Die Heilige Stadt : Roma quadrata, himmlisches Jerusalem und die Mythe vom Weltnabel


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German Pages [324] Year 1961

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Table of contents :
Einband
Titel
Vorwort
Inhalt
A. ALTITALISCH : ROMA QUADRATA
1. Kaiserzeitliche Feldmeßkunst: kardo und decumanus
2. Das viergeteilte Rom und der mundus
3. Auguralformel und quadrierter Gesichtskreis
4. Zur Herkunft der römischen Viererstadt
B. GERMANISCH : DAS HIMMLISCHE JERUSALEM
5. Mittelalterliche Idealstadt und staufische Kreuzwegsiedlung
6. Die gotische Komposition und das Nachleben römischer Pläne
7. Die vier Teile und die vier Straßen der Welt
C. INDOGERMANISCH : URANOPOLIS
8. Die indischen silpa sastra und die iranischen Königsstädte
9. Indogermanische Ausläufer in Hinterindien:Angkor Thom
10. Mittelmeerische Ausläufer in Afrika: Wagadu
D. MEGALITHISCH : STEIN UND STUFE
11. Der Berg Zion und der Schöpfungsfelsen
12. Stufenpyramiden in Westeuropa
Anmerkungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen im Text und auf Tafeln
Sachregister
Ortsregister
Tafeln
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Die Heilige Stadt : Roma quadrata, himmlisches Jerusalem und die Mythe vom Weltnabel

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Die heilige Stadt

Die heilige Stadt Roma quadrata, himmlisches Jerusalem und die Mythe vom Weltnabel

von

Werner Müller

W. Kohlhammer Verlag Stuttgart

Umschlagentwurf: Graph. Atelier Anton Stankowaki Nachdruck verboten — Alle Rechte vorbehalten © by Verlag W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, 1961 Druck: Verlagsanstalt Manz, Dillingen, 1961 85001

Vorwort

Auf der Jahrestagung der Keyserling-Gesellschaft 1959 hat Carl Hentze von der geradezu kanonischen Geltung des „Wort-Denkens" gesprochen. Die Bildvorstel­ lungen der älteren Epochen seien den Zeitgenossen abhanden gekommen, und es falle immer schwerer, das bildhafte Denken der frühen Menschheit nachzuvoll­ ziehen. Es wird kaum jemand den Mut aufbringen, diesen Hinweis Hentzes ernstlich zu bestreiten. Man erinnere sich der fatalen Entmythologisierung, und man wird wissen, wohin der Zeitgeist weht. Angesichts einer solchen Situation mag es gewagt erscheinen, eine Arbeit vor­ zulegen, die sich an eben dieses Bilddenken wendet. Doch eröffnen sich auch diesem Unternehmen einige Lichtblicke, nicht zuletzt durch die vielgescholtene klassische Philologie. Sie hat sich ein starkes Gefühl für seelische Landschaften bewahrt, unablässig angeregt durch Sakralworte wie mundus und templum. Der mittelalterlichen Stadtforschung, die ebenfalls herangezogen wurde, fehlt etwas Ähnliches ganz. Eingezwängt in die juristischen, ökonomischen und poli­ tischen Kategorien, hat sie seelische Unterströmungen kaum je ine Auge gefaßt*. Der große Huizinga hat wenig Nachfolge gefunden, vielmehr tritt immer schärfer hervor, daß dem heutigen Forscher die letzte, vorwiegend bildlich gesteuerte Epoche der Menschheit, eben das Mittelalter, ferner und ferner rückt. Der vorgelegte Stoff erfaßt nur einen Bruchteil des heute verfügbaren und zugänglichen Materials. Einmal stoßen auch jahrelange Vorbereitungen auf Gren­ zen, sodann sind zahlreiche Belege unerklärbar geblieben. So konnte trotz ein­ gehender Gespräche mit Hans Nevermann das javanische montjl-pat nicht befrie­ digend aufgehellt werden, obschon diese Kreuzzählung der Dörfer, ausgehend von einem Nullpunkt, zu unserem Thema gehört. Gänzlich verzichtet habe ich, trotz meiner Ankündigung in Paideuma 1958, 473, auf das Zeugnis der ameri­ kanischen Kulturen, denn hier reicht die wissenschaftliche Decke noch nicht, und ich glaubte mich danach strecken zu müssen. 1 Doch gibt es auch hier Ansätze; siehe Heinrich Schmidt: Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter. (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Bd. 3.) Göttingen 1958.

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Die Darstellung hält sich weithin an den klugen Rat Seeleys, des Verfassers der bekannten Expansion of England: to turn narrative into problems. Ich hoffe, daß der Gedankengang fest genug zusammenhängt, um überzeugend zu wirken. Sollten Kundigere zu weiterem Nachsuchen angeregt werden, so hat die Arbeit gelohnt. Sie will ein Anstoß sein, mehr nicht. Darüber hinaus bleibt zu bedenken, daß Wissenschaft geschieht, mit Kerönyi zu reden. Wo das Geschehen aufhört, hört auch die Wissenschaft auf. Wiederholung ist kein Geschehen — und es wird heute allzu oft wiederholt.

Dr. phil. habil. Werner Müller

Inhalt

Vorwort...............................................................................................................

5

A · Altitalisch: Roma quadrata 1. Kaiserzeitliche Feldmeßkunst: kardo und decumanus................. 2. Das viergeteilte Rom und der mundus............................................... 3. Auguralformel und quadrierter Gesichtskreis...................................... 4. Zur Herkunft der römischen Viererstadt...............................................

9 22 36 46

B ■ Germanisch: Das himmlische Jerusalem

5. Mittelalterliche Idealstadt und staufische Kreuzwegsiedlung ... 6. Die gotische Komposition und das Nachleben römischer Pläne ... 7. Die vier Teile und die vier Straßen der Welt......................................

53 69 93

C · Indogermanisch: Uranopolis 8. Die indischen silpa sastra und die iranischen Königsstädte .... 1x5 9. Indogermanische Ausläufer in Hinterindien: Angkor Thom . . . . 135 10. Mittelmeerische Ausläufer in Afrika: Wagadu..................................... 160

D · Megalithisch: Stein und Stufe 11. Der Berg Zion und der Schöpfungsfelsen..............................................179 12. Stufenpyramiden in Westeuropa............................................................... 196

Anmerkungen..................................................................................................... 229 Literaturverzeichnis............................................................................................. 271 Verzeichnis der Abbildungen im Text und auf Tafeln................................. 298 Sachregister..........................................................................................................303 Ortsregister..........................................................................................................304

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A. ALTITALISCH : ROMA QUADRATA

i. Kaiserzeitliche Feldmeßkunst: kardo und decumanus Wer zum ersten Male die Fahrstraße von Homburg vor der Höhe hinaufwan­ dert zur Saalburg, der mustert verwundert die Südfront des Kastells. Gerade Linien, wohin man blickt; rechts und links weit ausfluchtend die Mauer; Zinnen und Zinnenfenster wie mit der Wasserwaage ausgerichtet; davor der doppelte Spitzgraben, der die lineare Mathematik kräftig bestätigt (Tafel ia). Die abge­ rundeten Ecken der Befestigung mildem den Eindruck der harten Lineatur nicht. Im rechten Winkel umschwenkend setzen sich Gräben und Mauern fort, bis ein Rechteck vollendet ist, nach den vier Seiten von vier Toren durchbrochen (Tafel lb). Der Anblick hat etwas Verwirrendes. Gegen die sanften Formen der Berge, gegen die natürliche Verteilung von Wiese und Wald steht hier die strenge Ord­ nung des Reißbretts, die sich auch in die Festung hinein fortsetzt. Denn das Viereck der Mittelgebäude, mit der Exerzierhalle im Schnittpunkt der vier Lager­ straßen stehend, wiederholt im Kleinen die Großform der Umwallung: starr, geradlinig, rechtwinklig. Man wird für diese Anordnung zunächst militärische Gründe vermuten. Denkt man sich das Innere des Lagers ausgefüllt mit Barackenreihen und einem regelmäßigen Gassensystem, das bei Alarm die Truppen aufs schnellste an die Mauer brachte und zugleich über das Intervallum rasche Verschiebungen der Besatzung gestattete, während die lebenswichtigen Teile — Lagerheiligtum und Stabsquartier — im Schnittpunkt der Hauptstraßen weit außerhalb der Reich­ weite antiker Wurfgeschosse lagen, so scheinen Strategie und Zweck allein zu regieren. Aber solche militärischen Motive genügen nicht, das vom Mittelpunkt ausstrahlende System gerader Linien und rechter Winkel zu erklären. Denn dieses System taucht auch außerhalb der Heeresvermessung auf, im bürgerlichen Leben nämlich bei der Anlage der Stadt und der Aufteilung des Ager. Die Verwandtschaft der Prinzipien fiel schon den Alten ins Auge, beson­ ders jenen Berichterstattern, die römische Art von außen her beobachteten. So

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fühlte sich Polybios durch die Einrichtung des normalen Zweilegionenlagers an eine Stadt erinnert1, und Josephus trifft den Sachverhalt noch besser mit dem knappen Satz, das römische Lager sei eine aus dem Stegreif hingeworfene Stadt2. Man hat Bedenken gegen die Gleichstellung erhoben3, doch liegt die Ver­ wandtschaft der Verfahren zutage: auch die römische Stadtbaukunst bediente sich gerader Linien und rechter Winkel, und dieselben Mittel verwandte die Ver­ messung der offenen Landschaft. Die Wiederkehr des gleichen Prinzips in Lager, Stadt und Ager verweist auf eine Ordnung, die dem römischen Geist eingeboren sein muß. Die Einmaligkeit der römischen Limitation, wie sie von Gerkan so nachdrücklich herausgearbeitet hat4, widersteht jedem Vergleich und jeder Parallele. Weder erscheint hier ein Ableger der hellenistisch-hippodamischen Anlagen noch eine Frühform grie­ chischer Siedlungsprinzipien. Im Gegenteil, der römische Grundgedanke, von einem Zentrum her Straßen und Viertel sorgsam zu ordnen, fehlt in Hellas völlig. Bei aller schachbrettartigen Regelmäßigkeit der einzelnen Quartiere liegen diese Quartiere selbst regellos durcheinander; deutlich genug in Milet, wo die harmonisch gerasterten Blöcke ohne Achse und Zentrum in großen Fetzen auf das Kap hinaus gebaut sind. Wie der römische Landmesser seine Arbeit durchdachte und begründete, mit welchen Geräten und Methoden er seine Vorstellungen in die Wirklichkeit über­ setzte, das erfahren wir erst durch schriftliche Zeugnisse der Kaiserzeit, wobei allerdings die Reste italischer Limitationen eine große Stabilität der Überlieferung bezeugen bis tief in die Republik hinein. Unter den ersten Kaisern führten die wachsenden Aufgaben der Staatsverwal­ tung dazu, die Vermessungen nicht mehr an private Unternehmer zu vergeben, sondern einen besonderen Beamtenstab zu bilden, der alle anfallenden Arbeiten erledigte, teils als Militärfeldmesser (metatores), teils als Regierungsfeldmesser, Markscheider oder Geometer (finitores, mensores, agrimensores). Mit der Aus­ prägung dieses Berufsstandes machte sich die Notwendigkeit einer geregelten Ausbildung bemerkbar, nicht nur in der Praxis (instructio), sondern auch in der Theorie (institutio). Diese Entwicklung zwang die Feldmesser, obschon Männer des Lebens und nicht des Gedankens, ihr Wissen schriftlich niederzulegen. In der so entstehenden Handbuchliteratur strömte die gesamte damalige gromatische Theorie zusammen, denn die Verfasser verfügten ja nicht nur über die Erfahrung, sie hatten darüber hinaus Zutritt zu der Plansammlung des Reiches, dem Depositorium aller Flur­ karten (formae) der Staatsvermessungen. Die bedeutendsten Handbücher gehen in die goldene Zeit der römischen Meß­ kunst zurück, in die Regierungsjahre der Kaiser Trajan und Domitian. Aus Trajans Epoche besitzen wir ein Stück aus des Balbus expositio formarum, eine Darstellung der geometrischen Grundbegriffe. Der Verfasser hat den ersten dacischen Krieg unter Trajan mitgemacht. Er widmet sein Werk einem Gefährten

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namens Celsus, einem erstklassigen Fachmann des Vermessungswesens, hoch bewährt bei einer schwierigen Ingenieurarbeit in Dacien5. In die gleiche Epoche muß auch die Schrift des älteren Hygin datiert werden, denn während der Ab­ fassung dieses Buches leben die Veteranen Vespasians noch, die der Kaiser in Samnium bedacht hatte’. Unter Domitian dann verfaßte Frontin ein Handbuch, von dem einige Teile auf uns gekommen sind, und ebenso repräsentieren Bruch­ stücke des Nipsus, Dolabella, Agennius nichts als fetzenhafte Exzerpte aus Lehrbüchern der unmittelbar folgenden Zeit7. Erhalten blieben diese Reste durch eine Sammelausgabe der agrimensorischen Literatur, die das Feldmeßbüro des römischen Vicarius im 5. Jahrhundert heraus­ gab, zugleich mit zwei libri coloniarum, Verzeichnissen der Limitationen in den urbicarischen Provinzen. Die Wiederherstellung des Wortlautes und der Reihen­ folge beruht vornehmlich auf zwei Handschriften. An erster Stelle steht der Codex Arcerianus, eine aus dem Kloster Bobbio stammende Arbeit des 6. Jahr­ hunderts, die heute als AB 36.23 Aug. 20 in Wolfenbüttel liegt und deren Arche­ typ um 450 anzusetzen ist. Diese AB Wolfenbüttel enthält zwei Fassungen: zunächst die Niederschrift A fol. 1—83, in einer Kolumne und mit vielen Minia­ turen geschmückt; sodann die Niederschrift B fol. 84—156, in zwei Kolumnen ohne Zeichnungen. Die Textierung A besitzt wegen ihrer Bildbeigaben beson­ deren Wert, denn abgesehen von dem Glanz echtrömischer Miniaturkunst, der noch durch die byzantinische Verformung schimmert, sind die kosmologischen Figuren zur Interpretation bestimmter Stellen unentbehrlich. Unmittelbar hinter dem AB Wolfenbüttel folgt als zweitwichtige Textüberlie­ ferung der Codex Palatinus Vaticanus lat. 1564, eine karolingische Minuskel des 9. Jahrhunderts. Die Redaktion dieses Kodex liegt rund 100 Jahre später als die Zusammenstellung des Arcerianus, aber der Redaktor — aus einer reichen Vorlage schöpfend — hat der alten Auswahl neue Texte hinzugefügt, besonders aus der praktischen Gromatik. Auch der Miniaturenbestand ist vermehrt; gerade dieses Gebiet behandelt der Palatinus sehr sorgfältig8 (Tafel 2—3). Aus diesen instructiones und institutiones erfahren wir hinlänglich genau, wie der römische Geometer seine Aufgaben angriff, mochte es sich nun um die Anlage eines Lagers, einer Stadt oder um eine Provinzvermessung handeln. So­ bald der mensor das Gelände in Augenschein genommen und die passendste Ausnutzung überlegt hatte, stellte er sich mit seiner groma, dem Vermessungs­ gerät, in das Zentrum der kommenden Anlage und merkte, von diesem Nabel­ punkt beginnend, das Liniensystem der künftigen Wege und Gewanne an. Die groma bestand aus einem kräftigen Gestell, das in Augenhöhe ein waage­ recht liegendes Kreuz aus vier Eisenarmen trug, ein rechtwinklig sich über­ schneidendes doppeltes Visierlineal. Die Bezeichnung groma für dieses Instru­ ment war ein Fremdwort, abgeleitet vom griechischen γνώμα*. Daneben gab es echt lateinische Namen für das Vermessungsgerät, so ferramentum nach dem Basisgestell, tetrans und stella von der Kreuzform des Visierlineals10.

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Der Geometer hatte zunächst die Aufgabe, die vom Gerät angezeigten Kreuz­ linien auf das Gelände zu übertragen. Ging er von der Nordsüdlinie aus, so stellte er zunächst mit einem Schattenwerfer den Meridian fest und drehte dann das mit „Nord" und „Süd" gemarkte Lineal in diese Richtung. Der entsprechende limes — identisch mit der Visierlinie längs der Linealkante — wurde durch Ein­ winken von Latten, durch Streuen von Aschenstreifen oder Aufreißen von Fur­ chen festgehalten. Dieser nordsüdliche Strich hieß kardo „Achse"; der automa­ tisch von der groma angezeigte, rechtwinklig dazu verlaufende limes führte den Namen decumanus. Die Etymologie dieses Wortes wird uns noch beschäftigen. Den Schnittpunkt von kardo und decumanus bildete die stella, die sternförmige Kreuzung, auf der die groma stand. Diese zuerst gezogenen Striche wurden zu den Hauptstraßen des Systems; als kardo maximus und decumanus maximus erhielten sie eine Breite, die sie vor allen anderen limites auszeichnete. Vom Standort der groma zogen sie nach den vier Seiten dahin durch die vier Tore des Lagers und der Stadt hinaus in den Ager, auch die Landschaft in vier Regionen aufteilend. Anschließend an diese Hauptwege riß man weitere limites in den Boden: parallel dem kardo maximus andere kardines, parallel dem decumanus maximus andere decumani. Dieses Linien- und Wegesystem vollendete sich zum Schachbrett der Limitation, ent­ weder quadratische oder rechteckige schmale Gewanne (centuriae bzw. strigae oder scamnae) ausfällend. Man sieht sogleich, wie die Vermessung sich von dem Urkreuzpunkt aus entwickelt, wie der Standort der groma gleichsam aus sich heraus die gesamte Anlage entläßt, eine Vorstellung, die den römischen mensores immer gegen­ wärtig war. „Der Gromaplatz wird so genannt, weil die Straßen dort zusammen-

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wird und die groma daraufgesetzt, damit die Tore des Lagers beim Visieren eine stella bilden" “. Der Kreuzpunkt ist sonach die Quelle der Limitation; er ist der Nabel, der die vier Regionen zusammenhält: ab uno umbilico in quattuor partes omnis centuriarum ordo componitur“ (Abb. i). Diese Idealform — groma als Nullpunkt des Straßenkreuzes, rechtwinkliger Ausfall der Straßen durch vier Tore, gleichmäßige Teilung des Geländes auch außerhalb der Umwallung in vier Regionen — ließ sich bei der militärischen Vermessung jederzeit verwirklichen, da das Lager bis hinauf zum hibemium aus dem Boden gestampft wurde und gewissermaßen aus wilder Wurzel wuchs. Anders stand es bei den Städteplanungen, die als römische Kolonien allmählich Italien und die Provinzen füllten und fast immer den Gegebenheiten der Land­ schaft folgten. Doch blieben die Feldmesser sich auch hier ihres Ideals bewußt, selbst wenn es nur im Gedanken lebte: „Die schönste Art Limitation läßt decu­ manus und kardo maximus in der Stadt entstehen und als die breitesten Straßen durch vier Tore dahinziehen nach Art des Lagers. Denn in einem solchen Fall umfaßt die Kolonie alle vier Regionen der Vermessung und bleibt den Bauern von allen Seiten gleich gut erreichbar, und auch die Einwohner haben von überall her den gleichen Weg zum Markt. So wird im Lager die groma auf der Vierung aufgestellt, die dem Markt der Stadt entspricht."13 Das Feldmesserkorpus erläutert dieses Ideal mit Bildplänen, die am Sinn des Textes keinen Zweifel lassen (Tafel 2—3). Ja, Hygin nennt sogar ein reales Bei­ spiel: Admedera in Afrika, dessen harmonisch ausgewogener Plan von den fran­ zösischen Ausgrabungen bestätigt wurde14. Wie stark sich die Ordnung vom Mittelpunkt her entfaltete, Gewann auf Gewann von innen nach außen mit steigenden Ziffern markierend, belegen die Einzelheiten der Limitationspraxis. Die Benennung der vier Regionen erfolgt vom Zentrum her, denn die Blickrichtung des limitierenden Mensors entscheidet über die Zuweisung der Namen. Was rechts von ihm liegt, wird zur regio dextrata; links von ihm dehnt sich die regio sinistrata, vor ihm die regio ultrata, hinter ihm die regio citrata. Da die regiones sich übereinanderschieben, entstehen folgende Fachbezeichnungen der Limitationsviertel, die hier für eine südlich bzw. östlich gerichtete Vermessung angegeben sind: rechts

hinten

links hinten

links hinten

links vorne

DD KK

SD KK

SD KK

SD VK

DD VK

SD VK

DD KK

DD VK

rechts vorne

links vorne

rechts hinten

Osttn

rechts vorne

Süden

z Vermessung südlich bzto. östlich

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Die Abkürzungen besagen, daß dextra decumanum citra (abgekürzt k) kardinem = DDKK „rechts hinten", sinistra decumanum citra kardinem = SDKK „links hinten", dextra decumanum ultra (abgekürzt V) kardinem = DDVK „rechts vorne", sinistra decumanum ultra kardinem = SDVK „links vorne" vertritt. Die Orientierung des Rechts und Links hängt stets vom decumanus ab, die Orientierung des Vorne und Hinten vom kardo. In jedem Falle aber wurde von der Mitte aus bestimmt, wohin die einzelnen Regionen zu setzen waren. Erst diese Grundentscheidung ermöglichte die soge­ nannte Versteinung. Die provisorisch ausgesteckten und mit Pflöcken markierten Gewanne erhielten nämlich eine dauerhafte Kennzeichnung mit Steinen, auf denen eine orientierende Buchstaben- und Zahlenbezifferung eingemeißelt war. Diese Bezifferung ging von der Mitte aus. Vergleicht man die beigefügte Centuriation für 36 Gewanne (Abb. 3), so sieht man vom Nullpunkt des Systems — mit KMDM (kardo maximus + decumanus maximus) gekennzeichnet — die Ziffern nach allen Seiten ansteigen1“. Vor und hinter dem mensor wachsen die Zahlen der kardines, rechts und links von ihm die Zahlen der decumani mit den verschiedensten Kombinationen, während in den Zwischenrichtungen gleich­ artige Ziffemkoppeln auftreten wie SD^Kj, SD2KK2, SD3KKs und das Aus-

Regio sinistrata S D,^_S O)e_S5Ι\

Regio

Regio citrata K

ultrata

Regio dextrata

3 Centuriation für 36 Gewanne 14

einanderstrahlen des Systems, die orientierende Kraft des Zentrums besonders betonen. Ob Lager, Stadt oder Ager — dieses Prinzip der Entfaltung von einem Kreuz­ punkt aus bleibt das Signum der römischen Vermessung. Das Verfahren muß tief in die republikanische Zeit hinabreichen, denn die frühkaiserzeitlichen Nach­ richten zeigen eine Aufsplitterung der Tradition, die nur durch eine lange Ent­ wicklungsgeschichte der römischen Meßkunst begreiflich wird. So hat sich vor allem die Castrametation, die militärische Praxis, von dem allgemeinen Brauch entfernt. Beim Einsetzen der Nachrichten heißen nämlich die Hauptstraßen des Lagers nicht via kardinalis und via decumana, wie zu erwarten wäre, sondern via principalis (der Querweg von der porta principalis dextra zur porta principalis sinistra) und via praetoria (der Längsweg von der porta praetoria zur porta decumana). Zur via principalis hat schon der Verfasser des liber de munitionibus vermutet, sie heiße so, weil sie über die principia liefe, über die Anfänge oder den Null­ punkt, von dem aus die Anlage entstand1“. Zur via praetoria hat Hesselmeyer in einer scharfsinnigen Abhandlung nachgewiesen, sie sei ursprünglich als decu­ manus maximus des Lagers auch via decumana genannt worden. Sonst bliebe die Bezeichnung porta decumana für die eine Ausmündung dieser Straße unbe­ greiflich und ebenso die Verkoppelung mit rechts und links, die gerade den decumanus charakterisiere17. So schimmern also durch die neuen Fachausdrücke der Militärvermessung die alten Namen durch, doch bleibt das Abdriften dieses Teiles der agrimensorischen Kunst unverkennbar. Einen weiteren Hinweis auf das Alter des römischen Limitationsverfahrens enthält die Nomenklatur der Zivilgromatik. Hier hat nämlich die Bedeutung der Hauptlinien gewechselt, und dieser Wechsel erklärt sich ebenfalls nur durch die lange praktische Anwendung des Systems. Der kardo stellt die Achse der Limi­ tation dar, wie schon der Name verrät. Seine altertümliche Schreibweise — das k war bereits im Zwölftafelgesetz aus dem lateinischen Alphabet ausgeschie­ den —, seine substantivische Benennung im Gegensatz zu der adjektivischen des decumanus und seine den Feldmessern geläufige Verwandtschaft mit der Himmelsachse stempeln ihn zur Hauptlinie. Einen anderen Beleg für den Vorrang des kardo liefert die Etymologie von decumanus, die Hesselmeyer emeut durchdacht hat18. Die Erklärung dieses Wortes hat schon die Alten beschäftigt. So hielten einzelne antike Autoren decu­ manus für eine „Zehnerlänge", d. h. eine Länge von 10 actus, was angesichts der unbegrenzten Ausdehnung der limites schon in der Kaiserzeit Bedenken erregte. Auch die Etymologie decumanus = duo-decumanus „Zweiteiler" stimmt ledig­ lich sachlich, nicht aber philologisch. Mommsens und Schultens Vermutung, decumanus sei der decimus, der Zehnte, der die Reihe des Dezimalsystems voll mache, ist nicht viel geistreicher, denn bereits der fünfte rundet das System ab und heißt deswegen quintarius.

