischen Legitimation und h M sehen. Eine autoritativ-autoritäre Rhetorik ist juristisch aus diesem Grunde allgemein akzeptiert wie man an der allseitigen Zitierpraxis erkennt, die von der Prämisse ausgeht, daß der Beleg eine wissenschaftliche Arbeitsweise impliziert 5 0 8 , und diese Rhetorik wird über die Sozialisation der Juristen tradiert, wodurch sich letztendlich der Glaube an die Effizienz von h M sozial stabilisiert. Diese These konnte bei beiden Argumentationsverläufen bestätigt werden, denn immer dann, wenn der Sachargumentation die autoritative Legitimation fehlte, wurde unter Vergewaltigung des Konsensbegriffes eine herrschende Auffassung reklamiert 509 . Nach systemtheoretischer Auffassung ist diese Verfahrensweise ein funktionales Äquivalent für den fehlenden faktischen Konsens 510 . Im Anschluß an die Positivierung des Rechts sei es möglich geworden, das Recht zu ändern und auszudifferenzieren, wodurch die Komplexität des Rechtssystems gesteigert werde. Angesichts dieser Komplexität sei die Legitimation des positiven Rechts kaum noch durch hinreichenden Konsens gedeckt, denn es gelte, zu viele 505 Siehe das Originalzitat bei Heck, Die Begriffsjurisprudenz, in: Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, S. 195: Heck nennt die Begriffsjurisprudenz einen solchen Zauber. 506 Vgl. hierzu Adomeit, Zivilrechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik — mit einem Beitrag zur Theorie der subjektiven Rechte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 505, daß eine formelhafte „h.L."-Darstellung signifikant für die Juristenausbildung sei; auf die Verbindung von Autorität und Juristenausbildung weist Zimmermann hin, vgl. Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 70. 507
Vgl. Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, in: AcP 172 (1972), S. 145. Dies erkennt man natürlich auch an der vorliegenden Arbeit, die sich trotz der kritisch-reflexiven, analytischen Bemühungen ebenfalls der juristischen Zitierpraxis unterstellt. 508
509
So bei Heymann und im Urteil des O L G Düsseldorf. Vgl. für die systemtheoretische Formulierung der hier argumentationstheoretisch ermittelten Ergebnisse Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 132. 510
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Problembereiche konsensfähig zu gestalten. Dieses Defizit an faktischem Konsens werde durch Unterstellung von Konsens, ein Verfahren, das als Institutionalisierung bezeichnet wird, ausgeglichen, indem die vorhandene Konsensbasis einfach ausgeweitet werde 511 . Dieses Ergebnis deckt sich mit den argumentationstheoretischen und historischen Befunden und impliziert, daß die rationalen Anforderungen der Konsensustheorie durch das Konsenssymbol h M nicht verwirklicht werden. Luhmann nimmt diese Erkenntnis zum Anlaß, die Realitätsferne argumentationstheoretischer Konsenssuche zu formulieren: „ rechtliche Argumentationsketten suchen nach konsentierten Ausgangspunkten, obwohl angesichts der Komplexität des Systems Konsens nur darüber bestehen kann, daß Konsens unterstellt werden m u ß " 5 1 2 . Neben der unterstellten bzw. konstruierten h M konnte jedoch auch beobachtet werden, daß in der juristischen Diskussion eine „echte" h M 5 1 3 entstehen kann, die wohl als Prototyp der h M angesehen wird. Diese h M bildet sich im Verlaufe der dogmatischen Diskussion heraus, wobei insbesondere im Zuge der Betrachtung der Diskussion um die Anscheinsvollmacht deutlich geworden ist, daß die Mechanismen der Ausbildung einer h M äußerst vielfaltig sind 5 1 4 . Einige der wichtigsten Mechanismen sollen nun analysiert werden. Es wurde bereits festgestellt, daß Dogmatik erfunden wird und dies der Anfang der Entstehung von h M ist. Als Erfinder kommt nun nicht nur die Rechtswissenschaft in Betracht, sondern ebenso die Rechtsprechung, wie das ROHG im Falle der Anscheinsvollmacht, und sie wird auf diese Weise über die Produktion von dogmatischen Auffassungen auch zu einem Mechanismus der Bildung von hM. Die Rechtsprechung wirkt aber nicht nur als potentieller Produzent von Dogmatik auf h M ein 5 1 5 , sondern in der Hauptsache durch ihre autoritative Kraft als der Entscheidungsinstanz516. Eine dogmatische Auffassung, die in Urteilen als Recht faktisch geworden ist, nimmt eine Sonderstellung im juristischen Diskurs ein 5 1 7 , selbst wenn sie zunächst nicht allgemein oder überwiegend anerkannt ist. 511 Vgl. zu den funktionalen Überlegungen zu Konsens und Konsensbedürfnis Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 132. 512 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 446. 513 Der Begriff wurde in Anführungszeichen gesetzt, weil sich herausstellen wird, daß auch diese h M nichts mit dem Idealtypus von h M gemein hat. 514 Einen Überblick gibt Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 47-73. 515 Vgl. zur Rechtsprechung als einem Mitproduzenten von Rechtsdogmatik Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 59. 516 Vgl. hierzu Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, S. 108. 517 Vgl. zur Akzeptanz richterlicher Urteile durch die rechtswissenschaftliche Dogmatik Adomeit, Zivilrechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik — mit einem Beitrag zur Theorie
III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen
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Diesen Einfluß auf den juristischen Diskurs gewinnt die Rechtsprechung insbesondere deshalb, weil sie sich selbst diskursiv mit den rechtswissenschaftlichen dogmatischen Vorschlägen und auch den Gegenmeinungen zu den eigenen Präjudizien auseinandersetzt 518. Die Diskussion im Urteil 5 1 9 mit der sich anschließenden Entscheidung für eine Doktrin bewirkt, daß für diese Doktrin eine Meinungskongruenz zwischen der Rechtsprechung und den betreffenden Teilen der Rechtswissenschaft besteht, also der Autoritätswert der Auffassung hoch einzustufen ist 5 2 0 ; sie hält nicht nur wissenschaftlicher Prüfung stand, sondern ist auch im praktischen juristischen Bereich für sinnvoll erachtet worden 5 2 1 , wodurch ein breiter Konsens offenkundig wird. „Die Rechtsprechung und die über sie hierarchisch verfügende Staatsgewalt kann als „Umwelt" der rechtswissenschaftlichen Fachgemeinschaft an der Universität gedeutet werden, die über intern entwickelte Alternativen extern entscheidet. Die Rechtsprechung greift eine von Rechtslehrern entwickelte Alternativmethode auf, läßt eine andere verkümmern. Ist eine Rechtsmeinung zur ständigen Rechtsprechung geworden, so kann ein konkurrierender Rechtslehrer nur noch säuerlich anmerken, die Rechtsprechung sei leider nicht seiner eigenen, viel logischeren Meinung gefolgt — aber er kann auf die Dauer nicht umhin, von der höchstrichterlichen Version als dem faktisch geltenden Recht auszugehen" 522 . Ein wichtiges Moment bei der Bildung von herrschender Meinung stellen ferner die sozialen Umstände dar, unter denen der Entwicklungsprozeß juristischer Auffassungen verläuft. Zu diesen sozialen Umständen zählen neben institutionellen Mechanismen 523 wie den Interessengruppen, die auf eine juristische Diskussion Einfluß nehmen können, namentlich interessierte Fachder subjektiven Rechte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 504, 506 f. 518 Diese Arbeitsweise der deutschen Gerichte beschreibt schon Luhmann, Öffentlichrechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet, S. 195; siehe auch Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, in: AcP 172 (1972), S. 117, 122 sowie Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, S. 10. 519 Vgl. aus der jüngsten Entscheidungspraxis des Bundesgerichtshofes das ausführliche Urteil zum Schadensersatz für Nutzungsausfall mit einer Vielzahl von Literaturstimmen, aufgeteilt in „überwiegende" Auffassungen, „einige Autoren", eine „Mindermeinung" und eine Darstellung der bisherigen Rechtsprechung: BGH, NJW 1987, 50 ff. 520 Vgl. Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 44f., der Konsens und Meinungskongruenz gegenüberstellt und aus letzterer eine Richtigkeitsgewähr ableitet. 521 Vgl. zur Wirkung der Diskussion wissenschaftlicher Texte in Urteilen Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 187. 522 Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 59. 523 Vgl. zu Einflußnahmen auf den juristischen Diskurs Struck, Topische Jurisprudenz, S. 93; sehr ausführlich Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 48 ff.; eine umfassende Analyse personeller Abhängigkeiten gibt Wahsner, Das Arbeitsrechtskartell, in: Krit Just 1974, S. 373 ff.
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kreise, Verbände, Körperschaften, Unternehmen, wissenschaftliche Schulen, Gutachter und Referenten 524 die gleichen juristisch-diskursiven Akzeptationsmechanismen, wie sie bei der konstruierten h M angesprochen wurden. Ebenso wie bei der rhetorisch konstruierten h M wirkt auch hier der Glaube an die Effizienz dieses Argumentes bei seiner Bildung m i t 5 2 5 , weil der Beleg, die Fußnote, also: die autoritative Bezugnahme, als wissenschaftliche Arbeitsweise gilt. Darüber hinaus ist die Bezugnahme aber auch das wohl wichtigste juristische Kontaktsystem 526 . In Fußnoten als dem Ort der Bezugnahme werden Sympathien und Antipathien unter den Verfassern juristischer Beiträge deutlich, die Bestandteil der Gruppenstruktur in einem Meinungsgefüge zu einer juristischen Frage sind und damit Vorentscheidungen für herrschende oder mindere Meinungen darstellen 527 . Dies konnte bei der Diskussion zur Anscheinsvollmacht beobachtet werden, als im Zusammenhang mit den Heymann'schen Belegen offenbar wurde, daß äußerst unterschiedliche dogmatische Herleitungen zur Anscheinsvollmacht existierten. Einig waren sich die meisten Verfasser jedoch in der strikten Ablehnung der Thesen Schloßmanns, dem von vielen Autoren vorgehalten wurde, daß seine Argumentation nicht haltbar sei, oft in sehr spitzer F o r m 5 2 8 . Diese Antipathie war augenscheinlich weniger auf die sachliche Aussage Schloßmanns bezogen, als vielmehr auf den rüden Ton, mit dem Schloßmann seine wissenschaftlichen Gegner bedachte. Dennoch bewirkte die daraus resultierende vehemente Ablehnung der Ausführungen Schloßmanns, daß sein literarischer Beitrag sachlich keine Rolle in den Fußnoten bei der Bildung der Anscheinsvollmacht spielt. Daraus läßt sich folgern, daß Bezugnahmen Gegnerschaft oder Solidarität mit anderen Auffassungen, anderen Autoren herstellen und somit Gruppen begründen, die die Voraussetzung für eine h M sind.
524 Der Einfluß dieser Gruppierungen darf nicht unterschätzt werden, ist jedoch nach den Feststellungen bei Anscheinsvollmacht und Erklärungsbewußtsein nicht übermäßig groß; die „Kartelluntersuchungen" von Wahsner, Däubler und Wesel scheinen insofern nicht repräsentativ zu sein, was sich auf die Eigenheit des Arbeitsrechtes zurückführen lassen könnte, „ideologieanfalliger" zu sein und deswegen Interesse der Verbände zu erwecken. 525 Vgl. zu diesem Phänomen auch Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 44, die ausführt, daß h M gesellschaftlich definiert wird, indem sie „subjektiv" zur herrschenden Ansicht erklärt wird. 526 y g i Luhmann, Rechtssoziologie, S. 290. 527
Vgl. zu diesem Gesichtspunkt Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 60. 528 F ü r dje Ablehnung der Thesen Schloßmanns mag es sicherlich auch eine Rolle gespielt haben, daß er als Freirechtler schon per se in bestimmten juristischen Kreisen Ablehnung provozierte.
III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen
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Diese wichtige Eigenschaft von Bezugnahmen für die Bildung von herrschenden Meinungen läßt sich weiterhin aus der Tatsache ableiten, daß sich die juristische Kommunikation fast ausschließlich in Zusammenhang mit Texten abspielt 529 und die publizierten Texte von jedem Einzelnen in ihrer ganzen Zahl und Fülle gar nicht erfaßt werden können 5 3 0 . Da es jedoch notwendig ist, schon aus professionellen Gesichtspunkten, sich über die geäußerten Meinungen einen Überblick zu verschaffen, wird es erforderlich, Meinungen und Texte zu selegieren 531 und stichwortartig zu konzentrieren. Neben Entscheidungssammlungen, Fundheften u.ä. bietet sich für diese Aufgabe auch eine h M an: sie ersetzt die Beschäftigung mit jeder publizierten Auffassung und garantiert doch Wissenschaftlichkeit. Eine relevante Gruppe, die diese textualen Gegebenheiten verkörpert und ihre Funktion als ein weiterer Bildungsmechanismus von h M durch die Akzeptanz als juristische Institution gewinnt, ist die Kommentarliteratur. Auch hierfür konnte die Diskussion zur Anscheinsvollmacht wichtige Ergebnisse bereitstellen. Kommentare sind das Konnexsystem zwischen Rechtsprechung und rechtswissenschaftlicher Literatur: sie befriedigen auf der einen Seite den Wunsch der Praxis nach Vorschlägen für Entscheidungen, indem sie Präjudizien einschlägig und fallgeordnet katalogisieren und erfüllen andererseits das Bedürfnis der Wissenschaft, diese Entscheidungen — wenn auch meist in allzu begrenztem Umfang 5 3 2 — zu diskutieren. Dabei ist es gerade der begrenzte wissenschaftliche Umfang, der die Kommentare zu einem Bildungsfaktor für h M werden läßt 5 3 3 , denn damit wird den Gegebenheiten täglicher juristischer Praxis entgegengearbeitet, die mit Entscheidungsnotwendigkeit und Zeitdruck gekennzeichnet werden und oftmals als Legitimation für verkürzte Begründungen und begrenzten Entscheidungsaufwand herhalten müssen. Diesem Rechtfertigungsversuch ist aus argumentationstheoretischer Sicht kritisch zu begegnen, doch darf deswegen nicht verkannt werden, daß die Praxis tatsächlich zu einer Arbeitsweise tendiert, die durch den Zeitfaktor geprägt ist. Damit wird der Kommentar zum Entscheidungsprogramm 534 . 529
Siehe hierzu Luhmann, Rechtssoziologie, S. 290, der der Auffassung ist, daß der juristische Diskussionszusammenhang nur noch literarisch herstellbar ist. 530 Vgl. hierzu und zu weiteren interessanten Rückschlüssen aus der Textbezogenheit juristischer Kommunikation Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 174f. und derselbe, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: Rechtstheorie, Band 7 (1976), S. 134. 531 Als Vorselektion hilft die Reputation von Autoren, die noch näher zu betrachten sein wird; vgl. zu diesem Aspekt Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 243. 532
Vgl. Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 98f.: Kommentare seien mit affirmierenden Zitaten angefüllt. 533 Vgl. zur Relevanz der Kommentare und dem Zeitdruck Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 63.
