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German Pages [103] Year 2023
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1515
Die grundrechtsschaffende Gewalt Vorschlag für eine Methodik zur Prüfung der Schaffung neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte
Von Jorge Luis León Vásquez
Duncker & Humblot · Berlin
JORGE LUIS LEÓN VÁSQUEZ
Die grundrechtsschaffende Gewalt
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1515
Die grundrechtsschaffende Gewalt Vorschlag für eine Methodik zur Prüfung der Schaffung neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte
Von Jorge Luis León Vásquez
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany
ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-19007-2 (Print) ISBN 978-3-428-59007-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Arbeit konnte dank der großzügigen Förderung durch die Alexander von Humboldt-Stiftung durchgeführt werden. Diese renommierte Forschungseinrichtung hat mir ein Postdoktorandenstipendium in der Kategorie erfahrener Wissenschaftler für einen Forschungsaufenthalt vom 1. August 2021 bis 31. August 2022 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gewährt. Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung, die mir die Alexander von Humboldt-Stiftung in dieser Zeit zuteil werden ließ. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Lothar Michael für die Leitung dieser Forschungsarbeit. Nicht nur seine kompetente Betreuung, sondern auch seine wissenschaftlichen Reflexionen über den Forschungsgegenstand haben die Fertigstellung dieser Arbeit erst möglich gemacht. Auch hier möchte ich seine Freundlichkeit und Großzügigkeit hervorheben. Er ist nicht nur ein Lehrer im wahrsten Sinne des Wortes, sondern auch ein großartiger Mensch. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle und Prof. Dr. Markus Kotzur, meinem Doktorvater. Ohne ihre ständige und großzügige Unterstützung wäre es nicht möglich gewesen, ein Stipendium von der AvH-Stiftung zu erhalten. Ich möchte auch Frau Sarah Dersarkissian, Herrn Dr. Daniel Busche, Prof. Michaels sowie den wissenschaftlichen Mitarbeitern für den wissenschaftlichen Dialog und die Korrektur des letzten Entwurfs dieser Arbeit danken. Ferner möchte ich Frau Yvonne Töpperl-Hönsch (Sekretariat) danken, die mich ebenfalls mit Freundlichkeit und Geduld während meines Forschungsaufenthalts unterstützt hat. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Lima, August 2023
Jorge Luis León Vásquez
Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 B. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Verfassungsgerichtliche Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Dogmatische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 C. Begriffliche Klarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Begriffliche Ursprünge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. „Anerkennung“, „Positivierung“, „Entwicklung“ und „Kreation“ der Grundrechte 19 1. „Anerkennung“ der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. „Positivierung“ der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. „Entwicklung“ der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4. „Kreation“ der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 D. Kreationsimpulse für Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I. Grundrechte und soziale Wirklichkeit – Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Formative Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Transformative Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Antizipierender Nexus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Impulse zur Transformation der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 III. „Resilienz“ der Grundrechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 IV. Verfassungsgerichte: „Vorreiter“ des gesellschaftlichen Wandels? . . . . . . . . . . . . 32 V. Verfassungsgerichte: „letzter Interpret“ der sozialen Veränderungen? . . . . . . . . . 33 E. Die grundrechtsschaffende Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 I. Eine Institution, verschiedene Typisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 II. Funktion und Gewalt der Verfassungsgerichte bei der Kreation neuer Grundrechte 37 1. Historisch-verfassungsrechtliche Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Dogmatische Stellungnahmen in der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Stellungnahme einiger Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
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Inhaltsverzeichnis III. Mitkonstituierende Funktion der Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Abstrakte Kontrolle der verfassungsändernden „Gesetze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Verfassungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Kreation der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
F. Dogmatische Fragen bei der Kreation neuer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Echte Grundrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Rangordnung neuer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 III. Schutzbereiche neuer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 IV. Grenzen der neuen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 V. Interpretation neuer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 VI. Wandel der neuen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 G. Vorschlag einer Methodik zur Prüfung der Kreation neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 I. Notwendigkeit einer Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 II. Einblick in das Völkerrecht und das vergleichende Verfassungsrecht . . . . . . . . . . 58 III. Eigener Vorschlag einer fünfstufigen Methodik zur Prüfung der Schaffung neuer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Erste Stufe: Festlegung der normativen und faktischen Prämissen . . . . . . . . . . 62 a) Festlegung normativer Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 b) Festlegung faktischer Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Zweite Stufe: Festlegung des neuen Grundrechtsschutzbereichs . . . . . . . . . . . . 64 3. Dritte Stufe: Prüfung der Relation des neuen Grundrechts zu den Grundentscheidungen der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4. Vierte Stufe: Analyse der praktischen Effektivität des neuen Grundrechts . . . . 67 5. Fünfte Stufe: Analyse der Verfahrensgarantien des neuen Grundrechts . . . . . . 69 H. Anwendung der Methodik am Beispiel der Bundesnotbremse II-Entscheidung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II. Kontextualisierung der Entscheidung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 III. Die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG . . . . . . . . . 73 1. Erste Stufe: Festlegung faktischer und normativer Voraussetzungen des „Rechts auf schulische Bildung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Festlegung faktischer Prämissen des „Rechts auf schulische Bildung“ . . . . 73 b) Festlegung normativer Prämissen des „Rechts auf schulische Bildung“ . . . . 74
Inhaltsverzeichnis
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2. Zweite Stufe: Festlegung des Schutzbereichs des „Rechts auf schulische Bildung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Dritte Stufe: Prüfung der Relation des „Rechts auf schulische Bildung“ zu den Grundentscheidungen des GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Vierte Stufe: Prüfung der praktischen Effektivität des „Rechts auf schulische Bildung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5. Fünfte Stufe: Analyse der Verfahrensgarantien des „Rechts auf schulische Bildung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 I. Ergebnis: Neue Grundrechte zu erfinden, ist Sache der Verfassungsgerichte . . . 82
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
A. Einführung Das Problem der Schaffung neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte wirft verschiedene dogmatische Fragen auf, die in der peruanischen und deutschen Fachliteratur bisher nicht behandelt wurden, obwohl das Problem theoretische und praktische Auswirkungen sowohl auf die Grundrechtsdogmatik als auch auf die Rolle der Verfassungsgerichte hat. Dieses Problem lässt sich in zwei Hauptfragen erfassen: Welche Funktion haben die Verfassungsgerichte und welche Art von Macht üben sie aus, wenn sie Grundrechte kreieren? Welche methodischen Kriterien (wenn überhaupt) wenden die Verfassungsgerichte bei der Kreation von Grundrechten an? Die erste Frage ist theoretisch-konstitutioneller Natur. Ein Verfassungsgericht ist dazu berufen, eine bestimmte Art von Fragen prima facie zu klären, wobei es sich an der Verfassung orientiert, an die es wie alle anderen Staatsorgane gebunden ist. Wenn ein Verfassungsgericht jedoch ein Grundrecht kreiert, erfüllt es eine ganz andere Funktion, als seine rein gerichtliche, da das Ergebnis seines Handelns im Wesentlichen eine Ausweitung seines Maßstabes der verfassungsrechtlichen Kontrolle von Gesetzen impliziert und darüber hinaus eine scheinbare Änderung des Grundrechtskatalogs der Verfassung auf einem anderen Weg als dem der Verfassungsänderung einführt – umso mehr, als die Befugnis zur Änderung der Verfassung prinzipiell nicht einem Verfassungsgericht, sondern dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten ist. Darüber hinaus sind Art und Charakter dieser von den Verfassungsgerichten ausgeübten grundrechtsschöpfenden Befugnis bislang ein Rätsel.1 Es handelt sich im Vergleich zu der von der Judikative ansonst ausgeübten Befugnis eindeutig um eine andere und unbekannte Befugnis. Diese Frage wird von anderen, ebenso wichtigen Fragen begleitet, wie z. B. der Frage, ob die von den Verfassungsgerichten geschaffenen Grundrechte für die verfassungsändernde Gewalt unantastbar sind (d. h., ob diese sie aufheben oder abändern kann); ferner der Frage nach der Natur dieser neuen Grundrechte (sind es echte Grundrechte?) oder der Frage, ob ein Verfassungsgericht berechtigt ist, ein Gesetz wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem von ihm geschaffenen Grundrecht für verfassungswidrig zu erklären. Die zweite Frage ist methodisch-konstitutioneller Natur. Wenn man akzeptiert, dass die Verfassungsgerichte die Kompetenz und Legitimation haben, Grundrechte zu erschaffen, ist im Anschluss die zentrale Fragestellung zu beantworten, welche methodischen Regeln die Verfassungsgerichte in diesem Prozess der Grundrechtsschöpfung berücksichtigen sollten. Ohne eine klare und im Voraus festgelegte 1
Siehe Hillgruber, in: JZ 18/2011, S. 863 ff.
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A. Einführung
Methodik steigt die Gefahr, dass die Verfassungsgerichte in reinen juristischen Dezisionismus verfallen oder ihre Macht missbrauchen, da nicht jede Veränderung der sozialen Realität notwendigerweise die Kreation eines neuen Grundrechts erfordert. Ebenso kann der Mangel an methodischer Klarheit zu der Auffassung führen, dass die Verfassungsgerichte durch die Schaffung neuer Grundrechte willkürlich handeln und allein durch ihre Entscheidung ihre Kontrollmöglichkeiten über die Legislative, die Judikative und die Exekutive ausweiten. Daraus ergibt sich schließlich die zwingende Notwendigkeit, eine spezifische Methodik zu entwickeln, um eine größtmögliche Rationalität und Plausibilität im Prozess der Kreation von Grundrechten zu gewährleisten. Dadurch könnte verhindert werden, dass ein neues Grundrecht für die Verfassungsgerichte selbst viel bedeutet, für die Bürger aber nichts oder nur sehr wenig.
B. Bestandsaufnahme I. Verfassungsgerichtliche Bestandsaufnahme Neue Zeiten erfordern neue Grundrechte. Diese Formulierung spiegelt möglicherweise genau den Trend wider, dem viele Verfassungsgerichte in der ganzen Welt folgen. Der Supreme Court der USA hat in der Rechtssache Packingham v. North Carolina aus dem First Amendment der amerikanischen Verfassung „das Recht auf Zugang zu sozialen Netzwerken“ mit dem Argument entwickelt, dass „einer der wichtigsten Räume für den Meinungsaustausch heute das Cyberspace ist, insbesondere soziale Netzwerke, die eine relativ unbegrenzte und kostengünstige Kapazität für Kommunikationen aller Art bieten“.2 In Frankreich hat der Conseil constitutionnel auf der Grundlage des Art. 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 das „Recht auf Zugang zum Internet“ erfunden und zwar aufgrund der Bedeutung „der öffentlichen Online-Kommunikationsdienste“ und ihrer Relevanz „für die Teilnahme am demokratischen Leben und den Ausdruck von Ideen und Meinungen“.3 Im Jahr 1983 zeigte das BVerfG „das Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ auf;4 fast ein Vierteljahrhundert später entwickelte es „das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“,5 ferner „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“6 und „das Recht auf Vergessen“7. Offen bleibt die Frage, ob sich aus seiner jüngsten Klimaschutz-Entscheidung8 neue Grundrechte insbesondere für die „künftigen Generationen“9 ableiten lassen.10 Das BVerfG ist
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Supreme Court of the United States, Urt. v. 19. 6. 2017, Rs. 15 – 1194, II, S. 4 ff. Conseil constitutionnel, Urt. v. 10. 6. 2009, Rs. 2009 – 580 DC, Rn. 12 ff. 4 BVerfG 65, 1, 45 – Volkszählung. 5 BVerfG 120, 274, 302 – Online-Durchsuchung. 6 BVerfG 125, 175, 225 – Hartz IV. 7 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 16/13, Rn. 105 ff. = BVerfGE 152, 152 – Recht auf Vergessen I; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 06. 11. 2019 – 1 BvR 276/17, Rn. 22 = BVerfGE 152, 216 – Recht auf Vergessen II. 8 BVerfG, Beschluss v. 24. 03. 2021, 1 BvR 2656/18, Rn. 1 – 270. 9 Möllers, in: RuP 3/2021, S. 286, 289. 10 Schlacke, in: NVwZ 2021, S. 916, behauptet, dass das BVerfG „ein neues Grundrecht auf intertemporale Freiheitssicherung“ kreiert hätte; Kirchhof, Intertemporale Freiheitssicherung, S. 69, hingegen: „Das Bundesverfassungsgericht hat kein neues Umweltgrundrecht entwickelt“, sondern „ein neues grundrechtliches Institut“. 3
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B. Bestandsaufnahme
jedoch zurückhaltend,11 was das Bestehen eines „Grundrecht[s] auf ein ökologisches Existenzminimum“ oder eines „Rechts auf eine menschenwürdige Zukunft“ betrifft.12 In seiner jüngsten Bundesnotbremse II-Entscheidung hat das BVerfG das „Recht auf schulische Bildung“13 etabliert. In Lateinamerika folgen einige Verfassungsgerichte diesem Trend mit großem Enthusiasmus. So hat beispielsweise die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs von Costa Rica in der Rechtssache Esquivel c/ Instituto Costarricense de Electricidad y Superintendencia de Telecomunicación die Auffassung vertreten, dass der fehlende Zugang zu Internet- und Mobiltelefondiensten „das verfassungsmäßige Recht der Betroffenen auf Telekommunikation beeinträchtigt“.14 Das Oberste Bundesgericht von Brasilien hat festgestellt, dass Transgender im Rahmen des Schutzes des Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung das grundlegende subjektive Recht haben, ihren Vornamen und ihre Geschlechtszugehörigkeit beim „registro civil“ zu ändern.15 Der mexikanische Oberste Gerichtshof hat auch das „Recht auf Genderidentität“16 anerkannt und nach langem Warten in einem kürzlich ergangenen Urteil festgestellt, dass schwangere Frauen das „Recht auf Entscheidung“17 haben, so dass eine Abtreibung unter den von diesem Gericht festgestellten Umständen nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden kann. In Kolumbien hat das Verfassungsgericht „das Grundrecht auf Wahrheit“18 entwickelt und, noch weitergehend als andere Verfassungsgerichte, einen verunreinigten Fluss „als Subjekt von Rechten auf Schutz, Erhaltung, Pflege und Wiederherstellung durch den Staat und die ethnischen Gemeinschaften“19 anerkannt. In seinem Urteil in der Rechtssache Kersich c/ Aguas Bonaerenses S.A. hat der Oberste Gerichtshof von Argentinien „das Grundrecht auf Zugang zu Trinkwasser“20 entwickelt. In den letzten Jahren hat auch das peruanische Verfassungsgericht neue Grundrechte geschaffen, wie das „Grundrecht auf Trinkwasser“21 (das später durch eine Verfassungsreform in Art. 7-A der Verfassung aufgenommen wurde),22 das
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Ruttloff/Freihoff, in: NVwZ 2021, S. 921. Eisentraut, in: RuP 3/2021, S. 316 f. 13 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21. 14 Corte Suprema de Justicia de Costa Rica, Urt. v. 17. 1. 2014, Rs. 00531 – 2014, III. 15 Supremo Tribunal Federal, Urt. 1. 3. 2018, Rs. 4.275/DF. 16 Suprema Corte de Justicia de la Nación, Urt. v. 17. 10. 2018, Rs. 1317/2017, 39 ff. 17 Suprema Corte de Justicia de la Nación, Urt. v. 7. 9. 2021, Rs. 148/2017, Rn. 53 ff. 18 Corte Constitucional, Urt. v. 21. 3. 2018, Rs. C–017/18, Rn. 24 ff. 19 Corte Constitucional, Urt. v. 10. 11. 2016, Rs. T–622/16, Rn. 9.32; dazu Gutmann, Hybride Rechtssubjektivität, S. 89 ff. 20 Corte Suprema de Justicia de la Nación, Urt. v. 2. 12. 2014, Rs. 42/2013 (49–K), Rn. 12. 21 Tribunal Constitucional, Urt. v. 7. 11. 2007, Rs. 6546 – 2006–PA/TC, Rn. 3 ff. 22 Gesetz zur Verfassungsreform Nr. 30588 v. 22. 6. 2017. 12
I. Verfassungsgerichtliche Bestandsaufnahme
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„Grundrecht auf Wahrheit“23, das „Grundrecht auf Anerkennung der Rechtsfähigkeit“24 und das „Grundrecht auf Nahrung für den Lebensunterhalt“25. Dieses Phänomen ist auch in der Rechtsprechungstätigkeit der internationalen Gerichte zu beobachten. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) spielt seit langem eine aktive Rolle bei der Kreation von Menschenrechten, die in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention nicht ausdrücklich vorgesehen sind, wie z. B. „das Recht auf Wahrheit“26, „das Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen“27, „das Recht auf Gerechtigkeit“28, „das Recht auf Identität“29, „das Recht auf frühere Kultur oder kulturelle Identität“30, „sexuelle und reproduktive Rechte“31 und „das Recht auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität“32. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat zudem verschiedene Grundrechte in der europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung gerichtlich weiterentwickelt. Praktisch hat der EuGH einen kompletten Grundrechtskatalog im Wege richterlicher Rechtsfortbildung kreiert,33 darunter zuletzt das „Recht auf Vergessenwerden“.34 Dies ist auch die Richtung, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)35 mit seiner jüngsten Entscheidung zum „Recht auf Vergessenwerden“36 einschlägt, welche nicht nur die kreative Tendenz der internationalen Gerichte bestätigt, sondern wodurch auch der gerichtliche Dialog zwischen dem EuGH und dem EGMR zum Ausdruck kommt. Der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte (AGMR) hat seinerseits das „Grundrecht auf Staatsangehörigkeit“37 und das „allgemeine Grundrecht auf Gerechtigkeit“38 entwickelt, die in der Afrikanischen Charta 23
Tribunal Constitucional, Urt. v. 18. 3. 2004, Rs. 2488 – 2002–HC/TC, Rn. 8 ff. Tribunal Constitucional, Urt. v. 30. 4. 2009, Rs. 00114 – 2009–PHC/TC, Rn. 9 ff. 25 Tribunal Constitucional, Urt. v. 12. 2. 2019, Rs. 01470 – 2016–PCH/TC, Rn. 12 ff. 26 IAGMR, Urt. v. 5. 7. 2004, Rs. 19 Comerciantes vs. Colombia, Rn. 176, 188. 27 IAGMR, Urt. v. 19. 9. 2006, Rs. Claude vs. Chile, Rn. 77. 28 IAGMR, Urt. v. 23. 11. 2010, Rs. Vélez Loor vs. Panamá, Rn. 254. 29 IAGMR, Urt. v. 24. 2. 2011, Rs. Gelman vs. Uruguay, Rn. 122. 30 IAGMR, Urt. v. 27. 6. 2012, Rs. Pueblo Indígena Kichwa de Sarayaku vs. Ecuador, Rn. 159, 212. 31 IAGMR, Urt. v. 28. 11. 2012, Rs. Artavia Murillo y otros („fecundación in vitro“) vs. Costa Rica, Rn. 144, 341. 32 IAGMR, Urt. v. 24. 2. 2012, Rs. Atala Riffo y Niñas vs. Chile, Rn. 91 ff. 33 Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 96; dort siehe auch die Reihe der vom EuGH gerichtlich entwickelten Rechte und ihre jeweiligen Urteile, zudem Schulze/Seif, in: Schulze/Seif, S. 2 Fn. 5. 34 EuGH, Rs. C-131/12 (Google/Spain), Rn. 89 ff. 35 Dazu siehe Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 9 Rn. 21 ff. 36 EGMR, Urt. v. 22. 6. 2021 – Hurbain/Belgien, Rn. 110 ff. 37 AGMR, Urt. v. 22. 3. 2018 – Anudo/Tanzania, Rn. 76 ff.; Cirimwami, in: African Human Rights Yearbook 4 (2020), S. 11. 38 AGMR, Urt. v. 24. 11. 2017 – Ingabire/Rwanda, Rn. 52 ff.; Cirimwami, in: African Human Rights Yearbook 4 (2020), S. 13. 24
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B. Bestandsaufnahme
der Menschenrechte und Rechte der Völker keine textliche Grundlage haben; er hat auch einen sehr spannenden juristischen Ansatz ausgebaut, der das Land als „spirituelles Element“ und indigene Völker als „Hüter lokaler Ökosysteme“39 betrachtet. Aus dieser Übersicht geht hervor, dass sich Verfassungsgerichte und internationale Gerichte derzeit nicht mehr nur auf die Auslegung und Anwendung von Verfassungen und internationalen Verträgen beschränken, sondern auch eine zunehmend aktive Rolle bei der Schaffung neuer Grundrechte übernehmen. Dies entzieht sich eindeutig dem klassischen und traditionellen Modell dessen, was von Verfassungsgerichten erwartet wird. Mit dieser Rolle nehmen die Verfassungsgerichte auch an der Grundrechtspolitik teil, was für die Verfassungsdogmatik im Allgemeinen von besonderem Interesse sein dürfte.
II. Dogmatische Bestandsaufnahme Die Grundrechtsdogmatik hat das Problem der Grundrechtskreation durch die Verfassungsgerichte bisher nicht theoretisiert, obwohl in der Literatur immer wieder „neue“ spezifische Grundrechte vorgeschlagen werden. So ist die Rede vom „Grundrecht auf staatlichen Schutz“,40 „Grundrecht auf Umweltschutz“,41 „Grundrecht auf saubere Umwelt“,42 „Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum“,43 „Grundrecht auf Sonntag“,44 „Grundrecht auf Sonntagsruhe“,45 „Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung“,46 „Grundrecht auf Sicherheit“,47 „Grundrecht auf Demokratie“48 und vom „Grundrecht auf Stiftung“.49 Außerdem spricht man vom „Grundrecht auf Heimat“,50 „Grundrecht auf Familienförderung“,51 „Grundrecht auf 39
Dazu Iglesias Vázquez, in: Revista Latinoamericana de Derechos Humanos 29 (2018), S. 96 ff. 40 Gerbig, Grundrecht auf staatlichen Schutz, S. 1 ff. 41 Orth, „Ein“ Grundrecht auf Umweltschutz in Europa?, S. 1 ff.; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 1 ff. 42 Klein, in: FS Werner Weber, S. 651. 43 Calliess, in: Berliner Online-Beitra¨ ge zum Europarecht 129 (2021), S. 1 ff. – Abrufbar unter https://www.jura.fu-berlin.de/forschung/europarecht/bob/berliner_online_beitraege/Paper 139-Calliess/BOB-139-Calliess.pdf. 44 Lutz, Vom Recht zur Berechtigung, S. 57 ff.; Mosbacher, in: NVwZ 2010, S. 537 ff. 45 Dietlein, in: FS Martin Morlok, S. 125 ff. 46 Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, S. 85 ff. 47 Leuschner, Sicherheit als Grundsatz, S. 72 ff.; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 17 ff. 48 Enders, in: Stern/Becker, Art. 1, Rn. 20. 49 Rawert, in: FS Reuter, S. 1323 ff. 50 Gornig/Murswiek, Das Recht auf die Heimat, S. 17 ff.; Blumenwitz, Recht auf die Heimat im zusammenwachsenden Europa, S. 41 ff. 51 Gysi, Zum Inhalt des Grundrechts auf Familienförderung, S. 1 ff.
II. Dogmatische Bestandsaufnahme
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Religionsunterricht“,52 „Grundrecht auf gute Verwaltung“,53 „Grundrecht auf Abtreibung“54, „Grundrecht auf Datenverarbeitung“,55 „Grundrecht auf Arbeit“,56 „Grundrecht auf ein Girokonto“,57 „Grundrecht auf Steuergerechtigkeit“,58 „Grundrecht auf Methodengleichheit“,59 „Grundrecht auf Sprachenfreiheit“,60 „Grundrecht auf Naturgenuss und Erholung“,61 „Grundrecht auf Mobilität“,62 „Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung“,63 „Grundrecht auf öffentlichen Raum“,64 „Grundrecht auf Anonymität im Internet“65 usw. Hinzu kommen das sogenannte „IT-Grundrecht“66 oder „Computergrundrecht“,67 das „Grundrecht auf medialen Neubeginn“68 und das „Grundrecht auf mediale Selbstbestimmung“69. Erst in jüngster Zeit wurde die Notwendigkeit der Kreation spezifischer Grundrechte zum Schutz des Menschen vor den Gefahren der Neurowissenschaften und der Neurotechnologie70 in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht – Rechte, die als „Neuro-Grundrechte“ bezeichnet werden können. Es zeigt sich also, dass in der juristischen Fachliteratur überwiegend der Begriff „neues Grundrecht“ verwendet wird, wenn auch nur durch beiläufige Nennung des Begriffs und ohne, dass die Grundrechtsdogmatik sich näher mit dessen Bedeutung und Reichweite auseinandersetzen würde.71 Auch in der neuesten Literatur wird das 52 Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht, S. 164 ff.; Seel, Religionsunterricht an bekenntnisfreien Ersatzschulen, S. 117 ff. 53 Classen, Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, S. 143 ff. 54 Frommel, in: NK 3/1991, S. 28 ff. 55 Giesen, in: JZ 2007, S. 920 ff. 56 Nebendahl, in: ZRP 1991, S. 259 ff.; Rasehorn, in: ZRP 1992, S. 232. 57 Rohe, in: ZRP 1995, S. 264 ff. 58 Martens, in: KritV 1987, S. 54 ff. 59 Gaebel, Das „Grundrecht auf Methodengleichheit“, S. 76 ff. 60 Schmidt, Das Grundrecht der Sprachenfreiheit, S. 117 ff. 61 Schöfberger, Das Grundrecht auf Naturgenuss und Erholung, S. 1 ff. 62 Kettler, Grundrecht auf Mobilität?, S. 12 ff.; Röthel, Grundrechte in der mobilen Gesellschaft, S. 154, 189 ff. 63 Valentiner, Das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, S. 185 ff. 64 Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum, S. 27 ff. 65 Dazu siehe den Band, herausgegeben von Bäumler/von Mutius, Anonymita¨ t im Internet, S. 1 ff. 66 Hauser, Das IT-Grundrecht, S. 46 ff. 67 Bäcker, in: Uerpmann-Wittzack, S. 1 ff. 68 Diesterhöft, Das Recht auf medialen Neubeginn, S. 163 ff. 69 Schulz, in: RDi 2021, S. 379 ff. 70 Siehe Ienca/Andorno, in: Life Sciences, Society and Policy, 2017, 13.5, S. 7 ff. 71 So z. B. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 351 Fn. 262; Sorber, Die Rechtsstellung des Bewerbers im Einstellungsverfahren, S. 68 ff.; Wehage, Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und seine Auswirkungen auf das Bürgerliche Recht, S. 3; Buermeyer, Informationelle Selbstbestim-
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B. Bestandsaufnahme
Thema der neuen Grundrechte rein deskriptiv behandelt.72 Es fehlt insgesamt an einer grundlegenden dogmatischen Aufarbeitung.
mung und effektiver Rechtsschutz im Strafvollzug, S. 123 ff.; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 197. 72 Augsberg, Theorien der Grund- und Menschenrechte, S. 136 ff.
C. Begriffliche Klarstellungen I. Begriffliche Ursprünge Das Wort Kreation geht etymologisch auf die lateinischen Wörter „creatio“ als Substantiv und „creare“ als Verb zurück, was entwerfen oder erfinden bedeutet.73 Im heutigen Sprachgebrauch ist diese Bedeutung mit der Idee verbunden, etwas Neues ins Leben zu rufen. In der juristischen Fachsprache ist die Verwendung des Begriffs der Kreation kein Novum. Man spricht von der Kreation von Regeln, Einrichtungen, Begriffen, Prinzipien usw., ohne dass der Begriff selbst bisher in der Rechtswissenschaft besondere Beachtung gefunden hätte. In der Debatte um die Grenzen der Verfassungsgerichte stellte sich allenfalls die Frage, ob sie nur bestehende Normen auslegen und anwenden oder ob sie auch neue erschaffen können. Der Begriff „Kreation“ kann daher als Teil des üblichen sprachlichen Besitzstandes der Juristen bezeichnet werden. Wie bei anderen Wörtern, die in mannigfaltigen Sachbereichen oder zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten verwendet werden, hat der Begriff Kreation heute jedoch eine spezifische Bedeutung erlangt, insbesondere im Bereich der Grundrechtsdogmatik, wenn der Begriff „Kreation“ mit der Ableitung „neuer Grundrechte“ verbunden ist. Mit dem Auftauchen dieses Begriffs in der Grundrechtsdogmatik ergibt sich zum einen die Notwendigkeit, seine spezifische Bedeutung und Tragweite zu klären, und zum anderen die Notwendigkeit, zu bestimmen, ob sich die Begriffe „Anerkennung“, „Positivierung“ und „Entwicklung“ der Grundrechte auf dasselbe Phänomen oder auf unterschiedliche Phänomene beziehen.