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Dagegen rückt Hesselmeyer mit Recht die Beobachtung Niebuhrs in den Vor­ dergrund, die von dem figürlichen Moment der Zehnzahl ausgeht. Der Schnitt­ winkel, decussis, der beim Auftreffen des decumanus auf den kardo entsteht, gleiche nämlich der Ziffer X, archaisch +, und so dürfte der Name decumanus von dem bildlichen Aspekt der römischen 10 hergeflossen sein10. Die Etymologie des decumanus verweist sogleich auf eine Bedeutungsfolge der Hauptlinien, und zwar auf die alte Bedeutungsfolge: zuerst der kardo als Achse, dann der decumanus als Kreuzer. Denn die durchkreuzende Linie kann nur mit einem bereits vorhandenen limes den decussis hervorbringen, den nach Art einer X oder + geformten Schnittwinkel. So betont also schon das Wort decumanus selbst die größere Bedeutung des kardo und die Zweitrangigkeit der Querlinie. Hält man alle diese Momente zusammen, so enthüllt sich hier ein Archais­ mus, dessen Patina auf eine alte Kosmologie zurückgeht. Der Rang des kardo entfließt seiner kosmischen Abbildlichkeit; er ist das Duplikat der Weltachse, die ihren nördlichen Drehpunkt am Polarstem hat, ihren südlichen in entgegen­ gesetzter Richtung. „Die Natur hat den einen kardo der Weltachse hinter den Großen Bären über Erde und Meer gesetzt, den anderen gegenüberliegenden unter die Erde in die südlichen Regionen", sagt Vitruv20. Und ergänzend verweist Pli­ nius auf den astronomischen Bezug des decumanus: die quer zum kardo gezogene Linie verlaufe nach Ost und West, sobald man sie zur Tag- und Nachtgleiche einvisiere“. Entsprechend formulieren die Feldmesser das Ineinandergreifen irdischer und himmlischer Bezüge: „Der kardo heißt so, weil er nach dem kardo des Himmels gerichtet ist"; „Die decumani richten sich nach dem Sonnenlauf, die kardines aber nach der Achse des Pols"; „Den kardo nennt man nach dem kardo des Kosmos"22. Die Miniaturen des Arcerianus zeigen zu diesen Stellen neben dem Stemenring des Himmels, zerschnitten vom kosmischen kardo und decumanus, sogleich auch den irdischen Abklatsch mit dem kardo maximus von Nord nach Süd und dem decumanus maximus von Ost nach West. Diese kosmologische Tönung der Limitation erhält eine besondere Fassung, wenn man das Ritual bedenkt, mit dem die Vermessung anhebt: unter Befragung des Götterwillens wird die groma aufgestellt, der Gründer selbst ist anwesend23. Damit wird die Stadtgründung zu einem religiösen Akt, das Nützliche verklärt sich mit einem Schimmer aus der göttlichen Sphäre, ähnlich den Vorbildern der Hauptachsen, die vom Himmel, nicht von der Erde stammen. Wir lassen die hier auftauchende origo caelestis beiseite und wenden uns der Tatsache zu, daß die agrimensorische Überlieferung — merkwürdig genug — den decumanus an die erste Stelle rückt und die Vorrangigkeit des kardo verwirft. Für die Agrimensoren der Kaiserzeit ist der decumanus die Hauptlinie, er wird stets zuerst genannt, er bildet den Anfang jeder Vermessung24, er erhält die doppelte Breite des kardo, zur augusteischen Zeit 40' gegen 20' des Kreuzers25. Die erhal­ 16

tenen Limitationen bestätigen die Übung, den decumanus als Achse des Systems zu verwenden, so z. B. die beiden afrikanischen Vermessungen, sowohl die ältere für Africa vetus aus dem Jahre 146 ante wie die jüngere augusteische für die neue große Provinz Africa. Beide Limitationen legen den decumanus als Haupt­ linie in die Längsausdehnung des Gebietes, was besonders bei dem schmalen Streifen der Africa vetus in Osttunesien auffällt“. Auch in der Volksetymologie vertritt das Wort decumanus das Gewaltige, Große und Kolossale”. Wie diese Herabstufung des weltachsialen kardo zu erklären ist, wird noch zu erörtern sein im Zusammenhang mit der Orientation des Vermessungskreuzes. Für jetzt mag der Hinweis auf die etruskische Altertumsmode genügen, deren Einfluß hier über Varro spürbar wird. In jedem Falle — und damit lenken wir zu unserem Ausgangspunkt zurück — brauchte diese Umstellung Zeit, und so deutet denn die bloße Tatsache des Bedeutungswechsels von kardo und decumanus auf einen weit zurückliegenden Ursprung der römischen Limitationsmethode. Schließlich dürfen bei einer Abschätzung des Alters römischer Vermessungs­ verfahren nicht vergessen werden die Überbleibsel oskischer Limitation, die mit denselben Fachausdrücken arbeiten, wie das „limito (m)" auf dem Cippus von Abella und das „dekmaniuis" der Bronzeinschrift von Agnone in Südsamnium belegt. Da weihen die Anrainer eines Landstückes dem Hortus als dem Gott der Feldgrenzen eine Kapelle: Hurz dekmaniuis stait „am Hauptweg soll der hortus stehen"”. Mit diesen Urkunden geraten wir an uritalische Anfänge der Feldmeß­ kunst, und eine solche entlegene Zeitstellung kommt mit der Zersplitterung der ursprünglich einheitlichen Tradition gut überein. Wir wenden uns nun dem Problem der Orientation zu, das sich unauflöslich mit dem bereits angeschlagenen Thema der kosmologischen Bezüge verwickelt. Wo man auch die gromatische Literatur aufschlägt, überall findet man die Aus­ richtung des Hauptlinienkreuzes nach den Kardinalpunkten als selbstverständlich vorausgesetzt. Es sind vier Zielpunkte der Limitation denkbar: Nord, West, Süd und Ost. Die Nordrichtung behandeln die Agrimensoren selbst als Theorie. Nipsus gibt eine Anweisung, sich in der limitierten Flur zurechtzufinden, an Hand einer Nord­ orientation”, aber dieses einmalige und abseitige Beispiel belegt natürlich keine nach Norden gerichtete Limitationspraxis, zumal die sonstige Literatur und die Bodenurkunden schweigen. Genau so steht es mit der Westlimitierung. Sie beruht auf antiquarischem Modegerede und entbehrt der praktischen Verwirklichung. Der decumanus zielt nach Sonnenuntergang, so lesen wir, weil dorthin Sonne und Mond gehen, „wie die alten Architekten schreiben"; und „der erste Ursprung solcher Limitation ent­ stammt der etruskischen Disziplin, wie Varro sagt"”. Unsere kaiserzeitlichen Schriftsteller engen den Wirkungsbereich der Westrichtung selbst ein, sie sei antiqua consuetudo, gehöre uralten Zeiten an und habe längst anderen Praktiken Platz gemacht. Denn ungeachtet der alten Architekten, die noch die Tempel nach

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Sonnenuntergang gekehrt hätten, habe man sich später darin gefallen, „die gesamte religiöse Tradition nach jener Himmelsrichtung umzuwenden, von der die Erde das Licht empfängt" (d. h. nach Sonnenaufgang) Barthel hat sehr ansprechend vermutet, diese theoretische Einengung des etruskischen Weltprinzips sei das alleinige Werk Varros gewesen, und auch bei Varro habe sich dieser etruskische Antiquarismus erst im Laufe seiner Studien festgesetzt, denn noch 1. 1. VII 7 trage er die Südrichtung als die einzige selbst­ verständliche Praxis vor und wisse nichts von einer Westrichtung Mit den beiden übrigbleibenden Möglichkeiten der Süd- und Ostwendung dagegen betreten wir erneut den Boden der Wirklichkeit. Südlimitationen sind den Feldmessern durchaus bekannt. So bespricht Hygin in seiner Bezifferungs­ anweisung eine Südvermessung, und selbst außergromatische Nachrichten reden von ihr”. Aus bestimmten noch zu erörternden Gründen lehnen die Gromatiker dieses Verfahren ab, aber die Limitationsreste in Süditalien wie die Zielpunkte der libri coloniarum belegen eindeutig, daß die südlich ausgerichtete Vermessung zu den Methoden der republikanischen Zeit gehört hat. Ein sicheres Beispiel bietet der Ager Campanus, jenes von den Theoretikern getadelte Muster mit dem decumanus als Achse nach Süd84. Der südlich von St. Angelo in Formis gefun­ dene Terminus — SD I, KK XI — beweist die Zuverlässigkeit der literarischen Angaben“, und damit dürfen wir auch den übrigen Südlimitationen der Kolonie­ bücher wie Consentia, Clampetia, Vibo, Benevent vertrauen”. Die beiden ersten Beispiele gehören der Gracchenzeit an, die Zeitstellung der letzteren bleibt ungewiß. Diese süditalischen Beispiele haben Barthel zu der Feststellung veranlaßt, die Südorientierung verträte eine altitalische Übung”. Eine ebensolche altitalische Patina liegt über der Ostlimitierung. Auch sie gehört der geschichtlichen Zeit an. Die Koloniebücher zählen zehn italische Belege auf, Grumetum, Aeclanum, Herdonia, Ausculum, Arpi, Collatia, Sipontum, Salapia, Lucera und Lunensia — auch hier die beiden ersten gracchisch” —, und Hygin fügt noch als weiteres Beispiel Emerita in Spanien hinzu Das afrikanische Muster Admedera, eine Gründung der legio III Augusta unter Trajan mit Ortung nach Ost, belegt die Fortdauer dieser Tradition auch in der Kaiserzeit. Man zielte mit dem decumanus maximus nicht auf den wahren Kar­ dinalpunkt, den reinen Ost, den die Sonne zur Frühlings- und Herbstgleiche markiert, sondern nach dem Sonnenaufgang am Gründungstag oder sonst einem für das junge Gemeinwesen wichtigen Datum. So richtet sich in Admedera der decumanus maximus, von 87° nach 267° laufend, auf das Morgenlicht des 18. September, auf welchen Tag Trajans Geburtstag fiel. Ein Irrtum ist ausge­ schlossen, weil das Legionslager von Lambaesis, 20 km westlich Admederas, die gleiche Neigung der via principalis aufweist40. Bemerkenswert genug trägt diese Ostorientierung bereits in sich das Signum einer alten, ehrwürdigen Übung, wie die Polemik der Kaiserzeit gegen dieses

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Verfahren verrät. Eine solche Anvisierung des Sonnenaufganges, der in Italien auf einem Horizontbogen von 65° hin- und herwandert und nur zu den Gleichen den echten Ost bezeichnet, ließ die Straßenkreuze und damit die Limitations­ systeme hin- und herschwanken; von System zu System richtete sich der decu­ manus maximus auf einen anderen Ostpunkt, da ja die Strahlen der am Gründungsmorgen erscheinenden Sonne in die Hauptachse fallen mußten. Gegen diese Variationen empfahlen die Agrimensoren die Meridiantheorie, die Festlegung des kardo mit dem Schattenwerfer zur Mittagszeit und die Auf­ messung des decumanus von der Mittagslinie aus. Erst diese von der Sonne unabhängige Praxis ermögliche eine fehlerfreie Spiegelung der magnitudo mundi, eine genaue Einpassung des Wegekreuzes auf die wahren Kardinal­ punkte. — Dieses Verfahren hängt mit der Heraufkunft eines einheitlichen gromatischen Berufstandes in der Kaiserzeit zusammen. Mit ihm beginnt auch eine einheitliche gromatische Theorie das Reich zu durchdringen und über die Lehrbücher die Praxis zu beeinflussen41. Allein gerade hier enthüllt sich die hoffnungslose Situation der kaiserzeitlichen Feldmeßtheorie, denn die Lehrbücher mochten reden, was sie wollten, die Praxis blieb bei ihren alten Moden, vor allem bei der Sonnenaufgangsortung bzw. der Südlimitation. Was die Gromatiker verwerfen, findet sich in ständiger Geltung, so faßt Barthel die Lage zusammen “. Wir gewinnen an diesen Versuchen, die alten durch Bodenurkunden belegten Süd- und Ostvermessungen zu unterdrücken, einen erneuten Hinweis auf das Alter der römischen Meßkunst. In die einheitliche kaiserzeitliche Theorie ragen Verfahren hinein, die aus der republikanischen Epoche stammen; und die auspicaliter gesetzte groma, die Aufsplitterung der militärischen und zivilen Gromatik, die Reste oskischer Limitation — alle diese Elemente weisen auf eine lange Ent­ wicklung, der auch die altmodische Ostortung angehören muß. Es soll keineswegs verschwiegen werden, daß sich im Rückschlag gegen Nis­ sens Orientationslehre die Auffassung Raum verschafft hat, das Gerede der Agrimensoren von den Himmelsgegenden gehe auf die Vorliebe der Techniker für gelehrte Spekulation zurück, und man könne die ganze Ortung nach Kar­ dinalpunkten als belangloses Annex beiseite lassen45. Man stützt diese Verwerfung mit Beobachtungen aus verschiedenen Bereichen. So richtet sich nach Ansicht solcher Kritiker die militärische Vermessung nach praktischen Bedürfnissen und schwenkt die porta praetoria einfach gegen den Feind; die Bemerkung des Vegetius, die porta praetoria müsse nach Osten schauen “, stehe ohne Parallele in der Literatur da. Man beruft sich weiter auf die erhaltenen Limitationen, die nur selten astro­ nomische Bezüge erkennen lassen. So ergeben die von Schulten untersuchten Vermessungsreste der Poebene nur zwei echte Orientierungen: westlich Brixia (Brescia) nach West und Travisium (Treviso) nach Süd. Die übrigen leidlich sicheren Systeme dieses Gebiets benutzen vorhandene Straßen wie die Via 19

Aemilia, die Via Aurelia und Postumia als kardo bzw. decumanus maximus49. Es überwiege also, so folgert man, die Neigung zu bloßer Nützlichkeit und Bequemlichkeit, irgendwelchen hintergründigen Tiefsinn dürfe man in dem Kardinalpunktgerede der Agrimensoren nicht vermuten. In der Tat kennen bereits die Feldmesser eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Sie wissen, daß man den decumanus einfach der größten Länge der Mark anpaßt4*, daß man Vermessungen in der Nähe vorhandener Limitationen schräg auf die limitierte Flur stoßen läßt47, ja, daß selbst die Namen kardo und decumanus angesichts solcher Praxis verlorengehen und die limites von ihrer Richtung gegen das Meer, den Apennin oder das cisalpinische Gallien schlechtweg maritimi, mon­ tani, gallici genannt werden49. Solche Einwände treffen gewiß zu, sie reichen allerdings nicht entfernt, die Orientierung als belanglos abzutun. Zunächst bedarf es der Kenntnis der Ortung, um sich im limitierten Gelände zurechtzufinden. Man mußte wissen, nach wel­ cher Himmelsrichtung sich der Mensor mit seiner groma gewandt hatte, um die vier Regionen richtig einzuordnen. Kannte der Wanderer die ihn umgebende Mark z. B. als ein Südsystem, so vermochte er an den vorüberziehenden Grenz­ steinen seinen eigenen Standort in der Landschaft abzulesen. Erblickte er das Sigel DDKK mit entsprechenden Zahlen auf den termini, so befand er sich nord­ westlich der Mitte, sah er auf den Steinen SDKK eingehauen, so stand er nord­ östlich des Zentrums; und gleichzeitig entsprachen DDVK und SDVK dem Südwesten und Südosten. Die Alten müssen sich dieser praktischen Funktion der Bezifferung durchaus bewußt gewesen sein, denn die libri coloniarum merken für jede Limitation sorgsam den Zielpunkt an, jedenfalls im Bereich der süditalischen Provinzen4’. Im allgemeinen überging man solche Angaben, weil die Richtung des decumanus nach Ost, des kardo nach Süd als selbstverständlich galt. Jedenfalls erwähnen die Feldmesser Verdrehungen dieser als natürlich empfundenen Ordnung wie Capua, wo der kardo nach Ost und der decumanus nach Süd wies, mit stärkstem Tadel: solche contra sanam rationem ausgelegten Vermessungen stammten von Ignoranten *’. Diese unmittelbar ins Auge fallende Koinzidenz von Kardinalpunkten und Achsenkreuz deutet schon die groma an. Denn die Enden der rechtwinkligen Visierlineale trugen Marken für die vier Himmelsrichtungen, qui in groma sunt designati*1, eine spezielle Ausrüstung des Instruments, das nur die praktische Notwendigkeit veranlaßt haben kann. Überblickt man die Ortungsfrage, so dürfte folgender Schluß am Platze sein. Im ganzen wiegt der Eindruck vor, daß mit der Orientierung der Limitationen eine alte Übung fortdauert, jedoch in republikanischer Zeit rationalistischen und prak­ tischen Tendenzen erliegt. Es fragt sich, welche Kräfte jene alte Tradition bis in die kaiserzeitliche Feldmeßtheorie hinüberretteten. Nun, daran kann kein Zweifel sein: es ist die von den Feldmessern ständig betonte origo caelestis, die Über­

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zeugung, in der Limitation das irdische Abbild eines himmlischen Urbildes zu sehen. Diese kosmologische Unterlage der römischen Meßkunst blieb den Groma­ tikern immer bewußt, und gerade sie leitet zum religiösen Urgrund der Limi­ tationsmethodik. Nicht nur vertritt der kardo die Weltachse, auch die Vierteilung des Geländes in vier regiones spiegelt eine kosmologische Großform: die viergeteilte terra des römischen Weltbildes. Diese kosmologische Verzahnung des gromatischen Verfahrens wird noch deutlicher hervortreten, sobald wir uns der ältesten Form der römischen Stadt, der Modellstadt Rom, zuwenden: der Roma quadrata und der urbs quattuor regionum. Denn Rom barg als Mutter aller römischen Städte die Vorbilder des späteren Limitationsverfahrens, wenn auch nicht bis in Einzelheiten mathema­ tisch ausgeklügelt, so doch in den Grundprinzipien die kommende Praxis ankün­ digend. Viergeteilte Anlagen, mit nachdrücklich betonter Mitte, stehen nicht nur am Ende sondern auch am Anfang römischer Stadtbaukunst.

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2. Das viergeteilte Rom und der mundus

Ließ die römische Gesellschaft der augusteischen Zeit ihre Gedanken zurück­ gehen zu den Anfängen der Stadt, so hob sie ihre Augen zu den Höhen des Palatin. Dort hatte die älteste Siedlung gelegen, das Rom des Romulus, die Keimzelle jener Macht, die im Laufe der Jahrhunderte Ring um Ring ansetzend die Oikumene erfaßte. Dort spielten die Geschichten der Urzeit, beglaubigt durch ehrwürdige Zeugen: am Hang des Palatin sah man noch das Lupereal, jene Höhle, in der die Wölfin Romulus und Remus säugte; dicht dabei stand der heilige Feigenbaum, dessen Schatten die Zwillinge und ihre Tiermutter schützte; auch eine Erzstatue erhob sich dort, die diese denkwürdige Szene verewigte. Am Palatin zeigte man weiter die Hütte des Romulus, aus Holz und Schilfrohr gefügt und als Reliquie ältester Vergangenheit immer wieder ausgebessert. Hierher verlegte man auch die Episoden der eigentlichen Stadtgründung. Vom Palatin aus beobachtete Romulus die zwölf Geier, deren Erscheinung ihn zum König machte; auf dem Palatin wurde jene Grube gegraben, die als Mittelpunkt der künftigen Stadt Erdschollen und Früchte empfing und die den seltsamen Namen „mundus" (= Welt) führte; rings um den Palatin zog Romulus mit Kuh und Stier die Urfurche, um den Verlauf der Mauer anzumerken, bei den Toren den Pflug aufhebend und über die Öffnung hinwegtragend. Alle diese Erinnerungen sagenhafter Art drängten sich im Aufblick zu dieser ehrwürdigen Stätte zusammen, untermischt mit schon damals nicht mehr verständlichen Brocken (Tafel 5). So hing an dieser uralten palatinischen Siedlung ein merkwürdiger Name, mit dem bereits die Kaiserzeit keine rechte Vorstellung verband, der jedoch fest in der Überlieferung verankert war. Die Palatinstadt hieß Roma quadrata \ Die moderne Forschung folgte den griechischen Interpreten der römischen Tradition und unterlegte diesem Namen die Übersetzung „Viereckiges Rom"1. Dabei griff sie, wie nicht anders möglich, auf die Form des palatinischen Hügels zurück, um dort die Viereckigkeit wiederzufinden’. Aber der stark verrundeten Höhe ließ sich kein quadratischer Umriß abringen, auch nicht nach den Terrassie­ rungen der Kaiser. Neuerlich ist man auf das pomerium der Palatinstadt ausgewichen, das Tacitus ann. XII 24 zum Teil beschreibt: vom Rindermarkt bis zum Altar des Consus, von da zum Larenheiligtum und von dort zum Forum4. Ob dieses pomerium 22

etwas zu tun hat mit der Umpflügung des Romulus, bleibt zweifelhaft trott Tacitus’. Zudem besitzt dieser Linienzug die Gestalt eines verschobenen Tra­ pezes, von einem Quadrat kann auch hier keine Rede sein. Noch verwickelter wird die Sachlage, sobald man das Überspringen der Be­ zeichnung Roma quadrata auf den mundus bedenkt. Der mundus repräsentierte jene Opfergrube, die Romulus als Uranfang seiner Gründung aushob und in die seine Gefährten Erdschollen aus ihren Heimatländern und Erstlinge aller Früchte niederlegten. Die Grube — vor dem Apollotempel auf dem Palatin gelegen — diente als Kultstätte der di inferi. Sie war mit einem Stein bedeckt, dreimal im Jahre wurde sie geöffnet, gleichsam ein Tor der unterirdischen Götter. An dem anstoßlosen Wechsel des Ausdrucks Roma quadrata zwischen der Palatinstadt und ihrem mundus lassen die Belege keinen Zweifel. Varro spricht davon, Romulus habe Rom gegründet, das im Anfang Roma quadrata genannt worden sei; und schon vor ihm redet ein Enniusvers von der Herrschaft über die Roma quadrata ’. Dagegen sucht Festus das quadratische Rom auf dem Palatin vor dem Tempel des Apollo: es würden dort Heiligtümer aufbewahrt, die man bei der Gründung der Stadt verwandt hätte. Ebenso verlegen die Säkularakten von 204 post die Roma quadrata in das Areal des Apollotempels’. Neuere Versuche, diese dunklen Angaben zu klären, versagen, vor allem hin­ sichtlich der Identität von Opfergrube und quadratischem Rom. Deubner hat zu bedenken gegeben, man könne doch nicht ein- und daselbe Ding bald mundus, bald Roma quadrata genannt haben, und so enden denn die meisten Erwägungen mit einem non liquet8. Erst ein Vorschlag Altheims hat die Schwierigkeiten aus­ geräumt. Er führt statt der verfehlten Übertragung „viereckig" die sinngemäße Wiedergabe „viergeteilt" ein, eine im Lateinischen mehrfach bezeugte Bedeutung von quadratus, und damit erhält das Problem eine neue Wendung*. Bleiben wir zunächst bei den Belegen für quadratus = viergeteilt. Die Bezeich­ nung des römischen Septenars als versus quadratus charakterisiert dieses Maß als einen „viergeteilten" Vers, einen Vers mit drei Fugen, der in 2 X 2 Kommata oder quadrae zerfällt. Auch die altrömische legio quadrata ist ein Viererverband, denn sie besteht aus vier Tausendschaften. Etwas Ähnliches muß auch die All­ tagssprache im Sinne gehabt haben, wenn sie von den quadrae der Brot- und Käselaibe redet; nach Ausweis der pompejanischen Muster nämlich tragen diese Formen tiefe Kerben, die das Brechen in vier Teile gestatten10. Wichtig bleibt ferner in diesem Verband die Bemerkung Frontins, zwei neben­ einanderliegende jugera bildeten einen ager quadratus “, denn diese Notiz führt unmittelbar an die Flächen- und Landteilung heran. Bedenkt man, daß jedes jugerum aus zwei actus besteht, so erhellt die anschließende Interpretation des Agrimensors sogleich den Sinn des Ausdrucks: „Ager quadratus, quod sint in omnes partes actus bini", d. h. weil in jedem Teile je zwei actus liegen.