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Eine in diesem Zusammenhang interessante Erscheinung ist der Reichsgerichtsrätekommentar, der von Mitgliedern des Bundesgerichtshofes fortgeführt wird. Der R G R K verdeutlicht den Konnex zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft, der in diesem Fall durch persönliche Identität gekennzeichnet ist. Eine Meinung, die in diesem Kommentar zu einer dogmatischen Frage geäußert wird, ist wohl nur in vereinzelten Ausnahmefallen als kritische Kommentierung der Rechtsprechung, die ja die eigene Rechtsprechung ist, anzusehen; vielmehr perpetuiert dieser Kommentar die einschlägigen Präjudizien. Ein kurzer Rundblick in der Literatur offenbart denn auch, daß der R G R K sich zumeist auf der Seite der h M wiederfindet 535 , läßt man aktuelle Probleme außerhalb der Betrachtung, bei denen der R G R K — ähnlich wie die Staudinger-Kommentierung — durch die große Zeitspanne zwischen dem Erscheinen der Auflagen wenig Einfluß nimmt 5 3 6 . Dieser aktuelle Einfluß wird eher durch die sogenannten Praxiskommentare — insbesondere den „Palandt" — ausgeübt, der wohl jeder richterlichen Entscheidung Pate steht 537 . Eine ähnliche Bedeutung wie den Kommentaren bei der Bildung von h M wird man Aufsätzen höchster Richter zusprechen müssen: was der R G R K wohl nur in geringem Umfang leisten kann, wird durch Aufsätze möglich 5 3 8 , nämlich die Antezipation künftiger Rechtsprechung. Die literarisch rechtswissenschaftliche Betätigung von Richtern kann insofern richtungweisend für eine dogmatische Diskussion sein und ist auch in ihrem rechtspolitischen Wert kaum zu unterschätzen 539 . Obwohl insbesondere rechtspolitische Äußerungen von Richtern von Kritikern unter Hinweis auf das Gebot richterlicher Zurückhaltung abgelehnt werden 540 , kann unter rechtstheoretischen Gesichtspunkten gegen derartige Aussagen von Richtern kein Einwand erhoben werden 541 : wer 534
Die Bedeutung der Kommentare — auch justizpolitisch — betont Hassemer, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 76 und dort Fn. 13: Kommentarliteratur und Entscheidungsdokumentationen seien notwendig verkürzt und die Selektionskriterien nicht transparent; vgl. auch Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 98 f. 535 Bei der Anscheinsvollmacht konnten hierzu zwei Urteile beispielhaft herangezogen werden: BGH W M 1981, 172 und BGH W M 1983, 419. 536 v g L z u Kommentaren und speziell dem R G R K Esser, Herrschende Lehre und ständige Rechtsprechung, in: Dogma und Kritik in den Wissenschaften, S. 29. 537 Die Bedeutung der gängigen Kommentierungen für die Entscheidungsfindung hebt — etwas unkritisch — Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 298, hervor; vgl. zur Bedeutung der Kurzkommentare Esser, Herrschende Lehre und ständige Rechtsprechung, in: Dogma und Kritik in den Wissenschaften, S. 29; kritisch Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 98 ff. 538 Siehe zur Bedeutung von Veröffentlichungen von Praktikern in Kommentaren und Zeitschriften — auch in historischer Perspektive — Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 45, 58 f. 539 Vgl. etwa die aktuelle rechtspolitische Diskussion um das Benda-Gutachten zu §116 AFG. 540 Vgl. als Beispiel die Themen des Deutschen Richtertages 1987. 541
Vgl. zu dem Fragenkomplex, der sich in Zusammenhang mit wissenschaftlicher
III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen
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dogmatische Fragen in einem Forum wie einer Zeitschrift diskutiert, ist zu einer weitgehenden Offenlegung seiner Argumente und Wertungen verpflichtet. Eine sich anschließende richterliche Entscheidung ist damit in ihrer Begründung transparenter. Unter dem konkreten rechtstheoretischen Gesichtspunkt der Bildung von h M muß jedoch beachtet werden, daß eine Bezugnahme im Aufsatz auf eine Entscheidung oder umgekehrt keine Kompetenzbezugnahme darstellt, sondern eine rhetorische Floskel ist. 3. Die Feststellung einer herrschenden Meinung Die unterschiedliche Funktionalisierbarkeit der h M als einer rhetorisch konstruierten oder dogmatisch produzierten Argumentationsfigur hat wohl schon verdeutlicht, daß allgemeingültige Kriterien für die Bestimmung einer h M kaum zu treffen sind. Wer also die Frage stellt, ob h M abgezählt werden kann, ob sie mithin quantitativ feststellbar ist 5 4 2 , muß darauf verwiesen werden, daß h M vornehmlich als ein soziales Phänomen einzuschätzen ist 5 4 3 , das sich einer zahlenmäßigen Erfassung entzieht. Es scheint deshalb kein geeignetes Verfahren, hM, bzw. den Grad der Akzeptanz für eine dogmatische Auffassung über eine Zertitätstheorie feststellen zu wollen, die die maßgeblichen Autoritätsfaktoren ausblendet und den Versuch unternimmt, den Akzeptanzwert für eine Auffassung aus einer Befragung von hundert zufallig ausgewählten Juristen zu ermitteln 544 . Gerade der Autoritätsaspekt ist es, der ein quantifizierendes Bestimmen von h M als wenig aussichtsreich erscheinen läßt: in der bisher vorhandenen Literatur wird h M fast ausnahmslos in Zusammenhang mit autoritären Strukturen im Rechtssystem erörtert 545 und es ist eine Verkennung dieser Bedingungen juristischer Arbeit 5 4 6 , wenn man sich auf einen vermeintlich unbefangenen, Betätigung von Richtern eröffnet, Lüderitz, Recht von anonymen Richtern?, AcP 168 (1968), S. 329 ff., insbesondere S. 347. 542 Diese Frage stellt Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 47; Lüderitz, Recht von anonymen Richtern?, AcP 168 (1968), S. 346, hält unter Bezugnahme auf Schnur ein Abzählen für „unausweichlich". 543 Siehe zu dieser Ansicht Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 44. 544
Vgl. zur Zertitätstheorie im einzelnen Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, in: JZ 1980, S. 345 f. 545 Vgl. zu den mit h M verbundenen Autoritätsfragen Struck, Topische Jurisprudenz, S. 89 ff.; Wesel, Aufklärungen über Recht, S. 51,116,134; derselbe, „ h M " , in: Kursbuch 56 (1979), S. 91, 103; Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 59ff., 285f.; in argumentativer Hinsicht Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, S. 72 f.; zu autoritativer Rückversicherung Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 74. 546 Dies scheint Luhmann auszudrücken, wenn er sagt, h M sei nicht nur eine Summe, sondern eine qualitative Verbesserung der Argumentation; vgl. Luhmann, öffentlichrechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet, S. 196.
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
objektiven und intersubjektiven Standort zurückzieht, der ein demokratisches Abzählen 547 der „Pro"-und-,,Contra"-Stimmen 548 zu einer Rechtsfrage — das Problem, wie differenzierte und modifizierende Stellungnahmen in die Zertitätstheorie eingeordnet werden, soll gar nicht weiter vertieft werden — ermöglichen soll. Die vielschichtigen Bildungsmechanismen verdeutlichen, daß h M gerade nicht als rein numerische Größe 5 4 9 angesehen werden kann, sondern als eine „ A r t Abstimmungsmechanismus in der Jurisprudenz", gebildet aus der „Addition von Entscheidungen der Obergerichte und Äußerungen in der juristischen Fachliteratur" 550 , eine Abstimmung jedoch, bei der nicht demokratisch jede Stimme zählt, sondern die Autorität das Gewicht der Stimme bestimmt 551 . Diese Gewichtsunterschiede müßte eine Zertitätstheorie berücksichtigen, denn auch die hundert zufallig befragten Juristen haben ihre erfragte Meinung zuvor unter Gewichtungen gebildet. Ein quantitatives Verfahren zur Feststellung von h M wird insofern den diffizilen Substrukturen juristischer Meinungsbildung nicht gerecht. Aus demselben Grund ist auch eine qualitative Feststellung von h M nicht möglich; es existieren — glücklicherweise — keine „books of authority", in denen festgelegt sein könnte, wer zu der h M gerechnet werden darf 5 5 2 . Damit soll nicht negiert werden, daß die Reputation von Autoren, Rechtslehrern wie Richtern, ein wichtiges Merkmal ist, das h M konstituiert, aber Reputation ist kein intersubjektiver Wert, sondern ein „reiches, normalerweise ungedrucktes Wissen von der akademischen Ungleichheit" 553 . Reputation entwickelt sich vergleichbar der herrschenden Meinung als soziales Phänomen: jedes Zitat, Publikationen in auflagenstarken Zeitschriften, die Aufnahme in Standardkommentare, die Bezugnahmen im Urteil 5 5 4 und die daran anknüpfende Generalisie547
Idealistisch äußert sich Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 52, der im Sinne einer „alle Lebensbereiche durchdringenden Demokratisierung" eine Gleichheit juristischer Ansichten in Aussicht stellt. 548 Vgl. hierzu Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, in: JZ 1980, S. 345: „.... jeder Jurist (steht) dem Quell dogmatischer Weisheit gleich nahe." . 549 Vgl. zu dieser Formulierung hinsichtlich der hL Schwerdtner, Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus (Teil II), in: Rechtstheorie, Band 2 (1971), S. 231. 550 Zu diesen beiden zitierten Formulierungen Wesel, Aufklärungen über Recht, S. 51. 551 Vgl. Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 285 f.; Wesel, Aufklärungen über Recht, S. 51, 116, 134 . 552 Die Ausführungen von Schnur sind dementsprechend auch sehr pauschal gehalten und führen neben Spezialisten vorwiegend institutionelle Autorität als qualitatives Merkmal an; vgl. Schnur, Der Begriff der „Herrschenden Meinung" in der Rechtsdogmatik, in: Festgabe für Forsthoff, S. 49 f. 553 Vgl. Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 241 und die dort Zitierten. 554 Explizit bei Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 60.
III. Bildungsmechanismen für herrschende Auffassungen
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rung von Einzelleistungen 555 , deren Qualität anerkannt wurde, schafft Prestige, das beispielsweise durch die Berufung an bestimmte Universitäten stabilisiert werden kann 5 5 6 . Dieser Vorgang ist so irrational wie für das Wissenschaftssystem funktional als Mittel zur Selbststeuerung von Bedeutung 557 . Ausgangspunkt für das Einzelprestige der Wissenschaftler ist weniger die sachliche Qualität der Veröffentlichungen — obwohl auch diese gewiß ein Kriterium für das Prestige darstellt 558 —, sondern eher die Anzahl der Nennungen in Fußnotenapparaten auflagenträchtiger Publikationen. Einfluß nimmt auch die Berufungspraxis und das damit zusammenhängende Prestige der juristischen Fakultäten der verschiedenen deutschen Universitäten 559 , wobei allerdings die Bildung von individueller Reputation und Universitätsprestige wechselbezügliche Vorgänge sein dürften 5 6 0 ; so kann eine Universität ihren Ruf mit der Berufung prestigeträchtiger Dozenten ebenso aufbessern, wie die Berufung an eine angesehene Fakultät das Einzelimage aufpolieren dürfte 5 6 1 . Die Anerkennung von Reputation im Wissenschaftssystem als einer relevanten Funktion kann jedoch nicht dazu führen, allgemeingültige qualitative Kriterien zur Feststellung einer h M zu formulieren. Wer zur juristischen, wissenschaftlichen Elite gehört — sei es durch Vorurteil oder durch Qualität — ist bedingt durch die Subjektivität der Einschätzung weder nachprüfbar zu bestimmen 562 , noch ist eine Prestigeordnung auf Dauer stabil, sondern wandelnden Wertschätzungen unterworfen 563 . Daraus folgt, daß Reputation aufgrund der hierarchie- und autoritätsorientierten Denkweise der Juristen 564 , die sich schon in der Bereitschaft zur 555
Diese funktionale Definition nimmt Luhmann vor, vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Band 1, S. 237. 556 Vgl. eingehend zur Funktion von Prestige Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 241 ff.; anhand einer äußerst interessanten empirischen Untersuchung bestimmt Klausa das Renommé deutscher juristischer Fakultäten;. 557 Siehe zu dieser funktionalen Einschätzung von Reputation im Wissenschaftssystem Luhmann, Soziologische Aufklärung, Band 1, S. 238. . 558 Vgl. hierzu die skeptische Bezugnahme bei Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 249 auf amerikanische Untersuchungen, der feststellt, daß über das, was Qualität ist, natürlich die Werturteile der Kollegen entscheiden. 559 Siehe hierzu die interessanten Tabellen bei Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 264, 267, 268, 272, 275, 278;. 560 Vgl. zu der gegenseitigen Abhängigkeit bei der Prestigebildung Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 243, 284, 287. 561 Vgl. hierzu Luhmann, Soziologische Aufklärung, Band 1, S. 237. 562 Auf die fehlenden Kriterien weist Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 286 hin. 563 Vgl. zu Nichtlegitimierbarkeit und Nichtstabilisierbarkeit einer Prestigeordnung Luhmann, Soziologische Aufklärung, Band 1, S. 239. 564 Vgl. Lange/Luhmann, Juristen — Berufswahl und Karrieren, in: Verwaltungsarchiv 1974, S. 160; vgl. zur autoritären Sozialstruktur der Juristen Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 148 f.
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
Akzeptanz höchstrichterlicher Entscheidungen zeigt, eine wichtige Größe bei der Bildung von h M darstellt, die aber nicht als Kriterium zur Feststellung von h M dienen kann, sondern als Meinungshierarchie wie h M auch durch eine „empirische Analyse des sozialen Entstehungsvorganges" 565 reflektiert werden muß. Dies gilt in gleichem Maße für den Idealtypus und die rhetorisch konstruierte hM: beide Ausformungen der herrschenden Meinung konstituieren sich nicht in einem Verfahren, das anhand intersubjektiver Kriterien nachvollziehbar wäre, sondern die Überprüfung von h M erfordert in jedem Falle eine rechtshistorische Analyse, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Auffassungen offenlegt. Erst nach Erreichen dieses Reflexionsniveaus erscheint es zur Beantwortung der Frage, ob eine h M besteht, sinnvoll, quantitativ das Überwiegen einer Auffassung festzustellen. Allein aus dem Zahlenverhältnis kann jedoch auch noch kein stringenter Rückschluß auf das Vorherrschen einer Meinung gezogen werden, weil durch diese Form der Bewertung die institutionellen Voraussetzungen des juristischen Diskurses vernachlässigt würden. Die oben aufgeführten Mechanismen der Bildung von h M und die Einzelbefunde im Rahmen der historischen Analyse verdeutlichen, daß unreflektierte Rezeptionen, personale Verflechtungen und personale Reputation wie institutionelle Autorität den Diskurs weitgehend mitbestimmen; entsprechend müßten auch diese Bildungsstrukturen bei der Feststellung von h M berücksichtigt werden. Nach Erreichen dieser zweiten Reflexionsebene dürfte dann ein Gerüst von Auffassungen übrig bleiben, das einen bewertenden Zugriff erlaubt. Aber: eine in der vorgeschlagenen Weise reflektierte h M ist keine Meinung mehr, die im Diskurs autoritativ-autoritäre Ansprüche stellen könnte. Die kritische Reflexion zerstört durch Offenlegung der diskursiven Substrukturen den Glauben an die Effizienz des h M Argumentes und damit den Herrschaftsanspruch 566. Das Phänomen „ h M " , das Ausgangspunkt der Untersuchung war, ist mit dem reflektierten Extrakt nicht mehr identisch; es ist rhetorisch und argumentativ nicht mehr funktionalisierbar. Die Frage nach einer Methode zur Feststellung von h M ist aus diesem Grunde nur negativ beantwortbar: wer h M ermitteln will und dabei die dargestellten Problemkreise nicht völlig unbeachtet läßt, verändert zwangsläufig den Gegenstand der Untersuchung. Kriterien zur Festellung von h M sind damit obsolet; notwendig und sinnvoll aber ist Aufklärung über h M und kritische Reflexion dieser Argumentationsfigur.