II. „Anerkennung“, „Positivierung“, „Entwicklung“ und „Kreation“ der Grundrechte 1. „Anerkennung“ der Grundrechte Im Allgemeinen bezieht sich der Begriff „Anerkennung“ auf die Vorstellung von etwas, das in der Realität bereits vorhanden ist: eine Tatsache, eine Sache, eine Situation. Der Akt der Anerkennung impliziert eine Bestätigung, eine Gültigkeitserklärung, eine Legitimierung von etwas, das bereits existiert. Im Recht findet sich 73 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 539; Duden, Deutsches Universalwörterbuch, S. 1079.
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C. Begriffliche Klarstellungen
der Begriff Anerkennung als Grundgedanke bereits in der Erklärung der Rechte von Virginia (1776),74 aber auch in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789).75 Der Art.1 Abs. 2 GG spricht von der Anerkennung der Menschenrechte. Auch in der Verfassungslehre der Weimarer Republik war der Begriff Anerkennung gebräuchlich. Dies zeigt sich insbesondere in der Konzeption der Grundrechte „als vor- und überstaatliche Rechte“76 gegenüber dem Staat, wobei die Bedeutung ihrer Anerkennung im „fundamentalen Verteilungsprinzip“77 zum Ausdruck kommt. Es zeigt sich aber auch auf Grundlage der These, dass in den Grundrechten ein konkretes Wertesystem liege, wonach die Verfassung als oberstes Gesetz des Landes normativ anerkannt ist78 und auf deren Grundlage die „positive Staats- und Rechtsordnung legitim“79 wird. Der Gedanke der Anerkennung ist sogar in der Theorie enthalten, die die Grundrechte „nicht mehr als Naturrechte, sondern als Kulturrechte“ anerkennt.80 Selbst in der skeptischen Sichtweise der Grundrechte ist die Idee der „naturrechtlichen Prinzipien“81 vorhanden. 74 Art. 1 dieser Erklärung spricht von „angeborenen Rechten“ des Menschen, die ihm, wenn er in die Gesellschaft eintritt, nicht vorenthalten oder aufgehoben werden können. Da es sich um angeborene Rechte handelt, werden sie nicht durch ihre Erklärung erworben. Ihre „Anerkennung“ verleiht ihnen in diesem Fall normative Kraft und die Unmöglichkeit, ignoriert oder annulliert zu werden. 75 Diese Erklärung geht von den natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechten des Menschen aus, die „anerkannt und erklärt“ werden müssen, um „respektiert“ und „eingefordert“ zu werden. Auch in den internationalen Menschenrechtsnormen ist in erster Linie von der Anerkennung von Rechten die Rede. 76 Schmitt, Verfassungslehre, S. 163. In seinem liberalen und unpolitischen Verständnis vertrat er die Auffassung, dass ein wissenschaftlich tragfähiger Begriff nur derjenige sein könne, der die Grundrechte ausschließlich als Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat begreift. Der Staat würde die Rechte nicht nach seinen eigenen Gesetzen schaffen, sondern sie als vor ihm gegeben anerkennen und schützen; daher können Rechte, die z. B. nach dem Willen einer Parlamentsmehrheit gegeben werden, nicht als Grundrechte bezeichnet werden. 77 Schmitt, Verfassungslehre, S. 164. 78 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 92. Die Betrachtung der Grundrechte als Darstellung eines spezifischen axiologischen Systems ist eine weitere Möglichkeit, den Begriff und die Funktion der Grundrechte zu verstehen. Sie wären nicht nur Ausdruck eines bestimmten Wertesystems, sondern auch eines kulturellen Systems, das den in der Verfassung enthaltenen Sinn des staatlichen Lebens zusammenfasst. 79 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 265. 80 Heller, Gesammelte Schriften, S. 286. In seinem Denken werden die Grundrechte einerseits als Ausdruck eines Wertesystems verstanden, das einer ständigen historischen Revolution unterworfen ist, und andererseits als Ausdruck eines kulturellen Systems insgesamt, das den einzelnen Staat legitimiert, aber auch als Verweis auf moralische Rechtsgrundsätze, die die Grundlage für positive Rechtsnormen bilden. Dazu Heller, Europa und der Fascismus, S. 89 f. 81 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 371 ff. Seine Vorstellung von „Freiheiten“ kann rechtlich nur negativ definiert werden. Einen Grundrechtskatalog hält er für „überflüssig“ und „problematisch“, da er zu einer „Denaturalisierung der naturrechtlichen Prinzipien“ führen würde. Diese wären nur dann relevant, wenn sie den Charakter von formellen Verfassungsgesetzen hätten, d. h. wenn die Änderung der sie begründenden Vorschriften unter erschwerten
II. „Anerkennung“, „Positivierung“, „Entwicklung“ und „Kreation“ der Grundrechte 21
Ergo bezieht sich der Begriff „Anerkennung von Rechten“ auf ein spezifisches Phänomen im Zusammenhang mit einer bestimmten Art von Rechten, deren Besonderheit darin besteht, dass sie ihre Existenz nicht dem Staat verdanken, sondern ihm nicht nur vorausgehen, sondern auch übergeordnet sind. Unabhängig davon, ob man die Grundrechte als negative Freiheiten (Carl Schmitt), als Wertesystem (Rudolf Smend), als Ausdruck eines kulturellen Systems (Hermann Heller) oder auch nur als naturrechtliche Prinzipien (Hans Kelsen) versteht, bleibt der Grundgedanke der dem Staat vor- und übergeordneten Rechte bestehen. Wenn man heute von der Anerkennung von Rechten spricht, bedeutet dies, dass man die Grundlagen der Menschenrechte, aber auch ihr Verhältnis zum Staat diskutiert, unabhängig davon, ob man ontologische, moralische oder rationale Positionen zu den Menschenrechten82 vertritt. Konkret bedeutet dies, dass die Grundrechte Voraussetzungen des Staates sind, die sein Handeln legitimieren, aber gleichzeitig auch begrenzen. Mit der Anerkennung der Grundrechte garantiert der Staat Rechtspositionen des Einzelnen, „die dem Staat selbst voraus liegen. Der Staat stellt die Grundrechte unter seinen Schutz, ,schafft‘ sie aber nicht. Grundrechte sind vorstaatlich und wurzeln in der menschlichen Person, ihrer Würde und ihrer Einzigartigkeit“.83
2. „Positivierung“ der Grundrechte Wenn die Anerkennung von Rechten uns in erster Linie auf die philosophische Ebene der Diskussion über die Grundlagen der Menschenrechte und ihr vorrangiges Verhältnis zum Staat verweist, so führt uns das Phänomen der „Positivierung“ von Grundrechten hingegen auf die Ebene historischer, politischer, sozialer und rechtlicher Überlegungen. Dies bedeutet nicht, dass die Prozesse der Positivierung der Grundrechte nicht auch die philosophischen Grundlagen der Anerkennung der Rechte umfassen und umgekehrt. Im Grunde genommen geht es lediglich um die Orientierung und den Gegenstand jedes dieser Prozesse. Wie erwähnt, befasst sich die Anerkennung von Rechten mit Fragen im Zusammenhang mit den Grundlagen der Grundrechte und ihrem Verhältnis zum Staat, während sich die Positivierung von Grundrechten mit einem anderen Aspekt befasst, der im Folgenden erörtert wird.
Bedingungen (z. B. durch eine qualifizierte Parlamentsmehrheit) erfolgen müsste. Seine Skepsis veranlasst ihn aber zu der Behauptung, dass nur dann, wenn die gesetzliche Ermächtigung zum Eingriff in die geschützte Freiheitssphäre aus einem verfassungsändernden Gesetz hervorgeht, die Freiheitssphäre tatsächlich einen gewissen größeren Rechtsschutz genießen würde, was sie aber noch nicht zu einem Recht mache. 82 Dazu Wasmaier-Sailer/Hoesch, Die Begründung der Menschenrechte, S. 1 ff.; Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 93 ff. 83 Mückl, in: Thomas/Hattler, S. 164.
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C. Begriffliche Klarstellungen
Die Grundrechte sind das Ergebnis von Prozessen, die durch historische, politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren bestimmt werden.84 So betrachtet sind sie Reaktionen auf bestimmte Formen von Bedrohungen und Verletzungen der Grundfreiheiten des Einzelnen und werden im Laufe der Zeit auch zu Forderungen nach positivem Handeln des Staates. Daher wird zu Recht behauptet, dass „die Geschichte der Grundrechte die Geschichte der menschlichen Freiheit ist“.85 In eben diesen Prozessen der Positivierung der Grundrechte zeigt sich, inwieweit die Grundrechte das Ergebnis dieser Prozesse sind. Die Positivierung der Grundrechte muss also nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch aus der Perspektive des Rechts selbst beurteilt werden. Historisch gesehen befinden sich die Grundrechte in einem Kontinuum, in dem es nicht möglich ist, eine Stunde Null oder ein Erstellungsdatum für ihr Entstehen festzulegen. Es handelt sich um einen sich ständig verändernden Prozess, der trotz oder sogar entgegen den positiven Normen weitergeht. Rechtlich gesehen wird davon ausgegangen, dass die Grundrechte eine „Geburtsurkunde“ haben, die die Lehre gewöhnlich mit den großen Rechtserklärungen oder dem Inkrafttreten bestimmter Verfassungen identifiziert. In diesem Sinne kann man sagen, dass es keinen notwendigen Synchronismus zwischen der historischen Entwicklung der Grundrechte und ihrer Positivierung gibt. Die Positivierung als Prozess erfasst nur ein bestimmtes historisches Moment der Grundrechte, erschöpft oder beendet es aber nicht. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet stellen die Erklärungen der Grundrechte an sich nicht die „Geburt“ der Grundrechte dar, sondern sind vielmehr der Höhepunkt einer jahrhundertelangen intellektuellen Ausarbeitung.86 In diesem Zusammenhang bezieht sich die Positivierung der Grundrechte auf den Prozess, durch den die normativ-konstitutionellen Elemente der Rechte in den Vordergrund gerückt werden.87 Ausgehend von dem kategorialen Unterschied zwischen moralischen Menschenrechten und rechtlichen Menschenrechten lässt sich zudem festhalten, dass durch den Akt der Positivierung diese moralische Forderung nun in einen rechtlichen Anspruch umgewandelt wird.88 Die Positivierung hat somit zwei rechtspraktische Konsequenzen: Erstens werden die Menschenrechte Teil der internationalen oder nationalen Rechtsordnung; zweitens erhalten sie „Priorität“89 und dienen als Geltungsmaßstab für die anderen Normen der Rechtsordnung.
84 Zu den historischen und ideologischen Grundlagen der Grundrechte siehe Stern, Staatsrecht III/1, S. 47 ff., 317 ff. 85 Planitz, in: Nipperdey, Bd. 3, S. 597 ff. 86 Stern, in: Isensee/Kirchhof, IX, S. 11 Rn. 17. 87 Stern, in: Stern/Becker, S. 5, Rn. 6. 88 Funke, in: Hilgendorf/Zabbel, S. 183 ff. 89 Volkmann, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, § 16 Rn. 13.
II. „Anerkennung“, „Positivierung“, „Entwicklung“ und „Kreation“ der Grundrechte 23
3. „Entwicklung“ der Grundrechte In der Literatur wird öfter der Begriff „Entwicklung“ der Grundrechte verwendet, wenn auch mit unterschiedlichen Bedeutungen.90 Dieses Konzept beruht auf der Annahme, dass die Rechte bereits positiviert wurden, d. h., dass sie Teil der Rechtsordnung sind. Natürlich finden nicht alle Entwicklungsprozesse in der gleichen Form und Intensität statt91 und sie betreffen nicht unbedingt die gesamte Struktur des Grundrechts, sondern nur Teilaspekte davon. Der Schutzbereich ist besonders geeignet und derjenige, auf den der größte Teil der Entwicklung des Grundrechts entfällt, weil er bestimmte Ausschnitte der Lebenswirklichkeit zum Zwecke ihres Schutzes erfasst. An der Entwicklung der Grundrechte sind mehrere Akteure beteiligt, wie der Gesetzgeber, die Gerichte, die Exekutive92 und die Rechtswissenschaft.93 Auch hier ist die Mitwirkung dieser Akteure in Art und Umfang unterschiedlich. Der Gesetzgeber ist durch die „Grundrechtsgesetze“94 für die Ausgestaltung und Regelung der Grundrechte nur in dem vom Grundgesetz vorgegebenen Rahmen zuständig. Die Gerichte tragen durch die Interpretation und Fortbildung des Rechts zur „Grundrechtsaktualisierung“95 bei. Die Bindung der Exekutive an die Grundrechte96 und die objektive Schutzpflicht der Verwaltung97 sind ebenfalls Bekundungen der Grundrechtsentwicklung in einem weiten Sinne. Die Grundrechtsdogmatik98 spielt eine wichtige Rolle in der fachlichen Entwicklung der Grundrechte; ihr Beitrag reicht von der Auslegung, Konstruktion, Dekonstruktion und Systematisierung bis zur Analyse und Kritik der Jurisprudenz. Gemeinhin kann man festhalten, dass die Entwicklung der Grundrechte im Wesentlichen folgende Funktionen erfüllt: Erstens trägt sie zur Anpassung der Grundrechte an die Veränderungen in einer sich immer weiter wandelnden Realität 90 Er wird manchmal verwendet, um namentlich die Entstehung der Grundrechte in historischer Perspektive auszudrücken (so z. B. Commichau, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, S. 1 ff.), oder auch unter dem Blickwinkel der Ideengeschichte und der institutionellen Anstöße (so z. B. Schmidt, Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 23 ff.; Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, S. 62 ff.), aber auch in einem Sinne, der näher an der Schaffung als an der Entwicklung von Grundrechten als solchen ist (so z. B. Jandt, in: FS Alexander Roßnagel, S. 81 ff.). 91 Dazu Bumke, in: Jestaedt/Suzuki, I, S. 41 ff. 92 Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 197 ff. 93 Blankenburg/Treiber, in: Hassemer/Hoffmann-Riem/Limbach, S. 25 f. 94 Häberle, in: AöR 114 (1989), S. 376. 95 Bethge, in: KritV 73 (1990), S. 30. 96 Kempen, in: Merten/Papier, II, § 54 Rn. 37 ff.; Rüfner, in: Isensee/Kirchhof, V, S. 533, Rn. 19 ff. 97 Schnapp, in: JuS 1989, S. 4 f.; Höfling, in: JA 1995, S. 435. 98 Zum Begriff und zur Funktion der Grundrechtsdogmatik und der Grundrechtstheorie siehe Augsberg, Theorien der Grund- und Menschenrechte, S. 1 ff.; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 9 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 2 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 21 ff.
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C. Begriffliche Klarstellungen
bei; zweitens dient sie der Erneuerung der Grundrechte, vor allem in Bezug auf ihre Schutzbereiche; drittens leistet sie einen Beitrag zur Evolution der Grundrechte, indem sie neue Risiken und Gefahren für sie aufzeigt. Nicht nur die Schutzbereiche, sondern auch die Eingriffe99 und die Grenzen der Grundrechte sind einem Wandel unterworfen. Wenn man also von der Entwicklung der Grundrechte redet, muss man verstehen, dass dieses Phänomen alle diese grundlegenden und kontinuierlichen rechtlichen Veränderungen umfasst. In den letzten Jahren hat sich in der Grundrechtsdogmatik der Begriff „Grundrechtsinnovationen“100 eingebürgert. Dieser Ausdruck passt gut zum Konzept der Grundrechtsentwicklung; die Grundrechtskreation hingegen entspricht eher der Idee der Grundrechtsinvention.101
4. „Kreation“ der Grundrechte Im Gegensatz zu den oben erörterten Begriffen ist die rechtswissenschaftliche Einführung des Begriffs „Grundrechtskreation“ in die Grundrechtsdogmatik neu und steht vor allem im Zusammenhang mit der rechtsprechenden Tätigkeit der Verfassungsgerichte.102 Auch in der Literatur ist seine Verwendung noch nicht weit verbreitet103 und nicht immer unumstritten. Semantisch bedeutet das Wort „kreieren“, 99
Holoubek, in: Merten/Papier, Grundsatzfragen der Grundrechtsdogmatik, S. 17 ff. Hornung, Grundrechtsinnovationen, S. 214 f. „Grundrechtinnovationen sind signifikante Änderungen der Grundrechte, die durch unterschiedliche Innovatoren (Verfassunggeber, verfassungsändernde Gesetzgeber, Verfassungsgerichte) vorgenommen werden, sich auf unterschiedliche Bereiche der Normstruktur eines oder mehrerer Grundrechte erstrecken (Schutzbereiche, Schranken, Schranken-Schranken, grundrechtsübergreifende Meta-Innovationen) und entweder als Basisinnovationen plötzlich auftreten oder sich als inkrementelle Innovationen über einen kürzeren oder längeren Zeitraum entwickeln. Sie laufen in Prozessen ab, die in einer Grobstruktur in die drei Bereiche der Invention, der Innovation und der Diffusion gegliedert werden können, sich aber typischerweise nicht linear, sondern rekursiv vollziehen“. 101 Zum Unterschied zwischen Invention und Innovation der Grundrechte siehe Hornung, Grundrechtsinnovationen, S. 337 ff. 102 Dazu siehe die von Hornung, Grundrechtsinnovationen, S. 380 Fn. 268 ff., vorgelegte ausführliche Literatur. 103 Manssen, Grundrechte, S. 87 Rn. 282 („[…] ,Erfindung‘ des neuen Computergrundrechts […]“); Michael/Morlok, Grundrechte, S. 48 Rn. 32 („[…] die vom BVerfG kreierten Grundrechte […]“); Epping, Grundrechte, S. 343 Rn. 637 („Hintergrund dieses ,neuen‘ Grundrechts […]“), S. 346 Rn. 642 („Anstatt ein ,neues‘ Grundrecht zu schaffen […]“); Dreier, in: Dreier, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rn. 79 („[…] das von Wissenschaft und Rechtsprechung kreierte Recht auf […]“), Rn. 84 („Die Notwendigkeit der Kreation eines derartigen ,neuen‘ Grundrechts […]“); Papier/Krönke, Grundrechte, S. 100 Rn. 183 („Das vom Bundesverfassungsgericht […] kreierte Recht auf […]“); Hufen, Grundrechte, S. 196 Rn. 5 („[…], dass es sich im Grunde nicht um ein neues Grundrecht […] handelt“); Rudolf, in: Merten/ Papier, IV, § 90 Rn. 9 („ein neues Grundrecht“); Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 2 Abs. 1 Rn. 173 („[…] neues ,Grundrecht auf Datenschutz‘ […]“); Sodan, in: Sodan, Art. 2 Rn. 6c („[…] kreierte das BVerfG ein Grundrecht auf […]“); Heun, Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, S. 241 („[…] hat das Gericht ein weiteres neues Grundrecht 100
II. „Anerkennung“, „Positivierung“, „Entwicklung“ und „Kreation“ der Grundrechte 25
wie erwähnt, „erfinden“ oder „entwerfen“. Das Neue oder Neuartige ist eine inhärente Eigenschaft des Begriffs „kreieren“. Man kreiert, erfindet oder entwirft, was bis zu diesem Moment nicht existiert, was in der Realität noch nicht vorhanden ist. Aus diesem Grund stellt die Formulierung „Kreation neuer Grundrechte“ einen Pleonasmus dar, da die Bedeutung des Wortes „Kreation“ die Vorstellung von etwas Neuem, von etwas zum Zeitpunkt des Schöpfungsaktes noch nicht Vorhandenem impliziert; es ist daher sprachlich angemessener, nur von „Kreation von Grundrechten“ zu sprechen.104 Der gedankliche Inhalt des Terminus Kreation wird klar von den Begriffen Anerkennung, Positivierung und Entwicklung unterschieden. Letztere haben das gemeinsame Merkmal, dass sie sich auf etwas beziehen, was bereits existiert. In jedem Fall handelt es sich um drei Ausdrucksformen einer Tätigkeit, die sich auf etwas bereits Vorhandenes bezieht. Die Kreation als Handlung unterscheidet sich von jenen auch durch das Subjekt oder den Akteur, der die Handlung ausführt. Das Subjekt, das etwas erkennt, aufnimmt oder entwickelt, ist durch das Vorgegebene bedingt und in manchen Fällen sogar beschränkt, wie rudimentär oder gewöhnlich das bereits Vorhandene auch sein mag. Im Gegensatz dazu hat das schöpferische Subjekt einen viel größeren Handlungsspielraum, da es nichts gibt, was seine schöpferische Tätigkeit einschränkt. Die Begriffe anerkennen, positivieren und entwickeln einerseits und kreieren andererseits tragen also semantisch einen ganz erheblichen Bedeutungsunterschied in sich. Der Begriff Kreation, wie er in der Grundrechtsdogmatik verwendet wird, muss jedoch einige notwendige Modifikationen erfahren, da die Grundrechte nicht ex nihilo entstehen.105 Es gibt keine „Urzeugung“ von Grundrechten. Sie sind immer das Ergebnis von Prozessen unterschiedlicher Art, die manchmal sogar über einen langen Zeitraum hinweg gereift sind. In der Grundrechtsdogmatik kann der Begriff Grundrechtskreation daher weniger als das Auftauchen von Rechten aus dem Nichts, sondern vielmehr als der Prozess verstanden werden, in dem Verfassungsgerichte, erfunden […]“); Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/v. Coelln, Art. 2 Rn. 90 („[…] es handelt sich nicht um ein neues Grundrecht, […]“); Sodan/Siekow, Grundkurs Öffentliches Recht, S. 243 („[…] kreierte das BVerfG vor wenigen Jahren auch ein Grundrecht auf […]“); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 2 Rn. 40 („Die Schaffung der neuen ,Computer-Grundrechte‘ wird […]“); Kunig/Kämmerer, in: von Münch/Kunig, Art. 2 Rn. 51 („Vielmehr hat das BVerfG durch richterliche Fortbildung ein weiteres Grundrecht etabliert […]“); Höfling, in: Sachs, Art. 1 Rn. 31 („[…] ob Art. 1 I GG ein Grundrecht des Einzelnen auf […] begründen könne […]“); Kloepfer, Verfassungsrecht II, S. 161 Rn. 97 („Das neue Recht ist […] subsidiär.“); Lorenz, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Art. 2 Rn. 334; Dreier, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, I, § 1 Rn. 136 („[…] in der ,Kreation‘ neuer Grundrechte […]“). 104 Aufgrund der Aussagekraft der Formulierung „Kreation eines neuen Grundrechts“ wird diese Begrifflichkeit in dieser Arbeit jedoch trotz des Pleonasmus verwendet. 105 So im Allgemeinen Möllers, Die Möglichkeit der Normen, S. 185: „Normerzeugung ist in den meisten Fällen eine Normanwendung, denn fast immer berufen wir uns beim Schaffen einer Norm auf eine andere. Normerzeugung ex nihilo ist unmöglich“.
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C. Begriffliche Klarstellungen
sensibilisiert durch relevante Veränderungen der gesellschaftlichen Realität, ein neues Grundrecht entstehen lassen. Das neue Grundrecht muss einerseits durch das Bedürfnis gerechtfertigt werden können, den Menschen vor den Risiken und Gefahren zu schützen, die sich aus dieser neuen Realität ergeben, und andererseits durch die strikte Überprüfung, dass keiner der verfügbaren Grundrechtsschutzbereiche dem Menschen angesichts dieser neuen Bedrohungen eine entsprechende Garantie bietet. Das Phänomen der Kreation bringt auch andere und vielleicht komplexere Probleme mit sich als die Anerkennung, Positivierung und Entwicklung der Grundrechte. Diese Probleme beziehen sich nicht nur auf die Tatsache, dass Grundrechte geschaffen werden, sondern auch auf das Organ, das diese Tätigkeit ausübt und auf das zu diesem Zweck angewandte Verfahren selbst. Natürlich muss jede Analyse, die darauf abzielt, die Dimensionen des untersuchten Phänomens zu klären, zum einen angemessen bestimmen, was unter einem „neuen Grundrecht“ zu verstehen ist und wann es sich tatsächlich um ein Recht dieses Charakteristikum handelt, und zum anderen, was es im Grunde bedeutet, „ein Grundrecht zu kreieren“. Es stimmt zwar, dass diese beiden Dimensionen des Problems deutlich voneinander zu unterscheiden sind, aber sie sind auch eng miteinander verbunden. Es gibt jedoch eine höchst relevante Vorfrage, die im Mittelpunkt des Problems der Grundrechtskreation steht, nämlich die Frage nach den Impulsen, die Verfassungsgerichte dazu veranlassen, (neue) Grundrechte zu schaffen.
D. Kreationsimpulse für Grundrechte I. Grundrechte und soziale Wirklichkeit – Relationen Das Verhältnis zwischen den Grundrechten und der sozialen Wirklichkeit kann unter verschiedenen Gesichtspunkten systematisiert werden, da es „eine reiche Skala“106 zwischen ihnen gibt. Eines der wichtigsten Kriterien, um zu verstehen, wie sich die soziale Realität auf die Grundrechte auswirkt und umgekehrt, ist das Zeitkriterium. Das Verhältnis ist zwar dauerhaft, aber die Art und der Grad der Interaktion zwischen den Grundrechten und der sozialen Wirklichkeit variieren im Laufe der Zeit. Es gibt drei Arten von Konnexen zwischen den Grundrechten und der sozialen Realität, die als formative Relationen, transformative Relationen und antizipativer Nexus bezeichnet werden können.
1. Formative Relationen Formative Relationen sind repräsentativ für die Vergangenheit und führen uns vor allem in die Phase der Entstehung der Grundrechte. Auf der Grundlage dieser Zusammenhänge lässt sich feststellen, dass in diesen Zeitraum nicht die Rechte eine neue soziale Realität hervorgebracht haben, sondern die damalige soziale Realität die verschiedenen sozialen Kräfte im weitesten Sinne (theologische, philosophische, wirtschaftliche, politische usw.)107 prinzipiell hervorgebracht hat, die das Entstehen der Grundrechte ermöglicht haben. Es wird daher zu Recht gesagt, dass die Grundrechte Ausdruck und Ergebnis einer sozialen Realität in einem bestimmten Zeitraum sind. Was uns die prägenden Beziehungen auf jeden Fall zeigen, ist das Wirken bestimmter sozialer Kräfte auf die bestehende Realität, die die Entstehung der Grundrechte begünstigt hat. Zur selben Zeit erforderten die Erhaltung des Lebens und die Errungenschaft von Freiheit und Eigentum die „Absicherung durch Menschen- und Bürgerrechte“108. Formative Relationen besagen jedoch keineswegs, dass die soziale Realität für immer in den Normen der Grundrechte stagniert. Es wäre illusorisch zu glauben, dass einige wenige Rechtsnormen jemals die anspruchsvollen Probleme bewältigen 106
Friedmann, Recht und sozialer Wandel, S. 32. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, S. 9 ff. 108 Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland – von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, S. 2. 107
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D. Kreationsimpulse für Grundrechte
könnten, die sich ständig aus den komplexen Kräften ergeben, die Teil der gesellschaftlichen Realität sind.109 Vernehmbar ist jedoch, dass die Grundrechte, die in diesen Zusammenhängen entstehen, auch die Grundlage für die Gemeinschaft als Ganzes bilden. Dies gibt Anlass zu einer anderen Art von Beziehung zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Grundrechten.
2. Transformative Relationen Die sich wandelnden Beziehungen zwischen den Grundrechten und der sozialen Wirklichkeit sind symptomatisch für die Gegenwart, wenn man sich auf die Zeitachse bezieht. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Phänomene erkennen: Wandel der Grundrechte und Wandel durch Grundrechte. Ersteres bezieht sich auf einen Wandel der Grundrechte infolge von Variationen der gesellschaftlichen Realität (reaktive Funktion). Die Grundrechtsregelungen enthalten in der Regel Programme, die aufgrund der konkreten gesellschaftlichen Realität ergänzt werden müssen; der Bezug auf diese Realität ermöglicht es zum einen, dass die Bürger ihre Freiheiten tatsächlich geltend machen können, und zum anderen, dass die normative Struktur der Grundrechte genau auf diese gesellschaftliche Realität abgestimmt ist.110 In beiden Fällen werden die Grundrechte gewandelt. Die Tatsache, dass solche Wandlungen oft nicht deutlich wahrnehmbar sind, bedeutet nicht, dass sie nicht stattfinden. Um ihre Rechtswirksamkeit nicht zu verlieren, müssen die Grundrechtsnormen ständig an eine sich verändernde gesellschaftliche Realität angepasst werden. Dies erklärt z. B., weshalb die Normen einer Verfassung einen Bedeutungswandel erfahren müssen, um sich der neuen gesellschaftlichen Realität anzupassen. Dadurch sind Verfassungsgerichte im Grunde nichts anderes als eine Art „Uhrmacher“, die in Bereitschaft sind, die „Zeiger“ der Grundrechtsnormen an die aktuelle Zeit anzupassen. Die zweite Annahme bezieht sich auf Veränderungen in einer gegebenen sozialen Realität, die durch die Grundrechte gefördert werden (proaktive Funktion). Besonders paradigmatisch sind hier die Wechsel, die das Antidiskriminierungsrecht mit sich bringt. Die Diskriminierung, die als Teil einer sozialen Struktur besteht, soll durch bestimmte Grundrechtsnormen wie das Gleichheitsgebot (Art. 3 GG) geändert werden. Aber im Gegensatz zum ersten Szenario, bei dem Abänderungen in der Realität sofort zu Modifizierungen in der Bedeutung der Grundrechtsnormen führen, sind die Variationen in diesem zweiten Fall eher langfristig und die transformative Kraft des Rechts muss oft immer wieder verstärkt werden bis die „Entnormalisierung“111 oder die Transformation der sozialen Realität erreicht ist. Wenn die transformative Kraft der Grundrechte nicht von einer starken sozialen Überzeugung in 109
Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 – 1946, S. 21. Hassemer/Hoffmann-Riem/Limbach, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, S. 8. 111 Baer, in: Hoffmann-Riem, S. 275.