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Szab6 hat dargetan, pars stelle in der gromatischen Fachsprache ein Wechsel­ wort für regio dar und meine die rechte und linke, vordere und hintere Fläche des vermessenen Landes12. Damit klärt sich der Nebensatz mit quod, denn „in jedem Teile je zwei actus" lassen sich nur vom Zentrum eines Viererfächers aus erblicken. Erst in der Mitte eines viergeteilten Ackers stehend, sieht man wirklich rechts und links, vom und hinten je zwei Stücke (vgl. die nebenstehende Skizze Abb. 4). Frontin begreift also den ager quadratus nicht als Viereck, actus actijs sondern als einen Block von vier actus. E Unterlegen wir diesen neuen und immerhin 5 « o> kräftig genug belegten Sinngehalt von quadratus 9 der Roma quadrata, so greifen die Überlieferungs­ actus actus stücke fugenlos ineinander. Auf ein „viergeteil­ tes" Rom verweist zunächst ein besonderes, mit der palatinischen Stadtgründung eng verknüpftes Gerät: der lituus des Romulus, den man zu Ci­ 4 Sdiema des ager quadratus ceros Zeit noch in der Curia Saliorum auf­ bewahrte. Mit ihm, so schreibt Cicero, habe Romulus vor der Erbauung der Stadt die Regionen eingeteilt1’. Zur Rolle des Krummstabes in den religiösen Riten sei soviel vorweggenommen, daß der Augur mit ihm die vier Teile seines Beobachtungsfeldes abgrenzte. Dieses designare caeli partes hing unabtrennbar am Krummstab, denn nur der lituus vermochte zu vierteilen M. Genau dieses gleiche Gerät, ein Werkzeug gleich­ sam vierteilender Kraft, tritt nun auch bei der Regionenbestimmung der Palatin­ stadt in Tätigkeit, und damit war die Einteilung der künftigen Siedlung entschie­ den. Denn sobald Romulus den vierteilenden lituus zur Hand nahm, stand fest, daß die Regionen seiner Anlage einen Viererfächer bildeten, daß seine Stadt­ auslage einen Viererblock darstellte, einen ager quadratus, eine urbs quadrata. Dem entspricht eine Mitteilung des Plinius, die Stadt habe beim Tode des Romulus vier Tore gehabt15, wahrscheinlich als Mauerdurchlässe von vier Haupt­ straßen. Ob dem je eine Wirklichkeit entsprochen hat, bleibt belanglos. Die im Gedanken lebende „Wirklichkeit" bietet in jedem Falle ein geschlossenes Bild, das mit quattuor portae, ager quadratus und lituus eindeutig den römischen Altertumsforschern vor Augen stand. Dieser mit der Vierzahl eng gekoppelte Ideenverband zielt, für eine „antiquarische Konstruktion" viel zu konsequent, in zwei Richtungen: einmal nach innen zur Mitte, sodann nach außen zur Grenze. Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Liest man die Nachrichten unvoreingenommen, so erblickt man als Urzelle der Gründung die Mundusgrube, den Nabel der künftigen Stadt. Diese Grube wurde zuerst gegraben, nach ihrem Aushub gingen die übrigen Gründungsriten in Szene1’. Mundus heißt „Welt", und daß diese kosmologische Nomenklatur nicht so sinnlos ist, wie man annehmen möchte, belegt das Brauchtum des 24

Schollenwurfes. Ovid und Plutarch berichten nämlich, man habe in den mundus Erstlinge aller Früchte und Erdschollen geworfen; wie Plutarch ergänzend hinzu­ setzt, solche Erdschollen, die Romulus' Gefährten aus ihren Heimatländern mit­ gebracht hätten17. Weinstock hat diesen Akt als symbolische Zusammensiedlung gedeutet; die Schollen verträten die Länder, aus denen die Neubürger gekommen seien18. Deubner sieht hier im Anschluß an eine so späte Quelle wie Lydus eine Art Herrschaftszauber: der Stadt sollten alle Gebiete untertan sein, die durch die Erdschollen vertreten würden ”. Diese letzte Deutung greift fehl, weil sie der Symbolsprache ältester Vergan­ genheit den späten Machtgedanken unterschiebt. Weinstocks Interpretation dagegen enthält mit ihrem Hinweis auf die Wechselform Scholle-Land etwas Richtiges, doch ist der Schluß auf einen Synoikismos der Bewohner dieser Länder unnötig. Die von allen Seiten herbeigetragene Erde vertritt vielmehr die sichtbare Oikumene, und der mundus empfängt sie, weil er den Weltkreis im Kleinen darstellt. Bereits Roscher hat diese Verzahnungen erkannt, denn er begreift den mundus als ein Omphalosdenkmal, als ein Symbol des Erdnabels, und nimmt an, ursprünglich habe jede mit einem mundus versehene Stadt in der Mitte des orbis terrarum zu liegen geglaubt10. Es fragt sich nun, wie diese kosmische Grube — späteren Geschlechtern noch gegenwärtig im Areal des Apollotempels — zu dem erwähnten Namen „Roma quadrata" kam. Auch hier bringt uns die Einführung von quadratus als „vier­ geteilt" einen Schritt weiter, weil nämlich die römische Kosmologie auf dem Bilde eine viergeteilten terra beruht. Da die Mitwirkung von Weltbildvorstel­ lungen bei der Konzeption des mundus sicher ist (mundus = Welt), so müssen sich an diese „Welt"-Grube fast automatisch Viererideen angeschlossen haben, Quadrantenbilder kosmologischen Charakters. Bevor wir uns dem Problem zu­ wenden, wie dergleichen überhaupt möglich sein kann, werfen wir noch einen Blick auf die römische Weltanschauung im eigentlichen Wortverstande. Die Forschung, fasziniert auf den griechischen Gedankenfortschritt von der Erdscheibe zur σφαίρα starrend, schlägt im römischen Bereich das Beharrungs­ vermögen der Volksauffassung viel zu gering an. Tatsächlich beherrschte das alte Erdbild der Weltscheibe das römische Denken bis in seine letzten Atemzüge hinein, von einzelnen Einbrüchen hellenistischer Naturwissenschaft abgesehen. Der Römer dachte sich das Welthaus als viergeteilten Terraring mit dem darüber gestülpten Himmelsgewölbe. Keineswegs hat erst Julius Honorius Anfang des 5. Jahrhunderts post den Gedanken der Vierteilung aufgebracht mit vier Ozeanen in den vier Hauptrich­ tungen und vier Erdteilen dazwischen*1, vielmehr lebt diese Auffassung schon in der frühen Kaiserzeit. In der gromatischen Literatur erscheint diese volks­ tümliche Ansicht allenthalben als Unterlage und Vorbild der Limitation. Selbst gebildete Männer wie Vitruv und Tacitus stießen sich nicht an dieser Geographie,

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ein beständiger Beweis für den Unwert astronomischer Rechenoperationen im römischen Bereich und die Fortexistenz ursprünglicher Anschauungen”. Die gromatische Literatur leitet, ganz im Sinne kaiserzeitlicher Mode, diese Kosmologie aus Etrurien ab. Nach Varro wäre der erste Ursprung der Limitation die etruskische Disziplin, denn die Haruspizes hätten den Weltkreis von Sonnen­ aufgang nach Sonnenuntergang in zwei Teile geteilt, in einen rechten nördlichen und einen linken südlichen, und mit einer weiteren Linie von Nord nach Süd noch einmal in einen vorwärts und einen rückwärts liegenden Teil2’. Wir lassen vorerst die angeblich etniskische Herkunft auf sich beruhen und betonen noch einmal den innigen Verband dieses römischen Erdbildes mit der quadrierten terra der Limitation. Hier und nirgendwo sonst ist die prima origo zu suchen, wie die Feldmesser fort und fort behaupten. Lenken wir nach Klarstellung des römischen Weltbildes zum mundus zurück, so fragt sich noch einmal, wie denn die kosmologische Vierteilung und jene „Welt"-Opfergrube zusammengehören könnten. Beide Elemente klaffen doch so weit wie möglich auseinander, ganz abgesehen von der schwer vollziehbaren Vorstellung einer „viergeteilten" Grube, die ja nach Ausweis ihres Namens (mundus = Welt) irgendwie dem kosmologischen Vierersystem angepaßt sein müßte. Es sei erlaubt, zur Deutung einer solchen unmöglichen Anlage eine primitive Parallele heranzuziehen, um nicht ganz im Bereich des Gedankens zu bleiben. Eine bestimmte Gruppe der Prärieindianer Nordamerikas bauen für die Feier ihres Sonnentanzes eine runde Hütte, deren Wand aus 16 Pfählen besteht und deren konisches Dach ein mächtiger Zentralpfosten stützt. Die Hütte gilt den Indianern als Abbild der Welt, der Mittelmast als Welt­ baum. Die Standgrube für den Zentralpfahl wird nach einem festen Ritual ausgeworfen. Man ritzt mit einem Stöckchen einen Kreis auf den Boden, merkt mit Stri­ chen die vier Viertel des Kreises an sowie das Zentrum und beginnt dann im Mittelpunkt zu graben. Dieses Standloch wäre sonach viergeteilt, es gilt zudem als Sinnbild der Welt genau wie die Hütte*4 (vgl. die

mundus könnte nicht enger sein. Zum mindesten erhält man eine Vorstellung, wie denn eigentlich die lateinischen sakralen Fachbezeich­ nungen zusammenzupassen wären. Es läge demnach in der quadrierten Mundusgrube keimhaft bereits das ganze System vorgebildet; der mundus übertrüge aus sich heraus ins Große, was er im Kleinen enthält. Nach dieser eingehenden Erörterung der romulischen Stadtmitte wenden wir uns nunmehr nach außen, zur Begrenzung des ältesten Rom. Auch hier zeigt sich ein Hinweis auf die kosmologische Qualität der viergeteilten Stadt. Denn nur 26

die nach romulischem Vorbild gegründeten Siedlungen, d. h. die Städte mit mundus und Pflugfurche, galten ah urbes, alle anderen lediglich als oppida Der Unterschied beruht auf dem Kultischen, wie schon die Alten wußten, denn sie sahen urbs als Derivatum von urvare an“. In Wirklichkeit wird in dieser kultischen Färbung ein starker kosmologischer Einschlag sichtbar, da urbs wort­ geschichtlich zu orbis „Erdkreis" gehört”. An dieser Stelle schließt sich der legendäre Ritualismus mit der Limitation zusammen. Die Abkunft der Limitation von Weltbildvorstellungen — den Gro­ matikern selbstverständlich — enthüllt sich hier in seinen Uranfängen. Die Roma quadrata entstammt einer Epoche, die Stadt und Welt noch als Identitäten empfand. Wie leicht zu sehen, rücken die Überlieferungsstücke des viergeteilten Rom, der viertorigen „Welt"-Stadt, der vierfachen Mundusgrube lediglich durch ihr figürliches Element aneinander, verklammert durch die kosmologische Unterlage. Der Irrweg der neueren Forschung besteht darin, die nur vom Bilde her zu begrei­ fenden Nachrichten als Realitäten zu interpretieren und selbst für die in grauer Urzeit verdämmernde Palatinstadt eine Straßenkreuzung nach Analogie von kardo und decumanus mit dem mundus auf dem Schnittpunkt zu suchen“. Sie vergißt dabei, daß jene im Gedanken lebenden Bilder auch eine Wirklichkeit vorstellen, unabhängig von jeder äußeren Gestaltung und ohne Realisierung ebenso real wie eine beliebige kaiserzeitliche Kolonie. In diesen figuralen Urkunden verkörpert sich ein erster Beleg der Limitations­ kunst, die wie ihr mythischer Ahn von einem Zentrum ausgeht und nach den vier Weltseiten fortschreitet. Die für die Limitation so entscheidende Quadrie­ rung vom Nullpunkt her findet sich bereits bei der ersten römischen Stadt, bei der Stadt schlechthin, bei der Mutter aller Städte. Mit diesem Befund verlassen wir das mythische Rom auf dem Palatin und wenden uns dem nächsten Rom zu, der servianischen Stadt, um nachzuprüfen, ob die Grundgestalt der Roma quadrata auch hier gewirkt hat. Wir begegnen dabei wiederum dem Problem des Nullpunkts. Sondert man die antiken Nachrichten über die Stadtheiligtümer, so stellt sich eine doppelte Beurkundung heraus, denn fast alle Zeugen der Gründungslegende sind zweimal vorhanden, einmal auf dem palatinischen Berg, sodann auf dem Comitium und seiner Umgebung. So gab es außer dem palatinischen Bildwerk mit Wölfin und Zwillingen ein ebensolches Denkmal auf dem Comitium; den heiligen Feigenbaum erblickte man beim Lupereal und vor dem Rathause; ein Gegenstück der palatinischen Hütte des Romulus erhob sich auf dem Kapitol; außer dem mundus auf dem Palatin eröffnete sich ein zweiter mundus auf dem Comitium. Die Nachrichten folgen umstehend in Tabellenform.

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Palatinische Tradition

Comitiale Tradition

Statue mit Wolf und Zwilling Dionys Hal. I 79: Der Hain des Pan, in dem die Wölfin sich versiedete, „ist nicht mehr. Allein die Höhle, woraus das Wasser floß, zeigt man noch bei den Gebäuden am Palatin am Wege zum Zirkus. Nahe dabei steht ein Tempel mit einer Abbildung dieser Begebenheit, ein altes Kunstwerk aus Erz: eine Wölfin, wie sie zwei Kin­ dern die Zitzen reicht".

Plinius XV 77: ... „da unter ihm (dem Feigenbaum) die Wölfin die Kinder gesäugt hat. Eine dieses Wun­ der darstellende Bronzegruppe wurde neben dem Baum auf dem Comitium unter dem Augurium des Attus Na­ vius geweiht, gleichsam als sei der Baum von selbst nach dem Comitium umgesiedelt" (vom Palatin).

Livius X 23, 12 (ohne Lokalisie­ rung) : Die Ogulnii, Ädilen des Jahres 296 ante, errichteten ein Monument beim Feigenbaum, das Zwillinge und Wolf darstellte.

ficus ruminalis ” Varro 1. 1. V 54: (Ein Vorsprung des Palatin heißt) „Germalus nach den Brüdern Romulus und Remus, weil dort der ruminalische Feigenbaum steht".

Dionys Hal. III 71: „Attus Navius Statue stand noch zu meiner Zeit vor dem Rathause nahe dem heiligen Fei­ genbaum."

Ovid fasti II 412 f. (Feigenbaum am Lupereal): „Doch, da sich mählich verlaufen die Flut, blieb endlich die Mulde, Landend am dunklen Gestrüpp, stehen auf schlammigem Grund.

Plinius nat. hist. XV 77: „Auf dem Comitium wird eine Feige gepflegt, dadurch geheiligt, daß an ihrem Standort Blitze geborgen sind. Mehr aber noch durch das Andenken an jenen Baum, welcher am Lupereal die Kindheit des Romulus und Remus schützte und ruminalis heißt, weil un­ ter ihm die Wölfin die Kinder säugte."

Dort stand ragend ein Baum (noch sieht man die Trümmer), und was uns Ruminas Feigenbaum heißt, nannte nach Romulus sich.

Dort — o Wunder! erschien bei den Kleinen die säugende Wölfin ... Namen erhielt von der Wölfin der Ort und vom Ort die Lupercen."

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Tacitus ann. XIII 58: „Im gleichen Jahre hielt man es für ein böses Vor­ zeichen, daß der ruminalische Baum auf dem Comitium, der vor 830 Jahren den Romulus und Remus als

Servius Aen. VIII 90: „Der ruminalische Feigenbaum, bei dem Romulus und Remus ans Land gespült wur­ den, stand bei dem heutigen Lupereal am Zirkus."

Säuglinge beschattet hatte, durch Ab­ sterben der Aste und Verdorren des Stammes verkümmerte, bis er mit neuen Trieben wieder aussddug."

casa Romuli ”

Dionys Hal. I 79: ... „und flochten sich auf Bergen aus Holz und Rohr manche gewölbte Hütte. Noch zu mei­ ner Zeit war eine davon an der Ecke des Palatin gegen den Zirkus hin un­ ter Romulus' Namen vorhanden, von den damit beauftragten Pflegern hei­ lig bewacht." Plutarch Romulus 20: „Romulus wohnte neben der sogenannten Treppe des schönen Ufers, an welchem man vorbeikommt, wenn man vom Palatin zum Zirkus hinabgeht." Cassius Dio XLVIII 43 (ohne Loka­ lisierung): Im Jahre, als Cäsar sich mit Livia vermählte, „verbrannte die Hütte des Romulus bei Gelegenheit eines Opfers".

Seneca der Ältere Controv. II 1, 5: „Noch heute erblickt man auf dem Kapitol eine Hütte, verehrt von dem Volk, das alle Nationen besiegt hat und dessen Glück niemanden ver­ wundert. Zu Recht besitzt es die Macht".

Vitruv II 1, 5: „In Athen ist das Dach des Areopag als Muster von Altertümlichkeit bis heute mit Ton gedeckt. Ebenso kann uns auf dem Kapitol die Hütte des Romulus jene alten Sitten ins Gedächtnis zurück­ rufen und vor Augen halten, des­ gleichen auf der Burg die strohernen Dächer der Heiligtümer."

mundusal Ovid fasti IV 820 ff. Auch ohne aus­ drückliche Lokalisierung deutet der Dichter auf den Palatin als Ort des mundus **. Festus Pauli excerpta p. 310 L.: „Roma quadrata heißt auf dem Pala­ tin (ein Ort) vor dem Tempel des Apollo, wo man jene Geräte aufbe­ wahrt, die wegen des günstigen

Plutarch Romulus 11: „Es wurde auf dem jetzigen Comitium eine runde Grube gegraben, und in diese legte man Erstlinge aller Dinge, deren Ge­ brauch entweder das Gesetz erlaubt oder die Natur notwendig macht".

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Omens bei der Gründung der Stadt verwandt werden" “. Säkularakten von 204, Dessau In­ scriptiones latinae selectae II 5050 a: Bei der Roma quadrata, im Areal des Apollotempels auf dem Palatin, wird zu den Säkularspielen ein Tribunal errichtet.

Inez G. Scott bleibt das Verdienst, das Problem der zweisträngigen Über­ lieferung aufgerollt zu haben’1. Tatsächlich läßt sich das im Comitium zen­ trierte Stadtbild mit der Palatinsiedlung nicht vereinen. Damit ist das entschei­ dende Moment der Quellenkritik angerührt: Versuche, den einen oder den anderen Strang der Tradition als unglaubwürdig abzuschneiden, sind ihrerseits unglaubwürdig”; de facto muß den immer wiederholten urrömischen Duali­ täten eine, wie auch immer geartete, Wirklichkeit zu Grunde liegen. Zur Lösung dieser Frage bieten sich zwei Möglichkeiten. Einmal könnte man das älteste Rom nach Analogie der etruskischen Doppelanlagen als Zwillings­ stadt auffassen, als eine Siedlung der Lebenden auf dem Palatin und eine Stätte der Toten im nördlich anstoßenden Tal. Und in der Tat erstreckte sich über das ganze Forumgebiet, sogleich vor den Toren der Palatinstadt beginnend, eine uralte Nekropole, die sicher noch die Anfänge der Stadt gesehen hat und bis ins 9. Jahrhundert ante hinabreicht. Eine letzte Erinnerung an dieses später aufgelassene und überbaute Bestattungsfeld war außer anderem der lapis niger, ein Geviert aus schwarzen Mamorplatten kaiserzeitlicher Fertigung, das Grab des Romulus, wie die meisten mit Varro annahmen *·. Bedenkt man die spiegelbildliche Treue, mit der die etruskischen Totenstädte die Siedlungen der Lebenden kopieren, endlose Häuserzeilen an Straßen auf­ reihend; bedenkt man weiter, daß Rom als etruskischer Ort in die Geschichte eintrat, daß schließlich auch seine Zwillingslegende mit der Polarität von Leben und Tod spielt (Romulus-Remus), so möchte dieser Ausweg leidlich gangbar scheinen. Man müßte die Palatinstadt um ihren Friedhof erweitern und sich stets bewußt sein, daß die Vorstellung „Stadt" für jene Epoche eine Dualität umfaßt, die Lebende und Tote umschließt, beide Hälften mit den gleichen Denk­ mälern ausstattend. Allein eine solche Interpretation hat ihre Schwierigkeiten. Die Verehrung der Palatinstadt als Urzelle römischer Existenz darf nicht darüber hinwegtäu­ schen, daß weder die auslaufende Republik noch gar die Kaiserzeit ein deutliches Bild jener Gründung des Romulus besaßen. Die romulische Stadt entschwand nicht nur in den urzeitlichen Nebeln, sie umschloß darüber hinaus kein einziges jener Denkmäler, ohne die nun einmal römische Geschichte, römischer Staat,

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römischer Glaube nicht zu denken waren. Kapitolinischer Berg mit Arx und Jupitertempel, Comitium, Forum, Via sacra, Vestahaus, Janustor, Regia — alle diese Monumente gab es nur ein einziges Mal. Der Palatin barg kein Gegen­ stück, vielmehr war diese erzrömische Welt jener Urzelle der Stadt vollständig fremd. Will man auf der Vorstellung einer etruskischen Doppelanlage beharren, so müßte man auch auf dem Palatin einige Duplikate der urrömischen Heilig­ tümer nachweisen — ein hoffnungsloses Beginnen. Dafür deutet die Dualität der romulischen Erinnerungsstücke und ihre Kon­ zentrierung auf dem Comitium in eine andere Richtung, auf die Verbindung nämlich jener Denkmäler mit der zweiten römischen Anlage: der servianischen Stadt. Diese Gründung, von der Tradition dem König Servius Tullius zuge­ schrieben, dauerte bis in den Anfang der Kaiserzeit. Sie war in vier Bezirke ein­ geteilt — mithin ebenfalls eine echte quadrata —, und die wichtigsten Monumente lagen rings um den mundus auf dem Comitium, dort eine neue Stadtmitte bildend. Die palatinischen Heiligtümer wie das Bildwerk mit der Wölfin, der Feigenbaum, die casa Romuli wanderten in Gestalt von Doppelstücken dem neuen Stadtzentrum zu, so daß die Duplikate nichts anderes andeuten als die Aufeinanderfolge des servianischen auf das palatinische Rom. Die servianische Stadt, die urbs quattuor regionum, umfaßte die vier Bezirke Suburana, Esquilina, Collina und Palatina, in dieser Reihenfolge von Varro 1. 1. V 45 sogar durch Zahlen betont” (Abb. 6). Diesen Viererfächer hat man — begreiflich genug — nach dem Muster kaiserzeitlicher Limitationen aufzufassen gesucht. So konstruierte Otto Richter die vier Regionen von einem Zentrum aus, das an der Nordostecke der Velia lag“, wogegen von Gerkan mit Recht eingewandt hat, eine solch' abstrakte Grenzziehung lasse doch jede Rücksicht auf die Realitäten vermissen; die Grenzen müßten sich bei der Erweiterung der Stadt — und darum handele es sich, nicht um eine Neugründung — an bereits vorhandene Straßen angeschlossen haben ", So dürften die Senken zwischen Oppius und Viminalis, Caelius und Palatin die Regionen nach Ost und West geteilt haben, während die via sacra, der Zugang zum kapitolinischen Götterberg, die Regionen nach Nord und Süd schied. Wie das verwickelte Suburaproblem aufzulösen ist, bleibt für unsere Zwecke belanglos; Richter möchte die Subura durchaus femhalten dem Suburata/e und mit Varro 1. 1. V 46 als mons ansehen, wohingegen von Gerkan die Subura als Niederung ansieht und in einem breiten Streifen zwischen Palatina und Esquilina nach Norden vorschieben will40. Wichtig ist allein die unbestrittene Tatsache der Vierteilung selbst. Diese Gliederung steht außerhalb des Zufalls, sie ist gewollt und beabsichtigt und macht die servianische Stadt zu einer zweiten Roma quadrata. Die figurale Überlieferung, die wenigstens philologisch erkennbar die palati­ nische Siedlung kennzeichnet, charakterisiert also auch das nachfolgende Rom, ohne daß wir den Plan im Sinne mathematischer Abstraktion pressen müssen.