565
Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 286. Haba, Rationalität der Autoritäten oder Autorität der Rationalität?, in: Rechtstheorie, Band 8 (1977), S. 160 ist der Auffassung, daß die Diskussion der Begründung einer Instanz deren Betrachtung als Autorität ausschließe. 566
IV. Autoritätsfunktion von h M
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IV. Autoritätsfunktion von hM Eine kritische Reflexion von herrschender Meinung führt nach der Analyse der Entstehung zurück zu dem Kernpunkt des Entstehungsanlasses, nämlich der juristischen Begriffsbildung und der Dogmatisierung des Rechts. Schon bei den einleitenden argumentationstheoretischen Überlegungen wurde deutlich, daß sich h M in einer Gemengelage zwischen Dogmatik und Präjudizien befindet und sich in idealtypischer Ausgestaltung durchaus als rationales Argument im Sinne einer autoritativen Kompetenzbezugnahme verstehen läßt. Dieses mögliche Verständnis hat im Verlaufe der Untersuchung Einschränkungen erfahren. 1. Autoritätsbedarf
im juristischen Diskurs
Der juristische Diskurs ist ein Diskurs, in dem als Argumentationsmaterial auf Vorgegebenes zurückgegriffen wird, in Form des Gesetzes oder der Ergebnisse seiner Auslegung, Dogmatik und Präjudiz sowie hM. Der Rückgriff auf diese Autoritäten sichert im juristischen Diskurs die grundsätzliche Anerkennung von Behauptungen und verbessert die Überzeugungskraft und die Qualität der Argumentation 567 . A u f diese Weise könnte man unkritisch beschreiben, welche Bedürfnisse h M befriedigt. Damit ist jedoch die Frage ausgeklammert, weshalb h M diesen Stellenwert in der juristischen Argumentation erlangen konnte. Die enge Verknüpfung von h M mit Dogmatik und Präjudizien legt es nahe, die Bedeutung von h M und den Glauben an ihre argumentative Effizienz mit der historischen Entstehung der allgemeinen Akzeptanz von Dogmatik und Präjudizien zu verbinden 568 . Dabei soll die These vorangestellt werden, daß die moderne h M keine Erscheinung ist, die sich auf das Argument der auctoritas in der römischen Rechtsgeschichte569, die Glossen 570 , die Zitiergesetze oder die communis opinio doctorum 5 7 1 zurückführen läßt. 567
Vgl. Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 48 ff., der sich insgesamt jedoch kritisch mit dogmatischer Argumentation auseinandersetzt. 568 Dies bemerkt auch Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 23, die sich in der Folge jedoch nicht mit der Entstehung dogmatischer Wissenschaft auseinandersetzt. 569 Vgl. zu auctoritas als einem wichtigen Argument in der römisch-rechtlichen Rhetorik, Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, S. 125; Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 193, 234 mit Quellennachweisen: es galt der Satz, daß in einem bestimmten Sinne zu entscheiden sei, wenn in einem gleichen oder ähnlichen Falle sich ein namhafter Jurist in dieser Weise geäußert habe. 570 Zur Bedeutung der wenigen Glossatoren vgl. Koschaker, Europa und das römische Recht, S. 91 f.
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
Eine allgemeine historische Rückschau auf mögliche Vorläufer von h M ermöglicht keine Einschätzung des heutigen Phänomens, weil die konkreten historischen Entstehungsanlässe für die benannten Erscheinungen berücksichtigt werden müssen. Der Autoritätsanspruch der juristischen Ausführungen der wenigen namhaften römischen Juristen, der Glossatoren und der Gelehrten, die als communis opinio doctorum betrachtet wurden, kann mit den Autoritätsansprüchen juristischer Publikationen im heutigen juristischen Kommunikationssystem nicht verglichen werden 572 . Angesichts einer juristisch ungebildeten Richterschicht und der großen Rechtszersplitterung im frühen Mittelalter kann der überragende Einfluß der wenigen Gelehrten nicht überraschen 573 ; Laienrichter wurden von juristisch geschulten Richtern verdrängt, die großen Juristenschulen — beispielsweise die in Bologna — etablierten einen neuen, gebildeten Richtertyp, der das corpus iuris, dessen aktuelle Auslegung sowie die diversen Statutarrechte und die Rechtsprechung der Rota kannte. Gefördert wurde diese Entwicklung durch den Syndikatsprozeß, in dem Richter dann zur Verantwortung gezogen wurden, wenn ihre Entscheidungen gegen die vorhandene, schwer übersichtliche Rechtslage verstießen. Die Autorität der Glossatoren und Kommentatoren wird angesichts der Konsequenzen möglicher falscher Entscheidungen im Mittelalter durch die Gutachter der Konsiliarpraxis fortgeführt. Die Consilia von Rechtsgelehrten wurden deshalb für richterliche Entscheidungen dominierend, weil sie eine richtige Auslegung gewährleisteten. Wenn also Autorität als durchgängiges juristisches Argumentationsprinzip angesehen w i r d 5 7 4 , so kann dies nur vor dem Hintergrund der konkreten historischen Ursachen geschehen, zu denen neben den geschilderten insbesondere das Fehlen eines einheitlichen Rechtsprechungsorgans in Deutschland zu zählen ist. Präjudizienjustiz galt als unzulässig: sie sei unlogisch und schädlich durch die Schaffung von Vorurteilen und bedeute einen Mangel an Rechtskultur 575 . Der bestimmende Einfluß der Rechtslehre, die communis opinio doctorum, ist schon aus diesem Grunde ein anderes Phänomen als die heutige hM, die als Ausdruck für Konsens der juristischen 571
Vgl. zur communis opinio doctorum Englmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, S. 83; Weller, Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, S. 45. 572 Vgl. die Untersuchung von Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 244, 287, der für die Nachkriegszeit folgende Zahlen ermittelt hat: 1953/54 hatte die juristische wissenschaftliche Fachgemeinschaft in Deutschland 146 Mitglieder, 1976/77 waren es schon 547; er schließt daraus auf die Notwendigkeit von Mitteln zur Orientierung, wie Reputation und hM. 573 Vgl. zu diesen historischen Gegebenheiten Dolezalek, Art. „Herrschende Lehre", in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hrsgg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Berlin 1978. 574 Ygi z u r Entwicklung des Autoritätsargumentes Horn, Argumentum ab Auctoritate in der legistischen Argumentationstheorie, in: FS Wieacker zum 70. Geburtstag, S. 261 ff. 575
Vgl. zu diesen Befunden Englmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, S. 70 ff.
IV. Autoritätsfunktion von hM
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Diskursteilnehmer über die Lehre hinaus notwendig die Rechtsprechung der höchsten Gerichte beinhaltet und sich gegen die Rechtsprechung allem Anschein nach nicht mehr konstituieren kann. Die communis opinio hingegen hingegen war ein Produkt der Rechtslehre: „Die Wissenschaft schafft von sich aus nicht Rechtssätze, sondern Lehrsätze. Sie haben ein ihrem inneren Wert entsprechendes freies Ansehen; Versuche, ihre Autorität zu beseitigen (...) hatten keinen oder aber traurigen Erfolg. Dagegen haben sie niemals bindendes Ansehen. Die ehemals herrschende Ansicht, die zum Schaden der Wissenschaft wie der Praxis in der communis opinio doctorum eine Rechtsquelle sah, ist restlos aufgegeben" 576 . Diese Aussage stützt die Behauptung, daß ein Vergleich zwischen h M und communis opinio doctorum schwer möglich ist, indem sie die communis opinio auf wissenschaftliche Lehrsätze beschränkt 577 . Ferner ist zu bedenken, daß seit Savigny Dogmatik nicht mehr ausschließlich auf das Normensystem als Gegenstandsbereich oder Material bezogen ist, sondern davon verschiedene Realsysteme mitberücksichtigt 578 . Die Umgestaltung der logisch-deduktiven Dogmatik in eine produktive Dogmatik zeitigt auch Auswirkungen auf die Bildung und die Funktion von hM; der fachwissenschaftliche Kontext, in dem h M entsteht, ist größer und komplexer. Eine Kontinuität zwischen communis opinio und moderner h M läßt sich wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen und der andersartigen autoritativen Zusammensetzung nur in der Frage des „Rechtsquellenstatus" von communis opinio und der normativen Funktion von h M in Argumentationen erkennen 579 . Auch in diesem Zusammenhang scheinen jedoch gewichtige Unterschiede eine Kontinuitätsannahme zu verhindern, denn die Genese der Normbehauptung h M verläuft anders als die Entwicklung der Rechtsquelle communis opinio. Während h M im Verlauf einer breiten juristischen Diskussion produziert oder konstruiert wird, ist die communis opinio regelmäßig durch wenige für kompetent erachtete Juristen erzeugt worden; ihr textualer und personaler Hintergrund war auf einen Blick überschaubar und sie ist deshalb nicht vergleichbar mit der anonymen hM. Der Erkenntniswert der Vorläufer für die kritische Reflexion des Autoritätsanspruches und der Funktionen der modernen h M ist wegen der beschriebenen historischen Gegebenheiten gering 580 . Aussichtsreicher erscheint eine Analyse
576
Kohler (Hrsg.), Enzyklopädie der Rechtswissenschaft, 1. Band, Berlin 1915, S. 190. Siehe zu diesem Verständnis von communis opinio auch Dolezalek, Art. „Herrschende Lehre", in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, II. Band, hrsgg. von A. Erler und E. Kaufmann. 578 Vgl. zu diesem Wendepunkt in der Entwicklung juristischer Dogmatik und zu den Konsequenzen Herberger, Dogmatik, S. 347, 396 ff. 579 Diese Frage versucht Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 115, 120ff., 125 dahingehend zu beantworten, daß eine faktische Geltung von h M bestehe (vgl. auch S. 134). 577
8 Drosdeck
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
von h M im Zusammenhang mit der Entfaltung juristischer Dogmatik, die die Unterschiede zwischen communis opinio und der aktuellen h M verdeutlichen wird. Die Installierung einer von staatlicher Herrschaft autonomen, dogmatischen Rechtswissenschaft ist das Verdienst der historischen Rechtsschule, die dem frühkonstitutionellen, liberalen Gedanken der Autonomie des Rechtssystems durch eine entsprechende Rechtsquellenlehre und Methodenlehre Ausdruck verliehen hat 5 8 1 . Als nichtstaatliche Rechtsquellen rekurrierte die historische Rechtsschule unter theoretischer Führung Puchtas auf die unmittelbaren rechtlichen Auffassungen des Volkes und der Wissenschaft 582 . Die von ihr etablierte produktive Jurisprudenz versuchte, die Gerichtspraxis als Rechtserkenntnisquelle zu nutzen, und diese in Verbindung mit den allgemeinen nationalen Rechtsüberzeugungen durch wissenschaftliche Methode, nämlich die begrifflich-analytische Ausdifferenzierung, zu allgemeinen und verbindlichen dogmatischen Sätzen fortzubilden. Im Zusammenspiel mit dem rezipierten römischen Recht sollte daraus ein Rechtskomplex entstehen, der als systematisches Gebäude die Grundlage für weitere Rechtsproduktion im Wege der begrifflichen Ableitung darstellen konnte. Durch diese philologisch-logische Exegese und Textharmonisierung wurde eine dogmatische Rechtswissenschaft errichtet, die sich seitdem als juristische Fachwissenschaft versteht und von der Prämisse ausgeht, daß Recht nicht apriorisch ist, sondern sich immer auf eine Setzung zurückführen läßt. Recht wird mit Rechtsvorschriften identifiziert, die in juristischen Texten fixiert wurden 5 8 3 . Daraus ergibt sich das Paradigma der juristischen Methodenlehre, dem die vermeintliche Einsicht zugrunde liegt, daß der normative Gehalt des Rechts nur dann zureichend bestimmt werden kann, wenn die im positiven Recht zum Ausdruck gelangenden Prinzipien und Grundbegriffe ermittelt werden, um das Recht in einem System von Rechtsbegriffen und Rechtssätzen darzustellen 584 . Für die Rechtsgewinnung im Einzelfall ist es also notwendig, positives Recht anzuwenden und auszulegen, ein Verfahren, das bis auf den 580 Ygi beispielsweise den historischen Rückblick bei Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 29-36; . 581 Vgl. ausführlich zum historischen Kontext unter methodischen Aspekten und zur Entstehung autonomer dogmatischer Rechtswissenschaft Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, S. 197 ff. 582 Vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, S. 199. 583 Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 174f.; hierzu auch ausführlich Krawietz, Zum Paradigmenwechsel im Juristischen Methodenstreit, in: Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), S. 132; vgl. zur Kontextabhängigkeit juristischer Meinungsbildung (Lehrmeinungen, Gesetzestext) Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 44. 584 Vgl. hierzu Krawietz, Zum Paradigmenwechsel im Juristischen Methodenstreit, in: Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979), S. 129.
IV. Autoritätsfunktion von hM
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heutigen Tag mit dem Instrument des Justizsyllogismus verfolgt wird. In einer sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer schneller ausdifferenzierenden Gesellschaft war dieses dogmatische System jedoch nicht mehr in der Lage, die neuartigen Entscheidungsprobleme mit den hergebrachten Mitteln und Methoden zu lösen; Beispiele aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie das Versicherungsrecht, das Straßenverkehrsrecht, das Sozialrecht und das Arbeitsund Tarifrecht illustrieren anschaulich neue Regelungskomplexe, die mit herkömmlicher Dogmatik wenig zu tun hatten 5 8 5 . Dennoch wurde der Versuch unternommen, mit dem überkommenen Instrumentarium zu arbeiten. Die Unzulänglichkeit dieses Versuches äußerte sich darin, daß die alte dogmatische, die deduktiv-logische Methode zunehmend abgelehnt wurde, selbst dort, wo sie sich als produktiv im Sinne einer Mischung aus induktivem und deduktivem Verfahren in bestem Puchta'schem Verständnis bemühte 586 . Das Aufkommen der Freirechtsbewegung und der Interessenjurisprudenz gegen Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts sind äußere Zeichen dieser inneren Limitationen der alten Dogmatik. Die Ausdifferenzierung des Rechtssystems hatte aber noch eine andere Folge als die Infragestellung der tradierten Methode, nämlich das Entstehen verschiedener Gesetze, die den neuen Regelungsbedürfnissen gerecht zu werden trachteten 587 . Damit veränderten sich die Arbeitsbedingungen für die deutschen Juristen im Laufe des 19. Jahrhunderts in erheblichem Umfang: die — zumindest aus heutigem Blickwinkel — überschaubare Dogmatik wurde mit normativen Texten konfrontiert, die noch nicht dogmatisiert waren, im angestammten System noch keinen Platz hatten, selbst wenn in dogmatiknahen Rechtsgebieten natürlich auf die alten Sätze zurückgegriffen wurde. Durch die schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einsetzende Positivierung wurde mithin der Kommunikationshorizont der juristischen Fachgemeinschaft, ihre textuale Umwelt, komplexer 588 . Dies verstärkte sich in dem Maße, in dem die neuen Gesetze keine Antwort auf die neuen Rechtsfragen gaben. Der Gedanke, mit dem Gesetz — insbesondere dem BGB — eine allumfassende Problemlösungsmöglichkeit 589 für die neuen Rechtsprobleme gefunden zu haben, wurde durch die sich immer noch und immer noch schneller ausdifferenzierende Gesellschaft schon bald nachhaltig erschüttert. Die Dogmatik und die Präjudizien traten wieder verstärkt in das Blickfeld und mußten Regelungsaufgaben wahrnehmen 590 , um 585
Vgl. zu dieser Entwicklung ausführlich Luhmann, Rechtssoziologie, S. 192, 201. 586 y g i z u e i n e r Neubewertung der Methodenlehre Puchtas Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, S. 199ff.: Puchtas Theorie sei wesentlich praxisorientierter konzipiert gewesen, als dies durch fehlinterpretierte Rezeptionen ersichtlich sei. 587
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 201 ff. Vgl. hierzu ausführlich Luhmann, Rechtssoziologie, S. 211. 589 Vgl. zur perspektivischen Verengung der Methodenlehre auf das Gesetz Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, S. 273 f. 588
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
drängende Fragen über Rechtsproduktion zu beantworten 591 . Diese Rechtsproduktion wird im bürgerlichen Recht Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere an dem Institut der positiven Vertragsverletzung deutlich, aber auch die Anscheinsvollmacht ist ein Beispiel für dogmatische Innovation. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die gleichzeitige Ausdifferenzierung des Rechtssystems hatte eine rechtswissenschaftliche Kommunikationsstruktur zur Folge, die für den einzelnen Juristen nicht mehr überschaubar sein konnte 5 9 2 . Man mußte die seit der von Anfang des 19. Jahrhunderts fortschreitenden Positivierung des Rechts bedingte Änderbarkeit des Rechts hinnehmen 5 9 3 , verbunden mit der Notwendigkeit immer neuer Auslegung, neuer Dogmatisierung weiterer Rechtsgebiete und .wurde im Verlauf dieser Entwicklung erneut dogmatisch produktiv gefordert, z.B. durch die Einbeziehung der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden empirischen Sozialwissenschaften. Dies förderte die Ausbildung von Spezialisten 594 , wodurch der Zusammenhalt der juristischen Fachwissenschaft zersplittert wurde; eine solche Wissenschaft, ein solches — auch in der Gerichtsbarkeit — sachlich und instanziell ausdifferenziertes Rechtssystem bringt keine allgemeinverbindlichen Autoritäten im Sinne einer communis opinio doctorum mehr hervor 5 9 5 , sondern spezialisierte Kompetenzen. Die damit einhergehende Ausdifferenzierung der Kommunikation 5 9 6 ist der historische Anlaß für die Entstehung der modernen hM, die es auch dem nichtspezialisierten Juristen gestattet, sich einen Überblick hinsichtlich des Gesamtsystems zu erhalten 597 . Sie erleichtert die Verständigung 598 in der ausdifferenzierten, vertexteten Kommunikation und ist Sinnbild für die fachwissenschaftliche Resonanz, die 590 Dies bringt Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: FS Gadamer II, S. 318 f. deutlich zum Ausdruck. 591 Vgl. zur Verteilung von Entscheidungslast und der veränderten Rolle des Richters Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 127. 592 Vgl. hierzu Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 175. 593 Dies scheinen nur wenige Juristen methodisch analysiert zu haben; vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, S. 277, die Regelsberger zuschreibt, er habe die Änderbarkeit des Rechts erkannt. 594 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 211, hält selbst Spezialisten nicht für imstande, die neuen Probleme zu lösen. 595 Dieser Auffassung ist insbesondere Esser, In welchem Ausmaß bilden Rechtsprechung und Lehre Rechtsquellen?, in: Zeitschrift für vergi. Rechtswissenschaft, 75. Band (1976), S. 81 f.; Esser zieht jedoch daraus den angreifbaren Schluß, daß Fachautoritäten sich nur noch durch Überzeugungskraft bildeten; ähnlich Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: FS Gadamer II, S. 321. 596 Vgl. zu den hier aufgeworfenen Problemen die Analyse bei Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 51 f., 174ff., 186f.; derselbe, Rechtssoziologie, S. 209ff. 597 Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 74: Auskunft über Rechtsentwicklungen enthielten nur noch die Rechtsprechungskommentare; die Rechtsauffassungen des Volkes seien unbeachtlich geworden. 598 Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 189.