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I. Grundrechte und soziale Wirklichkeit – Relationen
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dieselbe Richtung begleitet wird, kann das Recht geschwächt oder sogar von der vorherrschenden sozialen Realität überholt werden. Während die soziale Wirklichkeit also nicht das Zusammentreffen anderer Größen erfordert, um Veränderungen bei den Grundrechten herbeizuführen, können die Grundrechte die soziale Wirklichkeit nur dann modifizieren, wenn es soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren gibt, die eine Umwandlung begünstigen.
3. Antizipierender Nexus Die faktische Voraussetzung für den antizipierenden Nexus ist die Vorwegnahme der Grundrechte in einer neuen sozialen Realität. Es handelt sich um eine vorausschauende Orientierung, da in diesem Fall die Rechtsänderung vor dem Eintreffen einer sozialen Realität erfolgt, die noch nicht in all ihren Dimensionen und ihrem ganzen Umfang bekannt ist. Allerdings muss es sich um eine Realität handeln, deren Risiken für die Grundrechte sicher sind und unmittelbar bevorstehen, so dass spezifische rechtliche Änderungen gerechtfertigt sind. Ein bestimmtes Risiko ist eine Gefahr, die zumindest auf greifbaren und objektiven Elementen beruht, während ein Risiko als unmittelbar bevorstehend gilt, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Bedrohung der Grundrechte in unmittelbarer Zukunft eintreten wird. Es geht nicht darum, Fortschritte und Entwicklungen in der Gesellschaft zu lähmen, sondern nur darum, „Gegenwartslösungen auf Kosten der Zukunft“112 zu bewerten und gegebenenfalls zu verbieten. Die Vorwegnahme kann zwei konkrete Formen annehmen: Zum einen kann sie durch die bestehenden Grundrechte und zum anderen durch die Erfindung eines oder mehrerer neuer Rechte erfolgen. Im ersten Fall können die Schutzbereiche umfassend interpretiert werden, um Grundrechtspositionen einzubeziehen, die den Schutz des Einzelnen in der Zukunft vor den Risiken einer bestimmten und unmittelbar bevorstehenden neuen gesellschaftlichen Realität ermöglichen. Dieser Weg ist nur begrenzt gangbar, da die Interpretation des Schutzumfangs Einschränkungen unterliegt, die unbedingt beachtet werden müssen. Im zweiten Fall könnte die Antizipation effektiver sein, weil die Festlegung des Schutzumfangs gezielt im Hinblick auf die in unmittelbarer Zukunft zu gewährleistenden grundrechtlichen Positionen gestaltet werden kann. Sowohl bei der Expansion des Schutzbereichs als auch bei der Schaffung eines neuen Grundrechts erfüllen die Grundrechte zwei wichtige Funktionen. Einerseits haben sie eine antizipierende Kompensationsfunktion, so dass der Einzelne, sobald die neue soziale Realität mit all ihren Kräften vorhanden ist, ihr gegenüber nicht benachteiligt ist; andererseits können sie auch eine Eliminierungsfunktion erfüllen, beispielsweise, wenn die Risiken der neuen sozialen Realität so weit reduziert werden können, dass sie für den Einzelnen keine Bedrohung mehr darstellen. 112
Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, S. 118.
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D. Kreationsimpulse für Grundrechte
Das optimale Verhältnis zwischen den Grundrechten und der kommenden sozialen Realität ist dann gegeben, wenn die mit der neuen sozialen Wirklichkeit einhergehenden Risiken bewältigt sind.
II. Impulse zur Transformation der Grundrechte Die Impulse, die zu einem Wandel der Grundrechte führen können, liegen prinzipiell außerhalb der Grundrechte. Unter Impulsen werden hier jene Kräfte der Realität verstanden, die in der Lage sind, den Inhalt von Grundrechtsnormen zu beeinflussen (Transformationsimpulse) oder in bestimmten Fällen sogar neue Grundrechte hervorbringen können (Kreationsimpulse). Die Impulse lassen sich in soziale und technische Impulse unterteilen.113 Gesellschaftliche Impulse, die sich aus der Dynamik der Wirklichkeit selbst ergeben, können den Inhalt bestehender Grundrechtsnormen in diverse Richtungen prägen und auch zur Schaffung neuer Grundrechtsnormen führen, vornehmlich, wenn diese Kräfte im Kontext „sozialer Umwälzungen“114 auftreten. Gesellschaftliche Impulse beziehen sich nicht nur auf Veränderungen in „Mentalitäten, kulturellen Mustern und Ideen“,115 sondern auch auf politische und wirtschaftliche Veränderungen, die in modernen Gesellschaften immer rapider und unvorhersehbarer werden. Besonders komplex für das Verfassungsrecht ist der Wandel der moralischen Überzeugungen einer Gesellschaft, d. h. der Wertewandel. Diese Impulse brechen immer wieder in das Verfassungsrecht ein, das als Garant für Beständigkeit gilt.116 Eheleitbilder, Geschlechterrollen, Familienvorstellungen, Enttabuisierung der Homosexualität117 usw. sind einige Beispiele dafür. Allerdings ist das Antidiskriminierungsrecht nicht „mit einem Wertewandel zu verwechseln, denn der Wert der Gleichbehandlung von Menschen als Menschen – und nicht weißen usw. Männern als pars pro toto – ist seit langem humanistisch gesetzt“.118 Um den gesellschaftlich erwünschten Wertewandel nicht der Willkür von Eliten oder einer reaktionären Mehrheit zu überlassen, muss der Wandel von Werten durch Normen adäquat erfolgt werden.119 Die Grundrechtsnormen müssten daran angepasst oder, falls sie nicht existieren, sogar neu geschaffen werden. 113
Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 44 ff., sprechen von „Pluralisierung“, „Digitalisierung“ und „Europäisierung“. 114 Friedmann, Recht und sozialer Wandel, S. 22. 115 Grimm, Seoul Law Journal 42 (2001), S. 183. – Abrufbar unter https://s-space.snu.ac.kr/ bitstream/10371/9047/1/law_v42n3_182.pdf. 116 Tschentscher/Marti, in: UniPress, 134/2007, S. 5 ff. – Abrufbar unter https://www.unibe. ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e310398/e362679/up_134_heft_ger.pdf. 117 Britz, in: Hoffmann-Riem, S. 297 ff. 118 Baer, in: Hoffmann-Riem, S. 276. 119 Hepp, Wertewandel, S. 9.
III. „Resilienz“ der Grundrechtsnormen
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Auch technische Impulse stellen ein komplexes Problem dar,120 denn es stellt sich die Frage, ob die Grundrechtsnormen den angemessenen rechtlichen Rahmen bzw. die Bedingungen für den Fortschritt von Wissenschaft, Technik und Technologie bilden können oder ob die Grundrechte nur eine rein reaktive Rolle gegenüber technischen Impulsen spielen sollen. Eine besondere Herausforderung für die Grundrechte sind die so genannten „emergenten Technologien“.121 Man denke z. B. an das von Mark Zuckerberg am 28. Oktober 2021 vorgestellte Metaverse, das wie folgt definiert worden ist: „Meta builds technologies that help people connect, find communities, and grow businesses“.122 Wie und inwieweit diese neue Art von social technology eine potentielle Gefahr für den Menschen und eine tiefgreifende Veränderung der menschlichen Beziehungen und der Gesellschaft insgesamt darstellen kann, ist derzeit noch ungewiss. Dies macht auch deutlich, dass die Grundrechte nur einen begrenzten Rechtsrahmen für technische Impulse bieten können, da viele neu entstehende Technologien erst dann rechtlich wahrnehmbar sind, wenn sie sich bereits in einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase befinden. Dies erklärt, warum die Grundrechte häufig als Reaktionen auf diese Veränderungen konzipiert werden. Zwar stimmt es, dass technische Entwicklungen ohne Vorwarnung in die Gesellschaft eindringen, aber es stimmt auch, dass nicht alle von ihnen für das Recht von Relevanz sind. Nur grundlegende technische Veränderungen haben immer auch soziale und kulturelle Ausflüsse.123 Ihre rechtliche Relevanz wird in jedem Fall durch die Art und Weise determiniert, wie die Menschen sie verwenden und wie sich ihre Nutzung auf den Menschen und die Gesellschaft in toto auswirkt. Insofern bergen technische Impulse sowohl Chancen als auch Risiken, ein allein reaktives Grundrechtsverständnis ist nicht ausreichend. Emergente Technologien müssen ihre Entsprechung in den so genannten „emergenten Grundrechten“124 finden. Nur so können die Grundrechte den Rahmen für den Fortschritt von Wissenschaft, Technik und Technologie konstituieren.
III. „Resilienz“ der Grundrechtsnormen Die Grundrechtsnormen sind stets den äußeren dynamischen Kräften der Realität ausgesetzt. Diese faktischen Kräfte haben keinen Einfluss auf die Rechtsgültigkeit solcher Normen, können aber ihre Rechtswirksamkeit beeinflussen. Grundrechts120 Treffend sagt man, der „technologische Wandel bestimmt die Dynamik der heutigen Gesellschaft und verändert alle Bereiche unseres Lebens“, so Tinnefeld, in: Guggenberger/ Meier, S. 219 ff. 121 Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem, S. 29. 122 Weitere Informationen über Meta und seine technologischen Entwicklungsbereiche findet man unter https://about.fb.com/news/2021/10/facebook-company-is-now-meta/. 123 Gärditz, in: Der Staat 54 (2015), S. 127. 124 Eine kritische Betrachtung hierzu bietet Koeck, in: Hermida del Llano, S. 33 ff.
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D. Kreationsimpulse für Grundrechte
normen können ihre Rechtswirksamkeit auf zweierlei Weise bewahren: erstens durch ihre Anpassung an die neue Realität (Wirksamkeitsbewahrung durch Adaptation); zweitens durch ihre Fähigkeit, dieser Realität zu widerstehen, sie zu kontrollieren und zu beherrschen (Wirksamkeitsbewahrung durch Resilienz). Im ersten Fall ist die Anpassung der Grundrechte nicht nur notwendig, sondern auch das geeignetste Instrument zur Erhaltung ihrer Rechtswirksamkeit; der Wandel der gesellschaftlichen Realität wird hier aktiv von der notwendigen Transformation der Grundrechtsnorm begleitet. Im zweiten Fall ist die Anpassung der Grundrechtsnorm an die Realität dahingegen keine Option, es sei denn, die Norm gibt temporär ihre Rechtswirksamkeit auf, um sie wiederzuerlangen, sobald die Umstände es ermöglichen.125 Insbesondere in Ausnahmesituationen oder bei schweren sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Krisen, müssen die Grundrechte in der Lage sein, dieser neuen Realität zu widerstehen, sie zu kontrollieren und zu bewältigen, ohne dass ihre tatsächliche rechtliche Wirksamkeit dauerhaft beeinträchtigt wird. Wenn dies erreicht ist, dann könnte man sagen, dass es sich um resiliente Grundrechtsnormen handelt. Unter Grundrechtsresilienz versteht man im Grunde die Fähigkeit der Grundrechtsnormen, ihren „Steuerungsanspruch gegen reale Widerstände durchsetzen, sei es, dass [sie] ihnen rigide, unnachgiebig und unverrückbar [standhalten], sei es, dass [sie] sich elastisch anpass[en] und flexibel reagier[en]“126. Nicht ihre Anpassung an die Faktizität, sondern ihre Resilienz ist es, die es den Grundrechten ermöglicht, ihre Rechtswirksamkeit gegenüber einer Realität zu bewahren, die vom Recht abweicht oder davon abweichen will. Hierbei würde eine einfache Adaptation paradoxerweise nicht die Stärkung, sondern eher die Verschlechterung oder den völligen Verlust der rechtlichen Wirksamkeit des Grundrechts bedeuten.
IV. Verfassungsgerichte: „Vorreiter“ des gesellschaftlichen Wandels? Bei der Anpassung der Grundrechte an die sich verändernde Realität spielen die Verfassungsgerichte durch Interpretation und Anwendung der grundrechtlichen Normen eine zentrale Rolle. Diese volatile Gesellschaftswirklichkeit wird grundsätzlich nicht normativ geschaffen, sondern ergibt sich aus der Dynamik der Wirklichkeit selbst, an die sich die Grundrechte anpassen müssen, um ihre Rechtswirksamkeit zu behalten. In der Regel ist der Wandel in der Realität immer einen Schritt voraus und die Verfassungsgerichte reagieren auf diese Veränderungen erst im Nachhinein. Es handelt sich also hauptsächlich um eine reaktive Tätigkeit, bei der die Verfassungsgerichte fast immer „Nachzügler“ sind. Sie nehmen aber auch 125 126
Isensee, in: von Lewinski, S. 35. Barczak, Der nervöse Staat, S. 612.
V. Verfassungsgerichte: „letzter Interpret“ der sozialen Veränderungen?
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häufig eine proaktive Rolle ein und werden selbst zu Vorreitern von Transformationen in der Realität, und zwar unabhängig davon, ob es sich um „kleine“ oder „große“ soziale Veränderungen handelt.127 Dieses Phänomen, das sich nicht nur in der Rechtsprechung des BVerfG, sondern auch in der aktuellen Rechtsprechungstätigkeit vieler lateinamerikanischer Verfassungsgerichte beobachten lässt,128 stellt das traditionelle Bild der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frage. Im Gegensatz zum Gesetzgeber sind die Verfassungsgerichte alltäglich mit konkreten Problemen konfrontiert. Sie sind aufgerufen, die durch die Grundrechtsnormen geschützten Verfassungsgüter und -werte in den Kontext der Wirklichkeit zu stellen. Dabei gehen die Verfassungsgerichte zum Teil von der bestehenden Realität als Voraussetzung für die Anwendung und Auslegung der Grundrechte aus. Wenn die bestehende Realität aber offensichtlich mit der Verfassung inkompatibel ist, dann hört die Realität auf, Voraussetzung zu sein, und wird selbst zum Gegenstand, der durch die Grundrechte transformiert werden soll. Diese Perspektive macht die transformative Größe der Grundrechte explizit. Doch kennt die Funktion der Verfassungsgerichte als Vorreiter des Wandels in der Realität augenscheinlich Grenzen. Die Verfassungsgerichte können Initiatoren von Veränderungen in der Realität sein, aber es ist nicht ihre Aufgabe, sie zu Ende zu führen. Eine neue, etablierte und dauerhafte Faktizität kann nur unter Beteiligung anderer staatlicher Institutionen und der Zivilgesellschaft geschaffen werden. Zudem sollte die transformative Leistungsfähigkeit der Grundrechte nicht genutzt werden, um eine neue Wirklichkeit nach dem Geschmack von Verfassungsrichtern zu forcieren, sondern nach den Grundentscheidungen der Verfassung. Nicht das Begehren und die Vorstellungen der Verfassungsrichter selbst, sondern die Orientierung an einer verfassungskonformen Wirklichkeit sollte vorherrschen.
V. Verfassungsgerichte: „letzter Interpret“ der sozialen Veränderungen? Eines der wesentlichen Merkmale aller Verfassungsgerichte besteht darin, dass sie befugt und legitimiert sind, die Verfassung auszulegen und anzuwenden. Sind sie auch bevollmächtigt, Veränderungen der Realität zu interpretieren? Im Verhältnis
127 In Bezug auf die „großen“ sozialen Wandel ist Grimm, in: Seoul Law Journal 42 (2001), S. 196, (abrufbar unter https://s-space.snu.ac.kr/bitstream/10371/9047/1/law_v42n3_182.pdf), der Ansicht, dass Gerichte nicht die geeignete Instanz wären, „Vorreiter gesellschaftlicher Veränderungen zu sein, weil sie nicht in dem demokratischen Verantwortungszusammenhang eingebunden sind und, wenn es um Verfassungsrecht geht, von den gewählten Institutionen nur schwer korrigiert werden können“. 128 Roa, in: MPIL Research Paper Series 11 (2020), S. 1 ff. – Abrufbar unter https://papers. ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3571507.
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D. Kreationsimpulse für Grundrechte
der Verfassungsgerichte zu den sich wandelnden Realitäten lassen sich drei Annahmen ausmachen: Erstens fungieren die Verfassungsgerichte als Validierungsinstanz, vor allem dann, wenn sich die Wirklichkeit bereits verändert hat und die Verfassungsgerichte zu prüfen haben, ob diese mit den Grundrechten oder mit der Verfassung überhaupt kompatibel ist. Zweitens können Verfassungsgerichte gleichzeitig mit der Realitätsveränderung agieren, in diesem Fall erfüllen sie eine Begleitfunktion; sie nehmen selbst auch an dem Prozess teil. Drittens können die Verfassungsgerichte als rechtliche Stimulatoren von Veränderungen in der Realität operieren. Diese „rechtliche Stimulierung gesellschaftlichen Wandels“129 bedeutet, dass sie selbst in begrenztem Maße dessen Förderer sein können. In diesen drei Fällen agieren die Verfassungsgerichte nicht nur als Interpreten der Verfassungsnormen, sondern auch als Interpreten der Realität und ihrer Veränderungen. Eine Auslegung der Verfassung, bei der die Faktizität keine Rolle spielt, läuft immer Gefahr, eine unvollständige und verzerrte Interpretation zu sein, da es nicht möglich ist, die Verfassungsnormen von ihrem faktischen Substrat zu trennen. Daher könnte man sagen, dass der Prozess der Verfassungsinterpretation in der Tat ein zweiseitiger Prozess ist, bei dem sowohl die Evaluierung des Inhalts von Verfassungsnormen auf der Grundlage der Realität als auch Einschätzungen der Realität auf der Grundlage von Verfassungsnormen unausweichlich sind. Um die Wirklichkeit im Interpretationsprozess zu verarbeiten, bedarf es nicht nur normimmanenter Methoden, sondern auch empirischer Interpretationsinstrumente. So lassen sich beispielsweise die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Werte einer Gesellschaft oder der Einfluss sozialer Netzwerke auf das Selbstwertgefühl und die Entwicklung junger Menschen nur mit Hilfe von Methoden aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen messen. Die Betrachtung der Verfassungsgerichte auch als Interpreten der Wirklichkeit und ihrer Veränderungen erfordert nicht so sehr die Entwicklung neuer Methoden innerhalb der Rechtswissenschaft, sondern vielmehr die umsichtige Einbeziehung oder Integration verschiedener Instrumente zur Analyse und Messung der Wirklichkeit, die in anderen wissenschaftlichen Disziplinen bereits zur Verfügung stehen (Stichwort: Interdisziplinarität der Verfassungsauslegung)130, auch wenn die soziale Wirklichkeit in den klassischen canones der Interpretationslehre nicht vorkommt.131 Schließlich stellt sich die Frage, ob die Verfassungsgerichte bei der Auslegung der Realität auch das „letzte Wort“ haben. Die Erwiderung auf diese Fragestellung muss notwendigerweise eingeschränkt werden. Die abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung von Realitätsveränderungen ist allein Sache der Verfassungsgerichte, 129
Britz, in: Hoffmann-Riem, S. 299. Unseres Erachtens müsste die Methodenanforderung in das Verfahren vor dem BVerfG integriert werden. 131 Grimm, in: Hassemer/Hoffmann-Riem/Limbach, S. 42. 130
V. Verfassungsgerichte: „letzter Interpret“ der sozialen Veränderungen?
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denn die Modifizierung der Realität kann auch zu unerwünschten sozialen Änderungen führen,132 aber was die streng wissenschaftliche Bewertung dieses Wandels angeht, hat die Wissenschaft ein gewichtiges Wort.
132 So Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, S. 202, er erwähnt z. B. die „Internetkriminalität als unerwünschte soziale Innovation“.
E. Die grundrechtsschaffende Gewalt I. Eine Institution, verschiedene Typisierungen Die Verfassungsgerichte werden oft auf unterschiedliche Weise charakterisiert. Einige dieser Charakterisierungen beruhen auf den Rechtsnormen, die ihre Organisation und ihre Zuständigkeiten regeln,133 andere auf den faktischen Funktionen, die sie ausüben,134 und einige sind eine Kombination aus beidem.135 Die Verfassungsgerichte selbst haben sich bestimmte Charakteristika zugeschrieben,136 die nicht unproblematisch sind.137 Typisierungen auf dem Fundament normativ-formeller Kriterien führen in der Regel nicht zu größeren dogmatischen Diskrepanzen. Von größerem Interesse sind jene Prägungen, die im Kern die grundsätzliche Frage betreffen, ob die Verfassungsgerichte das sind, was die Verfassungen sagen, oder ob sie vielmehr das sind, was sie können und tun.138 Es geht dabei um die Beurteilung der faktischen Funktion der Verfassungsgerichte im politischen System, diese „kann aus dem Verfassungstext allein nicht abgelesen werden, sondern muss in der politischen Wirklichkeit ermittelt werden“.139 133 „Superinstanz“ (Dürig, in: AöR 79 [1953/1954], [S. 63 Fn. 19]); „negativer Gesetzgeber“ (Kelsen, VVDStRL 5 [1929], S. 56); „positiver Gesetzgeber“ (Wiederin, in: FS Badura, S. 614); „Schiedsrichter“ (Pehle, in: GWP 2/2008, S. 215 ff.), „Schlichter“ (Kotzur, in: JZ 2/ 2003, S. 73 ff.). 134 „Soziale Integrationsfaktor?“ (Smend, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951 – 1971, S. 29); „politische Instanz“ (Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 98); „gesellschaftliches Gericht“ (Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, S. 436 ff.), „politisches Organ“ (Möllers, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, S. 314); „Vetospieler“ (Stüwe, in: Oberreuter/Kranenpohl/Sebaldt, S. 145 ff.); „Notgesetzgeber“ (Lerche, in: FS Gitter, S. 509 ff.); „Ersatzgesetzgeber“ (Karpen, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, S. 11 ff.), „Agenda-Setter“ (Lhotta, in: ZPol 12 (2002), S. 1073 ff.); „political player“ (Leicht, in: Stolleis, S. 148 ff.); „Ventil für die politische Spannungen“ (Wengst, Thomas Dehler 1897 – 1967, S. 151); „Geburtshelfer“, „Nothelfer“ (Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, S. 215, 421); „Innovationsakteur“ (Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem, S. 25). 135 „Hüter der Verfassung“, „Herr der Verfassung“ (Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/ Schönberger, S. 180); „verfassungswandelnde Gewalt“ (Michael, in: RW 5 (2014), S. 426 ff.), „maßstabsetzende Gewalt“ (Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, S. 159 ff.). 136 BVerfGE 13, 54 (94); 36, 342 (357); 60, 175 (213): „Herr des Verfahrens“; BVerfGE 6, S. 304: „Herr der Vollstreckung“; „ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan“ (Leibholz, in: JöR 1957, S. 127 f.). 137 Statt vieler Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 14 ff. 138 Dazu Jestaedt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, S. 81. 139 Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 43.
II. Funktion der Verfassungsgerichte bei der Kreation neuer Grundrechte
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II. Funktion und Gewalt der Verfassungsgerichte bei der Kreation neuer Grundrechte Die Ausgangsthese lautet: Die Verfassungsgerichte üben bei der Schaffung neuer Grundrechte eine „mitkonstituierende“ Funktion aus. Dies ist aber kein pathologisches Phänomen, sondern eine normale Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es gibt mehrere Gründe, die für dieses Postulat sprechen.
1. Historisch-verfassungsrechtliche Gründe Der Gedanke, dass zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der verfassungsgebenden Gewalt eine einzigartige Beziehung besteht, findet sich bereits seit Anbeginn der Verfassungsgerichtsbarkeit. In seinem Vorschlag für eine Jury Constitutionnaire für Frankreich vertrat Emmanuel Joseph Sieyès die Ansicht, dass es zur Gewährleistung der Verfassung und zur Wahrung der pouvoirs constitués innerhalb ihrer Grenzen notwendig sei, ein besonderes Gericht einzurichten, das jedoch nicht irgendeine konstituierte Gewalt sein dürfe,140 sondern als „außerordentliche Abordnung der verfassungsgebenden Gewalt“141 fungieren müsse. Alexis de Tocqueville beschrieb damals den amerikanischen Supreme Court treffend als „power of opinion“,142 eine „dominant power“,143 deren Zuschreibungen „almost entirely political” sind, „although its constitution (…) entirely judicial“144 ist. Ohne diese Befugnis des Supreme Court sei „the Constitution (…) a dead letter“.145 Deshalb hat man in den USA behauptet, der Supreme Court sei „a constitutional convention in continuous session“.146 Zudem zeigen gut dokumentierte empirische Untersuchungen zu seiner Rechtsprechungstätigkeit, dass sich der Supreme Court selbst in seinen Entscheidungen nicht nur darauf beschränkt, die Dokumente des Verfassungskonvents zu zitieren, sondern oft sogar den Konvent selbst historisch diskutiert.147
140
Sieyès, Opinion sur les attributions et l’organisation du jury constitutionnaire propose´ le 2 thermidor, S. 1315 f., vertrat weiterhin die Auffassung, dass sich dieses Gericht aus ehemaligen Mitgliedern der verfassungsgebenden Versammlung zusammensetzen sollte. 141 Sieyès, Politische Schriften 1788 – 1790, S. 271. 142 Tocqueville, Democracy in America, S. 245. 143 Tocqueville, Democracy in America, S. 206. 144 Tocqueville, Democracy in America, S. 244 – 245. 145 Tocqueville, Democracy in America, S. 245. 146 Peltason, Corwin & Peltason’s Understanding the Constitution, S. 116 (Woodrow Wilson zugeschriebenes Wort); Corwin, The constitution and what it means today, S. 5. 147 Dazu Sirico, in: Journal of Law & Politics 63 (2011), S. 78.
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E. Die grundrechtsschaffende Gewalt
2. Dogmatische Stellungnahmen in der Rechtsvergleichung In Italien und Spanien sind die Entwicklungen nicht viel anders. In diesen Ländern wird zum einen hervorgehoben, dass die Verfassungsgerichte eine „kontinuierliche verfassungsgebende“148 Funktion ausüben, „den Text der Verfassung umschreiben“ und „nicht nur über der gesetzgebenden Gewalt, sondern sogar neben der verfassungsgebenden Gewalt“149 stehen oder ihr „gleichgestellt“150 sind; zum anderen heißt es, dass das spanische Tribunal Constitucional „in diesem Sinne ein echter Beauftragter der verfassungsgebenden Gewalt für die Aufrechterhaltung ihres Werkes, der Verfassung, und für die Aufrechterhaltung aller verfassungsrechtlichen Organe in ihrem strengen Zustand als konstituierte Gewalten“151 ist. In Frankreich spricht Alain Werner von „l’appropriation du pouvoir constituant“ durch den Conseil constitutionnel.152 Was Deutschland betrifft, so hat Ernst Benda bereits deutlich gemacht, dass das BVerfG „legitimen Anteil (…) am pouvoir constituant“ hat, „soweit dieser durch Rechtsfindung ausgeübt wird“;153 es „ist legitimiert, im Rahmen der Verfassungsauslegung am pouvoir constituant teilzuhaben“;154 bei Oliver Lepsius geriert sich das Verfassungsgericht „als Treuhänder des pouvoir constituant“.155 In Indien hat der Verfassungsausschuss der Union empfohlen, ein oberstes Gericht mit „konstituierenden Befugnissen“156 einzurichten.