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Suburant)

Esquilma

Collina

6 Die vier Regionen der Seroianisdien Stadt und der lapis niger 32

Mögen sidi die Grenzen im Zuge der Talstraßen noch so gewunden und gedreht haben, das dem Gedanken vorschwebende Ideal der harmonischen Quadrierung wird auch in den Regionen der servianischen Stadt spürbar. Nicht zuletzt tritt dieses Ideal auch in den Mittelpunktdenkmälem der urbs quattuor regionum hervor. Wie die palatinische Stadt im mundus zentriert war, der als „Welt" vierfach gegliedert sich zur vierfach geteilten Stadt weitete; wie die kaiserzeitlichen Vermessungen mit dem Nullpunkt des KMDM begannen, von dem aus sich das System nach allen Seiten mit steigenden Ziffern entfal­ tete, so besaß auch die Vierregionenstadt einen Nabel, von Plutarch μοϋνθος genannt und in seinem Omphaloswert nachdrücklich betont. „Hierauf beschrieb man um sie (d. h. die runde Mundusgrube auf dem Comitium) wie um den Mittelpunkt eines Kreises den Umfang der Stadt. Der Erbauer befestigte an einem Pflug eine eiserne Schar, spannte einen Ochsen und eine Kuh daran und zog in eigener Person eine tiefe Furche um jene Grenzlinie" “. Dieser comitiale mundus, so hat schon Deubner gesehen, kann nur zu einer neuen Organisation gehören, zur urbs quattuor regionum“. Sollte die Vermu­ tung zutreffen, der comitiale mundus sei identisch mit den archaischen Resten unter dem lapis niger, so hätten wir einen neuen Fingerzeig für das Alter dieser Mittelpunktvorstellungen. Bekanntlich stützen hier die Grabungsbefunde jene literarischen Angaben über eine Stelle am Comitium, die durch zwei Löwen markiert das Grab des Romulus sein sollte. Die Scholienschreiber zu Horaz epod. 16, 13, wo der Dichter davon spricht, ein barbarischer Sieger werde einst die ossa Quirini zerstreuen, berufen sich auf die Autorität Varros: er sage, hinter der Rednerbühne sei Romulus bestattet; die meisten glaubten es, und zu Romulus' Gedächtnis lägen dort zwei Löwen“. Dionys dagegen weiß nur von einem Löwen und läßt an jener Stelle den Pflegevater des Romulus, Faustulus, bzw. den Vater des Königs Tullus Hostilius mit Namen Hostus Hostilius begra­ ben sein. Auch Festus scheint diese Version zu kennen “. Die Aufdeckung des schwarz gepflasterten Ortes — die Bezeichnung bei Festus „niger lapis" traf nicht wortwörtlich zu — bestätigte diese Notizen, trotzdem eine starke Zerstörung der Einzelteile die Interpretation erschwerte. Es fanden sich die Basen für die beiden Löwen, zwischen ihnen eine tiefgehende, mit Brandschutt gefüllte Grube und dazu der Stumpf einer Säule nebst einer In­ schriftenstele mit archaischen Schriftzeichen“. Die Datierung zielt auf das aus­ gehende 6. und frühe 5. Jahrhundert4’. Hält man mit diesen Resten die Volks­ überlieferung vom Grabe des Romulus zusammen, so besitzt die gesamte Gruppe Omphalosqualität: mit der Mundusgrube und der Weltsäule in lokaler, mit der letzten Stätte des Stadtgründers in zeitlicher Hinsicht. Auch die Epoche der Kaiser erblickte im Comitium und Forum den ideellen Mittelpunkt der Stadt. Hier errichtete Augustus den Meilenzeiger, dessen ver­ goldeter Marmorschaft die Entfernungen von der Servianischen Mauer nach den bedeutendsten Städten des Reiches in Zahlen angab47, eine Äußerung des Mittel­

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punktdenkens, die uns auch im mittelalterlichen Nordeuropa begegnen wird. Hier stand schließlich noch der umbilicus urbis Romae, ein Backsteinkern mit farbigem Marmorbelag, zuerst erwähnt in der konstantinischen Regionenbe­ schreibung48 (Tafel 4a). Mag auch die Lage aller dieser Denkmäler einschließlich des Comitiums selbst gegen das wahre Zentrum der Vierregionenstadt nach Westen verschoben sein, so zeigt sich eben hierin, wie unbefangen die Idealvorstellung mit der Realität umsprang. Hier wirkte eine kompositorische Kraft, die eine im Gedanken behei­ matete Patentlösung zu verwirklichen trachtete, trotz der realen Zwänge. Die den Stadtplanem verbleibenden Möglichkeiten waren eingegrenzt genug, den­ noch leisteten sie das Erdenkliche, die servianische Stadt zu einer religiösen Urkunde zu machen. Der gewaltige Straßenzug der via sacra, vom Ostpunkt her auf den zweigipfeligen Götterberg des Kapitol zielend und am Fuß des Kapitol die Heiligtümer sammelnd, bleibt eines der großartigsten Dokumente sakraler Stadtanlage48. Dieser Komposition hat, um es zu wiederholen, ein bestimmtes Bild unter­ legen: das der Vierteilung.. Erst die Verwaltungsreform der Kaiserzeit verließ mit ihren 14 Regionen dieses Prinzip — das Wachstum der Stadt überrannte den geformten religiösen Organismus —, aber dafür setzten sich die Grundlinien der römischen Plantechnik fort in der agrimensorischen Kunst. Die beiden älte­ sten Rom verkörpern die Anfänge der Limitation italischen Charakters. Die Entfaltung ihrer Prinzipien hat bis in die Kaiserzeit durchgehalten. Sicher ist dabei trotz der verschwimmenden Überlieferung des ältesten Stadiums die kos­ mologische Einfärbung auf sämtlichen Stufen dieser Gedankenwelt: die Wort­ verwandtschaft von urbs und orbis, der weltachsiale kardo und der viergliederige Fächer verdeutlichen das Weltbild der quadrierten terra. Dieses Weltbild und seine Spiegelung im Stadtplan hat nun noch eine andere Seite, die zwar schon mehrfach angerührt wurde, aber abschließend nachdrück­ lich betont werden muß. Wir meinen den zeitlichen Aspekt dieser sakralen Geographie. Die Kosmographie weitet sich allenthalben zur Kosmogonie. Der Stadtplan besitzt nicht nur kosmische Qualität, er hat auch geschichtliche Tiefe. Denn der palatinische Berg trägt nicht bloß die Roma quadrata, er ist zugleich der Nullpunkt der römischen Existenz, der Urbeginn der römischen Geschichte. Hier setzt es ein mit dem mundus, dem Schollenwurf, der Pflugfurche, ja vorher noch mit der Wölfin und den Zwillingen. Hier ist nicht allein die Mitte, hier ist auch der Anfang von allem. Nabelort und Nulljahr fallen ineinander. Kein Wunder, daß der Palatin auch der kaiserzeitlichen Gesellschaft Ehrfurcht abnö­ tigte: hier war Rom vom ersten Tage seiner Geburt an. Wenn diese kosmogonische Kosmologie auch der Vienegionenstadt ange­ hängt wurde durch Verdoppelung der Gründungsdenkmäler, so beweist dieser Vorgang doch, wie stark auch die servianische Anlage unter mythischen Zwän­ gen gestanden hat. Auch dieses Rom sollte einen Nullort und ein Nulljahr

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haben. Da jedoch das ab urbe condita unverwischbar feststand, so entlieh man vom Palatin einige Urkunden, denn nur von dort konnte die sakrale Legalität kommen. Dort allein war Mitte und Anfang. Suchen wir nun nach der Herkunft dieser Kosmologie und damit erneut nach dem Ursprung der Gromatik, so bietet die römische Tradition noch einen wei­ teren Beleg quadrierender Gliederung: neben der Meßkunst und außerhalb der Roma quadrata erscheint der vom Zentrum her sich entwickelnde Fächer auch in den Auguralriten. Das Beobachtungsfeld des Vogelschauers, der ex arce nach den Signa der Götter ausspäht, ist eine bis zum Horizont reichende Vierteilung des Gesichtsfeldes, ein riesiger quadrierter Kreis rings um den Standpunkt des Beobachters. Damit betreten wir die Herzkammer der römischen Religion.

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3- Auguralformel und quadrierter Gesichtskreis

Im vierten Kapitel seiner „Römischen Geschichte" spricht Franz Altheim von den Ursachen der Größe Roms, das gewaltige, oft angeschlagene Thema mit neuen Aspekten durchdringend1. Altheim zeigt, sehr glücklich formulierend, mit welcher Kraft sich römische Größe und römische Religion gegenseitig bedin­ gen. Der Grundakkord römischer Frömmigkeit, mit dem Willen der Götter zu handeln, im Einklang mit Jupiter zu leben, verleiht dem Römertum seine Un­ widerstehlichkeit. An dieser Stelle entzündet sich die römische Überzeugung, Wegbereiter des Schicksals zu sein und ein Imperium zu bauen, das die Gottheit selbst entworfen hat. Den Göttern zu gehorchen, demütig ihren Willen entgegen­ zunehmen, ihre Absichten auszuführen, gilt allen römischen Persönlichkeiten als Richtschnur ihres Handelns. Auf diesem Boden wächst der Glaube, Träger einer geschichtlichen Mission zu sein, Vollstrecker eines göttlichen Plans, Atlas des Schicksals: „Wenn du den Göttern dich fügst, bist du Herr" (Vergil). Dieses Selbstverständnis erweist sich als die unbezwingliche Bastion des römischen Charakters. Ob nun der ältere Scipio im Tempel des kapitolinischen Jupiter Einblick in das fatum sucht, ob Sulla in seinen Erinnerungen sorgsam die ihm zuteil gewordene prodigia verzeichnet oder Augustus fast abergläubisch Heil- und Unheilzeichen beachtet, immer tritt dieser Grundzug römischer Fröm­ migkeit hervor. Hier weilen wir in der innersten Zelle römischer Religion, sie ist als Unterwerfung unter die gottgewollte Ordnung zu begreifen. Verständlich, welche Bedeutung eine solche Einstellung den Äußerungen des Götterwillens beimessen muß. Einblick in das göttliche Handeln zu erhalten, bleibt das Ziel römischen Frommsinns und verleiht den Hinweisen aus der göttlichen Sphäre ihr ungeheures Gewicht. Augurien und Auspizien, seit Mommsen mit einem Hauch der Lächerlichkeit behaftet, gehören tatsächlich zur Grundlage römischer Existenz. Inauspicato kann kein Beamter sein Amt antre­ ten, keine Volksversammlung tagen, kein Feldherr in den Krieg ziehen, keine Schlacht stattfinden. Die Beurkundungen des göttlichen Willens und die Möglichkeiten, göttliche Absichten zu erforschen, variieren stark. Von der Beobachtung gewitteriger Phä­ nomene, fressender Hühner, hoch- und niedrigfliegender Vögel bis zum Losorakel und zur Eingeweideschau zieht sich eine lange Kette einheimischer und einge­ führter fremder Methoden. Über die Deutung sind wir nicht zum besten orien­

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tiert — bei Himmelszeichen hält man sich an Richtung und Seite, bei Ohren­ signa entscheidet die Lage der Schallquelle, bei Vögeln Gattung, Verhalten und Erscheinungsort — in jedem Falle gelten die signa zur Linken als glücklich, die zur Rechten als unglücklich ’. Eine besondere Gruppe priesterlicher Beamter ist eng mit der Einholung und Kommentierung der Vorzeichen verknüpft: die Auguren. Sie sind nach Cicero die Interpretes Jovis optimi maximi’. Wir übergehen die Erörterungen, die sich mit der Etymologie des Wortes Augur und dem Ursprung des Augurats beschäf­ tigen und die neuerlich jede Wirklichkeitsgrundlage verlassen haben4, und blei­ ben bei der Feststellung, daß der römische Staat ohne Augurenkollegium unvor­ stellbar ist und daß diese Einrichtung ältester Zeit angehört. Das klassische Latein trennt nicht zwischen augurium und auspicium. Den Unterschied begründet allein die augurale Technik, die eben die Handlungen des Augurs als auguria, die entsprechenden Funktionen der Magistrate aber als auspicia klassifiziert. Die späteren Grammatiker erweitern unser Wissen zu dieser Differenz um wesentliche Züge: die auguria werden erbeten, die auspicia nicht’. Eben das Gebet um ein glückliches Vorzeichen scheidet augurium und auspicium: der augur erfleht von den Göttern ein signum, der auspizierende Magistrat tut das nicht. Ob allerdings diese Trennung zwischen auguralem und magistralem signum auch in älterer Zeit statthatte, will angesichts einer von Livius zum Jahre 300 berichteten Episode zweifelhaft erscheinen. Damals müssen die Auguren allein sämtliche Auspizien vollzogen haben, und zwar in arce, nirgendwo sonst. Denn der Diktator Mamercus Ämilius begann die Schlacht gegen die vereinigten Vejenter, Fidenaten und Falisker erst dann, als er sich durch wiederholtes Zurück­ schauen zur Burg in Rom vergewissert hatte, daß die Vogelsigna günstig ausge­ fallen waren. Die Auguren gaben nämlich von der Höhe der arx ein verabredetes Signal’. Es sieht so aus, als seien die Magistratsauspizien erst aufgekommen, als die römische Macht den Gesichtskreis der Burg verließ und damit die Signalver­ bindung mit diesem zentralen Punkt auguraler Technik abriß. Die Aufgaben der Auguren teilt Cicero in mehrere, nicht genau gesonderte Bereiche7. An erster Stelle stehen selbständige Kultakte: die Inauguration der Priester und die Einsegnung der Stadt von der Burg aus. An zweiter und dritter Stelle folgen Zusatzhandlungen, bei denen die Auguren lediglich als Helfer und Vorbereiter auftreten wie die Begutachtung und Kommentierung von Magistrats­ auspizien und Einrichtung der templa, d. h. jener sakralen Orte, an denen allein Auspizien eingeholt werden dürfen. Solche Bezirke hebt man mit einer bestimmten Formel aus ihrer Umgebung heraus und befreit sie von allen anhaf­ tenden Verpflichtungen (liberare et effare). Das Wesen des Augurats verkörpert sich am reinsten in den selbständigen Kultakten. Die hierunter zu zählende Weihe der Stadtmark bleibt zwar im Dun­ keln, dafür besitzen wir um so bessere Nachrichten zur Einsegnung der Priester.

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Einmal hat uns Livius in seinem Bericht über Numa Pompilius audi ein Referat zur Inauguration des rex sacrorum hinterlassen8, sodann verdanken wir Varro den Wortlaut der sakralen Formel, mit der man bei diesem Akt das augurale Beobachtungsfeld konstituierte8. Vorauszuschicken wäre, daß von alters her diese auguralen Handlungen auf der Burg stattfanden, d. h. auf dem nördlichen Gipfel des kapitolinischen Zwil­ lingsberges. Hier, auf dem ehrwürdigsten Teil des römischen Bodens, lag das auguraculum, die Beobachtungsstätte der Auguren. Ein anderer Ort läßt sich auch für die ältesten und heiligsten Zeremonien der Stadt kaum denken10. In älterer Zeit scheint die arx das einzige auguraculum gewesen zu sein11, auspicia konnten nur hier eingeholt werden und wurden dann beim Ausrücken des Heeres den Magistraten ins Feld nachtelegraphiert, wie die Episode des Diktators Ma­ mercus Ämilius nahelegt. In jedem Falle dürfen wir sicher sein, im innersten Bereich römischer religio zu verweilen, sobald die Kultakte auf der Burg ins Spiel kommen. Der erwähnte Inaugurationsbericht des Livius verrät auf den ersten Blick die Benutzung des bekannten Rechtkreuzes und darüber hinaus die Methode, ein Ordnungssystem aus dem Mittelpunkt heraus zu entwickeln. Als man Numa Pompilius, so erzählt Livius, den Thron angeboten und nach Rom gerufen hatte, verlangte der Neugewählte eine Befragung der Götter. Ein Augur führte ihn auf die Burg. Dort setzte sich Numa auf einen Stein mit dem Gesicht nach Süden. Der Augur selbst ließ sich mit verhülltem Haupt, in der Rechten den Krummstab, an der linken Seite des Designierten nieder, faßte Stadt und Land ins Auge, betete zu den Göttern, begrenzte die Regionen von Ost bis West und nannte die Süd­ seite „rechts", die Nordseite aber „links". Dann setzte er, wie es wörtlich heißt, „gegenüber den fernsten Punkt, bis zu dem seine Augen noch reichen konnten, im Geiste fest". Darauf nahm er den Krummstab in die Linke, legte die Rechte auf Numas Kopf und betete: Vater Jupiter, wenn es dein heiliger Wille ist, daß dieser Numa Pompilius, dessen Haupt ich halte, König von Rom werde, so sende uns bestimmte Zeichen in jenen Grenzen, die ich festgelegt habe". Er nannte die Zeichen, die er haben wollte. Die Zeichen erschienen, Numa wurde zum König erklärt und stieg vom templum herunter. Das Schwergewicht dieser Mitteilungen liegt in der genauen Schilderung der Beobachtungstechnik. Der Stein auf dem Burghügel, unter freiem Himmel gele­ gen, bildet die Mitte des sich entfaltenden Ritus, und die Stellung der beiden Personen deutet ein Kreuz an, das Stadt und Feldmark bis zum Horizont zerteilt. Numa wendet sich nach Süden, der Augur nach Osten, und zur Vollendung dieses Kreuzes vollzieht der Augur den Ritus des designare caeli spatia, des Bezeichnens der Himmelsabschnitte. Diesen Ritus schildern die Quellen mit seltener Einmütigkeit als Vierteilung des Beobachtungsraumes. Der Augur scheidet dabei sein Gesichtsfeld in vier Regionen, links und rechts, vorn und hinten, indem er mit seinem Krummstab 38

nadi den entsprechenden Seiten Linien in die Luft zieht18. Eine solche Teilung darf nur mit dem Krummstab vollzogen werden, sie hängt unabtrennbar an dem Amtszeichen der Auguren und kann eben deswegen nur in den Riten dieser Priester auftauchen. Magistraten ist eine solche Quadrierung ihres Beobachtungs­ feldes unmöglich, weil sie bei ihren Auspizien den quadrierenden lituus nicht führen13. Damit erhebt sich die Frage, wie denn der Beobachtungsraum geformt und gestaltet sei, innerhalb dessen der Augur nach den signa ausspäht. Sodann möchte man wissen, welchen Zweck dieses quadrierende Verfahren haben soll. Beginnen wir mit dem Beobachtungsraum, dem templum. Man wird sogleich in dem livianischen Bericht einen gewissen Wechsel des Ausdrucks bemerken: Numa steigt mit dem Augur auf die Burg, nach vollzogener Weihe steigt er vom templum herunter. Die Inauguration hat inzwischen den Ort in die sakrale Sphäre gerückt und zum templum gemacht. Unter dem templum wäre demnach zunächst die Beobachtungsstätte zu ver­ stehen, bei der Priesterweihe auf der arx also der offene Platz mit dem Stein, bei den magistralen Auspizien dagegen die jeweiligen loca in der Stadt, von denen aus die Beamten beobachteten. Soweit diese Orte nicht Gotteshäuser waren, grenzte man sie mit Brettern, Pfählen und Tüchern ab, wie es der drangvollen Enge zwischen den Häusern entsprach. Solche loca hießen templa minora im Gegensatz zu dem großen templum des Beobachtungsfeldes “. Von einer generel­ len Viereckigkeit solcher Orte, wie sie Nissen und nach ihm Wissowa angenom­ men haben“, kann keine Rede sein, zumal nicht auf der Burg, wo sich das auguraculum als offener Grasplatz mit Stein präsentiert. Wenden wir uns nun von den kleineren templa zu dem großen templum des Beobachtungsfeldes, so sehen wir uns einer ganz anderen Situation gegenüber. Die kritiklose Vermischung der Nachrichten hat zu den gewagtesten Konstruk­ tionen verleitet. Insbesondere führte die Festusnotiz „Das templum ist ein Ort... auf der einen Seite offen und mit den Ecken fest auf der Erde verankert" “, die doch lediglich die Beobachtungsstätte des templum minus meint, zu wirklichkeits­ fremden Theorien ohne anschauliche Unterlage. Da der Beobachtungsraum für die Blitzschau und Vogelsigna nichts anderes sein kann als der Himmel, so ver­ suchte man die Ecken des Festustemplums als Himmelsausschnitt zu begreifen1’. Wie die Auguren irgendwelche Marken des Vorder- oder auch Mittelgrundes der Landschaft praktisch in den bloßen, anhaltlosen Luftraum projizieren sollten, erklären diese Theroretiker nicht; die unplastische Intellektualität ihrer Schautempla überraschte sie wohl selbst. Wir lassen diese Theoreme auf sich beruhen und ziehen zur Erklärung des templum den livianischen Text heran, der zum Verständnis des Beobachtungs­ feldes fast alle notwendigen Angaben vermittelt. Man vergegenwärtige sich noch einmal die Situation: von der Höhe der Burg läßt der Augur seine Blicke über 39

Stadt und Land schweifen, er bestimmt „rechts" und „links" und merkt sich gegenüber den fernsten Punkt an, bis zu dem seine Augen noch reichen können. Diese Worte entscheiden, denn der fernste Punkt, den die Augen erreichen können, kann bei freier Sicht nur am Horizont liegen. Form und Gestalt des Beobachtungsraumes, nach dem wir oben gefragt haben, liegen damit fest: es ist das Himmelsgewölbe, eingeschlossen vom Gesichtskreis. Eben diesen Gesichts­ kreis quadriert der Augur mit dem Ritus des designare caeli spatia, wobei die spatia caeli nichts anderes vorstellen als die vier Viertel des gevierteilten Hori­ zontrundes. Die Festsetzung des „Punktes gegenüber", wie Livius sich ausdrückt, kann sich nur auf eine Marke im Osten des Horizonts beziehen, etwa einen Baum, eine Hügelkuppe, ein Gebäude oder was auch immer. Diese Marke visiert der Augur an und zieht in Gedanken eine Linie von dort zu seinem Standpunkt, die rechts (Süden) und links (Norden) scheidet. Zur Vervollständigung dieses vom Horizont ausgehenden Viererfächers gehören natürlich noch drei weitere Marken im Süden, Norden und Westen. Der livianische Bericht zu Numas Weihe gleitet dar­ über hinweg, allein in diese Lücke tritt nun die augurale Formel, mit der in arce das templum konstituiert wird. Livius deutet diesen Spruch des Priesters lediglich an, allein der unschätzbare Varro hat den Wortlaut notiert. Der Text, dem Norden wie Latte eine intensive Gedankenarbeit gewidmet haben”, besagt: Templa tescaque m(eae) f(ines) ita sunto quoad ego easte lingua nuncupavero, ollanor arbos quirquir est quam me sentio dixisse templum tescumque m(ea) f(inis) esto in sinistrum, ollabor arbos quirquir est quod me sentio dixisse templum tescumque m(ea) f(inis) esto dextrum, inter ea (s fines) conregione, conspicione, cortumione utique ea(s fin)e(s) rectissime sensi”.