IV. Autoritätsfunktion von hM
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der Jurist zur Institutionalisierung seiner dogmatischen Auffassung benötigt: „Die Dogmatisierung einer Meinung muß durch sie begleitende Institutionalisierung autoritativ (....) abgesichert werden durch Letztinstanzlichkeit, authentische Interpretation, Zitationshierarchien, Konsensvermutungen, Legitimationsverfahren, Rationalitätskriterien, Kontrollgarantien, Revidierbarkeit etc., kurz durch ein ungeheures Aufgebot sozialer Absicherungen von Meinungen" 5 9 9 . Dies gewährleistet h M als eine amorphe, anonyme Klasse von Meinungen. Der Autoritätsbedarf im juristischen Diskurs ist, bedingt durch die geschilderte historische Entwicklung einer dogmatischen Rechtswissenschaft, neben der argumentationstheoretischen Notwendigkeit von Kompetenzbezugnahmen, also maßgeblich von juristisch-institutionellen Strukturveränderungen geprägt. Diese argumentativen und institutionellen Abhängigkeiten juristischer Arbeit und die damit verbundene Entstehung von h M bilden die Grundlage für die soziale Effizienz, die h M zugeschrieben wird. Als stabilisierender Faktor für den Glauben an diese Effizienz wurde die Juristensozialisation schon kurz angesprochen; dies soll nun illustriert werden. Universitäres juristisches Lernen bedeutet zuvörderst dogmatisches Arbeiten, das sich zu einem Teil aus dem wissenschaftlichen Meinungsgefüge, zu einem wesentlichen Teil aus der Kenntnis der Rechtsprechung zusammensetzt600. Die juristischen Übungen beschränken sich darauf, den Studenten dogmatische Reproduktionen abzuverlangen 601 , eine Art des Leistungsnachweises also, die keine rechtstheoretischen Kenntnisse verlangt, kein Bemühen nach rationaler Begründung abfordert, sondern auf die Wiedergabe des durch dogmatische Theorien und die Rechtsprechung konkretisierten Rechts — mithin die h M — reduziert ist 6 0 2 . In Hinblick auf ein vom Staat fremdbestimmtes externes Examen 603 , das von Praktikern und Wissenschaftlern gemeinsam abgenommen wird, wird dem Studenten eine Darstellungsweise qua h M aussichtsreicher erscheinen, als die 599 600
Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 48 f. Vgl. zu dieser Feststellung Rodingen, Pragmatik der juristischen Argumentation, S.
152 ff. 601 Dies betrifft auch die Referendarausbildung: z.B. wird in einem Kriterienkatalog für die Bewertung eines zivilrechtlichen Aktenvortrags für den O L G Bezirk Frankfurt vom September 1981 eine Auseinandersetzung mit der h M unter dem Stichwort „rechtliche Würdigung" insbesondere bei Abweichung von der h M für nötig befunden. 602 Vgl. zu diesem Befund und den Folgerungen Adomeit, Methodenlehre und Juristenausbildung, in: Normlogik — Methodologie — Rechtspolitologie, S. 142ff; Adomeit führt jedoch sein 12 Operationen-Modell der Rechtsfindung wieder auf die h M zurück, mit dem durch H.L.A. Hart versicherten Hinweis, sie sei eben „Konvention" (S. 145). 603 Vgl. hierzu Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 60 f.
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
risikoreiche eigene Meinung. Diese Orientierung der Studenten offenbart sich in der so oft beklagten Verlagerung des Studiums zu Repetitoren 604 und in der Bitte nach einer „griffigen" Darstellung des Rechtsstoffes 605, die häufig in Vorlesungen geäußert wird. Nicht wenige Hochschullehrer kommen dieser Bitte nach (deren Erfüllung in pädagogischer und didaktischer Hinsicht unter Berücksichtigung studentischer Examensbedürfnisse nicht zu verurteilen sein kann) und arbeiten auf diese Weise — ob ungewollt oder beabsichtigt kann dahingestellt bleiben — an der Verfestigung des Effizienzglaubens von h M m i t 6 0 6 . Für viele Wissenschaftler dürfte es darüber hinaus auf Dauer im Wissenschaftsapparat nicht möglich sein, zu allen Fragen eine eigene, vielleicht abweichende Meinung durchzuhalten, weil dies auf lange Sicht weder der Reputation, noch dem Einfluß auf die Studenten förderlich ist, es sei denn, man enthält sich dieser nicht zu unterschätzenden Eitelkeiten. Der Kreislauf von Produktion und Reproduktion in der Rechtswissenschaft, der sich in der Juristenausbildung nicht nur sachlich, sondern auch personell widerspiegelt 607 , in Zusammenhang mit der autoritär-hierarchischen Orientierung der Juristen an der Rechtsprechung 608 stellt mithin einen wichtigen Gesichtspunkt für die Wertschätzung von h M als einem effizienten juristischen Argument dar. Die erörterten Aspekte, die zur Bildung und Stabilisierung von h M führen, lassen nunmehr eine kritische Betrachtung der Autoritätsansprüche von h M möglich erscheinen. 2. Autoritätsansprüche
von hM
Die h M garantiert als Verbindlichkeitskriterium für dogmatische oder präjudizielle Argumentation ein hohes Maß an Autorität. Präjudizien wird in der Methodenliteratur die Funktion zugeordnet, durch die faktische Bindungswirkung — bedingt unter anderem durch den Instanzenzug — die Gleichbe604
Vgl. beispielhaft Adomeit, Juristische Methode und Sicherheit des Ergebnisses, in: JZ 1980, 344. 605 Siehe dazu Adomeit, Zivilrechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik mit einem Beitrag zur Theorie der subjektiven Rechte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 505. 606 Vgl. Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 61 konstatiert eine Deformation des juristischen Studiums zu einer Examensvorbereitung. 607 Vgl. Wahsner, Das Arbeitsrechtskartell, in: Krit Just 1974, S. 383: „Wer die Ochsentour von Referendarexamen, Referendardienst, Assessorexamen, Hilfskrafttätigkeit, Promotion, Assistententätigkeit und Habilitation mit möglichen Abwandlungen in der Reihenfolge durchlaufen hatte, bot eine einigermaßen sichere Gewähr dafür, keine von der herrschenden Meinung in entscheidenden Punkten abweichende eigene Meinung mehr zu haben.". 608 Insbesondere für Gerichte unterer Instanzen hat Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 24ff., 28 f., die restriktiven Bedingungen geschildert, unter denen ein Abweichen von Präjudizien nur schwer möglich erscheint.
IV. Autoritätsfunktion von hM
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handlung gleichgelagerter Sachverhalte zu gewährleisten und damit einen wesentlichen Aspekt der Gerechtigkeit zu sichern 609 . Eine ähnliche Funktion wird auch der Dogmatik zugesprochen, die aufgrund ihrer institutionalisierten Herstellung die Reproduzierbarkeit von Entscheidungen schon durch zeitliche Kontinuität gewährleiste 610 . Diese Funktion ließe sich auch für h M reklamieren, da sie in einer Gemengelage zwischen Präjudiz und Dogmatik angesiedelt ist und zumindest die systematische Konsistenz der Entscheidung garantiert 611 . Aus der Feststellung, daß eine h M ohne die Rechtsprechung nicht möglich ist — sondern nur eine hL — läßt sich ferner schließen, daß h M wenigstens in Teilen die institutionelle Kraft des Richterrechts umsetzt und aus diesem Grunde eine vergleichbare faktische Bindungswirkung beanspruchen könnte, die ihr tatsächlich ja auch zugestanden wird 6 1 2 . Hiergegen ist jedoch einzuwenden, daß die Aufrechterhaltung eines überlieferten Entscheidungsprogrammes qua Präjudiz immer einer kritischen Überprüfung standhalten muß 6 1 3 , dergestalt, daß die Vergleichbarkeit der Sachverhalte darzulegen ist 6 1 4 ; eine solche Überprüfung ist bei hM, die sich ausschließlich auf Rechtsfragen bezieht und Lebenssachverhalte nur peripher zur Konstituierung der Rechtsfrage heranzieht, schon deshalb kaum möglich, weil der Zugang zu h M ungleich schwieriger ist. Präjudizien sind anhand von Entscheidungssammlungen und einer Vielzahl von Veröffentlichungen zugänglich. Die 609 Vgl. zu dieser Einschätzung beispielhaft Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 298, 322; ähnlich Coing, Rechtsphilosophie, S. 326ff., 329; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 413 ff.; ausführlich zu diesem Thema Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 259 ff.; speziell zu Leitsätzen Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, S. 197; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 74f. 610
Siehe hierzu instruktiv Hassemer, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 85f.; ausführlich zu dieser Thematik auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 326ff. 611 Dieser Aspekt wird bei den Funktionen von Dogmatik häufig als Stabilisierungsfunktion angesehen, vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 326 ff. und die dortigen Nachweise; vgl. zur Stabilisierung durch höchstrichterliche Rechtsprechung auch Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, S. 110-112. 612 So sieht Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 97 die herrschende Lehre dann als positives Recht an, wenn sie sich in der Rechtsprechung durchgesetzt hat; dies dürfte dem hier zugrundegelegten Verständnis von h M entsprechen; nach Auffassung von Folke Schmidt, Zur Methode der Rechtsfindung, S. 220, erhält h M durch die Bewertung als Argument in der deutschen Jurisprudenz den Charakter einer Rechtsquelle; siehe auch Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: FS Fritz von Hippel, S. 121, der eine instinktive Bejahung der Bindung anspricht. 613 Vgl. hierzu Gast, Recht als ius argumentandi, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 304; ausdrücklich auch Otte, Komparative Sätze im Recht. Zur Logik eines beweglichen Systems, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 313. 614 Siehe zu dieser Notwendigkeit Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 263; deshalb betont Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 336, daß das Hauptproblem der Präjudizienverwertung in der Relevanz von Unterschieden zu sehen ist.
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schlichte Aussageautorität h M jedoch ist anonym und läßt sich nur durch aufwendige rechtshistorische Studien auf ihren konkreten sachlichen und damit legitimatorischen Gehalt für den Einzelfall reflektieren. Die Vorstellung einer legitimierenden Kontinuität, die Symbol sei für Problemdifferenzierungen und Überarbeitungen von Rechtsgrundsätzen, für Reflexion und kritische Auseinandersetzung, Möglichkeiten also, die selbst in Zusammenhang mit offener, transparenter Dogmatik als problematisch angesehen werden 615 , läßt sich für h M nicht aufrechterhalten 616 . Die Verwendung von h M als Rechtsquelle im Sinne einer faktischen Bindungswirkung ist dementsprechend dann nicht akzeptabel, wenn man an eine Rechtsquelle die Anforderung stellt, rational zu sein 617 . Diese Rationalitätsanforderung scheint jedoch kein juristisches Allgemeingut zu sein, denn die h M führt de facto ein Rechtsquellendasein618, wenn auch nicht in der Rechtsquellentheorie, sondern versteckt unter dem Stichwort „Entlastung". In einer Entscheidungssituation, in der gute Gründe für die h M sprechen, soll es legitim sein, sich auf das juristisch Vorgedachte zu beziehen 619 ; dieses Argument ist den praktischen Gegebenheiten durchaus angemessen und kann für dogmatische Argumente und Präjudizien Geltung beanspruchen 620 . Der Richter wird durch einen rechtsdogmatischen Vorschlag oder ein von ihm für anwendbar gehaltenes Präjudiz von juristischer Grundlagenarbeit 621 entlastet 6 2 2 . Dies wurde im Zusammenhang mit den Rationalitätsanforderungen der 615 Vgl. hierzu Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, in: AcP 172 (1972), S. 132 f. 616 Vgl. zu diesen Kriterien als einer Grundlage der faktischen Bindungswirkung des Richterrechts, Hassemer, in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 85, der in dem weiteren Kontext seiner Ausführungen zu unkritisch die allgemein herrschende Meinung als Legitimationsmöglichkeit aufführt. 617 Die Rechtsquelleneigenschaft verneint explizit Esser, In welchem Ausmaß bilden Rechtsprechung und Lehre Rechtsquellen?, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, 75. Band (1976), S. 81, allerdings mit anderer Begründung; die Funktion von h M als Rechtsquelle wird ebenfalls problematisiert von Zimmermann, Die Bedeutung einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, S. 115ff., 134ff., 137. 618 Vgl. Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, in: AcP 172 (1972), S. 106, der in Studium und Praxis eine fast ausschließliche Bezugnahme auf kasuistische Leitsätze und Präjudizien konstatiert; ähnlich und explizit zur „ h L " Adomeit, Zivilrechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Band I I (1972), S. 505. 619 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 262; ebenso Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 242; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, S. 40ff. 620 Dieser Ansicht ist auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 329, 338. 621 Was unter Grundlagenarbeit zu verstehen ist, wird von Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 262 illustriert: „ M a n denke sich einen Richter, der ohne präjudizielle Vermittlung dem BGB gegenüberstünde und einen Fall zu entscheiden hätte, in dem wir heute einen Fall der positiven Vertragsverletzung oder der culpa in contrahendo oder dergleichen erblicken.".