3. Stellungnahme einiger Verfassungsgerichte Einige Verfassungsgerichte haben sich an dieser Diskussion beteiligt. Das BVerfG sah sich in seinem „Lissabon-Urteil“157 ermächtigt, die verfassungsgebende Gewalt und die von ihr aufgestellten Grundprinzipien zu schützen. Das spanische Verfassungsgericht lehnte die Verabschiedung rein auslegender Gesetze durch das Parlament ab und stellte fest, dass „der Gesetzgeber sich damit in unzulässiger Weise an die Stelle der verfassungsgebenden Gewalt und des Verfassungsgerichts setzt“,158 148
Mezzetti, in: Estudios Constitucionales 1/2010, S. 309. Pegoraro, in: Pensamiento Constitucional 6 (1999), S. 240 f. 150 Liern, in: Revista Española de Derecho Constitucional 101 (2014), S. 143. 151 García de Enterría, La Constitución como norma y el Tribunal Constitucional, S. 198. 152 Werner, in: Pouvoirs, revue française d’études constitutionnelles et politiques 67 (1993), S. 118 ff.; Nootens, Constituent Power beyond the State, S. 10 ff., spricht von einer „verfahrensmäßigen Usurpation der verfassungsgebenden Gewalt“ durch die Gerichte und die Exekutive. 153 Benda, in: Merten/Morsey, S. 104. 154 Benda, in: Merten/Morsey, S. 114. 155 Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, S. 229. 156 Kumar/Bathia, in: The Indian Journal of Public Administration 45/1999, S. 378. 157 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2/08, Rn. 235 ff. 158 STC 76/1983 (7) de 5 de agosto. 149
III. Mitkonstituierende Funktion der Verfassungsgerichte
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d. h. keine andere Gewalt außer dem Verfassungsgericht kann sich auf die gleiche Ebene wie die verfassungsgebende Gewalt stellen, so dass „die Tätigkeit als erweiterte oder auftretende verfassungsgebende Gewalt“ eine Aufgabe ist, „die ausschließlich dem Verfassungsgericht obliegt“.159
III. Mitkonstituierende Funktion der Verfassungsgerichte Mit dem Aufkommen der Verfassungsgerichtsbarkeit ist die These, dass die verfassungsgebende Gewalt mit der Verabschiedung einer konkreten Verfassung verschwindet, nicht haltbar, da diese nicht nur teilweise auf die Verfassungsgerichte übertragen wird, sondern auch „Urgrund alle[n] politischen Geschehens und der Möglichkeit nach immer vorhanden“160 bleibt. Dieser Begriff der verfassungsgebenden Gewalt ist jedoch zu weit gefasst, so dass es sich bei der verfassungsgebenden Gewalt im engeren Sinne um die originäre revolutionäre Gewalt handelt, die in der Lage ist, eine neue Verfassung zu schaffen. Die mitkonstituierende Funktion dieser Verfassungsgerichte zeigt sich in drei spezifischen Erscheinungsformen: erstens, wenn sie die abstrakte Kontrolle von Verfassungsänderungsgesetzen vornehmen, zweitens, wenn sie als „verfassungswandelnde Gewalt“161 agieren, und drittens, wenn sie neue Grundrechte kreieren. Im Folgenden werde ich mich auf diese drei Fälle beziehen, allerdings mit besonderem Augenmerk auf dem Phänomen der Schaffung von Grundrechten.
1. Abstrakte Kontrolle der verfassungsändernden „Gesetze“ Zunächst ist auf die Besonderheiten der irreführend als „Gesetze“ bezeichneten Verfassungsänderungen hinzuweisen. Es handelt sich dabei nicht um „Gesetze“ im eigentlichen Sinne, d. h. um vom Gesetzgeber verabschiedete Normen, da bei der Ausarbeitung und Verabschiedung dieser „Gesetze“ keine gesetzgeberischen, sondern vielmehr verfassungsgebende Funktionen ausgeübt werden. In diesem Sinne ist es nicht möglich, das Handeln als Gesetzgeber mit dem Handeln als verfassungsändernde Gewalt gleichzusetzen.162 Das Ergebnis der Ausübung dieser verschiedenen Arten von Funktionen ist ebenfalls unterschiedlich. Im ersten Fall ist das Produkt ein Gesetz, im zweiten Fall ist das Resultat ein „konstituierender Akt“. In letzterem handelt nicht der Gesetzgeber, sondern der pouvoir constituant dérivé, weshalb das
159 STC 31/2010 (52), de 28 de junio; kritich Viver Pi-Sunyer, in: Revista Española de Derecho Constitucional 91 (2011), S. 319 ff. 160 Steiner, Verfassunggebung und Verfassunggebende Gewalt, S. 175. 161 Michael, in: RW 5 (2014), S. 426 ff. 162 Dazu siehe Michael, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Art. 146 Rn. 471 ff.
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E. Die grundrechtsschaffende Gewalt
Ergebnis seiner Arbeit niemals ein „Gesetz“ sein kann,163 sondern ein verfassungsgebender Akt im engeren Sinne. Daraus ergeben sich wichtige theoretische und praktische Konsequenzen sowohl für den Gegenstand und die Parameter der abstrakten Kontrolle der Verfassungsänderung als auch für die Stellung und Funktion der Verfassungsgerichte. Da der Gegenstand der Kontrolle ein verfassungsgebender Akt ist, muss der Kontrollmaßstab notwendigerweise in den Grundentscheidungen bestehen, die die verfassungsgebende Gewalt in einer Verfassung getroffen hat. Dies ist z. B. bei Art. 79 Abs. 3 GG der Fall. Das BVerfG wird damit zu einem echten „Treuhänder der verfassungsgebenden Gewalt“,164 dessen einziges Ziel es ist, die Identität der Arbeit der verfassungsgebenden Gewalt zu wahren. Noch deutlicher wird diese Funktion der Verfassungsgerichte in denjenigen Verfassungen, in denen die verfassungsgebende Gewalt keine dem Art. 79 Abs. 3 GG vergleichbare Klausel vorgesehen hat, so dass es den Verfassungsgerichten obliegt, zu bestimmen, welche Klauseln der Verfassung eine eigene Identität verleihen und deshalb als Grundsatzentscheidungen angesehen werden können.165 Das Fehlen einer ausdrücklichen Äußerung der verfassungsgebenden Gewalt über Grundentscheidungen bedeutet, dass die Verfassungsgerichte hier mitkonstituierende Funktionen ausüben.166 Wenn also nicht ein Gesetz, sondern ein verfassunggebender Akt im Verfassungsprozess167 beurteilt wird, dann kann die Entscheidung des BVerfG auch keine einfache richterliche Entscheidung sein, v. a. wenn das Gericht die Verfassungsänderungen für mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar hält. Dies ist im Übrigen nur möglich, wenn ein Verfassungsgericht als Vorfrage die Gültigkeit der Verfassung selbst beurteilen kann („Jurisdiktion der Verfassungsentstehung“168). Die Funktion des BVerfG ist jedoch bei der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Verfassungsänderung nicht sehr anders. Diese wäre dem BVerfG nicht möglich, wenn es sich nur als Gericht verstehen würde.169 Um einen verfassungs163 Der Form nach durchaus – in der Sache aber tatsächlich anders. Die Tatsache, dass oftmals der Begriff „Verfassungsänderungsgesetz“ verwendet wird, ändert nichts an seinem Wesen als verfassungsgebender Akt. Die Bezeichnung als „Gesetz“ dient nur der Ordnung und Identifizierung, nicht aber der Essenz des Aktes selbst. 164 Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, S. 58, spricht von der Kontrollfunktion der Richter, die als „Sprachrohr des Volkes“ fungieren. 165 Dies ist der Fall bei der peruanischen Verfassung, in der die Existenz von Grundsatzentscheidungen nicht festgelegt ist. Vielmehr hat das peruanische Verfassungsgericht festgelegt, welche Klauseln der Verfassung einen solchen Charakter haben. 166 Ohne die verfassungsgerichtliche Feststellung der Grundentscheidungen einer Verfassung wäre im Übrigen eine abstrakte Kontrolle von Verfassungsreformen nicht möglich, da der Kontrollmaßstab fehlen würde. 167 Bryde, Verfassungsentwicklung: Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht, S. 364. 168 Steiner, Verfassunggebung und Verfassunggebende Gewalt, S. 47. 169 In BVerfGE 3, 225 (236) lehnt das BVerfG die verfassungsrechtliche Prüfung von Verfassungsänderungsgesetzen als Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt mit der Be-
III. Mitkonstituierende Funktion der Verfassungsgerichte
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gebenden Akt des pouvoir constituant dérivé beurteilen zu können, muss es sich als etwas ganz anderes als ein Gericht oder Verfassungsorgan verstehen. Bei der Kontrolle der Verfassungsänderung „wird das Gericht [als] Teil der verfassungsgebenden Gewalt“170 tätig. Dies liegt daran, dass eine konstituierte Gewalt wie ein Gericht niemals die Handlungen einer verfassungsgebenden Gewalt kontrollieren kann. Dies ist nur möglich, wenn sich die Verfassungsgerichte auf die gleiche Ebene wie die verfassungsgebende Gewalt stellen und mitkonstituierende Funktionen für sich beanspruchen.
2. Verfassungswandel Nach der am weitesten verbreiteten Meinung liegt ein Verfassungswandel vor, wenn sich der Sinn einer Verfassungsbestimmung ändert, ohne dass der Wortlaut geändert wird. Die Verfassungswandlung ist von der Verfassungsauslegung zu unterscheiden.171 Es handelt sich um zwei eigenständige Rechtsbegriffe, die die Aktualisierung der Verfassung ermöglichen. Obwohl in beiden Fällen ein Bedeutungswandel172 stattfindet, ohne dass der Text verändert wird, gibt es doch wichtige Unterschiede zwischen ihnen. Erstens ist die Interpretation der Verfassung, wie auch die Verfassungsänderung, ein formeller Prozess. Verfassungsgerichte legen Verfassungen immer im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen verfassungsgerichtlichen Verfahren aus. Es ist nicht denkbar, dass eine verbindliche Interpretation der Verfassung von diesen Gerichten außerhalb dieser Verfahren vorgenommen wird. Der formelle Charakter des Interpretationsvorgangs wird auch dadurch bestätigt, dass es sich immer um eine absichtliche Tätigkeit handelt. Der Verfassungswandel hingegen findet zum Teil über formelle173 und zum Teil über nicht formelle Wege statt. Die Prozesse, in denen er sich verwirklicht, sind überwiegend historischer und sozialer Natur,174 seine Konkretisierung erfolgt nicht in einem einzigen Akt (wie bei der Auslegung), sondern in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess, der zu einem bestimmten Zeitpunkt gründung ab, dass es nur eine defensive Funktion erfülle und die Wahrscheinlichkeit, dass eine originäre Verfassungsbestimmung für nichtig erklärt werde, gering sei. Zur Frage, ob das BVerfG die verfassungsgebende Gewalt beanspruchen kann, siehe die Kontroverse zwischen Apelt, in: NJW 1952, S. 1 ff.; Apelt, in: JZ 1954, S. 402 ff., und Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, S. 1 ff.; Bachof, Wege zum Rechtsstaat, S. 29 ff. Jüngst Roznai, Unconstitutional constitutional amendments, S. 197 ff. 170 Troper, in: Rosenfeld/Sajó, S. 364. 171 Dazu Wahl, in: Wahl, S. 43 ff.; Liern, in: Revista Española de Derecho Constitucional 101 (2014), S. 143; kritisch gegenüber dieser Unterscheidung Voßkuhle, in: Wahl, 201 ff. 172 Zur Unterscheidung zwischen „Bedeutung“ und „Bedeutsamkeit“ im Zusammenhang mit dem Begriff des Verfassungswandels siehe Poscher, in: Jestaedt/Suzuki, I, S. 202 f. 173 So z. B. in dem Beitrag von Michael, in: RW 5 (2014), S. 450, der dem BVerfG institutionell eine „verfassungswandelnde Gewalt“ zuschreibt. 174 Lepsius, Relationen, S. 12 ff., spricht von „exogenen“ und „endogenen Faktoren“.
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E. Die grundrechtsschaffende Gewalt
im gesellschaftlichen Bewusstsein und im Recht endgültig verankert ist. In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass die Auslegung der Verfassung zeitlich mit dem Höhepunkt eines Verfassungswandels zusammenfällt, was zu einem Phänomen führt, das als „wandelnde Auslegung“ bezeichnet werden könnte. Zweitens ist bei der Interpretation die neue Bedeutung, die einer Verfassungsbestimmung zugewiesen wird, tendenziell stabiler, ihre Änderung erfordert das Vorliegen stichhaltiger Gründe und kann zudem nur von den Verfassungsgerichten selbst vorgenommen werden. Sogar eine Veränderung der Realität führt nicht zwangsläufig dazu, dass ein Verfassungsgericht seine Auffassung ändert. Die Verfassungsdeutung kann in diesem Sinne Fortschritte, aber auch „Stillstand“ und Rückschläge mit sich bringen. Bei einer konstitutionellen Wandlung geschieht etwas anderes. Der Bedeutungswandel einer Verfassungsbestimmung ist nie wirklich versteinert, seine Entwicklung bleibt immer offen, denn er ist vor allem ein sozialgeschichtlicher Prozess im ständigen Wandel. Es wurde daher zu Recht gesagt, dass nicht die verschiedenen normativen Alternativen die Wandlung der Verfassung ermöglichen, sondern dass der Wandel die Vielfalt der normativen Optionen ermöglicht.175 Der nicht-formelle Charakter der Wandlung ist in diesem Fall keine „Achillesferse“, sondern vielmehr ihre größte Stärke gegenüber der Verfassungsinterpretation. Wenn man von Verfassungsrecht als „law in action“ sprechen will, dann muss man zugeben, dass es sich hauptsächlich in der Verfassungswandlung abspielt. Drittens ist die Auslegung der Verfassung nicht immer evolutionär. Einige Verfassungsgerichte haben es sich zur Aufgabe gemacht, in ihren Ansichten nicht nur zu stagnieren, sondern sogar Rückschritte zu machen.176 Bei Verfassungswandlung scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein. Da sich beim Verfassungswandel nicht die Verfassung ändert, sondern die Entwicklung sozialer Ansichten innerhalb der Gesellschaft, wäre dieser Prozess immer eher vorwärts, ein Beweis dafür könnte der Bedeutungswandel des alltäglichen Gebrauchs des Begriffs „Ehe“177 sein. Daher kann man sagen, dass es sich bei den Prozessen der Verfassungswandlung nicht um Prozesse einer einfachen „Anpassung“, sondern eher um echte Prozesse der „Evolution“ handelt. Denn auch bei der so genannten „evolutionären Interpretation“ geht es nur um Veränderungen, die jedoch an bestehenden sozialen Strukturen vorgenommen werden, während es beim Verfassungswandel um Veränderungen an dem
175
Herrero de Miñón, XXI ensayos de derecho constitucional comparado, S. 95. Ein Beweis dafür ist der kürzlich veröffentlichte Entscheidungsentwurf des Supreme Court der USA. Der Entwurf ist eine völlige Ablehnung von Roe v. Wade (410 U. S. 113 [1973]), das den Schutz des Rechts auf Abtreibung durch den Supreme Court garantierte, und Planned Parenthood v. Casey (505 U. S. 833 [1992]), das dieses Recht weitgehend bestätigte. Richter Alito, der Berichterstatter in dem Fall, soll beschlossen haben, diese Präzedenzfälle außer Kraft zu setzen. Das Dokument ist verfügbar unter https://s3.documentcloud.org/docu ments/21835435/scotus-initial-draft.pdf. 177 Schaefer, in: AöR 143 (2018), S. 410. 176
III. Mitkonstituierende Funktion der Verfassungsgerichte
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Gefüge der Gesellschaft selbst geht. In diesem Sinne ist der Verfassungswandel weniger eine Evolution als vielmehr eine Revolution. Viertens und letztens zielt die Verfassungsauslegung darauf ab, die Verfassungsnorm an die Realität anzupassen, für die sie gilt. Es handelt sich im Allgemeinen um einen reaktiven Prozess. Umgekehrt sollte eine Verfassungswandlung nicht immer eine Reaktion und Anpassung der Verfassung auf und an aktuelle und künftige Herausforderungen bedeuten. Es geht nicht nur darum, zu reagieren, sondern auch darum, wie man reagiert. Der Verfassungswandel gibt der Verfassung eine bessere Chance, ihre Normativität zu bewahren, denn in bestimmten Fallkonstellationen muss sich nicht die Verfassung an die veränderte Realität anpassen, sondern die Realität an die Normen der Verfassung. Etwa gibt es keine marktkonforme Demokratie, sondern eine demokratiekonforme Marktwirtschaft, man braucht ein demokratie- und grundrechtskonformes Internet und keine internetkonforme Demokratie.178 Eine parallele Analyse der Vorteile von Verfassungswandlungen und -änderungen ist ebenfalls erforderlich.179 In bestimmten Fällen sind Verfassungsänderungen nicht ratsam oder lassen sich nicht immer einfach verwirklichen.180 Einerseits könnten Verfassungsreformen in einer digitalen Gesellschaft wenig hilfreich sein, um die damit verbundenen praktischen Probleme zu lösen.181 Andererseits kann das Scheitern einer Verfassungsänderung aufgrund der mangelnden Einigkeit zwischen den politischen Kräften den Dissens und die Desillusionierung unter den politischen und sozialen Akteuren eher verstärken als befrieden. Anstelle von deliberativen Prozessen wird also auf Verhandlungsverfahren zurückgegriffen.182 In Anbetracht einer Verfassungsänderung, die mit politischen und technischen Diffizilitäten behaftet ist,183 könnte die so genannte „abgesprochene“ oder „einvernehmliche Wandlung“ eine wesentlich praktikablere Lösung darstellen. Kurz gesagt: Bei dieser Art von verfassungsrechtlichem Wandel handelt es sich um eine „provozierte“ Verfassungswandlung, bei der die Kraft zu dem Wandel hauptsächlich von gesellschaftlichen Kräften (Interessengruppen, Bürgern, Verbänden usw.) ausgeht, die in der Lage sind, eine Wandlung der Verfassung zu beeinflussen und zu bestimmen, ohne deren Text zu ändern, aber mit einer konkreten Absicht. Neben dem Lindauer Abkommen zu Art. 32 GG stammt aus der Rechtsvergleichung ein bemerkenswertes Beispiel für die „einvernehmliche Wandlung“. Diese Art 178
Bull, in: ZRP 4/2015, S. 101. Zu den derzeitigen Hindernissen bei der Verfassungsänderung siehe Grimm/von Notz/ Steinbeis, in: VerfBlog, 2019/7/16. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/wir-haben-dasrecht-auf-leben-mit-einem-einfachen-gesetzesvorbehalt/. 180 Walter, in: AöR 125 (2000), S. 545. 181 So Bull, in: ZRP 4/2015, S. 99. 182 Grimm/von Notz/Steinbeis, in: VerfBlog, 2019/7/16. – Abrufbar unter https://verfas sungsblog.de/wir-haben-das-recht-auf-leben-mit-einem-einfachen-gesetzesvorbehalt/. 183 Walter, in: AöR 125 (2000), S. 545. 179
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E. Die grundrechtsschaffende Gewalt
von Wandel ermöglichte beispielsweise die Überwindung der politischen Krise (die nicht durch eine Verfassungsänderung bewältigt werden konnte), die mit der Aufgabe des dispositiven Prinzips von Art. 124 der spanischen Verfassung für die Einrichtung der „autonomen Gemeinschaften“ (comunidades autónomas) verbunden war. Die derzeitige Lage dieser Gemeinschaften beruht nicht mehr auf der Entwicklung und Anwendung von Titel VIII der formellen Verfassung, „sondern auf der einvernehmlichen Wandlung dieser Verfassung“184 (d. h. auf den Vereinbarungen über die Bedeutung des genannten Art. 124), die von den beteiligten politischen und sozialen Kräften getroffen wurde. Zum spontanen Verfassungswandel kommen also noch die „absichtlichen“ konstitutionellen Wandlungen hinzu. Der Vorteil des einvernehmlichen Wandels gegenüber der Verfassungsänderung besteht darin, dass ersterer leichter rückgängig gemacht werden kann, wenn die Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprechen, und selbst wenn sie wirklich eine dauerhafte Lösung für den Verfassungskonflikt geboten haben, können sie durch eine Änderung formell in die Verfassung aufgenommen werden. Die Rückgängigmachung einer Verfassungsänderung kann im Gegenteil dieselben Erschwernisse mit sich bringen, die zum Zeitpunkt ihrer Durchführung vorhanden waren, was zu einer Instabilität des Verfassungstextes führt. Es geht also um die Wandlung der Verfassung als echte und gangbare Alternative zur Verfassungsänderung und der mit ihr verbundenen Probleme. Trotz alledem sollten die Vorteile einer Verfassungswandlung in Bezug auf die Verfassungsauslegung und -änderung nicht überschätzt werden. Natürlich kann sie auch gewisse Risiken mit sich bringen, insbesondere in puncto Wandel von Grundrechten, der eine Unterart der allgemeinen Kategorie des Verfassungswandels darstellt. So hat Karl-Heinz Ladeur in jüngster Zeit auf die Wandlung der Versammlungsfreiheit und die Gefahren der sozialen Polarisierung hingewiesen185 ebenso wie Bodo Pieroth im Hinblick auf den Wandel der Kunstfreiheit im Rahmen des „neuen Kulturkampfes“186. Dazu könnte man auch die Meinungsfreiheit in Bezug auf die „politische Korrektheit“ zählen.187 Dies sind Kassandrarufe, die berücksichtigt werden sollten, da nicht vollständig gewährleistet werden kann, dass sich die Grundrechte immer zum Besseren wandeln. Ein solches Problem kann jedoch in der Verfassungsänderung durch Korrektur, Substitution oder Vorwegnahme verschiedene Lösungsmöglichkeiten finden.188
184
Herrero de Miñón, XXI ensayos de derecho constitucional comparado, S. 100. Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Krise?, S. 132 ff. 186 Pieroth, Kunstfreiheit im Verfassungswandel, S. 3 ff. 187 Zu diesem Thema von Münch, Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, S. 13 ff. 188 Michael, in: RW (5) 2014, S. 456 ff. 185
III. Mitkonstituierende Funktion der Verfassungsgerichte
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3. Kreation der Grundrechte Die Schaffung neuer Grundrechte ist der deutlichste Beweis dafür, dass die Verfassungsgerichte eine mitkonstituierende Funktion ausüben. Diese These wird durch die folgenden Argumente gestützt. Erstens: Die Grundrechte sind Ausdruck der Werte und Grundsätze, die die verfassungsgebende Gewalt als zentral für das Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft erachtet hat.189 Diese wesentlichen Bestimmungen, die in den Grundrechten niedergelegt sind,190 haben nicht nur eine „begrenzende“, sondern auch eine „begründende“ Funktion. Wenn man sie als negative Zuständigkeitsregeln betrachtet, wird nur eine Dimension der Grundrechte beschrieben. In der juristischen Literatur wird die „Begründungsfunktion“ dieser Rechte kaum hervorgehoben, obwohl die Grundrechte ihre Rechtsgültigkeit „nicht ihrer naturrechtlichen Herkunft, sondern dem politischen Akt der Verfassungsgebung“191 verdanken. Diese Begründungsfunktion der Grundrechte ist eng mit dem „innovativen“ und „erfinderischen“ Charakter der Grundrechte verbunden. Ihre innovative Kraft ist in jedem von ihnen zu erkennen, aber auch eine ausdrückliche Verbindung von Grundrechten kann neue Rechte kreieren192 (Stichwort: „i.V.m.-Formel“). Christoph Möllers hat Recht, wenn er feststellt, dass „der Clou“ der Grundrechte darin liegt, dass mit ihnen neue Rechte geschaffen und alte Rechte verändert werden können193 (Stichwort: Grundrechte als Quelle neuer Grundrechte). Um aber wirksame und einklagbare Grundrechte kreieren zu können, benötigen die Verfassungsgerichte Zugang zu dem, was in der neueren Literatur treffend als „Quellcode“194 der Verfassung bezeichnet wird, dessen Bewahrung und Fortschreibung nicht nur Sache der verfassungsändernden Gesetzgeber, sondern auch der Verfassungsgerichte ist. Zweitens: Der Grundrechtskatalog ist keine einfache „Liste“ einer Reihe von Grundrechten, die ohne Sinn und Zusammenhang angeordnet sind. In einem allgemeinen Verständnis bedeutet „Katalog“ (von lateinisch catalogus, von griechisch katálogos)195 eine Menge von Sachen, die nach einem bestimmten System geordnet sind. Ein Grundrechtskatalog ist also die Gesamtheit der Grundrechte, die nach einem feststehenden System aufgebaut sind. Wer definiert dieses System und wie wird es festgelegt? Diese Aufgabe kommt der verfassungsgebenden Gewalt zu.196 Es 189
Ob alle Rechte, die zum Grundrechtskatalog gehören, als Grundrechte zu zählen sind oder nur einige von ihnen, kann nur auf der Grundlage jeder einzelnen Verfassung entschieden werden. 190 Augsberg, Theorien der Grund- und Menschenrechte, S. 9. 191 Grimm, in: Grimm/Peters/Wielsch, S. 26. 192 Wendel, in: JZ 13/2020, S. 671 f. 193 Möllers, Freiheitsgrade, S. 212. 194 Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, S. 243 f. 195 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 480. 196 Im laufenden Verfassunggebungsprozess in Chile ist eine der großen Diskussionen, die die Aufmerksamkeit der Verfassungsrechtswissenschaft und der Politik auf sich zieht, gerade
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E. Die grundrechtsschaffende Gewalt
ist Sache der verfassungsgebenden Gewalt, die Kriterien zu bestimmen, nach denen die Grundrechte in den Grundrechtskatalog einzuordnen sind.197 Die Tatsache, dass dieses Ordnungssystem in den Verfassungen meistens nicht leicht und ausdrücklich erkennbar ist, bedeutet nicht, dass ein solches System nicht vorhanden ist. Folglich stellt jede Änderung des Grundrechtskatalogs einen Eingriff in den „neuralgischen Punkt“ des Werkes der verfassungsgebenden Gewalt dar. Evident ist, dass die Kreation von neuen Grundrechten durch die Verfassungsgerichte Auswirkungen auf die Systematik des Grundrechtskatalogs hat, was im Grunde bedeutet, dass die Verfassungsgerichte zum einen nicht nur „Wächter, sondern auch Wandler“198 einer Verfassung sind und zum anderen auch über die Verfassung selbst „verfügen“.199 Drittens: Nicht nur der verfassungsgebenden Gewalt, sondern auch den Verfassungsgerichten können „constitutional moments“ zugeschrieben werden.200 Darunter versteht man jene dramatischen Momente der Verfassungsrevision und des „higher lawmaking“;201 es handelt sich im Wesentlichen um Neugründungen, die die ursprüngliche und uneingeschränkte Transformationskraft des Volkes zugunsten bestimmter Verfassungsbestimmungen nutzbar machen.202 Mit anderen Worten, die konstituierende Phase ist eine Zeit der Wandlung, des Wandels der Werte und Wahrnehmungen der Mehrheit, die zu einer Änderung, Neuinterpretation203 oder „Neuschöpfung“ der Verfassung führen. Brown v. Board of Education und Griswold v. Connecticut sind zwei gute Paradigmen für „constitutional moments“ des Wiederaufbaus bzw. der Gründung,204 die dem Supreme Court der USA zuzuschreiben sind. Gerade die Schaffung von neuen Grundrechten ist auch eine Erscheinungsweise die Festlegung durch den Verfassungskonvent, 1. welche und wie viele Rechte in den Grundrechtskatalog aufgenommen werden sollen, 2. ob die Rechte sachlich oder detailliert formuliert werden sollen, 3. wie die systematische Ordnung dieser Rechte aussehen soll, um einen „integralen, harmonischen und kohärenten“ Grundrechtskatalog zu erreichen. – Abrufbar unter https://plataformacontexto.cl/informe/cuantos-derechos-debe-tener-el-catalogo-de-der echos-fundamentales/. 197 Die diversen und nicht immer übereinstimmenden Systematisierungen, die in der juristischen Literatur vorgeschlagen und entwickelt werden, sind lediglich referentiell und gehorchen vor allem pädagogischen Erfordernissen, entsprechen aber nicht unbedingt dem impliziten oder expliziten System, auf das die verfassungsgebende Gewalt zurückgegriffen hat. In der Tat hat sich die Lehre noch nicht mit dieser Fragestellung befasst. 198 Kulick/Vasel, Das konservative Gericht, S. 205. 199 In Peru ist das Verfassungsgericht nicht nur das Organ, das die „Verfassungsmäßigkeit der Gesetze“ kontrolliert, sondern auch „das Organ, das die Verfassung kontrolliert“ (Art. 202 der peruanischen Verfassung). 200 Porsche-Ludwig, in: Porsche-Ludwig/Bellers, S. 222. 201 D. h. „events of legislation of a country’s scheme of constitutional essentials“. Dazu siehe Ferrara/Michelman, Legitimation by Constitution, S. 20. 202 Ackerman, We the People: Foundations, S. 169 ff.; kritisch zu Ackermans Theorie Klarman, in: Stanford Law Review 3 (1992), S. 759 ff.; siehe auch Frank, Constituent moments, S. 1 ff. 203 Heiss Bendersky, in: Revista Anales 10 (2016), S. 118. 204 Klarman, Stanford Law Review 3 (1992), S. 785.