Meine Grenzmarken für die templa und tesca sollen so sein, Wie ich sie benennen werde. Jener Baum dort, dessen Ort ich zwar nicht genau angeben kann, den ich aber ganz genau im Sinne habe, Soll meine Grenzmarke für das linke templum und tescum sein. Jener Baum da, dessen Ort ich zwar nicht genau angeben kann, den ich aber ganz genau im Sinne habe, Soll meine Grenzmarke für das rechte templum und tescum sein. Zwischen diesen Grenzmarken (habe ich die templa und tesca festgestellt) durch Visieren, Ins-Auge-fassen und gedankliche Abgrenzung, Wie ich diese Grenzmarken genau im Sinne gehabt habe”. 40

Wir dürfen die meisterhafte Analyse der sprachlichen Patina durch Norden übergehen — archaische Wörter wie tescum, ollaner, ollaber, quirquir, cortumio stehen neben jungen Flexionsformen und Schreibungen wie lingua, sunto, dixisse, rectissime21 — wichtig bleibt für unseren Gedankengang vor allem Nordens Einblick in das Wesen, in den Charakter der Formel. Der Spruch steckt voller deiktischer Elemente: der weisende, deutende, zeigende Finger ist überall erkennbar. Die verschiedensten Zeigearten tauchen auf, im Lateinischen sorgsam getrennt: im Vorspruch easte „die da" (sc. fines), die „Du-Deixis", wie Norden sie nennt, der Hinweis auf das dem Sprecher Gegen­ überstehende; im Spruch selbst ollaber-ollaner „jener hüben", „jener drüben" (sc. arbor), die „Jener-Deixis", die Beziehung auf das im Raum weiter Zurück­ liegende; im Nachspruch inter ea(s) „zwischen diesen", ein indifferenter Hinweis auf das dem Sprecher nicht unmittelbar Zunächstliegende Gerade die Silbe -ner (ollaner) eröffnet Aussichten auf altertümliche Raumeindrücke, die ihrerseits in eine religiöse Begriffswelt hineinragen. Lokale terrestrische Verhältnisse hält Norden für die Wesensart der Formel und finis für ihr Zentralwort2’. Durch das schwierige cortumione verführt, glaubt sich Norden trotzdem im Bereich geistiger, gedanklicher Operationen24. Tatsächlich jedoch weilt der Augur im Bereich des Gesichtssinnes. Das Auge bestimmt die Wortwahl seines Spruches: er sieht, visiert, peilt und überblickt die Regionen, deren Zentralpunkt er selber ist. Die Höhenlage des Burgauguraculums bildet den landschaftlichen Hintergrund der sprachlichen Struktur: Himmelsnähe, freie Sicht, offener Hori­ zont kennzeichnen Formel und Ort. Von hier aus wird jene Bestimmung des Auguralrechtes begreiflich, derzufolge hohe Gebäude in der Stadt beseitigt werden mußten, falls sie den Horizont ver­ deckten und dadurch die Auspizien auf der Burg behinderten. So befahlen um 90 ante die Auguren dem Tiberius Claudius Centumalus, seine Mietskasernen auf dem Caelius abzubrechen, weil sie die Sicht verstellten. Ohne viel Worte und klug verkaufte Claudius seine Häuser weiter; der neue Besitzer erfuhr zu spät den Befehl der Auguren und mußte nun den Schaden tragen, da die Priester auf ihrer Anordnung bestanden25. Wie sehr der Gesichtssinn, das Umherblicken vom erhöhten Standpunkt den Spruch beherrscht, beweist das Zentralwort finis. Hier danken wir Latte einen echten Fortschritt über Norden hinaus. Varro fügt nämlich seiner Formel einen kommentierenden Satz an: in hoc templo faciundo arbores constitui fines apparet et intra eas regiones qua oculi conspiciant. Latte bessert in diesem Satz grundlegend. Fines bedeute nicht, wie Norden wolle, „Grenze", sondern „Grenzmarke", und die fines würden keinesfalls durch anaphorisches eas regiones aufgenommen, vielmehr bezöge sich eas auf fines, das Varro und andere auch weiblich gebrauchten. Es müsse also heißen: „Es ist klar, daß bei der Konstituierung dieses templums die Bäume zu Grenzmarken

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gemacht werden, und innerhalb dieser Grenzmarken werden Regionen bestimmt, wo die Augen Ausschau halten sollen" Da diese Interpretation der fines als „Grenzmarken", d. h. als Punkte, allein dem Sachverhalt entspricht — niemand wird einen Baum als Grenze, d. h. als Grenzlinie, jeder aber einen Baum als Punkt im Gelände auffassen —, so läßt sich der Inhalt der Formel klarstellen. Dieser Spruch will die Grenzen der Him­ melsquadranten festlegen. Der Augur bestimmt je einen Baum am linken und rechten Horizont als Zielpunkt seiner Blicke, er visiert diese Geländemarken an und zieht so jene Linien nach Nord und Süd, die Livius nicht nennt. Die varronische Formel ergänzt also die Designation der vier caeli spatia zu den zwei Quadranten der regio antica sinistra und dextra. Die rückwärts liegenden Viertel bleiben im Bereich der Gedanken, da sie den Augen nicht erreichbar sind. Das

singularische templum tescumque der Formel meint einen Quadranten, die plura­ lischen templa tescaque in der Einleitung aber meinen die gesamte Fläche innerhalb des viergeteilten Gesichtskreises27 (Abb. 7). Faßt man den Auguralspruch als abgrenzenden Visierakt, so erklären sich auch die schwierigen alliterierenden Ausdrücke des Schlußsatzes: conregione, conspi­ cione, cortumione. Diese Wörter sind sämtlich vom Akt des Visierens und Peilens zu begreifen. Zu conregione vergleiche man Verrius bei Festus28 e regione „gerade gegenüber" sowie das Verbum conregere, corrigere „gerade richten, in gerade Richtung bringen"; zu conspicione das conspicere „ins Auge fassen"; zu cortu­ mione die varronische Herleitung von cor, die Hofman als „die in Gedanken vorgenommene Bestimmung des äußersten Beobachtungspunktes" ansieht2’. Die Wortwahl treibt unablässig auf eine visierende Grenzziehung hin: von den Kardinalpunkten des Horizonts laufen die Linien auf den Standort des Augurs zu, Erde und Himmel in Quadranten zerlegend.

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Genau so hat die Situation unsere Hauptautorität Varro interpretiert: „Der Himmel heißt templum, und die vier Teile dieses templum heißen links von Osten, rechts von Westen, vorne nach Süden, hinten nach Norden"30, und noch einmal ganz allgemein ohne die soeben angewandte Südrichtung: „Die Auguren grenzen die Räume mit dem lituus ab und geben ihnen Namen; den ersten Teil nennen sie vom, den folgenden hinten, und ebenso benennen sie rechts und links"31. So greifen der livianische Bericht, die Auguralformel und der Ritus des designare caeli spatia aufs festeste ineinander, eine Rekonstruktion des auguralen Aktes ermöglichend (Abb. 7). Mit der Rekonstruktion der auguralen Schautempla sind wir bei der abschlie­ ßenden Frage nach dem Zweck des Verfahrens angelangt. Welchen Sinn hatte es, wenn der Augur die vor ihm liegende Hälfte des Gesichtskreises durch Horizont­ marken unterteilte? Nun, eine solche Absteckung war unbedingt notwendig, sobald die beobachteten Himmelssigna und sonstigen Zeichen nicht eindeutig rechts oder links auftauchten, sondern in jener Zwischenzone, wo die Quadranten aneinandergrenzten. Solange Blitze halbrechts oder halblinks aufzuckten, und Vögel mit Wendungen des Kopfes beobachtet werden konnten, bedurfte es keiner Interpretation: Jupiters Wille war klar. Allein zur Beurteilung von Signa, die in gerader Richtung vor dem Beobachter erschienen, gehörte eine genaue Grenz­ linie, die scharf rechts und links voneinander schied. Das designare caeli spatia bedeutet mithin keinen mehr oder minder über­ flüssigen Zusatz, der Ritus hängt vielmehr unabdingbar an der römischen Methode, den Willen der Götter zu erkunden. Ob Jupiters fatum günstig oder ungünstig fällt, eben dieses verknüpft sich mit der Trennung von rechts und links, d. h. mit der Teilung des Gesichtskreises durch Visierlinien. Wie selbstverständlich die Überlieferung die quadrierende Methode in das augurale Verfahren einbezieht, belegen noch verschiedene Einzelheiten. Wie bereits gesagt, kann das Beobachtungskreuz nur mit dem Krummstab gezogen werden, und auf dieser Koppelung beruht ohne Zweifel die Sitte, an der Krüm­ mung des lituus ein kleines Blechkreuz zu befestigen3i. Diese stella darf geradezu als Bestimmungszeichen des Krummstabs gelten; sie verweist auf seine spezielle Aufgabe, die nur ihm, keinem anderen Gerät zusteht. Wieder tritt hier das figürliche Moment der Tradition her­ vor, denn die Verbindung von stella und lituus rührt vom bildlichen Aspekt des auguralen Ritus her, von sonst nichts. Wahrscheinlich gelten auch die inaugurierten Lokale, die templa minora, als „gekreuzte" Orte, denn Festus berichtet nach der Autorität des Augur P. Servilius, man habe an inaugurierten 8 Bronzekreuz vom Äskulap­ Plätzen eine stella aus Bronzeblech angeheftet33. tempel in Lambaesis

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Ebenso gehört hierher die verwunderte Frage des Feldmessers Dolabella, wie denn eigentlich das christliche Kreuz auf die Schwelle der Heidentempel komme?’4 Der Fund des Bronzekreuzchens am Äskulaptempel in Lambaesis vermittelt die Form eines solchen Sternchens: es besaß die Gestalt eines Rechtkreuzes mit den Aufschriften antica-postica” (Abb. 8). Fassen wir zusammen. Im auguralen Designationsritus erscheint das gleiche Instrumentarium wie bei der Limitation. In beiden Bezirken beobachten wir die Entwicklung des Systems von einem Nullpunkt aus, die Quadrierung des um­ gebenden Feldes, die Übertragung der Visierlinien in die Landschaft durch Mar­ ken. Es soll keiner Abhängigkeit das Wort geredet werden, jedoch bleibt die Verwandtschaft der Grundlagen auffällig genug, nicht zuletzt der Wechsel zwischen östlichem und südlichem Zielpunkt, der nicht nur die Limitation, son­ dern auch den Designationsakt kennzeichnet. Der Augur bestimmt nämlich in jedem Falle, was „rechts" und was „links", „vorne" und „hinten" sein soll. Bei Livius steht er mit dem Gesicht nach Osten, auch die späteren Gromatiker bezeugen diese Richtung. Varro und Festus sprechen dagegen vom Süden als auguraler Richtung”. Es kommen also unabhängig von­ einander beide Wendungen vor, ähnlich der republikanischen Limitation, für die gerade diese beiden Zielpunkte als altitalisch anzusehen sind. Es hat sich eingebürgert, den Vergleich der Meßkunst mit der auguralen Designation als unzulässige Einmengung der Limitationsbegriffe abzuweisen”. Besonders Weinstock, dessen überscharfe Analysen in der Nachfolge eines miß­ verstandenen Wissowa sonst auf Bedenken gestoßen sind”, hat mit seiner Argu­ mentation von der Terminologie her einen gewissen Eindruck gemacht. Er meint, das templum kenne weder kardo noch decumanus, die Agrimensoren hinwieder wüßten nichts vom templum ”. Falls man sich an diese Fachbezeichnungen klammert, wäre nichts zu erinnern, aber schon mit dem Begriffspaar antica-postica gerät die Weinstocksche These ins Wanken. Diese femininen Substantive sind nämlich einmal Ausdrücke des auguralen Ritus, gut bezeugt von Varro und Festus als auguraler Süden und auguraler Norden40, sodann aber auch Fachwörter der Feldmesser, bei denen antica linea die Nordsüdlinie, postica linea die Ostwestlinie bezeichnet41. Aber selbst dessen ungeachtet bedarf es schon einer gewissen Blindheit gegen­ über figürlichen Momenten der Überlieferung, um die sachlich-inhaltliche Ver­ wandtschaft zu übersehen. Die Geburt beider Systeme aus einem Nabelpunkt, ihre Entfaltung zu einem viergliederigen Fächer, ihre Wendung nach Osten und Süden sind durchaus singulär und deuten auf alte Verbindungen zwischen augu­ raler und gromatischer Technik. Damit rückt die vordergründig überlieferte Meßkunst in größere zeitliche Tiefe, denn dem auguralen Ritus in arce kommt ein sehr hohes Alter zu wie so vielen Altertümlichkeiten der römischen Burg4’. Welche Verbindungen im einzelnen zwischen Limitation und Auguralien laufen, ob der Feldmesser nach dem Vorbild des stadtgründenden und augurie44

renden Romulus eine Art Nachfolger des Augur repräsentiert, bleibe dahingestellt. Doch können die Prinzipien der Meßkunst nicht unabhängig sein vom Designa­ tionsakt; eine derartige Übereinstimmung steht außerhalb des Zufalls. Diese wurzelhafte Verflechtung muß bei der Frage nach der Herkunft des vier­ geteilten Kreises berücksichtigt werden. Man erinnere sich der Feldmesserzeich­ nungen zum Erdkreis: wo die Gromatiker die kosmologischen Unterlagen ihres Handwerks berühren, bilden sie eine kreisförmige terra ab mit den vier Kar­ dinallinien als Teilern. An dieser Stelle hakt die augurale Überlieferung ein und legt den Ursprung dieses Weltbildes frei, mit aller Schärfe auf das sinnlich­ optische Vorbild solcher Kosmologie weisend. Denn die natürliche Wirklichkeit, die dem vorastronomischen Menschen geradezu zwanghaft einen Weltring, eine kreisförmige Weltscheibe aufdrängt, ist der Horizont. Er begrenzt die Erdfläche im Zirkel und heißt nicht umsonst Gesichtskreis, finalis circulus (Macrob. Comm. in sommium Scip. V 9). Eben dieses, fast jede primitive Kosmologie energisch anregende Element tritt im römischen Auguralritus bedeutsam hervor; die Linie, bis zu der die Augen reichen können, und der Horizont, den die Grenzmarken gliedern, sind das Um und Auf des auguralen Beobachtungsfeldes. Dieses quadrierte augurale templum bleibt nicht nur aufs engste verschwistert mit der viergeteilten terra, es verkörpert darüber hinaus jenes Grundphänomen, dem das römische Weltbild entflossen ist und dessen Anwendung deshalb in alte Zeit zurückreichen muß. Neben diesem Urphänomen des Horizonts als Grenze erscheint in der Mitte ein ebenso urtümliches signum: der unter freiem Himmel liegende Stein. Er dient nach Livius als Sitz des Augurs, er markiert also den Mittelpunkt des Desi­ gnationsfeldes. Bei ihm stoßen die Viertel von rechts und links, vome und hinten zusammen, von ihm laufen die vier Grenzlinien zu den Kardinalpunkten des Horizonts. Die gleiche megalithische Quadrierung wird uns noch in Nordeuropa begegnen. Ihr Gebrauch in arce bis in die Epoche schriftlicher Urkunden hinein war wohl nur im konservativen Rom möglich.

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4- Zur Herkunft der römischen Viererstadt

Überfliegt man die Bemerkungen der antiken Autoren zum Stadtgründungs­ ritual und zur Limitation, so stößt man auf die ständig wiederholte Behauptung des etruskischen Ursprunges dieser Dinge. Varro beginnt seine Schilderung des Urvarezeremoniells mit dem Satz, dieses in Latium gebräuchliche Verfahren entstamme etruskischer Sitte. Der Gründer umpflüge dabei das Stadtareal mit einer Furche, wobei Stier und Kuh eine bronzene Pflugschar zögen. Der Conditor umführe das vorbestimmte Gebiet mit verhülltem Haupte, der Stier schritte rechts, die Kuh links, die aufgeworfene Erde fiele nach innen, die Furche bliebe auf der Außenseite der Schollen. An den Torstellen werde der Pflug gehoben und über die vorgesehene Öffnung hinweggetragen. Die Schollen hätten den künftigen Mauerring zu vertreten, die Furche oder der sulcus primigenius aber den Graben1 (Tafel 4b). Varro hat nicht nur den Urvareritus aus Etrurien abgeleitet, sondern auch das kosmologische Vorbild der Limitation von dort hergeholt, denn die Feldmesser bezeugen, die etruskischen Haruspizes hätten die Erde in vier Teile geteilt, rechts und links, vorwärts und rückwärts, „wie Varro sagt"2. Dieser varronischen Annahme steht eine andere, ältere Theorie gegenüber, die nichts von einem etruskischen Ursprung des Gründungsbrauchtums weiß. So schildert Cato in seinen Origines den gleichen Umpflügungsritus mit rechtem Stier und linker Kuh als gut römisch. Wo er Herkunftsangaben macht, da spricht er von Gabinischem Brauch, und Gabii ist eine latinische Stadt, von der man viele römische Zeremonialien herleitete und die als Erziehungsstätte des Romulus galt’. Wie diese Differenz etruskisch-römisch zu durchleuchten ist, bleibt noch zu erörtern. Die damalige Neigung zu etruskischen Ableitungen — von Varros Auto­ rität mächtig beflügelt — erfreut sich noch heute großer Beliebtheit, zumal als paßliche Brücke zum vorderen Orient hethitischer und babylonischer Prägung. Wie sehr bei dieser Ausweitung das Kömehen Wahrheit in der Etruskerhypothese verlorenging, zeigt schon der flüchtigste Überblick über die moderne Argu­ mentation. Sucht Kornemann die italische Städtegeburt noch in Etrurien4, so leitet Hesselmeyer, kaum daß er die weltanschauliche Grundlage erkannt hat, die römische Limitation schon aus dem Zweistromland ab, die Etrusker nur noch als Transporteur benutzend“. Er geht — dem Straßenkreuz nachspürend — von der 46

chaldäischen Himmelskunde aus, von der frühzeitigen Beobachtung der Sonnen­ präzession, der Verschiebung des Frühlingspunktes durch epochenlange Zeiträume. Die Sonne sei zum Frühlingsäquinox von 4300 bis 2200 ante im Sternbild des Stiers aufgegangen — hier läßt sich passend das Rinderritual anbringen—, von 2200 bis 100 ante im Sternbild des Widder, und dieses Vorrücken durch je 2100 Jahre sei den Chaldäern eine vertraute Tatsache gewesen. Mit den siderischen Epochen wechsele nun — immer nach Hesselmeyer — die sakrale Richtung. Sie ziele im Zeitalter des Stiers nach Norden auf den Sitz Anus, des sumerischen Jupiter, schwenke im Zeitalter des Widder nach Osten, in die Richtung des neuen Reichsgottes Marduk, den die gegen 2300 in Babylonien einbrechenden Elamiter mitgebracht hätten. Um 2200 ante sei also in der Fuge der beiden astronomischen Weltalter ein Wechsel des sakralen Zielpunktes er­ folgt, und die Ablösung des kardo durch den decumanus in der Gromatik der Römer — so werden wir belehrt — entpuppe sich als chaldäisches Lehngut. „Ein weiter Sprung", meint Hesselmeyer selbst. Die abenteuerliche Luftigkeit seines Gebäudes bedenkend, versucht er nun — stellvertretend für gesinnungs­ verwandte Theoretiker — eine ganze Woge babylonischer Einflüsse auf die Antike glaubhaft zu machen. Er nennt das Münzwesen, das nach Mommsen und Lehmann-Haupt babylonische Grundlagen habe, die Astronomie mit ihrer kos­ mischen Quadrierung, Leber- und Vogelschau sowie die Limitationstechnik. Daß ein solches Strukturfeld sich über einen Mittler zu einer anderen ethnischen Einheit verschoben haben soll, ohne den Zusammenhang zu verlieren, ist von vomeherein unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher wird diese Konstruktion einer babylonischen Kulturschwemme durch die weltweite Verbreitung ihrer Elemente bis hinein in die entlegensten Säume der Oikumene, sofern man nicht Panbabylonismen nachjagen will“. Wir wenden uns sogleich unserer Quadrie­ rung zu. Hier genügt es auch Domseiff, unter lebhafter Zustimmung Herters, die Ver­ koppelung des Weltbildes mit den vier Himmelsrichtungen festzustellen, um „mit Händen zu greifen, daß das etruskische Sakralwesen altorientalisch ist, denn ein Weltbild bzw. ein Himmelskreis, innerhalb dessen die vier Himmelsrichtungen das Wichtigste sind, haben wir assyrisch, altsyrisch, wie auch in der iranisch beeinflußten Apokalyptik"7. Überschlägt man, in wieviel Kulturen viergeteilte Erdbilder gedacht worden sind — bei Azteken und Peruanern z. B., um einige der abseitigsten zu nennen —, so verliert dieses Argument an Beweiskraft. Da zudem Kardinalpunkterdbilder auch bei den Kelten und Germanen auftauchen, engen Sprachverwandten der Latiner, so wäre zunächst zu überlegen, ob dem latinischen Stamme die gevier­ teilte terra nicht aus indogermanischem Erbe überkommen ist. Für eine solche Annahme spricht die Primitivität dieser Weltschau. Unsere Analyse der Auguraltechnik hat ergeben, daß der viergeteilte Ring eine sinnfällige Tatsache spiegelt: den Horizont mit den Kardinalpunkten. Liest 47

man bei Plinius, mit welch' rohen Mitteln der italische Landmann die Himmels­ richtungen im Gesichtskreis festlegt, vom Mittagsschatten seines eigenen Körpers ausgehend, mit einer Hacke längs des Schattens eine nordsüdliche Furche auf­ reißend, mit einer zweiten Furche senkrecht dazu Osten und Westen verbindend“, so fragt man sich, was hier eigentlich die chaldäische Himmelskunde soll. Zwi­ schen Aufwand und Ergebnis besteht ein Mißverhältnis; für derart primitive Verfahren braucht man die Chaldäer nicht zu bemühen. Ihre hochentwickelte, mit langen Beobachtungsreihen operierende Astronomie verkörpert astrologische Mathematik, wohingegen die quadrierte terra der Römer sinnliche Tatsachen abklatscht, die jedem Auge erkennbar sind: den Hori­ zont und den eigenen Schatten. Zu ihrer Beobachtung bedarf es nicht der Rechen­ künste des Zweistromlandes; sie stehen vielmehr noch optischen Tatsachen nahe, und eben dieser sinnlichen Qualität verdankt das Bild der gevierteilten Erde seine Verbreitung in aller Welt.. Nun glaubt aber Hesselmeyer, doch ein Beweisstück für die Herkunft des römischen Limitationskreuzes aus Babylonien in der Hand zu haben, den Schach­ brettplan nämlich der etruskischen Stadt Marzabotto. In Marzabotto erblickt er eine Etappe zwischen altorientalischen Anlagen wie Kujundschik und den römischen Coloniae“. Allein gerade dieser Beleg wendet unseren Blick in eine ganz andere Richtung. Marzabotto stammt aus dem 6. Jahrhundert ante und liegt außerhalb des etrus­ kischen Kerngebietes, nördlich des Appennin zwischen Felsina und Fiesoie. Inner­ halb des nicht orientierten Stadtgebietes sind ein kardo und drei decumani ergraben, alle zu 15 m Breite10. Es fehlt also das ordnende Prinzip des Straßen­ kreuzes, so typisch für die römische Vermessung. Die Planmathematik Marzabottos erhebt sich keineswegs über die hippodamische Technik, deren charakter­ lose Raster ja auch keine Vierteilung kennen. Dazu kommt noch, daß Marzabotto keinesfalls eine typische Regel etruskischer Stadtauslage vertritt. Nach den antiken Nachrichten unterliegen nämlich die etruskischen Siedlungen einem Dreier­ rhythmus mit drei Toren und drei Tempeln11, was sich noch schwerer mit dem römischen Viererfächer vereinigen läßt als die ungesteuerten Rechtecke Marzabottos. Auch die irregulären, dem Gelände folgenden Maueringe der Etruskerstädte geben für eine Regellage nichts her, sie entziehen sich jeder Deutung als mathe­ matisches Element und werden nichts anderes umschlossen haben als ein Gassen­ gewirre. Da zur inneren Einteilung der etruskischen Anlagen alle antiken Nachrichten fehlen, so bleiben wir auf die archäologischen Tatsachen angewiesen, und diese gestatten keine andere Interpretation. Angesichts solcher Situation im kernetruskischen Bereich könnte man Marza­ botto mit Schweigen übergehen, allein hier kommen noch andere Beziehungen ins Spiel, die solche Anlagen nun zwar nicht mit römischen Coloniae, aber doch mit den erwähnten babylonischen Mustern vom Typ Kujundschik und mit den 48

berühmten Städten der Mohenjo-Daro-Zivilisation am Indus zusammenreihen. Der formlose, architektonisch ungeordnete und wenigstens äußerlich von keinem höheren Gesichtspunkt beeinflußte Schachbrettplan, wie er sich viel später auch in den hippodamischen Rissen durchsetzte, erscheint in Marzabotto so gut wie in Kujundschik und Harappa. Es wird sich zeigen, daß diese Pläne der altmittelmeerischen Kultur angehören und trotz der chronologischen Differenzen typolo­ gisch auf einer Stufe stehen. Um zum Schlüsse zu kommen: auf dem Umwege über Marzabotto dürfte das römische Limitationskreuz keinen babylonischen Stammbaum erhalten. Schon diese Andeutungen verraten, mit welchen Schwierigkeiten die bespro­ chenen babylonischen Theorien belastet sind. Doch erst die Einzelanalyse ver­ deutlicht das Ausmaß von Hemmnissen, die schier allen babylonischen Ahnen­ reihen entgegenstehen. Dann wird sich ergeben, wie kompliziert die Verhältnisse in Wirklichkeit liegen, weit komplizierter als jene Vereinfachungen vermuten lassen, die nur sub specie aeternitatis leidlich erscheinen. Um nicht im allgemeinen zu bleiben, möchte ich an der Lituustheorie darlegen, welche sachlichen und methodischen Überlegungen die Wege in das babylonische Hinterland sperren. Die landläufige Ansicht über die Herkunft des auguralen Krummstabes findet sich bei Focke und Messerschmidtll. Das römische Gerät, so heißt es da, sei von den Etruskern übernommen, da der Krummstab dort bis ins 6. Jahrhundert ante nachweisbar. Jedoch stelle der etruskische lituus nur einen Ausläufer des riesigen morgenländischen Verbreitungsgebietes dar. Schon die Bronzestatuette des Zeus Lykaios mit dem Krummstab in der Rechten deute auf ein vorgriechisches, alt­ mediterranes oder orientalisches Überbleibsel, das über die Hethiter wohl letzten Endes aus Babylonien vermittelt sei im Zuge „einer Wanderung religiöser Symbole von Osten nach Westen"ls. Dazu wäre folgendes zu sagen. Selbst wenn man mit Focke den keltisch­ irischen Cambutta als langstieligen Hirtenstab femhält, so bleibt doch der alt­ preußische Krummstab eine um so auffälligere Urkunde, als er dort im Instru­ mentarium der Vogelschauer auftaucht14. Diese Parallele zum römischen Brauch deutet auf indogermanische Grundlagen, nicht auf vorderasiatische. Auch Norden, dem die Nachricht aus zweiter Hand zukam, findet sie „merkwürdig", ergänzt allerdings das Zitat mit der ungewohnt leichtsinnigen Bemerkung „was ich nicht las"15. Dieser altpreußische Beleg führt nun auf einen methodischen Fehlgriff, dessen Anwendung jede kritische Analyse verhindert; wir meinen die Vernachlässigung des „Kontextes". Krummstab ist unseren Methodikern gleich Krummstab, sofern nur die äußere Form übereinstimmt. In welchem Zusammenhang das Gerät er­ scheint, wird nicht beachtet, wichtig ist dieser Art von Methode allein das einzelne Stüde ohne seinen Hintergrund. Wie weit dagegen in Wirklichkeit die Krummstäbe auseinanderstehen, belegt sogleich eine Wendung des Verfahrens. Sobald man nämlich das Strukturfeld 49