IV. Autoritätsfunktion von hM
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Argumentationstheorie dann für zulässig erachtet, wenn die Überprüfbarkeit der Kompetenzbezugnahme623 sichergestellt war und weitergehend die entscheidungsrelevanten Elemente offengelegt werden 624 . Dies ist bei der Struktur einer hM-Argumentation nicht möglich, denn eine Offenlegung der Entscheidungsprämissen ist gerade nicht intendiert, sondern die Argumentation soll durch den autoritativen Verweis abgekürzt werden. H M entlastet also nur, wenn auf Transparenz verzichtet w i r d 6 2 5 , und sie entfaltet die beabsichtigte autoritative Wirkung nur dann, wenn sie nicht rechtshistorisch reflektiert wird und ihre Anonymität bewahren kann 6 2 6 . Dies unterscheidet h M von dogmatischer und präjudizieller Begründung und läßt ihre entlastende Funktion, die sich darin äußert, daß h M als Entscheidungsprogramm verwendet wird, vor dem Hintergrund einer idealistisch-rationalen Betrachtung als äußerst problematisch erscheinen 627 . Aus den gleichen Gründen muß es auch als fragwürdig angesehen werden, h M als eine Kontrollinstanz zu betrachten. Wählt man als Ausgangspunkt der richterlichen Entscheidungsfindung unter Zugrundelegung hermeneutischer Einsichten die Intuition, so wird dem Gesetz, Präjudizien und der Lehre die Funktion zugeschrieben, die intuitiv vorgefundene Entscheidung durch Kontrolle zu verfeinern 628 . Ähnlich wie bei der Orientierung an Präjudizien oder dogmatischen Vorschlägen ist eine Kontrolle durch h M jedoch nur eine scheinbare Konsistenzgarantie bzw. erst dann als Kontrollinstanz anzuerkennen, wenn sie auf ihre „guten Gründe" 6 2 9 abseits der reinen Aussageautorität untersucht wurde. 622 Vgl. zu dieser Reduktion von Komplexität Kriele, Recht und praktische Vernunft, S. 97; ähnlich Harenburg /Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis, in: Entfremdete Wissenschaft, S. 60;. 623 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 329, der die Entlastungsfunktion in diesen Zusammenhang stellt und vorsichtig eine „vorläufige" Übernahme dogmatischer Sätze anerkennt. 624 Siehe hierzu Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, in: AcP 172 (1972), S. 147. 625 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 330, der selbst eine transparente Dogmatik nur begrenzt als Entlastung betrachtet. 626 Zu diesem Verlust an Autorität durch Reflexion Haba, Rationalität der Autoritäten oder Autorität der Rationalität, in: Rechtstheorie, Band 8 (1977), S. 160. 627 Dieser kritischen Ansicht ist auch Achterberg, Argumentationsmängel als Fehlerquellen bei der Rechtsfindung, in: Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), S. 44 Fn. 5, der h M als Argumentationsmangel wertet; anders wohl Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 185 ff., die die Entlastungsfunktion betonen und den Begründungsverzicht für weitgehend unproblematisch halten. 628 y g i insbesondere Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 326ff., der dieses Rechtsfindungsmodell entwickelt. 629 Siehe zu den „guten Gründen", die ein Abweichen von hergebrachten Meinungen nur aus besseren Gründen rechtfertigen Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 327.
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Die Relevanz von h M wird methodisch und argumentationstheoretisch in der Eigenschaft gesehen, daß sie als Garant für Konsistenz, also Gleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte, in der Entscheidungsfindung herangezogen werden könne 6 3 0 . Dabei kann man diese Qualifikation als die Zusammenfassung des gedanklichen Hintergrundes aller Funktionen wie Stabilisierung, Orientierung, Entlastung und Kontrolle sehen. Neben den Bedenken, die wegen mangelnder Transparenz von h M gegen diese Verwendungsmöglichkeiten vorgebracht wurden, läßt sich ferner problematisieren, ob das Rechtssicherheitspostulat, auf das sich Gerechtigkeit bzw. Konsistenz im wesentlichen konzentriert, in dieser absoluten Form, wie es in der Methodenliteratur zum Ausdruck kommt, Argumentationsmöglichkeiten zurichten muß 6 3 1 . Vergegenwärtigt man sich das jeder Theorie und Konzeption zugrundeliegende Bestreben nach einer Verbesserung juristischer Entscheidungstätigkeit, die Suche nach einer Methode, die Kriterien für die Überwindung oder zumindest die Auflockerung des Gegensatzes zwischen starrer, deduktiv-logischer Gesetzesbindung und irrationaler Dezision bereitstellt, so offenbart sich in diesem Gegensatz auch die Dichotomie von statischem und dynamischem Recht. Die Übersteigerung des Rechtssicherheitspostulates hängt damit zusammen, daß eine Neigung zu statischen Konzeptionen, zu einer Wahrung des Restes der durch das Richterrecht überholten Gesetzesbindung konstatiert werden kann 6 3 2 . Vor dem Hintergrund der sich in allen Theorien offenbarenden Schwierigkeiten, juristische Wertungen und Wertentscheidungen in vollem Umfang rationaler Kontrolle zugänglich zumachen, ist der Rückgriff auf das Kontrollkriterium gleich /ungleich auch nur zu verständlich — aber: dieses Kriterium entspricht nur sehr unvollkommen den Notwendigkeiten einer sich immer noch ausdifferenzierenden Gesellschaft und dem Erfordernis eines parallel ausdifferenzierten Rechtssystems. Systemtheoretisch formuliert kann man den methodischen status quo als eine Form der Problemlösung begreifen, die durch umfassende Dogmatisierung und Präjudizienkultur — Symbol dafür: h M -, für den jeweils aktuellen Rechtsstand hohe Konsistenzmöglichkeiten bietet 633 . Vernachlässigt wird dabei jedoch, daß 630 Ygi Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 218 f., 240ff., insbesondere auch S. 298; der Aspekt der Gleichbehandlung wird auch von Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 95 f., stark betont: selbst vertretbare Auffassungen von Untergerichten sollten bei Abweichung von Präjudizien aufgehoben werden. 631 Vgl. zur Forderung nach Stabilisierung Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, S. 112f.; vgl. auch Otte, Komparative Sätze im Recht. Zur Logik eines beweglichen Systems, in: Jahrbuch für Rechtsoziologie und Rechtstheorie,Band I I (1972), S. 313, referierend Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 185 ff. 632 Vgl. zu den Bestrebungen der Wahrung der Gesetzesbindung Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 68 ff., 81 ff., 88 f. und den dazugehörigen bibliographischen Kommentar; Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: FS Frjtz von Hippel, S. 117 nennt dies einen getarnten gesetzespositivistischen Standpunkt.
IV. Autoritätsfunktion von hM
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sich der aktuelle Rechtsstand aus der Rückbezüglichkeit von Dogmatik und Präjudizien konstituiert und damit die wirklich gegenwärtigen Rechtsfragen in Form einer Vergangenheit/Gegenwart-Projektion nur vermeintlich konsistent gehalten werden, weil neue Erkenntnisse nicht umgesetzt werden können bzw. gegen die Konsistenzregel verstoßen 634·. Dieses Problem verstärkt sich, wenn man zukünftige Entwicklungen, die vielleicht sicher prognostizierbar, gleichwohl aber noch nicht justiziabel und damit nur bedingt dogmatisierbar sind 6 3 5 , mit dem gleichen vergangenheitsorientierten Entscheidungsprogramm zu lösen versucht 636 . Komplikationen aus dem Rechtssicherheitspostulat ergeben sich mithin aus der Zeitdimension des Rechts und der Gesellschaft 637 . Trifft man heute Entscheidungen anhand von Dogmatik, Präjudizien, hM, schreibt man fest, was als Recht oder Unrecht, als adäquat oder inadäquat angesehen wird. Durch die Orientierung an diesen Begründungen stabilisiert sich das Entscheidungsprogramm und verhindert, bei neuen Entwicklungen die Zuordnungen von adäquat und inadäquat zu verändern 638 . Luhmann formuliert dieses Problem und seine Lösungsmöglichkeit unter der Prämisse, daß Recht aus der Qualifikation von Recht und Unrecht bestehe, Sicherheit mithin Rechtssicherheit und Unrechtssicherheit impliziere 6 3 9 . Er folgert daraus in Hinblick auf die zeitlich bedingten Komplikationen: „Will man aber strukturell vorgezeichnete Unrechtssicherheit vermindern, muß 633
Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, S. 392, der diese Leistung auf Kosten der Komplexität erfaßbarer Entscheidungsmengen konstatiert; Otte, Komparative Sätze im Recht. Zur Logik eines beweglichen Systems, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 313 konstatiert, daß der Normgehalt durch eine Vielzahl von Präjudizien verdeckt werde. 634 y g i Eberle/Garstka, Funktion und Legitimation von Informationsprozessen bei innovativen Richterentscheidungen, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 132f.; vgl. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 194ff., der dieses Problem durch die Möglichkeit einer notwendigen Ungleichbehandlung neuer Materien aufzulösen versucht. 635 Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in: FS Fritz von Hippel, S. 125 weist auf die gesteigerte Erwartung auf eine richterliche Stellungnahme hin. 636 Esser, Möglichkeiten und Grenzen dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, in: AcP 172 (1972), S. 101 sieht eine Unvereinbarkeit des dogmatischen Anspruches auf Autorität mit der mangelnden Fähigkeit zur Bewältigung neuer Sozialkonflikte ohne neuen Konsens. 637
Vgl. zu dieser Problematik Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 195, der bei dem Hinweis, daß dies ein schon Savigny bekanntes Problem gewesen sei, zu verkennen scheint, daß sich diese Frage heute in viel größerem Umfang in vielerlei Rechtsgebieten aufwirft und damit die Funktionsfähigkeit von Recht im Gesellschaftssystem in Frage stellt; deutlich hierzu Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 396, 409. 638 Vgl. auch Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik, in: AcP 172 (1972), S. 132 f. 639 Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 411-413; zum Begriff Rechtssicherheit (S. 412): „Rekonstruktion unbestimmter Kontingenz durch die Disjunktion von Recht und Unrecht; Entscheidbarkeit; Universellwerden dieser Disjunktion; Minimierung der Rechtsverweigerung und Verbot der Justizverweigerung".
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man Rechtsunsicherheit steigern, zumindest ihre Steigerung in Kauf nehmen, indem man die Verteilung von Recht und Unrecht abhängig macht von dem Ergebnis eines Entscheidungsverfahrens und alle Vorfilter des Zugangs zum Verfahren abbaut" 6 4 0 . Dies würde bedeuten, auch die Entscheidungsvorfilter in dem Umfang abzubauen, daß die Entscheidbarkeit nicht gefährdet w i r d 6 4 1 . Man könnte deshalb die Forderung aufstellen, auf eine hM-Filterung, ob als Orientierung, Entlastung oder Kontrolle, zu verzichten. Die geschilderten Bildungsmechanismen von hM, die Zufälligkeiten und Abhängigkeiten, lassen eine Begründung durch h M lediglich als selbst kaum legitimierte formale Legitimation 642 erscheinen, die das in seiner Vergangenheitsorientiertheit ohnehin fragwürdige Ziel formaler Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung auch nur in fragwürdiger Weise verwirklicht 643 . 3. hM-Autorität gegen Dissens und Innovation Die Ablehnung der Anerkennung der Funktionen von Dogmatik und Präjudizien für h M erfolgt vor dem Hintergrund der Forderung nach einer Argumentation, die den Rückgriff auf die Wertungen, die der Entscheidung zugrunde liegen, ermöglicht und damit wenigstens ein gewisses Maß an Rationalität gewährleistet. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß in der Praxis h M die oben beschriebenen Funktionen zukommen 644 . Dies konnte anhand der Untersuchung der hMVerwendung in der Rechtsprechung sowie der dargestellten Argumentationsprozesse zur Anscheinsvollmacht und zum Erklärungsbewußtsein belegt werden; es sei hier nur daran erinnert, daß die Anscheinsvollmacht weitgehend akzeptiert wird, also eine Orientierung an diesem dogmatischen Institut stattfindet, weil eine Übereinstimmung zwischen der überwiegenden Literaturmeinung und der Auffassung des BGH bestehe 645 . Es scheint demnach ein allgemein praktiziertes Verfahren in der Praxis zu sein, eine Auffassung im juristischen, dogmatischen Meinungsgefüge erst dann zu 640
Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 413. Vgl. Koch /Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 186, die Dogmatik für eine notwendige Bedingung dieser Entscheidungsfahigkeit halten. 642 Vgl. zur Bezugnahme auf formale Kriterien in der juristischen Entscheidungsfindung Pawlowski, S. 242. 643 Die Fragwürdigkeit der Argumentation durch h M wird auch bei Struck, Topische Jurisprudenz, S. 84 deutlich, der h M als letzten Ausweg zur Entscheidungsfindung charakterisiert; . 644 Etwas undeutlich Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, S. 80f.: er postuliert die Einbeziehung „bewährter Lehre" und „ständiger Rechtsprechung" in den „dialektischen Prozeß der Rechtsfindung", hält jedoch deren Qualifikation als h M für unerheblich; hier wird übersehen, daß durch h M beides in die Entscheidungsfindung einfließt, sieht man von dem Prädikat „bewährt" einmal ab. 641
645
Vgl. hier zur Erinnerung nochmals Staudinger/Dilcher, § 167, Rn. 33.
IV. Autoritätsfunktion von hM
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akzeptieren, wenn sie als herrschende Meinung ausgewiesen ist 6 4 6 . Rationalität und autoritative Überzeugung werden offensichtlich nicht durch Argumentation und sachliche Überzeugungskraft, sondern durch institutionalisierte Akzeptanz durch h M hergestellt 647 . Dieses Ergebnis zeigt, daß h M kein erhöhtes Maß an argumentativer Reflexion dokumentiert 648 , das unter Rationalitätsgesichtspunkten die Geeignetheit für die betrachteten argumentativen Funktionen ermöglichen würde. Die idealtypisch formulierten Eigenschaften von h M werden zwar in der praktischen Anwendung von h M unterstellt, können aber bei kritischer Reflexion des Phänomens keinen Bestand haben. Eine Orientierung an h M offenbart vielmehr ein Begründungsdefizit, das in der rechtswissenschaftlichen Forschung und Lehre mit Originalitätsverlust, in der Spruchpraxis der Gerichte mit Realitätsverlust, d.h. Verzicht auf die originäre Bewertung des Einzelfalles, beschrieben werden muß. Der Hinweis auf Zeitdruck und den Entscheidungsnotstand649 der Gerichte dispensiert nur dann von der argumentativen Begründungslast durch den surrogierenden Verweis auf h M 6 5 0 , wenn dieses argumentative Defizit bewußt in Kauf genommen wird. Autoritätsansprüche von h M werden neben ihrer Funktion als Argumentersatz auch insoweit deutlich, daß sie als institutioneller Ausgangspunkt für abweichende Auffassungen dient. Die h M strukturiert den juristischen Diskurs, da sie als — wie auch immer — konsentierte dogmatische Auffassung nicht negiert werden kann, weshalb eine abweichende Meinung nicht an einem beliebigen Punkt eines Rechtsproblems unter Außerachtlassung der h M ansetzen kann, sondern die Problemlösung in Darstellung der Abweichung von der gängigen, der hM-Problemlösung aufbauen muß. Kritik in der Rechtswissenschaft beginnt deshalb bei der hM, die sich insbesondere für wissenschaftliche, polemische Auseinandersetzungen anbietet, also einer Art von Literatur, die sich ohnehin gern der Mühe der Argumentationslast unterzieht, um so die gesamten Vorzüge der aM unterbringen zu können. Es ist offensichtlich eine Folge der akzeptierten Autorität der hM, daß sie als Argumentationsfigur eine 646 Vgl. Schöneborn, Zum Stellenwert juristischer Dogmatik im Rechtsfindungsgang, in: Rechtstheorie, Band 7 (1976), S. 177, der die Frage nach der Akzeptanz, bedingt durch die Kontroversität von Dogmatik, als verschärft ansieht. 647 Vgl. zu dieser „Überzeugungsbildung" Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 28, 34, 119, 122; siehe auch Rittel, Urteilsbildung und Urteilsrechtfertigung, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 67f., der höchstrichterliche Rechtsprechung und Autoritäten als „Garantoren" im juristischen Diskurs bezeichnet. 648 Vgl. zu dieser Auffassung Struck, Topische Jurisprudenz, S. 148; derselbe, Zur Theorie juristischer Argumentation, S. 148; Dubischar, Theorie und Praxis in der Rechtswissenschaft, S. 130 f. 649 Vgl. hier beispielhaft Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 242, der aus diesen praktischen Gegebenheiten etwas resignativ folgert, daß die Methodenlehre wenig Praxisrelevanz hat. 650 Dieser Ansicht ist auch Gast, Recht als ius argumentandi, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 304; anders wohl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 280ff.; differenzierend Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 329.