III. Mitkonstituierende Funktion der Verfassungsgerichte
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eines gerichtlichen konstituierenden Moments, der widerspiegelt, wie empfindlich die Verfassungsgerichte auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren, ob sie ihn nun bestätigen, herbeiführen, ihm ein Ende bereiten oder ihn selbst erschaffen. Konstituierende Momente von Verfassungsgerichten sind in diesem Sinne eher eine Tatsache als eine verfassungsrechtliche Fiktion. „Konstituierendes Moment“ meint nicht notwendigerweise ein Krisenmoment. Daher ist es zweifelhaft, ob die CoronaPandemie streng genommen als „constitutional moment“205 oder zumindest als „Auspizium“206 eines solchen angesehen werden kann.207 Viertens: Die verfassungsgebende Gewalt als heterogenes Wesen erlangt die ersehnte Einheit durch die Verfassungsgerichte. In diesem Sinne können Verfassungsgerichte nur dann als legitime Gerichte angesehen werden, wenn sie als mitkonstituierende Gewalt handeln, d. h. wenn sich ihre Rolle nicht darauf beschränkt, die Grundsätze und Werte der Verfassung auszulegen, die der ursprünglichen Entscheidung der verfassungsgebenden Gewalt zugrunde liegen, sondern wenn sie, ohne die spezifischen historischen und sozialen Umstände zu ignorieren, unter denen sie zu handeln haben, das Werk der originären verfassungsgebenden Gewalt kontextuell vervollständigen.208 Mit anderen Worten: Anstatt die Werte der originären verfassungsgebenden Gewalt blind anzuwenden, müssen sie diese im Lichte der sich verändernden historischen und sozialen Umstände interpretieren. Aus diesem Grund können die Verfassungsgerichte nicht von der Exekutive und der Legislative kooptiert werden und gleichzeitig ihre Legitimität gegenüber der verfassungsgebenden Gewalt bewahren. Die Verfassungsgerichte müssen im Gegenteil ihre Unabhängigkeit als Teil eines umfassenderen Systems der Gewaltenteilung und -verteilung aufrechterhalten. Daraus folgt, dass die Verfassungsgerichte als mitkonstituierende Gewalt, die von der ursprünglichen verfassungsgebenden Gewalt zum Ausdruck gebrachten Werte wahren und sie gleichzeitig mit den spezifischen Interpretationen der Werte, die in einer konkreten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit vorherrschen, verbinden müssen.209 205 Dazu siehe Uitz, in: VerfBlog, 2020/3/24. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/ pandemic-as-constitutional-moment/. 206 Shany, in: Hebrew University of Jerusalem Legal Studies Research Paper Series 9 (2021), S. 2 f. 207 Zur Problematik der Grundrechte und der Corona-Pandemie siehe Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, S. 95 ff. 208 Rubinelli, in: Contemporary Political Theory 20 (2021), S. 929 f. 209 Pasquino, in: Contemporary Political Theory 20 (2021), S. 932 ff., spricht von Verfassungsgerichten als „pouvoir constituant dérivé“. Seiner These nach beruht die konstituierende Kraft der Verfassungsgerichte vor allem auf einem Prozess der Integration des Verfassungstextes. Er hält diese Integration für marginal, denn es ist notwendig, dass es keine starke Opposition in der öffentlichen Meinung und/oder unter den gewählten Abgeordneten gibt. Daraus würde folgen, dass die verfassungsgebende Gewalt in den Händen der Verfassungsgerichte inkrementell wäre. Ihr Umfang würde weitgehend von den kulturellen und politischen Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaft abhängen. Durch ihre Entscheidungen könnten die Gerichte gleichzeitig die Verfassungsstruktur bewahren und verfeinern und das Verständnis der Grundrechte, die sie garantieren sollen, erweitern. In diesem Sinne könnten
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E. Die grundrechtsschaffende Gewalt
Die Kreation neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte ist daher der deutlichste Beweis für die Ausübung einer mitkonstituierenden Gewalt. In jüngster Zeit haben die Verfassungsgerichte – um es in der Rhetorik der Informatik auszudrücken – sowohl die Macht als auch die Legitimation, nicht nur auf die „Programme“ zuzugreifen, sondern sogar in den „Quellcode“210 der Verfassung selbst vorzudringen.211 Zudem hört die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt im verfassungsgrundrechtlichen Schöpfungsprozess wie in keinem anderen letztlich auf, eine Entelechie zu sein, eine abstrakte Entität, die sich nur in bestimmten und ganz besonderen historisch-sozialen Momenten manifestiert. Im Gegenteil, sie drückt sich jetzt durch die Verfassungsgerichte aus, insbesondere dort, wo es der verfassungsgebenden Gewalt nicht möglich war, die vielfältigen und komplexen Umstände der zukünftigen Realität vorherzusehen.212
sie die Grundstruktur der Verfassung nicht ändern, aber sie können deren Inhalt interpretieren und geringfügig umschreiben, sofern sie ihre relative Unabhängigkeit von demokratisch gewählten politischen Akteuren wahren. 210 Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichte, S. 243 f. 211 In Deutschland ist die Zahl der Grundgesetzänderungen zur Aufnahme neuer Grundrechte deutlich geringer als die Zahl der Grundrechtsneuschöpfungen durch das BVerfG. Die Expansion des Grundrechtskatalogs des GG ist also eher auf die „mitkonstituierende Funktion“ des BVerfG zurückzuführen als auf den verfassungsändernden Gesetzgeber. 212 Digitalisierung, bisher unvorstellbare Fortschritte in Wissenschaft und Technik, Klimawandel, Polarisierung der Gesellschaft, Links- und Rechtspopulismus, Corona-Krise usw.; dazu Hufen, Grundrechte, § 2 Rn. 21.
F. Dogmatische Fragen bei der Kreation neuer Grundrechte Die neuen Grundrechte werfen wichtige dogmatische Probleme für das Verfassungsrecht auf. In diesem Abschnitt werden einigen von ihnen behandelt.
I. Echte Grundrechte? Ob die von den Verfassungsgerichten neu geschaffenen Rechte echte Grundrechte sind, ist nicht selbstverständlich. So hat sich das BVerfG etwa in seinen Entscheidungen, die als exemplarisch für die Schaffung neuer Grundrechte gelten, mit der Benennung dieser Rechte zurückgehalten. In ihnen spricht das BVerfG nicht immer von „Grundrechten“, sondern manchmal einfach nur von „Rechten“.213 Ob dies auf eine willentliche Haltung des BVerfG zurückzuführen ist, bleibt offen. In jedem Fall stellt sich die Frage, ob zwischen den Grundrechten der verfassungsgebenden Gewalt und den von den Verfassungsgerichten kreierten Grundrechten ein anderer Unterschied besteht als die bloße Tatsache, dass die Subjekte, die sie erfinden, und die verwendeten Mittel unterschiedlich sind. Anders gesagt: Kann ein Verfassungsgericht einem von ihm selbst geschaffenen Recht Grundrechtscharakter zuerkennen? Der „grundlegende“ Charakter des kreierten Rechts lässt sich nur aus dem Leitgedanken der Verfassungsgerichte als einer mitkonstituierenden Gewalt herleiten. Ein Gericht, das dem „Quellcode“ der Verfassung beitritt, bedarf einer besonderen und spezifischen Art von Befugnis, die es ihm erlaubt, den Grundrechtskatalog mitzugestalten, um ihn an neue und ständige gesellschaftliche Veränderungen anzupassen. Dies wirft auch die Frage auf, ob die Verfassungsgerichte tatsächlich in gleichem Maße an die Verfassung gebunden sind, wie andere pouvoirs constitués. Im Grunde genommen gehen die Verfassungsgerichte über den Willen des Verfassungsgebers hinaus,214 um neue Grundrechte zu erschaffen. Unter diesen Prämissen handelt es sich bei den von den Verfassungsgerichten in Ausübung einer mitkonstituierenden Gewalt geschaffenen Grundrechten um autonome Grundrechte, die nicht auf bereits bestehende allgemeine oder spezielle Grundrechte verwiesen werden können. Streng genommen handelt es sich um neue Grundrechte, nicht um neue Inhalte bereits bestehender Grundrechte oder um die 213 214
Vgl. die in Fußnote 4 ff. zitierten Entscheidungen des BVerfG. Dazu siehe Hwang, in: AöR 145 (2020), S. 272.
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F. Dogmatische Fragen bei der Kreation neuer Grundrechte
Neuerfindung eines originären Grundrechts.215 Dies bedeutet aber nicht, dass die neuen Grundrechte außerhalb des Rahmens der Verfassung stehen oder dass sie nicht mit anderen Grundrechten verbunden werden können.
II. Rangordnung neuer Grundrechte Die Frage, ob es eine eindeutige Rangfolge zwischen den Grundrechten gibt, ist auch Teil der theoretischen Diskussion über die Stellung neuer Grundrechte innerhalb des grundrechtlichen Katalogs. Hier muss zwischen abstrakter und konkreter Rangordnung unterschieden werden. Eine „abstrakte Hierarchie“ gibt es prinzipiell nicht. Alle Grundrechte, mit Ausnahme der Menschenwürde, haben denselben Rang.216 Eher werden sie von der Verfassung selbst durch unterschiedlich ausgestaltete Grundrechtsschranken organisiert. Man kann ergo von einer „grundsätzlichen Gleichrangigkeit aller Grundrechte“217 sprechen. Dahingegen kann eine Abstufung der Grundrechte nur im Rahmen von konkreten Kollisionsfällen erfolgen. Gerade in diesen Fällen wird der wesentliche Unterschied, der zwischen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Grundsatz der praktischen Konkordanz besteht,218 besonders deutlich: Während dem ersteren der Gedanke des „Überwiegens“ innewohnt, ist dem letzteren eher der Gedanke des „Äquilibriums“ inhärent. Die von den Verfassungsgerichten neu erfundenen Grundrechte219 werden in die Verfassung integriert und genießen denselben Rang wie die originären Grundrechte. Denn die neuen Grundrechte sind ja genau genommen nicht das Ergebnis der richterlichen Funktion, sondern der Ausübung der mitkonstituierenden Gewalt der Verfassungsgerichte. Konkret zeigt sich dieser gleiche Rang zum einen darin, dass die neuen Grundrechte als Maßstab für die verfassungsrechtliche Kontrolle herangezogen werden,220 und zum anderen in der unmittelbaren Bindung aller drei Staatsgewalten (Art. 1 Abs. 3 GG). Auch haben die neuen Grundrechte im Falle einer Kollision nicht weniger abstraktes Gewicht als die anderen. Sie sind keine „ver215
Hornung, Grundrechtsinnovationen, S. 381. Dreier, in: Dreier, Bd. I, Vorb. Rn. 65. 217 Hufen, Grundrechte, § 4 Rn. 6. 218 Zum Unterschied zwischen Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne und praktischer Konkordanz siehe Michael/Morlok, Rn. 733 ff. 219 Gemäß der These von Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 231, würde die Schaffung eines neuen Grundrechts eine „Erfindung neuer Maßstabe“; so kreiere das BVerfG in der Rechtsanwendung Maßstäbe – d. h. de facto eine abstrakt-generelle Norm, aber nicht de jure –, die konkreter sind als die abstrakt-generelle Norm, aber abstrakter als die konkret-individuelle Norm. 220 In Bezug auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sprechen Papier/Krönke, Grundrechte, Rn. 182, von diesem Recht als „entscheidender verfassungsrechtlicher Maßstab“. Statistiken über die Inanspruchnahme und den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und anderer Grundrechte findet man unter Wendel, in: JZ 13/2020, S. 675 ff. 216
III. Schutzbereiche neuer Grundrechte
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minderten“ Grundrechte; ihr spezifisches grundrechtliches Gewicht muss stets im Einzelfall bestimmt werden. In Fallkonstellationen der Konkurrenz hat die Schaffung neuer Grundrechte besonders relevante verfassungsrechtliche Folgen, da neben den originären Grundrechten nun andere neue Grundrechte bestehen,221 deren allgemeiner oder spezieller Charakter das abstrakte Verhältnis der Grundrechte verändert,222 aber auch das anwendbare Kriterium und das Ergebnis der Lösung einer konkreten Konkurrenzfrage beeinflussen kann. Letztlich sind die neuen Grundrechte, soweit es um ihren Schutz geht, „im Verfassungsbeschwerdeverfahren rügefähig“ (§§ 90, 92 BVerfGG).223
III. Schutzbereiche neuer Grundrechte Nicht jede verfassungsgerichtliche Entscheidung zur Auslegung und Anwendung von Grundrechtsbestimmungen ist als Ausübung der mitkonstituierenden Gewalt anzusehen. Sowohl bei der Enthüllung einer neuen Bedeutung eines alten Grundrechts als auch bei der Betrachtung alter Wirkungen in neuen Perspektiven hat man es also nicht mit einem neuen Grundrecht zu tun.224 Gerrit Hornung hat die Idee verteidigt, dass man nur dann von neuen Grundrechten sprechen soll, wenn es sich um „solche Grundrechte“ handelt, „die eine Lücke im bisherigen Grundrechtsystem schließen“.225 Unter dem Begriff „Lücke“ wird hier das Fehlen einer oder mehrerer grundrechtlicher Bestimmungen verstanden, durch die diese Lücke geschlossen werden kann. Dies geschieht vor allem durch die Auslegung und Rechtsfortbildung bestehender grundrechtlicher Bestimmungen. Mit einer solchen Definition wären die Handlungen der Verfassungsgerichte jedoch wenig oder gar nicht außergewöhnlich, da sie Verfassungsnormen routinemäßig auslegen und anwenden. Allerdings handelt es sich bei der Begründung neuer Grundrechte, die das Ergebnis der Ausübung einer mitkonstituierenden Gewalt ist, um eine einzigartige Verfassungsfortbildung. Dies bedeutet nicht, dass die Schutzbereiche bestehender Grundrechte bei der Feststellung des Schutzbereichs eines neuen Grundrechts keine Rolle spielen. Im Gegenteil, sie erfüllen eine wichtige „Kontrastierungsfunktion“, denn nur auf ihrer Grundlage lässt sich eruieren, ob die neue Lebenswirklichkeit nicht bereits von einem oder mehreren Grundrechten er221
Hornung, Grundrechtsinnovationen, S. 382 ff. Hier sind die Möglichkeiten der Relation vielfältig: a) allgemeines originäres Grundrecht/neues spezielles Grundrecht; b) neues allgemeines Grundrecht/spezielles originäres Grundrecht; c) spezielles originäres Grundrecht/neues spezielles Grundrecht. Es ist nicht auszuschließen, dass es darüber hinaus Probleme mit der Konkurrenz nur neuer Grundrechte gibt. 223 Manssen, Grundrechte, Rn. 51. 224 Schlink, in: Der Staat 19 (1986), S. 233 ff. 225 Hornung, Grundrechtsinnovationen, S. 382. 222
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F. Dogmatische Fragen bei der Kreation neuer Grundrechte
fasst wird. In der Praxis machen sich die Verfassungsgerichte allerdings nicht immer die Mühe, diese Gegenüberstellung ausdrücklich vorzunehmen, und der Schutzbereich des neu geschaffenen Rechts ist selten deutlich vernehmbar definiert. Einen glücklichen und beispielhaften Sonderfall bildet die Entscheidung des BVerfG, in der es den Schutzbereich und die Gewährleistungsdimensionen des neuen „Rechts auf schulische Bildung“226 präzisiert hat. Zuletzt haben die Schutzbereiche der alten Grundrechte auch eine „Kontrollfunktion“ gegenüber den neu kreierten Grundrechten. Sie verhindern, dass es zu Überschneidungen mit bestehenden Grundrechten kommt, tragen aber auch dazu bei, das Risiko zu verringern, dass das neue Grundrecht in der Praxis irrelevant wird, weil der Lebensausschnitt, den es schützen soll, bereits unter einen bestehenden Schutzbereich subsumiert wird.
IV. Grenzen der neuen Grundrechte Betrachtet man z. B. das GG, so zeigt sich, dass der Verfassungstext in der Regel unmittelbar nach der Verkündung eines Grundrechts, auch wenn es als unverletzlich bezeichnet wird, die Grenzen aufzeigt, denen dieses Grundrecht unterliegt (siehe z. B. Art. 2 Abs. 2, Art. 10, Art. 13 GG). Das Gleiche gilt für die Menschenrechte der EMRK.227 Im Gegensatz zu diesen in den Verfassungen verankerten Grundrechten würden die von den Verfassungsgerichten neu kreierten Grundrechte jedoch „entstehen“, und zwar ohne Einschränkungsmöglichkeiten. In der italienischen Doktrin hat Marta Cartabia228 erörtert, dass dies auf zwei Faktoren zurückzuführen sei: einen institutionellen und einen inhaltlichen. Gemäß dem ersten Faktor würden die neuen Grundrechte mit verfassungsgerichtlichem Ursprung ohne weiteres und ohne Einschränkungsmöglichkeit entstehen, mit Ausnahme der Einschränkungen, die sich aus der notwendigen Abwägung mit anderen konkurrierenden geschriebenen Grundrechten in einem bestimmten Fall ergeben. Laut der Verfasserin sei es daher schwer vorstellbar, wie ein Verfassungsgericht die Grenzen des neuen, im Allgemeininteresse wurzelnden Grundrechts herausarbeiten könnte, ohne die institutionellen Grenzen der richterlichen Funktion zu überschreiten. Der zweite Faktor, der es schwierig machen würde, Grenzen für neue, von Verfassungsgerichten erschaffene Grundrechte zu formulieren, wäre der Grundsatz der Nichtdiskriminierung. Dieses Grundprinzip, das häufig in Wechselwirkung mit der Privatsphäre als Quelle neuer Rechte steht, würde tendenziell jede Beschränkung auf neue subjektive Konstellationen beseitigen. Cartabia führt als Beispiel den Fall der 226
BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21. Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn, Kap. 7 Rn. 18 ff. 228 Cartabia, I „nuovi“ diritti, S. 13 f. 227
IV. Grenzen der neuen Grundrechte
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künstlichen Befruchtung an, bei dem jede Beschränkung des Zugangs zu den Techniken der künstlichen Befruchtung als Diskriminierung bei der Wahrnehmung des „Rechts auf ein Kind“ verstanden werden kann. Voraussetzung ist, dass sie auf der Annahme beruht, dass Unterschiede in der Realität – nämlich verschiedene Arten der Unfruchtbarkeit – niemals in Unterschieden im Recht ihren Niederschlag finden können – auch dann nicht, wenn sie für den Schutz anderer Güter und allgemeiner Interessen notwendig sind, wie z. B. die biologische Identität des Kindes oder die Verhinderung der kommerziellen Nutzung des Körpers oder von Körperteilen. Für sie wäre unsere Ära daher „sowohl das Zeitalter der neuen Rechte als auch die Periode der absoluten Rechte“.229 Zu dieser These können einige Anmerkungen gemacht werden. Erstens kann man sagen, dass eine Befugnis des Verfassungsgerichts, einem neuen, von ihm selbst geschaffenen Grundrecht Grenzen zu setzen, nicht von seiner Rechtsprechungsfunktion umfasst ist. Wie erwähnt, üben die Verfassungsgerichte bei der Kreation neuer Grundrechte indes keine richterliche Funktion als solche aus, sondern eine mitkonstituierende Gewalt. Nur aus dieser Perspektive kann man den Gedanken fassen, dass die Verfassungsgerichte im Rahmen des ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsspielraums nicht nur den Schutzbereich eines neuen Grundrechts, sondern auch dessen verfassungsrechtliche Grenzen statuieren können.230 Wer die Macht hat, neue Grundrechte zu erschaffen, muss auch die Möglichkeit haben, ihre Grenzen zu fixieren. Zweitens ist es zwar ungewöhnlich, dass die Verfassungsgerichte die Grenzen der neuen Grundrechte festlegen. Dies heißt aber nicht, dass es sich um absolute Grundrechte handelt.231 Wenn ein Verfassungsgericht nicht ausdrücklich andere Grenzen angibt,232 muss davon ausgegangen werden, dass verfassungsimmanente Schranken greifen. Für die Verfassungsgerichte ist die Bestimmung der Einschränkungsart eine heikle und komplexe Aufgabe, da ein Übermaß an Restriktionen das neue Grundrecht undurchführbar machen würde, während ein Untermaß an Beschränkungen das System der Grundrechte verändern könnte, da es sich um Grundrechte mit einer Art „absoluter Priorität“233 handeln würde. Kollisionen müssen mit einem oder mehreren neuen Grundrechten im Wege der Verhältnismäßigkeit und der praktischen Konkordanz gelöst werden.
229
Cartabia, I „nuovi“ diritti, S. 13 f. Siehe beispielweise BVerfGE 65, 1, 38 – Volkszählung. 231 Michael, in: ZJS 2/2022, S. 254. 232 Zudem spricht nichts dagegen, dass die Verfassungsgerichte vorsehen, dass Einschränkungen des neuen Grundrechts durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes vorgenommen werden können. 233 Borowski, in: JfIR 56 (2013), S. 401. 230
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F. Dogmatische Fragen bei der Kreation neuer Grundrechte
V. Interpretation neuer Grundrechte Eine der wenigen Fragen der Verfassungsauslegung, über die in der juristischen Literatur Konsens besteht, ist, dass in geschriebenen Verfassungen „der Wortlaut den Ausgangspunkt der Auslegung“234 bildet. Im Falle der Grundrechte ist der Ausgangspunkt die Grundrechtsbestimmung. Für die von den Verfassungsgerichten neu kreierten Grundrechte gibt es zwar einen Text, aber nicht in Form einer Verfassungsbestimmung, sondern in Form einer Gerichtsentscheidung. Dies schließt weder aus, dass die neuen Grundrechte mit den verfügbaren Kanones oder Grundsätzen der Verfassungsauslegung interpretiert werden können, noch, dass keine Auslegungsprobleme im Zusammenhang mit diesen Grundrechten auftreten können. Die Notwendigkeit, neue Grundrechte zu deuten, ergibt sich daraus, dass auch die Verfassungsgerichte nicht alles vorhersehen können,235 und dass die Formulierung eines neuen Grundrechts die gleichen Probleme (Unbestimmtheit, Vagheit usw.) aufwirft, die in der allgemeinen Rechtssprache existieren. Auch für die Grundrechtspolitik könnte die Auslegung neuer Grundrechte wichtige Auswirkungen haben.236 Die sich aus den neuen Rechten ergebenden Interpretationsprobleme können allerdings, wie die der geschriebenen Grundrechte, durch die Entwicklung der Rechtsprechung auf der Grundlage konkreter Fallkonstellationen schrittweise geklärt und gelöst werden.237
VI. Wandel der neuen Grundrechte Auch die von den Verfassungsgerichten kreierten neuen Grundrechte können sich wandeln. So hat z. B. das „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“238 im Laufe der Zeit einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. Die Risiken, die eine 234
Statt vieler Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 62. Zum Beispiel, ob das „Recht auf schulische Bildung“ eine Erweiterung auf erwachsenen Analphabet:innen, Geflüchtete oder erwachsene Menschen mit Behinderung erfahren kann oder nicht ist eine Interpretationsfrage der Entscheidung des BVerfG; dazu Lischewski, in: VerfBlog 2021/11/30 (abrufbar unter https://verfassungsblog.de/ein-recht-nur-fur-kinder/); Sachs, in: JuS 2022, S. 186 ff. 236 In der Diskussion um die Verankerung spezifischer Kinderrechte im GG kann die Bundesnotbremse II-Entscheidung des BVerfG von Gegnern dahingehend interpretiert werden, dass eine Verfassungsänderung nicht notwendig sei, wenn das BVerfG Kinderrechte ohne größere Probleme etablieren kann, während ihre Befürworter die Entscheidung gerade als Zeichen für die Notwendigkeit der Aufnahme der Kinderrechte in das GG durch eine Verfassungsänderung interpretieren können. Für diese Kontroverse könnte die Bundesnotbremse II-Entscheidung als „ambivalent“ betrachtet werden. Dazu siehe Lischewski, in: NJOZ 2022, S. 582. 237 So Wrase, in: VerfBlog 2021/12/05. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/ein-be schluss-mit-weitreichenden-folgen/. 238 BVerfGE 65, 1, 38 – Volkszählung. 235
VI. Wandel der neuen Grundrechte
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Volkszählung für den Einzelnen mit sich bringt, sind nicht vergleichbar mit den heutigen Gefahren, die von Terrorismus, Kriminalität, neuen technologischen Entwicklungen und der Art und Weise, wie personenbezogene Daten gesammelt und verwaltet werden, ausgehen. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Grundrechts scheint im Lichte der heutigen Umstände „idyllisch“239 zu sein. Ein weiteres Beispiel aus der Rechtsvergleichung ist das vom peruanischen Verfassungsgericht geschaffene „Recht auf Wahrheit“.240 In seiner originären Bedeutung gewährleistet dieses Grundrecht im Fall des gewaltsamen Verschwindens einer Person, dass der Gesellschaft und den Angehörigen des Opfers, die Umstände, die Zeit, die Art und den Ort des gewaltsamen Verschwindens sowie die Motive der Täter zu erfahren.241 Trotz der Überwindung von fast zwei Jahrzehnten Terrorismus in Peru ist das „Recht auf Wahrheit“ nach wie vor aktuell, hat aber allmählich eine neue Bedeutung erlangt und zwar im Zusammenhang mit der staatlichen Transparenz im Allgemeinen. Eine weitere Besonderheit bei der verfassungsrechtlichen Wandlung der von den Verfassungsgerichten erschaffenen Grundrechte besteht darin, dass sie sich sogar von den Grundrechten, die einst als Grundlage für ihre Kreation dienten, unabhängig machen können. In Verfassungen, in denen es keine ausdrückliche „Öffnungsklausel“ für die Schaffung neuer Grundrechte gibt, werden diese in der Regel aus anderen Grundrechten abgeleitet, die als „grundrechtliche Öffnungsklauseln“ dienen, wie beispielweise Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG. Solche Grundrechte des GG besitzen die gleiche Funktion242 wie z. B. die Klauseln in Art. 3 der peruanischen Verfassung.243 Darüber hinaus kann der Autonomiegewinn des neuen Grundrechts zum einen die Festlegung eines spezifischen und einzigartigen244 Schutzbereichs erleichtern und zum anderen kann das neue Grundrecht wiederum zur Grundlage oder zum 239
Hufen, StaatsR II, § 12 Rn. 3; Hoffmann-Riem, in: AöR 123 (1998), S. 517 ff. Tribunal Constitucional, Urt. v. 18. 3. 2004, Rs. 2488 – 2002–HC/TC. 241 Tribunal Constitucional, Urt. v. 18. 3. 2004, Rs. 2488 – 2002–HC/TC, Rn. 8 ff. 242 Eifert, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, § 18 Rn. 48 ff., spricht von dem Art. 2 Abs. 1 GG als „entwicklungsoffenes Grundrecht”; Meinke, In Verbindung mit, S. 88 f.; Rüfner, in: Der Staat 7 (1968), S. 52, ist im Gegenteil der Überzeugung, dass Kombinationen von Grundrechten zwar den Schutzbereich erweitern können, aber für sich genommen keine neuen Grundrechte kreieren. 243 In diesem Artikel heißt es: „Die Aufzählung der in diesem Kapitel genannten Rechte schließt andere von der Verfassung garantierte Rechte oder ähnliche Rechte, die auf der Würde des Menschen oder auf den Grundsätzen der Volkssouveränität, der demokratischen Rechtsstaatlichkeit und der republikanischen Regierungsform beruhen, nicht aus“. Einander ähnelnde Klauseln finden sich in den Verfassungen der USA (Amendment IX), Argentiniens (Art. 33), Boliviens (13 II), Brasiliens (Art. 5.77.2), Kolumbiens (Art. 94), Ecuadors (Art. 7.11) und Uruguays (Art. 72). 244 So „das Recht auf Vergessenwerden“ in Spanien, Tribunal Constitucional Urt. v. 4. 6. 2018, STC 58/2018; Caballero Trenado, in: Suárez Villegas/Marín Conejo, S. 378 ff. 240
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F. Dogmatische Fragen bei der Kreation neuer Grundrechte
„Quellcode“245 für die Kreation weiterer Rechte werden.246 Im Kern sind die neuen Grundrechte in diesem Sinne „offene“ Grundrechte.247 Sonach ist der Wandel der neuen Grundrechte nicht nur virtuell, sondern auch real.