berücksichtigt, das allein diesen Geräten Sinn und Bedeutung verleiht, wird klar, wie wenig römische und etruskische Stäbe miteinander zu schaffen haben und wie eng altpreußische und römische litui aneinanderrücken. Im Altpreußischen und Römischen existiert der lituus nur innerhalb der Vogelschau und des Auguralwesens, im Etruskischen hingegen gehört er aus­ schließlich zum Totenkult, und da Augurien und Totenkult in wesensverschie­ denen Bereichen leben, so kann es auch zwischen den beiderseitigen Gerätesätzen keine Beziehungen geben. Von den römischen Gemmen strengen Stils und den republikanischen Denaren bis zu den kaiserzeitlichen Münzen erblicken wir den lituus durchweg als Amts­ abzeichen von Auguren oder Personen höchsten Ranges, die dieses signum legitimieren soll1’. Ebenso unmißverständlich sprechen die etruskischen Denk­ mäler, die im 6. Jahrhundert mit dem runden Cippus von Perugia einsetzen. Die Trauerversammlung um das Lager des Toten mit gesenkten Krummstäben, die Prozession zur Verbrennungsstätte des Leichnams, untermischt mit Krumm­ stabträgem, oder einzelne Lituusfiguren — solche Themen schlagen die etruski­ schen Grabbilder oft an”. Auch die bekannte Farbenmalerei aus Tarquinii mit dem „Augurn" schmückt die Wände eines Grabesle. Außerhalb derTotensymbolik kennen wir in Etrurien nur wenige Stücke, deren Zuordnung zudem zweifelhaft ist1’. Die Herauslösung des lituus aus seinem Kontext, die isolierende Interpretation der Belege verschleiert die Differenz zwischen Römisch und Etruskisch. Die anti­ ken Antiquare hatten für die hier verborgenen Unterschiede noch einen sicheren Blick: Krummstab wie Auguralwesen galten als urlatinisch, und die römische Augurallehre wurde aufs sorgfältigste von der etruskischen geschieden“. Für den ersten und besten Augur hielt man Romulus, und Romulus wuchs nicht in einer etruskischen Stadt heran, sondern im latinischen Gabii. Nach der Überlieferung glichen die gabinischen Auspizien den römischen völlig; gabinisch schürzte der Augur seine Toga, und unter den fünf Landklassen des augurischen Rechts gab es neben der römischen, fremden, feindlichen und unbestimmten auch eine gabinische Klasse. Angesichts einer solchen Verwurze­ lung im römischen Boden nimmt es nicht Wunder, wenn die Antiquare in der etruskischen Auguraldisziplin eine jüngere, erweiterte Auflage des römischen Auguralwesens erblickten*1. Weit entfernt davon, den lituus mit seinem Drum und Dran aus der Fremde herzuleiten, nahmen die Altertumskundigen diesen Komplex als urrömischen Besitz in Anspruch, und die Sprachforschung stützt diese Annahme insofern, als sie für das Wort lituus etruskische Herkunft aus­ schließt“. Die gesamte Lituustradition verrät — um zu unserem Ausgangspunkt zurück­ zukehren — welch ungleiches Gewicht die babylonischen Ableitungen für Rom besitzen. Gräbt man tiefer, so stößt man nur zu oft auf eine gesamtitalische Ver­ wandtschaft, und alles Bemühen, den eigenwilligen römischen Wuchs von seinem 50

indogermanischen Mutterboden abzuschneiden, nützt den babylonischen Theore­ men wenig oder nichts. Fragt man, was eigentlich diesen einseitigen Blickwinkel verursacht hat, so zeigt sich alsbald ein Flechtwerk unbewußter Voreingenommenheiten. Der babylonische Ansatz arbeitet mit der Voraussetzung, die älteste erhaltene Beur­ kundung einer Sache sei identisch mit ihrem absoluten Alter. Da das Zweistrom­ land die ersten Belege für zahlreiche Kulturelemente hergäbe, so stammten sie eben dorther. Dabei wird die Zufälligkeit unserer schriftlichen Nachrichten übersehen; ihre Abhängigkeit von den klimatischen Bedingungen — in den südlichen Stromlandkulturen so unerhört günstig — nicht genügend in Rechnung gestellt; ihre punkthafte Streuung im Gegensatz zu riesenhaften schriftlosen Kontinentalmassen überbewertet. Am Grunde aber dieser Einschätzung lauert nicht nur die Ehrfurcht vor dem schriftlichen Zeugnis überhaupt, sondern auch die Faszination durch eine gewaltige, in Stein und Ziegel gearbeitete, monumen­ tale Hinterlassenschaft. Schließlich wirkt noch bei solchen Aspekten der Wunsch mit, großräumig zu denken und nach länderweiten Bezügen zu suchen. Dieser Wunsch ist verständ­ lich, seitdem uns die historisch orientierte Ethnologie die Angst vor den Entfer­ nungen genommen und in Erdteilen zu sehen gelehrt hat. Gerade ihre Sicht führt jedoch in andere Bereiche als babylonische, was sich bei den ethnologischen „Pa­ rallelen" noch zeigen wird. Lassen wir diese weltweiten Bezüge zunächst auf sich beruhen und suchen wir vorerst in der Nachbarschaft der Latino-Falisker, so bieten sich die indogermani­ schen Verwandten als wichtigste Urkundenträger an. Die Belege aus dem keltisch­ germanischen Bereich verraten, daß die quadrierte terra und ihr Abbild im Stadtplan tatsächlich als indogermanisches Erbgut nach Altitalien kam, keines­ wegs aber via Etrurien aus Babylonien. Diesen Anlagen Nordeuropas wollen wir uns jetzt zuwenden, ohne uns stören zu lassen durch die Versetzung auf eine andere, jüngere Stufe: das Mittelalter.

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B. GERMANISCH : DAS HIMMLISCHE JERUSALEM

5. Mittelalterliche Idealstadt und staufische Kreuzwegsiedlung „Jerusalem ist der Nabel der Welt, die königliche Stadt, in der Mitte des Erd­ kreises gelegen", rief Urban II. den in Clermont Versammelten zu, als er im November 1095 zum Kreuzzug aufforderte. Der Mönch Robert von Reims, der diesen Satz aus der Ansprache des Papstes überliefert1, stand selbst unter der ergriffenen und begeisterten Menschenmenge auf dem Platz vor dem Osttor der Stadt, um den Worten des Oberhauptes der Christenheit zu lauschen. Mag er diese Wendung auf eigene Faust seinem Bericht eingefügt haben — alle Chroni­ sten dieser weltgeschichtlichen Rede schmücken jene Stellen aus, die ihnen wichtig erscheinen —, ohne Zweifel benutzt Robert hier ein Bild, das in der Folgezeit, getragen von der Kreuzzugsbewegung, eine gewaltige Popularität erlangen sollte. Die Vorstellung von Jerusalem als dem Nabel der Welt war den literarisch Gebildeten seit langem geläufig. Abt Adamnanus von Iona begründet bereits im 7. Jahrhundert diese Metapher mathematisch-geographisch: mitten in Jerusalem stehe eine hohe Säule, die bei Sommersonnenwende keinen Schatten werfe, woher man glaube, daß dort die Mitte der Erde sei2. Hieronymus arbeitet in seinem Ezechielkommentar mit Spekulationen über Ez 5,5 und Ps 74,12, um die Zentral­ lage der Stadt zu verdeutlichen ’, und noch weiter zurück reicht eine vorbereitende Bemerkung des Josephus, Jerusalem liege genau in der Mitte Judäas und hieße der Nabel des Landes *. Mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts gewinnt diese Kosmologie an Kraft und Tiefe. Von Jerusalem als „Christi Erbgut und Stammburg", als „Herz der Welt", als dem Ort, „wo die Füße des Herrn standen", hallt das ganze Spätmittelalter wieder’, unablässig die Anschauung von der heiligen Stadt als dem Zentrum der Welt erneuernd. Welche populären Wunderlichkeiten sich an dieses Bild knüpfen, verraten einzelne Pilgerberichte: ein Ring umgebe das Grab des Hei­ landes, und dieser Ring liege in der Mitte der Welt, wie der Herr selbst gesagt habe’. Und wenn Fulcher von Chartres, der Kaplan Balduins von Niederlothringen, des späteren zweiten Königs von Jerusalem, die Stadt zunächst zum umbili­ cus des heiligen Landes macht im Anschluß an Josephus, so gibt es doch

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späterhin keinen Zweifel mehr an der Ausweitung dieses Gedankens auf den Kosmos. „Zo dem ersten licht Jherusalem mitten in dem heiligen lande und licht ouch mitz in der werelt, as man hie spricht", schreibt um 1350 ein Kölner, nach langem Aufenthalt im Morgenlande seinen Reisebericht abfassend7. Man kann die Heraufkunft dieses religiös zentrierten Weltbildes auch karto­ graphisch verfolgen. Bereits einer der Kopisten der mappae mundi des Beatus im 13. Jahrhundert verlegt Jerusalem in die Mitte seines Blattes8, und die großen Weltkarten derselben Zeit — nicht in Kodizes eingezeichnete Pläne, sondern in Rollenform gehaltene Tafeln — folgen diesem Vorgang mit Selbstverständlich­ keit. So setzt die Karte von Hereford (Ostwales), eine Schöpfung des Archidiakon Robert von Bello zwischen 1276 und 1283, Jerusalem genau in den Mittelpunkt des Weltrunds auf die Nahtstelle der Erdteile Europa, Afrika und Asien, und ebenso verfährt der Zeichner der Ebstorfer Karte, der um 1284 zu Lüneburg seine geographischen Vorstellungen in einem riesenhaften Rollplan von 3.58 X 3.56 m zusammenfaßte ’. Vorbereitet und gestützt wird diese gotische Kosmologie nicht nur von der besonderen seelischen Situation der Kreuzzugsepoche, sondern auch von tief­ wirkenden Ideen, die sich an das „himmlische Jerusalem" anschließen. Das 21. Kapitel der Offenbarung Johannis mit seiner Vision der Idealstadt, des vom Himmel herabfahrenden neuen Jerusalem, das die Herrlichkeit des Herrn er­ leuchtet und das weder Mond noch Sonne nötig hat, beflügelt die Phantasie ebenso wie das Reiseziel der Kreuzfahrer im fernen Morgenlande. Das himmlische und das irdische Ideal gehen in der Gedankenwelt des Mittelalters unaufhörlich in­ einander über; eins spiegelt das andere, Christi Stammburg zur Stadt schlechthin verklärend,0. Mochten die Theologen dieses Bild auch mächtig erweitern, Kirche und Gottesstaat fort und fort als „himmlisches Jerusalem" apostrophierend, das allgemeine Bewußtsein bleibt doch bei der Anschauung „Stadt". Bis ins 12. Jahr­ hundert füllt noch die Burg den mittelalterlichen Siedlungsbegriff, jetzt beginnt sich diese Idee zu verflüchtigen und neuen Signaturen Platz zu machen, die jene Heraufkunft der Stadtidee charakteristisch verdeutlichen. Mustert man die mittelalterlichen Pläne des irdischen Jerusalem, so fällt ein ständig wiederholtes, feststehendes Schema ins Auge. Da erscheint einmal auf den Karten Palästinas ein bestimmtes Signum für Jerusalem, das ohne Beischrift oder Namen eben die heilige Stadt bedeutet und in dieser Form dem Betrachter eine verständliche Abbreviatur gewesen sein muß: der viergeteilte Kreis Φ. Mit dieser Signatur arbeitet z. B. die dem 13. Jahrhundert entstammende Palä­ stinakarte im Staatsarchiv zu Florenzll. Das gleiche Zeichen, allerdings viel reicher ausgestattet, verwendet auch die Hereforder Weltkarte (Tafel 6a). Es ist derselbe Kreis, nur mit Mauerzinnen geschmückt und mit vier Toren die Quadranten anmerkend. Sodann kennen auch Einzelpläne Jerusalems, z. T. auf Wegekarten des heiligen Landes erhalten, eine solche formelhafte Abkürzung. Sonstige Pilgerziele des heiligen Landes sind 54

auf diesen Blättern an den Rand gedrängt, dafür erfährt Jerusalem ein gewaltige Hervorhebung; sein Grundriß füllt fast den gesamten verfügbaren Platz, so daß diese Wegekarten zu Plänen der heiligen Stadt zusammensdirumpfen. Derartige Dokumente haben sich vielfach erhalten. Lassen wir alle Karten vor und nach dem 12. Jahrhundert — der eigentlichen Kreuzfahrerzeit — beiseite, so bleiben folgende Stüdce, z. T. in späteren Kopien: 1. Brüssel Königliche Bibliothek Nr. 9823—9824, fol. 157'. Sammelband, 12. Jh., mit Robert von Reims: Historia Hierosolymitana fol.3—57, Fulcher von Chartres: Historia Hierosolymitana fol. 59'—123', Descriptio locorum circa Jerusalem fol. 127-139' und anderen Nummern. Auf fol. 157' als Nr. 19 der in Farben angelegte Plan Jerusalems. Abb. bei Tobler: Planigraphie von Jerusalem, Tafel II. 2. Florenz, Einzelblatt aus dem Nachlaß des Grafen Riant, möglicherweise Floren­ tiner Ursprungs. Abb. bei Röhricht: Karten und Pläne zur Palästinakunde 1892, Tafel 2. 3. Den Haag Königliche Bibliothek 76 F 5, ir. Kodex 13. Jh. aus St. Bertin. Histo­ ria V. et N. Testamenti, vitae et martyria Sanctorum, alia fragmenta. — Complainte de Jerusalem contre la cour de Rome. Siehe Tafel 6b. 4. Kopenhagen Universitätsbibliothek (Amamagnäische Sammlung) A M 736 I, 4°, fol. 2r. Besteht aus zwei Blatt geographisch-astrologischen Inhaltes. 13. Jh. Siehe Tafel 7a. 5. London Britisches Museum. Kodex Harleian 658, fol.39b (alte Zählung 37"). 12. Jh. Sammelmanuskript mit glossae ac notae in Evangel. Johannis fol. 1—31, genealogiae sacrae, opusculum ab Adamo usque ad Christum fol. 31—37 usw. Siehe Tafel 7b. 6. St. Omer Bibi. F 15’. Kodex des 12. Jhs. mit den Anonymi Gesta Francorum. Wiedergabe im Recueil des historiens des croisades, historiens occidentaux III, Seite 510. 7. Paris Nationalbibliothek. Ms lat. Nr. 8865, fol. 133. 13. Jh. Kopie des Liber Floridus von Lambert von St. Omer. Kodex aus dem Kloster Montdieu oder aus St. Omer. Wiedergabe bei Röhricht: Karten und Pläne zur Palästinakunde 1892, Tafel 5. 8. Stuttgart Württembergische Landesbibliothek. Kodex bibi. 2° 56, hinteres Deckblatt. 12. Jh. Zwiefaltener Passionale.

Diese Pläne sind, wie schnell zu sehen, einer bestimmten Konvention ver­ pflichtet; allenthalben findet sich der kreisrunde Mauerzug und das Gassenkreuz, im Stadtinneren vier Viertel ausfällend. Es ist jene formelhafte Signatur, die auch auf den Weltkarten Jerusalem anzeigt; hier aufs schroffste ausgeprägt in den Plänen von Kopenhagen und London, jedoch auch die anderen Entwürfe deutlich beeinflussend. Der Schematismus der vier Quadranten und vier Tore wird mit­

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unter gestört durch offensichtliche Erinnerungen an die Wirklichkeit wie den Felsendom (Templum domini), der flankiert von Josaphapforte und Porta aurea die Ausbildung des vierten östlichen Tores mit Zugangsstraße in der oberen Planhälfte unmöglich macht (Brüssel, Florenz, den Haag, St. Omer, Paris, Stutt­ gart)12. Von solchen Bezügen auf die tatsächlichen Verhältnisse abgesehen, triumphiert jedoch das Ideal des quadrierten Kreises, am deutlichsten in den schon herausgestellten Plänen von Kopenhagen und London. Es erübrigt sich, diese Kartographie mit der Realität zu vergleichen, denn das lang gezogene Rechteck des byzantinischen Jerusalem hat mit diesen Entwürfen nicht das mindeste gemein. Weder nähert sich der Mauerumriß einem Kreis, noch verrät das Gassennetz ein beherrschendes Straßenkreuz mit vier Quadranten, wenn auch die Straßenführung damals noch, beeinflußt durch die Hadrianische Aelia Capitolina, eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen mochte13. Tatsächlich sind die Zeichnungen, mit Tobler zu sprechen, „Ausgeburten der Phantasie" 14. Der quadrierende Schematismus kümmert sich nicht um die Realitäten, er sieht einfach an ihnen vorbei. Dies berührt um so merkwürdiger, als Gestalt und Form Jerusalems den Kreuzfahrern hinreichend bekannt waren und als solche auch einen vereinzelten Niederschlag in der Kartographie des 12. Jahrhunderts fanden wie im Plan von Cambrai, der ein Viereck umreißt mit gewundenen Gassen und sogar noch die Stelle anmerkt, an der die Christen beim Sturm am 15. Juli 1099 zuerst die Mauern betratenle. Auch schriftliche Berichte schildern die Stadt wirklichkeitsgetreu. So bemerkt Wilhelm von Tyrus, Erzbischof und Kanzler des Königreichs Jerusalem, in seiner Belli sacri historia: „Die Stadt ist kleiner als die größten und größer als die mittelmäßigen; ihre Form ist länglich, ein Teil länger als der andere, sie bildet jedoch ein Viereck und ist auf drei Seiten von sehr tiefen Tälern eingeschlossen"le. Aber welch übermächtigem Gedankenzwang selbst Augenzeugen unterlagen, verrät Fulcher von Chartres, der schon genannte Kaplan König Balduins. Er war Teilnehmer des ersten Kreuzzuges, hat das damalige Jerusalem mit eigenen Augen gesehen, nicht einmal, sondern viele Jahre hindurch immer wieder, und schildert dennoch die Stadt unzweideutig nach Analogie eines Kreisplanes. In seiner Beschreibung übergeht Fulcher die Mauern, Tore und Straßen mit Stillschweigen und tut die Gesamtgestalt mit dem nichtssagenden Satz ab:„Es ist bekannt, daß diese Stadt hinsichtlich ihres Umfanges von einer Größe ist, die ihr wohl ansteht, so daß sie weder durch Kleinheit noch durch Größe jemandem verächtlich erscheint." In der zweiten Redaktion seines Werkes hat er diese Stelle ergänzt: „Im Inneren ist sie von Mauer zu Mauer gerechnet so breit wie ein vierfacher Pfeilschuß reicht." Mit Recht hat Hagemeyer diese Ergänzung des Textes auf einen Kreisdurchmesser bezogen: Fulcher huldige hier der durchaus unrichtigen Anschauung eines zirkelrunden Stadtplanes1’. Solche der Wirklichkeit hohnsprechenden Äußerungen gewinnen noch an Seltsamkeit, wenn man Offenbarung Johannis 21,16 beachtet, wo der Visionär 56

das himmlische Jerusalem expressis verbis „viereckig" nennt18. Abgesehen von der Rundgestalt weiß die biblische Vision auch nichts von einem Straßenkreuz mit vier Vierteln. Aber weder das biblische Zeugnis noch der blanke Augen­ schein haben die Abendländer davon abhalten können, das Bild der Ringstadt mit Straßenkreuz hervorzuholen, sobald das Stichwort „Jerusalem" die religiöse Phantasie entfacht. Hier muß eine andere, eine innere Wirklichkeit herrschen, die alle Erfahrung aus dem Felde schlägt. Der mittelalterliche Mensch sieht eben die Idealstadt als vierteiligen Kreis, und dieses Bild muß seit langem in den Köpfen festgesessen haben, sonst bliebe der von ihm ausstrahlende Gedanken­ zwang unerklärlich. Erst von hier aus wird deutlich, mit welch verfehltem Ansatz Sedlmayer an­ hebt, wenn er die „Himmelsstadt" allein aus der Bibel und der Spätantike herzu­ leiten sucht1’. Er bemerkt nicht, in welchem Ausmaße rein mittelalterliche Elemente dieses Bild beeinflussen. Bandmann hat den Sachverhalt klarer erkannt. Nach ihm verfällt die altchristliche und spätantike Stadtvorstellung im mittel­ alterlichen Nordeuropa der Auflösung, sie lebt durch andere Kennzeichen fort als in den ersten Jahrhunderten20. Wie stark diese Idealstadtphantasie den Plan des irdischen Jerusalem einengt, belegt auch ein Stuttgarter Kodex der Imago mundi des Vincentius aus dem 15. Jahrhundert21. Auf fol-37r (siehe Tafel 8a) erblicken wir einen Riß Jerusa­ lems, der an Schematismus alles Bisherige hinter sich läßt. Das kreisrund um­ grenzte Areal besteht aus drei konzentrischen Ringen. In der Mitte liegt die Wohnung der Könige und Priester, dann folgt die Wohnung der Edlen und Pro­ pheten mit dem Mauerkreis, und jenseits der Mauer im dritten Ring, schließt sich die Behausung des gewöhnlichen Volkes an. Sechs Straßen und Tore, in Form eines Stems geordnet, durchbrechen den Stadtkreis. Die Tatsache, daß man die­ sen Riß noch im 15. Jahrhundert kopierte, beweist die Lebensfähigkeit seiner Grundidee. Weit entfernt von allen Fortschritten der Kartographie bewahrt die Gotik bis zu ihrem Ende das Bild der Kreisstadt. Selbstverständlich steuert die Vision des quadrierten Kreises auch die sonsti­ gen pianographischen Versuche. So hat noch um 1560 der Schöpfer eines reizen­ den Rundblattes von Nürnberg die grandiose Vereinfachung des viergeteilten Kreises angewandt, um die Stadt als zirkelförmigen Mauerzug — ausgefüllt von Wappen — in die Mitte seiner vier Kartenblätter zu stellen22 (Tafel 8b). Rings­ herum öffnet sich dann, immer vom Zentrum her geordnet, die Umgebung mit einer Unmasse liebevollen Details. Alle Signaturen, Schriftbalken, Straßen, Ge­ bäude und Bäume verweisen nach innen, nur von der Mitte her können sie gelesen und betrachtet werden. Sicherlich wurde die Auffassung des Zeichners erleichtert durch die vier gewaltigen Rundtürme, die das 16. Jahrhundert über das Spitteier-, Frauen-, Läufer- und Neutor gesetzt hat und die unser Kartograph denn auch prompt aber unrichtig in die genauen Kardinalpunkte stellt. Trotz­ dem bietet der damalige Umriß Nürnbergs mit seinem eingedrückten Rechteck 57

keinerlei ernsthaften Anhalt für solche Interpretationen. Hier wirkt die mittel­ alterliche Idealstadtvorstellung mit ungeminderter Stärke nach. Erwägt man die Festigkeit dieses Bildes in der gotischen Planographie, so kann nicht wundemehmen, auch die Architektur unter seinem Einfluß zu finden. Gegenstücke zu den geschilderten visionären Phantasmen liefert nämlich der Städtebau der gotischen Zeit, ein erstaunlicher mythisch-irdischer Parallelismus. Denn mit der Heraufkunft unseres Idealplans beginnt auch ein neuer Siedlungs­ typ sich zu verbreiten, ein Siedlungstyp, der von den gleichen Komponenten ge­ prägt ist wie die papierenen Risse Jerusalems. Eben die Kreuzfahrerzeit sieht von etwa 1150 ab eine nie dagewesene Art von Stadt aufkommen, vom ersten Augenblick festen Kompositionsgesetzen ver­ pflichtet, die wie vom Himmel heruntergefallen auf einmal da sind. In Frank­ reich, England, Deutschland wachsen diese Neugründungen nach dem gleichen Schema aus dem Boden, als seien die Baumeister von Fürstenhof zu Fürstenhof gezogen, um ein- und denselben Grundriß in Aufnahme zu bringen. Die treibende Kraft dieser hochgotischen Stadtgründungswelle repräsentiert das Landesfürsten­ tum; allenthalben wird der Wille erkennbar, die entstehenden Kleingebiete durch Festungs- und Verwaltungszentren abzuschirmen8’. Da die meisten Gründungen dieser Art „aus wilder Wurzel" erfolgten, d. h. in eine unberührte Landschaft hineingesetzt wurden, verblieb der gotischen Plan­ mode Bewegungsfreiheit genug. Man hatte keine oder nur geringe Rücksicht auf vorhandene Architekturen zu nehmen und konnte mit Latte und Schnur den Plan so auslegen wie er auf dem Papier stand. Selbst bei Vermessungen, die einen Weiler, Hof oder Kloster mit einbezogen, behauptete sich die gotische Manier, denn man komponierte diese Siedlungskeme einfach in den Riß hinein. Sie fielen lediglich durch ihre krumme Gassenführung auf, störten aber den Gesamtentwurf nicht. Im allgemeinen darf die Schilderung im Lippiflorium des Magisters Justinus um 1260 für typisch gelten. Der Magister besingt in diesem Gedicht auf Bern­ hard II. von Lippe unter anderem auch die Gründung Lippstadts, die gegen 1170 erfolgt sein muß, da Bernhard 1168 die kaiserliche Erlaubnis zu diesem Akt ein­ holte und auch erhielt. Justinus preist die Tat seines Landesherrn in Hexametern: „Für den befestigten Ort sucht man die taugliche Stätte Günstig gelegen, bequem für der Bewohner Geschäft. Passend erscheint ein Platz am Ufer der Lippe, der reichlich Bäche hegt und Gefild, Forsten und Triften und Vieh. Gräber eilen herbei; man mißt in die Länge und Breite Jetzo die Fläche, und tief schneidet ein Graben das Land. Erdreich schüttet man auf, bald hebt sich der Damm in die Höhe, Und ein mächtiger Wall schlingt sich alsbald um den Ort. 5»

Anfangs sichert ein hölzernes Werk die Stätte, allmählich Soll ein steinerner Bau besseren Schutz ihr verleihn. So wird also das Städtchen gegründet... Leute strömen herbei, gelockt von der Fülle der Freiheit; Mauern werden getürmt, Kirchen und Häuser gebaut"“.