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
rhetorische Verbesserung der Argumentation bewirkt und gleichzeitig als akzeptierte Institution das Abweichen von ihr als zulässig, wenngleich natürlich diskursiv unverbindlich, hinnehmen kann 6 5 1 . Ein interessantes Studierfeld für diese Möglichkeiten sind generell Dissertationen; dies läßt sich unschwer an den Dissertationen zur Anscheinsvollmacht belegen, die den eigenen dissentierenden Ansatz regelmäßig von der h M aus betrachteten oder im Anschluß an die h M versuchten, für diese neue oder andere Argumente auszubreiten. Ein anderes Verfahren ist wohl auch nur schwer vorstellbar, denn einerseits sollen Dissertationen — daraus rechtfertigen sie sich — innovativ sein oder scheinen, andererseits aber wollen sie auch in den adressierten juristischen Fachkreisen akzeptiert werden, was sich ohne Anbindung an Vorhandenes nicht erreichen läßt. Die Garantie für beides ist hM: die Orientierung in Form der — wenn auch oft nur geringfügigen — Abweichung versetzt die „Innovation" ins System, gewährleistet gewissermaßen eine unverzichtbare juristische Solidität der Auffassung, die ihr neben der h M das Prädikat „originell" oder „vertretbar" einbringen kann 6 5 2 . Mindermeinungen müssen mit anderen Worten ebenfalls institutionalisiert werden; nur über Dogmatik können sie Aufmerksamkeit im juristischen Diskurs beanspruchen. Danach sind sie zwar immer noch Mindermeinungen, aber immerhin dogmatische Mindermeinungen. Diese Qualifikation ermöglicht es, Akzeptanz bei anderen zu suchen und über die ausgeführten Gruppenbildungen und literarischen Sympathiesysteme auch zu finden; selbst Mindermeinungen glauben an die Effizienz von h M und versuchen deshalb, sich mit der Autorität einer Lehrmeinung zu umgeben, sich mithin als eine ebenfalls Richtigkeit beanspruchende h M im Minderheitenbereich zu gerieren oder dahin zu entwickeln. Den Prozeß dieser Institutionalisierung nennt man dann Innovation 6 5 3 oder „eine im Vordringen befindliche Mindermeinung", unter Richtern gar Rechtsfortbildung — vor allem denen höchster Instanz -, unter professionellen hM-Kritikern „alternative Rechtsinterpretation". So wurde insbesondere im Arbeitsrecht diskutiert, auf welche Weise gewerkschaftliche Forderungen durchsetzbar gestaltet werden könnten, ob durch permanente Kritik der h M oder durch eine alternative Rechtsdogmatik, wobei die Ansicht präferiert wurde, daß nur durch alternative Rechtsdogmatik eine reale Möglichkeit zur Rechtsänderung bestehe, weil nur vertretbare, dogmatische Argumente innerhalb der juristischen Diskussion überhaupt zur Kenntnis genommen würden 6 5 4 . 651 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 289: h M legitimiert Dissens und das SichVerlassen auf Konsens gleichzeitig. 652 Vgl. zur relevanten Bezugsgruppe von abweichenden Auffassungen Luhmann, Rechtssoziologie, S. 77f., 289f.
653 Yg[ Eberle/Garstka, Funktion und Legitimation von Informationsprozessen bei innovativen Richterentscheidungen, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 133: die Legitimation innovativer Entscheidungen müsse rechtsdogmatisch begründet werden.
IV. Autoritätsfunktion von hM
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Dieser Überlegung wurde mit der Einrichtung der sogenannten Alternativkommentare im bürgerlichen Recht und im Verfassungsrecht Rechnung getragen, die als institutionalisierte Mindermeinung Alternativen zur h M aufzeigen sollen und im Zivilrecht gewissermaßen das aM-Gegenstück zur hMFunktion des R G R K bilden. Für die Chancen einer Rechtsänderung ist jedoch zu bedenken, daß die h M als souveräne, weil als effizient geglaubte, juristische Institution wohl ein Abweichen ermöglicht, aber im Diskurs dem Dissentierenden die persönlichen Risiken überträgt 655 , die sich neben der Argumentationslast mit Qualität, Originalität und institutioneller Durchsetzbarkeit der abweichenden Auffassung beschreiben lassen. Die Schwierigkeit der Abweichung von h M wird mithin erst dann deutlich, wenn die a M den Anspruch erhebt, nicht mehr als literarischer Seitensprung ein Mauerblümchendasein zu fristen, sondern als ernsthafte Konkurrenz zur h M angesehen zu werden 656 . Eine mit diesem Anspruch intendierte Destabilisierung der alten h M und die Konstituierung einer neuen h M erfordert vor allem eine Einbeziehung der Rechtsprechung in den Diskussionsprozeß, was angesichts der Neigung der Gerichte zur Diskussion dogmatischer Auffassungen nicht unerreichbar ist, auf der anderen Seite wegen der schon mehrfach angesprochenen faktischen Präjudizienbindung ein folgenloser Erfolg bleiben kann. Die Schwierigkeit einer über die Dogmatik erzielten Rechtsänderung spiegelt sich in der Anzahl der anerkannten rechtswissenschaftlich bewirkten Innovationen wieder, die wohl seit der positiven Vertragsverletzung vornehmlich auf Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zurückzuführen sind. Die Möglichkeit der Einflußnahme dogmatischer Mindermeinungen auf künftige Rechtsentwicklungen dürfte bei Rechtsproblemen, zu denen eine schon lange existierende h M besteht, sehr gering anzusetzen sein; am wahrscheinlichsten ist hier eine sequentielle Innovation, also eine schrittweise sich vortastende Rechtserneuerung unter gleichzeitiger Kritik der hergebrachten Problemlösung 657 , die aber durch institutionelle und soziale Absicherungen begleitet sein muß 6 5 8 . Wesentlich höher einzuschätzen sind die Chancen einer Veränderung, wenn die Sachverhaltskonstellationen sich verändern 659 , also alte dogmatische 654 Vgl. zur Erörterung der Möglichkeiten alternativer Rechtsdurchsetzung Däubler, Gesellschaftliche Interessen im Arbeitsrecht, S. 51 ff. 655 Vgl. zum Risiko Luhmann, Rechtssoziologie, S. 289f.: das Abweichen von h M sei typisch kein Fehler, bedürfe aber besonderer Rechtfertigungen. 656 Unproblematischer sieht dies wohl Esser, In welchem Ausmaß bilden Rechtsprechung und Lehre Rechtsquellen?, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, 75. Band (1976), S. 81 f. 657 Vgl. hierzu und zu weiteren Innovationsstrategien Harenburg, Vorverständnis und Innovation, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 304f. 658 Dies wurde schon in anderem Zusammenhang festgestellt, vgl. Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 48 f. 659 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 290, der die Rechtfertigung einer aM von der besonderen Lage des einzelnen Falles her wohl für die günstigste Lösung hält.
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
hM-Figuren neue Lebenssachverhalte nur unzureichend regeln 660 — nur: hier muß die Frage gestellt werden, ob eine solche Rechtsveränderung als innovativ gekennzeichnet werden kann, weil vielleicht viele der der alten h M zugehörigen Autoren und Gerichte auch ohne existierende aM eine Anwendung der tradierten Auffassung nicht ohne weiteres vorgenommen hätten. Die autoritärautoritative Wirkung von h M äußert sich in der Hauptsache nicht gegenüber neuem Regelungs- und Handlungsbedarf, der in Hinblick auf die rechtliche Lösung noch zu diskutieren ist, sondern vorwiegend in schon diskutierten Rechtsfragen 661 . Es ist mithin auch die zeitliche Dimension einer Diskussion, die eine h M stabilisiert und daraus läßt sich schließen, daß eine Destabilisierung in Form der Innovation neben kritischer Reflexion ebenfalls Zeit benötigt 662 . Die Frage ist, ob eine mit h M operierende Wissenschaft und Praxis wegen des Zeitmomentes nicht Realitätsverluste erleidet, weil sie nicht für Innovationen flexibel bleibt 6 6 3 . Anders kann dieser Prozeß verlaufen, wenn die Rechtsprechung der höchsten Gerichte eine neue Rechtsentwicklung einleitet 664 , weil sie die schon beschriebene „faktische" Rechtsdogmatik produziert, die berücksichtigt werden muß 6 6 5 . Dies verwundert nach der Analyse der wichtigen Rolle, die die höchstrichterliche Rechtsprechung für die h M einnimmt, nicht mehr und kann deshalb auch nicht als ein Indiz gegen die primär stabilisierende autoritär-autoritative Funktion von h M gesehen werden: vielmehr muß man berücksichtigen, daß eine Rechtsprechungsänderung die vormalige h M — bestenfalls—zur hL degradiert oder gar eine neue h M konstituiert. M i t der Meinungsänderung bilden sich also die autoritären Strukturen in der Gegenrichtung neu aus; verändert hat sich nur der Inhalt der Meinungsherrschaft, nicht aber deren Funktionen.
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Vgl. zu diesen Innovationsmöglichkeiten Schlink, Probleme und Ansätze einer Entscheidungstheorie der richterlichen Innovation, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 27. 661 Vgl. Esser, Herrschende Lehre und ständige Rechtsprechung, in: Dogma und Kritik in den Wissenschaften, S. 31: er schließt aus einer ständigen Rechtsprechung auf mangelnde Eindeutigkeit und meint, daß oft Doktrinen „als Phantome durch die Judikatur geschleppt" würden, ohne klare Begründung ihres Wertes. 662 Vgl. Eberle/Garstka, Funktion und Legitimation von Informationsprozessen bei innovativen Richterentscheidungen, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 131 f. die von Generalisierung der Erstinnovation ausgehen und das Zeitmoment ansprechen. 663 Vgl. zu dieser Frage in Zusammenhang mit Gerechtigkeit Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 409. 664 Schon deswegen beschäftigen sich Innovationstheorien mit den Chancen richterlicher Innovation, vgl. die Aufsätze in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, Beiträge zu einer Entscheidungstheorie der richterlichen Innovation, hrsgg. von Harenburg, Podlech und Schlink. 665
Vgl. hierzu die Ergebnisse bei Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 97 ff., der die Rolle der höchstrichterlichen Rechtsprechung insbesondere für Untergerichte beschreibt.
IV. Autoritätsfunktion von h M
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Selbst massiver rechtswissenschaftlicher Widerstand 666 gegen Rechtsprechungsinnovationen wie der Produzentenhaftung beispielsweise verhindert nicht, daß die Produzentenhaftung faktisch Recht ist und ähnlich wie bei der Anscheinsvollmacht trotz der Gegenstimmen eine Stabilisierung sich einzustellen scheint 667 . Die zitierten kritischen Stimmen deuten in der Art und Weise der Kritik an, daß die Faktizität der Rechtsprechung die ursprünglich grundsätzliche Ablehnung der Produzentenhaftung, die als Einschnitt in das Vertragsrecht empfunden wurde, in eine vorsichtige Modifizierung der Abgrenzungskriterien des BGH kanalisiert. Es steht zu erwarten, daß in Kürze von einer h M bezüglich der Produkthaftung die Rede sein wird 6 6 8 . In der Rechtsprechung selbst scheinen die Bedingungen für Innovationen, für ein Abweichen von h M jedoch auch restriktiv zu sein: zum einen hindert offensichtlich der in der Konvention tradierte Argumentationsstil Richter an der Begehung neuer Wege 669 , zum anderen sind es die restriktiven institutionellen Bedingungen, die zumindest ein offenes Abweichen von der h M erschweren 670 . Verallgemeinert man die empirische Analyse der von der hM-abweichenden Urteile, so läßt sich formulieren, daß es Einzelfalle sind, in denen Untergerichte bewußte Innovation versuchen und noch geringer dürfte die Zahl der durch den Instanzenzug erfolgreichen Innovationen sein. Die untergerichtliche Strategie dürfte vielmehr im allgemeinen — und die empirische Untersuchung hat dies bestätigt — darauf hinauslaufen, durch verdeckte oder nivellierende Innovation 6 7 1 dem Einzelfall 666 Ablehnend Lieb, Anmerkung zum Schwimmerschalter-Fall, in: JZ 1977, S. 345; Littbarski, Die Auswirkungen der Rechtsprechung zu den „weiterfressenden Mängeln" auf das Haftpflicht- und Haftpflichtversicherungsrecht, in: FS Korbion, S. 269; Lang, Zur Haftung des Warenlieferanten bei „weiterfressenden" Mängeln im deutschen und angloamerikanischen Recht, 1981; Keibel, Eigentumsverletzung im Sinne des § 823 I BGB bei kauf- und werkvertraglichen Mängeln, 1984; Reinicke/Tiedtke, Stoffgleichheit zwischen Mangelunwert und Schäden im Rahmen der Produzentenhaftung, in: NJW 1986, S. 10; Rengier, Anmerkung zum Schwimmerschalter-Fall, in: JZ 1977, S. 346; Schwark, Kaufrechtliche Mängelhaftung und deliktsrechtliche Ansprüche, in: AcP 179 (1979), S. 57; Stoll, Anmerkung zum Gaszug-Fall, in: JZ 1983, S. 501; Esser/Weyers, Schuldrecht BT, § 6 III, 2 (ebenso kritisch auch in der 7. Auflage aaO. im Erscheinen); Münchener Kommentar/Mertens § 823 Rn. 79 ff. 667 Die Kontinuität der Rechtsprechung ist signifikant für diese Vermutung; vgl. BGH VersR 1977, S. 358 ("Schwimmerschalter); BGH NJW 1978, S. 2241 ("Hinterreifen"); BGH VersR 1983, S. 344 ("Gaszug"); BGH VersR 1983, S. 346; BGH VersR 1985, S. 837. 668 Zustimmend schon jetzt Graf von Westphalen, Anmerkung zum Schwimmerschalter-Fall, in: BB 1977, S. 313; Kullmann, Die Rechtsprechung des BGH zur deliktischen Haftung des Herstellers für Schäden an der von ihm hergestellten Sache, in: BB 1985, S. 409; Engels, Konkretisierung der Produzentenhaftung, in: DB 1977, S. 617; Hiddemann, Die Rechtsprechung des BGH zum Kaufrecht, in: W M 1977, S. 1242; Merkel, „Weiterfressender Mangel" ohne Ende, in: NJW 1987, S. 358.. 669
Vgl. hierzu die Untersuchung von Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 97ff.; ähnlich Schlink, Entscheidungstheorie der richterlichen Innovation, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 16. 670 Umfassend dazu Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 21 ff. 671 Vgl. zu diesen Strategien Harenburg, Vorverständnis und Innovation, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 304 f. 9 Drosdeck
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
gerecht zu werden und damit eine Aufhebung des Urteils zu verhindern 672 . Definiert man Innovation als die Generalisierung einer individuellen Innovationsleistung durch Akzeptierung im gesamten Rechtssystem673, so ist es wohl nicht angebracht, diese geschilderte Umgehungsstrategie in den Bereich der echten Rechtsfortbildung einzureihen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die h M Dissens zuläßt, wegen ihrer Stabilität auch zulassen kann, Innovationen jedoch nur dann ermöglicht, wenn ihre eigene autoritative Struktur durch eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgelöst wird. Eine in diesem Zusammenhang interessante empirische Untersuchung wurde von Harenburg/Seeliger vorgenommen, die Anwaltsgespräche auf die Reduktionsleistungen von Dogmatik untersuchten 674 . Der dabei von ihnen zugrunde gelegte Dogmatikbegriff ist auf diese Arbeit übertragbar, weil er eher dem der h M entspricht, da als dogmatische Regeln nur die Vorschläge von „ernstzunehmenden dogmatischen Autoritäten" angesehen werden 675 . Als Resultat dieser Untersuchung läßt sich feststellen, daß sowohl die oben aufgestellte These vom Originalitätsverlust im Sinne einer Ausblendung von Entscheidungsalternativen 6 7 6 , als auch die These vom Realitätsverlust in der anwaltlichen Praxis bestätigt wird: „Rechtswirklichkeit ist nicht mehr die von Laien erfahrene soziale Wirklichkeit. Die Ausklammerung sozialer und moralischer Bewertungen von Sachverhalten scheint als Entfremdungsphänomen ein notwendiges Übel rechtsdogmatischer Arbeit darzustellen" 677 . Ähnliche Ergebnisse konnte Lautmann für die richterliche Begründungsarbeit bereitstellen: nach seinen Erfahrungen wurde für die Erarbeitung rechtswissenschaftlicher Entscheidungsalternativen insbesondere in den unteren Instanzen unter 5 % der Arbeitszeit aufgewendet, hingegen die Kommentarliteratur mit größerem zeitlichen Aufwand selektiv nach affirmativen Zitaten durchsucht 678 . Diese Feststellung deckt sich mit der systemfunktionalen Betrachtung juristischer Entscheidungsprozèsse durch Luhmann, der seinen Befund allerdings anders ermittelt; Gerechtigkeit, Überzeugung, Akzeptanz können nicht 672
Vgl. Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 95 ff. Vgl. Eberle/Garstka, Funktion und Legitimation von Informationsprozessen bei innovativen Richterentscheidungen, in: Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung, S. 131. 674 Siehe Harenburg/Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis, in: Entfremdete Wissenschaft, S. 56ff.; hingewiesen sei vorab darauf, daß die anwaltliche Beratung sich meistens an der Rechtsprechung orientierte, siehe ebda. S. 82. 675 Vgl. Harenburg/Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis, in: Entfremdete Wissenschaft, S. 63. 676 Vgl. Harenburg/Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis, in: Entfremdete Wissenschaft, S. 80 f. 677 Harenburg / Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis, in: Entfremdete Wissenschaft, S. 82. 678 Vgl. Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 98-101. 673