245
So Volkmann, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, § 16 Rn. 35. Dies ist der Fall bei der „allgemeinen Persönlichkeitsrecht“, dass das BVerfG aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ableitet. Dies beweist auch, dass die von den Verfassungsgerichten kreierten neuen Grundrechte nicht nur „speziell“, sondern auch „allgemein“ sein können. Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof, IX, § 200 Rn. 47, spricht davon, dass verschiedene Grundrechte zu einem neuen „Gesamtgrundrecht“ oder „Synthese-Grundrecht“ führen können. Zum allgemeinen Charakter des Persönlichkeitsrechts siehe die Stellungnahme von Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 417. 247 Voßkuhle, in: JZ 19/2009, S. 920 f. 246
G. Vorschlag einer Methodik zur Prüfung der Kreation neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte I. Notwendigkeit einer Methodik Der Grundrechtskatalog muss für die Aufnahme neuer Grundrechte offen bleiben, wenn er die Freiheit des Menschen weiterhin gewährleisten soll. Diese grundrechtliche Expansion hat ihre Vorteile, aber auch ihre eigenen Gefahren. Einerseits könnte eine überzogene Ausdehnung durch neue Grundrechte nicht nur den Kern des Grundrechtskatalogs, sondern auch die Identität der Verfassung stören. Die Weiterentwicklung einer Verfassung muss die Strukturelemente respektieren, die ihre Identität und Einheit ermöglichen und erkennbar machen und darf nicht auf Kosten dieser Elemente gehen. Andererseits kann die Kreation neuer Grundrechte ohne Kriterien, die ein Mindestmaß an Rationalität des Kreations-Prozesses gewährleisten, dazu führen, dass solche Grundrechte in der Praxis irrelevant sind. David S. Law und Mila Versteeg haben empirisch nachgewiesen, dass die Aufnahme einer großen Anzahl von Grundrechten in eine Verfassung nicht notwendigerweise deren Wirksamkeit sicherstellt.248 In diesem Sinne sollte die Erfindung neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte eine bestehende Verfassung nicht zu einer „sham constitution“249 machen. Gerade der Gedanke, dass es notwendig ist, Kriterien zu formulieren, an denen sich die Verfassungsgerichte bei der Kreation neuer Grundrechte orientieren sollten, zielt darauf ab, einen unkontrollierten Zuwachs an neuen Grundrechten, aber auch die oben genannten Gefährdungen zu vermeiden250 oder so weit wie möglich zu eliminieren. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass die Tatsache, dass die Verfassungsgerichte in diesem schöpferischen Verfahren mitkonstituierende Funktionen üben, keineswegs besagt, dass sie frei von allen rechtlichen Regeln handeln können oder dass sie die Ausübung dieser Befugnis zur „Geschmackssache“ machen können.
248
Law/Versteeg, in: California Law Review 101 (2013), S. 865 ff. Law/Versteeg, in: California Law Review 101 (2013), S. 880 f. 250 Auch in der Fachliteratur führt das Fehlen einer Methodik häufig zu erheblichen Kontroversen. Im Übrigen herrscht selten Einigkeit darüber, ob eine Verfassungsentscheidung ein neues Grundrecht erschaffen hat oder nicht. In einigen Fällen sind es die Gerichte selbst, die Zweifel ausräumen müssen. 249
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G. Vorschlag zur Prüfung der Kreation neuer Grundrechte
Das Bestreben, Kriterien zu formulieren, die den Prozess der Kreation von Grundrechten leiten sollen, hat gleichwohl auch seine eigenen Herausforderungen. So muss der Rechtfertigungsgrad für die Schaffung eines neuen Grundrechts in Verfassungen, die nicht explizit „Öffnungsklauseln für neue Grundrechte“ involvieren, zwangsläufig höher sein als in Verfassungen, die dies tun, da es in letzteren explizite Anhaltspunkte gibt und die Öffnungsklauseln gewissermaßen als Regeln der stillen Anerkennung der mitkonstituierenden Befugnisse der Verfassungsgerichte fungieren. Auch der Grad der Wirksamkeit und des Schutzes der Grundrechte in einer bestimmten Rechtsordnung ist ein Element, das berücksichtigt werden muss, da im Kreations-Prozess die Möglichkeiten und Grenzen der Verwirklichung eines neuen Grundrechts bewertet werden müssen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten sollten die im Folgenden vorgeschlagenen Kriterien so allgemein wie möglich sein, damit sie von den Verfassungsgerichten unabhängig von den Eigentümlichkeiten jeder einzelnen Verfassung angewandt werden können.
II. Einblick in das Völkerrecht und das vergleichende Verfassungsrecht Die Sorge um eine künstliche Vermehrung neuer Grundrechte im Internationalen Recht ist kein neues Thema. In einem 1984 veröffentlichten Aufsatz analysiert Philip Alston die Frage der Proklamation neuartiger Menschenrechte, wobei er drei Probleme benennt.251 Das erste betrifft die Tatsache, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen bei vielen Gelegenheiten neue Menschenrechte proklamiert hat, ohne ausdrücklich ihre Absicht zu bekunden und ohne darauf zu bestehen, dass ein bestimmtes Kriterium erfüllt sein muss, bevor die neue Forderung als Menschenrecht betrachtet werden kann. Das zweite Problem ist die wachsende Tendenz einiger internationaler Organisationen und einiger UN-Kommissionen einschließlich der UN-Menschenrechtskommission selbst, neue Menschenrechte zu proklamieren, ohne die Versammlung zu konsultieren. Das dritte Problem ist die Leichtigkeit, mit der diese Proklamierung in diesen Organisationen den Vorschlag neuer Rechte – von Tourismusrechten bis hin zum Recht auf Abrüstung – in einem solchen Rhythmus gefördert oder provoziert hat, dass die Integrität des gesamten Prozesses der Anerkennung der Menschenrechte gefährdet ist.252 Alston stellt weder die Gültigkeit und Notwendigkeit eines dynamischen Ansatzes für die Menschenrechte noch die Erweiterung der Liste der anerkannten Menschenrechte in Frage. Was er dahingegen in Zweifel zieht, ist die willkürliche und fast anarchische Art und Weise, in der sich seiner Meinung nach die Expansion 251 252
Alston, in: The American Journal of International Law 78 (1984), S. 607 ff. Alston, in: The American Journal of International Law 78 (1984), S. 607 f.
II. Einblick in das Völkerrecht und das vergleichende Verfassungsrecht
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der Menschenrechte vollzieht. Ihm zufolge sind einige dieser Menschenrechte wie von Zauberhand entstanden.253 Dies veranlasst ihn, bestimmte inhaltliche und verfahrenstechnische Kriterien anzubieten, um eine sinnvolle Reflexion und Koordinierung zwischen den beteiligten internationalen Organisationen zu garantieren. Damit eine bestimmte Forderung im Sinne des Völkerrechts als Menschenrecht angesehen werden kann, sollte sie: 1. einen grundlegend wichtigen gesellschaftlichen Wert widerstrahlen, 2. in unterschiedlichen Wertesysteme – wenngleich zwangsläufig in unterschiedlichem Maße – relevant sein, 3. als Auslegung von Verpflichtungen aus der UN-Charta, als Ausdruck von Gewohnheitsrechtsnormen oder als deklarative Formulierung allgemeiner Rechtsgrundsätze anerkannt werden können, 4. mit den bestehenden internationalen Menschenrechtsnormen übereinstimmen und diese nicht nur wiederholen, 5. einen sehr hohen internationalen Konsens erreichen können, 6. mit der allgemeinen Staatenpraxis im Einklang oder geringstenfalls nicht eindeutig im Gegensatz zu ihr stehen und 7. hinreichend präzise sein, um erkennbare Rechte und Pflichten zu begründen.254 Mit der Formulierung der inhaltlichen Kriterien wurde allerdings nur ein Teil des Problems gelöst. Die nächste Herausforderung ist die Antwort auf die Frage, wie diese Kriterien operationalisiert oder in die Praxis umgesetzt werden sollen. Zu diesem Zweck betrachtet Alston auch sieben Phasen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1. Das Anerkennungsverfahren wird durch einen Beschluss eines beliebigen UN-Organs ausgelöst, 2. der Generalsekretär erstellt einen vorläufigen Bericht, in dem im Wesentlichen die Einhaltung der materiellen Kriterien geprüft wird, 3. der Generalsekretär bittet Staaten, einschlägige internationale und regionale Organisationen sowie NGOs um Stellungnahmen zu den in der vorläufigen Skizze ermittelten Fragen, 4. der Generalsekretär erstellt nun einen umfassenden Bericht, der die eingegangenen Stellungnahmen widerspiegelt und alle relevanten Aspekte des Vorschlags behandelt, 5. ein von der Menschenrechtskommission eingesetzter Ad-hoc-Ausschuss erstattet der Kommission Bericht über den Vorschlag, 6. die Kommission nimmt eine Empfehlung an die Generalversammlung an, 7. die Angelegenheit wird von der Generalversammlung geprüft und mündet in der Anerkennung des neuen Menschenrechts oder der Vertagung des Vorschlags.255 Alstons Vorschlag ist eine Art „appellation contrôlée“.256 Mit anderen Worten ist dieser Vorschlag als solcher keine „Qualitätsgarantie“ für das neue Menschenrecht, aber sie ist eine Sicherheit dafür, dass das neue Menschenrecht in der vorgeschriebenen Form und unter Berücksichtigung der Werte des internationalen Menschenrechtssystems ausgearbeitet worden ist. Ein solcher Ansatz kann dazu beitragen, sicherzustellen, dass bei der Ausarbeitung des neuen Menschenrechts alle relevanten Elemente berücksichtigt werden und dass letztlich „die Qualität nicht der Quantität 253
Alston, in: The American Journal of International Law 78 (1984), S, 607 f. Alston, in: The American Journal of International Law 78 (1984), S. 614 f. 255 Alston, in: The American Journal of International Law 78 (1984), S. 620. 256 Alston, in: The American Journal of International Law 78 (1984), S. 618. 254
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G. Vorschlag zur Prüfung der Kreation neuer Grundrechte
geopfert wird“.257 Auch wenn dieser Ansatz nicht für die Rechtsprechung gedacht ist, sollte er berücksichtigt werden, wenn es darum geht, Kriterien vorzuschlagen, die auch von den Verfassungsgerichten bei der Herleitung neuer Grundrechte zu beachten sind. Auch im Bereich des vergleichenden Verfassungsrechts gibt es Musterfälle. Auf der Grundlage einer Analyse der Rechtsprechung des Supreme Court der USA hat Robert C. Farrel die verschiedenen Methoden systematisiert, die der Supreme Court anwendet, um bestimmte implizite Grundrechte auf der Grundlage der „equal protection“- und „due process“-Klausel anzuerkennen.258 Die erste Methode ist die der „sozialen Bedeutung“ und stützt sich auf die „equal protection“-Klausel. Es handelt sich um eine einfache und geradlinige Methode, bei der sich der Supreme Court im Zuge der Ermittlung eines impliziten Grundrechts folgende Frage stellt: Welche soziale Bedeutung hat das geltend gemachte Recht?259 Bei der zweiten Methode geht es um den so genannten „impliziten Test“, der je nachdem, ob sich der Supreme Court auf die „due process“- oder auf die „equal protection“-Klausel stützt, unterschiedliche Varianten aufweisen kann. Bei dieser Prüfung stellt er sich die Frage: Welche Rechte sollten in der Verfassung inbegriffen sein?260 Bei der Beantwortung dieser Fragen ist zu beachten, dass die eingeforderten Rechte implizit im Konzept der geordneten Freiheit enthalten oder implizit in der Verfassung garantiert sein müssen. Nach der dritten Methode wird der Grundrechtscharakter eines Rechts daran gemessen, ob es in der Geschichte und den Traditionen des Landes verwurzelt und mit der due process-Klausel verbunden ist.261 Die vierte Methode ist für Fälle gedacht, in denen der Schutz vor willkürlichen Maßnahmen der Regierung erforderlich ist, und sie wird daher mit der „due process“-Klausel begründet. Eine „Erschütterung des Gewissens“262 würde es zudem ermöglichen, ein implizites Recht anzuerkennen. Die fünfte Methode, die sich auf die „equal protection-“ und die „due process“Klausel stützt, ist die der „strukturellen Argumente“ und ermöglicht es, ein nicht ausdrückliches Recht zu identifizieren, dass es sich zwangsläufig aus der Organisation der Bundesregierung oder der Struktur der Verfassung ergibt.263
257
Alston, in: The American Journal of International Law 78 (1984), S. 618 f. Farrel, in: Saint Louis University Public Law Review 26 (2007), S. 203 ff. 259 Farrel, in: Saint Louis University Public Law Review 26 (2007), S. 217 ff. 260 Farrel, in: Saint Louis University Public Law Review 26 (2007), S. 221 ff. 261 Farrel, in: Saint Louis University Public Law Review 26 (2007), S. 225 ff. 262 Farrel, in: Saint Louis University Public Law Review 26 (2007), S. 235 ff. Farrell zitiert den Fall Rochin v. Kalifornien, der zur Entwicklung dieser Methode geführt hat. In diesem Fall entschied der Supreme Court, dass die Anordnung der Polizei, den Magen eines Verdächtigen zu „spülen“, um Beweise für illegale Drogen zu erhalten, gegen die Verfassung verstößt. 263 Farrel, in: Saint Louis University Public Law Review 26 (2007), S. 237 ff. 258
III. Eigener Vorschlag einer fünfstufigen Methodik
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Bei der sechsten Methode wird bedacht, ob das beanspruchte Recht den erforderlichen Zugang zu staatlichen Verfahren, insbesondere im Bereich der Gesetzgebung und Rechtsprechung,264 ermöglicht. Sowohl die „equal protection“- als auch die „due process“-Klausel spielen hier eine zentrale Rolle. Bei der siebten Methode (sog. „Methode der Präzedenzfälle“) wird zur Ermittlung eines impliziten Rechts nach den ersten Grundsätzen der Verfassung und der Rechtsprechung des Supreme Court gesucht.265 Diese Methoden des Supreme Court veranschaulichen, wie komplex die Formulierung genereller Kriterien für den Prozess der Identifizierung nicht genannter Rechte sein kann. Selbst das Vorhandensein einer Klausel über „nicht genannter Rechte“, wie z. B. der 9. Zusatzartikel der US-Verfassung, gewährleistet nicht von sich aus, dass die Kreation neuer Rechte einfacher wäre. Diese Klausel wirft Deutungsprobleme auf, und zwar nicht nur in Bezug auf die Klausel selbst,266 sondern auch im Hinblick auf die implizierten neuen Rechte, denn es stellt sich die Frage, ob diese Rechte das gleiche Schutzniveau haben wie die verfassungsmäßigen Rechte, da sich dies nicht aus dem Amendment selbst ergibt. Noch diskutabler ist die Tatsache, dass implizite Rechte als verfassungsrechtliche Argumente verwendet werden, um den Geltungsbereich anderer Rechte einzuschränken.267 Es ist deutlich vernehmbar, dass all diese problematischen Fragen große Schwierigkeiten für die Formulierung von Kriterien für die Schaffung von Grundrechten mit sich bringen können, aber dies ist keineswegs eine Rechtfertigung für die Verfassungsgerichte, dies nicht zu tun oder nicht zu intendieren.
III. Eigener Vorschlag einer fünfstufigen Methodik zur Prüfung der Schaffung neuer Grundrechte Eine Methodik für die Kreation neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte muss zwei wesentliche Funktionen erfüllen. Einerseits soll sie ein praktisches Hilfsmittel sein, das die artifizielle Vermehrung neuer Grundrechte und damit die exzessive Ausweitung des Grundrechtskatalogs verhindert, andererseits soll sie auch ein juristisches Argumentationsinstrument sein, das dazu beiträgt, den Entscheidungen der Verfassungsgerichte mehr Rationalität zu verleihen. Diese essenziellen Funktionen können jedoch nicht erfüllt werden, wenn sich der hier präsentierte 264
Farrel, in: Saint Louis University Public Law Review 26 (2007), S. 241 ff. Kritisch gegenüber der Differenzierung zwischen „nummerierten Rechten“ und „nicht nummerierten Rechten“ Dworkin, in: The University of Chicago Law Review, 59 (1992), S. 386 ff. 266 Dazu Barnet, in: Stanford Law Review 60 (2008), S. 937 ff.; Lash, in: Loyola-LA Legal Studies Paper 2008 – 1, S. 1 ff. 267 Williams, in: Columbia Law Review 111 (2011), S. 498 ff. 265
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G. Vorschlag zur Prüfung der Kreation neuer Grundrechte
Vorschlag auf die Aufzählung einer bestimmten Reihe von losen Kriterien beschränken würde. Im Gegenteil, es bedarf einer zusammenhängenden Methodik. Man kann den hier präsentierten Vorschlag aus drei Gründen als „Methodik“ und nicht einfach als Nennung von „Kriterien“ bezeichnen. Erstens, weil er eine bestimmte Vorgehensweise vorgibt: Die hier vorgestellte Methodik sollte in der Reihenfolge angewendet werden, in der die Ebenen, aus denen sie besteht, festgelegt sind. Zweitens, weil er eine spezifische Struktur aufweist: Die Methodik besteht aus fünf Stufen, von denen jede einen spezifischen Inhalt und spezifische Anforderungen hat. Drittens, weil er einen bestimmten Zweck verfolgt: den Prozess der Kreation neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte rationaler und plausibler zu machen.
1. Erste Stufe: Festlegung der normativen und faktischen Prämissen Das erste Level der Methodik sieht die Festlegung der Voraussetzungen für die Schaffung eines neuen Grundrechts vor. Genau genommen handelt es sich um eine doppelte Prüfung: eine normative und eine faktische. a) Festlegung normativer Prämissen Die Prüfung der normativen Voraussetzungen wird durch folgende Leitfrage ermöglicht: Enthält die Verfassung derzeit ein Grundrecht, das Schutz vor den Gefahren der neuen Realität bietet? Die Schöpfung eines neuen Grundrechts ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Beantwortung auf diese Frage negativ ausfällt, d. h., wenn es der Verfassung nicht möglich ist, auf der Basis ihrer zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Bestimmungen eine angemessene Antwort auf die Gefahren zu geben, die sich aus der neuen Realität ergeben. Man könnte demgegenüber dafürhalten, dass es für die Zustimmung zu dieser Frage ausreicht, wenn man feststellt, dass es in der Verfassung eine „offene Klausel der neuen Grundrechte“ oder „Auffanggrundrechte“ gibt. Dies ist jedoch falsch. Es stimmt zwar, dass das Vorhandensein einer „Öffnungsklausel für neue Grundrechte“ oder von „Auffanggrundrechten“ den kreativen grundrechtlichen Prozess der Verfassungsgerichte erheblich erleichtern kann, aber es stimmt auch, dass solche grundrechtlichen Bestimmungen auch ihre eigenen Grenzen haben. Diese dürfen nicht überschritten werden, damit sie nicht difuss werden. Die Rolle der Auffanggrundrechte im Grundrechtssystem sollte nicht verwechselt werden. Sie sind nicht an sich die Normen der neuen Grundrechte, sondern nur die „Anhaltspunkte“, auf deren Grundlage andere Grundrechte erschaffen wurden. Dies ist insofern der Fall, als einige Veränderungen in der Realität spezifische Grundrechte mit einem sehr konkreten Schutzbereich erfordern können. Die Evaluierung der
III. Eigener Vorschlag einer fünfstufigen Methodik
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normativen Prämissen ist also ein zwingender Schritt, den die Verfassungsgerichte gehen müssen, bevor sie sich auf den komplexen Prozess der Herleitung eines neuen Grundrechts einlassen.268 Genauer gesagt besteht die Prüfung nicht darin, zu überprüfen, ob es Normen gibt, auf deren Grundlage neue Grundrechte kreiert werden können, sondern vielmehr darin, festzustellen, ob es bereits Grundrechte gibt, um der neuen Realität gerecht werden zu können oder nicht. Damit dürfte allen klar sein, dass die Expansion des Grundrechtskatalogs ein objektiv gerechtfertigtes Mittel ist, um das Ungleichgewicht auszugleichen, das im Grundrechtssystem durch eine neue Realität entstanden ist, die mit den vorhandenen grundrechtlichen Normen nicht mehr erfasst und bewältigt werden kann. Nur wenn die faktischen und normativen Prämissen erfüllt sind, kann man zur nächsten Ebene der Prüfung übergehen. b) Festlegung faktischer Prämissen Bei der Prüfung der Sachvoraussetzungen geht es im Wesentlichen um folgende Fragen: 1. Welcher Impuls steht hinter der Transformation der Realität? 2. Erfordert die neue Realität tatsächlich eine dringende Reaktion? Die erste Frage ist berechtigt, weil es, wie erwähnt, im Hintergrund der Kreation neuer Grundrechte immer bestimmte „Triebkräfte“ gibt, die hinter dem Wandel stehen. Die Identifizierung der Art des Impulses kann die Einstellung und die Argumentation der Verfassungsgerichte beeinflussen, aber sie kann auch den Rückgriff auf Forschungs- und Bewertungsinstrumente erfordern, die über rechtswissenschaftliche Methode hinausgehen. Wohl erfordert ein Impuls, der von einem sozialen Wandel ausgeht (wie z. B. „gesellschaftliche Werte“), eine andere Analyse als ein technischer Impuls (wie z. B. „autonomes Fahren“), so dass eine soziale Wandlung nicht auf dieselbe Weise bewertet werden sollte wie eine technologische Transformation. Die zweite Frage ist von Bedeutung, weil zwar „die soziale Dynamik die Entstehung neuer Grundrechte rechtfertigt“,269 aber nicht jede Veränderung in der Realität als dringlicher Anlass für die Kreation eines neuen Grundrechts angesehen werden sollte. Veränderungen in der Realität, die nicht unmittelbar mit der Würde oder der freien Entfaltung der Persönlichkeit zusammenhängen, können mit den einfachen Rechten bewältigt werden; nur solche Umwandlungen, die eine ernsthafte Gefahr für die Würde oder die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen bedeuten, sollen mit Hilfe neuer Grundrechte beherrscht werden. Die Verfassungsrichter sind verpflichtet, zwischen Veränderungen in der Realität, die keine 268
Die Prüfung der normativen Prämissen hindert die Verfassungsgerichte nicht daran, in dieser Stufe die Existenz eines Verfassungsänderungsentwurfs zu prüfen, der darauf abzielt, das neue Grundrecht, das das Verfassungsgericht erschaffen möchte, in die Verfassung aufzunehmen. Bei der Grundrechtspolitik geht es nicht um „Wettbewerb“, sondern um „Kollaboration“. 269 Ollero, in: Persona y Derecho 66/2012, S. 55.
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G. Vorschlag zur Prüfung der Kreation neuer Grundrechte
oder nur geringe Auswirkungen haben, und solchen zu unterscheiden, die hingegen eine dringende und schleunige Reaktion erfordern, um die Menschen nicht ohne grundrechtlichen Schutz zu lassen. Zudem kann die zweite Frage den Bürgern helfen, zu verstehen, dass die Schaffung eines neuen Grundrechts tatsächlich einer neuen objektiven Realität entspricht und nicht einer „Wirklichkeit“, die die Verfassungsrichter gemäß ihrer eigenen Subjektivität gerne hätten. Kurz gesagt, bei der Prüfung der tatsächlichen Voraussetzungen geht es darum, die „soziale Relevanz“ festzustellen und zu fundieren, die als „Auslöser“ für die Schaffung eines neuen Grundrechts dient.
2. Zweite Stufe: Festlegung des neuen Grundrechtsschutzbereichs Die Determiniertheit des Schutzbereichs eines neuen Grundrechts präsupponiert, dass es kein Grundrecht gibt, das angesichts der neuen Realität Schutz bieten könnte. Die Aufgabe, den Schutzbereich eines neuen Grundrechts zu fixieren, unterscheidet sich prinzipiell von der Schutzbereichsfestlegung eines originären Grundrechts. Im zweiten Fall handelt es sich um ein Grundrecht, dessen Schutzbereich anhand seiner normativen Elemente festgelegt werden muss,270 die häufig in knapper Form den Bereich, in dem es gilt, und seine jeweilige Garantie beschreiben.271 Hier spielt die Interpretation der Grundrechte eine signifikante Rolle, denn eine ihrer ersten Aufgaben ist gerade die Festlegung des Schutzbereichs.272 Bei der Schaffung eines neuen Grundrechts üben die Verfassungsgerichte indes eine mitkonstituierende Funktion aus, bei der sie wie der Verfassunggeber den Schutzbereich entweder weit oder eng fassen können.273 Die Kanones und Grundsätze der Verfassungsdeutung spielen dabei kaum eine Rolle.274 Denn der KreationsProzess bewegt sich im Gegensatz zum interpretativen Verfahren nicht von der Norm zur Wirklichkeit, sondern von der Realität zu einer noch zu erschaffenden „Grundrechtsnorm“. Während der Ausgangspunkt für den Auslegungsprozess eine oder mehrere Verfassungsbestimmungen sind, ist das Substrat für den KreationsProzess die Realität selbst. Bei der Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs 270 Daher ist es sinnvoll, die Frage zu stellen, ob der Schutzbereich weit oder eng ausgelegt werden sollte, dazu Merten in: Merten/Papier, III, § 56 Rn. 58 ff. 271 Dreier, in: Dreier, Bd. 1, Vorb. Rn. 119; Böckenförde, in: Der Staat 42 (2003), S. 167, spricht von einem „normativen“ und einem „deskriptiven“ Moment des Begriffs des Schutzbereichs. 272 So Hufen, Grundrechte, § 6 Rn. 3; Stern in: Stern/Becker, Rn. 107 ff. 273 Kahl, in: Der Staat 43 (2004), S. 167 ff. 274 Bislang wurde keine Methode entwickelt, wie die Realität im Rahmen der Verfassungsauslegung zu verarbeiten ist. Die Methode der realitätsorientierten Interpretation hat noch keine klaren Konturen, was ihren Inhalt und ihre Anwendung betrifft, dazu siehe Starck, in: Isensee/Kirchhof, XII, § 271 Rn. 29.
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stehen die Verfassungsgerichte also vor einer recht komplexen Aufgabe, denn sie müssen hinreichend segregieren, welcher Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in den Schutzbereich des neuen Grundrechts fallen und welcher außen vor bleiben soll. Dies ist möglicherweise die diffizilste und entscheidendste Frage bei der Kreation eines neuen Grundrechts, da ein zu weit gefasster Schutzbereich wenig geeignet ist, einen angemessenen Schutz zu bieten. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass nicht jedes menschliche Bedürfnis zu einen Recht führen muss, und zum anderen, dass nicht jedes Recht ein Grundrecht im eigentlichen Sinne sein kann. Daher sollte ein adäquates „Aussieben“ der Realitätsdaten zu Klarheit und Präzision bei den Garantiedimensionen des neuen Grundrechts führen.275 Darüber hinaus entspricht die angemessene Abgrenzung des Schutzbereichs des neuen Grundrechts der Notwendigkeit, dass die Verfassungsgerichte „Überschneidungen“ oder „Interferenzen“ mit anderen Schutzbereichen vermeiden. Solche Mängel können sowohl in Bezug auf originäre Grundrechte als auch in Zusammenhang mit einem neuen, durch die mitkonstituierende Gewalt276 geschaffenen Grundrecht auftreten. Aber nicht weniger zentral ist die Festlegung des persönlichen Schutzbereichs.277 Ob das neue Grundrecht ein Grundrecht aller oder nur der Staatsangehörigen eines Staates ist, ob es nur natürlichen oder auch juristischen Personen zustehen kann, sind Fragen, die von den Verfassungsgerichten zu entscheiden sind. Der Bezug zur Wirklichkeit und die Öffnung ihr gegenüber sind dabei nicht nur bedeutend, sondern auch vonnöten. Allein auf der Basis der Realität kann richtig bestimmt werden, wer das neue Grundrecht in Anspruch nehmen kann. So haben beispielsweise einige Verfassungsgerichte in Südamerika bei der Formulierung neuer Grundrechte bestimmten „Subjekten“ Grundrechte zuerkannt und dabei reale Probleme wie Umweltverschmutzung, Misshandlung von Tieren, Abholzung, Raubbau an natürlichen Ressourcen usw. berücksichtigt.278 Es ist sicherlich umstritten, ob solche Entscheidungen den „hochpersönlichen“279 Charakter der Grundrechte in Frage stellen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass ohne diese 275 Paradigmatisch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 49 ff. 276 Vgl. z. B. die Analyse von Hoffmann-Riem, in: JZ 21/2008, S. 1019, zu den Abgrenzungsproblemen zwischen dem „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ und dem „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“; darüber hinaus Hornung, in: CR 5 (2008), S. 301. 277 Dazu Rüfner, in: Isensee/Kirchhof, IX, § 196 Rn. 1 ff. 278 Siehe die vergleichende rechtswissenschaftliche Zusammenfassung von Molano Bustacara/Murcia Riaño, in: Revista Colombiana de Bioética 13 (2018), S. 82 ff. – Abrufbar unter https://revistas.unbosque.edu.co/index.php/RCB/article/view/2218/1812. Einen aktuellen Überblick über die Probleme, Fortschritte und Herausforderungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Südamerika bietet der jüngste Beitrag von Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Krise?, S. 377 ff. 279 Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 189.