Gewiß schreibt Justinus fast ein Jahrhundert nach diesem Ereignis, allein seine Lebenszeit reicht nahe genug an die Anfänge Lippstadts heran, um eine leben­ dige Vorstellung des Gründungsaktes bei ihm vorauszusetzen. Als Hauptmerkmale der gotischen Planstädte fallen Vierteilung und Straßen­ kreuz auf. Die Quadrierung des Stadtareals beeinflußt die Organisation der Bürgerschaft, das Straßenkreuz dagegen ordnet die Baublöcke. Beide Elemente greifen ineinander, wenn auch nicht immer. Der Mauerumriß neigt in Frankreich und dem angrenzenden Süddeutschland zum Rechteck, tendiert in Mittel- bzw. Norddeutschland zu verrundeten Formen und geht schließlich im östlichen Kolonisationsgebiet zu Kreisanlagen über. Diese Auffassung läßt sich nicht pressen, denn der Rundplan taucht in Westeuropa ebenso auf wie das Rechteck in Osteuropa; immerhin bleibt das westöstliche Gefälle unverkennbar. Das Neuland jenseits der Elbe entwickelt einen stärkeren Hang zum Rund als das Gebiet der Altstämme. Anscheinend konnte sich das Ideal der quadrierten Kreistadt im Osten besser entfalten, begünstigt durch die Unberührtheit der Landschaft, in der kein anderes Vorbild existierte als das gedankliche Modell. Wichtig bleibt bei der gotischen Siedlungsmode das Nebeneinander von Vier­ teilung und Straßenkreuz, d. h. von Verwaltungsorganisation und Grundriß. Der Nachdruck liegt dabei auf „Nebeneinander", denn die hochmittelalterlichen Kompositionsgesetze verraten sich nicht immer durch den Plan allein. Vierteilung und Straßenkreuz verlieren oft jeden Zusammenhang, sei es, daß sich die Viertel über ein unregelmäßiges Gassennetz breiten, sei es, daß sie einen kreuzmäßig geordneten Riß zerschneiden“. In jedem Fall hat das Hochmittelalter unbeirrt diesen Stil festgehalten: eine Stadt ohne Viertel war fast undenkbar, und damals muß das Wort „Stadtviertel" seinen festen Ort in unserer Sprache erhalten haben ”. Auch die vielfach variierenden Fachbezeichnungen können über die Uniformität der unterliegenden Sache nicht hinwegtäuschen. Wir vernehmen auf Schweizer Boden von „Wachten" (Zürich, Ende des 13. Jahrhunderts), „Vennervierteln" (Bem 1296), „Halb- und Vierteilen" (St. Gallen 1378), „Bannern" (Basel 1388), in Oberdeutschland von „Orten" (Villingen in der Baar 1319, Rottweil am Neckar 1326), im Rheinland von „Hüten" (Ahrweiler und Sinzing um 1400), „Quartieren" (Kalkar um 1400, Kleve 1540), in Westfalen von „Kluchten" (Coes­ feld 1358), „Quartalen" (Brilon um 1450), „Hofen" (Lippstadt 1317), „Bauerschaften" (= Wohngemeinschaften, Lemgo 13. Jh.), in Holstein von „Reaekningen" (= Rechnungsbezirken, Schleswig um 1300), im Holland des 14. und 59

1 Pfarrkirche 2 Nikolaikapelle 3 Kapuzinerkloster 4 Rathaus 5 Kump mit St. Petrus

9 Die vier Quartale von Brilon in Westfalen 6o

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Viergeteilte Gaue; Städtebund im Vielfachen von Vier

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Das Viererweltbild und seine Einzelteile in Afrika und Eurasien

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gleich das geschichtliche Gewicht besitzt, um sowohl die sudanischen Quadrierun­ gen wie auch die verwandten Typologien Eurasiens vor sich herschieben zu können. Auf ihrem Vordringen nach Osten begleitet von der vorderasiatischen Er­ findung des farbig bemalten Geschirrs, rücken die Megalithmuster nach Vorder­ indien hinein, über Turkestan nach Tibet”, China und Hinterindien, um von dort aus Indonesien zu überziehen. Das dortige Megalith mit seinen Menhiren, Steinalleen, Kisten- und Kammergräbem, Dolmen und Cromlechs trägt medi­ terranen Charakter, und diese Verwandtschaft bewegte Heine-Geldern, als er seiner bahnbrechenden Abhandlung über „Die Megalithen Südostasiens und ihre Bedeutung für die Klärung der Megalithenfrage in Europa und Polynesien"40 die Feststellung vorausschickte, der Elementargedanke habe innerhalb der Megalithenforschung nie festen Fuß fassen können; zu überwältigend sei der Eindruck eines geschlossenen Kreises kulturgeschichtlicher Erscheinungen gewesen. Man hat geklagt, das alte Mediterraneum sei wenig faßbar, es vermittele kein abgerundetes Bild, vielmehr den Eindruck einer Masse durcheinander liegender lokaler Stile und Entwicklungen. Wir wollen deshalb mit einem megalithischen Leitelement einsetzen, das den mittelmeerischen Bereich besonders genau ein­ grenzt: dem Vielkammergrab. In einer wertvollen Studie hat Annemarie Hefei den Bereich dieser Form herausgearbeitet41. Das Vielkammergrab zeigt eine durch­ weg meernahe Verbreitung wie das ganze Megalith. Schottland, Irland, Süd- und Westengland, die Bretagne, West- und Südspanien, die Balearen, Sardinien, Malta, Sizilien, Süd- und Mittelitalien gehören zu seinem europäischen Einzugs­ gebiet; Syrien und Palästina zu seinem vorderasiatischen; die alte Berberei, die Kanaren und der Sudan zu seinem afrikanischen. Ihre höchste Entfaltung erreichte diese Architektur — mit einem Gang zum Zentralraum und einigen rings um die Herzkammer angeordneten Nebennischen — im westlichen Mittelmeer. Die suda­ nischen Absenker erklärt Hefei durch Südwanderung ethnischer Einheiten, die den alten Mittelmeerstil in Afrika konservierten41 (Karte Abb. 42). Die Einheit dieser Grabbauten liegt zutage, ihr Zeitansatz reicht vom Beginn der Bronze bis zu den etruskischen „Atriumgräbem", bis zum Anfang unserer Zeitrechnung also, im sudanischen Afrika bis in die Gegenwart. Damit wird nun zugleich ein großer Teil des „bukolischen" Stils eingegrenzt, des Reiches des mittelmeerischen Stiergottes. Altheim hat diese vorindogermanische Welt, die im Stier ihr Hauptsymbol verehrte, eindrucksvoll geschildert4’. Die schattenhaften, uralten Völker, deren Namen beim Aufgang historischer Zeiten verdämmern, wie Iberer, Ligurer, Altsarden, Sikaner, Libyer, verleiten zur Annahme von Differenzen, jedoch verbindet eine erstaunlich einheitliche Kultur den Nordrand Afrikas mit Spanien, Irland und Schottland, archäologisch vom Vielkammerbau, religiös vom Stiersymbol geprägt44. Von Kreta und Spanien bis in den Fezzan hinein begleiten Stieramulette, Stierköpfe, Stiermalereien die Viel­ kammeranlagen von ihrem ersten Auftreten an. Selbst die ligurischen Fels173

Zeichnungen am Monte Bego kennen den Stier als Leitmotiv, nicht etwa den Hirsch45, und gerade dieses Stiersymbol vertieft die Geschichte jenes Lebens­ kreises bis in das Paläolith hinein. Als die Indogermanen sich über das Mittelmeergebiet ausbreiteten, tauchten sie tief in diese bukolische Welt, überall den Stier und sein Brauchtum über­ nehmend. Von hier stammt das Ritual der römischen Stadtgründung mit seiner Rinderumpflügung. Noch im Bundesgenossenkrieg fochten die Italiker gegen Rom unter diesem Zeichen; die Münzen der Aufständischen zeigen im Revers den Stier, wie er die römische Wölfin niederstößt, und die fanfarengleiche oskische Umschrift „viteliu" (= Italia) nennt die Halbinsel „Rinderland"“. Nicht einmal

174

die latino-faliskische Gruppe mit ihrer Bastion Rom hat sich diesem altmittel­ ländischen Einfluß entziehen können, denn außer dem genannten Gründungs­ ritual rühren Lustration und Marsopfer mit den Suovetaurilien, d. h. mit Schwein, Schaf und Stier, aus diesem vorindogermanischen Substrat. Hier finden sich echte Abhängigkeiten, freilich nicht von Babylonien, sondern von der einheimischen mittelmeerischen Schicht. Der gleiche Prozeß modelte auch die indische Gründungssitte, denn der Pflug­ brauch, der den Boden der zukünftigen Stadt bereitet, gehört einer vorindogerma­ nischen Rinderkultur an. Nicht umsonst trägt der Fundamentblock ein Bild Shivas, des Stiergottes. Hier hat sich die vorarische Welt wieder durchgesetzt nach ihrem vorübergehenden Ohnmachtsanfall während der indoarischen Land­ nahme. Seitdem wir wissen, daß die Induskultur von Mohenjo-Daro in ihrer untersten Schicht (Amri) die charakteristische westliche Buntkeramik führt, dür­ fen wir den Bereich des Stiergottes schon vor 3000 ante bis hierher ausdehnen. Die Siegel der nachfolgenden Harappaepoche mit ihren Stiermotiven sprechen eine deutliche Sprache. Eine hübsche Beobachtung bestätigt diese Zusammenhänge auch von der sprach­ lichen Seite. Zu den wenigen Worten, die im Indogermanischen schwer unter­ zubringen sind und deshalb als Lehnworte zu gelten haben, gehört die Bezeich­ nung für den Stier, gr. ταύρος, lat. taurus usw. Die nächsten Parallelen bilden aramäisch tör, arab. taurun, phönikisch ύώρ, kanaresisch turu. Das Kanaresische stellt eine der dravidischen Hauptsprachen, und die Dravidas repräsentieren jenes Rückzugselement, das nach seiner Verdrängung aus der Induszivilisation im Dekkan übrigblieb47. Auch der Göttername Shiva weist in diese Richtung. In vedischer Zeit heißt der altindische Stiergott Rudra „Der Rote", und das ist nichts anderes als die Sanskritübersetzung von Shiva, denn im Tamilischen (= Dravidischen) be­ deutet shiva „rot sein". Die arischen Einwanderer fanden demnach den Stier­ gott vor und übertrugen seinen Namen mit Rudra, bis die erstarkende Unter­ schicht die alte einheimische Bezeichnung Shiva erneut in Aufnahme brachte48. Welchen Weg diese mediterranen Kulturschübe nach Osten genommen haben, lassen die Tiefgrabungen in Vorderasien ahnen. Schachermeyr hat diese Kultur­ horizonte des farbig bemalten Scherbens als „vorderasiatische Kulturdrift" inter­ pretiert, indem er das Morgenland in die Mitte rückt und die Neuerungen wirt­ schaftlicher und technischer Art nach allen Seiten, also auch nach Westen, aus­ strahlen läßt4’. Diese Betrachtungsweise hängt zu sehr an einer bloß materiellen Kommentierung des Kulturprozesses. Die rasche Aufnahme technischer Erfindun­ gen besagt noch nichts über die Herkunft und Wanderrichtung geistiger Vor­ stellungen, und die „Vorderasiatische Kulturdrift" dürfte auf geistigem Gebiet wohl nur eine Umsetzung vorhandener Gedankenbilder in eine handwerklich bessere Form darstellen. 175

Diesen Einwand hat Schachermeyr selbst in seiner Diminiarbeit exemplifiziert: Dimini ist kein entwickeltes Sesklo, sondern eingewanderte Bandkeramik, deren Ritztechnik hier in eine technisch vollkommenere Ausführung überging, und sehr viel anders dürfte es mit bandkeramischen Einflüssen in Palästina während des Chalkolithikums auch nicht sein“0. Zudem verweist Schachermeyr mit Recht auf die Eigenständigkeit der nordafrikanischen Kulturzone von Ägypten bis Spanien, eine von Vorderasien unabhängige Entwicklung, eine erneute Dokumentierung des uralten Felsbildkreises **. Tatsächlich kann die tiefgewurzelte Kultur des West­ mittelmeeres es an Alter mit dem morgenländischen Kulturbereich aufnehmen; für die Höhlenmalerei Spaniens fehlt im Osten jedes Gegenstück. — Wendet man die Interpretation buntkeramischer Horizonte auf die Gesamt­ situation Eurasiens an, vornehmlich ihre Strömung nach Osten im Auge be­ haltend52, so gewinnen eine Reihe bisher isolierter Einzelheiten einen geschicht­ lichen Hintergrund. Es zeigen sich gar nicht so wenige Kulturelemente, die eine ausgesprochene Flügelverbreitung im Osten und Westen besitzen, ohne erkenn­ bare Zwischenstücke. Von den Megalithen Femasiens war bereits die Rede. Ihre Beziehungen zu Europa gehen bis in abseitige Sondererscheinungen. So kopieren die in Westtibet, im Transhimalaya und im Panschab entdeckten Steinreihen die berühmten Steinalleen von Carnac in der Bretagne „wortwörtlich"", und aus dem lebenden Felsen gemeißelte Stufenpyramiden tauchen in Tibet wie in Eng­ land auf54. Die westtibetischen Terrassenpagoden vom Typ „Viele Nischen", durch Reliefs für das 9. Jahrhundert post belegt, kehren in den Treppentumuli Etruriens wieder“ (Tafel 13b und c). Das Tüllenbeil, ein charakteristisches Gerät der europäischen Bronzezeit, ist zugleich eine Leitform der metallzeitlichen Dongsonkultur Hinterindiens, und dies genügt schon, stellt Heine-Geldern fest, seine Herkunft aus Europa zu sichern, da ja das Tüllenbeil weder in Indien noch im vorderen Orient vorkommt““. Ebenso gleichen die Metallzierate der Berg­ stämme Yünnans und Nordhinterindiens dem bronzezeitlichen Schmudc Europas “’. Man könnte noch fortfahren mit der Aufzählung von Kulturelementen, deren Verbreitung auf die Flügel Eurasiens beschränkt bleibt, so der gleichen Textil­ muster in Burma und Rußland, der Getreideharfen in Yünnan, Kansu, Tibet, West- und Nordeuropa, des östlich und westlich geübten Kranichtanzes im Labyrinth", doch wollen wir zurückkehren zu unserem Thema und die Frage stellen, was denn eigentlich die vielzitierte Buntkeramik für den Stadtbaustil hergibt. Wir sagten oben, die Situation in Ostasien und Hinterindien lege die Ver­ mutung nahe, eben diese Kulturwoge habe auch die Unterlagen der quadrierenden Architektur mitgeführt. Natürlich verraten die ältesten Stufen der Stadtkulturen nicht das Geringste über die Existenz georteter und viergeteilter Pläne, doch arbeitet die polychrome Keramik mit zahlreichen Malmustem, die jene Vier­ teilung abwandeln und mitunter den Charakter von Grundrissen annehmen. Die nebenstehende Tafel (Abb. 43) bietet eine Auswahl. Die Auskunft, es handele 176

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Arpatschija —>

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Malmuster der chalkolithischen Buntkeramik 177

sich um Ornamente, um Schöpfungen bloßer Schmuckfreude ohne tieferen Sinn, verfängt nicht. Archaische Kulturen kennen überhaupt keine reinen Augen­ schauspiele, und Moortgat trifft gewiß das Richtige, wenn er die Gefäßmalerei nicht dem Ausfluß eines ästhetischen Triebes, sondern magisch-religiösen Ge­ danken zuschreibt5“. Auch die Verbreitung der Muster in sehr bezeichnenden Arealen begünstigt eine magisch-religiöse Deutung. So wird die donauländische Bandkeramik vom Dekorationsmotiv der Spirale gesteuert, in Dimini besonders gut zu erkennen; ebenso herrscht in der chinesischen Kansuware das Spiraldekor, während das Zwischengebiet bis auf zeitweiliges Erscheinen in Sialk leer bleibt“. Die gleiche Verbreitung hat die mythische Spiralstadt: der aus den Windungen einer Schlange sich entrollende Stadtplan taucht im chinesisch beeinflußten Annam und in West­ europa auf. Ein solcher Konnex steht außerhalb des Zufalls. Zum mindesten aber verraten die vierteiligen Malmuster, daß mit dem Einsetzen der Dekorkunst und das will sagen seit der Steinkupferzeit des 4. Jahrtausends ante das quadrierende Prinzip in den Köpfen festgesessen hat, ein erneuter Hinweis auf die Koppelung unserer Stadtarchitektur mit dem Chalkolithikum. In dieser gemeinsamen Unterlage dürfte wohl auch jene Ähnlichkeit der Grundrisse begründet sein, die von Marzabotto bis Harappa immer wieder ein Schachbrett andeuten. Wahrscheinlich hat der Rechteckstil schon der altmittelmeerischen Kultur angehört, was ja die sudanischen Anlagen nahe legen. Aller­ dings läßt sich bei der bruchstückhaften Freilegung nichts über Gesamtkompo­ sitionen ausmachen. Immerhin soll versucht werden, dem mediterranen Stadtplan noch von einer anderen Seite näher zu kommen.

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D. MEGALITHISCH : STEIN UND STUFE

11. Der Berg Zion und der Schöpfungsfelsen Das atlantisch-europäische Megalith zeigt in seiner Geographie eine Besonder­ heit, die höchst verwunderlich anspricht, eine enge Verwandtschaft nämlich mit dem morgenländischen Großsteingebiet Syriens und Palästinas1. Hier wie dort finden sich die gemeißelten Zugangslöcher entweder als Vollringe oder als Halb­ ringe in geteilten Türplatten, die Sondertypen der Dolmen mit drei Orthostaten und offener Vorderseite, die Bindung des Totenkults an Cromlechs und Menhire, die typischen Wehrtürme der „megalithischen" Landschaft von Irland bis Malta und dann wieder am See Genezareth und auf der Hochfläche von Amman. Noch neuestens spricht Jirku von einem so schlagenden Parallelismus, daß an Ver­ bindungslinien gedacht werden müsse2. Diese Verschwisterung überspringt die afrikanischen und ägäischen Zwischenstücke: das syrisch-palästinensische Megalithikum schließt unmittelbar an Iberien an. Wie sich diese Verbindung chronologisch auswiegen läßt angesichts der Ent­ deckungen von Teleilät Ghassül und El-Adeimeh, ist eine Sache für sich. Die ärmere Formenfolge des Ostens — es fehlen in Palästina durchgehend Gang- und Kuppelgrab — widerspricht der Richtung Vorderasien—Spanien und legt eher den umgekehrten Weg nahe. Jedenfalls besteht diese Verwandtschaft seit dem ältesten Megalith, ja im Grunde schon seit dem Paläolithikum’. Sie wird von unseren Erwägungen be­ stätigt, denn die kosmischen Quadraturen der Gotik und des Sudan — wie noch zu zeigen Nachklänge megalithischer Ideen — erscheinen unter den gleichen Bildern in Syrien—Palästina. Nur sind wir hier nicht auf verhältnismäßig späte Beurkundungen angewiesen, sondern vermögen einen Anschluß an die Groß­ steinzeit Kanaans herzustellen, und zwar mit Hilfe schriftlicher Nachrichten. Der Fall bleibt denkwürdig. Wir verdanken ihn der jüdischen Tradition. An dieser einen Stelle können wir das alte Mediterraneum bis auf die unterste Schicht abgraben und Nachrichten zum Megalithwesen sicherstellen, die bis in das 2. Jahrtausend ante hinabreichen. Denn nicht nur das Alte Testament auch die nachbiblischen Bücher des Judentums strotzen geradezu von megalithischen