V. Legitimation durch hM
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hergestellt werden, wenn das Rechtssystem Entscheidungen produzieren s o l l 6 7 9 . Das Verfahren garantiert nach L u h m a n n die Legitimation der Entscheidung. F ü r die rechtswissenschaftliche Erörterung u n d gerichtliche Urteile läßt sich umformuliert sagen: Legitimation durch h M . V. Legitimation durch h M I m juristischen Diskurs geht es neben der Herstellung v o n Entscheidungen auch u m die Rechtfertigung normativer Aussagen u n d deren Institutionalisierung, die durch Dogmatisierung e r f o l g t 6 8 0 . D i e sich daran anschließende, für die Verbindlichkeit einer Auffassung notwendige A k z e p t a n z 6 8 1 einer Behauptung bedarf autoritativer Rückversicherung 6 8 2 , indem die Behauptung durch Bezugnahmen auf Übereinstimmungen legitimiert w i r d 6 8 3 . Die Gültigkeit dieses Legitimationsmechanismus hängt m i t der Auffassung v o n demokratischer, politischer Legitimität zusammen, die sich auf „verbreitete, faktische Überzeugung v o n der Gültigkeit des Rechts oder der Prinzipien u n d Werte, auf denen bindende Entscheidungen b e r u h e n " 6 8 4 , stützt. Diese Auffassung v o n L e g i t i m i t ä t 6 8 5 ist einer der Faktoren, die den Glauben an die Effizienz v o n h M bewirken. I n der idealtypischen Ausgestaltung wurde h M als das konsentierte Ergebnis rationaler A r g u m e n t a t i o n angesehen, das 679 Vgl. zu dieser Beschränkung der Systemleistung des Rechts Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 21 ff.; 34, 79ff.; derselbe Rechtssystem und Rechtsdogmatik^. 15 ff., 23; derselbe, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 134ff. 680 Vgl. Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 48f., und weiterführend Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 317f., der darauf hinweist, daß Dogmatisierung nicht mit der Bildung von herrschender Meinung gleichzusetzen ist. 681 Vgl. zur Akzeptanz und zu den Voraussetzungen, unter denen eine Auffassung akzeptiert wird, Adomeit, Zivilrechtstheorie und Zivilrechtsdogmatik — mit einem Beitrag zur Theorie der subjektiven Rechte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I I (1972), S. 505. 682 Siehe zum Gewicht der Rechtsprechung und autoritativer Rückversicherung Dubischar, Theorie und Praxis in der Rechtswissenschaft, S. 94 ff. 683 Vgl. zur Autorität als eines letztendlich rechtfertigenden Elementes Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, S. 113; ähnlich Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, S. 16. 684 So Luhmann, Rechtssoziologie, S. 259 m.w.N. und S. 67, der jedoch diesen Begriff von Legitimität für unzureichend hält und im folgenden einen erweiterten Legitimitätsbegriff entwickelt; ähnlich sieht auch Weinberger, Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik, in: Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 151 einen Zusammenhang zwischen demokratischer Gesinnung und der Legitimation durch Konsens. 685
Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 15: nur konsensfahige Entscheidungen könnten darauf rechnen, ohne erheblichen Widerspruch von der Rechtsgemeinschaft akzeptiert zu werden; vgl. zu weiteren Mechanismen zur Legitimation des Rechtssystems Perelmann, Recht und Rhetorik, in: Rhetorische Rechtstheorie, S. 240. 9*
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
mithin Entscheidungen legitimieren kann und gleichzeitig — folgt man dem theoretischen Ansatz von Habermas — deren Richtigkeit garantiert. Die Rolle des Konsenses ist aus diesen Gründen auch in Hinblick auf den juristischen Diskurs nicht zu unterschätzen 686 , wenngleich im Rahmen der Analyse der historischen Diskussionsprozesse ermittelt werden konnte, daß die h M keinen Rückschluß auf einen tatsächlich bestehenden Konsens zuläßt. Es hat sich ferner herausgestellt, daß die Autoritätsansprüche von h M aus einem durch die Ausdifferenzierung des Rechts und des juristischen Kommunikationssystems bedingten Autoritätsbedarf resultieren. Dabei sind die autoritär-autoritativen Funktionen von h M in wechselbezüglichem Zusammenhang mit der Konsensfunktion von h M zu sehen: die Autorität des Argumentes fördert Zustimmung, mithin Konsens, und der Konsens symbolisiert Autorität. Nachdem deutlich geworden ist, daß die Autoritätsansprüche von h M weitgehend auf irrationalen Strukturen, vor allem dem Effizienzglauben, beruhen, dementsprechend also — legt man rationale Kriterien zugrunde — nicht gerechtfertigt sind, ist es nunmehr angebracht, die Konsensfunktion und damit nach Habermas die Legitimationsfrage zu untersuchen 687 . 1. Die Konsenstheorie als analytisches Modell Nach Habermas soll ein begründeter Konsens, ein Konsens der auf der Kraft des besseren Argumentes beruht, als Wahrheitskriterium gelten 688 , weil der im Konsens erkennbare Wille vernünftig sei, d.h. der Konsens verbürgt Übereinstimmung hinsichtlich verallgemeinerungsfahiger Interessen im Sinne von Bedürfnissen, die kommunikativ geteilt werden 689 . Es sei jedoch—so Habermas — notwendig, einen faktisch erzielten Konsens in Hinblick auf die Regeln des idealen Diskurses daraufhin zu überprüfen, ob er auch ein begründeter Konsens sei. Legitimatorischen Anspruch kann ein Konsens im Sinne der Konsensustheorie dann erheben, wenn er nach den formalen Postulaten des rationalen, idealen Diskurses entstanden ist. Daraus läßt sich schließen, daß es sich bei diesem Konsens nicht um eine tatsächliche Übereinstimmung im Sinne einer Gruppeneigenschaft handelt, die durch Abzählen festgestellt werden kann, sondern um einen Konsens, der sich erst diskursiv durchsetzen mußte 6 9 0 .
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Darauf weist auch Weinberger hin; vgl. Weinberger, Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik, in: Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 147. 687 Eine instruktive Zusammenfassung der wechselbezüglichen Abhängigkeiten gibt Eckhold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, S. 92. 688 Vgl. Habermas, Wahrheitstheorien, in: FS Walter Schulz, S. 239, 257. 689 Siehe hierzu Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 148 f. 690 Vgl. zu diesem Gedanken Weinberger, Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik, in: Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 159.
V. Legitimation durch hM
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Ein solcher Konsens beruht auf Meinungen, die sich durch Überprüfung und Begründung, also kritische Reflexion, letztendlich als konsensfähig erwiesen haben. Maßgeblich für den begründeten Konsens sind die hinter den Meinungen stehenden Gründe und Wertungen 691 , die eine intersubjektive Übereinstimmung ermöglichen sollen 692 . Aus diesen Meinungen und offengelegten Wertungen ergibt sich — in der idealistischen Formulierung des konsenstheoretischen Modells — zunächst im Detail die Möglichkeit einer Übereinstimmung 693 , die dann zur Konsensbildung auch hinsichtlich des Ergebnisses führen kann. Das meinungsmäßig Einleuchtende an der Argumentation ist das, was bei Aristoteles als das „was allen oder den meisten oder den Weisen wahr erscheint" genannt wird und woraus sich der Geltungsanspruch von Aussagen—auf den Habermas seinen Wahrheitsbegriff reduziert 694 — ergibt. Das argumentative Gewicht von h M bzw. ihr Verbindlichkeitsanspruch unter den autoritativen Argumenten bemißt sich unter Zugrundelegung des konsenstheoretischen Modells nach dem Grad der Annäherung an dieses Modell. Eine allgemeinverbindliche Aussage über die mögliche Annäherung von h M an die explizierten Modellvorstellungen läßt sich nur unter dem Vorbehalt treffen, daß juristische, literarische Argumentationen allein durch kritische historische Reflexion auf ihre Diskursrationalität untersucht werden können und durch diese Reflexion der eigentliche Autoritätswert des hM-Argumentes wesentlich vermindert, wenn nicht ausgeschlossen wird. Unter der Prämisse dieses reflektierten Autoritätsanspruches kann die Aussage gewagt werden, daß die dargestellten Entstehungsmechanismen von h M auch keinen entfernten Vergleich mit dem Modell eines rationalen Diskurses ermöglichen. Der Konsenswert von h M ist unter diesen Gesichtspunkten weder eine numerische Größe 6 9 5 , noch eine Größe, die die besseren Gründe repräsentiert 6 9 6 . 691 Siehe hierzu Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 25, 118 f., 157; dieser Auffassung ist auch Weinberger, Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik, in: Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 157f. 692 Vgl. zu den Möglichkeiten intersubjektiver Wertevermittlung Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, S. 28 ff. 093 Darauf stellt Esser ab, wenn er von der Tragkraft und Verwertbarkeit der Informationen und Argumente spricht; vgl. Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzeptes unseres Jahrhunderts, S. 10; skeptisch ist er jedoch hinsichtlich des Ergebniskonsenses. 694 Siehe bei Habermas, Wahrheitstheorien, in: FS Walter Schulz, S. 218 f.; vgl. zur weiteren Explikation des Wahrheitsbegriffes von Habermas Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 177. 695 Vgl. Schwerdtner, Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus (Teil II), in: Rechtstheorie Band 2 (1971), S. 231; siehe hierzu auch Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, S. 286: bei der Ermittlung einer h M würden die Stimmen nicht gleichberechtigt ausgezählt, sondern es gebe „mindestens ein Dreiklassenwahlrecht". 696 Vgl. hierzu nochmals Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1 : Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S. 37.
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D. Herrschende Meinung - Argument und Rechtsquelle
Folgt man den Rationalitätsanforderungen, die von Alexy in Fortentwicklung der Theorie von Habermas expliziert worden sind, gelangt man zu dem Urteil, h M als verkürzendes Argument für den juristischen Diskurs als unzulässig zu qualifizieren. Die überstrapazierte und im juristischen Diskurs rhetorisch wie argumentativ funktionalisierte h M ist vor dem Hintergrund formal rationaler Bewertungskriterien nur ein affirmatives Rechtfertigungssymbol ohne eigenen Begründungswert. Resümieren kann man mit Simitis: „Wo die Vernünftigen zu konsentieren scheinen, denkt man nun einmal nicht weiter nach" 6 9 7 . Damit ist die Frage aufgeworfen, wie nach Abschluß der argumentationstheoretischen Betrachtung h M funktional gedeutet werden kann. 2. Die Institution hM — systemfunktionale
Konsensunterstellung
Funktional leistet h M die Unterstellung von Konsens 698 , der angesichts der Komplexität des Rechtssystems als Folge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in faktischer 699 Hinsicht für jede anstehende Entscheidung im juristischen Diskurs nicht mehr hergestellt werden kann 7 0 0 . Es scheint deshalb gerechtfertigt, h M als eine Institution 7 0 1 zu kennzeichnen, die in einem überkomplexen Rechtssystem die Aufgabe hat, die sich aufwerfenden Fragen und die sich hieraus ergebenden Probleme und Konflikte in diesem System abzuschwächen. Bei der von Luhmann dargestellten Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen spielt es eine wesentliche Rolle, daß die am Diskurs nicht teilnehmenden Dritten — dies können unbeteiligte, weil anderweitig interessierte oder spezialisierte Juristen sein, aber auch völlig Unbeteiligte — als potentiell zustimmend miteinbezogen werden 702 . Ausgangspunkt der Bildung der so verstandenen Institution h M ist die begrenzte Kapazität der im Rechtssystem Handelnden zur Beschäftigung mit allen juristischen Themenbereichen. Dies führt zu spezialisierten Diskursen, deren Teilnehmer, ausgehend von verschiedenen dogmatischen Theorien, gemeinsame Selbstverständlichkeiten herausbilden — dies ist das Resultat der 697 Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik — dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problemen des Massenverkehrs, in: AcP 172 (1972), S. 145. 698 Vgl. zu diesem Aspekt Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 446. 699 Vgl. zum Zusammenhang zwischen faktischem Konsens und Legitimität Luhmann, Rechtssoziologie, S. 259; Luhmann ist jedoch der Auffassung, daß „faktischer, aktuell bewußter Konsens über relevante Entscheidungsinhalte" empirisch nicht feststellbar und bei „fluktuierenden Reglements völlig undenkbar" ist; vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 2. 700 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 67, derselbe Legitimation durch Verfahren, S. 196 f. und derselbe, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 132f. 701 Zu diesem Begriff vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 64f. und ebd. Fn. 73; der Institutionenbegriff Luhmanns wird hier auf die h M im Rechtssystem übertragen. 702 Vgl. zur Relevanz der Dritten Luhmann, Rechtssoziologie, S. 65f.
V. Legitimation durch hM
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Strukturfunktion von Kommunikation —, die die ursprüngliche Vielfalt der Ansichten reduzieren und ein stabilisiertes Meinungsgefüge entwickeln. Damit wird die Möglichkeit zum Protest eingeschränkt, denn jeder Diskursteilnehmer kann nicht zu jedem Zeitpunkt alles in Frage stellen 703 . Mit dem Akzeptieren der Selbstverständlichkeiten, insbesondere auch durch die unbeteiligten Dritten, die wegen ihrer Diskursferne gar nicht widersprechen können, wird die ursprüngliche Konsensbasis überzogen und der Eindruck einer einheitlichen Meinung erzeugt. Dieser Stabilisierungsprozeß führt im Ergebnis nicht unmittelbar zu einer Norm — im Sinne eines Rechtsinstitutes —, sondern zu einer „Kontinuitätsannahme" 704 , also dem, was argumentationstheoretisch als in der Zeitdimension reflexiv gewonnenes Entscheidungsoptimum qualifiziert wurde. Deswegen sind auch die Fragestellungen, die auf verfassungsrechtliche Legitimationsprobleme in Zusammenhang mit h M zielen, nicht auf das eigentliche Problem von h M gerichtet, das sich in der sozialfaktischen Geltung durch institutionalisierte Annahme sehen läßt. Dies ist eine ähnliche Frage wie die Problematik der Einordnung des Richterrechts: Juristen erklären allgemein auf Befragen, wie h M einzuschätzen sei, sie sei „Rechtsquelle", wissen jedoch wie bei Präjudizien auch nicht, welche Kategorie von Rechtsquelle sie sein soll. Die Verbindlichkeit kraft Sozialfaktizität findet in der juristischen Rechtsquellenlehre noch keine Entsprechung. Für die weitere systemfunktionale Betrachtung von h M ist es aber notwendig, die Geltung durch Kontinuitätsannahme als Kennzeichen der Institution h M anzuerkennen. Wer gegen diese Institution argumentieren will, nimmt ein hohes Risiko auf sich, da er die in der Kontinuität explizierten Vorstellungen nicht mehr selektiv, sondern nur noch als ganze Institution angreifen kann und die Argumentationslast persönlich trägt 7 0 5 . Der Anschluß an die Institution garantiert hingegen die Sicherheit, Konsens unterstellen zu können und damit keine persönlichen Begründungsrisiken auf sich nehmen zu müssen 706 . Er ermöglicht Verständigung mit anderen, wobei die Institution als Erklärung dient; eine explizite Einigung oder die Herstellung eines aktuellen faktischen Konsenses ist durch die Heranziehung der Institution in der Erwartung, daß dieser Mindestbestand von Meinungen allgemeine Zustimmung findet 707, überflüssig geworden. „Institutionen beruhen mithin nicht auf der faktischen Übereinstimmung abzählbarer Meinungsäußerungen, 703 Siehe hierzu Luhmann, Rechtssoziologie, S. 68; Luhmann hält bei einer generellen Ablehnung nur den „Abbruch der Beziehung", d.h. übertragen das Ausscheiden aus dem Diskurs für möglich oder das „Sicheinlassen auf (die) Basis unterstellten Konsenses". 704 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 69. 705 Siehe zu diesem persönlichen Risiko der Abweichung von Institutionen Luhmann, Rechtssoziologie, S. 69 f. 706 Ygi Luhmann, Rechtssoziologie, S. 70. 707 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 68, der von einem Mindestbestand von Verhaltenserwartungen spricht.