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Ausweitung der Grundrechtsträgerschaft deren angemessener verfassungsrechtlicher Schutz nicht gewährleistet werden könnte.280
3. Dritte Stufe: Prüfung der Relation des neuen Grundrechts zu den Grundentscheidungen der Verfassung Mit der entsprechenden Differenzierung und Festlegung des neuen Schutzbereichs ist der Kreations-Prozess nicht abgeschlossen. Es bleibt noch zu examinieren, ob das vom Verfassungsgericht geschaffene neue Grundrecht mit den Grundentscheidungen der Verfassung in Einklang steht. Es geht also darum, einerseits festzustellen, ob die Unität der Verfassungsgrundentscheidungen nach der grundrechtlichen Neuschaffung nicht beeinträchtigt wird, und andererseits, ob die Verfassung und ihre Identität noch für jedermann erkennbar sind. Die neuen Grundrechte müssen nicht ihre Konformität mit allen anderen Grundrechten beweisen, da es natürlich Spannungen und Konflikte zwischen ihnen gibt. Unzulässig ist dennoch, dass die neuen Grundrechte im Widerspruch zu Verfassungsgrundentscheidungen stehen oder diese in Frage stellen. Jedenfalls muss deutlich sein, dass die neuen Grundrechte der Erhaltung und Förderung der Strukturelemente der Verfassung dienen. Ergo kann man sagen, dass das Ziel der dritten Prüfungsebene darin besteht, sicherzustellen, dass die Kreation und Aufnahme eines neuen Grundrechts die „Grundpfeiler“, auf denen eine Verfassung nicht nur als Rechtsordnung, sondern auch als axiologisches System ruht, nicht verändert. Ein weiterer Zweck bezieht sich speziell auf den Katalog der Grundrechte.281 Konkret geht es auf dieser Prüfungsebene auch darum, zu überprüfen, ob der Grundrechtskatalog nach der Aufnahme eines neuen Grundrechts noch seine wesenhaften Charakteristika bewahrt. Insbesondere muss hier eine mögliche „Demontage“ der inneren Struktur des Grundrechtskatalogs verhindert werden. Zu einem solchen Abbau kann es beispielsweise kommen, wenn durch die Schaffung eines oder mehrerer neuer Grundrechte das innere Äquilibrium zwischen den Freiheits-, Gleichheits- und Teilhaberechte gestört wird, aber auch dann, wenn ein ursprüngliches Grundrecht durch das neu kreierte Grundrecht im Katalog unwirksam und irrelevant wird. Die vollständige oder teilweise „Appropriation“ des Schutzbereichs des originären Grundrechts könnte natürlich ein Indikator für die struktu280 Auf der Basis einer detaillierten Forschung der Verfassung der Republik Ecuador spricht Gutmann, Hybride Rechtsubjektivität, S. 224, von „Harmonisierung menschlicher und natürlicher Rechtspositionen“, d. h. von „Inbeziehungsetzung der Subjekte“. 281 Diese Differenzierung der Analyse ist gerechtfertigt, weil nicht alle Grundrechte als Grundentscheidungen gelten und nicht jede Grundentscheidung notwendigerweise eine Grundrechtsnorm enthält. Eine exakte und völlig deckungsgleiche Übereinstimmung zwischen dem Katalog der Grundrechte und den Grundentscheidungen einer Verfassung gibt es folglich nicht.
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relle Veränderung des Grundrechtskatalogs sein. Schließlich trägt die Prüfung des Verhältnisses des neuen Grundrechts zu den Verfassungsgrundentscheidungen auch dazu bei, eine ungerechtfertigte Modifizierung des Menschenbildes zu vermeiden. Diese Warnung, die von den Verfassungsgerichten nicht übergangen werden sollte, bewahrt sie vor der Tatsache, dass die Kreation eines neuen Grundrechts ohne eine definierte Methodik zur Konstruktion eines juristischen Menschenbildes führen kann, in dem der Grundrechtsträger in gewisser Weise nicht authentisch, verzerrt und weit entfernt vom ursprünglichen Bild erscheint.282 Zusammengefasst trägt die dritte Prüfungsebene dazu bei, den Identitätsverlust der Verfassung selbst zu vermeiden, aber auch zu verhindern, dass die Kreation neuer Grundrechte das innere Gleichgewicht des Grundrechtskatalogs stört oder das Menschenbild, das der Verfassung zugrunde liegt, verzerrt.
4. Vierte Stufe: Analyse der praktischen Effektivität des neuen Grundrechts Die praktische Wirksamkeit eines neuen Grundrechts kann nur an realen Fällen getestet werden. Dies hindert die Verfassungsgerichte jedoch nicht daran, bei der Schaffung eines neuen Grundrechts eine „Prognose“ über dessen mögliche praktische Effektivität vorzunehmen. Gerade der vierte Prüfungslevel der vorgeschlagenen Methodik hat das unmittelbare Ziel, zu verhindern, dass die Verfassungsgerichte wesenslose Grundrechte oder Grundrechte mit geringen Chancen auf praktische Verwirklichung erschaffen. Ein neues Grundrecht darf den Bürgern nicht nur die Vorstellung einer abstrakten Evolution des Grundrechtskatalogs vermitteln, sondern muss für sie eine konkrete Bedeutung haben, die sich in der berechtigten Erwartung verdichtet, dass sie angesichts neuer Gefahren für ihre Freiheit über ein Grundrecht verfügen, das ihnen echten Schutz gewährt. In diesem Sinne muss der „abstrakten Expansion“ des Grundrechtskatalogs eine „konkrete Ausdehnung“ der Garantien zugunsten des Einzelnen gegenüberstehen. Doch nach welchen Kriterien können Verfassungsgerichte die praktische Effektivität eines neuen Grundrechts beurteilen? Eine sorgfältige und erfolgreiche Anwendung der ersten und zweiten Stufe der Methodik kann zu einer guten Prognose für die praktische Realisierung des neuen Grundrechts beitragen. Solche Analysen können nützliche Elemente für die Verfassungsgerichte liefern. Sie können dazu dienen, zu beurteilen, ob das neue Grundrecht einerseits eine Lücke im Grundrechtskatalog füllt und ob es andererseits den Menschen einen spezifischen und konkreten grundrechtlichen Schutz vor den Risiken einer zunehmend volatilen Realität bietet. Wenn das neue Grundrecht dies gewährleistet, kann man behaupten, dass es sich um ein Grundrecht mit praktischer Auswirkung handelt, und seine Schöpfung wäre daher bis zu diesem Punkt gerechtfertigt. Da jedoch, wie gesagt, die 282
Cartabia, in: Pontifical Academy of Social Sciences, Acta 17, 2012, S. 435.
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praktische Verwirklichung eines neuen Grundrechts nur auf der Grundlage seiner Anwendung auf reale Fallkonstellationen beurteilt werden kann, dürfen die Verfassungsgerichte die „Evolution“ des neuen Grundrechts nicht aus dem Blick verlieren. Damit soll beurteilt werden, ob eine weitere Klärung des Schutzbereichs des neuen Grundrechts, andere Eingriffsformen oder gar die Beantwortung der Frage nach seinen Grenzen erforderlich ist. Im Rahmen von Verfahren vor den Verfassungsgerichten muss diese Möglichkeit zur „Korrektur“ immer offen bleiben. Zu der Frage, ob in die Prüfung der praktischen Verwirklichung auch eine „Effizienzanalyse“ des neuen Grundrechts einbezogen werden sollte, ist Folgendes zu ergänzen: Die Grundrechte schützen bestimmte Freiheiten des Grundrechtsträgers, aber diese Garantie ist prinzipiell abstrakt. Die Vorschriften einer Verfassung, welche die Grundrechte anerkennen, sagen nichts über die tatsächlichen Möglichkeiten ihrer Träger aus, von diesen Grundrechten Gebrauch zu machen. In der praktischen Anwendung werden die abstrakten Grundrechte in den Bereich der realen Handlungsmöglichkeiten übertragen. Damit wird die Frage nach den Chancen ihrer Verwirklichung in den Mittelpunkt der Grundrechtsdogmatik gestellt.283 Gerade weil die grundrechtlichen Gebote nichts über die realen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung aussagen, sollte die vierte Analyseebene der Methodik auch die Analyse der Effizienz umfassen. Obwohl man denken könnte, dass Grundrechte keine „Kosten“ verursachen, ist es so, dass sie (mehr oder weniger) und unabhängig von der Art des betreffenden Grundrechts284 geschützt werden müssen, da ihr Schutz immer eine intensive Betätigung des Staates auf allen Verwaltungsebenen erfordert und dieser Schutz Kosten verursacht. Mit der Einbeziehung der Effizienzanalyse meint man nicht, dass die Kreation eines neuen Grundrechts unbedingt von der Sicherung jeder einzelnen Möglichkeit seiner Verwirklichung abhängig gemacht werden sollte. Man sagt nur, dass die Schaffung eines neuen Grundrechts nicht ohne Abschätzung der damit verbundenen Kosten erfolgen sollte, und dass sich die Verfassungsgerichte deshalb nicht nur auf die Schaffung beschränken, sondern auch auf die – wenn auch nur minimale – Sicherstellung der tatsächlichen Verwirklichung blicken sollten. Dies gilt insbesondere für die neuen Leistungs- und Teilhabegrundrechte. Daher umfasst die vierte Stufe der Methodik nicht nur das „Ob“ der Erreichung des Ziels der neuen Grundrechte (Effektivitätsanalyse), sondern auch das „Wie“ (Effizienzanalyse), d. h. die unkomplizierte und schnelle Realisierung der neuen Grundrechte.
283 284
Lesenswert Fehling/Brinkschmidt, in: JA 2 (2020), S. 115 ff. Holmes/Sunstein, The Cost of Rights, S. 24 ff.
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5. Fünfte Stufe: Analyse der Verfahrensgarantien des neuen Grundrechts Die letzte Stufe der Methodik ist die Analyse der Verfahrensgarantien des neuen Grundrechts. Da die verfahrensrechtliche Sicherung der Grundrechte von den Eigentümlichkeiten der jeweiligen Rechtsordnung abhängt, können hier nur allgemeine Überlegungen angestellt werden, die dennoch unerlässlich sind. Es gibt drei Fallkonstellationen, die die Verfassungsgerichte bei dieser Prüfung berücksichtigen müssen. Der erste Fall ist der, in dem das neue Grundrecht die Errichtung eines spezifischen Verfahrens zu seinem Schutz erfordert. Die Merkmale und die Komplexität der Risiken, die sich aus der volatilen Realität ergeben, könnten es erforderlich machen, das neue Grundrecht im Rahmen eines eigens zu diesem Zweck geschaffenen verfassungsrechtlichen Verfahrens zu schützen. Dies wäre vor allem in den Fallkonstellationen gerechtfertigt, in denen die bestehenden Verfahrensregeln den angemessenen Schutz nicht erleichtern, sondern behindern. Während es keinen Grund gibt, am großen Erfolg der Verfassungsbeschwerde zu zweifeln, könnte man fragen, ob es in naher Zukunft notwendig sein könnte, als Reaktion auf die zunehmende Überwachung privater Aktivitäten und die Gefahr, dass persönliche Daten zu einer Propagandamaschine gegen die Individuen selbst werden, das habeas data-Verfahren285 in das BVerfGG einzubeziehen. Die zweite Annahme bezieht sich auf die Tatsache, dass zwar ein verfassungsrechtliches Verfahren zum Schutz des neuen Grundrechts existiert, dass aber aufgrund der Spezifika des neuen Grundrechtsschutzbereichs Modifikationen der Verfahrensvorschriften erforderlich sein könnten, um seinen optimalen Schutz zu gewährleisten. Hier könnte die Entscheidung der Verfassungsgerichte mit einem „Appell“ an den Gesetzgeber verbunden werden, die erforderlichen Änderungen an den verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften vorzunehmen. Drittens und letztens gibt es den einfacheren Fall, dass in einer bestimmten Rechtsordnung mehrere verfassungsrechtliche Verfahren (Verfassungsbeschwerde, habeas corpus, habeas data, usw.)286 bestehen, die jeweils einzelne Gruppen von Grundrechten schützen. Obschon die Verfassungsgerichte bei dieser Annahme die Befugnis haben, das verfassungsrechtliche Verfahren zu fixieren, das ihres Erachtens nach am besten für den Schutz des neuen Grundrechts geeignet ist, bleibt dies in vielen Fällen der freien Interpretation überlassen, da implizit angenommen wird, dass das verfassungsrechtliche Verfahren für den Schutz des neuen Grundrechts 285
Barker, in: Willamette Journal of International Law and Dispute Resolution 20 (2012), S. 12 ff.; Farivar, Habeas Data, 2018. 286 Das Vorhandensein einer Diversität verfassungsrechtlicher Verfahren (mit eigenen Regelungsmerkmalen) zum Schutz bestimmter Grundrechtsreihe ist ein Charakteristikum des lateinamerikanischen Verfassungsprozessrechts, dazu siehe Hernández Valle, Derecho procesal constitucional y derecho convencional, S. 49 ff.
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dasjenige ist, in dem das neue Grundrecht konstituiert wurde, obwohl diese Übereinstimmung nicht immer offensichtlich ist oder bestätigt werden kann.287 Ebenso wichtig wie die Definition ihrer materiellen Elemente ist die Festlegung des Verfassungsprozesses der neuen Grundrechte. In Anbetracht der Tatsache, dass die drei Annahmen eher real als fiktiv sind, müssen die Verfassungsgerichte im Rahmen der fünften Phase der Methodik immer angeben, ob es nötig ist, ein besonderes verfassungsrechtliches Verfahren zu erfinden, um den Schutz des neuen Grundrechts zu gewährleisten, ob nur einige Modifizierungen der bestehenden Verfahrensregeln erforderlich sind oder ob es erforderlich ist, das besondere verfassungsrechtliche Verfahren für den Schutz des neuen Grundrechts zu präzisieren.
287 So hat das peruanische Verfassungsgericht im Rahmen eines Prozesses der abstrakten Normenkontrolle Verbraucher- und Benutzergrundrechte geschaffen, deren Schutz durch die Verfassungsbeschwerde jedoch unbestritten ist. Hier gibt es keine notwendige Koinzidenz zwischen dem verfassungsrechtlichen Verfahren, in dem das neue Grundrecht kreiert wird, und dem verfassungsrechtlichen Verfahren, in dem es schließlich geschützt wird, dazu siehe Tribunal Constitucional, Urt. v. 11. 11. 2003, Rs. 0008 – 2003–AI/TC, Rn. 27 ff.
H. Anwendung der Methodik am Beispiel der Bundesnotbremse II-Entscheidung des BVerfG I. Vorüberlegungen In diesem Teil der Arbeit soll die vorgeschlagene Methodik zur Prüfung der Schöpfung neuer Grundrechte durch die Verfassungsgerichte geprüft werden. Zu diesem Zweck ist die Bundesnotbremse II-Entscheidung des BVerfG288 auserwählt worden, in der das BVerfG zum ersten Mal vom „Recht auf schulische Bildung“ spricht. Der Anlass, weswegen dieser Beschluss für die Analyse ausgewählt wurde, liegt nicht nur darin, dass es sich um eine junge Entscheidung handelt, sondern auch darin, dass es sehr selten vorkommt, dass ein Verfassungsgericht einem von ihm selbst kreierten Recht so viel Aufmerksamkeit schenkt289 und dessen Inhalt so detailliert skizziert.290 Ein vergleichbares Modell gibt es soweit ersichtlich weder in Deutschland noch in der vergleichenden Rechtswissenschaft, da sich die Verfassungsgerichte in der Regel darauf beschränken, das neue Grundrecht zu benennen oder allenfalls einige Präzisierungen vorzunehmen. Gewiss sind die Verfassungsgerichte immer wieder aufgerufen, bestehende Grundrechte auf die sich ständig ändernden Lebensumstände anzuwenden, aber die Kreation neuer Grundrechte wie durch das BVerfG in seiner Bundesnotbremse II-Entscheidung, ist nicht alltäglich.291 Um Missverständnissen vorzubeugen, muss abschließend klargestellt werden, dass sich die folgende Analyse nicht mit anderen Aspekten der Entscheidung befasst, die als problematisch angesehen werden könnten; es soll lediglich die Entscheidung des BVerfG im Lichte der hier vorgeschlagenen Methodik bewertet werden.
288
BVerfG (Erster Senat), Beschluss v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21. Bei Sachs, in: JuS 2022, S. 186, ist die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ in der Entscheidung des BVerfG „von zentraler Bedeutung“. 290 Dazu Muckel, in: JA 2022, S. 176; Bülow/Schiebel, in: DRiZ 2/2022, S. 79. 291 So auch Bülow/Schiebel, in: DRiZ 2/2022, S. 76 ff.; Möllers/van Ooyen, in: RuP 1/ 2022, S. 65. 289
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H. Anwendung am Beispiel der Bundesnotbremse II-Entscheidung
II. Kontextualisierung der Entscheidung des BVerfG Anlässlich der Corona-Pandemie wurden weltweit zahlreiche Verfassungsgerichte angerufen, um über die Verfassungsmäßigkeit der von den Staaten ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (SARS-CoV-2) zu entscheiden.292 Dies betrifft insbesondere den Bereich der Grundrechte.293 Die Verfassungsgerichte sahen sich also einer doppelten Herausforderung gegenüber. Zum einen mussten sie die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Maßnahmen trotz mangelnder endgültiger Wissenschaftskenntnisse und Informationen über die Entwicklung von SARS-CoV-2 prüfen.294 Zum anderen mussten sie darauf achten, dass ihre Entscheidungen nicht zu einer Schwächung der staatlichen Maßnahmen im Gesundheitsbereich führen, gleichzeitig aber auch gewährleisten, dass die Grundrechte in der Praxis nicht außer Kraft gesetzt oder unverhältnismäßigen Eingriffen unterworfen werden. Auch innerhalb der Verfassungsgerichte hatte die Corona-Pandemie institutionelle Konsequenzen. Drei Urteile und mehr als ein Dutzend abweichender Meinungen haben z. B. die internen Spannungen zwischen den Verfassungsrichtern und die Unfähigkeit des spanischen Verfassungsgerichts, einen Konsens über die CoronaKrise zu erzielen,295 deutlich gemacht. Die andauernde Pandemie, die zu einer sich ständig verändernden, unsicheren und komplexen Sach- und Rechtslage296 führt,297 zwingt die Verfassungsgerichte in der Praxis dazu, nur „provisorische Entscheidungen“ zu treffen, die je nach Entwicklung der Gesundheitskrise überprüft und geändert werden können. Es ist weitgehend anerkannt, dass die staatlichen Maßnahmen, die zu Beginn der Corona-Pandemie beschlossen wurden, allenfalls vorübergehend als kompatibel mit der Verfassung angesehen werden konnten. Dabei hat sich auch gezeigt, dass das Abwägungsverfahren auch für die Anwendung in Situationen mit großer Unsicherheit und Ungewissheit,298 angepasst werden muss. Prognosen, die allein auf Rechtskenntnissen beruhen, sind hier eindeutig unzureichend.299 Massive und 292 Dazu Michael, in: ZJS 1/2022, S. 107 ff.; Lepsius, in: RuP 3/2020, S. 258 ff., hat die zur Bewältigung von COVID-19 verabschiedeten Gesetze als „paralleles Rechtssystem“ bezeichnet. 293 Dazu Kingreen, in: JA 10 (2020), S. 1019 ff. 294 Zu COVID-19 und dem rechtlichen Umgang mit Unsicherheit siehe Frankenberg, in: VerfBlog, 25/4/2020. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/covid-19-und-der-juristi sche-umgang-mit-ungewissheit/. 295 Siehe Urt. v. 14. 7. 2021, STC 148/2021; Urt. v. 5. 10. 2021, STC 183/2021; Urt. v. 27. 10. 2021, 168/2021. 296 Von einem „epidemischen Sonderrecht“ kann man aber nur im Rahmen dessen sprechen, was die Verfassung regelmäßig zulässt, so Lepsius, JöR 69/2021, S. 70. 297 Amhaouach, in: RuP 1/2022, S. 75. 298 Ladeur, in: RuP 1/2022, S. 25; Froese, in: DÖV 10 (2022), S. 392 ff. 299 Edenharter, in: JöR 69/2021, S. 561; Lepsius, in: VerfBlog, 2020/4/06. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-corona-pan
III. Die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG
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nachhaltige Eingriffe in die Grundrechte (Stichwort: „zeitliche Dimension“300 des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) erfordern ebenfalls eine Überarbeitung dieses Grundsatzes.
III. Die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG 1. Erste Stufe: Festlegung faktischer und normativer Voraussetzungen des „Rechts auf schulische Bildung“ Wie dargelegt, bezieht sich die erste Stufe der Analyse im Rahmen der Methodik zum einen auf die Festlegung der faktischen Voraussetzungen und zum anderen auf die Feststellung der normativen Prämissen. a) Festlegung faktischer Prämissen des „Rechts auf schulische Bildung“ Es wurde bereits erwähnt, dass im Hinblick auf die faktischen Voraussetzungen eines neuen Grundrechts im Wesentlichen zwei Fragen zu beantworten sind: 1. Welcher Impuls steht hinter der Veränderung der Realität? und 2. ergibt sich aus der neuen Situation wirklich ein dringender Handlungsbedarf? Die Corona-Krise hat u. a. die Notwendigkeit eines speziellen Schutzes bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (z. B. Kinder und Jugendliche) aufgezeigt, auf die SARS-CoV-2 besonders schädliche Auswirkungen haben könnte und deren langfristige negative Folgen noch nicht abzusehen sind.301 Im April 2021 wurden mit § 28b Abs. 3 IfSG schwere Einschränkungen für den Präsenzunterricht an allgemeinund berufsbildenden Schulen eingeführt.302 Nach § 28b Abs. 3 IfSG wurde der Präsenzunterricht an solchen Schulen gänzlich untersagt, wenn die Sieben-TagesInzidenz von Coronavirus-Neuinfektionen in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Schwellenwert von 165 pro 100.000 Einwohner überschritt; lag die Inzidenz über dem Schwellenwert von 100 pro
demie/. Über die Wissenschaftsfeindlichkeit und Wissenschaftsgläubigkeit in Zeiten von Covid19, Feige, in: PhR 67 (2020), S. 120 ff. 300 Kingreen, in: JA 10 (2020), S. 1028 ff. 301 Dazu siehe die interessante Ad-hoc-Stellungnahme vom 21. 6. 2021 der wissenschaftlichen Einrichtung Leopoldina. – Abrufbar unter https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leo publication/2021_Corona_Kinder_und_Jugendliche.pdf. 302 Zu diesem sogenannten „Vierte Bevölkerungsschutzgesetz“ siehe Wollenschläger, in: FS 50 Jahre Juristische Fakultät Augsburg, S. 664 f.
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H. Anwendung am Beispiel der Bundesnotbremse II-Entscheidung
100.000 Einwohner, durfte der Präsenzunterricht nur noch zeitlich begrenzt in Form von Wechselunterricht stattfinden (§ 28b Abs. 2, 3 IfSG). Außerdem wurde festgelegt, dass die Länder Oberstufen und Sonderschulen vom Verbot des Präsenzunterrichts ausnehmen und eine Notfallversorgung nach von den Ländern festzulegenden Kriterien einrichten können. Die Durchführung von Präsenzunterricht war nur zulässig, wenn entsprechende Schutz- und Hygienekonzepte eingehalten und regelmäßige Tests auf das Coronavirus durchgeführt wurden. Wurden die oben genannten Schwellenwerte nicht erreicht, galten die Beschränkungen nicht mehr. Die Geltung des § 28b Abs. 3 IfSG wurde auf die Dauer der nationalen Pandemie-Situation, längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021, begrenzt. Eine Gruppe von Schülern und Eltern legten gegen diese Beschränkungen Verfassungsbeschwerden ein, die vom Ersten Senat des BVerfG entschieden wurden. Der Anstoß dazu kommt in diesem Fall nicht von einem Wandel der gesellschaftlichen Werte, technischen Veränderungen oder rechtlichen Standards. Vielmehr handelt es sich um einen Impuls, der aus einer ernsten, speziell durch Covid-19 verursachten Gesundheitskrise resultiert. Dies zeigt, dass Impulse für die Schaffung neuer Grundrechte auch aus Krisensituationen kommen können. Im konkreten Fall hat die Corona-Krise zum einen ein Defizit an grundrechtlichem Schutz für eine bestimmte soziale Gruppe aufgezeigt und zum anderen den Impuls für die Verankerung des „Rechts auf schulische Bildung“ gegeben. Dass sich das BVerfG dessen bewusst ist, zeigt sich nach Einschätzung des Sachverhalts in seiner expliziten Feststellung, dass „das erforderliche allgemeine Rechtsschutzbedürfnis“ vorliegt.303 b) Festlegung normativer Prämissen des „Rechts auf schulische Bildung“ In Hinblick auf die normativen Voraussetzungen erschöpft sich die Prüfung in der Beantwortung der Frage, ob es ein Grundrecht im GG gibt, das bereits Schutz vor der neuen Realität bietet. Es sei darauf hingewiesen, dass es eine Sache ist, zu fragen, ob ein grundrechtlicher Schutz erforderlich ist, aber eine ganz andere, ob es ein Grundrecht gibt, das eine solche Garantie bereits vorsieht.304 Diese Fragestellung behandelt das BVerfG in seiner Entscheidung nicht. Im Gegenteil, es bringt es direkt auf den Punkt: „Das Recht auf schulische Bildung“ ist „grundrechtlich geschützt“.305 Die Begründung, mit der das Gericht auf Art. 2 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 GG verweist,306 weist die „Anknüpfungspunkte“ aus, auf deren Grundlage es das „Recht auf schulische Bildung“ kreiert, ist aber streng genommen keine Analyse, die darauf zielt, ob ein anderes bestehendes Grundrecht bereits Schutz gegen das Verbot von 303
BVerfG (Erster Senat), Beschluss v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 40. Michael, in: ZJS 2/2022, S. 248 ff., spricht vom Recht auf schulische Bildung als „Schließung einer normativen Lücke“. 305 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Leitsatz 1 und Rn. 41. 306 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 42. 304
III. Die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG
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Präsenzunterricht bietet. Auch die Verweise des BVerfG auf das Völkerrecht und das EU-Recht dienen nur dem Zweck, zu zeigen, dass sowohl das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern als auch das „Recht auf schulische Bildung“ mit diesen Normen in Einklang stehen.307 Man könnte sicherlich argumentieren, dass die Analyse der normativen Grundlagen für die Schaffung des „Rechts auf schulische Bildung“ implizit erfolgt, wenn das BVerfG beschließt, dieses neue Grundrecht zu kreieren. Es ist dennoch sinnvoll, die Analyse explizit vorzunehmen, da dies zum einen die Möglichkeit einer unnötigen „Repetition“ von Grundrechten ausschließt und zum anderen die Wahrscheinlichkeit verringert, dass insbesondere in der Dogmatik Zweifel aufkommen,308 ob es notwendig war, den Grundrechtskatalog durch die Einfügung eines neuen Grundrechts zu vergrößern. Die Vorteile der Einbeziehung einer solchen Analyse in den grundrechtlichen Schöpfungsprozess durch das BVerfG sind evident und sollten das BVerfG nicht zusätzlich belasten, da es letztlich verpflichtet ist, seine Entscheidungen hinreichend zu begründen (Art. 103 Abs. 3 GG).309 Es wäre daher empfehlenswert gewesen, wenn das BVerfG in seiner Entscheidung eine normative Voraussetzungsanalyse vorgenommen hätte, um jeden Zweifel an der tatsächlichen Notwendigkeit der Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ auszuräumen.