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Überlieferungen, obschon deren schriftliche Fixierung bis ins 13. Jahrhundert post andauert, man denke nur an den späten Sohar. Ordnet man diese Traditions­ kette von der Thora über Mischna, Talmud zur Kabbala nach der jeweiligen Redaktion, so kommen fast iVz Jahrtausende zusammen; prüft man aber ihre Bilderhaltigkeit, so sind 1000 Jahre wie ein Tag, und noch der Sohar kennt jene Archaismen, zu denen auch unsere Stadtkosmologie gehört. Wir beginnen mit den syrischen Belegen. In der altchristlichen Kirche syrischer Sprache liefen eine Masse Sagen um, vornehmlich zur Erzvätergeschichte, die halbkanonisches Ansehen genossen und als Ergänzung der alttestamentlichen Urgeschichte galten. Im 5. Jahrhundert ordnete die Schule Ephraem des Syrers diese Traditionen zu einem Buch unter dem Titel „Die Schatzhöhle", in äthiopischen Rezensionen auch „Das christliche Adambuch des Morgenlandes" oder „Der Kampf des Adam und der Eva" ge­ nannt4. Berichtet wird von dem harten Leben des Ureltempaares nach seiner Ver­ treibung aus dem Paradies, von der Beisetzung der Erzväter in einer Höhle, eben der Schatzhöhle, und von der Rettung des Leibes Adams durch Noah in der Arche. Als nun Noah seine Auflösung herannahen fühlt, da ruft er seinen Erst­ geborenen — Sem —, um ihm seinen letzten Willen aufzutragen. „Wenn ich gestorben bin, so gehe hinein in die Arche, darinnen ihr errettet worden seid, und hole heraus den Leichnam unseres Vaters Adam, und kein Mensch soll dich bemerken. Und nimm von hier mit dir Brot und Wein als Zehrung auf die Reise, und nimm mit dir den Melchisedek, den Sohn des Malach; denn ihn hat Gott ausgewählt von allen deinen Nachkommen, daß er vor ihm diene über dem Leichname unseres Vaters Adam. Und steige hinauf und setze ihn am Mittel­ punkt der Erde nieder, und lasse den Melchisedek dort wohnen! Und siehe, der Engel des Herrn wird vor euch hergehen und euch den Weg zeigen, den ihr zu gehen habt, und auch den Ort, da der Leichnam Adams nieder­ gesetzt werden soll, nämlich den Mittelpunkt der Erde. Und dort hängen vier Enden miteinander zusammen. Denn als Gott die Erde schuf, da lief seine Kraft vor ihr her, und die Erde lief ihr nach von vier Seiten aus wie Wind und leises Wehen. Und dort (im Mittelpunkt) blieb seine Kraft stehen und kam zur Ruhe. Dort wird vollbracht werden die Erlösung ..." Nach Noahs Tod machen sich Sem und sein Urenkel Melchisedek auf, geleitet von dem Engel Gottes. „Und als sie nach Golgotha kamen, welches der Mittel­ punkt der Erde ist, zeigte der Engel Sem diesen Ort. Und als Sem den Leichnam unseres Vaters Adam oberhalb dieses Ortes niedergesetzt hatte, da gingen vier Teile auseinander, und die Erde öffnete sich in Gestalt eines Kreuzes, und Sem und Melchisedek legten den Leichnam Adams hinein. Und sobald sie ihn hinein­ gelegt hatten, bewegten sich die vier Seiten und umschlossen den Leichnam unseres Vaters Adam, und es schloß sich die Tür der äußeren Erde. Und derselbige Ort ward ,Schädelstätte' genannt, darum daß dort das Haupt aller Menschen 180

hingelegt wurde; und ,Golgotha', weil er rund war; und ,Hochpflaster', weil darauf der Kopf der bösen Schlange zertreten wurde, welche der Satan ist; und ,Gabbatha', weil in ihm alle Völker versammelt wurden"5. Inhaltlich stimmt die äthiopische Fassung mit der syrischen überein bis auf die bezeichnende Ergänzung, daß dort im kreuzförmigen Zentrum, der Ruhe­ stätte Adams, die Stadt Jerusalem gebaut sei, „die verdolmetscht heißt: Mittel­ punkt der Erde"e. Das faszinierende Moment für die altchristliche Theologie bleibt der Zu­ sammenfall des Weltzentrums mit der Grundtatsache des christlichen Glaubens: Golgotha, die Mitte der Erde, birgt den Schädel Adams und trägt das Kreuz des Erlösers. Christi Blut fließt auf das Haupt des Urmenschen, und die Heils­ geschichte beginnt in der kosmischen Mitte, Nulljahr und Nollort verknüpfend. Streicht man diese christliche Ergänzung der mythischen Geographie und Ge­ schichte, so bleibt ein geschlossenes Bild zurück: die viergeteilte Erde und ihr kreuzstrahliges Zentrum mit dem Adamsschädel und der Stadt Jerusalem, dem „Mittelpunkt der Erde", wie ihr Name zwar nicht philologisch, aber doch sym­ bolisch zutreffend interpretiert wird. Noch durchsichtiger könnte der Mythos nicht formulieren, und noch eindeutiger könnte auch das Alter dieser Tradition kaum belegt werden. Da nämlich auch ohne die spätere christliche Fortführung das Mythologem nach allen Seiten hin ausgebildet ist und keiner weiteren Stütze bedarf, so hat die christliche Ergänzung für die Altersbestimmung kein Gewicht. Die Versuche, die Adamreste auf Golgotha als christliche Erfindung abzutun7, lassen den Kontext außer acht: die Quadrierung der umgebenden Erdscheibe und die Qualifizierung des Adammonumentes als Mittendenkmal. Sollte dies alles aus der Absicht herausgesponnen sein, den Evangelienausdruck κρανίου τόπος zu erklären? Die Frage ist um so mehr zu verneinen, als zahlreiche altchristliche Zeugen des Adamgrabes sich auf jüdische Traditionen berufen, so die Carmina adversus Marcionem: „Hier, so lehren unsere Alten (nach dem Zusammenhang ,unsere jüdischen Ahnen'), sei ein großes Knochengerüst gefunden worden, hier soll der erste Mensch begraben liegen" Ebenso heißt es in De passione et cruce Domini (dem Athanasius zugeschrieben), auf der Schädelstätte befinde sich das Grab Adams, wie die Lehrer der Hebräer behaupteten“. Und auf diese παραδόσεις und διδάσκαλοι Ιουδαίων berufen sich auch Basilius von Seleukia und Ambrosius, ja als ältester bereits Origenes10. Guthe ordnet diese Sage in ihrer jüdischen Form der Epoche des Jubiläenbuches zu, mithin dem letzten vorchristlichen Jahrhundert1*, und es fällt in der Tat schwer, eine solche Lokalüberlieferung später anzusetzen. Denn daß die jüdische Volksphantasie nach der Kreuzigung Christi sollte an Golgotha eine solch ehr­ würdige Legende geknüpft haben, bleibt unwahrscheinlich. Zudem hängt die Legende nicht an Adams Grab, sondern an Adams Schädel, streng auf den Ortsnamen „Schädelstätte" zugeschnitten, und damit fallen alle Schlußfolgerun­

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gen, die sich an eine Nische oder Höhle als Grabhaus anschließen Schon Baum­ stark hat darauf hingewiesen, wie unlösbar Name und Ausdruck κράνιον mit dem Adamsschädel zusammenhängt, also die Legende voraussetztls. Mit anderen Worten, schon die Evangelienbezeichnung κράνιον erweist die Sage als vor­ christlich. Zur Erklärung dieser Ortstradition hat Guthe vermutet, eine stark gerundete und höckerig vorspringende Seite der Golgothakuppe habe diese Legende auf sich gezogen; man glaubte eben, einen versteinerten Schädel vor sich zu haben14. Zu der Legende vom Adamsschädel gehört in den syrischen Texten die Mythe von der Weltmitte. Auch diese Anschauung entstammt weit älteren Epochen, denn für die jüdische Literatur und Dichtung steht von Anfang an fest die Welt­ mittenfunktion Jerusalems und des Berges Zion. Die starken Gefühle, von denen dieses Bild getragen wird, verweisen auf eine sehr tiefe Verwurzelung. Das Buch der Jubiläen nennt den Zion „den Mittelpunkt des Nabels der Erde" (8, 19), und das Buch Henoch läßt keinen Zweifel daran, daß der Held bei seiner Reise durch die Kardinalpunkte der Erde in der Mitte den Berg Zion berührt (cap. 26, 2). In seiner Qualität als Weltberg weist der Zion ein besonderes Charakteristikum auf: er ist höher als alle anderen Gipfel der Erde, und deshalb wurde Israel auch nicht von der Sintflut überschwemmt16. Bereits bei Jesaja klingt dieses Thema an: „Der Berg, auf dem des Herrn Haus steht, wird fest­ stehen, höher denn alle Berge" (2, 2), und die Stabilität dieses Bildes bezeugt noch der Syrer Agapius mit seiner Formel, das Zentrum der Erde liege höher als die vier Viertelie. Der Prophet Ezechiel wendet auf den Zion ein Spezialwort an (38,12), das im Alten Testament nur noch einmal (Ri 9, 37) mit Bezug auf den Garizim vor­ kommt; der Zion heißt an der angegebenen Stelle *1130 im Griechischen der LXX δμφαλος τής γης „Nabel der Erde". Solche Hinweise auf die Omphalosaufgabe des Zion werden Ez 5, 5 auf Jerusalem ausgedehnt: „Dies ist Jerusalem, die ich mitten unter die Völker gestellt habe und rings um sie her Länder." Das „in der Mitte" ist örtlich zu fassen, die LXX überträgt sinnentsprechend έν μέσφ τών έΰνών. Diese alten Mittelpunkts- und Nabelvorstellungen wie Golgotha, Zion und die heilige Stadt selbst kristallisieren sich nun noch in einem vierten Monument, dessen Gestalt in dem hochgeistigen, bildlosen jüdischen Gottesdienst einen Archaismus ohnegleichen darstellt. Es befand sich im Allerheiligsten, jener Herz­ kammer des Tempels, die man sich im allgemeinen leer vorstellt, seitdem die Lade mit dem ersten Heiligtum zugrunde gegangen war. Und doch barg das Allerheiligste einen Gegenstand, ein mit Händen zu greifendes Denkmal ehr­ würdigsten religiösen Tiefsinns: den Stein schetija. Weder das Alte Testa­ ment noch Josephus17 erwähnen ihn, jedoch stellt der talmudische Traktat Joma Form und Zweck vollkommen klar. In der babylonischen Redaktion heißt es Joma V 2: „Seitdem die Lade fort war, befand sich da ein Stein aus den Tagen

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der ersten Propheten, der ,Grundstein' genannt wurde; er war drei Finger höher als der Erdboden, und auf diesen setzte er (der Hohepriester) (das Räucherwerk) ab"*9. Eine Parallelstelle Tosifta III 6 besagt dasselbe: „Ein Stein war dort seit den Tagen der ersten Propheten, er wurde schetija genannt, drei Finger hoch vom Boden. Ehedem stand die Lade darauf. Als sie weggenommen wurde, räucherte man darauf das Räucherwerk des Allerheiligsten"le. Der Name des Steines spottet durchaus nicht jeder Etymologie, wie Kittel behauptet20, er stammt vielmehr vom hebräischen schata „gründen", „setzen"; der eben schetija wäre also der Grundstein21. Die Bezeichnung ist kosmisch ge­ färbt, denn die palästinensische Redaktion der Gemara zu der oben angezogenen Mischnastelle im Jomatraktat antwortet auf die Frage: „Warum hieß er eben schetija?" „Weil von ihm aus die Welt gegründet wurde"; in der babylonischen Redaktion: „Von diesem aus ist die Welt entstanden"22. Name und Überlieferung rücken dieses Monument also in einen ähnlichen kosmologischen Verband, wie ihn auch der menhirartige Uramboß in LogoneBirni bezeugt, der Block erscheint hier wie dort als Nabel und Kern der Erde. Die jüdische Tradition läßt denn auch über die metaphysischen Hintergründe keinen Zweifel. Im Midrasch Tanchuma heißt es Kedoschim 10: „So wie der Nabel in der Mitte des Menschen ist, so ist das Land Israel in der Mitte der Welt... Das Land Israel liegt in der Mitte der Welt und Jerusalem in der Mitte des Landes Israel und das Heiligtum in der Mitte Jerusalems und die Tempel­ halle in der Mitte des Heiligtums und die Bundeslade in der Mitte der Halle, und vor der Lade ist der Grundstein der Welt, von welchem die Welt gegründet wurde"2’. Und im Pirke des Rabbi Elieser 10: „Er zeigte ihm (dem Jona) den Grundstein der Welt, in den Urtiefen unter dem Tempel Gottes befestigt" 2‘. Hinter dem rituellen Zweck des im Fußboden eingelassenen Steines eröffnet sich also die mythische Szenerie vom Nabel der Erde. Wenn Joma fol. 54b gesagt wird, nach Rabbi Elieser sei die Welt von ihrer Mitte aus geschaffen, nach Rabbi Josua dagegen von ihren Seiten her“, so dürften solche Sätze abzielen auf die Zentrierung und die Quadrierung, auf das Ineinander von Mitte und Vierteilung. Die Vierteilung der Erdscheibe ist nämlich der jüdischen Überlieferung durchaus geläufig: die vier Seiten der Welt bilden ein Rechteck, und seine Ecken werden von den Wendepunkten der Sonne markiert; von der Ostseite kommt das Licht, von der Südseite der Regen, von der Westseite die Finsternis, von der Nordseite Schnee und Hagel29. Wird in diesem Rahmen eine Mitte gesetzt, so treffen sich bei ihr die von den Seiten kommenden Viertel und verleihen dem System dop­ peltes Gewicht und zugleich ein doppeltes Gesicht; man kann es mit Rabbi Elieser von der Mitte her und mit Rabbi Josua von den Seiten her betrachten. Als Zentrum dieser mythischen Geographie einen Stein zu sehen, geht über die syrischen Texte der „Schatzhöhle" weit hinaus. Hier fassen wir einen selb­ ständigen Überlieferungsstrang altjüdischer Herkunft. 183

Für eine solche Auffassung spricht auch ein anderes Moment der Schetijatradition: der Zeitcharakter dieses Denkmals nämlich. Der Stein ist nicht nur Mitte, er ist auch Anfang. So bemerkt Jalkut Gen. 120: „Was tat Gott? Mit seinem rechten Fuße versenkte er den Stein in die Tiefe des tehom und machte ihn zur Stütze der Welt, wie wenn man eine Stütze zu einem Bogengewölbe machen würde. Deshalb wird er eben schetija genannt; dort ist der Nabel der Erde, und von dort aus wurde die ganze Erde ausgebreitet." Ex 28, 30 wird von Targum Jonathan erklärt: „Der Name des Großen und Heiligen ist deutlich ein­ gegraben auf dem Stein schetija, mit dem der Herr der Welt die Öffnung der Urtiefe in der Urzeit verschlossen hat"27. Die Urtiefe ist der Urgrund, das wassergefüllte, unter der Erde liegende tehom, aus dem einst die Sintflut hervorbrach. Durch eine Öffnung im Tempel kehrten die Gewässer wieder in den Urozean zurück28, trotzdem nach anderen Über­ lieferungen Israel wegen seiner Höhenlage vor der Überschwemmung bewahrt blieb. Man sieht auch an dieser Stelle, wie unlogisch sich die Bilder aneinander­ reihen. Die Öffnung, durch die jene Flut abströmte, deckt seither der Stein schetija, er dämmt die Wasser des tehom und schützt die Erde vor einer neuen Katastrophe. Die palästinensische Redaktion des Traktats Sanhedrin berichtet (X): „Als David die Kanäle für das Heiligtum grub, grub er 1500 Ellen tief und kam nicht auf den Grund des tehom. Endlich stieß er auf einen Stein und wollte ihn entfernen. Dieser aber rief: ,Du kannst es nicht!' ,Warum?' fragte er. Darauf entgegnete der Stein: ,Als Gott am Sinai sprach: Ich bin der Ewige, dein Gott, erbebte die Erde und senkte sich; ich geriet hierher und bin nun festgebannt in die Tiefe'. Trotzdem hörte David nicht auf ihn und versuchte ihn wegzuheben. Da erhob sich die Flut und wollte die Welt überschwemmen"2B. Feuchtwang hat seinerzeit nachgewiesen, daß die Feier der Wasserschöpfung am Laubhüttenfest streng an diese Vorstellung gebunden ist. Zu Lev 2, 13, wo die Salzung aller Speisopfer vorgeschrieben wird, notiert Raschi: „Denn der Bund ist beim Salze geschlossen worden seit den Tagen der Schöpfung, wo den unteren Gewässern versichert wurde, daß sie mit Salz auf dem Altare dargebracht und am Laubhüttenfest zur Wasserlibation verwendet werden sollten" ”. Laubhütten, das volkstümlichste und fröhlichste Fest des jüdischen Kalenders trug Neujahrscharakter. Unmittelbar vor der Regenzeit gefeiert, bezog es sich auf Acker, Saat und Ernte, vornehmlich aber auf die notwendige Durchfeuchtung des Bodens. Den sinnfälligsten Ausdruck fand diese Sorge in der genannten Wasserlibation21. Man schöpfte zu diesem Zweck Wasser aus der Siloahquelle, trug es in goldenen Gefäßen durchs Wassertor zum Tempel und goß es mit Wein in zwei silberne Becken bei dem Altar, von wo es abströmte in den Fundament­ raum unter dem Brandopferaltar. Da man sich den Fundamentraum mit dem Urmeer durch Kanäle verbunden dachte, so empfing also das tehom die Flüssig­ keitsspende22. Die feuchte Tiefe galt als Quelle der Wolken; ihr mußte geopfert werden, wenn man ein gesegnetes, regenreiches Jahr haben wollte. Nicht ohne

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Sinn betete der Hohepriester am schetija um die Ernährung und Verpflegung der ganzen Welt’3, war der Stein doch gewissermaßen der Deckel zum Tehomkanal, wobei übrigens die bildernde Vorstellung zwischen schetija und Altar hin- und hersprang, beide über der Mündung des tehom plazierend. Welche Bildhaftigkeit dieser Anschauung zukommt, belegt der Vergleich mit dem Brunnen. Das Wasser im Brunnensod, der Schacht nach oben und der Deck­ stein auf der Mündung mußten den Vergleich mit dem Wasser im tehom, mit dem Verbindungskanal zur Oberwelt, mit dem abschließenden schetija geradezu herausfordern, und Feuchtwang zieht sicher mit Recht Genes, rabb. 70, 8 hierher, wo der Libationsritus mit dem Brunnen am Wege nach Haran Gen 29, 2 zu­ sammengestellt wird: „Ein Brunnen auf dem Felde: das ist Zion; Siehe drei Schafherden: das sind die drei Wallfahrtsfeste; Denn aus diesem Brunnen tränkten sie die Schafe: denn von da schöpften sie heiligen Geist; Der große Stein: das ist das Wasserschöpffest; Sie brachten den Stein zurück: bis zum nächsten Wallfahrtsfeste."31

Diese mythisch getönten Bilder leben nun keineswegs allein in den nach­ biblischen und talmudischen Schriften, sie müssen vielmehr schon den Zeit­ genossen der großen Propheten geläufig gewesen sein, sonst blieben die An­ spielungen bestimmter prophetischer Worte unverständlich. Daß Jesaja bereits auf den Zion als Weltberg hindeutet (2,2), daß Ezechiel Jerusalem als Nabelstadt bezeichnet (5, 5; 38, 12), wurde oben erwähnt. Aber auch der Mythos vom schetija muß Jesaja bekannt gewesen sein, denn er sagt 28, 16: „Schon habe ich in Zion einen Grundstein gelegt, einen geprüften Stein, einen kostbaren Eckstein festester Grundlage", ein Satz, dessen Doppelsinnigkeit jeder jüdische Hörer sofort begreifen mußte35, denn die prophetische Sprechweise bemüht sich, der mythischen Wirklichkeit einen übertragenen religiösen Sinn zu unterschieben und den Volksglauben in die Sphäre des Geistigen zu sublimieren, dabei be­ ständig mit den bekannten mythischen Elementen spielend. Und wo die prophetische Rede in ihrem Eifer gegen die Relikte urtümlicher Frömmigkeitsstufen zur Polemik wird, da erhält man plötzlich einen Einblick in etwas bisher Verdecktes, einen Einblick nämlich in die metaphysischen Unter­ gründe dieser Bilderwelt. Warum gerade der Stein zum Schöpfungsmysterium und zum Spender der Urfeuchte wurde, das erklären die höhnenden Worte des Jeremia: „Die welche zum Baum sagen: du bist mein Vater, und zum Stein: du hast mich geboren" (2, 27). Aber bei aller Ablehnung der „Mutter Stein" verfällt selbst noch Deutero-Jesaja diesen mythischen Bildern, wenn er auf den Ursprung Israels zu sprechen kommt: „Blickt auf den Felsen, aus dem ihr gehauen seid, und auf die Höhlung des Brunnens, aus dem ihr ausgegraben seid, blickt hin auf Abraham, euren Ahnherrn, und auf Sara, die euch gebar" (51, 1). Der Stein als 185

Vater und Mutter, dieses Moment muß schon dem vorexilischen Judentum ein fester Glaube gewesen sein, ohne jeden Zweifel ein Rest aus kanaanäischen, megalithischen Zeiten. Diesem Glauben entstammt auch der Stein schetija, der die Welt aus sich heraus entließ. Wie schon angedeutet, fallen für die volkstümliche Vorstellung zwei realiter völlig getrennte Erscheinungen ineinander: der Stein schetija und der Brand­ opferaltar im Tempel. Denn der Stein liegt als Verschluß über dem Kanal zum tehom, und ebenso verschließt auch der Altar mit seinem Fundamentraum die Wege zum Wasser der Urtiefe. Hier wechselt offenbar das figurale Denken, jenseits aller Logik, von einem zum anderen, bald den Stein, bald den Altar zum Pfropfen des Tehomkanals machend”. Diese funktionelle Gleichheit bekräftigt ein genialer Einfall Albrights. Er ver­ weist auf die Form und die Benennung des Altars, die beide durchblicken lassen, daß der Brandopferaltar den Weltberg verkörpert37. Schetija wie Altar besäßen also Omphaloswert und wären beide identisch, als Weltnabelbilder verstanden. Der große Altar baute sich von Salomos Zeit an in drei Stufen auf, in kräf­ tigen Absätzen von Stockwerk zu Stockwerk sich verjüngend. Diese eigenartige Gestalt führt den Namen är'el oder har'el, was Albright mit akkadisch Arallu zusammenstellt, einem doppeldeutigen Wort mit den Sinngehalten „Unterwelt" und „Götterberg". Diese volksetymologische Umformung eines akkadischen Lehnwortes — falls Albright mit seiner Ableitung recht haben sollte — will also besagen, der Altar sei der Weltberg selbst. Die Konjektur Albrights wirft zunächst Licht auf die Gestalt, denn die Stufigkeit des Weltbergs kennen wir nicht nur aus beiden Indien, sie findet sich auch in nächster Nähe des palästinensischen Bereichs, in Mesopotamien. Die Namen der Ziggurats, schon im Sumerischen oftmals mit „Bergspitze" gebildet, verraten noch in spätester Zeit ihren mythischen Hintergrund: „Haus des Funda­ mentes Himmels und der Erde" (Babylon), „Tempel der sieben Wächter des Himmels und der Erde" (Birs Nimrud), „Haus des Berges des Universums" (Assur) ”. Albright zögert denn auch nicht, Gestalt und Namen des Brandopfer­ altars aus Mesopotamien abzuleiten, vergißt dabei aber, daß die Stufenarchitektur, die auch im Thron Salomos hervortritt”, im einheimischen syrisch-palästinen­ sischen Megalithikum verwurzelt ist, wie die treppenförmigen Absätze der Dolmenbasen zeigen. Und da die babylonische Archaik sich mit dem gleichen Megalithikum verzahnt — Steinkistengräber in Teil Ahma und Tepe Gaura, Kragegewölbe mit Plattenwänden in Teil Hariri und ähnliche Konstruktionen aus der letzten Lagaschstufe40 —, so dürften die Parallelen Palästina—Mesopo­ tamien auf Urverwandtschaft, nicht auf späterer Übertragung beruhen. Ganz verfehlt bleibt Albrights Hinweis auf den Hörnerschmuck des Altars wie des Ziggurats, denn beides geht auf den mit Hörnern geschmückten Dolmentisch zurück und nicht etwa auf babylonischen Import in Israel41. Die Einflüsse aus dem Zweistromland haben in der Königszeit Israels bestenfalls einen längst

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vertrauten Eigenbesitz belebt und ihm zu einer architektonischen Form verholten. Daß man jemals diese Verwandtschaft im Sinne eines Imports gedeutet hat, be­ weist nur die Unkenntnis der megalithischen Unterschicht. Nicht nur der schetija, auch der „Weltberg" des Brandopferaltars ist autochthoner Besitz. Will man die Herkunft dieser jüdischen Traditionen von Weltstadt, Weltstein und Weltberg ausmessen, so gibt es einen Fixpunkt, von dem ausgegangen werden muß: es ist die immer wiederkehrende Beschwörung des Zion als Anfang und Mitte der Welt. „Von Zion aus wurde die Welt geschaffen" (Joma 54b), „Von Zion, dem Inbegriff der Schönheit, ist Gott hervorgestrahlt" (ebenda), „In Zion laufen alle Adern der Welt zusammen" (Raschi zu Kohel 2, 5)r>Ar>c »ηίχιχυο.Α’ Je omnefduKtuor

2 Palatinus Vaticanus lat. 1564, fol. 89'· Aus Hygins Constitutio Thulin fig. 93 u. 94; Text ebenda

144, 18—149, 2

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4a Umbilicus urbis Romae. Im Hintergrund die südliche Seitenwange des Severusbogens. Vorne

rechts die Treppe zur Rostra, an deren Nordende der umbilicus steht

4b Togabekleidete Männer mit Stiergespann: Ziehen des sulcus primigenius. Relief aus Aquileja,

brühe Kaiserzeit

5

Palatin beim Mondschein, Nordostseite. Im Hintergrund der Titusbogen

6a Ausschnitt aus der

Mitte der Herefordet Weltkarte: Jerusalem als viertorige Kreis­ stadt

6b Wegekarte des

heiligen Landes mit Jerusalem-Plan,13. Jh. Den Haag, König/. Bibliothek ■jö F 3, fol. 1'

7a Isländischer JerusalemPlan, 13. //1. Kopenhagen

Universitäts-Bibliothek AM 736 I, 4°, 2'

des heiligen Landes mit Jerusalem-Plan, 12. Jh. London, Brit. Museum, Ms. Harleian 638, fol. 39'’ 7b Wegekarte