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sondern auf deren erfolgreicher Überschätzung. Ihr Fortbestand ist gewährleistet, solange fast alle unterstellen, daß fast alle zustimmen; ja möglicherweise sogar dann, wenn fast alle unterstellen, daß fast alle unterstellen, daß fast alle zustimmen" 708 . Mit diesem „Überziehen der faktischen Konsenschancen" 709 ermöglicht die Institution h M die Verständigung im komplexer werdenden juristischen Kontaktsystem 710 und die Vereinfachung der Regelungskonflikte in Hinblick auf eine Entscheidbarkeit und deren Legitimation. Damit befriedigt sie die Konsenswünsche711, die durch das klassische demokratische Legitimationsmodell und durch die Vorstellung von Gerechtigkeit als einem allgemein zustimmungsfahigen normativen Zustand erzeugt werden 712 . Diese abschließende funktionale Analyse kann angesichts der argumentationstheoretischen Forderungen als zynische Beschreibung der Mechanismen unreflektierter juristischer Konsensbildung durch Unterstellung angesehen werden; Zynismus ist jedoch keineswegs intendiert. Es geht vielmehr darum, die Stabilität der Institution h M infrage zu stellen, indem problematisiert wird, ob sich das Rechtssystem insgesamt und speziell das Rechtswissenschaftssystem mit unreflektierten Stabilisatoren wie h M zufriedengeben muß oder ob Alternativen existieren bzw. denkbar sind. Institutionen sind nach systemtheoretischer Einschätzung aufgrund der Unterstellung von Konsens empfindlich und durch Reflexion störbar. Wird beispielsweise nachgewiesen, daß die unterstellte Konsensbasis nicht so groß ist wie sie unterstellt wurde oder daß gar keine Übereinstimmung existiert, wird die Institution als Erklärung obsolet 713 . Die Frage nach der Alternative für die Institution h M ist damit nicht zu beantworten: sie liegt wahrscheinlich auch nicht in der oft herbeigesehnten transparenten Diskussion dogmatischer Entscheidungsvorschläge, in der Wertungen und Interessenkonflikte nachvollziehbar thematisiert werden sollen 714 . 708
Luhmann, Rechtssoziologie, S. 71. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 72. 710 Vgl. zu den Problemen, die sich hieraus ergeben Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 51 und derselbe, Rechtssoziologie, S. 289; dort wird h M als eine Möglichkeit zur Lösung der professionalen Schwierigkeiten dargestellt. 711 Siehe zum gesteigerten Konsensbedürfnis Broekmann, Die Rationalität des juristischen Diskurses, in: Metatheorie juristischer Argumentation, S. 90. 712 Vgl. hierzu Weinberger, Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik, in: Rechtstheorie Beiheft 2 (1981), S. 151, der auf den seiner Ansicht nach täuschenden Zusammenhang zwischen fiktivem Konsens und demokratischer Legitimation hinweist; zu Gerechtigkeitstheorien und ihrer Bedeutung für die Rechtsfindung Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 363 ff. 713 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 72, der als Mechanismen zur Störung enthemmte Kommunikation, Meinungsforschung, Volksbefragung und „Kinsey Reports aller A r t " nennt. 709
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Angesichts der Funktionsbedingungen des juristischen Systems mit seinen institutionellen Gegebenheiten scheint das Vertrauen in „transparente" Dogmatik nämlich eine vage Hoffnung zu sein. 3. Alternativen
zu hM
Die als Alternative zu h M erwogene offene dogmatische Argumentation kann wohl schwerlich die Funktionen übernehmen, die h M im juristischen Diskurs ausfüllt: weder ihr Autoritätswert, noch ihr Konsenswert reicht an die h M heran. Nicht umsonst wird deshalb Präjudizien der Vorzug vor dogmatischer Argumentation gegeben, weil sie zwar nicht unbedingt Konsens, aber Autorität der autorisierten Entscheidungsinstanzen vermitteln. Eine Theorie, die nicht an den Autoritäts- und Konsensansprüchen ansetzt, wird wegen der nun schon mehrfach beklagten restriktiven Bedingungen des Justizsystems den wichtigsten Adressaten, nämlich die Rechtsprechung, verfehlen. Die These: „Richter machen ohnehin, was sie im Einzelfall für richtig halten", scheint zwar kein getreues Abbild richterlicher Entscheidungstätigkeit zu sein, aber sie beschreibt, daß die Entscheidungssituation Konzepte benötigt, die umsetzbar sind und — will man methodisch nicht kapitulieren — ein gewisses Maß an Rationalität garantieren. M i t der Ausarbeitung solcher Theorien waren bekanntlich schon Generationen von Juristen mehr oder weniger erfolgreich befaßt und deswegen soll von dieser Seite auch gar nicht der Versuch, nicht einmal der Anschein erweckt werden, als könne man dieses Problem mit der Reflexion von h M als gelöst betrachten. Vielmehr ist die Frage nach Alternativen offen. Die Reflexion von h M hat aber die Erkenntnis ermöglicht, daß der historische Anlaß der Entstehung der modernen h M die Ausdifferenzierung der juristischen Kommunikationsstruktur war, die Überkomplexität der juristischen textualen Umwelt, verbunden mit der Suche nach Verbindlichkeitskriterien. Man könnte den Versuch unternehmen, die funktionale Bedeutung von h M im Rechtssystem ausgehend von dieser Analyse durch äquivalente Mechanismen der Reduzierung dieser Komplexität zu verringern. Ein möglicher Ansatz führt zu einem juristischen Kommunikationsmodell, das die Verarbeitungsmengen für Informationen steigert. Erweist sich der Reduktionsmechanismus h M — wie geschehen — als irrational 7 1 5 , so bietet sich 714 Vgl. zu offener Dogmatik Simitis, Die Bedeutung von System und Dogmatik — dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problem des Massenverkehrs, in AcP 172 (1972), S. 147: dogmatische Argumentation sei nur dann rational, wenn sämtliche entscheidungsrelevanten Elemente restlos offengelegt werden; systematische Stimmigkeit und Richtigkeit garantiere nur formale Rationalität. 715 Diese Beurteilung setzt voraus, daß man sich mit argumentationstheoretischen Rationalitätsanforderungen anfreunden kann; vgl. hierzu Wolfgang Klein, Vom Glück des Mißverstehens, in: LiLi, Nr. 50: Glück (1983), S. 133 ff., der in ironischer Weise die
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die Überlegung an, Komplexität nicht zu verringern, sondern die Leistungsfähigkeit zur Verarbeitung von Komplexität zu steigern. Damit käme man dem systemtheoretischen Gerechtigkeitsbegriff nahe, der gesteigerte Konsistenz bei adäquater Komplexität fordert 7 1 6 , wobei zu klären wäre, welches Maß an Komplexität in Hinblick auf die Entscheidungsfähigkeit vertretbar ist. Als technisches Mittel zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bei der Informationsverarbeitung könnte man auf automatisierte Informationssysteme zurückgreifen, also Datenbanken wie JURIS. Damit eröffnet man die Möglichkeit, die wissenschaftlich und für eine offene Argumentation notwendige Einbeziehung von alternativen Entscheidungsmöglichkeiten in kurzer Zeit zu erledigen bzw. vorzubereiten. Hierdurch ist der Vorteil gewonnen, daß die knappe Zeit, die in der juristischen Diskussion zur Vorselektion von Meinungen zwingt und deshalb zu h M als einem Argument führt, durch den schnellen Zugriff auf viele Auffassungen nicht mehr in vollem Umfang als restringierender Faktor juristischer Argumentation angesehen werden kann. Wie gezeigt werden konnte, spielt die Information als Bestandteil der elementaren Kommunikation für die Argumentation eine wichtige Rolle. Ließe sich mittels des vorgeschlagenen Verfahrens die Selektionsbreite für Informationen steigern, könnte sich dies positiv auf die Qualität der Argumentation auswirken. Die vorgeschlagene Methode bringt jedoch auch Gefahren mit sich, die das anvisierte Ziel in sein Gegenteil verkehren könnten und sie ist nur unter bestimmten Prämissen möglich. Voraussetzung für eine Erhöhung der Komplexität bei gleichzeitiger Bearbeitbarkeit ist, daß die Eingabeselektion für automatisierte Informationssysteme niedrig gehalten wird, damit alle Entscheidungen und publizierten Aufsätze erfaßt werden könnten, was für die spätere Selektionsmöglichkeit bei der Informationsabfrage unbedingt erforderlich ist. JURIS versucht dieser methodischen Notwendigkeit dergestalt nachzukommen, daß die von den Gerichten eingesandten Urteile ohne inhaltliche Prüfung hinsichtlich der Dokumentationswürdigkeit in die Datenbank aufgenommen werden. Für die Einsendung sind also die Gerichte selbst zuständig, so daß zumindest gewährleistet ist, daß keine Manipulation durch die dokumentierende Datenbank vorgenommen wird 7 1 7 . Ein umfassender Zugriff auf die gespeicherten Dokumente setzt ferner voraus, daß diese EDV-spezifisch aufgearbeitet sind; die Oberlandesgerichte schaffen zu diesem Zweck momentan spezielle Richterstellen, so daß zu hoffen ist, daß auch von dieser Seite eine sowohl juristisch kompetente als auch eine EDV-orientierte Auswahl und Aufbereitung von Urteilen gewährleistet sein wird.
prinzipielle Vernünftigkeit der Diskursregeln durch realistische Betrachtung ihres Praxiswertes konterkariert. 716 Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, S. 390f., 445. 717 Vgl. zur Dokumentationskonzeption von JURIS Schreiber, JURIS das juristische Informationssystem für die Bundesrepublik Deutschland, in: IuR 1986, S. 31.
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M i t der Art und Weise der Dokumentation sind jedoch erst die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, die für den Zugriff notwendig sind. Fraglich ist auf der Seite der Informationssuchenden, inwieweit JURIS oder vergleichbare Datenbanken auf Akzeptanz im juristischen Anwenderbereich stoßen. Neben einer grundsätzlichen Ablehnung des Einsatzes von Computern, gipfelnd in der These, daß dadurch das juristische Denken tiefgreifend beeinflußt werde 718 , scheint im traditionell-konservativen juristischen Bereich eine Scheu vor der Technisierung der traditionell manuellen juristischen Fundheft und Registersuche verbreitet zu sein, die der Akzeptanz nicht förderlich ist. Ein weiterer restringierender Faktor sind die Datenmengen, die bei Abfragen — vor allem dann, wenn der Anwender die Logik der Abfrage noch nicht ausreichend beherrscht — den Informationssuchenden unter Umständen „überschütten": einige Richter erklärten in persönlichen — natürlich nicht repräsentativen — Gesprächen, daß sie eine Vervielfachung der Lesezeit befürchten und sich deshalb aus ihrem Blickwinkel die Literaturzusammenstellung per Datenbank kontraproduktiv darstelle. Sie verfügten über eigene, über lange Praxisjahre angelegte, spezifische Informationsbestände, die alle notwendigen Quellen enthielten. Diese Einwände deuten an, daß eine Akzeptanz der neuen Informationsmedien kurzfristig nicht zu erwarten sein wird, obwohl die Zahl der eine ablehnende Haltung einnehmenden Juristen bei umfassender Aufklärung über die neue Arbeitsmethode verringert werden könnte. Herberger hat beispielsweise mit Recht daraufhingewiesen, daß die Dokumentation in Datenbanken und Büchern große Gemeinsamkeiten aufweist und die Information sich in beiden Medien nur dem juristisch-systematisch Versierten erschließt 719 . Voraussetzung für die Arbeit mit Datenbanken ist jedoch das Erlernen der meist zwischen den Datenbanken noch ganz unterschiedlichen Benutzersprachen, der Abfragelogik. Dieses Erfordernis stellt wohl eine der größten Hürden dar. Allerdings dürften in diesem Zusammenhang zukünftig die sogenannten Expertensysteme eine größere Rolle einnehmen, die verkürzt als „intelligente" Datenspeicher bezeichnet werden können. Expertensysteme verfügen über die Fähigkeit, das verarbeitete und bearbeitbare Datenpotential regelgeleitet zu durchsuchen und auf diese Weise dem Anwender spezifische Informationen sowie — bisher und wahrscheinlich auch zukünftig nur in nichtjuristischen Zusammenhängen — Lösungsvorschläge zu übermitteln. Die Entwicklung solcher Systeme, insbesondere im juristischen Bereich, befindet sich jedoch noch im Aufbau und wird in der nahen Zukunft die Bedenken gegen automatisierte Datensuche bei Juristen nicht verringern können. Weiterhin dürfte ein umfassender Zugriff von Gerichten, Universitäten, Rechtsanwälten und Verwaltungen auf Datenbanken in nächster Zeit schon aus Kostengründen nicht zu 718 Vgl. hierzu die Überlegungen bei Herberger, Juristisches Wissen in Datenbanken: Neue Abhängigkeit oder neue Freiheit?, in IuR 1987, S. 3 f. 719 Vgl. Herberger, Juristisches Wissen in Datenbanken: Neue Abhängigkeit oder neue Freiheit?, in: IuR 1987, S. 3 f.
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realisieren sein; als Hilfsmittel für Ausbildungszwecke und als Möglichkeit zum Erlernen einer Alternativen berücksichtigenden Literaturauswahl ist JURIS mit hohen Anschlußkosten und verhältnismäßig hohen Abfragegebühren wenigstens zum gegenwärtigen Zeitpunkt für breite Juristenkreise kaum akzeptabel 7 2 0 . Von größerer Bedeutung als die technischen Voraussetzungen und organisatorischen Gegebenheiten für Einwände gegen das vorgestellte Konzept scheinen aber die Eigenheiten juristischer Entscheidungsfindung zu sein. Datenbankabfragen können entgegen der Intension leicht zu einer Arbeitsweise mißbraucht werden, die Entscheidungen aus den mittels Datenbank eruierten Präjudizien und Aufsätzen übernimmt und zwar in noch viel größerer Zahl und noch unkritischer als dies ohnehin schon der Fall ist. Die selektiv-affirmative Literatur- und Präjudiziensuche könnte damit neuen und größeren Aufschwung erfahren. Damit führt die technische Methode zurück zu dem Ausgangsproblem von h M und juristischer Argumentation: der Autorität. Wer Autorität kritisch reflektiert, wird selten mit h M argumentieren und auch ohne Datenbank Begründungen erstellen, Alternativen einbeziehen; wer an argumentative Autoritäten glaubt — und dies offensichtlich nicht zu Unrecht, angesichts der Realitäten — wird auch bei der Erhöhung der Informationsmöglichkeiten die autoritativ-autoritären Elemente aus der Information selegieren. Ein Ansatz zu gesteigerter Konsistenz bei adäquater Komplexität muß zwei Dinge berücksichtigen: Destabilisierung des Autoritätsglaubens bei gleichzeitiger Informationsverbesserung.
720 Die monatliche Anschlußgebühr beträgt (Stand August 1987) 300 D M , eine durchschnittliche Abfrage mit ca. 5-10 Nachweisen kostet rund 50 D M .
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