2. Zweite Stufe: Festlegung des Schutzbereichs des „Rechts auf schulische Bildung“ Einer der zu Recht am meisten hervorgehobenen Aspekte der Bundesnotbremse II-Entscheidung ist die Art und Weise, wie das BVerfG bei der Festlegung des Schutzbereichs des „Rechts auf schulische Bildung“ und seiner Gewährleistungsdimensionen vorgegangen ist. In der Fachliteratur wird dies von einigen positiv bewertet,310 während andere der Ansicht sind, dass sich noch einige Unklarheiten ergeben könnten, insbesondere wenn die „Garantiedimensionen“311 dieses neuen Grundrechts berücksichtigt werden. Was den Umfang des persönlichen Schutzbereichs anbelangt, so stellt das BVerfG lediglich fest, dass die Träger dieses Rechts „Kinder und Jugendliche“ sind. Aus der Argumentation des BVerfG ergibt sich weder explizit noch implizit, dass sich der Anspruch auf dieses Grundrecht z. B. auch
307
BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 66 – 71. So hätte das BVerfG z. B. bei Möllers/van Ooyen, in: RuP 1/2022, S. 65, in seiner Bundesnotbremse II-Entscheidung neben dem „Recht auf schulische Bildung“ auch auf „das Recht auf freie Bestimmung des Bildungsgangs“ des Schülers verwiesen, was aber kein neues Grundrecht wäre, da das BVerfG es bereits in früheren Entscheidungen festgestellt habe. 309 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 902. 310 So Sauer, in: VerfBlog, 2021/12/01. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/gediege ne-gegenerzahlung/. 311 So Sachs, in: JuS 2022, S. 188. 308
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H. Anwendung am Beispiel der Bundesnotbremse II-Entscheidung
auf erwachsene Analphabeten oder Erwachsene mit Behinderungen erstreckt.312 Dies erkläre sich aus der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung, die das BVerfG der freien Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern beimesse.313 Es handelt sich also um ein Grundrecht mit „exklusiven Berechtigten“. Was den sachlichen Schutzbereich angeht, trennt das BVerfG zutreffend zwischen der Bestimmung des „Schutzbereichs“314 einerseits und der Ermittlung der „Gewährleistungsdimensionen“315 des „Rechts auf schulische Bildung“ andererseits. Dem BVerfG zufolge umfasst der Schutzbereich dieses Grundrechts „die Schulbildung als Ganze“,316 wobei seine Garantiedimensionen im Wesentlichen dreierlei sind: a) ein „Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten“,317 b) ein derivatives „Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems“,318 und c) ein „Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken“.319 Mit diesen Klarstellungen erreicht das BVerfG eine plausible Bestimmung des Schutzbereichs und der Gewährleistungsdimensionen des „Rechts auf schulische Bildung“. Zu dieser Klarheit trägt auch bei, dass das BVerfG die Anforderungen hervorhebt, die nicht unter die Garantiedimensionen fallen.320 Aufgrund dieser Abgrenzung von Schutzbereich und Gewährleistungsdimensionen gewinnt das „Recht auf schulische Bildung“ einerseits an Eigenständigkeit, andererseits verliert Art. 7 Abs. 1 GG nicht seine Identität. „Art. 7 Abs. 1 GG ist kein Grundrecht, sondern eine Organisations- und Aufgabennorm“.321 Durch die Spezifizierung seines Schutzbereichs und seiner Garantiedimensionen sind Überschneidungen oder Beeinflussungen des „Rechts auf schulische Bildung“ mit anderen Grundrechten unwahrscheinlich. Dies bedeutet nicht, dass eine „weitere rechts-
312
Dazu Lischewski, in: VerfBlog, 2021/11/30. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/ ein-recht-nur-fur-kinder/. 313 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 43 f.; 47 f. 314 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 43 f.; 49 f. 315 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 51 – 65. 316 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 49. 317 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Leitsatz 2a und Rn. 57. 318 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Leitsatz 2b und Rn. 60. 319 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Leitsatz 2c und Rn. 63. 320 Das „Recht auf schulische Bildung“, so das BVerfG, 1) „gibt den einzelnen Schu¨ lerinnen und Schu¨ lern im Grundsatz keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen“ (Rn. 52, 55), 2) „keinen Anspruch auf Beibehaltung vorhandener schulischer Strukturen, wenn diese in Wahrnehmung des Bildungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG geändert werden“ (Rn. 52), und 3) kein „Anspruch auf ein bestimmtes Schulangebot“ (Rn. 53). 321 Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Bd. 1, Art. 7 Rn. 20.
III. Die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG
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dogmatische Verfeinerung durch die Rechtsprechung“322 des BVerfG nicht möglich oder entbehrlich wäre, wenn die soziale Wirklichkeit, die der Impuls für die Kreation dieses neuen Grundrechts war, in Zukunft einen Wandel erfahren würde.
3. Dritte Stufe: Prüfung der Relation des „Rechts auf schulische Bildung“ zu den Grundentscheidungen des GG Die dritte Stufe der Methodik zielt insbesondere darauf ab, zu prüfen, ob das neue Grundrecht zum einen mit den Grundentscheidungen des GG (Art. 1 und Art. 20 GG) kompatibel ist, und zum anderen, ob die innere Struktur und die wesenshaften Merkmale des Grundrechtskatalogs trotz der Einfügung des neuen Grundrechts erhalten bleiben. Ein Grundrecht wie das „Recht auf schulische Bildung“ ist mit Art. 1 GG vereinbar. Es stellt eine Konkretisierung der Menschenwürde dar,323 nicht nur in dem Sinne, dass Kinder und ihre Grundrechte nicht durch staatliche Maßnahmen instrumentalisiert werden dürfen324 – auch nicht im Rahmen einer Pandemie wie Covid-19 –, sondern auch in dem Sinne, dass auf der Basis dieses Grundrechts und seiner Weiterentwicklungen die verfassungsrechtliche Grundlage für ein gerechtes Zusammenleben der Generationen gelegt werden kann.325 Wenn es gelingt, das „Recht auf schulische Bildung“ zu verwirklichen, könnte dies für die Würde der Kinder, die in Armut oder mit Behinderungen leben, besonders wichtig sein.326 Auch im Hinblick auf Art. 20 GG ergeben sich durch die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ prinzipiell keine Inkompatibilitäten. Dessen ungeachtet ist anzumerken, dass die Kreation von „Gruppenrechten“ nicht nur rein praktische Verfahrensprobleme, sondern auch sachliche verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen könnte. Hier kann etwa gefragt werden, ob das Entstehen einer Vielzahl von „Gruppenrechten“ noch mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG vereinbar ist. In der Fachliteratur wurde bereits argumentiert, dass eine übermäßige Diversifizierung der „Gruppenrechte“ der vom Demokratieprinzip geforderten Integration der Menschen
322
Bülow/Schiebel, in: DRiZ 2/2022, S. 79; von Landenberg-Roberg, in: DVBl 7/2022, S. 395. 323 Bei der Schöpfung von Grundrechten ist zu differenzieren zwischen den Grundrechten, die als „Basis“ des neuen Grundrechts dienen, und den Verfassungsgrundsätzen und -werten, die durch sie konkretisiert werden. So nimmt das BVerfG z. B. in der Bundesnotbremse IIEntscheidung Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 7 Abs. 1 GG, aber auch das Grundsatz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wird dadurch konkretisiert. 324 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 135, sprechen zu Recht lieber von einer „SubjektFormel“ der Menschenwürde als von Dürigs „Objekt-Formel“. 325 Benassi, in: ZRP 2015, S. 24 ff. 326 Lischewski, in: VerfBlog, 2021/11/30. – Abrufbar unter https://verfassungsblog.de/einrecht-nur-fur-kinder/.
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H. Anwendung am Beispiel der Bundesnotbremse II-Entscheidung
zuwiderlaufen würde.327 Obschon dies beim „Recht auf schulische Bildung“ nicht der Fall ist, tut das BVerfG gut daran, in seinen künftigen Entscheidungen die Auswirkungen der Kreation von „Gruppenrechten“ auf die Grundentscheidungen des Art. 20 GG zu berücksichtigen. Im Zusammenhang mit der Wahrung der Binnenstruktur und der wesentlichen Grundzüge des Grundrechtskatalogs stellt sich die Lage etwas anders dar.328 Hier ist die Frage zu stellen, ob die Identität des Grundrechtskatalogs des GG mit der Aufnahme des „Rechts auf schulische Bildung“ von Kindern und Jugendlichen noch erkennbar ist. In den letzten Jahren wurde in juristischen und politischen Kreisen intensiv darüber diskutiert, ob das GG reformiert werden muss, um explizite Grundrechte von Kindern aufzunehmen329 – eine Absicht, die aber bislang nicht realisiert wurde. Das BVerfG scheint mit der Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ nicht nur den Weg für eine solche Möglichkeit der Verfassungsänderung geebnet, sondern auch deutlich gemacht zu haben, dass Kinder in ihren Rechten nicht wie „kleine Erwachsene“ behandelt werden dürfen. Darüber hinaus – und das ist vielleicht das Wichtigste – hat die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ allen klar gemacht, dass das GG unbedingt eine Reihe von kinderspezifischen Grundrechten in seinen Inhalt aufnehmen muss. Selbst wenn die derzeitige politische und rechtliche Sackgasse auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht überwunden wird, kann kaum behauptet werden, dass die Identität des Grundrechtskatalogs des GG nach der Bundesnotbremse II-Entscheidung unangetastet bliebe. Dieser Beschluss des BVerfG hat aber auch Auswirkungen auf die innere Struktur des Grundrechtskatalogs. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ließen sich vor der Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG aus dem GG selbst kaum kinderspezifische Rechte ableiten.330 Zum anderen enthielt das GG bis zu diesem Zeitpunkt keine echten „Gruppenrechte“.331 Insofern wäre es irrig zu glauben, dass mit der Bundesnotbremse II-Entscheidung nur eine „symbolische Konstitutionalisierung“332 der Kinderrechte stattgefunden hat. Dahingegen handelt es sich um eine wesentliche interne Änderung des Grundrechtskatalogs des GG, ohne dass klar ist, welche Folgen dies auf das ausgewogene Grundrechtssystem hat.333 327
Hirt, in: NJOZ 2021, S. 419. Dazu Lischewski, in: VerfBlog, 2021/11/30. – Abrufbar unter https://verfassungsblog. de/ein-recht-nur-fur-kinder/. 329 Jüngst Hepp, Kindergrundrechte, S. 35 ff.; Lemmert, in: JuWissBlog 84/2020 v. 16. 06. 2020 (abrufbar unter https://www.juwiss.de/84-2020/); Kirchhof, in: NJW 2018, S. 2690 ff.; Hohmann-Dennhardt, in: FPR 2012, S. 185 ff. 330 So Auner, in: NLMR 2022, S. 75. 331 Zur Diskussion über „Gruppenrechte“ im GG siehe Hirt, in: NJOZ, 2021, S. 417 ff.; Möllers/van Ooyen, in: RuP 1/2022, S. 67. 332 Heiß, in: NZFam 2015, S. 536 ff. 333 Die Anerkennung der Kindergrundrechte im GG würde, so Jestaedt, in: Herdegen/ Masing/Poscher/Gärditz, § 22 Rn. 82, eine „Gewährleistungsverdoppelung“ bedeuten, deren Nötigung noch nicht offensichtlich oder erwiesen sei. 328
III. Die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG
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Sicher ist, dass das „Grundrecht auf schulische Bildung“ schon jetzt fester Bestandteil der Entscheidungen des BVerfG ist.334 Eine Überarbeitung der Grundrechtsdogmatik, die bisher davon ausgeht, dass es keine echten „Gruppenrechte“ im GG gibt, ist daher eine unausweichliche Aufgabe.
4. Vierte Stufe: Prüfung der praktischen Effektivität des „Rechts auf schulische Bildung“ Die vierte Phase der Methodik erfordert eine Evaluierung der praktischen Wirksamkeit des neu geschaffenen Grundrechts. Damit soll verhindert werden, dass die Verfassungsgerichte neue Grundrechte kreieren, die „utopisch“ sind oder wenig Aussicht auf echte praktische Wirksamkeit für ihre Träger haben. In seiner Bundesnotbremse II-Entscheidung kam das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die staatliche Maßnahme der Schulschließungen formell335 und materiell336 verfassungsgemäß war, so dass das „Recht auf schulische Bildung“ im konkreten Fall nicht verletzt ist. Es ist nicht optimal, dass ein neues Grundrecht in den grundrechtlichen Katalog aufgenommen wird, ohne dass es in dem gegebenen Fall, der Anlass zu seiner Kreation war, als verletzt angesehen wird. In der verfassungsrechtlichen Literatur wird zu Recht festgestellt, dass „mit diesem laxen Prüfungsmaßstab (…) das neue Bildungsgrundrecht weitgehend wertlos“337 ist. Zudem waren den Richterinnen und Richtern des BVerfG die nachteiligen Effekten der totalen Schulschließung ab Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 auf die Kinder nicht unbekannt, so dass sich die praktische Wirksamkeit des neuen Grundrechts für den konkreten Fall zumindest in der Feststellung einer partiellen Verfassungswidrigkeit der staatlichen Maßnahme hätte niederschlagen können. Es bleibt dahingegen die Frage, ob das BVerfG eigentlich bereit gewesen wäre, die praktische Gewährleistung des „Rechts auf schulische Bildung“ im Einzelfall aufrechtzuerhalten.338 Für die Kinder und Eltern, die wahrscheinlich mit großer Erwartung auf die Entscheidung des BVerfG gewartet haben, wäre es auch besonders wichtig gewesen, zu wissen, warum das BVerfG nicht die Situation in anderen europäischen Ländern evaluiert hat, die ihre Schulen den ganzen Winter über geöffnet halten konnten.339 Bei der Schaffung eines neuen Grundrechts kommt es nicht nur darauf an, dass die Verfassungsgerichte eine abstrakte Bestimmung des Schutzbereichs und der Gewährleistungsdimensionen des neuen Grundrechts vornehmen – wie es das BVerfG vorbildlich getan hat –, sondern es ist auch wichtig, dass das neue 334
Möllers/van Ooyen, in: RuP 1/2022, S. 68. BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 77. 336 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Rn. 107. 337 Kingreen, in: JURA 2022, S. 524. 338 So auch Bülow/Schiebel, in: DRiZ 2/2022, S. 78 f. 339 Kingreen, in: JURA 2022, S. 524.
335
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H. Anwendung am Beispiel der Bundesnotbremse II-Entscheidung
Grundrecht seine Effektivität in der Praxis bewährt.340 Was das „Recht auf schulische Bildung“ anbelangt, so könnte dies für Kinder und Eltern noch zweifelhaft sein.341 Auch wenn es im Einzelfall berechtigte Einwände gegen die praktische Wirksamkeit des „Rechts auf schulische Bildung“ geben mag, bleibt zu fragen, ob es in künftigen Fällen effektiv sein wird. Für diese „Wirkungsprognose“ ist es notwendig, einerseits die praktische Relevanz des „Rechts auf schulische Bildung“ in ähnlichen Fallkonstellationen wie denen, für die es geschaffen wurde, und andererseits seine Relevanz in Fallkonstellationen in einem anderen Kontext als dem der CoronaPandemie zu unterscheiden. Im Hinblick auf die erste Annahme spricht alles dafür, dass das BVerfG die Verhältnismäßigkeit derjenigen staatlichen Maßnahmen gegen Covid-19,342 die den Schutzbereich und die Gewährleistungsdimension des „Rechts auf schulische Bildung“ unmittelbar oder mittelbar berühren, künftig strenger beurteilen wird. Sollte sich die Situation in der Corona-Pandemie erneut zuspitzen, dürfte die totale Schließung von Schulen nicht zu den ersten möglichen Maßnahmen des Staates gehören, da sie, wie das BVerfG in seiner Entscheidung andeutet, eher eine ultima ratio darstellen würde. Kinder und Eltern könnten also diesmal guten Grund haben, einer möglichen späteren Entscheidung des BVerfG mit Optimismus entgegenzusehen. Im Hinblick auf die Prognose der praktischen Wirkung des „Rechts auf schulische Bildung“ außerhalb der Corona-Pandemie sind die Gewährleistungsdimensionen der Chancengleichheit beim Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten343 und die Einhaltung eines Mindeststandards an Bildungsangeboten hervorzuheben.344 Es scheint, dass das BVerfG mehr auf die Zukunft als auf die Vergangenheit setzt. „Kinder und Jugendliche werden aus dem „Grundrecht auf schulische Bildung“ zukünftig mehr Nutzen ziehen, als sie von der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der in der Vergangenheit liegenden Schulschließungen profitiert haben“.345 Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass das „Recht auf schulische Bildung“ seine praktische Wirksamkeit im konkreten Fall nicht unter Beweis gestellt hat, dass aber die Prognose seiner Wirksamkeit in der Zukunft gute Aussichten zeigt, auch für andere Kontexte als Covid-19.
340 Kritisch Tenorth, in: RdJB 2022, S. 29 ff.; Lepsius, in: LTO v. 3. 12. 2021. – Abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-1bvr78121-1bvr97121-corona-bundesnotbremse-massnahmen-kontakt-ausgang-schule-kinder-grundrechte-kommentar-verfassungrechtstaat/. 341 Kritisch Degenhart, in: NJW 2022, S. 126 f. 342 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Leitsätze 3 und 4, Rn. 183 ff. 343 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Leitsatz 2a und Rn. 57. 344 BVerfG (Erster Senat), Beschl. v. 19. 11. 2021 – 1 BvR 971/21, Leitsatz 2b und Rn. 60. 345 Bülow/Schiebel, in: DRiZ 2/2022, S. 79.
III. Die Kreation des „Rechts auf schulische Bildung“ durch das BVerfG
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5. Fünfte Stufe: Analyse der Verfahrensgarantien des „Rechts auf schulische Bildung“ Wie erläutert, umfasst die letzte Stufe der Methodik die Analyse der verfahrensrechtlichen Garantie des neuen Grundrechts. Das bedeutet, dass geprüft werden muss, ob das neue Grundrecht verfahrensmäßig gut abgesichert ist. Dies hängt, wie unschwer zu erkennen ist, von den Besonderheiten der jeweiligen Rechtsordnung ab. Aber im Allgemeinen kann die Schöpfung eines neuen Grundrechts zu Folgendem führen: 1. zur Etablierung eines spezifischen und geeigneten Verfahrens zu seinem Schutz, falls es noch nicht existiert, 2. zur Änderung bestimmter existierender Verfahrensregeln, um einen optimalen Schutz zu gewährleisten, oder 3. zur einfachen Spezifizierung des Verfahrens zum Schutz des neuen Grundrechts. In Bezug auf das „Recht auf schulische Bildung“ gibt es gute Argumente, die Verfahrensgarantie dieses Rechts auch jenseits des verfassungsrechtlichen Prozesses, in dessen Rahmen das BVerfG seine Schaffung konkretisiert hat, für gut gesichert zu halten. Zwar denkt man bei der Frage nach dem verfassungsrechtlichen Verfahren zur Durchsetzung der Grundrechte sofort an die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG), doch spielt die Grundrechtsverletzung auch bei der abstrakten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) eine zentrale Rolle.346 Zu dieser guten Verfahrenssicherung könnte das BVerfG auch beitragen, wenn es seine Beratungen zumindest in den Fällen öffentlich machen würde, in denen es in Ausübung seiner mitkonstituierenden Gewalt die Kreation eines neuen Grundrechts für erforderlich hält. Denn die Behauptung, dass „Gerichte nur durch ihre schriftlichen Entscheidungen sprechen“, war niemals kategorisch wahr. In den USA gab der erste Supreme Court überhaupt keine schriftlichen Stellungnahmen ab und seit John Marshall haben die Richter ihre Entscheidungen teilweise sogar außergerichtlich verteidigt.347 Nicht nur die breite Beteiligung Dritter, sondern auch der öffentliche Zugang zu den Beratungen des BVerfG würden die Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verfahrensrechts als „Pluralismusund Partizipationsrecht“,348 aber auch als „Recht der Transparenz“, noch konkreter machen.
346
So Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 918 ff.; 937 ff. Kürzlich Sullivan/Feldbrin, in: Journal of Constitutional Law 1 (2022), S. 1 ff. 348 So Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, S. 647 ff.; León Vásquez, Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus, S. 185 ff. 347
I. Ergebnis: Neue Grundrechte zu erfinden, ist Sache der Verfassungsgerichte349 Als Ergebnis dieses Beitrags lässt sich Folgendes festhalten: Erstens: Die Begriffe „Anerkennung“, „Positivierung“, „Entwicklung“ und „Kreation“ von Grundrechten sind nicht austauschbar. Im Gegenteil, sie beziehen sich auf unterschiedliche Phänomene. Die Differenzierung liegt nicht nur in den historischen, politischen, philosophischen, rechtlichen usw. Grundlagen, die jedem von ihnen zugrunde liegen, sondern auch in der Besonderheit ihres Inhalts, die oft nicht berücksichtigt wird. Zweitens: Zwischen der Realität und den Grundrechtsnormen existiert ein Verhältnis der „Entstehung“, der „Veränderung“ und der „Antizipation“. Die Impulse, die zur Kreation neuer Grundrechte führen, gehen genau von diesen Beziehungen aus. Zu den Impulsen, die von grundlegender rechtlicher Bedeutung sind, gehören der gesellschaftliche Wertewandel, die Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Informationstechnologie sowie das Aufkommen neuer juristischer Standards. Solche Impulse können aber auch aus Krisenkontexten entstehen. Drittens: Im Rahmen dieser Beziehungen und Impulse sind die Verfassungsgerichte zu wichtigen „Akteuren“ – und nicht zu „Zuschauern“ – geworden. Sie können selbst in einigen Fallkonstellationen „Motor“ oder in anderen Fällen „Bremser“ für soziale,350 technische und rechtliche Veränderungen sein. Neben ihrer Rolle als Interpreten der Verfassung fungieren sie nun auch als „Interpreten“ und „Vorreiter“ der sich ständig verändernden Wirklichkeit. Viertens: Bei der Schaffung neuer Grundrechte üben die Verfassungsgerichte eine „mitkonstituierende Gewalt“ aus. Für diese Annahme sprechen nicht nur verfassungsgeschichtliche und dogmatische Gründe, sondern auch die Rechtsvergleichung und das eigene Selbstverständnis der Verfassungsgerichte. Die mitkonstituierende Gewalt der Verfassungsgerichte äußert sich in der Kontrolle von Verfassungsänderungsgesetzen, in der Verfassungswandlung und vornehmlich in der Kreation neuer Grundrechte. Fünftens: Die Schaffung neuer Grundrechte durch die „grundrechtsschaffende Gewalt“ (d. h. Verfassungsgerichte) wirft wichtige Probleme und Herausforderungen für die Dogmatik auf, wie z. B.: ihre Rechtsnatur, ihre Stellung innerhalb des Systems 349 350
So Möllers, Das Grundgesetz, S. 87, unter Bezugnahme auf das BVerfG. Nußberger, Die Menschenrechte, S. 97 ff.
I. Ergebnis
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der Grundrechte, die Bestimmung ihres Schutzbereichs, ihre konstitutionellen Grenzen, ihre Interpretation sowie ihr Wandel. Bislang hat sich die Dogmatik nicht mit diesen Problemen befasst, obwohl sie nicht nur in der Theorie, sondern auch in der grundrechtlichen Praxis von großer Bedeutung sind. Sechstens: Um eine unverhältnismäßige Expansion des Grundrechtskatalogs und die Kreation unnötiger oder praktisch wirkungsloser Grundrechte zu vermeiden, müssen die Verfassungsgerichte als „grundrechtsschaffende Gewalt“ über eine spezifische Methodik verfügen. Der hier herausgearbeitete Vorschlag besteht aus einem in fünf Phasen gegliederten Modell: 1. Festlegung der faktischen und normativen Prämissen, 2. Festlegung des neuen Schutzbereichs, 3. Prüfung der Relation des neuen Grundrechts zu den Grundentscheidungen der Verfassung, 4. Prüfung der praktischen Effektivität des neuen Grundrechts und 5. Analyse der Verfahrensgarantien des neuen Grundrechts. Siebtens: Die praktische Anwendung dieser Methodik wurde am Beispiel der jüngsten Bundesnotbremse II-Entscheidung des BVerfG erprobt. Im Lichte unserer Methodik kann diese Entscheidung in vielerlei Hinsicht als beispielhaft für den Prozess der Schaffung eines neuen Grundrechts angesehen werden. Dies entbindet jedoch die Dogmatik, der die Kreation neuer Grundrechte gut bekannt ist,351 nicht von der weiteren Auseinandersetzung mit den theoretischen und praktischen Problemen. In dem vorliegenden Beitrag ist versucht worden, ein paar erste Schritte zu unternehmen.
351
Augsberg, Theorien der Grund- und Menschenrechte, S. 136.
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Sachverzeichnis Abwägungsverfahren 72 AGMR 15 Amendment 61 Anerkennung der Grundrechte 19 Antidiskriminierungsrecht 30 appellation contrôlée 59 Auffanggrundrechte 62 Auslegung, wandelnde 42 Bedeutungswandel 28 Begleitfunktion der Verfassungsgerichte 34 Bildungsgrundrecht 79 BVerfG 80 Computergrundrecht 17 Conseil constitutionnel 13 constitutional moments 46 Corona-Krise 72 Corona-Pandemie 47, 72 Coronavirus 72 Coronavirus-Neuinfektionen Covid-19 74 Cyberspace 13 Demokratie, internetkonforme Demokratieprinzip 77 Dezisionismus 12 dominant power 37 due process 60
73
43
Effektivität des neuen Grundrechts 67 Effektivitätsanalyse 68 Effizienzanalyse 68 EGMR 15 Eliminierungsfunktion 29 Entnormalisierung 28 Entscheidungen, provisorische 72 Entstehung der Grundrechte 27 Entwicklung der Grundrechte 19 equal protection-Klausel 60 Erneuerung der Grundrechte 24
EU-Recht 75 EuGH 15 Evolution – der Grundrechte 24 – des Grundrechtskatalogs 67 ex nihilo 25 Exekutive 23 Expansion des Grundrechtskatalogs
67
Funktion der Verfassungsgerichte, mitkonstituierende 37 Gerichte 23 Geschichte der Grundrechte 22 Gesetzgeber 23 – verfassungsändernder 11 Gewalt – grundrechtsschaffende 36, 82 – verfassungsgebende 37 – verfassungswandelnde 39 Gleichheitsgebot 28 Grundrechte – absolute 53 – als Quelle neuer Grundrechte 45 – echte 11, 49 – emergente 31 – neue 11 – offene 56 – Repetition von 75 Grundrechtsaktualisierung 23 Grundrechtsdogmatik 11, 16 Grundrechtsentwicklung 23 f. Grundrechtsinnovationen 24 Grundrechtsinvention 24 Grundrechtskatalog 11 Grundrechtskreation 24 Grundrechtsnorm 64 Grundrechtspolitik 16 Grundrechtsresilienz 32 Grundrechtsschöpfung 11
Sachverzeichnis Grundrechtsträgerschaft Gruppenrechten 77
66
Neurowissenschaft 17 Neuschöpfung der Verfassung Nexus, antizipativer 27 Nichtdiskriminierung 52
habeas corpus 69 habeas data 69 higher lawmaking 46
46
Öffnungsklausel 55 Öffnungsklauseln für neue Grundrechte
IAGMR 15 Identitätsverlust der Verfassung 67 Interdisziplinarität der Verfassungsauslegung 34 Internet, grundrechtskonformes 43 Interpretationsinstrumente 34 Interpretationsprobleme 54 Interpretationsprozess 34 IT-Grundrecht 17 Jugendliche 73 Jurisprudenz 23 Jury Constitutionnaire
101
37
Quellcode der Verfassung
Kinder 73 Kompensationsfunktion, antizipierende 29 Konkordanz, praktische 50 Konstituierendes Moment 47 Konstitutionalisierung, symbolische 78 Kontrolle, verfassungsrechtliche 11 Korrektheit, politische 44 Kreation von Grundrechten 11 Kreationsimpulse 27, 30 Lateinamerika 14 law in action 42 Lebenswirklichkeit 23 Leistungsfähigkeit, transformative
Pandemie 79 Plausibilität 12 Pluralismus- und Partizipationsrecht 81 Positivierung der Grundrechte 19 pouvoir constituant 38 pouvoir constituant dérivé 39 pouvoirs constitués 37, 49 power of opinion 37 Präsenzunterricht 74 Privatsphäre als Quelle neuer Rechte 52 Prognose 67
33
Menschenrechte 21 Metaverse 31 Methode der Präzedenzfälle 61 Methodik zur Prüfung der Kreation neuer Grundrechte 57 Netzwerke, soziale 13 Neuerfindung eines originären Grundrechts 50 Neuinterpretation der Verfassung 46 Neuro-Grundrechte 17 Neurotechnologie 17
45
Rangordnung neuer Grundrechte 50 Rationalität 12 Realisierung der neuen Grundrechte 68 Rechtsänderung 29 Rechtsfortbildung 51 Rechtsordnung 20 Rechtsschutzbedürfnis 74 Rechtsvergleichung 55 Rechtswissenschaft 23 Relationen – formative 27 – transformative 27 Resilienz der Grundrechtsnormen 31 Schaffung neuer Grundrechte 11 Schutzbereich 23 Schutzbereiche neuer Grundrechte sham constitution 57 social technology 31 Staat 21 Stellung neuer Grundrechte 50 Supreme Court 13 Transformationsimpulse
30
51
58
102 UN-Charta 59 UN-Menschenrechtskommission
Sachverzeichnis
58
Verfassung 20 Verfassungsänderung 11 Verfassungsauslegung 41 Verfassungsdogmatik 16 Verfassungsentstehung, Jurisdiktion der 40 Verfassungsfortbildung 51 Verfassungsgerichte 11 – als rechtliche Stimulatoren 34 – als Validierungsinstanz 34 – mitkonstituierende Funktion der 39 Verfassungsgerichtsbarkeit 33 Verfassungsgrundentscheidungen 66 Verfassungsgüter 33 Verfassungsinterpretation 34 Verfassungskonflikt 44 Verfassungskonvent 37 Verfassungsprozess 40 Verfassungsrevision 46
Verfassungstext 52 Verfassungswandel 41, 43 Verfassungswandlung 42 – provozierte 43 Verhältnismäßigkeit 53 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Verteilungsprinzip 20 Völkerrecht 58 Wandel – der Grundrechte 28 – der neuen Grundrechte 54 – durch Grundrechte 28 Wandlung, einvernehmliche 43 Werte, gesellschaftliche 63 Wertesystem 20 Wertewandel 30 Wirksamkeitsbewahrung – durch Adaptation 32 – durch Resilienz 32
50